Kultur und Übersetzung: Studien zu einem begrifflichen Verhältnis 9783839429631

Translational turn: What meaning do the terms »culture« and »translation« bear for theory formation in translation studi

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Kultur und Übersetzung: Studien zu einem begrifflichen Verhältnis
 9783839429631

Table of contents :
Editorial
Inhalt
Einleitung
Von der Translatio zur Traductio
A Concept’s Coming of Age
Quo vadis, Übersetzungsbegriff?
›Kultur‹ und Kulturwissenschaft
Eulen nach Athen?
Zur Übersetzbarkeit von Kulturen – am Beispiel des Konzeptes ›Würde‹
Die Unübersetzbarkeit des Kulturbegriffs im Kontext des Menschenrechtsdiskurses
Translation als Bedeutungsverschiebung sozialer Begriffe und Konstruktionen
Theoretische Übersetzungsprobleme und transatlantische Methodenerweiterung
Philosophie als Translation
Sprachen – Grenzen – Übersetzungen
Ein Muttermal, so schön wie ein Amberstückchen
Mehrsprachigkeit und (Selbst-)Übersetzung
Autorinnen und Autoren

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Lavinia Heller (Hg.) Kultur und Übersetzung

Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft hrsg. v. Andrea Bogner, Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg | Band 8

Editorial Differenzen zwischen Kulturen – und die daraus resultierenden Effekte – sind seit jeher der Normalfall. Sie zeigen sich in der Erkundung der »Fremden« schon seit Herodot, in der Entdeckung vorher unbekannter Kulturen (etwa durch Kolumbus), in der Unterdrückung anderer Kulturen im Kolonialismus oder aktuell in den unterschiedlichen grenzüberschreitenden Begegnungsformen in einer globalisierten und »vernetzten« Welt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit »Interkulturalität« erfuhr entscheidende Impulse durch die »anthropologische Wende« in den Geisteswissenschaften und durch das seit den 1970er Jahren etablierte Fach der Interkulturellen Kommunikation. Grundlegend ist dabei, Interkulturalität nicht statisch, sondern als fortwährenden Prozess zu begreifen und sie einer beständigen Neuauslegung zu unterziehen. Denn gerade ihre gegenwärtige, unter dem Vorzeichen von Globalisierung, Postkolonialismus und Migration stehende Präsenz im öffentlichen Diskurs dokumentiert, dass das innovative und utopische Potenzial von Interkulturalität noch längst nicht ausgeschöpft ist. Die Reihe Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft greift die rege Diskussion in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften auf und versammelt innovative Beiträge, die den theoretischen Grundlagen und historischen Perspektiven der Interkulturalitätsforschung gelten sowie ihre interdisziplinäre Fundierung ausweiten und vertiefen. Die Reihe wird herausgegeben von Andrea Bogner, Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg.

Lavinia Heller (Hg.)

Kultur und Übersetzung Studien zu einem begrifflichen Verhältnis

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Guntram Titus Tockner, Graz Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2963-7 PDF-ISBN 978-3-8394-2963-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung 

Lavinia Heller | 7 Von der Translatio zur Traductio.  Zur problematischen Entdeckung des Kulturfaktors beim Übersetzen im italienischen Frühhumanismus  

Andreas Gipper | 13 A Concept’s Coming of Age.   Developments in the Use of the Concept of Culture in Translation Studies 

Luc van Doorslaer | 37 Quo vadis, Übersetzungsbegriff?    Tendenzen und Paradoxien  

Michael Schreiber | 51 ›Kultur‹ und Kulturwissenschaft. Ihre Bedeutung für die Translationswissenschaft   und für die Translationspraxis

Jörn Albrecht | 65 Eulen nach Athen?    Provokation und Reflexionsanstöße des translational turn der Kulturwissenschaft für die Translationstheorie  

Lavinia Heller | 93 Zur Übersetzbarkeit von Kulturen – am Beispiel des Konzeptes ›Würde‹  

Shingo Shimada | 117 Die Unübersetzbarkeit des Kulturbegriffs im Kontext des Menschenrechtsdiskurses  

James M. Thompson | 131

Translation als Bedeutungsverschiebung sozialer Begriffe und Konstruktionen.  Das Beispiel »subjektives Recht«  

Matthias Kaufmann | 145 Theoretische Übersetzungsprobleme transatlantische Methodenerweiterung.  Epistemischer Wandel in der Wissenschaftskultur des Instituts  für Sozialforschung von 1930 bis in die späten 1950er Jahre  

Fabian Link | 167 Philosophie als Translation. Alexandre Kojèves Einführung-Überführung Hegels in die Gegenwart und nach Frankreich  

Annett Jubara | 215 Sprachen – Grenzen – Übersetzungen.  Überlegungen zum translatorischen Kulturbegriff am Beispiel Zentraleuropas  

Jan Surman | 235 Ein Muttermal, so schön wie ein Amberstückchen.   Das Verhältnis von sprachlicher und kultureller Übersetzung, diskutiert am Beispiel von Antoine Gallands Mille et une nuits 

Birgit Wagner | 261 Mehrsprachigkeit und (Selbst-)Übersetzung.  Translationspoetiken in den Texten von Ilma Rakusa und Yoko Tawada 

Gabriella Sgambati | 275 Autorinnen und Autoren | 303 

Einleitung L AVINIA H ELLER

Die Emanzipation der Translationswissenschaft von der Linguistik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist von dem Bemühen gekennzeichnet, den soziokulturellen Bedingungen, unter denen Translate entstehen und rezipiert werden und dem Einfluss, den Translate auf die sie ermöglichenden Bedingungen haben, Rechnung zu tragen. In diesem Sinne wird bereits in den 1980er Jahren die These vom dialektischen Verhältnis von Translation und Kultur als ein »uncontending claim« der Disziplin proklamiert (Toury 1998: 1) und eine ihrer zentralen Aufgaben darin gesehen, »to integrate the cultural dimension into translation studies« (ebd.). Dieser Forschungsprogrammatik folgend hat sich seither ein breites Spektrum unterschiedlicher Theorieansätze herausgebildet, die in der Entwicklung ihrer Methoden und Begriffe im Zuge eines cultural turn auch die Reflexionsangebote anderer Fachdiskussionen aufgenommen haben, etwa aus den Kultur-, Literatur- und Geschichtswissenschaften, den Postcolonial Studies, den Gender Studies, der Ethnologie, der Soziologie und der Philosophie. Gleichzeitig haben diese kultursensitiven Disziplinen wiederum das analytische Potential des Übersetzungsbegriffs für sich entdeckt. Aus diesem interdisziplinären Austausch ist die heute im kulturwissenschaftlichen Jargon als translational turn bezeichnete Forschungsmaxime erwachsen, die jedoch nicht in allen akademischen Diskursen mit der gleichen Zuversicht und Begeisterung aufgenommen und profiliert wurde, da sie mitunter eine radikale Entgrenzung des Translationsbegriffs impliziert, die nicht überall für analytisch produktiv gehalten wird. Vor dem Hintergrund der Überzeugung, dass keine Wissenschaft, die sich weiterentwickeln möchte, ohne Impulse und Irritationen von ›außen‹ auskommt, fand im November 2013 am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft (FTSK) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz unter dem Titel Translationstheoretische Positionen im Spannungsfeld zeitgenössischer kultur- und sozi-

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alwissenschaftlicher Diskurse eine Tagung statt, aus der die vorliegende Publikation hervorgegangen ist. Mit der Konferenz sollte auf die derzeitige Pluralität von Theorieansätzen reagiert werden, die innerhalb der Translationsforschung virulent sind. Dabei ging es jedoch explizit nicht um eine Aufhebung konzeptioneller Differenzen zwischen Anhängern eines ›engen‹ und eines ›weiten‹ Translationsbegriffs. Die Tagung sollte vielmehr einem (selbst-)kritischen Austausch dienen, weshalb möglichst unterschiedliche Positionen ins Gespräch darüber gebracht werden sollten, was sich innerhalb von Theoriekonstruktionen, Reflexionstraditionen und akademischen Kulturen vollzieht, wenn sich Grundbegriffe ändern, wenn neue Begriffe eingeführt und bewährte in den Hintergrund gerückt werden, oder wenn bereits tradierte Begriffe eine andere Position innerhalb der Theoriearchitektur bzw. eines Fachdiskurses zugewiesen bekommen. Die sich dank kontrastierender Koreferate entwickelnde lebhaften Diskussionen führten während der Konferenz immer wieder zurück auf das komplexe Verhältnis von »Translation« und »Kultur«, sei es als translationstheoretisches, methodisches, empirisches, translationspraktisches und disziplinpolitisches Problem.1 Da die hier versammelten Aufsätze sich eines spezifischen Tagungsformats verdanken, das manchen Texten deutlicher als anderen eingeschrieben ist, soll im Folgenden ein Einblick in den Organisationsmodus der Referate gegeben werden.2 Um eine möglichst kompakte Theoriediskussion zu ermöglichen, war das Programm zunächst durch die Frage geleitet, welche Konsequenzen die Verwendung oder aber der Verzicht der Begriffe »Translation« und »Kultur« für empirische und theoretische translationsbezogene Problemstellungen hat. Für die Diskussion dieser Fragen wurden ReferentInnen und KoreferentInnen aus jeweils unterschiedlichen theoretischen Traditionen aus der Translations-, Kulturund Kommunikationswissenschaft, aus der Soziologie, der Wissenschaftsgeschichte, der Romanistik, der interkulturellen Germanistik und der Philosophie eingeladen. An jedes Referat schloss ein Koreferat an, das in die offene Diskussion einleiten sollte. Diese Kommentare wurden jeweils aus einem anderen Fach formuliert. Diese Organisation hatte den vornehmlichen Sinn, die durch bestimmte wissenschaftskulturelle Denkgewohnheiten eingeschliffenen Vorverständnisse reflexiv zu machen, um das Potential eines interdisziplinären Gesprächs auszuschöpfen. Die sich aus diesen Dialogen entwickelten Diskussionen sind in die vorliegende Publikation eingegangen. Einige Autorinnen und Autoren

1

Für einen Einblick in das Programm und die stattgefundenen Diskussionen siehe den

2

Nur drei der hier versammelten Autoren, namentlich Luc van Doorslaer, Gabriella

Tagungsbericht von Rozmyslowicz (2014). Sgambati und Jan Surman, haben nicht an der Veranstaltung teilgenommen.

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haben die sich aus den kritischen Kommentaren ergebenen Reflexionsanstöße mit expliziten Verweisen eingearbeitet. Andere haben die (Zwischen-)Ergebnisse der Diskussionen ›unmarkiert‹ in den Text aufgenommen. Schließlich ist dem emergenten Charakter vor allem der mündlichen Form der Wissenschaftskommunikation der Umstand geschuldet, dass sie sich im Nachhinein oftmals nicht mehr in die sie konstituierenden einzelnen Beiträge zerlegen lässt. In diesem Sinne gilt mein besonderer Dank nicht nur den Referentinnen und Referenten, sondern auch den Koreferentinnen und Koreferenten. Nicht zuletzt durch das Engagement von Julija Boguna, Michael Boyden, Dilek Dizdar, Andreas Gipper, Andreas F. Kelletat, Jens Loenhoff und Michael Schreiber hat sowohl die Tagung als auch die Publikation ein besonderes Format gewonnen, insofern den meisten Autorinnen und Autoren die schriftlich ausformulierten Kommentare bei der Ausarbeitung der Beiträge zur Verfügung gestellt wurden. Im Folgenden soll ein Überblick über die Beiträge gegeben werden. Andreas Gipper unternimmt einen Exkurs in die Begriffs- und Problemgeschichte des kultursensitiven Verständnisses von Translation, indem er sich einen Meilenstein der Übersetzungsgeschichte vornimmt: das Übersetzungstraktat des Humanisten Leonardo Bruni, De interpretatione recta. Dabei zeigt er, wie mit Brunis Einführung des Begriffs der traductio gewissermaßen ein erster cultural turn im Übersetzungsdiskurs stattfindet, insofern Bruni mit seinen Überlegungen erstmals ein Bewusstsein für das Problem der Kulturdifferenz im Translationsprozess schafft. Luc van Doorslaer zeigt, wie sich in Folge des cultural turn der 1980 und 90er Jahre die Verwendung des Terminus »Kultur« im translationswissenschaftlichen Diskurs verändert. Er beobachtet einen zunächst recht allgemeinen Gebrauch des Kulturbegriffs zu Beginn des cultural turn, dem eine sehr viel konkretere Verwendung von »Kultur« im Rahmen von (translations-)kulturkontrastiven Fallstudien folgt und schließlich in den letzten Jahren in die Entwicklung eines zunehmend abstrakten Kulturbegriffs mündet. Michael Schreiber zeichnet »Tendenzen und Paradoxien« der Entwicklung des Übersetzungsbegriffs in drei Kontexten nach: a) in den (Kultur-)Wissenschaften, in denen eine Aufweichung des Konzepts zu beobachten ist; b) im Bereich der professionellen Translationspraxis, in der demgegenüber eine Eingrenzung des Begriffs wieder auf den sprachlichen Transfer stattzufinden scheint und c) in der Translationsdidaktik an deutschen Hochschulen, in der der Übersetzungsbegriff

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einerseits spezifiziert und andererseits terminologische Umformulierungen erfährt. Jörn Albrecht diskutiert ausgehend von translationspraktischen Beispielen die translationstheoretisch problematische Isolierung der sprachlichen und der kulturellen Dimension der Übersetzung. Eine theoretische ›Überkulturalisierung‹ der Translation läuft seiner Überlegung zufolge Gefahr, das translationspraktische Problem zu relativieren, das sich nicht von der »Trägheit« der Sprache lösen lässt. Lavinia Heller rekonstruiert, worin die Provokation des translational turn der Kulturwissenschaft für die Translationswissenschaft gründet und fragt nach den Reflexionsanstößen, die sich für die translationswissenschaftliche Theorie- und Begriffsbildung aus dieser Irritation ergeben könnten. Dabei wird u.a. ein Forschungsfeld umrissen, das sich für eine gewinnbringende interdisziplinäre, translationsbezogene Kooperation zwischen den zwei Fächern eignet. Shingo Shimada verknüpft das Konzept »Kultur als Übersetzung« mit dem gegenwärtigen Diskurs über Werte. Seine Überlegungen erläutert er am Beispiel der Übersetzung des Begriffs »Würde« aus dem westlichen Diskurs in den japanischen. Dabei zeigt er, wie sich die Bedeutung dieses Wertebegriffs gemäß der vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse immer wieder wandelt. James M. Thompson analysiert, wie der Ausdruck »Kultur« im Kontext des internationalen Rechts verwendet wird und erklärt, dass eine gewisse Unschärfe des Begriffs »Kultur« die Übersetzbarkeit zentraler Konzepte des internationalen Rechtsdiskurses fördert. Diese Unschärfe macht allerdings den Begriff »Kultur« als holistisches Konzept selbst wiederum unübersetzbar. Matthias Kaufmann erläutert, auf welche Weise sich das Konzept der Translation zur Anwendung bringen lässt, um nachzuzeichnen, wie sich die Bedeutung von Begriffen im Kontext neuer gesellschaftlicher Bedingungen verschiebt. Seine Überlegungen exemplifiziert er an der Wandlung der Bedeutung »subjektives Recht«. Fabian Link beschreibt mit dem Translationsbegriff der Akteur-NetzwerkTheorie, welche epistemischen Wandlungen sich während des Zweiten Weltkriegs innerhalb der Wissenschaftskultur des Instituts für Sozialforschung in

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Frankfurt am Main während und nach dem amerikanischen Exil seiner Mitarbeiter ereignet haben. Annett Jubara charakterisiert die Besonderheit des Philosophierens Alexandre Kojèves als ›Übersetzung‹, insofern Kojève seine eigenwillige Hegel-Auslegung auf eine derart suggestive Weise nach Frankreich ›einführte‹, sodass er mehr als Hegel-Übersetzer und weniger als Hegel-Interpret wahrgenommen wurde. Jan Surman macht mit dem kulturwissenschaftlichen Konzept der Übersetzung einsichtig, wie die habsburgische Kultur gewissermaßen ›quer‹ zu den nationalisierten Kulturen in Zentraleuropa im Laufe des 19. Jahrhunderts eine alltagspraktische Relevanz behalten konnte. Seine Überlegungen führen ihn zur Skizzierung eines translatologisch angelegten Kulturbegriffs, der den Anspruch erhebt, dieser Empirie entsprechen zu können. Birgit Wagner zeigt am Fall einer belle infidèle des frühen 18. Jahrhunderts, nämlich der französischen Übersetzung von 1001 Nacht von Antoine Galland, die schon bald als Vorlage für Übersetzungen in andere europäische Sprachen verwendet wurde, wie problematisch die Unterscheidung von sprachlicher und kultureller Übersetzung ist. Gabriella Sgambati führt an den Texten von Yoko Tawada und Ilma Rakusa vor, auf welche Weise Mehrsprachigkeit und die dadurch ermöglichte oder erforderliche ›Selbst-Übersetzungen‹ die Adäquanz der langtradierten translationstheoretischen Kategorien ›Ausgangssprache‹, ›Zielsprache‹, ›Ausgangskultur‹, ›Zielkultur‹ oder ›Äquivalenz‹ in Frage stellen. Abschließend sei nochmals den versammelten Autorinnen und Autoren für ihr translatologisches Engagement gedankt, Sabine Sperr und Daniel Kaplan sowie Guntram Tockner danke ich für ihre unentbehrliche Unterstützung bei der formalen Vorbereitung des Manuskripts. Nicht zuletzt gilt mein Dank den Sponsoren, die dieses Projekt großzügig unterstützt haben: Dem Zentrum für Interkulturelle Studien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz für die Ermöglichung der Tagung, aus der sich diese Publikation entwickelt hat, dem Freundeskreis FTSK Germersheim e.V. sowohl für die Unterstützung der Konferenz als auch der Publikation und schließlich dem Arbeitsbereich Französisch und Italienisch des FTSK für die Förderung der Publikation.

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L ITERATUR Rozmysłowicz, Tomasz (2014): Tagungsbericht »Translationstheoretische Positionen im Spannungsfeld zeitgenössischer kultur- und sozialwissenschaftlicher Diskurse. 15.11.2013-16.11.2013, Gemersheim«, in: H-Soz-Kult, 31.01.2014, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=5214 Toury, Gideon (1998): »Integrating the cultural dimension into translation studies: An introduction«, in: Translation Across Cultures, New Delhi: Bahri Publications, S. 1-9.

Von der Translatio zur Traductio Zur problematischen Entdeckung des Kulturfaktors beim Übersetzen im italienischen Frühhumanismus A NDREAS G IPPER

Spätestens seit im Jahre 1991 Gianfranco Folena in seinem schmalen aber ungemein perspektivenreichen Buch Volgarizzare e tradurre auf die Bedeutung des aus Arezzo stammenden Humanisten Leonardo Bruni für die Herausbildung eines modernen Übersetzungsverständnisses hingewiesen hat, hat auch die moderne Übersetzungswissenschaft die Bedeutung des Autors des ersten neuzeitlichen Übersetzungstraktates De interpretatione recta als Meilenstein in der Geschichte der Disziplin entdeckt.1 Dennoch ist die Fachgeschichte bislang kaum über höchst summarische Bewertungen des von Folena zwar mit gekonnten Strichen, aber dennoch nur grob skizzierten Wechsels von der translatio zur traductio hinausgekommen. Das mag für den deutschen Sprachraum auch daran liegen, dass eine deutsche Version dieses wichtigen Gründungstextes der europäischen Übersetzungswissenschaft (und der mit diesem Text verbundenen Brunischen Übersetzervorworte) weiterhin nicht existiert.2 Der folgende Beitrag macht den Ver-

1

Die vorliegende Studie bewegt sich bei der einleitenden Exposition ihrer Fragestellung weitgehend in Folenas Fahrwasser. Innerhalb der Humanismusforschung gibt es eine ganze Reihe von Studien zu den frühen griechischen Übersetzungen des 15. Jahrhunderts, in denen zumeist auch Bruni eine wichtige Rolle spielt (vgl. Franzoi 1980; Cortesi 1995; Botley 2004). In jüngerer Zeit hat z.B. Massimo Marassi (2009) versucht, Brunis Stellung für die Translationstheorie genauer zu bestimmen.

2

Der Verfasser dieses Beitrages arbeitet daher zurzeit an einer kommentierten Übersetzung des Textes, welche diese Lücke demnächst schließen soll.

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such, die von Bruni in seinem Traktat entfalteten Strategien ein wenig genauer unter dem Aspekt des Faktors Kulturdifferenz unter die Lupe zu nehmen. Dazu wird es erforderlich sein, zunächst den Bedingungen der Möglichkeit kultureller Differenzerfahrung in der frühen Neuzeit nachzugehen und in aller Kürze jenen Wandel vom vertikalen zum horizontalen Übersetzungsmodus zu skizzieren, ohne den Brunis Übersetzungsreflexion nicht zu verstehen ist. Ziel soll es sein, herauszuarbeiten, in welcher Weise und unter welchen Voraussetzungen im europäischen Übersetzungsdiskurs der Neuzeit überhaupt der Kulturfaktor beim Übersetzen zum Problem wird.

L EONARDO B RUNI UND DIE ÜBERSETZERISCHE E NTDECKUNG DER GRIECHISCHEN A NTIKE Zweifellos ist Leonardo Bruni (1369-1444), der zwar aus Arezzo stammte, aber den größten Teil seines Lebens in Florenz verbrachte, dort studierte und später bis in die Funktion des Kanzlers der Republik aufstieg, eine der zentralen Gestalten in jenem grundlegenden Übersetzungsprozess, mit dem die Renaissance versucht, mittels des Rückgriffs auf die antiken Ursprünge der Kultur eine aetas decrepita, eine altersschwache Zeit, zu regenerieren (vgl. Buck 1969). Sehr viel stärker als dies bei seinem Lehrer und Vorgänger im Amt des Kanzlers der florentinischen Republik, dem Humanisten Coluccio Salutati der Fall war, interessiert sich Bruni dabei vor allem für die griechischen Ursprünge der Kultur. Das hat maßgeblich damit zu tun, dass Bruni in den Jahren 1398-1400 als junger Student der Rechte die einmalige Gelegenheit bekommt, in Florenz bei dem bedeutenden griechischen Gelehrten Manuel Chrysoloras Griechisch zu studieren.3 Bruni wird zu einem seiner profiliertesten Schüler und damit bald einer der ersten in Westeuropa sein, der über hinreichende Griechischkenntnisse verfügt, um kompetent aus dem Griechischen übersetzen zu können. Dieser Umstand markiert eine ganz wichtige Wende im Entstehungsprozess des europäischen Humanismus. Tatsächlich waren bekanntlich die wichtigsten Zeugnisse der griechischen Dichtung noch für Petrarca und Boccaccio im Wesentlichen unzugänglich.

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Manuel Chrysoloras, der ursprünglich in diplomatischer Mission nach Italien gekommen war, um die europäischen Mächte für eine Allianz mit dem byzantinischen Reich gegen die Türken zu gewinnen, hatte von 1396 bis 1400 eine Professur für Griechisch an der Universität Florenz inne. Der Kreis um Chrysoloras spielte eine entscheidende Rolle bei der Wiederentdeckung der griechischen Literatur in Europa und bildete so eine der Keimzellen der Frührenaissance.

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Eine wie auch immer translatorisch vermittelte, aber wenigstens auf eigener Lektüre fußende Kenntnis der griechischen Literatur war den Gelehrten des 14. Jahrhunderts damit im Wesentlichen noch verwehrt. Wie man weiß, unternahmen Petrarca und Boccaccio gemeinsam erhebliche Anstrengungen, um nach tausend Jahren des Vergessens endlich zu einer brauchbaren Homerübersetzung zu gelangen. Dabei wirkte die von ihnen angeregte früheste Homerübersetzung von Leonzio Pilato freilich zunächst wie ein Kulturschock. Die Version Leonzios, die eine Art Interlinearübersetzung darstellte, bestätigte in den Augen derjenigen, die den Text zuerst zu Gesicht bekamen, das alte Urteil des Hieronymus, dass eine wörtliche Übersetzung des Homer die Ilias zu einem lächerlichen Monstrum machen und ihren Autor als radebrechenden Ignoranten erscheinen lassen müsse.4 Tatsächlich ist unübersehbar, dass sowohl Petrarca und Boccaccio als auch später noch Brunis Lehrer Coluccio Salutati diesen Schock lediglich in der Weise verarbeiten können, dass sie den fremdartigen Eindruck, den die Ilias auf sie macht, allein den mangelnden sprachlichen Kenntnissen des Übersetzers und einer verfehlten wörtlichen Übersetzungsmethode zuschreiben können. Dennoch spricht Petrarca in einem Brief an Boccaccio davon, dass eine erste Kostprobe der Ilias-Übersetzung des Leonzio ihm zwar zunächst fast den Appetit auf den Rest verdorben habe, der Text aber dennoch gerade in seiner Unförmigkeit eine geheime fremdartige Faszination ausübe: »Tatsächlich spüre ich einen solchen Hunger nach antiken literarischen Werken, dass mir, wie jemandem, der wirklich hungert, die Kunst des Kochs egal ist und ich begierig aufnehme, was immer man mir davon vorsetzt. Und wahrhaftig, obwohl mir eine kurze Prosa-Kostprobe des Leonzio einst fast völlig den Appetit auf das ganze Werk genommen hat, und darin das Urteil des Hieronymus bestätigte, gefällt es mir trotzdem. Es hat einen geheimen Charme in der Art gewisser Speisen, die man unfachmännisch geliert hat und

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»Quodsi cui non videtur linguae gratiam interpretatione mutari, Homerum ad verbum exprimat in Latinum – plus aliquid dicam – eundem sua in lingua prosae verbis interpretetur: videbit ordinem ridiculum et poetam eloquentissimum vix loquentem.« (Zit. nach Bartelink 1980: 14) (»Wenn jemand behauptet, daß die Anmut der Sprache unter der Übersetzung nicht leidet, dann möge er einmal Homer wörtlich ins Lateinische übertragen, ja noch mehr, er gebe ihn doch in seiner Sprache in Prosa wieder! Das Ganze wird zu einer lächerlichen Komödie, und der größte Dichter wird zum Stotterer herabgewürdigt.« (Hieronymus 1910/1918))

16 | A NDREAS G IPPER die so zwar ihre Form verloren, ihren Geschmack aber weitgehend behalten haben.« (Übers. A.G.)5

Es gibt also offenbar für Petrarca einen Geschmack jenseits der klassischen Form. Dennoch ist offensichtlich, dass eine Fremdheit als kulturelle Fremdheit unabhängig von rein sprachlichen und allenfalls rhetorischen Differenzen noch nicht in den Blick kommt. Das Barbarisch-Fremde der Übersetzung Homers kann in dieser Perspektive aus humanistischer Sicht umstandslos zurechtgefeilt und abgeschliffen werden. Genau so sieht es auch Coluccio Salutati, wenn er über Leonzios Ilias-Version an Antonio Loschi in Mailand schreibt: »Ich freue mich darüber, teurer Sohn, denn wenn Du die Übersetzung der Homerischen Ilias erst einmal hast, so furchtbar und grobschlächtig sie auch sein mag, dann wirst Du ihr schon den nötigen Glanz verleihen.« (Übers. A.G.)6

Es ist also klar, dass der Erwartungshorizont der Humanisten, für die das antike Urteil über Homers Ilias als Gipfel der antiken Dichtkunst unbedingte und undiskutierbare Gültigkeit hat, Zweifel an ihrer kulturellen Integrierbarkeit und ihrer ästhetischen Form undenkbar macht. Zwar spricht Petrarca in seinem berühmten Homer-Brief davon, dass Homer im Europa seiner Zeit ein Fremder sei, es ist aber offensichtlich, dass er sich dabei lediglich auf den Umstand bezieht, dass sein Werk nur bei einem extrem kleinen Kreis von Gelehrten Interesse und Anerkennung findet. Wenn Homer in Florenz nicht heimisch ist, so nicht, weil er als fremdartig empfunden wird, sondern weil er schlicht unbekannt ist.7 Obwohl

5

»[...] tanta enim michi litterarum nobilium fames est, ut valde esurientis in morem, qui coci artificium non requirit, fiendum ex his qualemcunque cibum anime magno cum desiderio expectem. Et profecto quoddam breve, ubi Homeri principium Leo idem solutis latinis verbis olim michi quasi totius operis gustum obtulit, etsi Hieronymi sententie faveat, placet tamen; habet enim et suam delectationem abditam; ceu quedam epule, quas gelari oportuit, nec successit, in quibus etsi forma non hereat, sapor tamen odorque non pereunt.« (Petrarca 2004).

6

»Gaudeo, dilectissime fili, quod, postquam habes Homerice translationem Iliados, li-

7

Vgl. dazu die Epistel Ad Homerum in Petrarcas Epistola familiares XXIV 12. Die

cet horridam et incultam, cogitaveris ipsam exolere.« (Coluccio 1893: 354) Bewunderer Homers in Italien lassen sich laut Petrarca zu seiner Zeit an zwei Händen abzählen. Seine frühere Aussage im Anschluss an Hieronymus, dass man Homer nicht übersetzen könne, nimmt Petrarca in diesem Brief ausdrücklich zurück. Für eine deutsche Version der Familiares siehe Petrarca (2009).

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es bereits recht früh im Anschluss an die ersten humanistischen Übersetzungen aus dem Griechischen in Italien eine lebhafte Diskussion über die rechte Form dieser Übersetzungen (insbesondere Homers) gibt, so z.B. über die Frage, ob man die unzähligen Interjektionen griechischer Texte nicht besser einfach weglässt, so scheint sich ein Gefühl des kulturellen Abstandes zur griechischen Antike erst sehr viel später im Zusammenhang mit der Querelle des Anciens et des Modernes auszubilden (vgl. Gipper 2015).

Ü BERSETZUNG ZWISCHEN D IFFERENZERFAHRUNG UND D IFFERENZLEUGNUNG Die frühe Renaissance bewegt sich in diesem Sinne in einer Art kontinuierlichem Widerspruch zwischen Differenzleugnung und Differenzerfahrung. Sie nimmt ihren Ausgang aus dem Bewusstsein eines historischen Bruchs zwischen Antike und christlicher Ära und wendet sich in diesem Sinne gegen das mittelalterliche Translatio-Denken, während sie auf der anderen Seite die Möglichkeit einer unmittelbaren Anknüpfung an die Antike in der Form einer Renovatio aus dem Geist der antiken Literatur mit aller Kraft behauptet. Mit anderen Worten: Sie erkennt und betont die kulturelle Schwelle, die die christliche Ära von der heidnischen Antike trennt und wendet sich insofern mit ganzer Wucht gegen jene mittelalterliche Tradition des Translatio-Gedankens, demzufolge die christliche Kultur des Mittelalters integraler und legitimer Erbe der antiken Bildung ist. Entsprechend erscheint für Petrarca die eigene Zeit gerade als eine Zwischenzeit des kulturellen Niedergangs und der Dunkelheit, welche alles Bildungsinteresse hat fahren lassen und wo selbst im Zentrum der Bildung, nämlich in Florenz, vor allem ignoranter Krämergeist und dumpfes Bereicherungsstreben herrschen.8 Gerade weil Petrarca und seine Nachfolger die Gegenwart vor allem unter dem Aspekt ihrer Dekadenz und ihrer Wiedererweckungsbedürftigkeit aus dem Geist der Antike betrachten, müssen sie die historische Distanz zu dieser Antike und ihre fundamentale Differenzialität freilich entschieden leugnen. Ein anschauliches Beispiel für diesen Mechanismus findet sich in den berühmten Briefen Petrarcas an Giovanni Colonna über ihre Wanderungen in den römischen

8

In einer Versepistel an den Prior von S.S. Apostoli in Florenz, Francesco Nelli, heißt es entsprechend: »Nam fuit, et fortassis erit, felicius aevum. In medium sordes, in nostrum turpia tempus confluxisse vides.« (»Denn es gab ein glücklicheres Zeitalter und wird dies vielleicht wieder geben. Dazwischen siehst Du in unserer Zeit Schmutz und Schande zusammenfließen.«)

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Ruinen, wo die Unterscheidung zwischen Antike und Nachantike auf der einen Seite exemplarisch etabliert und der Translatio-Gedanke damit subvertiert wird, während der Autor auf der anderen Seite die Unsterblichkeit und damit Gegenwärtigkeit Roms inmitten seiner Ruinen ebenso exemplarisch behauptet.9 Einer gewissen Historisierung der christlichen Ära steht also eine Haltung zur Antike gegenüber, die diese als Realisierung eines überzeitlichen und ewigen Ideals weitestgehend enthistorisiert. Dies ist der kulturelle Erwartungskontext, in dem sich auch Leonardo Bruni fraglos bewegt. Die zeitlose Modellhaftigkeit der Antike macht auch für ihn die antiken Auctores, denen er sich übersetzerisch nähert, zu Zeitgenossen, mit denen ein im wahrsten Sinne des Wortes unmittelbares Gespräch möglich ist. Die Übersetzung der Plato-Briefe, so schreibt Bruni in dem entsprechenden Vorwort, sei für ihn so besonders beglückend gewesen, weil er in diesem vertraulichen Genre mit Plato in personam habe sprechen und ihn gleichsam unmittelbar vor Augen gehabt habe (»ut cum Platone ipso loqui eumque intueri coram viderer« [Bruni 2004: 270]). Diesem Geiste entspringen bereits die ersten beiden Übersetzungen, die Bruni vorlegt und mit denen er seine bei Chrysoloras erworbenen Fähigkeiten unter Beweis stellt. Dabei handelt es sich auf der einen Seite um eine Übersetzung von Xenophons Dialog über die Tyrannis und zweitens um eine Schrift

9

An dem Tag, an dem Rom sich seiner einstigen Größe erinnern wird, an dem Tag, so formuliert es Petrarca gegenüber seinem Freund Giovanni Colonna, wird es aus seinen Ruinen wiederauferstehen: »Wer kann nämlich daran zweifeln, dass es auferstünde, wenn es begänne, sich als Rom wiederzuerkennen.« In einem berühmten Brief an den gleichen Giovanni Colonna (Fam. VI/2) hat Petrarca sich später an seine Wanderungen durch die menschenleeren Ruinenlandschaften wie folgt erinnert: »Oft pflegten wir uns, erschöpft von unseren Wanderungen durch die endlose Stadt, bei den Diokletiansthermen niederzulassen, manchmal sogar bis zum First dieses einst prächtigen Bauwerks hinaufzusteigen, weil die Luft rein, der Ausblick frei ist und Stille und feierliche Einsamkeit nirgends größer sind. [...] Viel war von den Geschichten die Rede, die uns so verteilt schienen, dass du in den neuen erfahrener schienst, ich in den alten. Alt nenne ich jene, bevor in Rom der Name Christi von den römischen Kaisern gefeiert und verehrt wurde, neu aber die Geschichten seither bis zu unserer Gegenwart.« Zu Recht hat man in dieser Stelle verschiedentlich ein frühes Zeugnis jenes modernen Geschichtsmodells gesehen, das den historischen Raum ternär in Antike, Mittelalter und (noch ersehnte, aber in gewisser Weise bereits antizipierte) Neuzeit einteilt.

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des Heiligen Basilius, nämlich das Mahnwort an die Jugend über den nützlichen Gebrauch der heidnischen Literatur. Die Wahl beider Texte hat dezidiert programmatischen Charakter. Bruni positioniert sich mit der ersten Schrift als Verfechter bürgerlich-republikanischer Freiheitswerte, die ihn später nicht zuletzt zu seiner Funktion als Kanzler der Republik qualifizieren werden, und mischt sich mit der zweiten Übersetzung ein in die große zeitgenössische Debatte über den Wert der humanistischen Bildung und insbesondere in die Frage ihrer Kompatibilität mit der christlichen Werteordnung. Die von Basilius vertretene Auffassung, dass die pagane Literatur der Antike sich – wohl angewandt – sehr wohl gleichsam als moralisches Propädeutikum der christlichen Lehren rezipieren lässt und sich die Tugendvorstellungen des Christentums in vielen antiken Schriftstellern vorgeprägt finden, entspricht in der Tat weitgehend dem Tenor all der Übersetzungsvorworte, die Bruni in den nächsten Jahren seinen zahlreichen griechischen Übersetzungen in legitimatorischer Absicht voranstellen wird. Nach diesen ersten humanistischen Fingerübungen geht Bruni zunächst als Sekretär an den päpstlichen Hof und kehrt erst 1415 als Privatgelehrter nach Florenz zurück. Dort veröffentlicht er in dichter Folge neben seinen berühmten Geschichtswerken, die ihn aufgrund ihrer methodischen Strenge zu einem der Begründer der modernen Geschichtswissenschaft machen,10 eine Reihe von weiteren Übersetzungen zentraler Werke der griechischen Antike, vor allem der Nikomachischen Ethik und der Politik (sowie einer zu seiner Zeit Aristoteles zugeschriebenen Schrift mit dem Titel Libros Oeconomicorum), die ihn endgültig zu einer der prägenden Gestalten des frühen europäischen Humanismus machen. Mit den Aristoteles-Übersetzungen freilich gewinnt die Frage des Übersetzens und die Reflexion über seine spezifischen Probleme ganz offenbar neue Dringlichkeit und Komplexität. Zwar hat Bruni alle seine Übersetzungen mit mehr oder weniger umfangreichen und zum Teil in translatologischer Hinsicht außerordentlich interessanten Vorworten versehen11, unzweifelhaft ragen aber die Vorworte seiner Aristoteles-Übersetzungen aus diesem Korpus in Bezug auf ihre translatologische Reflexion heraus. Das hat zweifellos mit einem einfachen Umstand zu tun. Im Gegensatz zu den meisten anderen von Brunis Übersetzungen, handelt es sich bei seinen

10 Zu nennen hier vor allem Brunis Historiae florentini populi (1442). 11 Besondere Erwähnung verdient hier das Vorwort zu seiner Plutarch-Übersetzung: Praefatio in Vita M. Antonii ex Plutarcho (vor 1405/06), das sich grundsätzlich mit dem Status des Übersetzers auseinandersetzt.

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Aristoteles-Übersetzungen um Neuübersetzungen.12 Diese Neuübersetzungen freilich erfordern eine intensive Auseinandersetzung – nicht zuletzt auch legitimatorischer und salvatorischer Art – mit den ihm vorangegangenen mittelalterlichen Aristoteles-Übersetzern, vor allem mit Robert Grosseteste (vor 1170-1253), von dem die maßgebliche mittelalterliche Übersetzung der Nikomachischen Ethik stammt.13 Erst die Neuübersetzung aber konfrontiert Bruni nicht nur mit den ewigen übersetzerischen Problemen sprachlicher Eleganz und terminologischer Korrektheit, sondern auch mit einer Reihe von hermeneutischen Problemen der mittelalterlichen Übersetzer, die – so scheint es – nicht zuletzt aus einem mangelnden historischen Distanzbewusstsein rühren.14 Die Rücksichtslosigkeit, mit der Bruni seine Übersetzervorgänger attackiert, ist bereits von einigen seiner Zeitgenossen kritisiert worden. Tatsächlich ist es gerade diese Kritik, die Bruni dazu bewogen hat, seine im Vorwort zur Nikomachischen Ethik vorgetragene Abrechnung mit Grosseteste noch einmal zu syste-

12 Eine Neuübersetzung ist allerdings auch die Übersetzung von Platons Phaidon (um 1156 übersetzt von Henricus Aristippus). In einem Brief an Niccolò Niccoli, der von Baron auf das Jahr 1400 oder 1403/4 datiert wird, geht Bruni auch auf sein Verhältnis zu den spätantiken und mittelalterlichen Platoübersetzern ein: »Jene Übersetzer [erwähnt wird namentlich der spätantike Timaios-Übersetzer Calcidius] nämlich sind lediglich Platons Worten gefolgt, ich aber halte mich an Platon selbst. Und da ich glaube, dass er Latein kann, mag er selbst urteilen. Und so erhebe ich ihn zum Zeugen seiner Übersetzung und übersetze so, wie es ihm meiner Meinung nach am besten gefallen hätte.« (Übers. A.G.) »Illi enim a Platone discedentes syllabas atque tropos secuti sunt: ego autem Platoni adhaereo, quem ego ipse michi effinxi et quidem latine scientem, ut iudicare possit, testemque eum adhibebo traductioni suae, atque ita traduco ut illi maxime placere intelligo.« (Zit. nach Mehus 1741: 16). 13 Offenbar hat Grosseteste wiederum eine Vorlage von Burgundio da Pisa benutzt, die er dann überarbeitet hat. (Dobler 2000: 63) 14 Interessanterweise sind Neuübersetzungen griechischer Texte im Mittelalter die große Ausnahme. Dies hat vermutlich nicht nur mit den sehr selten gegebenen Griechischkenntnissen zu tun, sondern ebenso sehr mit dem Respekt, den die entsprechenden Texte genossen. Auffällig ist etwa, dass die Aristoteles-Ausgabe des Wilhelm von Moerbeke, welche vor allem die alten Lehnübersetzungen aus dem Altsyrischen ersetzte, auf eine Übersetzung der Nikomachischen Ethik verzichtete, da diese bereits von Grosseteste übersetzt worden war. Neuübersetzungen lateinischer Texte in die Volkssprachen waren demgegenüber keine Ausnahme. In Bezug auf einzelne beliebte Texte wie die Consolationes philosophiae des Boethius existierte bisweilen sogar eine große Vielzahl konkurrierender Versionen.

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matisieren und zu vertiefen. Zweifellos dürfen wir in der Heftigkeit der Abrechnung mit dem mittelalterlichen Übersetzer einen unmittelbaren Ausdruck eben jenes von Petrarca initiierten Dekadenzbewusstseins sehen, welches die junge Generation der Humanisten gerade dafür verantwortlich macht, dass die Bildung der Antike selbst in ihren höchsten Zeugnissen fast völlig im Sumpf von Unkenntnis und Ignoranz untergegangen ist. Dieser Vorwurf der Ignoranz betrifft nun vor allem die rhetorische Form der Texte und die Dimension der Intertextualität. Beide Kritikpunkte sind besonders charakteristisch für den Perspektivwechsel, den das Übersetzen bei Bruni und seinen Nachfolgern erfährt.

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VERTIKALEN ZUM HORIZONTALEN

Ü BERSETZEN

Diese Wende ist von Folena zu Recht als Wende von einem vertikalen Übersetzungskonzept zu einem horizontalen Übersetzungskonzept charakterisiert worden. Das verweist auf den Umstand, dass die Reflexion über das Übersetzen sich in der Renaissance nicht am Problem des Übersetzens in die Volkssprache entzündet, sondern am Übersetzen aus dem Griechischen. Das Übersetzen in der Sprachrichtung Griechisch>Latein unterscheidet sich aber grundlegend von der im Mittelalter dominierenden Übersetzungsrichtung Latein>Volkssprache. Während letzteres ein klares hierarchisches Verhältnis impliziert, nämlich dasjenige von einer Bildungs- und Sakralsprache mit hohem Prestige hin zu einer vornehmlich gesprochenen Volkssprache mit geringem kulturellen Prestige, haben wir es bei Übersetzungen vom Griechischen ins Lateinische mit Übersetzungen zu tun, bei denen das kulturelle Prestige beider Sprachen gleichwertig ist. Dieser Umstand ist von fundamentaler Bedeutung. Es ist nämlich oft gesagt worden, und als beispielhaft für diese These mag das große Petrarca-Buch von KarlHeinz Stierle stehen, dass der Humanismus eine Revolution des Denkens mit sich bringt, die das vertikale Denken des Mittelalters durch ein horizontales Denken ersetzt. Während das theologische Denken z.B. Dantes stets ein Denken in Hierarchien ist, ein Denken, das ein Oben und ein Unten hat und an dessen Spitze immer Gott steht, und während die räumliche Metapher dieses Denkens in der Divina Commedia Aufstieg und Abstieg sind, Abstieg in die Hölle und Aufstieg in den Himmel über den Läuterungsberg, neigt das Denken der Renaissance dazu, solche Hierarchien abzubauen. Philosophisch kann man sagen, die Renaissance markiert den endgültigen Siegeszug des Nominalismus gegen den mittelalterlichen Begriffsrealismus: Das Reale ist nicht der Begriff, von dem alle einzelnen Dinge sich herleiten, sondern das Reale ist der Einzelgegenstand in

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seiner horizontalen Verteilung. Diese Transformation spiegelt sich nun auch im Bereich der Übersetzung und im Bereich der Übersetzungstheorie. Zwar gibt es im Mittelalter selbstverständlich in gewissem Umfang auch eine horizontale Übersetzungspraxis von einer Volkssprache in die andere, wie etwa wenn Hartmann von Aue Chrestien de Troyes übersetzt, unübersehbar ist aber, dass die kulturelle Praxis des Übersetzens in hohem Maße von der vertikalen Praxis dominiert wird. Zwar wird der Unterschied zwischen diesen beiden Übersetzungsrichtungen im Mittelalter, soweit ich sehe, nicht weiter theoretisiert, dennoch spielt der Unterschied eine zentrale Rolle. Rein sprachlich spiegelt sich dieser Umstand in der Tatsache, dass es für die Übersetzung aus dem Lateinischen im italienischen Mittelalter einen eigenen Begriff gibt, nämlich den des volgarizzamento. Volgarizzare heißt Übersetzen von oben nach unten, aus dem Lateinischen ins volgare, das heißt in die Volkssprache. Bis heute ist dem Begriff der Vulgarisierung unübersehbar eine deutliche Bewegungsrichtung von Oben nach Unten eingeschrieben. Diese Bewegungsrichtung impliziert im frühen Mittelalter zunächst auch, dass das Übersetzen ganz im Sinne des Translatio-Gedankens nicht so sehr die Differenz betont, sondern die Kontinuität des Bildungsraums. Das Übersetzen in die Vernakularsprachen hat in dieser Perspektive primär dienende Funktion, es gliedert sich ein in den großen Bereich der Texthermeneutik, der Exegese und des Kommentars. Die mittelalterliche Übersetzungspraxis bewegt sich insofern zunächst und vor allem in jener Tradition des hermeneutischen Übersetzens, den Rita Copeland in ihrer glänzenden Studie zum Übersetzen im Mittelalter dem Grammatikunterricht zuordnet.15 Jene übersetzerische Praxis, die in der Antike Teil der Rhetorik ist und die die Übersetzung als Übung der freien Textproduktion betreibt, entsteht, wie Copeland gezeigt hat, erst sehr viel später im Hoch- und Spätmittelalter. Entscheidend dabei ist, dass die antiken Übersetzungen aus dem Griechischen aufgrund von dessen überlegenem kulturellen Prestiges zunächst einer ähnlichen vertikalen Logik folgen, das Übersetzen aber recht schnell im Rahmen der Rhetorik einem imperialen Überbietungsgestus folgt. Dessen Ziel ist es, das Lateinische via Translation an die Stelle des Griechischen

15 »Unlike the Roman model of translation, medieval exegesis has no acknowledged political agenda of rivalry with the tradition that it seeks to assimilate. […] Medieval hermeneutical practice defines its ideological relationship with antiquity in terms of continuity or of an organic and inevitable lineage […].« (Copeland 1991: 103) Bedauerlich ist allein, dass die Frage nach der horizontalen Übersetzungspraxis zwischen verschiedenen Vernakularsprachen bei Copeland aufgrund ihrer Fokussierung auf die schulisch-akademische Übersetzungspraxis gar nicht in den Blick kommt.

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zu setzen und dieses zu übertrumpfen. Dieser Übertrumpfungsanspruch ist dem mittelalterlichen Übersetzen weitgehend fremd, selbst da, wo das Übersetzen im Spätmittelalter durchaus dem rhetorischen Modell der Inventio folgt und damit – wie Copeland dies an den Beispielen Chaucer und Gower zeigt – aus der primär dienenden Funktion heraustritt. Die skizzierte vertikale Bewegungsrichtung lässt sich beispielhaft und ganz explizit an Dantes sprachtheoretischer Reflexion ablesen. Noch Dantes sprachtheoretische Schrift De vulgari eloquentia (Über das Dichten in der Volkssprache) ist bekanntlich von dem Versuch geprägt, eine Volkssprache überhaupt erst zu schaffen, die an Ausdrucksfähigkeit und an Würde mit dem Lateinischen konkurrieren kann. Dass die Würde von Latein und Volkssprache so unterschiedlich ist, liegt dabei vor allem daran, dass das Latein eine kodifizierte, fixierte Sprache ist und die Volkssprache bislang jeder grammatischen Kodifizierung entbehrt. Ein entscheidender Unterschied zwischen dem Latein und der Volkssprache liegt deshalb für das Mittelalter darin, dass das Latein unveränderlich ist, während die Volkssprachen ständiger Veränderung unterworfen sind. Unveränderlichkeit gilt aber in der mittelalterlichen Theologie als eines der wesentlichen Attribute Gottes. Die lateinische Sprache ist also die göttliche Sprache, die Volkssprachen dagegen sind in ihrer Veränderlichkeit lediglich Menschenwerk. Wie sehr das hierarchische Verhältnis zwischen Latein und Volkssprache den Diskurs über das Übersetzen notwendig prägen muss, mag man sich an einer bezeichnenden Passage Dantes in seinem Gastmal (it. Convivio) deutlich machen. Das Convivio stellt den im Mittelalter höchst seltenen Fall der kritisch-interpretierenden Kommentierung eines volkssprachlichen Textes dar, in diesem Fall einiger von Dantes eigenen Kanzonen. Für uns von besonderer Bedeutung ist die Einleitung dieses Buches, weil diese in wesentlichen Teilen der Frage gewidmet ist, warum Dante das Traktat in der Volkssprache und nicht auf Latein verfasst hat. Die Einleitung hat daher über weite Strecken den Charakter einer Apologie. Dante ist sich also in hohem Maße bewusst, dass er mit seinem Text weitestgehend Neuland betritt und die Verwendung des Volgare gegenüber dem gelehrten Publikum einer Legitimation bedarf. In der kulinarischen Bildlichkeit seines Gastmahls formuliert Dante selbst die Frage so: Warum eine solche Schrift mit Gerste (Italienisch) backen und nicht mit Weizen

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(Latein)?16 Dante führt hierfür drei Gründe an, von denen uns vor allem der erste interessieren muss. Dieser betrifft jenes hierarchische Verhältnis zwischen Latein und Volkssprache, das schon wegen der allegorischen Form, in die es sich kleidet, besonders aufschlussreich ist. In dieser Allegorie nämlich erscheint das Volgare als der Diener und das Latein als der Herr. Die Volkssprache kann also dem Lateinischen dienen, nicht aber umgekehrt. Da ein Kommentar aber immer eine dienende Funktion hat, kann der Kommentar einer volkssprachlichen Dichtung niemals auf Latein verfasst sein. Ein entsprechendes Verfahren liefe auf eine gefährliche Subversion der mittelalterlichen Herrschaftsordnung hinaus. »Deswegen, um nun dieser Unordnung zu entgehen, gehört es sich, daß dieser Kommentar, der für die Stelle eines Dieners für die unten angeführten Kanzonen geschaffen ist, diesen in jeder seiner Ausrichtungen untergeordnet ist und daß er um die Bedürfnisse seines Herrn weiß und ihm gegenüber gehorsam ist. All diese Veranlagungen hätten ihm gefehlt, wenn er lateinisch und nicht volkssprachlich gewesen wäre, da ja die Kanzonen volkssprachlich sind. Denn erstens wäre er nicht untergeordnet, sondern Herrscher gewesen, sowohl durch (seinen) Adel, wie auch durch Tugend und Schönheit. Durch den Adel,

16 »Da dieses Brot nun von den akzidentellen Makeln gereinigt ist, bleibt noch, es von einem substantiellen zu entschuldigen, nämlich daß es volkssprachlich ist und nicht lateinisch; was man der Ähnlichkeit nach als aus Gerste und nicht aus Weizen bezeichnen kann. Und diesbezüglich entschuldigen es bündig drei Gründe, die mich dazu bewegten, diesem [Brot] vor dem anderen den Vorzug zu geben: der eine entspricht der Vorsicht bezüglich unziemender Anordnung; der andere der Bereitschaft zur Freigebigkeit; der dritte der natürlichen Liebe zur eigenen Sprache.« (Dante 1996: 23/25) »Poi che purgato è questo pane da le macule accidentali, rimane ad escusare lui da una sustanziale, cioè da l’essere vulgare e non latino; che per similitudine dire si può di biado e non di frumento. E da ciò brievemente lo scusano tre ragioni, che mossero me ad eleggere inanzi questo che l’altro: l’una si muove da cautela di disconvenevole ordinazione; l’altra da prontezza di liberalitade; la terza da lo naturale amore a propia loquela.« (Dante 1996: 22/24)

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weil das Latein ewig und unveränderlich ist und die Volkssprache nicht fest ist, sondern veränderlich.« (Dante 1996: 25)17

Die soziale Bildlichkeit ist bedeutsam. Die Volkssprache, sprich das Volgare, entspricht dem Vulgus, das Latein dem Adel. Genau weil das so ist, kann aber für Dante sich das Latein nicht als Kommentierungssprache für einen volkssprachlichen Text eignen.18 Man spürt hier die normative Kraft der mittelalterlichen Kommentierungs- und Glossatorenpraxis. Dass ein volkssprachlicher Text in der Bildungssprache kommentiert und interpretiert wird, und das heißt auch partiell in die Bildungssprache übersetzt wird, erscheint grundsätzlich als abwegig. Die Volkssprache kann also der Erläuterung der Hochsprache dienen, nicht aber die Hochsprache der Erläuterung der Volkssprache. Da der Bildungsraum und damit der Raum des Schriftlichen generell zunächst und vor allem vom Lateinischen geprägt ist, hat nur die vertikale Übersetzungspraxis im mittelalterlichen Bildungssystem einen festen Ort. Es ist dies der Grammatik- und der Rhetorikunterricht im Rahmen des Triviums der septem artes liberales (vgl. hierzu noch einmal Copeland 1991). Nur hier findet das Übersetzen eine echte kulturelle Dignität und nur hier hat das Übersetzen einen Platz als hermeneutische Praxis. Genau diese Praxis und genau diese Methodik des Übersetzens erweist sich nun aber als radikal unzureichend und inadäquat, in dem Moment, wo eine Übersetzungspraxis ins Zentrum rückt, die mit der Bewegungsrichtung Griechisch >Latein zwischen zwei Sprachen übersetzt, die prinzipiell das gleiche kulturelle Prestige besitzen. Die schulische Praxis des Übersetzens wird also mit Bruni erstmals auf einen Prozess angewandt, der von der

17 »Dunque, a fuggire questa disordinazione, conviene questo comento, che è fatto in vece di servo alle ’nfrascritte canzoni, essere subietto a quelle in ciascuna sua ordinazione, ed essere conoscente del bisogno del suo signore e a lui obediente. Le quali disposizioni tutte li mancavano, se latino e non volgare fosse stato, poi che le canzoni sono volgari. Ché, primamente, non era subietto ma sovrano, e per la [sua] nobilità e per vertù e per bellezza. Per nobilità, perché lo latino è perpetuo e non corruttibile, e lo volgare è non stabile e corruttibile.« (Dante 1996: 24) 18 Natürlich ist nicht zu übersehen, dass Dante trotz der machtvollen und sicher nicht nur instrumentellen Affirmation der traditionellen Bildungshierarchie faktisch Exponent eines Auflösungsprozesses ist, in dessen Vollzug die Volkssprache in Funktionen einrückt, die traditionell dem Lateinischen vorbehalten waren. Dennoch ist das Convivio in seinen legitimatorischen Strategien ein beeindruckendes Zeugnis für jene vertikalen Ordnungen, die noch bis weit in die Zeiten des Humanismus hinein den Bildungsdiskurs dominieren.

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Horizontalen geprägt ist und in dem nicht mehr die eine Sprache die Dienerin der anderen ist. Mit dieser Gleichwertigkeit kommt im Bereich der übersetzerischen und allgemein sprachlichen Praxis jene nominalistisch geprägte Entdeckung der Vielheit in die Welt, wie sie nach Stierle von der Renaissance auf den unterschiedlichsten Ebenen realisiert wird.

L EONARDO B RUNI UND BEIM Ü BERSETZEN

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K ULTURFAKTOR

Das bedeutet zunächst konkret, dass für Bruni die Kenntnis der Zielsprache mindestens genauso wichtig ist wie die Kenntnis der Ausgangssprache. Es kann kaum verwundern, dass diese Kompetenz in der Zielsprache im Bereich der mittelalterlichen Vulgarisierung kaum je als eigene Bildungskompetenz wahrgenommen, geschweige denn thematisiert wird. Bruni ist damit einer der ersten, der auf einer Erkenntnis insistiert, die auch heute noch von Laien in ihrer ganzen Tragweite unterschätzt wird. Die Rede ist von der Einsicht, dass die zielsprachliche Kompetenz für einen Übersetzer mindestens genauso wichtig ist, wie die ausgangssprachliche Kompetenz. Dabei muss kaum daran erinnert werden, dass die Frage der zielsprachlichen Kompetenz im Falle der Humanisten dadurch verschärft wird, dass ihre Zielsprache gerade nicht die Muttersprache, sondern eine weitere Fremdsprache ist, auch wenn diese, d.h. das Lateinische, in manchen Lebensbereichen so präsent sein mag, dass man von einer Art Zweisprachigkeit ausgehen kann. Entscheidend in unserem Zusammenhang ist nun, dass Sprachkenntnis für Bruni eine umfassende Kulturkenntnis einschließt. Für moderne Leser besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Bedeutung, die Bruni dem Erkennen der intertextuellen Dimension der Literatur zumisst. Ich werde auf diesen Punkt noch zurückkommen. Die Gleichwertigkeit der Sprachen führt nun vor allem zu einer grundsätzlichen Neubewertung der ästhetischen Dimension des Übersetzens. Das Übersetzen hat eine genuine ästhetische, künstlerische Dimension, die darin begründet ist, dass die Zielsprache der gleichen Perfektion fähig ist wie die Ausgangssprache. Gegenüber den Vulgarisierern befinden sich die humanistischen Übersetzer offensichtlich in einer radikal veränderten Situation. Abgesehen davon, dass sie von der einen Fremdsprache in die andere Fremdsprache übersetzen, übersetzen sie aus der einen unveränderlichen Bildungssprache in die andere unveränderliche Bildungssprache. Die Übersetzung muss daher nach Bruni nicht nur die wesentlichen Gedanken des Ausgangstextes wiedergeben, sie muss vor allem auch

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seiner Form gerecht werden. Bei den formalen Qualitäten aber denkt Bruni zunächst an Struktur und Rhythmus eines Textes. Hinzu kommt das, was man in der antiken und der mittelalterlichen Rhetorik den Ornatus, den Textschmuck nannte: »In exornationibus quoque ceteris conservandis summa diligentia erit adhibenda. Nec enim omnia nisi servet interpres, prima orationis maiestas omnino deperit et fatiscit. Servari autem sine magno labore magnaque peritia litterarum non possunt. Intelligende sunt enim ab interprete huiuscemodi, ut ita dixerim orationis virtutes ac in ea lingua, ad quam traducit, pariter representande. Cumque duo sint exornationum genera – unum quo verba, alterum quo sententie colorantur –, utrumque certe difficultatem traductori affert, maiorem tamen verborum quam sententiarum colores [...].« (Bruni 1442: 86) »Auch bei der Bewahrung des übrigen Schmuckes bedarf es einer großen Sorgfalt. Wenn ein Übersetzer nämlich nicht all diese Charakteristika des Textes bewahrt, dann geht die ursprüngliche Majestät des Textes verloren. Ihre Bewahrung aber ist nicht möglich ohne große Mühe und ohne eine vorzügliche Literaturkenntnis. Der Übersetzer muss nämlich all die Dinge, die man als die besonderen Qualitäten eines Textes bezeichnen kann, erkennen und sie in der Sprache, in die er übersetzt, wiedergeben. Und da es zwei Arten von rhetorischem Schmuck gibt, einen der den Wörtern Farbe gibt und einen der den Gedanken Farbe verleiht, bilden auch beide eine besondere Schwierigkeit für den Übersetzer, wobei die Schwierigkeit in Bezug auf die Wörter größer ist als in Bezug auf die Gedanken [...].« (Übers. A.G.)

Es geht also bei Bruni nicht zuletzt um die Form der Texte, die er übersetzt. Wer sich nur auf den Inhalt konzentriert, der ruiniert die Werke, die er übersetzen will. Von hier her erklärt sich bei Bruni auch ein deutlicher Affekt gegen das sogenannte sinngemäße Übersetzen, das – wie wir gesehen haben – noch bei Petrarca und Coluccio in der Nachfolge des Hieronymus für eine angemessene Homerübersetzung gefordert wird. Damit ist nicht gesagt, dass Bruni holprigen Interlinearübersetzungen oder einer mittelalterlichen verbum pro verbo-Praxis das Wort reden will. Was bei Bruni aber aufscheint, ist eine zunehmende Einsicht in den Umstand, dass der Sinn eben nicht von den Wörtern, d. h. der Inhalt eben nicht von der Form getrennt werden kann. Wer versucht, nur die Gedanken wiederzugeben, der gibt am Ende auch diese nicht wieder. Der Gedanke eines formunabhängigen – und insofern die Form von bestimmten kulturellen Standards geprägt wird – auch eines kulturunabhängigen Inhalts wird also von Bruni machtvoll bestritten:

28 | A NDREAS G IPPER »Pleni sunt Platonis Aristolelisque libri exornationum huiusmodi ac venustatum, quas longum nimis foret per singula consectari. Lector certe, si modo eruditus disciplina sit, faciliter ea deprehendet. His vero exemplis abunde patet neminem posse primi auctoris maiestatem servare, nisi ornatum illius numerositatemque conservet. Dissipata namque et inconcinna traductio omnem protinus laudem et gratiam primi acutoris exterminat. Ex quo scelus quodammodo inexpiabile censendum est hominem non plane doctum et elegantem ad transferendum accedere.« (Bruni 1442: 102) »Die Bücher von Platon und Aristoteles sind voll von solchen Schmuckformen und solchen Schönheiten, und es würde zu weit führen, sie einzeln aufzuführen. Gewiss wird jeder Leser, der in dieser Disziplin gelehrt ist, sie leicht erkennen. Aus allen diesen Beispielen geht daher klar hervor, dass niemand die Größe der antiken Autoren wiedergeben kann, der nicht ihren sprachlichen Schmuck und ihren Rhythmus bewahrt. Eine Übersetzung ohne Form und Eleganz zerstört sofort den ganzen Wert und die ganze Eleganz der griechischen Autoren. Und deshalb muss man es im Grunde als unverzeihliche Sünde bezeichnen, wenn ein Mann ohne hinreichende Bildung und Geschmack sich ans Übersetzen macht.« (Übers. A.G.)

Leonardo Bruni markiert mit seiner theoretischen Reflexion über das Übersetzen nicht mehr und nicht weniger als einen Quantensprung in der Übersetzungstheorie. Zum ersten Mal werden mit aller Deutlichkeit, Fragen der Form und Fragen des Stils in den Mittelpunkt der Übersetzungsreflexion gestellt. Und obwohl Bruni sich deutlich gegen die im Mittelalter dominierende Rede vom sinngemäßen Übersetzen wendet, ist er nicht einfach ein Anhänger der Ausgangstextorientierung. Im Mittelpunkt steht vielmehr das Bestreben, die formalen und ästhetischen Qualitäten des Ausgangstextes und die besonderen stilistischen Eigenheiten eines jeden Autors, also seinen Personalstil in der Zielsprache spürbar werden zu lassen. Diese neue Sicht auf das Übersetzen betont in ganz neuer Weise die Würde der Übersetzungshandlung und die Verantwortung des Übersetzers. Zum Übersetzen reicht es nicht, über eine gewisse grammatische Kenntnis der Ausgangssprache zu verfügen, das Übersetzen verlangt vielmehr eine umfassende Kulturkenntnis und eine wirklich umfassende sprachliche Kompetenz in der Zielsprache. Was heißt nun aber für Bruni Kulturkompetenz? Wie wir weiter oben gesehen haben, ist Bruni im Grunde von der Übertragbarkeit nicht nur der philosophischen Konzepte griechischer Autoren, sondern auch der politisch-sozialen Verhältnisse, von denen sie handeln, überzeugt. Interpretationsprobleme, die bei den mittelalterlichen Übersetzern auftauchen, erscheinen in dieser Perspektive

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zunächst und vor allem als Fragen linguistischer Kompetenz. Die einzige, wenn auch gewichtige Ausnahme bilden hier die ästhetischen Qualitäten der Autoren, die die mittelalterlichen Übersetzer nicht nur nicht wiederzugeben vermögen, sondern die sie gar nicht erkennen. Was Bruni den mittelalterlichen Übersetzern abspricht, ist in dieser Perspektive vor allem ein Sinn für die rhetorische Struktur und den poetischen Charakter der Texte. Worum Bruni kämpft ist damit gleichzeitig ein Verständnis für den durch und durch urbanen Charakter seiner Autoren, die er endlich aus den Ketten scholastischer Diskurse befreien möchte. Ein wichtiger kultureller Faktor der Texte und Autoren liegt also in ihrer Zuordnung zu einem bestimmten sozialen und diskursiven Ort und in einer Verkennung ihrer ursprünglichen Adressaten. Ihr genuines Publikum sind nicht scholastische Theologen, sondern jene bürgerlichen Bildungseliten, für die Bruni übersetzt und die er für seine Autoren gewinnen will. Zu betonen, dass Aristoteles seine Texte mit Dichterzitaten spickt, ist in dieser Perspektive keine Nebensächlichkeit, sondern Teil einer Strategie, die machtvoll danach strebt, Aristoteles aus der scholastischen Umklammerung zu befreien. Dennoch ist kaum übersehbar, dass Brunis Kritik an Grosseteste nicht bei Fragen der sprachlichen Form stehen bleibt, sondern weit in den Bereich historischer Hermeneutik hineinreicht. Die entsprechende Strategie lässt sich an einer Stelle illustrieren, wo es bei Aristoteles um die Ämterverteilung in den griechischen Stadtstaaten geht. Aristoteles kritisiert hier die Praxis, dass ärmere Bürger sich von öffentlichen Ämtern, insbesondere vom Richteramt befreien lassen konnten, während die Reichen zur Übernahme solcher Ämter verpflichtet waren. Darin sieht Aristoteles eine gefährliche Tendenz zur Oligarchie, die die ärmeren Bürgerschichten auf längere Sicht aus der politischen Verantwortung entlässt und schließlich von der Herrschaft verdrängt. Es ist dabei evident, dass derartige Fragen im republikanischen Florenz des frühen 15. Jahrhunderts von erheblicher Aktualität waren. Der entsprechende historische Zusammenhang geht nun bei Grosseteste weitgehend verloren, weil er mit der Verfassung der antiken Gesellschaften nicht hinreichend vertraut ist. Dies veranlasst Bruni zu einem ausführlichen Exkurs über das Zensusrecht im antiken Rom und in Griechenland, mit dessen Hilfe die Verbindung von politischer Verantwortung und ökonomischem Vermögen in antiken Gesellschaften veranschaulicht werden soll. »Wenn unser Übersetzer ›honorabilitatem‹ statt ›censum‹ sagt, so geschieht dies aus mangelnder Sprachkompetenz. Der Zensus nämlich ist jener Wert des Besitzstandes, den jener Übersetzer mit der dümmlichen, inadäquaten und ungebräuchlichen Vokabel als ›honorabilitatem‹ bezeichnet hat. Und aus diesem Wort, das er unangemessener Weise aus dem Wort ›honor‹ abgeleitet hat, folgen gewissermaßen tausend andere Unangemessenheiten.

30 | A NDREAS G IPPER Er hätte also nicht Honorabilität sondern Zensus sagen müssen, denn genau dies ist das Wort, das dem griechischen Terminus entspricht, während Honorabilität ein unangemessener Neologismus ist. Tatsächlich wurden die griechischen Städte fast alle nach dem Zensusrecht verwaltet. In Rom wurde der Zensus von Servius Tullius eingeführt. Dieser teilte die Bürgerschaft nicht nach Regionen ein, sondern nach dem Vermögen, d. h. dem Zensus, indem er eine einheitliche Gruppe schuf, deren Vermögen sich auf mehr als hunderttausend Asse belief, eine andere Gruppe von hunderttausend bis fünfundsiebzigtausend, wieder eine andere von fünfundsiebzig bis fünfzigtausend und so weiter, absteigend bis zu fünftausend. Darunter ließ er eine Gruppe übrig ohne Vermögen, die Armen und Schwachen. Auf der Grundlage des Zensus aber legte er fest, welche Abgaben in Friedens- und Kriegszeiten zu entrichten waren. […] Die Beamten jedoch, die den Zensus zu leiten hatten, wurden Zensoren genannt. Bei den Griechen nun hießen die Zensoren ›timite‹ während der Zensus ›timima‹ genannt wurde. Aber davon hatte unser guter Übersetzer nichts gelesen. Stattdessen faselt er anstelle von Zensus etwas von ›honorabilitatem‹, ein Wort, das er frei erfunden hat und das bis dahin ganz ungebräuchlich war.« (Übers. A.G.)19

Auffällig ist bei diesem Zitat, dass Bruni von einer sprachlichen Inkompetenz spricht, wo die nachfolgenden Ausführungen doch eigentlich eher eine unzureichende Kenntnis antiker Herrschaftsstrukturen nahelegen. Die mangelnde Trennung von sprachlicher und kultureller Kompetenz sollte jedoch nicht in die Irre führen. Sie dürfte lediglich ein Hinweis auf ein Verständnis der studii humanitatis im Frühhumanismus sein, in dem die sprachliche und die sachliche Seite der Literatur noch nicht auseinandergetreten sind und in dem noch nicht systematisch zwischen der sprachlichen und der kulturell-historischen Seite humanistischer Gelehrsamkeit unterschieden wurde. Das Wort census nicht zu kennen und mit den Besonderheiten des antiken Zensusrechts nicht vertraut zu sein, erscheint in dieser Perspektive tatsächlich als ein und dasselbe. Unverkennbar ist dennoch, dass der Vorwurf sprachlicher Inkompetenz bei Bruni schon allein in der Form der Argumentation mit ihren historischen Erläuterungen mit einem Vorwurf kultureller Unkenntnis verbunden ist, aus dem nicht zuletzt auch der Stolz und das Bewusstsein einer neuen Zeit spricht. Vom Übersetzer muss in dieser Perspektive nicht nur eine basale sprachliche Kompetenz, sondern eine umfassende Kenntnis der antiken Literatur und damit eine umfassende Kenntnis der antiken Welt und ihres Wissens- und Kulturhorizontes erwartet werden.

19 Lateinische Fassung nach Viti (vgl. Bruni 2004: 115/116).

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DER TRANSLATIO ZUR TRADUCTIO

Damit begründet Bruni ein neues übersetzerisches Selbstbewusstsein, das sich nicht zuletzt in einem neuen Fachterminus für das Übersetzen artikuliert. Dieser Terminus ist der Begriff der traductio. Zum ersten Mal taucht der Terminus in einem Brief Brunis an den Humanisten Niccolò Niccoli, vermutlich vom 5. September 1400, auf.20 Dort benutzt Bruni nicht nur das Verb traducere, sondern auch bereits das Substantiv traductio. Der Ausdruck traductio ist im Lateinischen zwar selten, aber durchaus belegt. In Ciceros Rhetorik De oratore bezeichnet der Terminus traductio so etwas wie eine Metonymie.21 Bruni greift diesen Begriff also auf und gibt ihm einen neuen Sinn. Dieser Sinn ist wenige Jahre später bereits deutlich verfestigt. In seinem Vorwort zu seiner AristotelesÜbersetzung etwa heißt es: »Ego igitur infinitis paene huiusmodi erroribus permotus, cum hec indigna Aristetele indignaque nobis ac lingua nostra arbitrarer, com suavitatem horum librorum, que Greco sermone maxima est, in asperitatem conversam, nomina intorta, res obscuratas, doctrinam labefactam viderem, laborem suscepi novae traductionis.« (Bruni 1442: 260-261, Herv. A.G.) »Da ich nun empört über die Unzahl von Fehlern aller Art war, die ich eines Aristoteles für unwürdig und auch unwürdig unserer lateinischen Sprache hielt und da ich andererseits sah, wie die Eleganz, die diese Bücher im griechischen Original besonders prägt, in Rohheit verwandelt war, wie die Begriffe verfälscht, die Gedanken verdunkelt und der theoretische Gehalt ruiniert worden waren, so unterzog ich mich der Mühe einer neuen Übersetzung.« (Übers. A.G.)

Der Passus zeigt, wie der Begriff der traductio eine erkennbar kritische Dimension beinhaltet, ohne dass man dieser kritischen Dimension eine systematische

20 Die Datierung des Briefes ist, wie bereits oben erwähnt, umstritten und die unterschiedlichen Vorschläge sind in ihren Begründungen nicht restlos nachvollziehbar. Gewöhnlich geht man entweder vom Jahr 1400 oder vom Jahr 1405 aus. 21 Sabbadini hat die Auffassung vertreten, dass es sich bei Brunis Verwendung des Terminus eigentlich um einen Übersetzungsfehler gehandelt habe. Der Terminus ginge in dieser Lesart auf eine Stelle in den Noctes Atticae von Aulus Gellius zurück, wo der Ausdruck traductus im Sinne von ›eingeführt‹ verwendet wird (Sabbadini 1916). Folena lehnt diese These freilich ab und geht sicher zu Recht von einer bewussten Suche nach einem neuen Terminus aus (vgl. a. Bettini 2012).

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Strategie unterstellen dürfte. Tatsächlich zeigt eine Analyse der Übersetzervorworte vielmehr, dass der Begriff der traductio bei Bruni oftmals ganz unvermittelt neben den überkommenen lateinischen Ausdrücken wie vertere, translatare und interpretari existiert und sogar auf die alten, von Bruni harsch kritisierten Übersetzungen Anwendung findet.22 Der Erfolg dieses neuen Terminus ist dennoch so durchschlagend, dass er sich alsbald nicht nur im lateinischen Sprachgebrauch der Humanisten, sondern in wenigen Jahrzehnten auch in fast allen romanischen Sprachen – Italienisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Katalanisch, Rumänisch – durchsetzt und den bis dahin gebräuchlichen Begriff der translatio, oder »translation« verdrängt. Es handelt sich hierbei um einen einzigartigen Vorgang, der bis heute das vielleicht sichtbarste Zeichen für den Siegeszug jenes neuen horizontalen Kulturund Übersetzungsbegriffs bildet, in dem wir eine der wichtigsten kulturellen Hinterlassenschaften der Renaissance erkennen.

C ONCLUSION Es ist dargestellt worden, wie das übersetzerische Werk Brunis sich in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis bewegt. Auf der einen Seite liegt ohne Zweifel eine der vornehmsten Errungenschaften des Humanismus im Umgang mit den griechischen Autoren (vor allem den Philosophen, aber auch den Dichtern, Rednern und Geschichtsschreibern) darin, ihre Rezeption aus den systematischen Beschränkungen des scholastischen Philosophiediskurses zu befreien, dessen Praxis weitgehend darin bestand, die Sentenzen der Auctores in ein vorgefügtes und von religiösen Dogmen bestimmtes logisches System einzufügen, das sie weitgehend aus ihrem Ursprungskontext löste. In diesem Sinne besteht das Verdienst der Humanisten darin, eine historisch fundierte Lektüre der anti-

22 So etwa wenn es im Vorwort zur Nikomachischen Ethik heißt: »Aristotelis Ethicorum libros facere latinos nuper institui, non quia prius traducti non essent, sed quia sic traducti erant, ut barbari magis quam Latini effecti viderentur. Constat enim illius traductionis auctorem [...] neque Grecas neque Latinas litteras satis scivisse. [...]« (Bruni 1442: 255) (»Vor einiger Zeit habe ich beschlossen, die Bücher der Aristotelischen Ethik ins Lateinische zu übertragen, nicht weil sie nicht vorher schon übersetzt gewesen wären, sondern weil sie so übersetzt worden sind, dass sie eher das Produkt von Barbaren als von Lateinern schienen. [...] Tatsächlich scheint evident, dass der Autor dieser Übersetzung weder der griechischen noch der lateinischen Sprache hinreichend mächtig gewesen ist.« [Übers. A.G.])

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ken Philosophen anzustoßen, welche sie aus systematisch-theologischen Zwängen löst und die Eigenlogik der Werke respektiert. Auf der anderen Seite freilich ist offensichtlich, dass gerade das Apriori der Vorbildhaftigkeit der Antike die Humanisten über weite Strecken daran hindert, die Individualität und innere Differenz nicht nur der Autoren, sondern auch der Sprachen, in denen sie sich ausdrücken, in ihrer ganzen Schärfe wahrzunehmen. In diesem Sinne bleibt Bruni dem vorneuzeitlich-mittelalterlichen Begriffsrealismus verhaftet, für den die Wörter und Begriffe einer Sprache lediglich willkürliche Zeichen sind, denen unveränderliche Gedanken gegenüberstehen und welche die Welt als Realisierung universaler Entitäten begreift. Dieser Realismus begründet einen entschiedenen Übersetzungsoptimismus, der im Kern von einer weitestgehenden Äquivalenz und wechselseitigen Austauschbarkeit der klassischen Sprachen ausgeht. Alles was im Griechischen gesagt werden konnte, kann in dieser Perspektive auch verlustlos auf Latein gesagt werden. Von hierher erklärt sich auch Brunis Polemik gegen den übersetzerischen Rückgriff auf Neologismen und Entlehnungen, die vor dem Hintergrund seines Sprachrealismus als bloßer Ausdruck übersetzerischer Bequemlichkeit erscheinen. Dennoch finden wir bei Bruni vielleicht erstmalig ein Bewusstsein davon, dass eine angemessene Übersetzung der antiken Autoren, die diese insbesondere auch literarisch würdigt, auch eine angemessene Kenntnis der sozialen Welt voraussetzt, in der sie schreiben und in der sie wirken. Übersetzerische Kompetenz wird damit erstmals mit Nachdruck als umfassende Kulturkompetenz definiert und die übersetzerische Tätigkeit mit dem entsprechenden Prestige ausgestattet. Der horizontale Gestus des Übersetzens befreit die Praxis des Übersetzers gleichzeitig vom Odium des bloßen Vulgarisators und vom subalternen Status, der mit dieser Position in der vertikalen Werteordnung des Mittelalters verbunden ist.

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A Concept’s Coming of Age Developments in the Use of the Concept of Culture in Translation Studies L UC

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In one way or another, any reflection about the concept of culture in the recent history of Translation Studies inevitably had to deal with the well-known and well-distributed notion of the cultural turn in the discipline, »the most marked ›turn‹ the discipline has yet taken« (Snell-Hornby 2010: 367). The concept of turn in Translation Studies has also become widely distributed, for instance through several of Mary Snell-Hornby’s publications on the topic, mainly because of its ability to express evolutionary and paradigmatic changes in the discipline. If in such a context of proliferation the cultural turn is perceived as the most influential of all the turns in Translation Studies, it would seem appropriate to have a closer look at the way such an essential concept as culture has been described and delineated. Susan Bassnett and André Lefevere introduced the concept of the cultural turn in 1990 in an attempt to focus on extra-textual aspects of the translation process that had often remained underexposed in linguistic approaches out until then: »what is studied is the text embedded in its network of both source and target cultural signs and in this way Translation Studies has been able to utilize the linguistic approach and to move beyond it.« (originally 1990, but also quoted in Bassnett/Lefevere 1998: 123) Important strands of research referred to in this respect were Functionalism and Descriptive Translation Studies. In general, however, a conceptual engagement with ›culture‹ or ›cultural‹ remains relatively limited in these pioneering works. The cultural context of the translation and the

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translation process is stressed, mainly in opposition to a strongly text-oriented approach in linguistic research. The terminological choice for ›cultural‹ expressed a critique of purely language-based approaches and as such pointed more at a theoretical or methodological shift than at a primarily content-related use of the term ›culture‹. As Cristina Marinetti rightly stated, this shift was not only typical of Translation Studies but could be observed in several disciplines in the Humanities: »the cultural approach also reflects a more general shift in epistemological stance in the humanities and beyond, from ›positivism‹ to ›relativity‹, from a belief in finding universal standards for phenomena to a belief that phenomena are influenced (if not determined) by the observer.« (Marinetti 2011: 26) The cultural turn extended the object of study of Translation Studies more than any other, as it paved the way for the study of all forms of adaptation, rewriting and recontextualization (as in localization or journalism), as well as for patronage and systems, agency-, network- or power-related, institutional and sociological approaches. It was also used to study different types of culturally determined filters distorting the ›pure‹ text view: »Like a pair of sunglasses, the filter distorts the way in which reality is perceived, and hence also accounts for the differences in interpreting meaning across linguacultures.« (Katan 2012) In short, it involved all aspects of cultural transfer, production, consumption and interaction. Translation Studies is sometimes criticized, even from within the discipline, for not being able to clearly delineate its object of study. This critique is built on a static view of scholarly work, which does not take into account the dynamics and diachrony of objects under study, particularly in the Humanities. Similar remarks can be made about related disciplines like Literary Studies (a static definition of literature is undesirable) or certainly Cultural Studies. In view of the use of ›cultural‹ as a counterweight to former predominantly language-based approaches, it is understandable that Translation Studies had not concentrated on a thorough terminological and epistemological analysis of the concept: »on the whole, specific definitions of culture are conspicuously absent in the literature of Translation Studies, despite the fact that the word/notion itself is used profusely throughout.« (Flynn 2005: 177) A more thorough engagement with the term is visible in other disciplines such as Anthropology or Cultural Studies, taking into account the highly complex nature of the term. Historian and anthropologist James Clifford’s lament that »culture is a deeply compromised concept that I cannot yet do without« is quoted by William H. Sewell (1999: 38) in his intelligent article on the different concepts of culture, where he tries to create some order in »the cacophony of contemporary discourses about culture« (ebd.: 35) and describes the »frenetic rush to the study of culture« (ebd.: 37). Indeed, since the

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mid-1980s a considerable growth of Cultural Studies (or rather CS approaches) has taken place in a variety of academic disciplines and niches. Afterwards, poststructuralist and postmodernist views, which stemmed in part from the loss of confidence in the possibility to achieve objectivity, introduced a form of cultural relativism and made ›culture‹, much like several others, a somewhat suspect term, claiming that »both in academia and in public discourse, talk about culture tends to essentialize, exoticize, and stereotype those whose ways of life are being described and to naturalize their differences from white middle-class Euro-Americans« (ebd.: 38). Within the scope of this chapter, it is interesting to note that Sewell distinguishes between two different meanings of the concept of culture. On the one hand, culture can be seen as an abstract analytical category, contrasted to other, equally abstract categories of social life. He mentions economy, politics, or biology as examples. Seen from this perspective, culture is »a theoretically defined category or aspect of social life that must be abstracted out from the complex reality of human existence« (ebd.: 39). Interestingly it is only used in the singular in this sense. The other meaning of culture is much more concrete and linked to identifiable groups in society. Examples can be based on geographical or social distinctions, such as ›European culture‹ or ›upper-class culture‹, and are related to a »concrete and bounded body of beliefs and practices« (ebd.). Because of their concrete nature, such cultures are contrastable and countable, and as such can be used in the plural. These two meanings lead to a very different use of the same concept, although the meanings are incommensurate, because »they refer to different conceptual universes« (ebd.: 40). Nevertheless, according to Sewell, culture-as-system and culture(s)-as-practice(s) are partly interrelated, as system implies practice and the two are in a dialectic relationship. This conceptual distinction will be useful further on in this chapter, when analyzing some of the uses of culture in Translation Studies.

C ULTURE ( S ) IN THE T RANSLATION S TUDIES B IBLIOGRAPHY For this analysis we will use the online Translation Studies Bibliography or TSB (Gambier/van Doorslaer 2014) as a tool. From the early beginnings of the TSB project in 2001 it explicitly aimed at creating a research bibliography with an underlying systematicity. The Editorial Board of TSB (consisting in those first years of Javier Franco, Yves Gambier, Daniel Gile, José Lambert, Gideon Toury and Luc van Doorslaer) decided to develop a keyword system of the discipline in

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parallel with conceptual maps in which the keywords were integrated. Before the first release of the bibliography in 2004, an editorial team started drawing both thematic keyword lists and conceptual maps based on three main criteria: the occurrence, frequency and interrelationships of keywords. The coming into existence of the maps (or parts thereof) was described in van Doorslaer (2009). The initial keyword lists used for the first release counted approx. 600 terms. Meanwhile, this number has been extended to almost 700. As the TSB conceptual maps have explicitly been designed as open maps, keywords and concepts can exceptionally be omitted or (more often) added, following new tendencies in the reality of publications in the discipline. The conceptual background of the TSB project has briefly been explained above, as we would like to have a closer look at the position of ›culture‹ in the maps and keyword lists of the bibliography. The conceptual maps are 19 in total, consisting of some basic maps (for instance on the relationship between the concepts translation and Translation Studies), complemented by sub-maps on topics such as strategies, tools, periods and approaches. ›Cultur*‹ appears in six of the maps, most importantly in the basic transfer map (fig. 1) which includes keywords relating to source-to-target-transfer, including source culture and target culture. This map also includes contextual keywords referring to historical or cultural periods. Fig. 1: The basic transfer map in TSB strategies source language

procedures/techniques

target language

source text

´errors`

target text

source culture

rules/norms/conventions/laws/universals

target culture

translation tools

context: historical or cultural periods - constraints - institutional environment

Other maps in which derivatives of the term culture appear are the maps containing translation procedures (›acculturation‹), cultural approaches (for instance from the perspective of Gender Studies, Identity Studies or imagology) and the map of periods, where a distinction was made between historical periods and

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literary/cultural periods (see fig. 2). In both cases, the list of periods is open to further additions. Fig. 2: The periods map of TSB periods historical periods

cultural/literary periods

different centuries

realism

classicism/antiquity

naturalism

middle ages

romanticism

modern age/modernity

modernism

interbellum

surrealism

postmodern age/postmodernity

avantgarde

enlightenment

structuralism

...

postmodernism poststructuralism ...

Last but not least one of the maps deals with the different constraints translational situations and translations are confronted with. Constraints can have a political character (for instance many aspects of censorship), or rather belong to an ethical, linguistic, professional, religious, or cultural category, etc. (see fig. 3). As is the case in some of the other maps, it is obvious that there can be an overlap between a number of categories. Here again, the concept of culture can serve as a generalized umbrella function by covering several of the more specified fields or cases constraints are related to. Fig. 3: The constraints map of TSB constraints

social

economic

ethical

linguistic

cultural

professional

political

ideological

...

religious

censorship

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Based on these maps and their interrelations, five main terms related to ›cultural‹ have been selected to act as keywords for the TSB user: in alphabetical order these are ›cultural approach‹ (also including the umbrella term ›culture‹), ›cultural constraints‹, ›cultural studies‹, ›cultural turn‹ and ›culture-bound/culturespecific elements‹ (cultural references, realia). Items in the TSB can have several keywords, so the attribution is not unique. When we have a purely quantitative look at the five keywords, we see that four of the five have been attributed only moderately to the tens of thousands of publications in the bibliography. ›Cultural constrains‹ yields 182 hits, ›cultural references‹ 142, ›cultural studies‹ 89 and ›cultural turn‹ is attributed to 72 publications. The only quantitative exception is ›cultural approach=culture‹ with 1517 hits. Although the TSB guidelines for keyword attribution mention the preference for specific keywords over more general umbrella terms (for instance ›cultural references‹ over ›culture‹), there seems to be a high number of publications using a cultural approach that cannot be categorized under more specific culture-related keywords, and for which the general (and more vague) concept of ›culture‹ seems to have been the most appropriate term at the time of keyword attribution. It has to be noted that overlaps between some keywords (particularly those of a more general rather than a more specific nature) are inevitable and partly subject to the interpretation of the researcher attributing the keywords. However, the TSB assistants make use of a guidelines document containing doubtful cases as well as the criteria the keywords attribution was based upon, in an attempt to clarify the borderlines between related keywords. For a more qualitative analysis, we will now deal with the publications from the broader ›cultural approach‹ category. In order to be able to focus on the most recent relationships, we will mainly concentrate on the publications of the past five years (2010-14).

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CULTURES …

The large number of cultural-approach items is first and foremost determined by the large number of case studies dealing with all kinds of cultural comparison and transfer. At the beginning of Descriptive Translation Studies, scholars like James Holmes or José Lambert called for more case studies that would offer possibilities to check and double-check theories and hypotheses by using empirical materials. The results for the keyword category ›culture‹ show that this call has been extensively followed. Case study research dealing with aspects of culture-specificity and examples of cultural references are abundantly present, often within a framework of demonstrations and representations of interculturality.

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Over the past decades, and following the above-mentioned calls, they have played an important role in providing the discipline with empirical evidence. Many publications involving case studies can be found in the period before 2010, but this line of research has not lost its attractiveness. Here are just a few recent titles that illustrate this approach: How to translate culture-bound references (Cómitre Narváez/Valverde Zambrana 2014), Eigennamen und Realia in einem Korpus studentischer Übersetzungen (Wurm 2013) or Translating culture-specific items in tourism brochures (Terestyényi 2011). Such (often, but not always) relatively short articles often deal with one specific aspect of transfer between ›cultures‹ or cultural areas. In these case studies the keyword ›culture‹ has been attributed based exclusively on the second meaning suggested by Sewell: a concrete use of culture(s) linked to identifiable practices or differences, meaning culture-as-practice. It is interesting to notice that a considerable part of the line of research on audiovisual translation, which is quite popular nowadays, actually focuses on the transfer of cultural references, though often additionally complicated by the combination of visual and text modes, an example being Translation of cultural items in dubbed animated comedies (Burczynska 2012). The rewriting of cultural contexts is sometimes also linked to power issues and the exchange or even imposition of values in colonial or former colonial contexts. For an AmericanBrazilian example, see »Cidade de Deus« nos EUA e Peanuts no Brasil: reescrituras em diferentes contextos culturais (Friesen Blume/Vitol Gysel 2012). The study of the transfer of cultural references does not necessarily involve only case studies but can also be connected to a historical-theoretical framework. This is done for instance in Sayin (2011), who starts from the long tradition of Shakespeare on the Turkish stage, and then uses Lotman’s framework of intercultural transfer to focus on a film adaptation of the seventies which involved an intersemiotic translation between several types of cultures and media: from English to Turkish and from stage to cinema and its partly culture-bound conventions.

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Several articles dealing with cultural transfer and cultural mediation make use of a concept of culture that is still clearly related to a movement between two poles: a source text and source culture on the one hand, a target text and target culture on the other. At the same time, this approach already engages in meanings of culture that transcend concretely identifiable changes and practices. A book like Cultural transfer through translation (Stockhorst 2010) still starts from national

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contexts or ›cultures‹, but stresses the intercultural dynamics of the transformation process. Through its role in discursive networks, translation contributes to transnational and transcultural phenomena and processes, for instance of standardization. Here we abandon the classical binary source-target presentation and replace it by a less tangible or less graspable use of (inter-)culture. A similar, even more elaborate opposition to binary thinking is mounted by Rita Wilson (2011) in an article that views cultural mediation through the translation-related act of translingual narrative. Translingual writers, writing in or navigating between two languages, may be exceptional, but like authortranslators, they blur traditional source-target poles. In her article Wilson »attempts to illustrate how, contrary to postcolonial writers whose narratives selfconsciously engage with their own linguistic or cultural hybridity by thematizing the power relationships between different linguistic strands, the narratives of transnational/translingual writers explore new identities by constructing new dialogic spaces in which language choice is located outside the oppositional model set up by the traditional binaries of postcolonial theorizing. […] it is argued that translingual works suggest an understanding of translation as not only something that happens after the story ends, but is a crucial part of the narrative itself; one that generates plot and meaning, and is indispensable to an understanding of the concrete processes of cultural translation that shape relationships, identities, and interactions globally.« (ebd.: 235)

The specific translingual situation of self-translating authors (or self-authoring translators?) and the way it shakes up their cultural self-understanding in the cross-language exchange, is also thematized in Santoyo Mediavilla’s Translation and cultural identity: competence and performance of the author-translator (2010). Partly related to the power turn in the discipline, aspects of identity in relation to culture have recently gained more attention, not only when dealing with individual cultural self-understanding, but also concerning more collective experiences of cultural identity and the changes they may undergo during the translation process. This is illustrated by Moniz’s (2012) chapter on The translation of Great War American narratives in Portugal and the re-definition of American identity involved, but also by all research dealing with the role of translation in cultural identity construction, be it nation-state-related or not, like in Ožbot’s Small cultures: construction of identity through translation (2012). Such works stress the pivotal function of translation in the development, even survival or perishing of (national) cultures, »emphasizing the role of translation as a means

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of compensation by which some of the nation’s missing legitimacy, due to its lack of political autonomy, was acquired« (Ožbot 2012: 103). A fine example showing that the cultural turn has led to a worldwide change in the view of translation and has introduced the universal into particular national cultural contexts is Wang (2012), published in the Chinese Translators Journal. The limited source-target orientation has been largely expanded to an object of study that has been »redefined to refer to linguistically enabled inter-cultural renditions rather than merely inter-lingual ones« (Wang 2012: 5). Interestingly, Wang also sees the extended cultural influence in the study of translation as a basis for a new enlargement. New lines of translation research dealing with globalization or digitalization are developed more easily through a larger, culturally expanded concept of translation, with not merely a linguistic, but a broader semiotic view on language, signs and images. As the TSB uses Translation Studies as an umbrella concept covering both translation and interpreting, it is important to mention that similar developments can be noticed in the research on interpreting, where the role of the interpreter is also often connected to that of an intercultural mediator. Particularly practices like community interpreting or public service interpreting give rise to such a use of culture by mainly focusing on their ›more-than-language‹ aspect. Several recent examples of this line of research can be found in Schäffner/ Fowler/Kredens (2013), for instance, and their selected papers from the Critical Link 6 conference. Particularly Gustafsson, Fioretos/Norström (2013, on the interpreter as cultural broker) as well as Foulquié Rubio/Abril Martí (2013, on intercultural mediation) use a culture-analytical perspective. An essential, yet highly controversial term in the interplay between culture and translation (or rather Translation Studies), is ›cultural translation‹. The controversy is not typical for Translation Studies and has already existed for decades. As Kyle Conway quite clearly describes, the main lines of demarcation run between scholars from anthropology/ethnography on the one hand, and from Cultural/Postcolonial Studies on the other (Conway 2012: 21). In the journal Translation Studies an interesting forum on the topic was organized in the volumes of 2009 and 2010. The central role played by the concepts of displacement and hybridity has consequences for the perspective on culture (and translation) as it is perceived in this discussion. Postmodern theorists use ›cultural translation‹ to describe and at the same time to question the identity of »individuals who have crossed these artificial cultural borders« (Katan 2012: 5). Here again, we have gradually moved further away from concrete cultures and cultural items, closer to an artificialized cultural border experience or an abstracted category as described by Sewell. In a similar vein, the abstract use of culture is also

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illustrated by a contribution like Lee (2012), where cultural translation and (feminism-based) gender translation are contrasted in a discussion about the theoretical and conceptual dimensions of the terms. The position of the concept of culture has received increasing prominence within Translation Studies. Through the need for reflection on interculturality and the background of cultural phenomena, Cultural Studies and cultural theories have been integrated in the discourse of the discipline. The concept of culture, which was often used in a very general and relatively vague sense in the heydays of the so called cultural turn, has now become the object of intense study, also for inclusion in the curricula in Translation Studies. »Kulturwissenschaft und Kulturtheorien sind zu Recht in den letzten Jahren im Bereich der interkulturellen Kommunikation und der Translationswissenschaft in den Fokus genommen worden. Ausgehend von Kulturanthropologie und Kultursemiotik bis hin zu interkultureller Kommunikation in einer weltweit vernetzten und globalisierten Welt ist das Konzept ›Kultur‹, auch wenn es nicht gleich greifbar und verschieden interpretiert wird, überall präsent. Es prägt – meist unbewusst – unseren Alltag, lässt Kulturphänomene bewusstwerden, kulturhistorische Erscheinungen in neuem Licht erscheinen und steuert letztendlich unser Kommunikationsverhalten. Als Grundlage translatorischen Handelns und einer pragmatisch orientierten Translation ist Kultur mit all ihren Facetten sowie die theoretische Reflexion darüber zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Translationswissenschaft sowie der curricularen und postcurricularen Ausbildung geworden.« (Holzer 2012: 45)

The work of authors such as Doris Bachmann-Medick, who approach translation and intercultural communication from a culture-theoretical angle, has both widened and deepened the perspectives on culture in Translation Studies, and on translation in Cultural Studies. Here we have arrived at a point where theories travel and are translated into new contexts, which can also modify parts of them. In Bachmann-Medick (2014) it is shown that differences in research and reflection traditions, like those in British/American Cultural Studies and German Kulturwissenschaften, for instance, can lead to relative incompatibility, or at least to a relative untranslatability of concepts. Hence, it may be worthwhile studying possible interesting parallels with the use of the concept of culture in Translation Studies, where, based on this small qualitative test in TSB publications, the culture-theoretical approach seems to be more present in the German language area than in the quantitatively dominant English-language publications. Instead of the translocation or transformation of objects or texts (or in the case of migration: persons), theories have now started to travel across borderlines. Standke (2008)

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has dealt with the circulation of different theories between academic fields and discourses and has shown that theory transfer is a necessary topic for the interdiscipline that Translation Studies is often said to be. Hebenstreit (2008) investigated the interlingual migration of some concepts in and from Translation Studies and the related conceptual changes that were involved. Bachmann-Medick’s view on the cultural turn in Translation Studies has also been productive in Lukas/Turska/Olszewska (2013), in which several authors investigate the phenomena of translation and translational action as cultural facts.

C ONCLUSION Nowadays Translation Studies has institutionalized tools at its disposal that allow us to test diachronic developments in the discipline. This article has used the online Translation Studies Bibliography to have a closer look at the use of the concept of culture on the basis of the keywords. ›Culture‹ and ›cultural‹ are abundantly used in translation research, but it seems that several types of use can be distinguished. A gradual movement has taken place from the relatively unproblematic and general use of the term in the 1980s and 90s (the period of the much mentioned cultural turn) over concrete uses of ›cultures‹ (often in a binary source-target categorization) to abstract analytical categories based on cultural theory. The distinctions made by Sewell within the concept of culture are applicable to the data discussed in this contribution. Although Sewell was dealing with the development of the concept of culture in Anthropology and Cultural Studies, many of the changes show parallels with developments in Translation Studies. The discipline still produces many case studies where ›cultures‹ are used (compared, opposed) in the plural, hence more concrete sense. At the same time, more recent developments in research clearly reflect an awareness (or stronger: a stance) of cultural relativism, no longer starting from »the idea that cultures […] form neatly coherent wholes: that they are logically consistent, highly integrated, consensual, extremely resistant to change, and clearly bounded« (Sewell 1999: 52), but accepting that cultural practices and their worlds of meaning are »contradictory, loosely integrated, contested, mutable, and highly permeable« (ebd.). When the world is no longer clearly divided or dividable in well-integrated groups, societies or cultures, this also has consequences for the angles and concepts used in Translation Studies research. In that sense, the move toward a more intense engagement with non-multipliable, more abstract uses of ›culture‹ is not unexpected. It also shows that Translation Studies is not develop-

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ing in a void, but interacts with related disciplines and reflects about conceptual evolutions taking place there, applying them to the context of the own discipline. It can also be hypothesized that the distinct uses are partly related to differences in theory building in several language areas, like the different traditions and focuses in the British/American Cultural Studies and the German Kulturwissenschaft. Further research would have to show to what extent such differences continue to exist or lead to distinct approaches in Translation Studies as well.

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Quo vadis, Übersetzungsbegriff? Tendenzen und Paradoxien M ICHAEL S CHREIBER

E INLEITUNG In meinem Beitrag möchte ich einige Tendenzen in der Entwicklung des Übersetzungsbegriffs diskutieren, die in jüngerer Zeit in unterschiedlichen Bereichen zu beobachten sind: 1. In der Kulturwissenschaft und z.T. auch in der Translationswissenschaft verzeichnet der Begriff der kulturellen Übersetzung seit einigen Jahren eine beachtliche Konjunktur. Birgit Wagner (in diesem Band) beklagt – meines Erachtens völlig zu Recht – die häufig zu findende unscharfe Verwendung dieses Begriffes. Ich werde daher versuchen, einige Präzisierungen aus translationswissenschaftlicher Sicht vorzunehmen. 2. Eine geradezu entgegengesetzte Entwicklung lässt sich bei einigen neueren Berufsbildern beobachten: Hier wird der Begriff der Übersetzung entweder in einer sehr engen Lesart verwendet oder ganz durch neue Termini, wie z.B. Lokalisierung, ersetzt. 3. Noch unübersichtlicher wird die übersetzungsbezogene Terminologie, wenn man sich im Bereich der Didaktik umschaut, genauer gesagt bei der Benennung der Studiengänge im Bereich des Übersetzens und Dolmetschens. Die Prä-Bologna-Studiengänge Diplom-Übersetzer und Diplom-Dolmetscher sind von einer ganzen Reihe von BA- und MA-Studiengängen abgelöst werden, die eine bunte Vielfalt an Benennungen präsentieren.

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K ULTURELLE Ü BERSETZUNG Obwohl der Begriff der kulturellen Übersetzung heute in aller Munde zu sein scheint – vor allem im Bereich der Kulturwissenschaft – sind Zitate, die man als Definition oder Explikation dieses Begriffes interpretieren kann, relativ selten. Wegweisend waren vor allem Arbeiten aus dem Bereich der postkolonialen Studien. Einer der Autoren, der in diesem Kontext immer wieder zitiert wird, ist Homi Bhabha. So schreibt Kate Sturge in dem Artikel Cultural translation der Routledge Encyclopedia of Translation Studies: »In this case [in postcolonial studies], ›translation‹ is not meant as interlingual transfer but metaphorically, as the alteration of colonizing discourses by the discourses of the colonized and vice versa. For Bhabha, the resulting ›hybridity‹ in language and cultural identity means culture is both ›transnational‹ and ›translational‹ […]. In this view, translation is not an interchange between discrete wholes but a process of mixing and mutual contamination, and not a movement from ›source‹ to ›target‹ but located in a ›third space‹ beyond both.« (Sturge 2009: 69)

Es handelt sich hierbei, wie Kate Sturge bemerkt, um einen metaphorischen Übersetzungsbegriff. Dilek Dizdar warnt in einem ähnlichen Kontext vor einer völligen Entgrenzung des Übersetzungsbegriffs: »The problems arising from such a clear-cut distinction between translation proper and ›other‹ translations cannot, however, be solved by eliminating the distinction altogether. If everything becomes translation, it will become increasingly difficult to justify a nonarbitrary use of the word for processes and instances of understanding and interpretation; for cultural, textual, psychological, bodily and artistic transformation; for ways of relating to the Other; for migration and travel; and for communication and language in general.« (Dizdar 2009: 90)

Anthony Pym verteidigt dagegen explizit die metaphorische Ausweitung des Übersetzungsbegriffs, wie er beim Begriff der kulturellen Übersetzung vorliegt: »It would be dangerous, though, to defend any original or true sense of the word ›translation‹. Is there anything wrong with the metaphors? Is there anything new in their workings? After all, metaphors always map one area of experience on to another, and when you think about it, the words we use for the activities of translators (›translation‹, ›Übersetzen‹, etc.) are no less metaphorical, since they propose images of movement across space […]. Perhaps the problem is that they have become dead metaphors, images that we

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somehow accept as self-evident truths. The more conscious metaphors of ›cultural translation‹ may thus help us think more critically about all kinds of translation.« (Pym 2010: 159)

In einem Punkt muss ich Pym recht geben: Eine metaphorische Verwendung des Übersetzungsbegriffs ist nicht grundsätzlich negativ zu bewerten. Dennoch sollte man sich die Frage stellen, welchen Mehrwert der Übersetzungsbegriff bringt, wenn er auf Phänomene außerhalb der so genannten translation proper, d.h. der interlingualen Übersetzung, angewandt wird. Wenn man die kognitive Metapherntheorie (Lakoff/Johnson 1980) ernst nimmt, dann greift ein Metaphernbegriff, der Metaphern auf die ornamentale, stilistische Funktion reduziert, zu kurz. Die Translationswissenschaft wird zwar durch die metaphorische Ausweitung des Übersetzungsbegriffs »kulturwissenschaftlich ›geadelt‹« (Schreiber 2012: 114), ob mit dieser Ausweitung aber ein Erkenntnisgewinn verbunden ist, bleibt offen. Offen bleibt ebenfalls, ob mit dem Begriff der kulturellen Übersetzung lediglich alte Grenzen verwischt werden, oder ob auch neue Differenzierungen eingeführt werden. Da mich die Frage der Differenzierung des Übersetzungsbegriffs seit meiner Dissertation (vgl. Schreiber 1993) beschäftigt, möchte ich auch in diesem Fall für eine Differenzierung plädieren. Einer der wenigen Versuche einer solchen Differenzierung unternimmt Michaela Wolf in ihrem Artikel »›Kulturelle Übersetzung‹. – Spielwiese für übersetzerische Beliebigkeiten oder Spielarten von Übersetzung ›nach Babel?‹« (Wolf 2010). Sie diskutiert darin verschiedene »Spielarten von Übersetzung« (z.B. Verfremden vs. Einbürgern) sowie »Spielarten von ›kultureller Übersetzung‹« (z.B. Kulturtransfer, Transkulturation und »kulturelle Übersetzung«). Es ist kein Zufall, dass der Begriff der »kulturellen Übersetzung« (den Wolf immer in Anführungszeichen verwendet) hierbei in zwei Lesarten auftaucht: Als Oberbegriff für »›kulturelle‹ Übersetzungskonzepte« (Wolf 2010: 46), auch ante litteram, und als Beispiel für ein solches Konzept. Im Sinne einer terminologischen Klärung schlage ich vor, vier Stufen der kulturellen Übersetzung zu unterscheiden: 1. 2. 3. 4.

Kulturelle Übersetzung als punktuelles Übersetzungsverfahren Kulturelle Übersetzung als globale Übersetzungsmethode Formen der Inter-/Transkulturalität als kulturelle Übersetzung Kultur(en) als Übersetzung

Die Stufen 1 und 2 gehören zum Bereich der so genannten translation proper, also der interlingualen Übersetzung (vgl. a. Albrecht, in diesem Band). Bei Stufe 1 geht es um punktuelle Anpassungen an die Zielkultur in Übersetzungen, die

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ansonsten keine tiefgreifenden kulturellen Anpassungen enthalten. Als ein Beispiel aus dem Bereich der technischen Fachübersetzung könnte man hier die Übersetzung von Bedienungsanleitungen erwähnen, die an einzelnen Textstellen an die Gegebenheiten der Zielkultur angepasst werden, z.B. bei den Garantiebedingungen (vgl. Reinart 2009: 324). Dass es sich hierbei um ein kulturelles und kein rein sprachliches Phänomen handelt, sieht man schon allein darin, dass es in diesem Bereich Unterschiede innerhalb der gleichen Sprache geben kann, z.B. aufgrund von unterschiedlichen gesetzlichen Bestimmungen in verschiedenen Ländern mit der gleichen Amtssprache. Bei Stufe 2 der kulturellen Übersetzung wird die Anpassung an die Zielkultur zu einer Strategie, die den gesamten Text betrifft. Hierzu gehören viele der französischen Übersetzungen des 17. und 18. Jahrhunderts, die man als belles infidèles bezeichnet. Bei den belles infidèles liegt diese Strategie in der konsequenten Anpassung an den Geschmack der Zielkultur, den goût classique. Die Zielkultur ist dabei allerdings nicht als statisch zu sehen, denn Übersetzungen können auch dazu beitragen, einen bestimmten Geschmack beim Zielpublikum herauszubilden, wie Roger Zuber in seiner Monographie Les Belles infidèles et la formation du gôut classique (Zuber 1968) gezeigt hat. Die Stufen 3 und 4 der kulturellen Übersetzung betreffen die Verwendung des Begriffs der kulturellen Übersetzung in einem metaphorischen Sinn, wie er uns in der Kulturwissenschaft (im Singular) oder verschiedenen kulturwissenschaftlichen Disziplinen (im Plural) begegnet. Bei Stufe 3 könnte man noch einmal zwischen Inter- und Transkulturalität unterscheiden, je nachdem ob man von zwei mehr oder weniger distinkten Kulturen ausgeht oder ob man Kulturgrenzen eher negiert. Historische Fallstudien zur kulturellen Übersetzung gehören meist zu verschiedenen Spielarten der Stufe 3. Beispielhaft genannt seien die Studien der Sammlung Kulturelle Übersetzung: Das Beispiel Brasilien (Xavier/ Zeuch 2010), welche Beiträge wie die folgenden enthält: »Kulturübersetzung in den Schriften jesuitischer Missionare im Brasilien des 16. Jahrhunderts« (Pinheiro 2010) oder »Alexander von Humboldts Expeditionen nach Lateinamerika (1799-1804) als Beitrag zur Kulturellen Übersetzung?« (Zeuch 2010). In Pinheiros Artikel geht es um die »Übersetzung von Kulturelementen der Tupi-Indianer in christliche Kategorien und von christlichen Grundsätzen in Tupi-Konzepte« (Pinheiro 2010: 170) in Schriften der Missionare, mit dem Ergebnis einer kulturellen Hybridisierung. Textuelle Grundlage des Artikels von Zeuch sind Reiseberichte, Tagebücher und wissenschaftliche Abhandlungen Alexander von Humboldts. Die kulturelle Übersetzung findet nach Darstellung der Autorin jedoch nicht in den Texten, sondern auf der Ebene von Humboldts Wertesystem statt:

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»Humboldts kulturelle Übersetzung ist ein Prozess, der in beide Richtungen geht, denn er entwickelt seine ethische Position auf der Grundlage autoptisch erfahrener und insofern empirisch beglaubigter Anthropophagie und Sklaverei. Humboldt würde nicht so weit gehen, zugunsten des Anderen seine Position aufzugeben.« (Zeuch 2010: 231)

Stufe 4 der kulturellen Übersetzung ist sozusagen der Extremfall der Transkulturalität: Kulturen als solche werden aufgrund ihres hybriden Charakters als Übersetzungen betrachtet, z.B. im Kontext postkolonialer Gesellschaften. Michaela Wolf referiert dieses Konzept folgendermaßen: »The concept of ›culture as translation‹ thus projects culture as the site of interaction of the components of translational processes and as the space where translation is conceived as the reciprocal interpenetration of Self and Other. When this perspective is adopted it becomes clear that postcolonial communities such as the ›mixed cultures‹ and syncretic societies of Latin America are dependent on translation not only in terms of texts but also in terms of intracultural traditions, cultural practices and conventions.« (Wolf 2002: 186)

Das ist ein logischer Endpunkt einer Argumentationskette, aber meines Erachtens auch derjenige Übersetzungsbegriff, mit dem man aufgrund seines allumfassenden Charakters am schwierigsten arbeiten kann. Aus translationswissenschaftlicher Sicht stehe ich dem Begriff der kulturellen Übersetzung der Stufen 3 und 4 zwar skeptisch gegenüber, würde ihn aber nicht grundsätzlich verwerfen. Ich sehe aber noch Nachholbedarf im Bereich der theoretischen Reflexion über den Begriff und die verschiedenen Unterarten der kulturellen Übersetzung.

B ERUFSBILDER Während der Begriff der kulturellen Übersetzung mit einer Ausweitung des Übersetzungsbegriffs einhergeht, findet man in Bezug auf die Bezeichnung einiger Berufsbilder in jüngster Zeit geradezu entgegengesetzte Tendenzen: Der Ausdruck Übersetzung wird entweder ganz vermieden oder in einer sehr engen Lesart gebraucht. Ich möchte dies am Beispiel von zwei neueren Berufsbildern erläutern: der Lokalisierung und der Transcreation. Der Oberbegriff Lokalisierung findet vor allem für die folgenden Tätigkeiten aus dem Umfeld der Fachübersetzung Verwendung:

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1. Softwarelokalisierung 2. Lokalisierung von Videospielen 3. Webseitenlokalisierung (z.T. auch als Transcreation bezeichnet) Mit dem Terminus Lokalisierung soll dabei zum Ausdruck gebracht werden, dass ein Produkt (Software, Spiel, Webseite) an einen lokalen Markt angepasst wird und dass dabei nicht nur verbale Informationen (Texte) übersetzt werden, wie in dem folgenden Zitat aus einer Einführung in die Softwarelokalisierung erläutert wird: »Den Prozess der Anpassung eines (Software-) Produktes an regionale Märkte, d.h. an unterschiedliche Sprach- und Kulturräume, bezeichnet man als (Software-)Lokalisierung. [...] Bei der Lokalisierung geht es um weitaus mehr als die reine Übersetzung der betreffenden Texte. Die Lokalisierung eines Softwareproduktes und der zugehörigen Dokumentation umfasst beispielsweise folgende Schritte: •

Übersetzen der Benutzeroberfläche einschließlich der Onlinehilfe



Übersetzen der zugehörigen Produktdokumentation



Übersetzung der sonstigen Begleitmaterialien (z.B. Verpackungsaufschriften, Disket-



Anpassen der im Originaltext angegebenen Kundendienst- bzw. Kontaktadressen an



Anpassen einzelner Formate/Felder der Software an die Gegebenheiten des Ziel-



Anpassen der in den Handbüchern abgebildeten Bildschirmmasken an die lokalisierte

ten-/CD-ROM-Etiketten, Garantiekarten etc.) Adressen vor Ort sprachraums (Adressfelder, Maßeinheiten, Papierformate) Software« (Schmitz/Wahle 2000: 3)

Verwandt mit dem Terminus Lokalisierung ist der Ausdruck Transcreation. Er wird vor allem für kreative Neuschöpfungen von Webseiten und Werbematerial verwendet: »When a text is transcreated, both verbal and non-verbal content such as design and imagery are taken account of and adapted linguistically and culturally to the target audience. Transcreation is used primarily for marketing material, brochures and websites. The concept of transcreation borders on localization, which means adapting a text to a particular audience or local market, but localization is mainly used for software, manuals, user instructions, etc., and is not associated with the idea of creativity in the way that transcreation is.« (Rike 2014: 8)

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Durch die Einführung neuer Termini wie Lokalisierung und Transcreation zur Bezeichnung bestimmter Berufsfelder wird im Gegenzug der Ausdruck Übersetzen auf ein sprachliches, reproduzierendes Verfahren reduziert, d.h. die aus dem translationswissenschaftlichen Funktionalismus bekannte Aussage, dass »Translation nicht nur ein sprachlicher, sondern immer auch ein kultureller Transfer ist« (Reiß/Vermeer 1984: 4), sowie die Beobachtung, dass »Übersetzen eine höchst kreative Tätigkeit ist« (Kußmaul 2000: 16), werden zurückgenommen. Das ist insofern widersprüchlich, als sich gerade Praktiker häufig auf funktionalistische Ansätze wie die Skopostheorie berufen. Es gibt inzwischen aber auch Autoren, die daran erinnern, dass der Mehrwert, der durch die Termini Lokalisierung und Transcreation ausgedrückt werden soll, ohnehin zum Berufsbild des Übersetzers gehört. So schreibt Carmen Heine in einem Artikel zur Übersetzung von Hypertexten im Internet: »In diesem Artikel werden die Berufsbezeichnung ›Übersetzer‹, die Tätigkeitsbezeichnung ›Übersetzen‹ und die Produktbezeichnung ›Übersetzung‹ beibehalten. Die Übertragung von sprachlichen Inhalten und technischen Sachverhalten in Softwareumgebungen in andere ›locale‹ wird auch als Softwarelokalisierung bezeichnet, die Übersetzung von Internet-Hypertexten neuerdings als Transcreation. Als Besonderheit wird bei der Lokalisierung die Berücksichtigung kultureller Aspekte in der Transferleistung verstanden, bei Transcreation die kreative, an die Zielkultur und Erwartungen angepasste Neuschöpfung von Webseiten im anderen Sprachraum, Aspekte, die m.E. keiner dezidierten (Neu-) Benennung bedürfen und jeder übersetzerischen Leistung selbstverständlich innewohnen sollten.« (Heine 2006: 17)

Der Grund für die Einführung neuer Termini wie Lokalisierung und Transcreation liegt also weniger in einer sachlichen Notwendigkeit, sondern offenbar eher in der Tatsache, dass der altgediente Ausdruck Übersetzen für bestimmte, neue Berufsfelder nicht modern genug erscheint. Das wäre ja an sich noch nicht problematisch, wenn diese Entwicklung nicht im diametralen Gegensatz zur Ausweitung des Übersetzungsbegriffs in der Kulturwissenschaft stehen würde. Überspitzt ausgedrückt, könnte man folgende Gleichungen aufstellen:  

Kulturelle Übersetzung = Kulturtransfer ohne Sprachtransfer Übersetzung in der Berufspraxis = Sprachtransfer ohne Kulturtransfer

Wenn Kulturwissenschaftler mit Praktikern über Übersetzung kommunizieren möchten, besteht daher die Gefahr, dass beide Seiten aneinander vorbeireden, da

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sich ihre eigenen Übersetzungsbegriffe im Extremfall noch nicht einmal überschneiden.

S TUDIENGÄNGE Abschließend möchte ich einen Blick auf die Translationsdidaktik werfen. Wer die Hoffnung hegt, dass die Didaktik geeignet sein könnte, um zwischen Theorie und Praxis zu vermitteln, wird schnell enttäuscht werden. Schon ein Blick auf die Bezeichnungen der heutigen translatorischen Studiengänge zeigt, dass diese nicht dazu beitragen, terminologische Klarheit zu schaffen. Vor der Einführung der BA- und MA-Studiengänge dominierten an deutschen Hochschulen im Bereich Übersetzen und Dolmetschen die Studiengänge Diplom-Übersetzer (gegebenenfalls mit dem Zusatz FH) und Diplom-Dolmetscher. Daneben gab es noch einige spezialisierte Abschlüsse, wie Diplom-Technikübersetzer oder DiplomGebärdensprachdolmetscher, sowie an einigen Hochschulen den Kurzstudiengang Akademisch geprüfter Übersetzer. Heute bietet sich ein differenzierteres Bild. Auf der Homepage des Berufsverbandes ATICOM (Fachverband der Berufsübersetzer und Berufsdolmetscher e.V.) findet sich eine Übersicht der Abschlüsse an deutschen Hochschulen im Bereich Dolmetschen und Übersetzen, in der u.a. folgende Studiengänge aufgelistet sind:          

Asienwissenschaften: Schwerpunkt Arabische/Chinesische/Japanische/Koreanische Sprache und Translation (Universität Bonn, MA) Dolmetschen (Hochschule für Angewandte Sprachen München, MA) Fachübersetzen (FH Köln, MA; Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt, BA) Fachübersetzen und mehrsprachige Kommunikation (Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt, MA) Gebärdensprachdolmetschen (Humboldt-Universität zu Berlin, MA; Universität Hamburg, BA und MA, Hochschule Magdeburg-Stendal, BA und MA) Internationale Fachkommunikation (FH Flensburg, BA und MA) Internationale Fachkommunikation – Sprachen und Technik (Universität Hildesheim, MA) Internationale Fachkommunikation und Übersetzen (Hochschule Magdeburg-Stendal, BA) Internationale Kommunikation und Übersetzen (Universität Hildesheim, BA) Konferenzdolmetschen (Universität Heidelberg, FH Köln, Universität Leipzig, Universität Mainz, alle MA)

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               

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Literaturübersetzen (Universität Düsseldorf, MA) Medientext und Medienübersetzung (Universität Hildesheim, MA) Mehrsprachige Kommunikation (FH Köln, BA) Softwarelokalisierung (Hochschule Anhalt, BSc und MSc) Sprache, Kultur, Translation (Universität Mainz, BA) Sprachen und Wirtschaft (FH Köln, BA) Staatlich geprüfter Übersetzer, Staatlich geprüfter Übersetzer und Dolmetscher (mehrere Fachakademien und Fremdspracheninstitute in Bayern) Technikübersetzen, technische Redaktion (FH Flensburg, BA) Terminologie und Sprachtechnologie (FH Köln, MA) Translation (Universität Leipzig, BA, Universität Mainz, MA) Translation Studies for Information Technologies (Universität Heidelberg, BA) Translationswissenschaft (Übersetzen) (Universität des Saarlandes, MA) Translatologie (Universität Leipzig, MA) Übersetzen (Hochschule für Angewandte Sprachen München, BA) Übersetzungswissenschaft (Universität Heidelberg, BA und MA) Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft sowie Translation (Universität des Saarlandes, BA) (ATICOM 2015, Darstellung gekürzt und vereinfacht)

In dieser Aufstellung fällt u.a. Folgendes auf: 





Insgesamt bietet sich ein heterogenes, unübersichtliches Bild an translationsbezogenen Hochschulabschlüssen. Dies hängt sicherlich mit der Differenzierung der Berufsbilder in der jüngeren Vergangenheit zusammen, aber auch mit der an deutschen Hochschulen intensiv betriebenen Profilbildung im Zuge des Bologna-Prozesses (vgl. Schreiber 2010: 325f.). Abschlüsse, die sich – wie zu Zeiten der Diplomstudiengänge – auf die Bezeichnungen Übersetzen und Dolmetschen (bzw. Übersetzer oder Dolmetscher) tout court beschränken, finden sich nur vereinzelt, sieht man von den staatlichen Abschlüssen in Bayern ab. Häufiger finden sich spezifizierende Komposita wie Konferenzdolmetschen oder Fachübersetzen. Kulturelle Übersetzung findet sich als Studiengangbezeichnung nicht. Offenbar wird dieser Begriff aufgrund seiner semantischen Vagheit nicht als berufsrelevante Tätigkeit wahrgenommen. Mehrfach zu finden sind auch Oberbegriffe für Übersetzen, Dolmetschen und verwandte Tätigkeiten (bzw. die entsprechenden wissenschaftlichen Disziplinen), z.B. Translation, Translationswissenschaft/Translation Studies/

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Translatologie, Internationale Fachkommunikation oder Mehrsprachige Kommunikation. Die in der Berufspraxis häufig zu findende Bezeichnung Lokalisierung findet sich als Studienabschluss bisher nur im Kontext der Softwarelokalisierung. Der Neologismus Transcreation ist in den Studienabschlüssen (noch) nicht vertreten. Ferner fällt auf, dass die zu Diplomzeiten üblichen Berufsbezeichnungen in Form eines Nomen Agentis (traditionell in maskuliner Form) kaum noch vorkommen (abgesehen von den staatlichen Abschlüssen in Bayern). Dies könnte einerseits damit zusammenhängen, dass man die heute obligatorischen geschlechtsneutralen Formulierungen umgehen möchte, andererseits aber auch damit, dass es für die unter 3. genannten Oberbegriffe keine gängigen Berufsbezeichnungen gibt (der Terminus Translator hat sich außerhalb der Translationswissenschaft bisher kaum durchgesetzt, und Bildungen mit Kommunikator sind als Berufsbezeichnungen unüblich).

S CHLUSSBEMERKUNGEN Wenn wir die Entwicklung des Übersetzungsbegriffs in den drei behandelten Kontexten vergleichend betrachten, bietet sich ein widersprüchliches Bild: 1. Im Bereich der (Kultur-)Wissenschaft ist eine Ausweitung des Übersetzungsbegriffs zu beobachten, speziell im Hinblick auf den Begriff der kulturellen Übersetzung. 2. In der Berufspraxis finden sich dagegen in jüngster Zeit Tendenzen zu einer Eingrenzung des Übersetzungsbegriffs auf den sprachlichen Transfer und die Verwendung von Neologismen für Tätigkeiten, die über einen sprachlichen Transfer hinausgehen. 3. In der Translationsdidaktik, speziell im Hinblick auf die Studienabschlüsse an deutschen Hochschulen, finden sich einerseits Tendenzen zur Spezifizierung des Übersetzungsbegriffs, andererseits geht der Übersetzungsbegriff häufig in weiter gefassten Begriffen wie Translation, Fachkommunikation oder Mehrsprachige Kommunikation auf. Die in den drei Bereichen beobachteten Tendenzen gehen also in ganz unterschiedliche Richtungen und sind z.T. nicht miteinander kompatibel. Wenn diese Entwicklung sich fortsetzt, sehe ich die Gefahr, dass eine Kommunikation zwischen Vertretern der verschiedenen Bereiche immer schwieriger wird, da es kei-

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ne gemeinsame Sprache gibt. Es scheint so, als würden in den oben behandelten Bereichen derzeit drei Elfenbeintürme entstehen. Was ist zu tun, um diese Kommunikationshindernisse zu vermeiden bzw. zu beseitigen? Ich halte es nicht für realistisch, sich auf eine gemeinsame Definition für den Begriff des Übersetzens tout court festlegen zu wollen. Sinnvoll und notwendig ist aber meines Erachtens eine Theoriearbeit an neu entstandenen Begriffen wie kulturelle Übersetzung, Lokalisierung oder Mehrsprachige Kommunikation. Für förderlich würde ich auch die wissenschaftliche Diskussion bereichsübergreifender Fragestellungen ansehen, z.B. Wie kann der Begriff der kulturellen Übersetzung in translationsbezogene Studiengänge einbezogen werden? Oder: Wie steht die Wissenschaft zu neuen Bezeichnungen, die in der Berufspraxis oder in der Translationsdidaktik gebraucht werden, aber für die es noch keinen ausgearbeiteten theoretischen Rahmen gibt? So wird man zwar den Bau von Elfenbeintürmen nicht verhindern können, aber man könnte zumindest versuchen, den Nebel, der sich um die Turmspitzen bildet, zu vertreiben.

L ITERATUR Albrecht, Jörn (in diesem Band): »›Kultur‹ und Kulturwissenschaft: Ihre Bedeutung für die Translationswissenschaft und für die Translationspraxis«. ATICOM Fachverband der Berufsübersetzer und Berufsdolmetscher e.V.: »Abschlüsse an deutschen Hochschulen im Bereich Dolmetschen und Übersetzen. Stand: April 2015«, http://www.aticom.de/service/aticom-publikationen/ Dizdar, Dilek (2009): »Translational transitions. ›Translation proper‹ and translation studies in the humanities«, in: Translation Studies 2, S. 89-102. Heine, Carmen (2006): »Herausforderung Hypertextübersetzung«, in: Carmen Heine/Klaus Schubert/Heidrun Gerzymisch-Arbogast (Hg.), Text and Translation: Theory and Methodology of Translation, Tübingen: Narr, S. 17-40. Kußmaul, Paul (2000): Kreatives Übersetzen, Tübingen: Stauffenburg. Lakoff, George/Johnson, Mark (1980): Metaphors We Live By, Chicago: University of Chicago Press. Pinheiro, Teresa (2010): »Kulturübersetzung in den Schriften jesuitischer Missionare im Brasilien des 16. Jahrhunderts«, in: Wibke Röber de Xavier/Ulrike Zeuch (Hg.), Das Achtzehnte Jahrhundert. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts. Kulturelle Übersetzung: Das Beispiel Brasilien, 4:2, S. 163-170. Pym, Anthony (2010): Exploring Translation Theories, London/New York: Routledge.

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Ü BERSETZUNGSBEGRIFF ?

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›Kultur‹ und Kulturwissenschaft Ihre Bedeutung für die Translationswissenschaft und für die Translationspraxis J ÖRN A LBRECHT

E INFÜHRUNG : D IE T RANSLATIONSWISSENSCHAFT DREIGESCHOSSIGES G EBÄUDE

ALS

Wenn mich nicht alles täuscht, so bin ich zu der Tagung über Translationstheoretische Positionen im Spannungsfeld zeitgenössischer kultur- und sozialwissenschaftlicher Diskurse nicht so sehr als ehemaliges Mitglied des veranstaltenden Fachbereichs, sondern eher als typischer Vertreter eines outdated paradigm nach Germersheim eingeladen worden, als Übersetzungsforscher, dessen Beitrag am Schluss der Veranstaltung eine Art Kontrastfolie zu den übrigen, in weit höherem Maß ›zeitgemäßen‹ Beiträgen bilden sollte. Ich habe die mir zugedachte Rolle damals gern übernommen und werde mich bemühen, ihr auch bei der schriftlichen Ausarbeitung meines Beitrags gerecht zu werden. Um meine Vorstellungen von der Bedeutung der Kultur und – auf der Metaebene – der Kulturwissenschaft für die Translationswissenschaft (und für die Praxis) deutlich zu machen, bediene ich mich eines, wie ich hoffe, anschaulichen Bildes. Ich werde die Translationswissenschaft als dreigeschossiges Gebäude vorstellen, in dem recht unterschiedliche Abteilungen untergebracht sind. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Übersetzen und Dolmetschen (hier soll nur von der Übersetzungsforschung im engeren Sinn die Rede sein) betrifft einen sehr weit gefächerten Bereich, so dass sich dem Außenstehenden – und dazu gehören auch die meisten Linguisten oder Literaturwissenschaftler – ein verwirrendes Bild bietet: Was hat die literarische Polysystemtheorie mit einer

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Studie über die Möglichkeiten der Wiedergabe deutscher Verbalkomposita im Französischen oder Englischen zu tun? Im Grunde nicht mehr, als dass beide Untersuchungsgegenstände unter dem weit ausladenden Dach einer Übersetzungs- oder Translationswissenschaft Platz finden. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, in das imposante Gebäude dieser Disziplin, das manchmal den Eindruck einer unübersichtlichen Lagerhalle macht, verschiedene Stockwerke einzuziehen. Das Erdgeschoss bildet die Übersetzungstechnik; die Beletage bleibt der besonders hochgeschätzten Übersetzungsstrategie vorbehalten und im geräumigen Dachgeschoss kann schließlich der Übersetzungsbetrieb (etwas weniger salopp: das Übersetzungswesen) untergebracht werden. Die Wiedergabe der Verbalkomposita, von der soeben die Rede war, gehört ins Erdgeschoss, die Polysystemtheorie ins Dachgeschoss. Das ist alles andere als eine Herabsetzung, schließlich hat man von dort nicht nur die schönste Aussicht, sondern auch den besten Überblick (vgl. Albrecht 2012a: 20-25). Andreas Kelletat stellt in seinem Ko-Referat zu meinem Beitrag die berechtigte Frage, was sich denn nun im Keller befinde. Im Keller befinden sich, wie in so vielen anderen Fällen auch, die Leichen. Was man darunter zu verstehen hat, kann erst am Ende dieses Abschnitts erläutert werden. Übersetzungstechnik (Übersetzungsverfahren) Die Probleme der Übersetzungstechnik standen im Zentrum der sich gerade erst konstituierenden Disziplin Übersetzungswissenschaft, als diese sich selbst noch als Teilgebiet der Angewandten Sprachwissenschaft verstand. Zwar waren die Pioniere der sprachwissenschaftlich basierten Übersetzungsforschung, Georges Mounin (1963) alias Louis Leboucher (europäischer Strukturalismus), Eugene A. Nida (1964) (Distributionalismus und früher Generativismus) und John C. Catford (1965) (Britischer Kontextualismus) keineswegs so einseitig »systemlinguistisch« orientiert, wie ihnen später unterstellt wurde – ihre Werke werden inzwischen nur zitiert, nicht gelesen –, aber sie sahen in der Übersetzung eine primär sprachliche Operation, die in erster Linie mit sprachwissenschaftlichen Methoden zu beschreiben und zu analysieren war.1 Heute ist der (in der Regel an ein bestimmtes Sprachenpaar gebundene) Bereich der Übersetzungstechnik auf die praktischen Übersetzungsübungen beschränkt, die vom akademischen Mittelbau abgehalten werden. Darin liegt wohl einer der (freilich nicht offen eingestandenen) Gründe dafür, dass »Translatologen« bestrebt sind, sich so weit wie

1

Siehe dazu weiter unten das Kapitel Der Beginn der (angeblich) »systemlinguistisch« ausgerichteten Übersetzungswissenschaft.

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möglich über diese rein technische Ebene zu erheben. Ich beschränke mich hier auf einige ganz einfache Beispiele; erst am Schluss werde ich versuchen zu erklären, welchen Stellenwert Beispiele dieser Art im ›Erdgeschoss‹ der Übersetzungswissenschaft und der Übersetzungsdidaktik einnehmen können. (1)

Il tombait (cadeva/caía) comme au fond d’un puits, entre deux parois verticales → zwischen zwei senkrechten Wänden (1‘) Il tomba (cadde/cayó)… entre deux parois verticales zwischen zwei senkrechte Wände (= Tempus/Kasus) (2) Er stürzte auf die Straße → se précipita (2‘‘) Er stürzte auf der Straße → fit une chute (= Kasus/Lexik)

Es handelt sich um Musterbeispiele für das, was Monika Doherty (1999) »sprachspezifische Aspekte der Informationsverteilung« genannt hat. Im ersten Fall entspricht (und zwar ziemlich genau) ein Tempusunterschied in den romanischen Sprachen einem Kasusunterschied im Deutschen; im zweiten Fall wird ein Kasusunterschied im Deutschen durch einen lexikalischen Unterschied im Französischen (und, mutatis mutandis, in den übrigen romanischen Sprachen) wiedergegeben. Das dritte Beispiel belegt, dass an der oft zu hörenden Behauptung, die ›wörtliche‹ Übersetzung sei oft die ›falsche‹ Übersetzung, etwas Wahres dran ist: (3) *

… looking up at a sky where stars stepped back into a cool grey … wo Sterne in ein kaltes Grau zurückwichen → die Sterne

Singuläre Objekte wie z.B. die Sonne oder hier die Sterne in ihrer Gesamtheit werden im Englischen (im Gegensatz zum Deutschen) ohne Artikel eingeführt. Wer diese Artikellosigkeit im Deutschen nachahmt, bildet keinen falschen, aber einen semantisch vom Original abweichenden Satz. Artikellosigkeit steht im Deutschen für eine Teilmenge. Das war nur eine kleine Auswahl von Beispielen für das Erdgeschoss der Übersetzungswissenschaft, für die Übersetzungstechnik. Man bekommt in diesem Zusammenhang von Translatologen oft zu hören, dies alles habe eher mit Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik als mit Übersetzung zu tun. Mit diesem Einwand bin ich nicht einverstanden. So wie die Beispiele hier präsentiert wurden, sind sie durchaus als Übersetzungsvorschläge zu interpretieren. Es geht dabei nicht darum, die jeweils richtige oder gar beste Übersetzung zu bestimmen, wie das in manchen Übersetzungsübungen geschieht. Es geht darum, dem Über-

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setzer gezielte Hilfestellungen zu geben. Solche Hilfestellungen benötigen auch erfahrene Übersetzer immer in zweierlei Hinsicht: a) Warnung vor naheliegenden Fehlleistungen: where stars stepped back bedeutet nicht genau das, was du meinen könntest. b) Suchvorschläge, wenn die spontane übersetzerische Intuition sich nicht einstellen will. Versuch’s doch mal in dieser Richtung! Bei genauerem Hinsehen erweist sich schließlich das Gebiet der reinen Übersetzungstechnik als nicht ganz so bieder und theoriefern, wie es zunächst den Anschein haben mag. Auch sehr spezifische Fragen der literarischen Übersetzung stellen sich bereits im Bereich der Übersetzungstechnik. Niemand hat je so eindrucksvoll gezeigt wie Jiří Levý (1969), dass die Probleme, die der Reim in übersetzerischer Hinsicht aufwirft, zunächst einmal auf rein sprachlicher Grundlage diskutiert werden müssen. Es muss zwischen dem rein klanglichen (dem ornamentalen) Reim und dem ›semantischen‹ Reim unterschieden werden, bei dem inhaltliche Bezüge durch klangliche Ähnlichkeit hervorgehoben werden. Nur der semantische Reim stellt besondere Anforderungen an den Übersetzer; denn es gilt, eine solche Korrespondenz zunächst einmal als solche zu erkennen und sie daraufhin mit den Mitteln der Zielsprache nachzuahmen. Natürlich gehört auch der gesamte Komplex »Übersetzung und Textlinguistik« zunächst einmal zum Gebiet der Übersetzungstechnik. Diese schwierigeren und weniger banalen Bereiche der Übersetzungstechnik können hier leider nicht behandelt werden. Die rein sprachlichen, genauer gesagt, auf Sprachenpaare bezogenen Übersetzungsvorschläge bilden die Grundlage, das ›Erdgeschoss‹ des Gebäudes der Übersetzungswissenschaft. Es handelt sich dabei auch um das Gebiet, das im strengen Sinn gelehrt und gelernt werden kann. Durch gezielte Einweisung in die Übersetzungstechnik anhand konkreter sprachlicher Beispiele kann man am ehesten die Übersetzungsleistung von Studierenden verbessern. Der Rest erfolgt durch ständige Übung. In jedem Fall jedoch, dies sei den Translatologen zugestanden, ist die Übersetzungstechnik der Übersetzungsstrategie untergeordnet, wie sich am ersten Beispiel des folgenden Abschnitts zeigen lässt. Übersetzungsstrategie Unter »Übersetzungsstrategie« soll all das verstanden werden, was über Sprache und Text hinausweist und somit – weitgehend – außerhalb der Kompetenz des Sprachwissenschaftlers liegt. Wie so häufig handelt es sich auch hier um eine begriffliche Unterscheidung (distinctio rationis), die nicht mit einer faktischen

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Trennung einhergeht. Am Beginn aller übersetzungsstrategischen Überlegungen steht der Grad der anzustrebenden Nähe zum Ausgangstext, mit anderen Worten die Frage, ob in einem gegebenen Fall eher ›frei‹ oder doch besser ›wörtlich‹ übersetzt werden soll. Dass die beiden hier gebrauchten umgangssprachlichen Begriffe in hohem Maße klärungsbedürftig sind, kann in diesem Zusammenhang nicht weiter thematisiert werden; ich muss davon ausgehen, dass trotz ihrer Unschärfe jeder ungefähr versteht, was mit ihnen gemeint ist. Die Entscheidung zwischen ›wörtlichem‹ und ›freiem‹ Übersetzen hängt zunächst einmal von der Art des zu übersetzenden Textes ab. Unter normalen Umständen gibt es bei der Übersetzung der Bedienungsanleitung für einen Staubsauger keinen vernünftigen Grund dafür, sich eng an den Wortlaut zu halten. Man wird eher die Anleitung anhand des beschriebenen Geräts in die Praxis umsetzen und anschließend das aufgrund des Textverständnisses selbst ›Ausprobierte‹ in einen möglichst verständlichen und informativen Zieltext umsetzen. Größere ›Treue‹ ist nicht erforderlich. In Ausnahmefällen kann ein ›Kleben am Ausgangstext‹ jedoch auch bei einer Bedienungsanleitung angebracht sein, z.B. dann, wenn es darum geht, einem deutschen Leser mit mangelhaften Englischkenntnissen zu demonstrieren, wie man üblicherweise dergleichen auf Englisch ausdrückt. Ich komme nun zu dem bereits angekündigten Beispiel, anhand dessen der Übergang von der Übersetzungstechnik zur Übersetzungsstrategie gezeigt werden soll (vgl. Albrecht 2013: 102): (4) London is cloudy today (4‘) *London ist heute bewölkt (4‘‘) In London ist es (der Himmel) heute bewölkt (4‘‘‘) London zeigt sich heute bewölkt

Im Bereich der Übersetzungstechnik lässt sich lediglich feststellen, dass die ›wörtliche‹ Übersetzung (4‘) in diesem Fall nicht möglich ist. Es lassen sich auch Gründe dafür angeben: Das Deutsche ist im Gegensatz zum Englischen eine ›semantische‹ Sprache, bei der die Parallelität zwischen syntaktischer Funktion und semantischer Rolle stärker ausgebildet ist als im Englischen und im Französischen. Ein Satzteil, der semantisch betrachtet eine Ortsangabe ist, kann im Deutschen nicht so leicht zum Subjekt gemacht werden. Dies alles sind jedoch Dinge, auf die der reine Praktiker, der sich selten für Linguistik erwärmt, gern verzichtet. Die Wahl zwischen den beiden möglichen Lösungen (4‘‘) oder (4‘‘‘) ist Sache der Übersetzungsstrategie. Es gibt keine sprachlichen, keine übersetzungstechnischen Gründe für die Bevorzugung des einen oder des anderen Satzes, sondern nur strategische. Wenn ich meinen Zieltext nüchtern und

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sachlich gestalten möchte, werde ich den Satz (4‘‘) wählen, möchte ich ihn hingegen etwas bildhafter gestalten, so werde ich dem Satz (4‘‘‘) den Vorzug geben, durch den die Stadt London gewissermaßen anthropomorphisiert wird. Ein altes Problem der Übersetzungsstrategie wird in den Einführungen nur selten berücksichtigt. Darf der Übersetzer unklare Stellen des Originals ›durchsichtiger‹ machen, oder muss er es sogar? Oder soll er sich bemühen, die Unbestimmtheit seiner Vorlage nachzubilden? Auch in dieser Hinsicht gibt es unterschiedliche Meinungen, aber keine allgemein verbindliche Regel. Übersetzungsstrategie ist immer an übersetzerische Entscheidungen gebunden. Auch die Frage nach dem Umgang mit den sogenannten Realien, d.h. den Gegenständen und Sachverhalten, die dem Leser des Zieltexts nicht unmittelbar vertraut sind, gehört in den Bereich der Übersetzungsstrategie. Ob dergleichen Phänomene ›eingebürgert‹, d.h. an die Zielkultur angeglichen werden sollen, oder ob man beim Übersetzen eher ›verfremdend‹ vorgehen soll – ein unglücklicher, aber allgemein üblicher Terminus für ›das Fremde als solches bewahren‹ – ist eine Frage, die sich nicht linguistisch, sondern lediglich übersetzungstheoretisch entscheiden lässt. Fragen dieser Art gehören zwar zur Übersetzungsstrategie, haben jedoch durchaus praktische Relevanz und lassen sich von den Problemen der reinen Übersetzungstechnik nicht faktisch trennen; denn auch die Operationen des Einbürgerns und des Verfremdens werden mit Hilfe sprachlicher Zeichen durchgeführt. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Fälle, in denen die Übersetzungsstrategie überhaupt nicht oder nur sehr lose an die Übersetzungstechnik gebunden ist. Wie soll man als Übersetzer verfahren, wenn ein Romancier in seine Erzählung eine volkstümliche Strophe einfügt, die zur Illustration einer bestimmten Situation dient, jedoch nichts zum Fortgang der Handlung beiträgt, wie es Hermann Hesse in einem seiner frühen Romane getan hat? Soll man das übersetzen? Soll man eine vergleichbare Strophe aus dem Fundus der Zielkultur einfügen oder soll man das Ganze lieber paraphrasieren? (5) »Wenn i’s no au so hätt, Wie’s Schulz Elisabeth! Die leit bei Dag em Bett, So han i’s et« (Hesse 1981: 37)

»Wenn ich es nur auch so [gut] hätte Wie Schulzens Elisabeth Die liegt bei Tag im Bett So [gut] habe ich es nicht« (eigene ›intralinguale‹ Übersetzung)

Die italienische Übersetzerin hat sich für eine Mischung aus der zweiten und der dritten Lösung entschieden: (5‘) »… e uno cantò forte ch’era bella la vita del Michelaccio che mangia dorme e va a spasso.« (Hesse/Magliano 1980: 54)

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(5‘‘) »… und jemand sang laut das Lied vom schönen Leben des dicken Michel, der schläft, isst und spazieren geht.« (eigene Rückübersetzung)

Übersetzungsbetrieb Welche Sprachen sind an den Übersetzungsströmen beteiligt, wie steht es um das Verhältnis zwischen »Intraduktion« (Übersetzungsimport) und »Extraduktion« (Übersetzungsexport) zwischen verschiedenen Sprach- und Kulturräumen? Welche Arten von Texten wurden und werden besonders häufig übersetzt, und für wen und zu welchem Zweck? Was lässt sich über die aktiven Teilnehmer am Übersetzungsbetrieb in Erfahrung bringen? Aus welchen sozialen Schichten rekrutierten und rekrutieren sich die Übersetzer, und wie verdienen sie ihren Lebensunterhalt? Wie hoch ist der Anteil von Übersetzungen unter den Publikationen eines bestimmten Sprach- und Kulturraums? Kann oder muss man Übersetzen lernen, oder sind gute Kenntnisse mehrerer Sprachen die einzige Voraussetzung? In welchem Ausmaß nehmen literarische Übersetzer Kenntnis von literaturwissenschaftlichen Arbeiten? Ist die Literaturwissenschaft bereit, nicht nur Originalen, sondern auch übersetzten Texten Aufmerksamkeit zu schenken? Sind Schriftsteller besonders gute Übersetzer? Was geschieht, wenn sie ihre eigenen Werke übersetzen? Und schließlich: Wie hält es die Justiz mit der Übersetzung? Ist sie bereit, eine Übersetzung als eigenständige geistige Leistung anzuerkennen und Maßnahmen zu ihrem Schutz vor missbräuchlicher Verwendung vorzusehen? Das sind nur einige Fragen, die in den Bereich des Übersetzungsbetriebs im weitesten Sinn gehören. Sie können in einem kurzen Aufsatz nicht anhand von Beispielen illustriert werden. Dieser gesamte Bereich hat zweifellos eine besonders große Affinität zur Kulturwissenschaft. Einige der in diesem Zusammenhang erwähnten Untersuchungen sind möglicherweise in den von Andreas Kelletat in seinem Ko-Referat erwähnten Rumpelkammern gut aufgehoben. Meinen eigenen Beitrag zu Schriftsteller[n] als Übersetzer[n] (Albrecht 2008) oder denjenigen meiner Schülerin Anna Körkel (2002) zur Übersetzung aus juristischer Perspektive sehe ich natürlich am liebsten im ›Dachgeschoss‹. Öffentliche Übersetzungskritik in Form wüster Polemik gehört zu den eingangs erwähnten ›Leichen im Keller‹. Dazu gehört die heftige Auseinandersetzung um die Qualität der deutschen Übersetzung von Norfolks Roman Lemprière’s Wörterbuch durch Hanswilhelm Haefs, die in einer Sondernummer der Zeitschrift eines Berufsverbandes dokumentiert wurde (Der Übersetzer 1993) und die z.T. vor Gericht ausgetragene Auseinandersetzung um das alleinige Übersetzungsrecht Heinrich (Enrique) Becks an den Werken Federico García Lorcas. Nicht umsonst hat

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Ernst Rudin (2000) seine ausführliche Dokumentation dieses Falls mit Der Dichter und sein Henker? überschrieben.

P OSITION

UND S TATUS DER K ULTURWISSENSCHAFT ( EN ) INNERHALB DER W ISSENSCHAFTSSYSTEMATIK UND DES W ISSENSCHAFTSBETRIEBS Das Thema kann hier nur in Form eines äußerst knappen Exkurses behandelt werden. Einer der ersten, der in der westlichen Welt zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Wissenschaftstypen unterschied, war der italienische Philosoph Giambattista Vico (1668-1744). Er machte einen fundamentalen Unterschied zwischen der Welt der Natur (mondo naturale) und der Welt der Menschen (mondo civile oder mondo delle nazioni). Er vertrat die Meinung, dass man von der Natur, die Gott geschaffen hat, keine sichere Kenntnis haben könne. Nur das, was man selbst gemacht hat, könne man angemessen beurteilen (verum et factum convertuntur), und ob man eine Sache verstehe, zeige sich daran, ob man mit ihr umgehen könne: »il criterio di avere scienza di una cosa è il mandarla ad effetto« (Coseriu 2003: 283). In dieser von Vico propagierten Wissenschaft, die den Menschen und die menschlichen Gemeinschaften (nazioni) mit ihren Mythen, Sprachen, Sitten und Bräuchen zum Gegenstand haben sollte, kann man eine frühe Form sowohl der Geisteswissenschaft als auch der Kulturwissenschaft sehen. Viel später, in einer Epoche des stürmischen Aufschwungs der Naturwissenschaften, bemühte sich der deutsche Philosoph Wilhelm Dilthey (1833-1911), den Wissenschaften vom Menschen und seinen Aktivitäten ihre Dignität zurückzugeben, die sie an die Naturwissenschaften zu verlieren drohten (vgl. Dilthey 2006). Er prägte den Terminus »Geisteswissenschaft«, der bis heute mehr oder weniger gedankenlos nachgeplappert und nahezu wie ein ›starrer Designator‹ gebraucht wird. Man glaubt zu wissen, was das ist, kann es aber nicht genauer bestimmen. Heinrich Rickert (1863-1936) schlug schließlich vor, den Dilthey’schen Terminus durch den seiner Ansicht nach aussagekräftigeren Terminus Kulturwissenschaft zu ersetzen: »Vorläufig denkt man bei dem Worte ›Geist‹ in der Regel noch vor allem an seelisches Sein, und solange man dies tut, kann der Terminus Geisteswissenschaft nur zu methodologischen Unklarheiten und Verwirrungen führen. Denn nicht darauf kommt es an, dass die einen Wissenschaften Körper, die andern Seelen erforschen. Die Methodenlehre hat vielmehr darauf zu achten, dass die einen Disziplinen es mit der wert- und sinnfreien Na-

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tur zu tun haben […] die andern dagegen die sinnvolle und wertbezogene Kultur darstellen […]. Dieser Umstand wird durch die Bezeichnung historische Kulturwissenschaften viel besser zum Ausdruck gebracht als durch das vieldeutige und daher nichtssagende Wort Geisteswissenschaften.« (Rickert 1926: 12)

Damit war der Terminus geprägt; die moderne Kulturwissenschaft ist jedoch weitgehend aus anderen Quellen, vor allem aus bestimmten Formen der Literaturwissenschaft hervorgegangen (vgl. u.a. Gipper/Klengel 2008). Hier soll der Vorschlag unterbreitet werden, den Terminus »Geisteswissenschaft« für ein engeres Gebiet, das der individuellen Schöpfung, beizubehalten und zwischen ›Geist‹ und ›Natur‹ den Bereich der Gesellschaft und ihrer Institutionen einzuschieben. Wir erhalten somit ein dreigliedriges Einteilungsschema (vgl. Albrecht 2005: 33):

Untersuchungsgegenstand

Subjekt‐Objekt‐Relation

Individuelles

Gesellschaft

Schöpfung des  einzelnen

(soziale)

potentiell »zirkulär«

»Natur«

Institutionen »statistisch«

»linear«

Erkenntnisziel

»verstehen«

?

»erklären«

Methode

»hermeneutisch«

?

»analytisch«

Ergebnis

Einsichten

Regeln 

Gesetze

Wissenschaftstyp

Geisteswissenschaft

Sozialwissenschaft

Naturwissenschaft

In der Mitte zwischen reiner Geisteswissenschaft auf der einen und Naturwissenschaft auf der anderen Seite steht also zunächst die Gesellschafts- oder Sozialwissenschaft. Um der Kulturwissenschaft ihren Platz in dieser grob schematischen Übersicht zuzuweisen, rekurriere ich auf die klassische marxistische Dichotomie von ›Unterbau‹ (Basis) und ›Überbau‹: Kulturwissenschaft Sozialwissenschaft

›Überbau‹ ›Unterbau‹ (Basis)

Die Kulturwissenschaft beschäftigt sich mit dem ›ideologischen Überbau‹ der realiter funktionierenden Gesellschaft, sie gehört zum ›Überbau‹ der Gesellschaftswissenschaften.

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Z UM B EGRIFF

DER K ULTUR . E IN V ERGLEICH ZWEIER UNTERSCHIEDLICHER D EFINITIONEN BZW . E XPLIKATIONEN

Ich beginne mit einer allgemeinen, einem weitverbreiteten Nachschlagewerk entnommenen Definition, die in mancherlei Hinsicht an Vico erinnert, ohne sich auf ihn zu beziehen: »In seiner weitesten Verwendung kann mit dem Begriff Kultur alles bezeichnet werden, was der Mensch geschaffen hat, was also nicht naturgegeben ist. […] In einem engeren […] Sinn bezeichnet Kultur die Handlungsbereiche, in denen der Mensch auf Dauer angelegte, einen individuellen oder kollektiven Sinnzusammenhang gestaltende oder repräsentierende Produkte, Produktionsformen, Verhaltensweisen und Leitvorstellungen hervorzubringen vermag, die dann im Sinne einer Wertordnung oder eines Formenbestandes das weitere Handeln steuern und auch strukturieren können […].« (Brockhaus online 2005: s.v. Kultur)

Eine andere Definition (es handelt sich eher um eine Explikation), auf die sich Übersetzungswissenschaftler häufig berufen, erhebt den Anspruch, speziell »für die Zwecke des Übersetzers« zu gelten: »In Anlehnung an Goodenough [amerikanischer Anthropologe – J.A.] läßt sich Kultur für die Zwecke des Übersetzers definieren als all das, was dieser im Hinblick auf seine Ausgangsgesellschaft und seine Zielgesellschaften wissen und empfinden können muß. (1) damit er beurteilen kann, wo sich Personen in ihren verschiedenen Rollen so verhalten, wie man es von ihnen erwartet, und wo sie von den gesellschaftlichen Erwartungen abweichen; (2) damit er sich in den gesellschaftlichen Rollen, die ihm – z.B. von seinem Alter und seinem Geschlecht her – offenstehen, erwartungskonform verhalten kann, sofern er dies will und sich nicht etwa dazu entscheidet, aus der Rolle auszubrechen und die daraus erwachsenden Konsequenzen in Kauf zu nehmen; (3) damit er die natürliche und die vom Menschen geprägte oder geschaffene Welt (zu letzterer gehören nämlich auch die Texte) jeweils wie ein Einheimischer wahrnehmen kann.« (Göhring 1998: 112-113)

Während die Brockhaus-Definition wie bereits Vico vom Unterschied zwischen »naturgegeben« und »vom Menschen geschaffen« ausgeht, ist hier zunächst nur von kulturspezifischen gesellschaftlichen Rollenerwartungen die Rede, und das Ganze scheint mindestens ebenso gut auf einen integrationswilligen Migranten

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zu passen wie auf einen Übersetzer. Erst am Schluss kommt – auf höchst eigenwillige Weise – die ›Natur‹ ins Spiel. Es geht nicht um die Natur schlechthin, es geht um die kulturspezifische Wahrnehmung der Natur. Eine solche Sicht der Dinge spiegelt sich – stillschweigend, d.h. unausgesprochen und unreflektiert – bei der übersetzungswissenschaftlichen Behandlung der sogenannten Realien wider.2

D AS V ERHÄLTNIS VON K ULTURWISSENSCHAFT UND Ü BERSETZUNGSWISSENSCHAFT Die Trennung von ›Kultur‹ einerseits und ›Sprache‹ andererseits dient in der Translationswissenschaft vor allem dazu, die Zuständigkeit der Linguistik für das Problem der Übersetzung einzuschränken oder sogar gänzlich zu bestreiten. In der Sprachphilosophie (auch in ihren neueren analytischen Ausprägungen) ist Sprache ein unablösbarer Teil der Kultur. Allgemeine Zusammenhänge Kaum einer hat diese Auffassung so radikal vertreten wie der amerikanische Philosoph Willard Van Orman Quine. Er stellt die Frage nach der Möglichkeit der radical translation; d.h. einer Übersetzung zwischen zwei Sprachen-Kulturen, die zuvor noch nie miteinander in Verbindung getreten sind: »[…] there is in principle no separating language from the rest of the world, at least as conceived by the speaker. Basic differences in language are bound up […] with differences in the way in which the speakers articulate the world itself into things and properties, time and space […] and so on. It is not clear even in principle that it makes sense to think of words and syntax as varying from language to language while the content stays fixed; yet precisely this fiction is involved in speaking of synonymy, at least as between expressions of radically different languages.« (Quine 1980: 61)

Aus der Untrennbarkeit von Sprache und Kultur folgt diejenige von Ausdruck und Inhalt, aus der sich wiederum das Prinzip der indeterminacy of translation ableitet: Übersetzung im herkömmlichen Sinn setzt die Möglichkeit voraus, einen einem Ausdruck anhaftenden Inhalt unverändert durch einen anderen Ausdruck zu manifestieren, und dies ist allein schon deshalb nicht möglich, weil sich

2

Siehe dazu weiter unten das Kapitel Realien; Untergruppe Kulturspezifika.

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kein Inhalt von seinem Ausdruck verlässlich ablösen lässt. Hier wird ein radikaler (allerdings rein hypothetischer), die Sprache einschließender Kulturrelativismus vertreten; Quine hatte nichts gegen die Übersetzung seiner Bücher einzuwenden, auch wenn eine ›sichere‹ Übersetzung seiner Meinung nach gar nicht möglich war. In praxi geht es zumindest in der westlichen Welt eher um einen eingeschränkten Kulturrelativismus. Wittgensteins berühmtes Dictum: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt« (Tractatus 5.6) bezieht sich auf die Sprache im Allgemeinen, auf eine konkrete Einzelsprache nur insofern, als diese für die Sprecher notwendigerweise für die Sprache schlechthin steht. In der Tat scheint es angemessen, für die praktischen Zwecke einer angewandten Disziplin ›Sprache‹ und ›Kultur‹ bis zu einem gewissen Grad zu trennen; denn Sprachräume und Kulturräume sind nicht koextensiv. Je nachdem, welche Fakten man heranzieht, hat man davon auszugehen, dass ein Kulturraum mehrere Sprachen umfasst oder umgekehrt ein Sprachraum mehrere Kulturen: a) Ein Kulturraum überdacht mehrere Sprachen: (6a) Nous arrivâmes dans un village. L’église était fermée. (6b) Am Waldrand sah man ein verlassenes Haus. Die dunkelgrünen Fensterläden verliehen ihm ein finsteres Aussehen.

Satzfolgen wie diese lassen sich in alle europäische Sprachen ›wörtlich‹ übersetzen, ohne dass ein Verlust an Kohärenz eintreten würde; denn überall darf als bekannt vorausgesetzt werden, dass Dörfer eine Kirche und Häuser Fensterläden haben. b) Eine Sprache überdacht verschiedene Kulturen […] umgeben von Alt und Jung, was mit ihnen, sei es in jenen Häusern oder in denen droben auf der Geest Wohnung oder Verbleib hatte […] (Storm 1905: 182)

Der Gegensatz von Geest und Marsch, der in einigen Erzählungen Storms eine große Rolle spielt, müsste einem Hessen oder Bayern ebenso erklärt werden wie einem Italiener oder Franzosen; denn diese Landschaftsformen sind nur in einem kleinen Teil des deutschen Sprachraums aus unmittelbarer Erfahrung bekannt. Vergleichbares gilt für Artefakte wie Weckmann, Stutenkerl oder Dampedei oder soziale Einrichtungen wie die schwäbische Kehrwoche oder die badische Hausordnung. Der Geltungsbereich von Weltsprachen wie Englisch oder Spanisch umfasst so unterschiedliche Kulturen, dass begründete Zweifel an der vollständigen gegenseitigen Verständlichkeit über das gesamte Sprachgebiet hinweg bestehen. So fragt sich der australische Anthropologe Timothy K. Haines:

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»What does ›land‹ or ›country‹ mean to us, as English speakers? Do these words convey the same meaning to all users of our language? What is the significance of an alternate understanding of these words? How can this significance be translated between vastly disparate cultures with vastly different life essences […].« (Haines 2012: 100; Herv. i.O.)

Der Beginn der (angeblich) »systemlinguistisch« ausgerichteten Übersetzungswissenschaft Es gibt verschiedene Ansichten über den Zeitpunkt, zu dem sich eine selbständige Disziplin Übersetzungswissenschaft konstituiert hat. Der Terminus erscheint bereits 1813 in einer kleinen Besprechung eines längst vergessenen Autors, die bis heute irrtümlich Friedrich Schleiermacher zugeschrieben wird (vgl. Schubert 2011). Einiges spricht dafür, die 1960er Jahre zum Zeitpunkt der endgültigen Konstituierung der Disziplin zu erklären; denn zwischen 1963 und 1965 erschienen drei Standardwerke zum Problem der Übersetzung, deren Autoren drei unterschiedlichen, damals konkurrierenden sprachwissenschaftlichen Schulen zugeordnet werden können: Georges Mounin: Les problèmes théoriques de la traduction (1963) → Europäischer Strukturalismus Eugene A. Nida: Toward a Science of Translating (1964) → Amerikanischer Distributionalismus und früher Generativismus John C. Catford: A Linguistic Theory of Translation (1965) → Britischer Kontextualismus

Keines dieser Werke ist so ausschließlich linguistisch orientiert wie heute behauptet wird; in allen dreien spielt ›Kultur‹ (allerdings in Form unterschiedlicher Konzeptionen) eine entscheidende Rolle. An der sehr einseitigen Rezeption dieser Klassiker lässt sich wohl vorerst kaum etwas ändern; Standardwerke, die älter als zehn Jahre sind, werden bestenfalls aus zweiter Hand rezipiert. Der cultural turn in der Übersetzungsforschung: Übersetzung als ›Kulturtransfer‹ Das Konzept des Kulturtransfers ist wohl eines der wichtigsten Forschungsfelder, das der sogenannte cultural turn für die Übersetzungsforschung eröffnet hat. Die Übersetzung spielt bei diesem Phänomen eine zentrale Rolle. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ›transportiert‹ die Übersetzung Kultur mit Hilfe der Sprache, d.h. die Sprache tritt, semiotisch betrachtet, beim Transfer als Ausdruck, die Kultur hingegen als Inhalt auf. Nur in seltenen Fällen verhält es sich

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umgekehrt. Hier tritt die Kultur (im weitesten Sinne) als Ausdruck, die Sprache als Inhalt auf, d.h. im Rahmen der hier gewählten Metaphorik ›transportiert‹ in solchen Fällen die Kultur Sprache.3 ›Normalfall‹: Sprache ›transportiert‹ Kultur Der ›Normalfall‹ ist so banal, dass er hier nicht mit Beispielen illustriert zu werden braucht: Die Übersetzung ist eines der wirksamsten Mittel, Wissen von fremden Kulturen zu vermitteln und damit unterschiedliche Kulturen einander näher zu bringen. Weniger banal sind die Konsequenzen, die sich innerhalb der Übersetzungsforschung aus der Erkenntnis dieses Faktums ergeben haben, nämlich die Verlagerung des allgemeinen Interesses weg von der Übersetzungstechnik hin zur Übersetzungsstrategie und zum Übersetzungsbetrieb (vgl. supra). Wenn Sprache Inhalte transportiert, so liegt es für viele nahe, sich stärker für diese als für das Transportvehikel zu interessieren. Die Zuflucht bei der Kultur ist einer der ›Fluchtwege‹, den die moderne Translationswissenschaft bei der Emanzipation von der Sprache und der Sprachwissenschaft eingeschlagen hat.4 Sonderfall: Kultur ›transportiert‹ Sprache Diese besondere Form des Transfers ist weniger banal und weniger leicht zu beschreiben und zu erklären. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel stellt Martin Heideggers Auszug nach Frankreich und seine Rückkehr in verwandelter Form nach Deutschland dar. Am leichtesten lässt sich das anhand eines Terminologietransfers illustrieren: In § 6 von Sein und Zeit stellt sich Heidegger »[die Aufgabe einer] am Leitfaden der Seinsfrage sich vollziehenden Destruktion« der Geschichte der Ontologie (2006: 22). Aus dem Kontext geht hervor, dass damit kein schlichtes ›Zerstören‹, sondern ein ›Abtragen‹, ›Entflechten‹, ›Auseinandernehmen‹ gemeint ist. Jacques Derrida hat sofort bemerkt, dass er diesen Terminus nicht mit französisch destruction wiedergeben konnte, da dieses Wort viel stärker als sein deutsches Pendant im Grundwortschatz der Sprache verankert ist und sich daher weit weniger als das deutsche Wort zur Übernahme einer Sonderbedeutung eig-

3

Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass in der Glossematik zwischen Ausdruck und Inhalt wechselseitige (nicht gerichtete) Abhängigkeit, ›Solidarität‹ besteht. Moderne Saussure-Interpreten vertreten die Ansicht, dass das Verhältnis zwischen signifiant und signifié genau in diesem Sinn zu interpretieren sei (vgl. Milner 2002: 27f.).

4

Siehe dazu weiter unten das Kapitel Der Beginn der (angeblich) »systemlinguistisch« ausgerichteten Übersetzungswissenschaft.

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net. Er hat als Entsprechung das Kunstwort déconstruction gebildet; andere haben das bereits gebräuchliche technische Fachwort désobstruction (Auflösung von Verstopfungen) vorgeschlagen; jedoch hat sich déconstruction durchgesetzt und wurde schnell in Kontexten gebraucht, die kaum mehr etwas mit Heidegger zu tun hatten. Als Dekonstruktion, weitgehend abgelöst von seinem Entstehungsanlass, ist das Wort schließlich nach Deutschland zurückgekehrt (vgl. Albrecht 2009: 19f.). Ähnlich verhält es sich mit einer Redefigur, bei der ein Syntagma zunächst gebildet und unmittelbar darauf mit umgekehrtem Determinationsverhältnis wiederholt wird. Heidegger liebte dergleichen sprachliche Turnübungen: »Die Frage nach dem Wesen der Wahrheit ist zugleich und in sich die Frage nach der Wahrheit des Wesens.« (Heidegger 1992: 45)

Derrida hat ihn im Gebrauch dieser Figur weit übertroffen. Hier nur ein Beispiel: »Le langage du désir c’est le désir de langage.« (Derrida zit. in Albrecht 2007)

Die revolutionären Studenten im Mai 1968 nannten die Figur le renversement du génitif und sahen in ihrem Gebrauch den Ausdruck revolutionärer Gesinnung. Ihre deutschen Kommilitonen haben es ihnen gleichgetan: »Die herrschenden Verhältnisse sind die Verhältnisse der Herrschenden.« (Albrecht 2007: 17)

Die Figur gehört heute auch zum Ornatus kulturwissenschaftlicher Arbeiten; wiederum nur ein Beispiel: Erinnerte Schleifung – geschleifte Erinnerung (Gipper/Klengel 2008: 279)

In all diesen Fällen lässt sich Kulturtransfer als Vehikel eines sprachlichen Transfers auffassen.

K ULTURUNTERSCHIEDE ALS Ü BERSETZUNGSPROBLEM : E INIGE PRAKTISCHE B EISPIELE Manche Dinge lassen sich am eindrucksvollsten ex negativo erklären, daher beginne ich mit zwei Beispielen für eine nicht zufriedenstellende Konfrontation von Sprache und Kultur.

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Zwei ausgesucht schlechte Beispiele In seinem berühmten Essay Miseria y Esplendor de la traducción warnt der spanische Philosoph José Ortega y Gasset davor, die Wörter bosque und Wald einander gleichzusetzen, obwohl sie im zweisprachigen Wörterbuch als Äquivalente angegeben werden: »Formadas las lenguas en paisajes diferentes y en vista de experiencias distintas, es natural su incongruencia. Es falso, por ejemplo, suponer que el español llama bosque a lo mismo que el alemán llama Wald, y sin embargo, el diccionario nos dice que Wald significa bosque [...].« (Ortega y Gasset 1951: 436)

Es geht hier natürlich nicht nur um den Naturgegenstand Wald, sondern um die durch Kultur vermittelte kollektive Vorstellung. Dennoch wird ein kreuzbiederer Übersetzer, der sein Handwerk versteht und Wörterbücher zu benutzen weiß, eine solche Warnung als überflüssig empfinden. Wer in einem mittelgroßen Wörterbuch wie Slabý/Grossmann: s.v. bosque nachschlägt, erhält als Äquivalente »Wald, Busch, Gehölz, Hain«. Wer zusätzlich ein einsprachiges spanisches Wörterbuch konsultiert, was jeder gewissenhafte Übersetzer tun sollte, wird je nach dem Kontext, in dem sich bosque befindet, auf weitere Äquivalente wie Buschwald, Eichenhain und Ähnliches stoßen. Beim zweiten Beispiel muss ich aus dem Gedächtnis zitieren und meine Quelle verschweigen. Ich will den mir bekannten Verfasser nicht kränken. In einem übersetzungswissenschaftlichen Artikel wird versichert, Tortellini seien in Italien eine Vorspeise. Wer das Rezept so einfach für sich übersetze und danach verfahre, dessen Gäste würden in Deutschland nicht satt werden. Nun sind Tortellini keine ›Vorspeise‹, sondern ein primo piatto, und ein solcher ist der am stärksten sättigende Teil eines klassischen italienischen Menüs. Gar so groß würde der Hunger nicht sein, wenn man sich streng nach der Mengenangabe des Originalrezepts richten würde. Im Übrigen ist es in Italien längst üblich, ähnlich wie beim ›deutschen Italiener‹ in der knappen Mittagspause eine Pasta als piatto unico mit einem Salat zu essen. Die Mengenangaben für primo piatto und piatto unico finden sich oft auf den Packungen der Teigwaren. Als Translatologe sollte man sich ernsthafteren Problemen widmen.

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Die wichtigsten praktischen Berührungspunkte zwischen ›Kultur‹ und ›Übersetzung‹ Welches sind nun die Fälle, in denen kulturelle Differenz zu einem praktischen Problem für den Übersetzer wird? Ich möchte hier auf vier Fälle kurz eingehen: 1) Die ›Kulturspezifika‹ unter den sogenannten Realien; 2) Sitten, Gebräuche, Wertvorstellungen etc., deren Kenntnis im Ausgangstext stillschweigend vorausgesetzt wird, und die im Zieltext möglicherweise behutsam nachgeliefert werden müssen; 3) der kulturspezifische Erwartungshorizont und schließlich 4) das kulturelle Gedächtnis, die kulturspezifischen Kanones. Die Liste ist nicht als abgeschlossen zu betrachten. Realien; Untergruppe Kulturspezifika Zu den Realien, d.h. den im Ausgangstext thematisierten Gegenständen und Sachverhalten, die den Lesern des Zieltextes nicht unmittelbar vertraut sind, gibt es in der übersetzungswissenschaftlichen Literatur unzählige immer wieder angeführte Beispiele. Ich möchte mich daher hier auf zwei ausgefallene beschränken. In seinem Reisebericht Le Rhin widmet Victor Hugo (2002) der Stadt Heidelberg ein ganzes Kapitel, obwohl die Stadt im Gegensatz zum von ihm wenig geschätzten Mannheim nicht am Rhein liegt. Über Mannheim findet sich die folgende Stelle: »Je ne vous en dirai certes pas autant de cette espèce de faux Versailles badois qu’on appelle Mannheim, insipide ville, dont les rues semblent coupées à l’équerre dans un bloc de plâtre, et dont les clochers, comme ceux de Namur, ne sont pas des clochers, mais des bilboquets réussis. « (Ebd.: 69) Das würde ich Ihnen sicher nicht im Hinblick auf diese Art von falschem badischem Versailles raten, wie man Mannheim nennt, diese fade Stadt, deren Straßen rechtwinklig in einen Gipsblock geschnitten zu sein scheinen und deren Kirchtürme, wie in Namur, keine Türme sind, sondern kerzengerade Steinstifte.

Ein Bilboquet ist ein Kugelfangspiel, bei dem es gilt, mit einem Stab ein Loch in einer Kugel zu treffen und sie damit festzuhalten. Wenn das Spiel gelingt (réussit), erinnert der senkrecht gehaltene Stab mit der aufgefangenen Kugel an einen barocken Kirchturm. Der Übersetzer wusste nicht, was ein bilboquet ist, und musste sich für eine Notlösung entscheiden. Als ich den Auftrag erhielt, im Rahmen eines meiner Seminare die vorliegende Übersetzung für eine zweispra-

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chige Ausgabe zu modifizieren (für Übersetzungen dieses Typs gelten besondere Normen), entschieden wir uns für folgende Änderung: »[…] und deren Kirchtürme, wie in Namur, keine Türme sind, sondern bilboquets mit glücklich aufgefangener Kugel.« (Ebd.: 68)

Dazu kam eine Fußnote (bei Ausgaben dieser Art durchaus angemessen) mit dem oben wiedergegebenen Text. Das nächste Beispiel führt uns zu Thomas Manns Buddenbrooks. Dort heißt es ganz am Anfang: »›Was ist das. – Was – ist das…‹ ›Je, den Düwel ook, c’est la question, ma très chère demoiselle !‹ […] ›Tony !‹ sagte sie, ›ich glaube, daß mich Gott –‹ Und die kleine Antonie […] wiederholte noch einmal: ›was ist das‹, sprach darauf langsam: ›Ich glaube, daß mich Gott‹, fügte, während ihr Gesicht sich aufklärte, rasch hinzu: – ›geschaffen hat samt allen Kreaturen […]‹.« (Mann 1981: 5)

Zumindest der zeitgenössische protestantische Leser konnte im zitierten Text ohne Mühe Luthers Kleinen Katechismus wiedererkennen und den Sinn des stereotyp wiederholten »Was ist das?« entschlüsseln: »Wie hat man das zu verstehen?« Es handelt sich also um einen Fall von kulturgebundener Intertextualität. Ein Vergleich einer neueren italienischen mit einer älteren französischen Übersetzung zeigt, dass die Anspielung früher besser verstanden wurde als heute; die italienische Übersetzerin Maria Cristina Minicelli kann mit dem »Was ist das« überhaupt nichts anfangen, während die französische Übersetzerin Geneviève Bianquis die Anspielung genau verstanden hat: »›Com’è? Com’è?‹ ›Eh, diavolo, c’est la question, ma très chère demoiselle !‹« (Mann 2010: 3) »›- Quel est le sens de ces paroles… de ces paroles… ?‹ ›- Eh, vl’à bien l’diable ; c’est la question, ma très chère petite demoiselle !‹« (Mann 1992: 9)

Eine Bemerkung übersetzungspraktischer Natur scheint in diesem Zusammenhang unumgänglich. Die italienische Übersetzerin scheint keine frühere Übersetzungen des Romans und vor allem keine Übersetzungen in andere Sprachen (Französisch, Englisch) konsultiert zu haben. Das zeugt von mangelnder Professionalität. Wir können bei unseren Studierenden das spontane Erkennen von Anspielungen dieser Art nicht mehr voraussetzen, aber wir können sie dafür sensi-

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bilisieren, beim geringsten Verdacht auf eine mögliche Anspielung der Sache mit dem ohnehin ständig mitgeführten Smartphone nachzugehen. Sitten und Gebräuche, Wertvorstellungen etc. Da es sich hier um den in der Übersetzungsforschung am häufigsten und gründlichsten dokumentierten Fall handelt, mag es genügen, an ein altbekanntes Beispiel zu erinnern. In Oliver Goldsmiths Roman The Vicar of Wakesfield wird berichtet, dass ein Vater, zudem noch ein Geistlicher, seine Tochter auf den Mund küsst. »Kann man so etwas dem (modernen) französischen Leser zumuten?«, fragen sich Vinay und Darbelnet in ihrer Stylistique comparée du français et de l’anglais. Sie schlagen eine Übersetzung vor, die beim Leser jede Assoziation an eine inzestuöse Beziehung ausschließt: »He kissed his daughter on the mouth ?

Il embrassa sa fille sur la bouche →

Il serra tendrement sa fille dans ses bras« (zit. nach Vinay/Darbelnet s.v. adaptation)

Natürlich gilt eine solche Empfehlung nur für den Normalfall der ›konsumierbaren‹ literarischen Übersetzung. Soll der Vicar of Wakesfield als kulturhistorisches Dokument übersetzt werden, so wäre die ›wörtliche‹ Übersetzung am Platze. Kulturspezifischer Erwartungshorizont Der kulturspezifische Erwartungshorizont kann zu einer gegebenen Zeit von Kultur zu Kultur verschieden sein, oder er kann sich innerhalb einer Kultur im Lauf der Zeit ändern. Für beide Fälle gebe ich jeweils ein Beispiel: a) synchronisch: »Du siehst also, sagte X, daß die Hauptverdächtigen zu der Zeit ganz woanders waren. Was verstehst du darunter, wollte Y wissen. Er war in gereizter Stimmung, da X ihn ohne Frühstück hier nach Z geschleppt hatte. Meinst Du damit, daß sie den Mordschauplatz nicht erreichen konnten, ohne über hundertsechsundachtzigtausend Meilen pro Sekunde zu fahren? Wenn nicht, so waren sie nicht ganz woanders, sondern nur relativ und scheinbar woanders.« (Sayers o.J.)

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Das Zitat stammt aus der deutschen Übersetzung einer Kriminalgeschichte von Dorothy Sayers5. Der Übersetzer hat die Angabe der Geschwindigkeit nicht ins metrische System umgerechnet. Generell lässt sich so etwas durchaus rechtfertigen; Entfernungsangaben in Meilen oder Werst erzeugen Lokalkolorit, der manchmal erwünscht sein mag. In diesem Fall hätte der Übersetzer doch besser umrechnen sollen; denn nur anhand der Geschwindigkeitsangabe dreihunderttausend Kilometer pro Sekunde wird die Anspielung auf die Lichtgeschwindigkeit und damit auf Einsteins Relativitätstheorie vom kontinentaleuropäischen Leser spontan verstanden. b) diachronisch Ganz am Anfang des Don Quijote wird der Leser über den kümmerlichen Speiseplan eines armen Landjunkers unterrichtet: »Una olla de algo más vaca que carnero, salpicón las más noches, duelos y quebrantos los sábados, lantejas los viernes, algún palomino de añadidura los domingos […].« (Cervantes 1978: 1) »Un morceau de viande dans la marmite, plus souvent bœuf que mouton, une galimafrée le soir du reste du dîner ; le Vendredi des lentilles ; des œufs au lard le Samedi à la manière d’Espagne, et quelque pigeon de plus les Dimanches […].« (Filleau de Saint-Martin) »Un pot-au-feu plus souvent de mouton que de bœuf, une vinaigrette presque tous les soirs, des abattis de bétail le samedi, le vendredi des lentilles, et le dimanche quelque pigeonneau outre l’ordinaire […].« (Viardot) (Albrecht 2012: 761f.)

Einer der ersten französischen Übersetzer übersetzte brav in der richtigen Reihenfolge »öfter Rind- als Hammelfleisch«. Der berühmte Viardot, der nicht nur ein anerkannter Übersetzer, sondern ein guter Hispanist war, hat die Reihenfolge umgekehrt. Ein Versehen? Nein, Viardot trug der Tatsache Rechnung, dass zu seiner Zeit (im Gegensatz zur Lebenszeit von Cervantes) Hammelfleisch billiger zu haben war als Rindfleisch.

5

»Ganz woanders« (absolutely elsewhere), Beginn der Geschichte; der Text wurde leicht modifiziert (vgl. Albrecht 2013: 8).

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Kulturelles Gedächtnis, Kanon Wenn in einem Text auf den Kanon einer Kultur- und Sprachgemeinschaft rekurriert wird, und wenn mit diesem Rekurs ein allgemeiner, d.h. über die betreffende Gemeinschaft hinausweisender Zweck verfolgt wird, dann wird der Übersetzer dem Erreichen eben dieses Zwecks, nicht der genauen Wiedergabe der Mittel den Vorrang in der Hierarchie der Invarianzforderungen einräumen. Boileau, der magister elegantiarum der französischen Klassik, beklagt sich, obschon im Allgemeinen durchaus von der Notwendigkeit des Reims in der Poesie überzeugt, in einer Satire über den Reimzwang, der einen dazu verführe, Dinge zu sagen, von denen man keineswegs überzeugt ist: »Si je pense exprimer un auteur sans défaut, La raison dit Virgile, et la rime Quinault.« (Boileau, 2e satire)

Quinault, ein zeitweise erfolgreicher Dichter, den Boileau verachtete und mit Bonmots dieser Art regelrecht verfolgte, erhält ein ungewolltes Lob nur, weil sein Name sich ins Reimschema einfügt. Der deutsche Literaturpapst Johann Christoph Gottsched hat in seiner Übersetzung die Namen zweier damals bekannter deutscher Dichter verwendet, in der Annahme, sein Publikum könne nur so die verklausuliert formulierte Kritik am Reim nachvollziehen: »Man fragt mich, ›Welches mag der beste Dichter seyn?‹ Da denk ich nun zwar Pietsch! Doch reimt sich Lohenstein.« (Gottsched, zit. nach Schuppenhauer 1970: 129)

Sub specie posteritatis lag er mit seinem Urteil ebenso schief wie Boileau, denn Daniel Casper Lohenstein ist heute weit bekannter als Gottscheds Freund Johann Valentin Pietsch (vgl. Albrecht 1998: 111f.). Ausblick: Die Sprache als Nadelöhr und die ›Fluchtwege‹ der modernen Übersetzungswissenschaft aus dem Käfig der Sprache. Überlegungen eines Konservativen Inwieweit lassen sich ›Sprache‹ und ›Kultur‹ unterscheiden oder gar trennen? Die Behauptung, Kultur und Sprache bildeten eine untrennbare Einheit, gehört zu den Gemeinplätzen unserer alltagsphilosophischen Diskurse. Umso sonderba-

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rer mutet es an, dass in gewissen Kontexten und zu gewissen Zwecken sowohl Sprach- als auch Kulturwissenschaftler darum bemüht sind, beide Sphären so gut wie möglich auseinanderzuhalten. Das liegt nicht so sehr an der Kultur als vielmehr an der Sprache. Zwar ist auch die Kultur ein ›Hintergrundphänomen‹. Wie sehr wir in unseren Anschauungen und Wertvorstellungen von der Kultur geprägt sind, die uns umgibt, müssen wir uns erst in zuweilen mühsamen Akten der Reflexion klar machen. Aber das gelingt uns leichter als bei der Sprache. Hegel hat immer wieder von der »Voreiligkeit« der Sprache gesprochen, weil sie von Anfang an alles zu enthalten scheint, was sich in der Entwicklung des Geistes erst stufenweise entfaltet. Mit demselben Recht könnte man von der ›Trägheit‹ der Sprache sprechen. Die Sprache tradiert beharrlich längst obsolet gewordene Inhalte, man denke nur an das grammatische Geschlecht, das Genus. Wir lernen, dass im Lateinischen beim Neutrum die Formen von Nominativ und Akkusativ gleich sind. Das stammt aus einer Zeit, da Neutra nicht Agentia sein und somit auch nicht als grammatische Subjekte fungieren konnten (also ursprünglich keinen Nominativ hatten), was bereits im klassischen Latein nicht mehr der Fall war. Inzwischen hat sich auch die syntaktische Funktion ›Subjekt‹ längst von der semantischen Rolle ›Agens‹ gelöst (im Englischen und Französischen weit mehr als im Deutschen)6, so dass wir ohne weiteres sagen können »Der Schlüssel öffnet die Tür«, »Der Gang führt ins Freie«, obwohl eigentlich wir es sind, die mit dem Schlüssel die Tür öffnen oder über den Gang ins Freie gelangen können. Diese Autonomie der sprachlichen Strukturen gegenüber dem, was wirklich gemeint ist, wurde von einigen poststrukturalistischen Denkschulen über die Sprache hinaus verallgemeinert und hat zu einem ›subjektfeindlichen‹ Determinismus geführt, gegen den sich Jean-Paul Sartre in seiner Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus heftig gewehrt hat. In einem Interview mit Bernard Pingaud hat er seine Position überzeugend dargelegt: »[…] ich fechte weder die Existenz der Strukturen an noch die Notwendigkeit, ihren Mechanismus zu analysieren. Aber die Struktur ist für mich nur ein Moment des PraktischTrägen. Sie ist Ergebnis einer Praxis, die deren Akteure übersteigt. Jede menschliche Schöpfung hat ihre passiven Bereiche: das bedeutet nicht, daß sie völlig determiniert ist.« 7

(Zit. nach Schiwy 1984: 214)

6

Siehe dazu weiter oben das Kapitel Übersetzungsstrategie.

7

Die Übersetzung stammt von Ursel Krieger. Es ist mir nicht gelungen, das französische Original ausfindig zu machen.

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Genau daran haben wir uns bei der Übersetzung sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht zu halten. Der Weg vom Ausgangstext zum Zieltext führt – auch wenn wir natürlich keine Sprachen übersetzen, wie manche Translatologen nicht müde werden zu beteuern – notwendigerweise durch das Nadelöhr der Sprache, genauer gesagt zweier Sprachen. Sprachen sind ›öffentliche Verkehrsmittel‹; sie taugen nur begrenzt zum Ausdruck unseres Inneren und zwingen uns darüber hinaus, dauernd Dinge zu sagen, die wir gar nicht sagen wollen. Eine Deutsche oder eine Engländerin kann erklären, dass sie müde ist, ohne dabei ihr Geschlecht kundzugeben, die Sprecherinnen romanischer Sprachen können es nicht. Sie müssen gleichzeitig zum Ausdruck bringen, dass sie Frauen sind, nicht weil sie es wollten, sondern nur um korrekt zu sprechen. Mutmaßliche Gründe für die Trennung Sprach- und Kulturwissenschaft Das Unbehagen am ›Praktisch-Trägen‹ (vgl. supra) der Sprache hat bei vielen Übersetzungswissenschaftlern Fluchtversuche aus dem Käfig der Sprache veranlasst. Die wichtigsten Fluchtwege sind: Kulturwissenschaft, Handlungstheorie und Kognitionswissenschaften. Vom sprechenden Subjekt aus gesehen führen diese Absetzbewegungen weg von der Sprache und der Sprachwissenschaft kurioserweise in zwei unterschiedliche Richtungen: Die Kultur und das Handeln im Allgemeinen liegen ›weiter außen‹, die Kognition jedoch ›weiter innen‹ als die Sprache (vgl. Albrecht 2005: 31). Keine Bewegung ohne Gegenbewegung; in letzter Zeit lässt sich innerhalb der Übersetzungsforschung eine Rückkehr zur Sprache konstatieren. So in Judith Macheiners8 Vademecum, das bezeichnenderweise von einem Translationswissenschaftler heftig verrissen wurde: »Der Gegenstand einer Wissenschaft vom Übersetzen, das Übersetzen und Dolmetschen, läßt sich zwar nicht auf den Gegenstand Sprache reduzieren, aber daß er immer auch etwas mit Sprache zu tun hat, und keinesfalls nur so nebenher, läßt sich nun einmal nicht bestreiten.« (Macheiner 1995: 345)

In Anlehnung an Sartre – wenn auch mit umgekehrter Zielrichtung – möchte ich hinzufügen:

8

Hinter diesem Pseudonym verbirgt sich die Berliner Sprach- und Übersetzungswissenschaftlerin Monika Doherty.

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Ich bestreite nicht die Nützlichkeit der Erkenntnisse, die die Kulturwissenschaft, die Handlungstheorie und die Kognitionswissenschaften dem Übersetzungsforscher (und durch seine Vermittlung auch dem Übersetzer) an die Hand geben. Diese Ansätze können jedoch dazu verführen, allzu großzügig über das ›Praktisch-Träge‹ hinwegzusehen, das den sprachlichen und textlichen Strukturen anhaftet, mit denen es der Übersetzer zu tun hat. Zum Schluss möchte ich noch einen Verdacht ausräumen, den ich aus dem Ko-Referat von Andreas Kelletat zu meinem Beitrag herauszulesen glaube. Ich wende mich keineswegs gegen die bunte Vielfalt, die im geräumigen Haus der Übersetzungsforschung anzutreffen ist. Ganz im Gegenteil. Und so zitiere ich am Ende mit voller Zustimmung einen meines Erachtens besonders gut gelungenen Passus seines Textes: »Im Haus der Translation gibt es viele Wohnungen, kleine und große, Wohnungen im Erdgeschoss und hoch oben unterm Dach – und überall gibt es diese wunderbaren Speisekammern und die sonderbar bestückten Rumpelkammern […] manchmal treffen sich die Bewohner dieser vielen Wohnungen zu einer Eigentümer- und Mieterversammlung, da geht es dann hoch her wegen des immer noch nicht neu gestrichenen Zauns und des Schlosses am Gartentor – und manchmal trifft man sich zu einem Fest in jenem Garten und trinkt ein Glas Wein und tauscht sich aus und merkt dabei leicht überrascht, dass dieser schrullige Bewohner aus dem Kellergeschoss und jenes schräge Pärchen aus der kleinen Mansarde ganz oben eigentlich ganz sympathische Zeitgenossen sind […].« (Kelletat 2014: 4)

Wie konnte Kelletat das alles im Voraus wissen? Sein Ko-Referat lag schon vor Beginn der Veranstaltung vor. Er schildert genau die Eindrücke, die ich vom Kolloquium in Germersheim mitgenommen habe.

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Eulen nach Athen? Provokation und Reflexionsanstöße des translational turn der Kulturwissenschaft für die Translationstheorie L AVINIA H ELLER

Auch unter den Bedingungen einer globalisierten Welt und der Dominanz des Englischen als lingua franca in immer mehr sozialen Kontexten scheint Translation unerlässlich zu bleiben und nicht durch andere Praktiken oder Produkte substituiert werden zu können. Ganz im Gegenteil, gerade unter den heutigen ökonomischen, politischen, rechtlichen und wissenschaftlichen Interdependenzbeziehungen sind kommunikative Erreichbarkeit und damit Translation unabdingbar. Die Tatsache, dass die Praxis der maschinellen Übersetzung immer mehr Anwendung findet und dass gleichzeitig in den letzten Jahren eine enorme wissenschaftliche und technologische Entwicklung in diesem Bereich stattgefunden hat, muss als Indiz für den wachsenden Bedarf an Translaten betrachtet werden, der angesichts der Notwendigkeit ihrer schnelleren Verfügbarkeit nicht mehr durch Übersetzungsleistungen humaner Akteure abgedeckt werden kann. Insofern Gesellschaften nicht ohne Translation auskommen, wird auch eine akademisch translationsbezogene Perspektive auf gesellschaftliche Prozesse relevant bleiben. Die Bedeutung, die dem Thema nicht nur innerhalb der Translationswissenschaft, sondern auch innerhalb anderer Disziplinen zuerkannt wird, zeigt sich nicht zuletzt in einem von der Kulturwissenschaft geforderten und geförderten translational turn und an der Konjunktur des Begriffs der (kulturellen) Übersetzung im geisteswissenschaftlichen Diskurs. »Übersetzung« hat im Zuge dieses turn allerdings eine kaum überschaubare Referenzvielfalt erlangt. Die ›Gebrauchsregeln‹, nach denen der Terminus in dieser Fachdiskussion verwendet wird, sind deshalb so unübersichtlich, weil er auf höchst unterschiedlichen Ebenen angesiedelt ist: Übersetzung soll neben einer »anti-essenzialistischen

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Metapher[n]« (Bachmann-Medick 2008b: 148) Forschungsobjekt, Grundbegriff und Methode sein: »Übersetzung dient in der Tat nicht nur dazu, neue Themenfelder abzustecken. Die neuen Forschungsfelder schlagen vielmehr von der Gegenstandsebene auf die Ebene von Analysekategorien und Konzepten um. Übersetzung bleibt somit nicht mehr nur Objekt von Erkenntnis, sondern wird selbst zum Erkenntnismittel und -medium. Wie bei allen Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften erhält hier auch der Begriff der Übersetzung ein ›paradigmatisches‹ Potenzial, eben durch seinen konzeptuellen, epistemologischen Ebenenwechsel.« (Bachmann-Medick 2008b: 155f; vgl. a. 2011: 137ff.)

Darüber hinaus bezieht sich »Übersetzung« aber auch auf eine »fremdheitserhaltende« Einstellung (ebd. 2010: 269), auf eine Form der »differenzbewussten Grenzüberschreitung« (ebd. 2008a: 29).1 In diesem Sinne hat »Übersetzung« auch den Charakter einer gesellschafts-politischen Handlungsmaxime, einer »category of action« (ebd. 2009: 3) für den Forscher, der nicht nur zwischen verschiedenen Wissenschaftskulturen übersetzen soll, sondern auch von der »theoretisch-analytischen Sphäre in die Sphäre sozialer Bewegungen« (BachmannMedick 2011: 138). Dabei geht es um einen ethisch angemessenen Umgang mit akademischem Wissen, gesellschaftlichen Problemlagen, globalen Interdependenzbeziehungen und den damit einhergehenden Konfliktrisiken. Kulturelle Differenzen im Licht von Übersetzungsprozessen zu sehen soll dazu motivieren, kulturellen ›Überschneidungen‹ nachzugehen statt Konfrontationen zu diagnostizieren, Differenzen nicht als substantiell zu fixieren, sondern dazu beizutragen, sie aushandlungfähiger zu machen (ebd. 2008b: 143). Dazu soll der ‚translational turner zunächst Zwischenräume schaffen und ausleuchten, in denen Differenzen, Blockaden, Brüche und Konflikte überhaupt erst offengelegt werden können – diese werden zwischen Individuen, Gesellschaften, (Wissens-)Kulturen, Sinnwelten, Disziplinen, Literaturen etc. aufgesucht (vgl. BachmannMedick 2008a; 2008b; 2009; 2010: 238ff; 2016a). Diese translatologische ›Verdichtung‹ lässt die Ambition erkennen, die in den letzten Jahren immer offensichtlicheren kultur-, sozial- und translationswissenschaftlichen Interessen an sprach- und symbolvermittelten Transformations-



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In jüngster Zeit wird in dieser differenzerhaltenden Implikation des Begriffs auch der Vorteil gegenüber dem Konzept der Hybridität hervorgehoben, denn: »[T]he concept of hybridity […] celebrates perhaps all too quickly both the blending and borderlessness of global relations, and the eclectic exchangeability of theoretical positions« (Bachmann-Medick 2016d: 122).

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prozessen sowie interkulturellen Grenzüberschreitungen zusammenzuführen. In einer solchen Interessensverschränkung liegt sicherlich eine fruchtbare interdisziplinäre Schnittstelle, die sowohl für die empirische als auch für die grundlagentheoretische Translationsforschung noch ein Entwicklungspotential birgt. Doch scheint der translational turn statt einer Annäherung der übersetzungsinteressierten Disziplinen vielmehr einen Abgrenzungsaffekt vor allem zwischen der Translations- und der Kulturwissenschaft ausgelöst zu haben. Im Folgenden soll rekonstruiert werden, worin die Provokation dieses turn für die Translationswissenschaft gründet. In einem zweiten Schritt wird nach Reflexionsanstößen gefragt, die sich für die translationswissenschaftliche Theorie- und Begriffsbildung aus dieser Irritation ergeben könnten. Abschließende Verweise auf ein spezifisches Forschungsfeld sollen zeigen, wo sich die zwei Disziplinen zu einer gewinnbringenden interdisziplinären, translationsbezogenen Kooperation annähern könnten.

P ROVOKATIONEN Die Propagierung des translational turn war überraschenderweise nicht mit einer erhöhten Aufmerksamkeit auf den translationswissenschaftlichen Diskurs verbunden. Das Erstaunen darüber antizipierend erklären Kulturwissenschaftler immer wieder, weshalb in ihren Augen gerade diejenige Disziplin, deren master term als Schlüsselbegriff instrumentalisiert wird, nur eine marginale Rolle in diesem übersetzungsbezogenen Diskurs spielen kann: Ihre begrifflichen und methodischen Instrumente seien zu einfach strukturiert, um auf die drastischen Veränderungen der Kommunikationsbedingungen aufgrund der sich konstituierenden Weltgesellschaft Bezug nehmen zu können. Als kennzeichnend für diese globalisierenden Tendenzen werden die großen Migrationsbewegungen, die Mobilität (von Personen, Objekten und Diskurselementen) und die neuen Kommunikationstechnologien angeführt. Diese Faktoren ermöglichten eine immer schnellere Text- und Symbolzirkulation, die schließlich eine immer rapidere Transformation von Lebensräumen und Wissenskulturen und von soziokulturellen Praktiken zur Folge habe und kontinuierlich neue Strukturen hervorbringe, die wiederum immer neue Bedingungen für Translation generierten (vgl. Bachmann-Medick 2008a, 2009, 2008b, 2010: 238ff; 2016a). Diese komplexen Kommunikations- bzw. Translationsverhältnisse erforderten eine komplexe Begrifflichkeit, die nicht aus einem translationswissenschaftlichen Paradigma entwickelt werden könne, zumal nach der Einschätzung der Kulturwissenschaft die Translationswissenschaft eine »angewandte« und »philologisch-linguistische

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Disziplin« sei (Lässig 2012: 190), die sich rein mit der »Übertragung von Texten von einer Ausgangs- in eine Zielsprache« beschäftige (ebd.: 189f.) und die mit »Translation« über ein Konzept verfüge, »that was […] relevant only within the confines of a rather technical discourse« (Langenohl 2016: 96). Für kulturelle Aspekte der Translation interessiere sich diese Disziplin ausschließlich im Rahmen übersetzungspraktischer Probleme (Buden 2008: 9). Die Evidenzquellen, auf die sich solche Einschätzungen der Forschungsprogrammatik der Translationswissenschaft stützen, bleiben jedoch weitgehend im Dunkeln. Tatsächlich entstehen die frühesten systematischen Formulierungsversuche für die Erfassung der vielfältigen kommunikativen, gesellschaftlichen und (inter-)kulturellen Bedingungsverhältnisse, die einerseits das Ergebnis von Translationsprozessen sind und in denen sich andererseits Translationsprozesse vollziehen, bereits in den 1970er Jahren, genau in einem Zeitraum also, in dem sich die Translationsforschung von der Linguistik und der Komparatistik emanzipiert und zu einem eigenständigen Fach institutionalisiert wird.2 Mehr noch, die fachliche Emanzipation war geradezu von der Einsicht geleitet, dass Translationsprozesse aufgrund ihrer sozio-kulturellen Bedingtheit und ihrer situativ immer neu zu bestimmenden Funktion weder unter ausschließlichem Verweis auf linguistische, noch auf ästhetische Aspekte erklärbar seien. Die Theoriediskussionen dieser Zeit können deshalb als fundamental für die Konstitution und Konsolidierung der Disziplin charakterisiert werden, und zwar nicht nur wegen der konzeptionellen Nachhaltigkeit der damals entwickelten grundlagentheoretischen Überlegungen, sondern auch aufgrund der strukturellen Effekte, die die emanzipatorischen Bemühungen für die Integration der Translationsforschung nach sich zogen. Die Einsicht in die Vielschichtigkeit des Untersuchungsgegenstandes hatte Holmes bereits in einem Vortrag mit dem Titel The Name and Nature of Translation Studies von 1972 dazu bewogen, eine Ausdifferenzierung von Forschungsbereichen zu skiz-

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In dieser Zeit sind z.B. die schulbildenden Entwürfe der ziel- oder rezeptionsorientierten Polysystem-Theorie (Even-Zohar 1979, 1990) bzw. der Descriptive Translation Studies (Toury 1980b) und die Skopostheorie (Vermeer 1978, Reiß/Vermeer 1984) entstanden. Selbstverständlich finden sich auch schon vor dieser Zeit gehaltvolle translationstheoretische Überlegungen, die den Zusammenhang zwischen soziokulturellen Strukturen und Translation fokussiert haben (etwa Schleiermacher [1813/1963] oder Nida [1945, 1964]). Die internationale Fachkommunikation, aus der sich ein differenzierter Problemhorizont entwickelte, innerhalb dessen Translation entsprechend ihrer Vielschichtigkeit systematisch bearbeitet werden konnte, konsolidierte sich erst in den 1970er Jahren. Für eine anschauliche Rekonstruktion dieser Entwicklungen siehe Hermans (2004: 7ff.).

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zieren in denen neben den linguistischen auch die gesellschaftlichen, kulturellen, ästhetischen, politischen, historischen, technischen, materialen, medialen, kognitiven, didaktischen u.a. Aspekte untersucht werden sollten (Holmes 1998). Die sich in Folge tatsächlich rapide entwickelnde Binnendifferenzierung des Fachs führte schon bald zu der Überzeugung, dass der Austausch mit anderen Disziplinen für die grundlegende und differenzierte Bearbeitung spezifischer translationsbezogener Probleme notwendig sei, weshalb Toury die Forschungsprogrammatik der Translationswissenschaft bereits 1978 explizit als »obviously […] interdisciplinary« (1980a: 33) beschreibt.3 Themen, die in Nachbardisziplinen diskutiert werden, wie etwa Globalisierung/Lokalisierung, Migration, Mobilität, hybride Gesellschaftsformen, plurilinguale Kulturräume, Eurozentrismus oder Macht, fanden deshalb schnell Eingang auch in die translationswissenschaftliche Debatte und führten dort zu maßgeblichen Entwicklungen innerhalb der Theoriebildung und Methodendiskussion (vgl. etwa Cronin 2003, 2006, 2009, 2013; Heller 2013; Hermans 2002, 2004, 2007; Hyun/Lambert 1995; van Doorslaer/ Flynn 2013; Wolf 2007). Vor dem Hintergrund dieses nachweislich lang tradierten Bewusstseins der Translationswissenschaft für die Komplexität ihres Forschungsgegenstandes und der entsprechenden mindestens seit den 1970er Jahren systematisch geführten Theorie- und Methodendiskussion ist die Provokation des translational turn für die Translationswissenschaft allerdings weniger in der metaphorischen Verwendung ihres master term »Übersetzung« zu suchen. Viel irritierender ist das Credo der Kulturwissenschaft, einen geeigneteren Zugang zu den Kernfragen gefunden zu haben, die die Translationswissenschaft schon lange bewegen, gewissermaßen ganz ohne Umwege über die bereits geführten translationswissenschaftlichen Debatten. Der analytische und methodische Wert der kulturwissenschaftlichen Konzeption der Übersetzung wird nämlich darin gesehen, Einsicht »zum konkreten ›Wie‹ von interkulturellen Austausch- und Aushandlungsvorgängen« geben zu können (Bachmann-Medick 2008b: 149; vgl. a. 2010: 252) und zwar über eine Begrifflichkeit, die sich, wie Buden betont, »nicht mehr über die konkrete sprachliche Übersetzungspraxis legitimieren muss« (2008: 10). Der Vorteil dieses Konzepts gegenüber dem translationswissenschaftlichen soll dabei neben der Entpflichtung vom notorisch lästigen Problem der Sprache in seiner Referenzvielfalt und »Unschärfe« (ebd. 2004: 157) liegen und wird entsprechend als »weit« charakterisiert. Die Profilierung eines »weiten« Translationsbegriffs erscheint besonders überzeugend, wenn ihm ein möglichst »enger« gegenüberge-

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Für eine kritische Diskussion der Interdisziplinaritätsforderung und -förderung im translationstheoretischen Diskurs siehe Heller (2015).

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stellt wird. Es ist bezeichnend, dass im kulturwissenschaftlichen Übersetzungsdiskurs bisher kaum auf die Einsprüche der Translationswissenschaft (vgl. Dizdar 2009: 89; Heller 2013: 281ff.) gegen die unangemessene Darstellung translationswissenschaftlicher Forschungsfelder eingegangen wurde. Ganz im Gegenteil, es wird immer seltener auf die translationswissenschaftlichen Theorie- und Methodendebatten eingegangen – wie schließlich der 2014 erschienene Sammelband von Bachmann-Medick mit dem Untertitel A Translational Perspective (2016a) verdeutlicht. Bei der Kontrastierung von einem »engen« und einem »weiten« Translationsbegriff handelt es sich offensichtlich um eine wissenschaftsrhetorische Strategie, die vor allem dort Einsatz findet, wo Reichweite und Leistungsfähigkeit bzw. die Notwendigkeit neuer Begriffe und Methoden sich erst noch erweisen und wo Einsprüche befürchtet werden müssen.4 Es ist deshalb von besonderem Interesse, diese Polarisierungen tatsächlich als rhetorische Figur näher zu betrachten und der Frage nachzugehen, welcher Logik sie folgen und welche Schlussfolgerungen sich über das ursprünglich motivierende Legitimationsanliegen hinaus ergeben. So kann einsichtig werden, wie die Translationswissenschaft im kulturwissenschaftlichen Übersetzungsdiskurs in eine Position manövriert wird, die nicht nur ihrer Forschungsprogrammatik keineswegs entspricht, sondern die sie in gewisser Weise außerhalb des engeren Zirkels des translational turn platziert. Dizdar (2009) hat darauf hingewiesen, dass die kulturwissenschaftlichen Bemühungen der Rechtfertigung eines »weiten« Übersetzungsbegriffs weitreichende Konsequenzen für die Frage nach translationswissenschaftlichen Forschungsthemen und -bereichen haben. Bei genauerem Hinsehen suggeriert die Unterscheidung von »weitem« und »engem« Translationsbegriff nämlich eine hierarchische Ordnung: Translation proper (Jakobson), dem »flachen« und »engen«, die interlinguale Dimension bezeichnenden Begriff der Translationswissenschaft, wird der »weite«, »kritische«, »kreative« Translationsbegriff gegenübergestellt, der die interkulturelle, soziale und politische Dimension der Übersetzung fokussieren soll und der von den anderen Sozial- und Kulturwissenschaften verwendet wird (Dizdar 2009: 90). Diese Hierarchisierung der Begriffe führt zwangsläufig zu einer Hierarchisierung der Objektbereiche: Als ›typische‹ translationswissenschaftliche Forschungsfelder werden die Untersuchung

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Solche Polarisierungen sind kein Spezifikum des translational turn. Die Kulturalisierung der Translation hat u.a. auch die Funktion linguistische Ansätze innerhalb des translationswissenschaftlichen Diskurses zu diskreditieren und sie einer präskriptiven und darum überholten Tradition zuzuordnen (Koskinen 2004, vgl. a. Albrecht in diesem Band).

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übersetzter/gedolmetschter Texte und die Diskussion translationspraktischer Probleme vorgestellt. Diese Themen werden als interessant und wichtig gewürdigt, doch die eigentlich zielführende Frage wird darin gesehen, was im Umfeld der Translate geschieht, d.h. welche langfristigen Wirkungen Translationspraktiken haben, und dies sei das Untersuchungsfeld der Kulturwissenschaft (vgl. etwa Bachmann-Medick 2010: 238ff; Buden 2008; Lässig 2012: 190f.). Die Hierarchisierung der Objektbereiche führt wiederum zu einer Hierarchisierung der Disziplinen, denn vor dem Hintergrund der Aufteilung der disziplinären Zuständigkeitsbereiche ist es gemäß dieser Logik die primäre Aufgabe der Translationswissenschaft, den translational turn mit fachspezifischem Wissen über translation proper zu ›versorgen‹, um die ›andere Seite‹ der produktiven Analogien der Kulturwissenschaft belegen zu können, die den »Übersetzungscharakter« von Kulturen, Disziplinen und Identitäten (Bachmann-Medick 2004: 158) beschreibt. Der translationswissenschaftliche Beitrag zum translational turn wird mithin in einer Art begrifflichen »fine-tuning« gesehen, das der kulturwissenschaftlichen Konzeption eine ›konkretere‹ Kontur geben soll (Bachmann-Medick 2009: 4; vgl. a. Buden 2008: 10). Die besondere Herausforderung des translational turn für die Translationswissenschaft bestünde mithin darin, sich als ›Hilfsdisziplin‹ für die kulturwissenschaftliche Debatte anschlussfähig zu machen: »In this respect a comprehensive ›translational turn‹ would be highly challenging for translation studies, forcing it to make itself translatable in and for other disciplines.« (Ebd.)

Diese translatologische Kontaktzone soll, so der weitere Gedanke, nicht zuletzt auch einen Erkenntnisgewinn für die Translationswissenschaft selbst abwerfen, denn der translational turn könnte das in diesem Kontakt sozial-, aber vor allen Dingen kulturwissenschaftlich ›verbesserte‹ translationswissenschaftliche Fachwissen über translation proper postwendend an die Heimatadresse zurücksenden, auf dass sich die Translationswissenschaft in ihrer Begriffsbildung inspirieren lassen kann: »And the humanities could make new ›turns back‹ to translation studies as they try to sharpen the contours of this broad understanding of translation.« (Ebd.)

Diese disziplinären Verschränkungen sollen letztendlich aus den Geisteswissenschaften eine »übersetzte« globale Wissenschaft formen: »a globally open translation studies« (ebd.: 11) ganz offensichtlich im Zahlungsverkehr einer kulturwissenschaftlichen Leitwährung.

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Die Eigendynamik der polarisierenden Rechtfertigung des »weiten« Konzepts der Translation hat hier ihr eigentliches Ziel, nämlich die Profilierung eines kulturwissenschaftlich strukturierten Übersetzungsbegriffs, der indessen ein analytisch schärferes Instrument als das translationswissenschaftliche sein soll, schon längst überholt, sodass auch das eigentliche methodische und begriffliche Problem, das mit der »Erweiterung« des Konzepts einer Lösung zugeführt werden sollte, hinter ein themenpolitisches Konfliktfeld zurücktritt. Vergegenwärtigen wir uns deshalb noch einmal das Argument, das eine Umstrukturierung der übersetzungsbezogenen Konzeption notwendig machen soll. Die Überzeugung war, dass ein kulturwissenschaftlich konstruierter Übersetzungsbegriff einen explikativen Zugang zu den immer rapideren Transformationen von Lebensräumen, Wissenskulturen und sozio-kulturellen Praktiken ermöglichen kann. Da Translationsprozesse allerdings nicht erst heute und nicht erst unter den heutigen globalisierten Verhältnissen eine strukturtransformierende Eigendynamik entwickeln, gehört die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Translation und kulturellen Transformationsbewegungen zu den Topoi der Reflexionsgeschichte der Übersetzung. So hatte Schleiermacher (1963) bereits 1813 das kulturbildende Potential von Translaten zum zentralen Thema seiner berühmten Akademierede gemacht, und nicht umsonst hat Levý schon in den 1960er-Jahren Translation als Form der Massenkommunikation charakterisiert (ebd. 1963/1969: 172). Es lässt sich jedoch argumentieren, dass das begriffliche Problem den funktionalen Zusammenhang zwischen Übersetzungen und ihren Effekte zu fassen, unter den heutigen weltgesellschaftlichen Kommunikationsbedingungen besonders virulent wird. In diesem Sinne haben die kulturwissenschaftlichen Erklärungsansprüche in der Translationswissenschaft gewissermaßen einen neuralgischen Punkt berührt, weil es sich gerade nicht um ein neues, erst durch unsere heutigen Lebensumstände induziertes begriffliches Problem handelt. Es bleibt zu fragen, welches analytische Potential die kulturwissenschaftlich inspirierte Übersetzungsbegrifflichkeit für eine translationswissenschaftliche Bearbeitung dieser Problemlage tatsächlich bereithält.5

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Der kulturwissenschaftliche Übersetzungsbegriff interessiert in unserem Diskussionszusammenhang nicht in Hinblick auf die kulturwissenschaftliche Theoriebildung, sondern in Hinblick auf seine epistemologische Leistungsfähigkeit für translationswissenschaftliche Problemstellungen, denn die Provokation besteht ja gerade im Anspruch der Kulturwissenschaft, zusätzlich zu ihren eigenen, auch die der Translationswissenschaft zu lösen.

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R EFLEXIONSANSTÖSSE Zunächst wäre zu prüfen, ob die Verwendung eines äquivoken Vokabulars tatsächlich auch durch ein ähnliches Erkenntnisinteresse motiviert ist, denn der Gebrauch gleicher Sprachzeichen in den unterschiedlichen Terminologien verführt in der interdisziplinären Diskussion schnell zu der Unterstellung, man spräche von identischen Gegenständen und Problemen. Zwar wird angegeben, der kulturwissenschaftlich »erweiterte« Translationsbegriff könne »einen Zugang schaffen […] zum konkreten ›wie‹ von interkulturellen Austausch- und Aushandlungsvorgängen« (Bachmann-Medick 2008b: 149), doch scheint es in diesem Übersetzungsdiskurs, anders als im translationswissenschaftlichen, nicht primär um die Frage zu gehen, in welchem Zusammenhang translatorische (sprachliche) Praktiken und Translate tatsächlich mit den umfassenden (inter-)kulturellen, (welt-)gesellschaftlichen Prozessen stehen. Schließlich soll die kulturwissenschaftliche Begrifflichkeit ja gerade von der Rechenschaft über die sprachliche Dimension der Translation entpflichtet sein. Die forschungsleitende Frage scheint vielmehr auf die Möglichkeiten abzuzielen, die sich aus einer spezifischen Perspektive auf diese Vorgänge ergeben: Wie versteht man soziokulturelle Identitäten und Transformationsdynamiken, multikulturelle Gesellschaften, wenn sie als Übersetzung konzeptualisiert werden? Welche neuen Handlungsmöglichkeiten ergeben sich, wenn Verstehens-, Aushandlungs- und Vermittlungsbemühungen als Übersetzungsprozess zwischen Individuen, Gesellschaften, (Wissens-)Kulturen, Disziplinen, Literaturen etc. konzipiert und vollzogen werden? Was hier geschieht ist also streng genommen keine Erweiterung des Translationsbegriffs, wie das Prädikat »weit«, mit dem das kulturwissenschaftliche Konzept charakterisiert wird, suggeriert. Vielmehr handelt es sich um eine »Strukturmetapher« (Lakoff/Johnson 2004), die allerdings nicht nur als Deutungs-, sondern auch als Handlungsschema fungiert: ›Kultur/Gesellschaft/ Migration/Wissenschaft ist Übersetzung‹, d.h. nicht Übersetzung, sondern Migrationsbewegungen, die Konstitution multikultureller Gesellschaften, die Dynamik wissenschaftlichen oder künstlerischen Austauschs, (produktive) Aushandlungsstrategien von Differenzen, die Vermittlung zwischen unterschiedlichen Diskursformen und die Funktionsweise weltgesellschaftlicher Beziehungen sollen mit der translatologischen Konzeptualisierung veranschaulicht werden, um schließlich situations- und sachadäquatere Praktiken entwickeln zu können. Die epistemische Leistungskraft der Strukturmetapher liegt gerade darin, den von ihr strukturierten Wirklichkeitsausschnitt zu erklären und nicht etwa sich selbst. Das bedeutet auch, dass sie das zu Erklärende nur partiell und nicht total (vgl. Lakoff/Johnson 2004: 21) strukturiert. Die Strukturmetapher ›Kultur ist Transla-

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tion‹ wird nur unter der Bedingung produktiv, dass nicht zugleich behauptet wird, Kultur sei tatsächlich Translation, denn damit wäre Translation wiederum als Kultur konzeptualisiert und könnte Kultur nicht mehr erklären. Der metaphorologische Anspruch kann nur darin liegen, bestimmte Aspekte zu akzentuieren, etwa die Konstitution kultureller, sozialer oder akademischer Strukturen, die Neues nach ihrer eigenen Logik integrieren und verarbeiten und deren Binnenstruktur, Inklusions- und Exklusionsmechanismen sich dadurch kontinuierlich verändern. Es liegt also in der Natur dieser metaphorologischen Erkenntnismethode, dass die kulturwissenschaftliche Perspektive vornehmlich auf eine Seite der Analogie gerichtet ist. Bezeichnenderweise wird in der neuen Publikation von Bachmann-Medick nicht mehr wie noch 2009 »a globally open translation studies« (ebd.: 11) als Fernziel anvisiert, sondern »the trans/national study of culture« wie es auch schon im Buchtitel angekündigt wird (2016a).6 Der Exkurs in die Metaphorik der kulturwissenschaftlichen Translationskonzeption hatte nicht den Zweck, die metaphorologische Erkenntnismethode zu diskreditieren. Ausgangspunkt war vielmehr die Frage, ob mit dem Übersetzungsvokabular im kultur- und translationswissenschaftlichen Diskurs überhaupt auf ein vergleichbares Problemfeld referiert wird und die Kulturwissenschaft eine aufschlussreichere Terminologie bereit hält als die Translationswissenschaft, um den emergenten Charakter von Translationsprozessen zu untersuchen.7 Dass »Übersetzung« im kulturwissenschaftlichen Sprachspiel (Wittgenstein) einen anderen Gegenstandsbezug erzeugt als im translationswissenschaftlichen und darum keine geeignete Begriffskonstruktion für translationswissenschaftli-

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Bachmann-Medick bekennt einerseits, dass »Kulturwissenschaften […] die Unschärfe von Metaphern [lieben]« (2004: 157), denn gerade in dieser Unschärfe läge deren »Fruchtbarkeit« (ebd.), andererseits warnt sie selbst immer wieder, »dass die Übersetzungskategorie zu weit gedehnt, zu inflationär gebraucht und oft doch nur metaphorisch eingesetzt wird« (2008b: 149; vgl. a. 2016c: 128). Auf welche Weise eine begriffliche Einschränkung vorgenommen werden soll, bleibt unklar. Kritik zu dieser begrifflichen Unschärfe gibt es nicht nur aus der Translationswissenschaft (siehe etwa Cronin 2000: 104; Dizdar 2009; Heller 2013: 281ff; Wolf 2010), sondern auch aus eigenen Reihen, siehe etwa Wagner (2009).

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Pym sieht kaum Überlappungen der Erkenntnisinteressen. So beruhigt er den um seinen Gegenstand bangenden Translationswissenschaftler: »What has been taken from translation is little more than its conceptual geometry« (2010: 10), denn: »The last thing anyone in this paradigm [gemeint ist das kulturwissenschaftliche Paradigma – L.H.] wants to do is actually analyze a set of translations. That is simply not the problem that had to be solved.« (Ebd.: 11)

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che Problemlösungen bietet, bedeutet nicht, dass nicht möglicherweise aus anderen Denkfiguren des kulturwissenschaftlichen Diskurses Reflexionsanstöße erwachsen könnten. Interdisziplinarität beginnt nicht erst dort, wo Konzepte und Methoden Disziplingrenzen passieren, sondern beginnt bereits in der Beobachtung derjenigen methodologischen Probleme und Lösungsansätze, die sich in anderen Fachdiskursen herauskristallisieren und die eine strukturelle Analogie zur eigenen Problemlage aufweisen. Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass der translational turn mit seinem Fokus auf sozio-kulturelle Transformationsprozesse in der Translationswissenschaft nicht eine ganz andere Diskussion stimuliert hat, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von mikrostrukturellen translatorischen Praktiken (das Übersetzen einzelner Begriffe, Sätze und Texte) und großformatigen Transformationen, Verschiebungen und Brüchen etwa innerhalb bestimmter (Wissens-)Kulturen, Reflexionstraditionen und Problemlösungsmodellen. Die heutige begriffliche Herausforderung, der sich sowohl der translations- als auch der kulturwissenschaftliche Theoriediskurs gleichermaßen stellen muss, liegt in der Schwierigkeit, Handlungsfolgen – trotz der Vorformatierung zahlreicher Handlungskontexte durch Institutionen und Organisationen – unter Bezug auf die mit den Handlungen verbundenen Intentionen der Akteure erklärbar zu machen. Nicht nur die Einsicht in die Kontingenz kommunikativer Anschlüsse, sondern auch die Frage nach der Verantwortlichkeit individueller Personen machen die Notwendigkeit der Bearbeitung dieses begrifflichen Problems gerade unter der aktuellen, sich auch medial bzw. kommunikationstechnisch verändernden Situation immer deutlicher. Dieses theoretische Problem lässt sich nicht dadurch ›umgehen‹, dass nur die Translationseffekte betrachtet werden. Die oben beispielhaft aufgeführten translationsbedingten Phänomene können zwar kaum allein auf den propositionalen Gehalt, die Verständlichkeit oder Konventionsadäquanz eines übersetzten Textes zurückgeführt werden, ebenso wenig wie auf die kognitiven Fähigkeiten oder Intentionen einzelner ins Translationsgeschehen involvierter Akteure. Sie werden aber auch nicht unter ausschließlicher Bezugnahme auf sozio-kulturelle, historische, linguistische, kommunikative oder mediale Bedingungen erklärbar. Derartige Effekte müssen vielmehr als das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels dieser Faktoren begriffen werden. Jeder Explikationsversuch aber, der die sprachlichen Übersetzungsprozesse ausklammert oder relativiert, muss unvollständig bleiben, da diese zu den ganz fundamentalen Ermöglichungsbedingungen dieses Zusammenspiels gehören. Wenn es das Ziel einer »translational perspective« ist, Einblick zu geben in die »possibilities, practices, barriers, obstacles, and resistances that affect encounters between different systems of cultural research«, wie es im Vorwort zum Sammelband The Trans/national Study of Culture heißt (Bach-

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mann-Medick 2016b: V), dann kommt man kaum um die Analyse sprachlicher Übersetzungen herum, die diese Begegnungen in vielen Fällen überhaupt erst möglich machen.8 Vor allem dann nicht, wenn diese translatologische Einstellung gerade helfen soll »[to] counteract monolingualism in the study of culture« (ebd.: 3) mit dem Ziel, »to pluralize cultural studies itself into multi-sited courses and discourses« (ebd.), aber auch mit der Absicht einsichtig zu machen, dass »[T]here is no ›origin point‹ of (western) theory« (ebd.: 9). Die Entwicklung von Theorien und akademischen Traditionen soll als »an emerging network of reciprocal absorption, transmissions, interactions, but also of dominations« entlarvt werden (ebd. 10). Doch wie, so fragt man sich, wenn nicht über die sorgfältige Analyse der in die Theoriediskurse diffundierten und in Folge tradierten (sprachlich) übersetzten Begriffe, Metaphern, Methoden, Gewissheiten, Argumentations- und Beweisformen? Noch vor wenigen Jahren wurde die Forderung erhoben, sich von der »Sprachfixierung« zu lösen und stattdessen die Dimension Kultur, Lebenswelt, Handeln und Geschichte in den Fokus zu rücken (ebd. 2011: 129). Während der Beschäftigung speziell mit der Konstitution und Transformation akademischer Kulturen scheint sich allerdings innerhalb des translational turn – wenn auch sehr zaghaft und ohne expliziten Hinweis auf ein bisheriges

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Aus einer translationsbezogenen Perspektive zeigt sich, dass die globalisierte Welt gerade keine »fast shrinking world« ist, wie u.a. Bachmann-Medick meint (2016c: 14). Cronin zeigt, wie die »time-space compression thesis«, die die Diskussionen um Globalisierung dominiert, nicht dem tatsächliche Erleben der Menschen Rechnung trägt, die meistens ihre Wirklichkeit nicht als global, sondern als ortsgebunden erfahren, denn »[o]vercoming distance requires time and money and this means that for the great majority of human beings, the everyday events of daily life are well grounded within a circumscribed arena« (Cronin 2013: 494). Der Fokus auf Translation und ihre zeitliche Dimension konterkariert die Vorstellung einer globalen Gleichzeitigkeit und maximalen Konnektivität, denn er bringt nicht nur die temporale Ausdehnung des Translationsprozesses in den Blick, sondern schafft auch ein Bewusstsein davon, dass die Entwicklung der notwendigen Translationskompetenz – ohne die Lokalisierungen nicht möglich wären, die wiederum erst die globalen Verhältnisse schaffen – Zeit braucht. Dass diese Kompetenzressourcen nicht für jeden zugänglich sind, zeigt sich nicht zuletzt im akademischen Diskurs: An der internationalen Fachdiskussion kann nur derjenige partizipieren, der sich in das den Wissenschaftsdiskurs dominierende englische Idiom zu übersetzen leisten kann. Nota bene: auch die Ausbildung der eigenen Translationskompetenzen ist für die meisten mit einer zeitlichen und finanziellen Investition verbunden. Für eine ausführliche translationstheoretische Diskussion zum Thema Globalisierung siehe Cronin (2003).

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Desiderat – ein stärkeres Bewusstsein für die Notwendigkeit entwickelt zu haben, die sprachliche Dimension der Übersetzung zumindest zu berücksichtigen. Inspiriert von den translationshistorischen Überlegungen Lius plädiert Bachmann-Medick in ihrer neueren Publikation jedenfalls dafür, die Kulturforschung als »translation discipline« zu betreiben und mit dem Übersetzungsbegriff »as a category that expressly throws light on the smaller units of communication – on concrete situations of interaction« zu arbeiten (2016c: 17; kursiv: L.H.). Die Übersetzungsmetapher müsse aufgebrochen werden, so heißt es, »into the investigation of interaction scenarios in their concrete steps of translational activities, transmissions, negotiations, and mediations« (2016d: 128; kursiv: L.H.). Die Schlussfolgerung ist, dass die Fokussierung kleinerer Kommunikationseinheiten eine historische Tiefenbohrung in der Entwicklung akademischer Diskurse ermöglicht, weshalb vorgeschlagen wird statt von »travelling concepts« besser von »concepts in translation« zu sprechen (ebd. 133). Aus translationswissenschaftlicher Perspektive sind dies interessante Entwicklungen. Zumal sich auch innerhalb der Translationswissenschaft in den letzten Jahren ein reges Interesse für Übersetzungen im wissenschaftlichen und philosophischen Feld entwickelt hat.9 Die für dieses junge Forschungsfeld leitende Überzeugung besteht darin, dass sich die Bedeutung von Translatoren im akademischen Diskurs nicht in der Verbreitung von Wissen erschöpft, sondern dass sie vielmehr an der »constitution of scientific discourse itself« beteiligt sind (Olohan/Salama-Carr 2011: 187).10 Um den tatsächlichen Beitrag von Translatoren an der Wissensproduktion nachvollziehen zu können, ist die für den (translationssensiblen!) Wissenschaftshistoriker häufig schon hinreichende Information, ob bestimmte Texte übersetzt worden sind und von wem, aus einer translationswissenschaftlichen Perspektive allerdings nicht ausreichend. Um einen genaueren Einblick in das komplexe Verhältnis von translatorischem Handeln und der Transformation oder Konstruktion akademischer Ideen und Überzeugungen zu

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Die ersten Überlegungen zur Übersetzung (natur-)wissenschaftlicher Texte entstehen in den 1960er Jahren (Jumpelt 1961; Finch 1969; Maillot 1969). Allerdings geht es dort fast ausschließlich um die translationspraktischen Schwierigkeiten im Umgang mit dem spezifischen Genre und mit der Übersetzung wissenschaftlicher Terminologien. Eine systematische und internationale Diskussion der translationsbedingten Effekte innerhalb akademischer Diskurse hat sich jedoch erst in den letzten Jahren entwickelt (siehe etwa Olohan 2016; Olohan/Salama-Carr 2011).

10 Vgl. Bachmann-Medick: »Knowledge is gained through translation – not through dissemination from an original, but through ongoing translations as negotiations, appropriations, and transformations.« (2016b: 18; kursiv: L.H.)

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gewinnen, bleibt es unerlässlich, ihre tatsächlichen Handlungs(spiel)räume nicht nur für stilistische, sondern auch und gerade für philosophische oder wissenschaftliche Kreativität aufzusuchen. Dieses relativ neue Forschungsinteresse bringt ein ›klassisches‹ translationstheoretisches Problem ans Licht, das mit dem cultural turn marginalisiert wurde: die Translationseinheit.11 Bisher ist dieses ›alte‹ Problem jedoch nicht wieder systematisch aufgegriffen worden. Der Umstand, dass sich die Kulturwissenschaft im Interesse der Wahrung ihrer Erklärungsansprüche nach einer Phase der Konzentration auf die großformatigen Transformationen mit der Untersuchung akademischer Denktraditionen nun wieder auf die »smaller units of communication« besinnt, sollte die Translationswissenschaft motivieren, sich ihrerseits erneut des verdrängten Themas der Übersetzungseinheit anzunehmen. Dies nicht zuletzt, da die derzeitigen Forschungsinteressen beider Disziplinen partiell konvergieren und sich in beiden Diskursen strukturanaloge Probleme herauszukristallisieren scheinen. Anders als die Fixierung auf isolierte Begriffe (»Übersetzung« z.B.) und ihre Verwendung erschließt sich aus einer problembezogenen Perspektive ein Feld, auf dem der interdisziplinäre Austausch zu fruchtbaren Ergebnissen führen könnte. Dieses Problemfeld soll abschließend aus einer translationswissenschaftlichen Einstellung umrissen werden, aus der die Anschlüsse zum kulturwissenschaftlichen Diskurs ersichtlich werden dürften.

I NTERESSENS -

UND

P ROBLEMKONVERGENZEN

Dass Translatoren nicht einzelne Worte, sondern Texte übersetzen, ist innerhalb der stark ausdifferenzierten Translationswissenschaft eine konsensfähige Einsicht. Spätestens seit der textlinguistischen Wende in den 1970er Jahren wird diese These innerhalb der verschiedensten Forschungsfelder stark gemacht, sei es für theoretische, methodische, berufspraktische oder didaktische Fragen. Diese textbezogene Perspektive war im Emanzipationsprozess der Translationswissenschaft von der Linguistik eine wichtige methodologische Errungenschaft, insofern das translationstheoretische und -praktische Problem der Bedeutung aus dem engen Korsett der kontrastiven Lexikologie befreit wurde. Galt der Text

11 Die Frage nach der Übersetzungseinheit ist so alt wie das Problem der Translation und begleitet die Entwicklung der Translationstheorie mindestens seit der Antike und Ciceros Credo non verbum pro verbo. Auf theoretischer Ebene zeigt sich, dass die Frage nach der Übersetzungseinheit immer an den ›Umbrüchen‹ der Reflexionsgeschichte der Translation virulent wird (vgl. Ballard 2010).

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nach der textlinguistischen Wende als oberste Analyseeinheit, scheint dieser bereits mit dem cultural turn in den 1990er Jahren wiederum zur kleinsten Analyseeinheit geschrumpft zu sein. Die Übersetzung kulturgebundener Reflexionsstile, Traditionen und Praktiken samt ihrer normativen Strukturen gehören jedenfalls schon längst in den Objektbereich der translatologischen Normalwissenschaft (Kuhn). Vor dem Hintergrund dieses Trends mutet die Fixierung mikrostruktureller Einheiten auf terminologischer Ebene, wie sie charakteristisch für viele Untersuchungen von Übersetzungen im wissenschaftlichen und philosophischen Feld ist, geradezu regressiv an. Hier kreisen die Diskussionen häufig um terminologische Idiosynkrasien und ihre Null-Äquivalenz in der Zielsprache, um die Intension und Extension einzelner Begriffe oder um die diskursive ›Vorbelastung‹ spezifischer Termini, mit denen Begriffe bezeichnet oder eben nicht bezeichnet werden können. Solche ›Vorbelastungen‹ variieren im akademischen Diskurs schließlich in unterschiedlichen Sprachen. Dieser Fokus auf mikrostrukturelle Einheiten lässt translationswissenschaftliche Untersuchungen neben den ›großformatigen‹ Rekonstruktionen wissenschaftshistorischer und kulturwissenschaftlicher Untersuchungen zur Verbreitung und Transformation von Konzepten oder Diskurstraditionen zuweilen kleinformatig erscheinen. Allerdings können makrostrukturelle Translationsbewegungen nicht unabhängig von den translationspraktischen Transformationen mikrostruktureller Elemente begriffen werden – selbst wenn sie sich nicht restfrei unter Bezug auf einzelne translatorische Entscheidungen erklären lassen. Schließlich konstituieren sich solche interkulturellen Transfer- und Transformationsbewegungen erst durch die Übersetzung bzw. die wissenschaftliche Verarbeitung (übersetzter) Texte, Textteile, Zitate und Thesen. In solchen übersetzungsvermittelten wissenschaftlichen Verarbeitungsprozessen diffundieren einzelne mikrostrukturelle Elemente in Form von Termini und Begriffen, die durch ihren Gebrauch in den zielkulturellen bzw. internationalen Wissenschaftsdiskurs eingebaut werden. In der Tat sind die langfristigen ›Nebeneffekte‹ rekurrierender Translationsprozesse zwischen bestimmten Sprachenpaaren bzw. innerhalb bestimmter Diskurse nicht erst im Transfer und der Transformation von ganzen Wissensbeständen zu beobachten, sondern bereits im Auf- und Ausbau spezifischer Sprachspiele, deren Transformation immer auch neue Möglichkeiten für Translation schafft und damit unweigerlich die Zirkulation von Wissen über Kultur- und Sprachgrenzen hinweg bedingt. Ein klassisches Beispiel hierfür ist die lateinische Philosophiesprache, die das Ergebnis der systematischen Übersetzung griechischer Philosophie durch Cicero ist (vgl. Eucken 1879/1964; Nuzzo 2000). Ein aktuell besonders rege diskutiertes Beispiel ist der Einfluss von Übersetzungen aus und ins Englische auf die Entwicklung ›kleinerer‹ Wissenschaftssprachen (siehe vor allem Bennett 2006,

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2015; aber auch schon Ohly 1981). Erst in den letzten Jahren wurde in der Translationswissenschaft das Bewusstsein für die mit dieser Translationspraxis einhergehende Homogenisierung und »colonization of discourse« (Bennett 2011: 196)12 geweckt und mitunter auch die Frage aufgeworfen, ob oder welche Möglichkeiten Translatoren haben, diesen Homogenisierungstendenzen entgegenzuwirken (siehe vor allem Bennett 2011, 2015).13 In der Einsicht in dieses Einflusspotential der Translation gründet häufig die Anerkennung der Translatoren als »potent actors in the globalization of knowledge« (Montgomery 2010: 303). Gerade dort aber, wo die Anerkennung des Translators besonders hochgehalten wird, wird der sprachliche Aspekt der Übersetzung gerne heruntergespielt, denn »translation, in science as elsewhere, is not merely a linguistic process, but a form of personal engagement« (ebd.: 304, kursiv: L.H.). Tatsächlich wird die große Herausforderung der Übersetzung im Wissenschaftskontext letztendlich aber dann doch immer wieder auf der linguistisch terminologischen Ebene verortet, und zwar auch in denjenigen Ansätzen, die sich primär mit makrostrukturellen Aspekten der Wissenschaftsübersetzung beschäftigen, denn Wissenschaft »[…] depends heavily upon highly specialized and ever expanding technical vocabularies, a challenge to every translator. Inaccurate rendering of even few terms can mar a translation’s usefulness significantly. The coining of new terms by researchers, moreover, is ongoing as a measure of scientific advance, involving new discoveries and development of new subdisciplines, thus presenting ever new demands upon translators.« (Montgomery 2010: 302)

Angesichts der Wirkungsmächtigkeit von Übersetzungen im akademischen Diskurs sieht Montgomery die translatorische Arbeit dann aber, trotzdem es ihm

12 Dieses Thema ist auch zentral für die Diskussion, die in den letzten Jahren unter dem Schlagwort der »de-Westernization« und »internationalization« geführt wird. Siehe dazu die Forumsdiskussion zu Universalism in Translation Studies, die 2014 in den Heften 7:1 und 7:3 der Zeitschrift Translation Studies geführt wurde. Siehe auch Tymozcko (2009); Van Doorslaer/Flynn (2013). Initiiert wurde die kritische Debatte aber schon 2002 von Susam-Sarajewa mit ihrem Aufsatz A ›Multilingual‹ and ›International‹ Translation Studies?. 13 Vgl. die für Bachmann-Medick zentrale Frage: »How can we counteract monolingualism in the study of culture?« (ebd. 2016c: 3). Dass dem Anliegen, den vom Englischen dominierten Monolingualismus des kulturwissenschaftlichen Diskurses zu unterwandern, die rein englischsprachige Publikationsform des Bandes nicht entspricht, wurde bereits von zwei Rezensentinnen angesprochen (Pagni 2015; Dietz 2014).

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immer wieder auf die terminologische Präzision im Übersetzungsprozess ankommt, gerade nicht als »a matter of rendering the words of one language into those of another, hopefully with little or no spillage of meaning« adäquat beschrieben (2000: 3). In dieser Ambivalenz spiegelt sich eine mindestens seit dem cultural turn auch in der Translationswissenschaft tradierte Sorge, die sprachliche Dimension der Übersetzung allein sei zu schwach, um die gesellschaftliche, kulturelle oder wissenschaftliche Relevanz der Translation auszuweisen.14 Wer Translation sprachbezogen betrachtet, wird gemäß auch der für die Kulturwissenschaft bisher leitenden Annahme schnell verdächtigt, das Wesentliche aus dem Blick zu verlieren. Die implizite Unterstellung ist hier, dass die translatorischen Mikroeinheiten im Grunde unerheblich für das kulturelle, gesellschaftliche oder wissenschaftliche Geschehen seien.15 Die Gefahr, das Wesentliche aus dem Blick zu verlieren, lauert allerdings nicht in der Begrenztheit der untersuchten Übersetzungseinheit, sondern in der Isolierung der beiden Perspektiven auf Translation, auf ihre Entstehung einerseits und auf ihre Wirkung andererseits. Eine solche Isolierung kann sich für gewisse analytische Zwecke als sinnvoll erweisen, um beispielsweise die relevanten Einflussfaktoren in der Produktionsund der Rezeptionsphase zu spezifizieren. Für die Bearbeitung der Frage aber, welche Rolle bestimmte Translate oder Translatoren für die Entwicklung einer spezifischen Dynamik innerhalb eines Denkkollektivs, für die spezifische Veränderung seiner Denkgewohnheiten oder für die spezifische Transformation eines Denkstils (Fleck) gehabt haben, kann etwa folgenden Fragen nicht ausgewichen werden, nämlich a) welche Entitäten einer Wissenschaftskultur werden überhaupt für übersetzbar gehalten und von wem? b) Durch welche spezifischen (u.a. sprachlichen) Transformationen wurde die kommunikative Reichweite bestimmter Texte bzw. Text- oder Kommunikationseinheiten erweitert, sodass sie über-

14 In seinem turn-kritischen Aufsatz betont Schreiber (2012) die Notwendigkeit, die »Kompatibilität« und Kooperation zwischen den verschiedenen Ansätzen innerhalb der Disziplin auszuweiten. Dabei sieht er in der Suche nach Verklammerungs- und Ergänzungsmöglichkeiten zwischen denjenigen Ansätzen, die für makrostrukturelle Untersuchungen und denjenigen, die für mikrostrukturelle Analysen konzipiert sind, eine unentbehrliche wissenschaftspraktische Bedingung für eine Kooperation innerhalb der methodischen und theoretischen Vielfalt des Fachs. Für eine kritische Betrachtung der innerdisziplinären Grabenkämpfe siehe auch Dizdar (2012; 2006: 231f) und Kaindl (2004: 11ff.). 15 Die sorgfältige Untersuchung übersetzter philosophischer Texte und der Diskursformationen, die sich darum spinnen, kann diese Sorge leicht dekonstruieren, vgl. dazu Heller (im Druck) und Hermans (2015).

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haupt erst ihr transformatives Potenzial entfalten konnten und schließlich c) welches Bewusstsein haben die an solchen Translationsprozessen beteiligten Akteure samt der ›Translationsverbraucher‹ von der Relevanz bestimmter Übersetzungseinheiten und zu welchem Zeitpunkt? Die Hervorhebung, Translation sei »not merely a linguistic process«, hat sich allenthalben zu einer gängigen rhetorischen Figur verdichtet, mit der eine translatologische ›Fortschrittlichkeit‹ unter Beweis gestellt werden soll. Vor dem Hintergrund der hier entfalteten Zusammenhänge sollte aber ersichtlich worden sein, dass weder die Translationswissenschaft noch die Kulturwissenschaft sich durch den naheliegenden Umkehrschluss verführen lassen sollten, sich ohne das sperrige Gepäck der translation proper in das Labyrinth akademischer Diskurs(de)formationen zu wagen.

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Zur Übersetzbarkeit von Kulturen – am Beispiel des Konzeptes ›Würde‹ S HINGO S HIMADA

K ULTUR

ALS

Ü BERSETZUNG ?

Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Kultur, Identität, Gesellschaft und individuellem Selbst stellt sich heute neu. Angesichts der Globalisierung von Wirtschaft, Technik und Politik sowie der elektronischen Vernetzung der Welt verändern sich die Grundlagen des Wissens und damit einhergehend das Verhältnis zwischen den Kulturen, aber auch die Verhältnisse zwischen den Menschen überhaupt. In dieser unübersichtlich werdenden, sich entgrenzenden Welt wird nach Lösungsmöglichkeiten gesucht, die uns eine bessere Orientierungshilfe als die bisherige Wissensformation bieten. Zugleich ist eine Gegentendenz bemerkbar, sich in herkömmliche alles vereinfachende Denkformationen zurückzuziehen, die zumindest eine scheinbare Sicherheit bieten. Dieser Rückzugsort kann in der Nationalstaatlichkeit, der ethnischen Herkunft bzw. ›Rasse‹ oder der Religion gesucht werden. Der Vorteil dieser Konzepte liegt auf der Hand: Sie bieten einen klaren und sicheren Orientierungsrahmen zur Positionierung des Selbst. Dieser Rückzug in eine eindeutige kollektive Identität ist angesichts der Komplexität der heutigen Welt verständlich, doch es ist ebenso offensichtlich, dass diese Identifizierungsangebote für die Interpretation der gegenwärtigen sozialen Lage letztendlich nur eine vorübergehende Scheinbefriedigung bieten können, da die laufenden Veränderungsprozesse diesen Konzeptionen die Grundlagen bereits entzogen haben. Während die PegidaBewegung ethnisch gemeint »Wir sind das Volk« ruft, ist dieses Konzept schon längst obsolet geworden.

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Die kulturwissenschaftliche Perspektive hingegen richtet sich immer stärker auf prozesshafte Phänomene, die sich zwischen bestehenden Entitäten ereignen. Es ist von einem cultural turn die Rede (vgl. Bachmann-Medick 2014), der den kulturwissenschaftlichen Blick immer stärker auf Wechselwirkungsprozesse zwischen Kulturen richtet. In diesem Zusammenhang gewinnt das Phänomen der Übersetzung an Bedeutung, weil es den Prozess darstellt, der zwischen bestehenden Entitäten vermittelt. Der Übersetzungsprozess steht für die theoretische Position des Dazwischens (in-betweennes) und kann sie noch weiter entwickeln. Die Übersetzung wurde dabei so lange als zweitrangig angesehen, wie die Übereinstimmung von Kultur und Gesellschaft im Rahmen des Nationalstaates nicht in Zweifel gezogen wurde. In diesem Rahmen waren die Werke in der Originalsprache weit wichtiger als die Übersetzungen, weil sie diese einheitliche Kultur repräsentierten. Doch diese Annahme der Übereinstimmung von Kultur, Gesellschaft und Nationalstaat bietet schon länger keinen sicheren Denkrahmen mehr, vieles ist in Fluss geraten. Um der Prozesshaftigkeit gerecht zu werden, in der kulturelle Fremdheit und Eigenheit neu ausgehandelt werden, habe ich das Konzept der Kultur als Übersetzungsprozess vorgeschlagen, das ich bisher am Beispiel der frühen Phase der Modernisierung Japans exemplarisch aufgezeigt habe (vgl. Shimada 1994; 2007; Shimada/Tagsold 2006). Mir ist bei meiner Forschung nach dieser Zeit immer deutlicher geworden, in welch engem Verhältnis diese Übersetzungsprozesse zu den sozialen Werten der jeweiligen Gesellschaft stehen. Hinzu kamen die aktuellen Ereignisse zu Beginn des Jahres 2015, welche die besondere Wichtigkeit der Wertediskussion verdeutlichten. Daher stellt der vorliegende Text einen ersten Versuch dar, das Konzept »Kultur als Übersetzung« mit dem gegenwärtigen Diskurs über Werte zu verknüpfen.

K ULTUR

UND

W ERTE

Anfang 2015, gerade während der Niederschrift des vorliegenden Textes, ereignet sich in Europa ein Anschlag, der das Selbstverständnis Europas zutiefst erschütterte. Drei Täter mit islamistischem Hintergrund ermordeten am 7. Januar in Paris 17 Menschen. Dieser aktuelle Terroranschlag zeigt einen Zusammenhang von Kultur, Werten und Gesellschaft im Zeichen der Globalisierung, der tödlich werden kann. Zu diesem Ereignis schreibt unter der bezeichnenden Überschrift »Heimat Europa« Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung vom 10./11. Januar 2015 wie folgt:

Z UR Ü BERSETZBARKEIT

VON

K ULTUREN

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»Es gibt Tage, an denen spürt man das Schwanken der Welt. Der 11. September 2001 war so ein Tag. Der 7. Januar 2014 [Sic!] ist auch so einer. Man sucht Halt. Man sucht ihn im gemeinsamen Bekenntnis: ›Je suis Charlie‹. Das ist ein guter, ein leiser Satz. Man sucht den Halt in solchen Formeln der Anteilnahme, die jetzt nicht nur Formeln sind, sondern Sätze der Selbstvergewisserung. ›Je suis Charlie‹: Das ist ein kleiner, aber kein kleinlauter Satz. Das ist ein Satz, in dem sich Trauer und Bekenntnis verbinden: die Trauer über die Opfer eines barbarischen Verbrechens und das Bekenntnis zu den Werten und den Rechten einer freiheitlichen Gesellschaft. Es ist das Bekenntnis zu einer Gesellschaft, in der Religionsfreiheit und Meinungs- und Pressefreiheit gleichermaßen ihren Rang haben; zu einer Gesellschaft, in der keines der Freiheitsrechte dem anderen automatisch vorgeht, weil all diese Rechte ihre Wurzeln in der Menschenwürde haben; es ist das Bekenntnis zu einer Gesellschaft, in der es Konflikte zwischen den Menschen und ihren Grundrechten geben darf – die aber vor Gerichten geklärt werden, nicht von Kalaschnikows.« (Ebd. 12)

Prantl fasst auf diese Weise die Grundlagen der modernen gesellschaftlichen Werteordnung zusammen, in deren Mittelpunkt die Menschenwürde steht. Bezeichnend ist hierbei, dass er mehrmals vom »Bekenntnis« spricht – ein Wort, das eine durchaus religiöse Konnotation enthält. Es drückt die innere Haltung zu einem Wert aus, der hier eng mit der Zugehörigkeit zu Europa im Sinne der kollektiven Identität gedacht wird. Der mörderische Terrorakt ist in der Tat ein Anschlag auf das Wertesystem der westlichen Gesellschaften. Es ist ein Anschlag auf Menschenrechte und Menschenwürde. So wird er als ein »barbarischer Akt« moralisch verurteilt. Hinzu kommt, dass der Begriff der Menschenwürde häufig mit einem gewissen Absolutheitsanspruch verbunden ist. Jede Form der Infragestellung ist daher im Prinzip moralisch verwerflich, worauf auch die Verwendung des Ausdrucks »Bekenntnis« im obigen Zitat verweist. Möglicherweise liegt hier das Problem, das dem Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Wertesysteme zugrunde liegt. Gleich wie politisch richtig der semantische Inhalt eines Satzes oder eines Konzeptes sein mag, wirkt das Aussprechen dieses Satzes oder Konzeptes als einer moralisierenden Sprechhandlung mit universalem Anspruch ausgrenzend, indem es die Anderen als kulturell Fremde konstruiert und als weniger moralisch herabstuft. Kommunikationstheoretisch gesprochen ist hier der präpositionale Gehalt nicht das Problem, sondern was man mit diesem Inhalt im Vollzug eines illokutionären Aktes dem Sprechpartner antut. Meines Erachtens müsste man daher angesichts der Ereignisse zu Beginn des Jahres 2015 der Frage nachgehen, ob der Begriff der Menschenwürde nicht in seiner handlungstheoretischen Verwendung kritisch reflektiert werden müsste. Denn der Terrorakt ist eine doppelte Verweigerung gegenüber dem westlichen Wertesystem: zum einen die grundlegende Ablehnung der Idee der Mehrheitsge-

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sellschaft, zum anderen die der diskursiven Form der Auseinandersetzung, die im Konzept der Meinungsfreiheit enthalten ist. Möglicherweise führt die Verwendungsweise des Begriffs der Menschenwürde, die im obigen Zitat sichtbar wird, dazu, dass sich bestimmte Gruppen von Menschen ausgegrenzt fühlen. Insofern besteht möglicherweise weniger die Notwendigkeit der Diskussion über die Inhalte der Werte als darüber, was diese Werte in ihrer Verwendung sozial bewirken können. Der allgemeine gesellschaftliche Diskurs um Werte, Kultur und gesellschaftliche Integration zeigt anschaulich, auf welche Weise Werte heute diskursiv behandelt werden. Den Ausgangspunkt bildet die Annahme, dass gemeinsame Werte die Grundlagen der kulturellen Identität darstellen. Und diese sind wiederum die Grundlagen einer nationalstaatlich verfassten modernen Gesellschaft und darüber hinaus der vorgestellten Einheit Europas. Das theoretische Problem liegt darin, dass diesen Werten ein Spannungsverhältnis innewohnt, das einen möglicherweise unlösbaren Widerspruch enthält. Denn diese Werte sind die Grundlagen der partikulären Einheit Europas, während sie zugleich universale Geltung beanspruchen. Zwar gelten diese Werte in der Tat auf der internationalen politischen Ebene heute universell in der Form der Menschenrechte. Doch diese Geltung besagt wenig über ihre kulturelle Akzeptanz. Es gibt bekanntlich kulturrelativistische Gegenpositionen zu diesen vermeintlich universellen Werten. Diese Gegenpositionen bestreiten den universellen Geltungsanspruch und gehen davon aus, dass diese Werte für die eigene innerkulturelle Perspektive nicht annehmbar seien. Damit geraten die Verfechter dieser Position jedoch in die Falle des Gegensatzes zwischen Universalismus und Kulturrelativismus. Nach der Vorstellung des Kulturrelativismus hätte jede Kultur ihr eigenes Wertesystem, das sich von anderen grundlegend unterscheidet. Die Kultur nimmt hier die Gestalt eines abgeschlossenen Gefäßes an, das sich von allen äußeren Einflüssen abschottet. Aus meiner theoretischen Position heraus sehe ich das Problem darin, dass man die Kulturen dabei allzu statisch als bestehende Entitäten auffasst, die einander beziehungslos gegenüberstehen. Gegenüber dieser kulturontologischen Diskussion versuche ich aus kommunikationstheoretischer Perspektive einen Ausweg zu finden. Angesichts der sich verändernden Bedingungen des sozialen Miteinanders, indem sich das herkömmliche Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem Fremden grundlegend verändert, ist eine neue Perspektive der Betrachtung von Kultur und Sprache notwendig. Vor dem Hintergrund dieses Veränderungsprozesses wird heute die Dimension der Werte zu einem wichtigen Thema des gesellschaftlichen Diskurses. Eine grundlegende Frage hierbei lautet, ob ein gemein-

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sam geteiltes Wertesystem die notwendige Voraussetzung für eine funktionierende gesellschaftliche Einheit ist. Im Rahmen dieser Neuthematisierung der Werte gerät der Begriff der Würde – anders als auf der politischen Ebene, auf der er eher ›unantastbar‹ bleibt – in seiner philosophischen und kulturwissenschaftlichen Dimension zunehmend unter Kritik. Bio- und medizinethische Diskurse und das oben angesprochene Phänomen des fundamentalistisch motivierten Terrors stellen die Kernbedeutungen des Konzepts der Würde in Frage. Universal oder kulturabhängig? Wie ist angesichts der Globalisierung generell mit Wertevorstellungen zu verfahren? Für diese gewichtige Frage gibt es keine schnelle Lösung. Doch bietet meines Erachtens das Konzept der Kultur als Übersetzung einen Ansatz. Damit können wir der Frage nachgehen, wie Werte in Übersetzungsprozessen betrachtet werden können. Denn wir wissen bisher allzu wenig über den Prozess, was kulturell geschieht, wenn bestimmte Werte in eine andere Kultur übersetzt werden und was dieser Prozess in der Aufnahmekultur auslöst. Fraglos wird heute auf der Ebene der internationalen Politik davon ausgegangen, dass Menschenrechte und Menschenwürde universell geltende Werte darstellen. Aber was wissen wir über den Vorgang, was diese Werte bei der Aufnahme in die fremdkulturellen Kontexte bewirkt haben? Die Betrachtung dieses Übersetzungsvorgangs ermöglicht meines Erachtens eine Perspektive zu entwickeln, welche die relationalen Verhältnisse der Kulturen miteinander stärker in den Blick nimmt. Dies würde ermöglichen, auch ein konflikthaftes Aufeinandertreffen unterschiedlicher Wertesysteme besser zu verstehen. Dabei ist es in der heutigen emotional aufgeladenen Diskussion über Werte und Zugehörigkeit möglicherweise von Nutzen, unseren Blick von der aktuellen Auseinandersetzung zwischen dem Europäischen und Islamischen abzuwenden und auf einen gänzlich anderen Kontext zu wenden. Daher wird im Folgenden der Prozess behandelt, wie das europäische Konzept der Würde von der japanischen Kultur im Laufe der Modernisierung aufgenommen wurde und wie es Verbreitung fand.

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Wie viele andere Schlüsselkategorien der Moderne wurde das Konzept der Würde wohl auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermutlich vom Englischen und vom Deutschen ins Japanische übersetzt. Während übersetzte Begriffe wie Gesellschaft, Individuum, Religion oder Staat in der japanischen Gesellschaft eine rasche Verbreitung fanden, scheint dem Konzept der Würde keine

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besonders hohe Aufmerksamkeit geschenkt worden zu sein.1 Die Würde (dignity, dignité) wurde mit den Worten igen 威厳 und songen 尊厳 übersetzt. Beide stammen aus dem klassischen Chinesisch, enthalten Bedeutungen wie unnahbar, streng, hochwertig oder erhaben und werden lexikalisch als Synonyme verwendet. Aktuell wird immer häufiger das Wort songen benutzt. Weiter unten wird von der Verbreitung dieses Wortes im gegenwärtigen gesellschaftlichen Zusammenhang die Rede sein. Beide Begriffe wurden und werden generell auf bestimmte Menschen bezogen, die sich durch herausragende Merkmale auszeichnen. Damit wird deutlich, dass mit diesen beiden Begriffen zunächst nur eine Teilbedeutung der Würde wiedergegeben wurde. Wie Paul Tiedemann feststellt, gibt es im heutigen deutschen Sprachgebrauch drei Lesearten für den Begriff Würde (vgl. Tiedemann 2006: 70): In den ersten zwei Lesearten »fungiert das Wort Würde also stets zur Abgrenzung des Besonderen und Herausragenden aus der Masse des Gewöhnlichen und Durchschnittlichen« (ebd.). Diese Bedeutung entspricht der obigen Übersetzung. Die dritte Lesart jedoch, in der jedem Menschen als Mensch in seiner Gleichheit Würde zugesprochen wird, beinhaltet die beiden obigen Ausdrücke nicht. Damit geht in der Übersetzung die Bedeutung im Sinne der Menschenwürde verloren. Folgerichtig listet ein japanisches Wörterbuch als Verwendungsbeispiel des Wortes songen den folgenden Satzteil auf: »[…] um die Würde (Songen) der kaiserlichen Familie zu vermehren […]« (Nihon kokugo aijiten 1982: 1197).2 Eindeutig wird hier das Wort songen für die Würde im Sinne der innergesellschaftlichen vertikalen Differenz verwendet. Zu vermuten ist, dass dieses Wort vorwiegend, wie in diesem Beispielsatz, in Bezug auf die kaiserliche Familie benutzt wurde. Diese Bedeutungsverengung des Würdekonzeptes wird vor dem historischen Hintergrund verständlich, dass die japanische Gesellschaft bis 1868 eine streng hierarchisch stratifizierte Gesellschaft war, in der ein Konzept wie die Gleichheit aller Menschen auf vollkommenes Unverständnis gestoßen wäre. Jeder der vier Stände hatte eine eigene Lebenswelt mit ihren jeweils eigenen Regeln und Kulturen und diese Stände waren einander nicht gleichgestellt. Übersetzungstheoretisch haben wir hier ein deutliches Beispiel dafür, auf welche Weise eine Übersetzung zu einer Bedeutungsverengung führen kann. Höchstwahrscheinlich resultierte sie aus einem unvollständigen Verstehen, denn das übersetzte Wort enthielt gerade die Bedeutung nicht, die für das Verständnis der modernen sozialen Werte in den westeuropäischen Ausgangssprachen eine

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Eine genaue wissenssoziologische Analyse des Übersetzungsprozesses in dieser Zeit

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Im Original: »Nihon no kôshitsu no songen wo mashi [...]«.

steht noch aus. Daher bleibt diese Darstellung skizzenhaft.

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zentrale Rolle spielte. Damit wird aber auch verständlich, warum das Konzept der Würde in der ersten Modernisierungsphase der japanischen Gesellschaft im gesellschaftlichen Diskurs kaum eine Rolle spielte. Würde wurde im Grunde nur in der herkömmlichen Perspektive verstanden und der revolutionäre Kern des Gedankens im Sinne der Gleichheit aller Menschen wurde nicht gesehen.3 Für die allgemeine Öffentlichkeit wurde das Wort Würde daher erst 1946 durch die Bekanntgabe der neuen Verfassung relevant. Auch ihr liegt ein kultureller Übersetzungsprozess zu Grunde, in dem der von der US-amerikanischen Besatzungsmacht vorgelegte englischsprachige Entwurf (die MacArthurConstitution) Stück für Stück ins Japanische übersetzt und im Parlament besprochen wurde (vgl. Inoue 1991). Hier wurde die Würde mit dem Artikel 24.2 wie folgt eingeführt: »With regard to choice of spouse, property rights, inheritance, choice of domicile, divorce and other matters pertaining to marriage and the family, laws shall be enacted from the standpoint of individual dignity and the essential equality of the sexes.« (The constitution of Japan)

In der japanischen Übersetzung ist die individuelle Würde mit kojin no songen 個人の尊厳 wiedergegeben. Dadurch, dass die allgemeinen Menschenrechte Eingang in diese Verfassung finden, ist der Zusammenhang zwischen den Menschenrechten und dem Würdekonzept zumindest angedeutet. Dieser Zusammenhang ist auch deutlich im Artikel 13 auffindbar: »All of the people shall be respected as individuals. Their right to life, liberty, and the pursuit of happiness shall, to the extent that it does not interfere with the public welfare, be the supreme consideration in legislation and in other governmental affairs.« (The constitution of Japan)

Damit wurde in der japanischen Gesellschaft zum ersten Mal explizit die Verbindung der individuellen Würde mit den allgemeinen Menschenrechten formuliert. Dies ist sicherlich vor dem Hintergrund des zu dieser Zeit international aufkommenden Menschrechts- und -würdediskurses zu sehen, dessen Ergebnisse in die Verfassungen vieler Nationen, so auch in das deutsche Grundgesetz, Eingang fanden. Eindeutig ist auch, dass die Idee der Menschenwürde und -rechte

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Wie sich dieser Umstand in der breiten Rezeptionsgeschichte der Philosophie Emmanuel Kants in Japan darstellt, wäre ein Thema, das weiter verfolgt werden könnte.

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von der US-amerikanischen Besatzungsmacht von außen in die japanische Gesellschaft eingebracht wurde. Allerdings bleibt fraglich, ob der Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Menschenrechten in der damaligen Zeit richtig verstanden wurde. Vor allem wenn man die semantische Verengung bedenkt, die oben bereits beschrieben wurde, beinhaltet das Wort songen eine Bedeutung, die den allgemeinen Menschenrechten eher zuwiderläuft. Gerade im Vergleich zur Situation in der Bundesrepublik Deutschland ist der Unterschied auffällig. Während die Menschenwürde im deutschen Kontext sowohl in der Sozialgesetzgebung als auch im allgemeinen sozialpolitischen Diskurs als zentraler Wert angesehen wurde, spielte sie in Japan außerhalb der neuen Verfassung im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs kaum eine Rolle. Das erste breit rezipierte Werk in der Nachkriegsgesellschaft, welches das Konzept Würde explizit thematisiert, stammt vom Schriftsteller Ôe Kenzaburô. In seinem schmalen Werk Hiroshima nôto verfasste er Essays, die auf seinen Reisen nach Hiroshima basieren, die er zwischen 1963 und 1965 unternommen hatte (vgl. Ôe 1965). Bereits in seinem Prolog macht er den Tenor seiner Essays deutlich, indem er einen betroffenen Arzt, Matsuzaka Yoshitaka, zitiert: »People in Hiroshima prefer to remain silent until they face death. They want to have their own life and death. They do not like to display their misery for use as ›data‹ in the movement against atomic bombs or in other political struggles. Nor do they like to be regarded as beggars, even though they were in fact victimized by the atomic bomb.« (Ôe 1981: 16)

Damit deutet er auf das Hauptthema des Buches hin, nämlich die Menschenwürde. Es wird darin zum einen die schwierige Situation der Überlebenden des Atombombenabwurfs gezeigt, die immer wieder von der Politik für andere Zwecke missbraucht werden, wie das obige Zitat verdeutlicht. Zum anderen zeigt Ôe wie diese Menschen ihr schwieriges Schicksal mit Würde tragen. So lautet der Titel des vierten Kapitels dieses Buches explizit The Dignity of Man. Hier beschreibt Ôe, wie er in seiner Studienzeit auf das Konzept der Würde aufmerksam wurde. »The war ended while I was still a child, so the battlefield decision was, so to speak, postponed. Yet I continued to wonder if I were one who could die unsurrendered or merely one who would be killed after surrendering. The dilemma lingered long after I was free of any real possibility of being sent off to war. I struck inward. Sometimes I longed to do something violent; at times I fancied myself a masochist. I was such a strange student. I entered the department of literature and began reading modern French literature. In my

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classes I observed that, as in Japanese literature, French literature has certain special modes of expression; I was especially interested in synonymous words in the two languages that appeared with high frequency in French works but were virtually absent form Japanese works. The following are two such words that attracted my attention: dignity (dignité) humiliation, or shame (humiliation, honte) The terms, or concepts, had been associated with my terrible dilemma since childhood. The ghosts of the two words never ceased to haunt me. I do not, of course, claim that such words have never been used in Japanese literature. Indeed, it is not amiss to say that ›humiliation‹ and ›shame‹ are traditional themes in our autobiographical novels. But in French literature, the words ›humiliation‹ and ›shame‹ are the sharpest moral bards to pierce the heart of both author and reader. These words never appear in Japanese literature with the same weight and force. The matter is even clearer in the case of the other word, ›dignity‹. The sentence ›That boy is full of dignity‹, for example, does not flow naturally in Japanese syntax. It sounds like a sentence translated from a foreign language.« (Ôe 1981: 95f.)

Hier erfasst Ôe die nach Tiedemann dritte Lesart des Konzeptes Würde. Dies ist die Selbstachtung in der Gleichheit mit allen anderen Menschen als Grundlage des Respekts gegenüber den Anderen (vgl. Tiedemann 2006: 70). Ôe spricht von seiner Angst, durch eine kriegerische Situation genau diese Selbstachtung als Voraussetzung der Würde zu verlieren. Doch der Umstand ist wiederum für die Frage der Übersetzung äußerst interessant, dass er erst durch die Beschäftigung mit der französischen Literatur auf dieses Konzept kommt und erst aus dieser Perspektive die eigene Kindheit rückblickend neu interpretiert. Auch sein Hinweis, dass die Verwendung des Wortes Würde in einem japanischsprachigen literarischen Text befremdlich als Übersetzung wirken würde, zeigt, wie erfahrungsfern dieses Wort in der japanischen Sprache war. Doch abgesehen von diesem etwas langen Zitat verwendet Ôe das Wort igen für Würde in einer etwas anderen Bedeutung. Denn im gesamten Buch spricht er ausschließlich von Würde der Überlebenden des Atombombenabwurfs. Er spricht immer wieder von »hiroshimaischen« Menschen, die trotz ihrer traumatischen Erfahrung ihr Alltagsleben aktiv zu gestalten versuchen. Hier betrifft die Würde nur bestimmte Menschen in bestimmten Situationen. Ihre Besonderheit liegt in ihrer heldenhaften Haltung, trotz der existentiellen Krise ihr Leben selbständig zu meistern. Abgesehen von diesen Essays findet man – darauf deutet das obige Zitat auch hin – in der japanischen Nachkriegsgesellschaft kaum eine öffentliche Debatte zum Konzept Würde, bis das Wort songen (und nicht das Wort igen) in der Mitte der 1980er Jahre zu einem politischen Schlagwort avancierte. In dieser

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Zeit kam die Frage auf, wie man angesichts des medizintechnischen Fortschritts mit dem Sterben umzugehen habe. Einige Fälle, wie die Amerikanerin Karen Ann Quinlan, führten deutlich vor Augen, dass Sterbende nun ohne Bewusstsein maschinell am Leben erhalten werden konnten. Hier stellte sich die Frage nach der Menschenwürde der Betroffenen. Dieser zunächst in den USA aufgekommene Diskurs wurde schnell in Japan rezipiert und das Konzept dying with dignity mit songenshi 尊厳死 übersetzt (vgl. Spoden 2014: 89).4 Für die allgemeine Verbreitung des Konzeptes der Würde ist dieser Diskurs entscheidend. Denn so häufig wie nie zuvor wurde das Wort songen in den japanischen Massenmedien verwendet, so dass jedes Gesellschaftsmitglied sich seitdem etwas darunter vorstellen kann. Aber auch hier ist eine Verengung der Bedeutung des Begriffs Würde auffällig. Das Konzept wurde nicht in seiner breiten Semantik im Sinne der allgemeinen Menschenwürde verstanden, sondern im spezifischen medizinethischen Kontext angesichts der Sterbenden, die maschinell am Leben erhalten wurden. Bezeichnend dafür ist die Namensänderung einer einflussreichen zivilgesellschaftlichen Organisation, ehemals Anrakushi kyôkai (Gesellschaft für Euthanasie; Japanese Society for Euthanasia) zu Nihon Songenshi kyôkai (Gesellschaft für würdevolles Sterben; Japanese Society for Dying with Dignity) im Jahre 1983 (vgl. dazu Spoden 2014: 33, 89, 91). Auf diese Weise fand das Wort songen Verbreitung, wenn es auch nicht die volle Semantik des übersetzten Begriffs beinhaltete und nur in einem sehr speziellen Rahmen verwendet wurde. Dieser Prozess zeigt, dass bestimmte gesellschaftliche Voraussetzungen vorliegen müssen, bevor bestimmte werthaltige Konzepte in einer anderen Kultur aufgenommen werden können. Er deutet zugleich auf einen Wertewandel in der japanischen Gesellschaft hin, in der möglicherweise ein solches Konzept wie Menschenwürde an Bedeutung gewinnt. Dieser Prozess des Wertewandels wird in den letzten zwanzig Jahren immer offensichtlicher, da das Konzept der Würde in seiner allgemeinen Bedeutung immer stärker in der japanischen Gesellschaft wirksam zu werden scheint. Dieser Umstand beruht auf mehreren Faktoren. Zum einen verbreitet sich eine allgemeine Verunsicherung angesichts des Fortschritts der Medizin- und Gentechnik. Die grundsätzliche Frage nach dem eindeutigen Beginn und dem Ende des menschlichen Lebens kommt auf. Und damit einhergehend auch die Reflexion darauf, was das Menschsein überhaupt ausmacht. Zum anderen rückt der demo-

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Spoden weist darauf hin, dass songenshi (Sterben mit Würde) als Übersetzungsbegriff in der Berichterstattung zum Fall Quinlan in der Tageszeitung Asahi shinbun zum ersten Mal im Jahr 1976 verwendet wurde. Eine allgemeine Verbreitung fand in der Zeit zwischen 1976 und 1983 statt (vgl. Spoden 2014: 89).

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grafische Wandel die immer älter werdenden Menschen in den Blick und wirft die Frage auf, welche sozialen Bedingungen man sich für das eigene Altern wünscht, um ein würdevolles Leben führen zu können. Und dieses Problem wird angesichts der steigenden Zahl der an Demenz erkrankten alten Menschen immer dringlicher. Vor diesem Hintergrund begegnet man dem Konzept Würde immer häufiger im bioethischen und altenpflegerischen Kontext. So wird in richtungsweisenden Veröffentlichungen des Ministeriums für Gesundheit und Arbeit und in verschiedenen Lehrbüchern für die Pflegeausbildung seit dem Ende der 1990er Jahre immer wieder thematisiert, dass bei der Pflege die Würde der Pflegebedürftigen (yôkaigosha no songen) beachtet werden muss (vgl. Ministry of Health, Labour and Welfare 2005).5 Insgesamt befindet man sich gerade heute mitten in einem Prozess, in dem sich das Konzept der Würde bzw. Menschenwürde als ein wichtiger sozialer Wert in der japanischen Gesellschaft verbreitet. Da dieser Prozess sich gerade jetzt ereignet, ist es spannend, diese Entwicklung und die zukünftigen Konsequenzen zu beobachten.

Ü BERSETZEN , V ERSTEHEN , M ISSVERSTEHEN Die obigen Ausführungen zeigen, wie schwierig es ist herauszufinden, was passiert, wenn ein Wertbegriff wie der der Würde in einen fremdkulturellen Kontext übersetzt wird. Es ist sicherlich richtig, dass für die Übersetzung zwischen den Kulturen ein gemeinsamer Kern vorhanden sein muss, wenn er auch möglicherweise ›nur‹ eine Annahme sein kann. Denn nur die Annahme, dass in den betreffenden Kulturen dieselben Sachverhalte und diese Sachverhalte ausdrückende sprachliche Ausdruckmöglichkeiten bestünden, ermöglicht überhaupt das Phänomen der Übersetzung (vgl. Shimada 2006). Hier ist von besonderem Interesse, dass bei der Übersetzung des Konzeptes Würde ins Japanische gerade nicht die universalistische Lesart der Menschenwürde, sondern die exklusive Verwendung dieses Begriffs für etwas Besonderes den gemeinsamen Kern des Verständnisses bildete. Die universelle Ebene, auf der Menschenrechte und Menschenwürde zusammen gedacht werden, wurde erst durch die neue Verfassung 1946 in den gesellschaftlichen Diskurs eingeführt. Aber auch damals entstand noch kein Dis-

5

Für das, wofür früher eher alltagsnähere Ausdrücke wie »dem Selbst der Patienten angemessen (jibun rashii)« standen, wird nun zunehmend das abstrakte Konzept der Würde verwendet. Welche Folge dieser Wandel mit sich bringt, ist eine spannende Frage, deren Antwort erst in einigen Jahren zu erwarten ist.

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kurs zur Relevanz dieses Konzeptes als ein grundlegender Wert für die Gesellschaft. Stattdessen wurde der die Gesellschaft integrierende Wert überwiegend in der Kultur und Tradition gesucht, was im weit verbreiteten Japandiskurs deutlich zum Ausdruck kommt (vgl. zum Japandiskurs Aoki 1996). Erst durch die Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wurde das Interesse für den gesamten Begriff der Würde geweckt, was zu einer intensiven Diskussion führte. Allerdings zeigt dieser Text auf, dass es zweifelhaft bleibt, ob der volle semantische Umfang des Begriffs gesamtgesellschaftlich relevant wurde. Das Beispiel zeigt darüber hinaus, dass die Übersetzung eines solch komplexen Konzeptes zu einer semantischen Verengung führen kann, was auch für viele andere komplexe Begrifflichkeiten gelten mag. Aber was bedeutet es, dass bei der Übersetzung der Würde gerade seine universelle Lesart verloren ging? Zu vermuten ist, dass daraus unzählige kleine Missverständnisse hervorgingen, die wiederum die Perspektive auf die moderne Zivilisation zutiefst prägten. Wie wir auch im Text von Ôe gesehen haben, schwankt der Autor in der Verwendung des Ausdrucks Würde zwischen der allgemeinen Bedeutung der Selbstachtung und ihrer exklusiven Verwendung für besondere Menschen. Hierbei kommt die Bedeutung der Würde für besondere Menschen im gesamten Buch insgesamt stärker zum Ausdruck. Während die aufklärerischen Werte wie Freiheit oder Gleichheit als Idee durchaus Eingang in die japanische Gesellschaft fanden, wurde ihr Verhältnis zum Konzept der Würde kaum thematisiert. Solche Unzulänglichkeiten des Verstehens konnten kaum als solche erkannt werden, weil in der Regel von einer äquivalenten Übertragung der semantischen Inhalte ausgegangen wird, wenn von einer Übersetzung gesprochen wird. Wenn jemand in einer fremden Sprache von Freiheit spricht, gehen wir in der Regel davon aus, dass er auch das Verhältnis dieses Konzeptes zu dem zugrundeliegenden Konzept Menschenwürde genau so verstehen würde, wie wir. Doch die obigen Ausführungen zeigen gerade, dass dies nicht so sein muss. Dieses Beispiel zeigt also, dass möglicherweise unvollständiges Verstehen ein inhärenter Teil der Übersetzung sein kann. Möglicherweise ist Kultur nichts anderes als ein Prozess, der von einer Mischung aus Verständnis, unvollständigem Verständnis und Missverständnis vorangetrieben wird. Infolgedessen können wir heute feststellen, dass in der japanischen Gesellschaft das Konzept der Menschenwürde in bestimmten Teilkontexten wie bei der Thematisierung des Sterbens oder in der Altenpflege eine wichtige Rolle spielt, aber dass es keine konstituierende Grundlage des gesamtgesellschaftlichen Wertesystems darstellt. Es ist wohl notwendig vor diesem Hintergrund eine kulturübergreifende Diskussion zum Wert der Würde zu beginnen. In diesem Sinne ist eine Übersetzung nichts anderes als eine »Fortsetzung«, wie Hans Julius Schnei-

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der (2002) treffend formuliert. Es gibt keinen endgültigen Endpunkt der Übersetzung, der den Inhalt einer sprachlichen Äußerung richtig wiedergegen würde. Dagegen verschiebt jede Kommunikation die Bedeutung der Aussage in kleinen Schritten, sodass die Semantik eines Wortes sich im Grunde durch jede Fortsetzungshandlung immer weiter verändert. Das Konzept der Würde könnte eine Einladung sein, seine Relevanz in der heutigen Welt aus unterschiedlichen Perspektiven auszuhandeln. Solange dieser Diskurs sprachlich im Sinne der Fortsetzung ohne den Absolutheitsanspruch erfolgt, ist die Radikalisierung der politischen Position möglicherweise weniger zu erwarten. Auf diese Weise kann das Konzept der Kultur als Übersetzung genau den Prozess aufzeigen, was in einer Kultur sozial geschieht, wenn ein bestimmter Wert zunächst als ein sprachliches Zeichen von einem anderen fremdkulturellen Kontext übernommen wird. Die genaue Analyse dieses Vorgangs kann aber auch aufzeigen, wie ein Fremdheitsverhältnis durch kommunikative Handlungen konstituiert und festgeschrieben wird. Erst daraus entsteht die Vorstellung einer Kultur als Entität. Und genau diese Vorstellung befördert die Sichtweise auf die Welt, in der unterschiedliche Zivilisationen feindlich gegeneinander stehen. Mit dem Konzept der Übersetzung können Relationalitäten aufgezeigt werden, die erst diese Situation konstituiert haben (vgl. Straub/Shimada 1999).

L ITERATUR Aoki, Tamotsu (1996): Der Japandiskurs im historischen Wandel: Zur Kultur und Identität einer Nation, München: Iudicium. Bachmann-Medick, Doris (2014): Cultural Turn: Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt. Inoue, Kiyoko (1991): MacArthur’s Japanese Constitution. A Linguistic and Cultural Study of its Making, Chicago: University of Chicago Press. Ministry of Health, Labour and Welfare (2005): Ninchishô kea no kihonteki kangaekata (Grundsätzliche Denkweise zur Pflege der dementen Personen), http://www.mhlw.go.jp/topics/kaigo/gaiyo/k2005_13.html Nihon kokugo daijiten (Großes Wörterbuch der japanischen Sprache, Band 6) (1982): Tokyo: Shôgakkan. Ôe, Kenzaburô (1965): Hiroshima nôto, Tokyo: Iwanami shobô. — (1981): Hiroshima Notes, Tokyo: YMCA Press. Prantl, Heribert (2015): »Heimat Europa. Eine Antwort auf Islamisten und Islamhasser: Wie eine Einwanderungsgesellschaft trotz des Terrors Halt gewinnen kann«, in: Süddeutsche Zeitung vom 10./11. 01. 2015, S. 12.

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Die Unübersetzbarkeit des Kulturbegriffs im Kontext des Menschenrechtsdiskurses J AMES M. T HOMPSON

»The original is unfaithful to the translation.« JORGE LUIS BORGES

E INLEITUNG Der Begriff Kultur gehört unbestritten zu den meistdiskutierten Begriffen, nicht nur im akademischen Kontext, sondern auch in anderen Bereichen gesellschaftlicher Praxis. Ursprünglich war es meine Absicht, die Implikationen des Kulturbegriffs in Hinblick auf das internationale Recht zu erörtern und zu zeigen, wie bedeutende Aspekte dieses Konzepts durch die Gebrauchsweise in diesem Rechtskontext nicht erfasst werden. Mich interessierte zunächst, wie ein schwaches und oberflächliches Verständnis dieses Begriffs zu bestimmten Schwierigkeiten in der Verhandlung internationaler Politik und rechtsrelevanter Zusammenhänge führt. Eine solche Analyse würde jedoch weder einen Gesamtblick der Problematik eröffnen, noch würde sie der Komplexität des Problems gerecht werden. Die Forschung, die ich in den letzten Jahren gemeinsam mit Ethnologen betrieben habe, hat mich zu einem neuen Ausgangspunkt für meine Problemstellung geführt. Statt von einer Kritik eines bestimmten Kulturverständnisses auszugehen, scheint es mir heute sinnvoller zu analysieren, wie das Wort Kultur auf der Ebene des internationalen Rechts und politiktreibender Zusammenhänge gebraucht wird, um nicht nur herauszuarbeiten, wie der Begriff (implizit oder explizit) verstanden wird, sondern auch die Vielfalt an Bedeutungsnuancen ans Licht zu bringen. Ziel meiner Ausführungen ist es zu zeigen, dass ein oberflächliches oder unterbestimmtes Verständnis von Kultur gerade nicht hinderlich für die zu beschreibenden internationalen Rechtskontexte ist. Es wird sich vielmehr

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zeigen, dass ein solcher undifferenzierter Kulturbegriff die Übersetzung wichtiger Ideen und Begriffe im Kontext vom internationalen Recht eigentlich erst möglich macht. Dies gilt z.B. für zentrale Grundsätze der Menschenrechte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Überdies kann dieses pragmatische Verständnis von Kultur nicht nur die Übersetzung von anderen Ideen befördern, sondern ist auch Teil eines größeren Meta-Systems der Repräsentation, auch bekannt als Metacode, welcher nicht nur die Bildung von internationalen Netzwerken der Kommunikation ermöglicht, sondern auch das Fundament für ein universell anerkanntes System von Forderungen und Rechten legt. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass das, was ich gerade behauptet habe, dem Titel meines Beitrags widerspricht, nämlich: dass der Kulturbegriff als unübersetzbar gefasst wird. Obgleich doch von engen Zusammenhängen von Kultur und Übersetzung ausgegangen wird, ist nach meiner Auffassung ›Kultur‹ – wie sie in internationalen Zusammenhängen gebraucht wird, wie eben die Menschenrechte – nichts, was übersetzt werden kann. Demgegenüber ermöglicht der Kulturbegriff erst eine sinnvolle Übersetzung, wenn Kultur als Begrenzung oder Demarkationslinie dient.

K ULTUR

ALS

V IELFALT

UND ( KOLLEKTIVE )

E INHEIT

Bevor ich mich im Folgenden eingehender mit der Unübersetzbarkeit des Kulturbegriffs befasse, möchte ich einige zentrale Textpassagen aus der von der UNESCO 2001 verabschiedeten Allgemeinen Erklärung zur kulturellen Vielfalt und aus dem UNESCO-Weltbericht zur Kulturellen Vielfalt ansehen und untersuchen, wie das Wort in solchen Kontexten verwendet wird. Hier ist die ausführliche Zitierung der Textquellen wichtig, nicht nur um die verschiedenen Facetten des Kulturbegriffs herauszuarbeiten, sondern auch um zu zeigen, wie das gesamte Geflecht aus Kultur, Vielfalt und Rechten zusammenhängt. Wenden wir uns zunächst der Allgemeinen Erklärung zur kulturellen Vielfalt 1 zu : »Die UNESCO-Generalkonferenz, 

Steht zur Verpflichtung2, die Menschenrechte und Grundfreiheiten in vollem Umfang zu verwirklichen, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Men-

1

UNESCO Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt.

2

Kursiv i.O.

D IE U NÜBERSETZBARKEIT











DES

K ULTURBEGRIFFS

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schenrechte und anderen weltweit gültigen Vereinbarungen verankert sind – wie die beiden internationalen Menschenrechts-Pakte von 1966 über bürgerliche und politische sowie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte; Erinnert daran, dass die Präambel der Verfassung der UNESCO bekräftigt, ›dass die weite Verbreitung von Kultur und die Erziehung zu Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden für die Würde des Menschen unerlässlich und für alle Völker eine heilige Verpflichtung sind, die im Geiste gegenseitiger Hilfsbereitschaft und Anteilnahme erfüllt werden muss‹; Erinnert darüber hinaus an Artikel 1 der Verfassung, in dem der UNESCO u.a. die Aufgabe übertragen wird, »internationale Vereinbarungen zu empfehlen, die den freien Austausch von Ideen durch Wort und Bild erleichtern«; Nimmt Bezug auf die Bestimmungen zur kulturellen Vielfalt und zur Ausübung kultureller Rechte, die in den internationalen Vereinbarungen im Rahmen der UNESCO aufgeführt werden; Bekräftigt, dass Kultur als Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigenschaften angesehen werden sollte, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen, und dass sie über Kunst und Literatur hinaus auch Lebensformen, Formen des Zusammenlebens, Wertesysteme, Traditionen und Überzeugungen umfasst; [...] Bekräftigt, dass Respekt vor der Vielfalt der Kulturen, Toleranz, Dialog und Zusammenarbeit in einem Klima gegenseitigen Vertrauens und Verstehens zu den besten Garanten für internationalen Frieden und Sicherheit gehören.«

Nach der einleitenden und bekräftigenden Erklärung, werden mehrere Artikel aufgelistet, die die verschiedenen relevanten Aspekte von Kultur und Vielfalt erläutern sollen: 



»Artikel 1 – Kulturelle Vielfalt: das gemeinsame Erbe der Menschheit Im Laufe von Zeit und Raum nimmt die Kultur verschiedene Formen an. Diese Vielfalt spiegelt sich wider in der Einzigartigkeit und Vielfalt der Identitäten, die die Gruppen und Gesellschaften kennzeichnen, aus denen die Menschheit besteht. Als Quelle des Austauschs, der Erneuerung und der Kreativität ist kulturelle Vielfalt für die Menschheit ebenso wichtig wie die biologische Vielfalt für die Natur. Aus dieser Sicht stellt sie das gemeinsame Erbe der Menschheit dar und sollte zum Nutzen gegenwärtiger und künftiger Generationen anerkannt und bekräftigt werden. Artikel 2 – Von kultureller Vielfalt zu kulturellem Pluralismus In unseren zunehmend vielgestaltigen Gesellschaften ist es wichtig, eine harmonische Interaktion und die Bereitschaft zum Zusammenleben von Menschen und Gruppen mit zugleich mehrfachen, vielfältigen und dynami-

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schen kulturellen Identitäten sicher zu stellen. Nur eine Politik der Einbeziehung und Mitwirkung aller Bürger kann den sozialen Zusammenhalt, die Vitalität der Zivilgesellschaft und den Frieden sichern. Ein so definierter kultureller Pluralismus ist die politische Antwort auf die Realität kultureller Vielfalt. Untrennbar vom demokratischen Rahmen führt kultureller Pluralismus zum kulturellen Austausch und zur Entfaltung kreativer Kapazitäten, die das öffentliche Leben nachhaltig beeinflussen. Artikel 3 – Kulturelle Vielfalt als Entwicklungsfaktor Kulturelle Vielfalt erweitert die Freiheitsspielräume jedes Einzelnen; sie ist eine der Wurzeln von Entwicklung, wobei diese nicht allein im Sinne des wirtschaftlichen Wachstums gefasst werden darf, sondern als Weg zu einer erfüllteren intellektuellen, emotionalen, moralischen und geistigen Existenz. Artikel 4 – Menschenrechte als Garantien für kulturelle Vielfalt Die Verteidigung kultureller Vielfalt ist ein ethischer Imperativ, der untrennbar mit der Achtung der Menschenwürde verknüpft ist. Sie erfordert die Verpflichtung auf Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, insbesondere der Rechte von Personen, die Minderheiten oder indigenen Volksgruppen angehören. Niemand darf unter Berufung auf die kulturelle Vielfalt die Menschenrechte und Grundfreiheiten verletzen, wie sie in allgemein anerkannten internationalen Vereinbarungen festgeschrieben sind, noch ihren Umfang einschränken.«

Wie oben schon erwähnt, stellte der UNESCO-Weltbericht zur Kulturellen Vielfalt eine weitere wichtige Quelle dar, um das Verständnis des Kulturbegriffs auf internationaler Ebene nachzuvollziehen: 



»Kollektive Ansprüche im Namen der kulturellen Rechte – die ein rechtsba-

siertes Herangehen an die Förderung und den Schutz der kulturellen Vielfalt bezüglich kultureller Schöpfung, kultureller Ausdrucksformen oder selbst der Gesamtheit der materiellen und spirituellen Handlungen einer Gemeinschaft beinhalten – sind schwer in die Begrifflichkeiten der Menschenrechte zu übertragen. Außerdem ist unklar, wer die Ausübung solcher Rechte garantieren sollte. Schließlich gibt es die schon länger währende Debatte über Spannungen zwischen kulturellen Rechten und den Grundrechten des Menschen, wie zum Beispiel dem Recht auf Gleichbehandlung und auf NichtDiskriminierung. Da kulturelle Ausdrucksformen und Gepflogenheiten häufig mit Umweltbedingungen verbunden sind, werden die Folgen großer Umweltveränderungen unweigerlich beträchtlich sein.«

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Wie wir anhand dieser Beispiele erkennen können, wird Kultur nicht definitorisch verwendet. Kultur wird nicht mit klaren begrifflichen Abgrenzungslinien definiert, indem spezifische Eigenschaften des Objekts umrissen werden, so wie wir es von Definitionen gewöhnt sind. Eine solche universalisierende Begriffsbestimmung ist freilich nicht die einzig mögliche Bestimmung und wird in der Tat schon seit langem sowohl innerhalb als auch außerhalb der Philosophie kritisiert und infrage gestellt. Zwar liefert die Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt tatsächlich eine Liste von Charakteristika, die mit dem Begriff der Kultur verbunden werden, wenn bestimmt wird, »dass Kultur als Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigenschaften angesehen werden sollte, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen«. Diese Charakteristika bleiben allerdings sehr allgemein und vage. Über die grundsätzliche und kaum zu bewältigende Schwierigkeit und den zweifelhaften Sinn, Kultur zu definieren hinaus, scheint es Gründe für diesen Mangel an Klarheit zu geben, die für unsere Zusammenhänge besonders relevant zu sein scheinen, und zwar wird durch diese Vagheit und Offenheit in der Verwendung des Kulturbegriffs3 gewissermaßen ein produktiver semantischer Spielraum geschaffen. Dieser Bedeutungsspielraum erlaubt es, dass verschiedene Akteure sich auf dieselben Dinge beziehen oder darüber sprechen können, ohne notwendigerweise dieselben Vorstellungen, Bestimmungen oder Erfahrungen in Anschlag bringen zu müssen. Es ermöglicht einen gemeinsamen Gebrauch und eine Übereinstimmung, die auf verschiedenen Erfahrungen und Perspektiven in Bezug auf das Wort aufruht (man denke etwa an das Wort Gleichheit: alle sollten genau das Gleiche bekommen, alle sollten die gleiche Chancen bekommen, alle Mensch haben die gleiche Würde, alle sind gleich vor dem Gesetz, usw.). Die weiteren Charakteristika, welche Kultur zugeschrieben wurden, sind ähnlich vage, vermitteln jedoch ein bestimmtes Verständnis von Kultur als Vielfalt und (kollektiver) Einheit zugleich: Obgleich Kulturen sich unterscheiden, sind sie doch alle in einer alle umgreifenden Menschlichkeit verwurzelt. Mit anderen Worten, sie sind alle Variationen eines singulären, tieferen, primordialen Zusammenhangs und sind aufgrund dessen alle miteinander verbunden. Ob als »Quelle des Austauschs, der Innovation und Kreativität« (vgl. Art. 1), als »Ga-

3

Zum Vergleich hier noch einmal die Kulturdefinition aus der Allgemeinen Erklärung zur kulturellen Vielfalt: »Die Kultur kann in ihrem weitesten Sinne als die Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte angesehen werden, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Dies schließt nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen.«

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ranten des internationalen Friedens und [der] Sicherheit« (via »Toleranz, Dialog und Kooperation« – vgl. Punkt 6), oder als Katalysator, um eine »erfülltere intellektuelle, emotionale, moralische und spirituelle Existenz zu erreichen« (vgl. Art. 2). In allen diesen Beispielen wird dieselbe Struktur bzw. der gleiche primordiale Zusammenhang betont, nämlich das ›Eine und die Vielen‹. In jedem Fall erzielt diese Struktur ihre eigene Geltung durch die Mittel der gegenseitigen Anerkennung und Bestärkung. Es ist nicht möglich, den anderen grundsätzlich zu kritisieren, ohne dabei womöglich die eigene Position zu sehr zu gefährden. Bevor ich auf diesen Punkt weiter eingehe, möchte ich zunächst einmal untersuchen, wie dieses Konstrukt innerhalb des internationalen Sprechens über Menschenrechte und kulturelle Rechte zustande kommt. Dann werde ich noch einmal auf die Unübersetzbarkeit von Kultur zurückkommen.

Ü BERSETZUNGEN

IN LOKALE UND GLOBALE

K ONTEXTE

Eine der größten Herausforderungen im Rahmen des internationalen Rechts mit Bezug auf den kulturellen Pluralismus ist derzeit die Reibung bzw. Auseinandersetzung, die aus dem Versuch erwächst, eine universell formulierte Gesetzgebung anzuwenden und dem spezifischen, lokalen Kontext, in welchen sie eingebracht werden soll, gerecht zu werden. Diese Entwicklung wird für gewöhnlich nach dem top-down-Prinzip gedacht. Meistens entstehen solche Konflikte aus einem Zusammenspiel von kompromisslosem Befolgen der Prinzipien und Konventionen, die verwoben sind im Geflecht des internationalen Rechts und einem reaktionären Widerstand, welcher auf einer lokalen, regionalen oder sogar nationalen Ebene kultiviert wird. Ich bezeichne diese Schwierigkeit in solchen Prozessen oder Verhandlungen als »Übersetzung von Relevanz« (Thompson 2013): Übersetzt werden dabei die Bedeutung lokaler, religiöser und kultureller Traditionen ebenso wie die Bedeutung von nicht diskriminierenden Praktiken und gleichem Schutz durch das Gesetz. Diese Spannung durchzieht das gesamte Unternehmen der globalen Anerkennung und Realisierung internationalen Rechts und Vereinbarungen – die Menschenrechte sind ein paradigmatisches Beispiel hierfür. Übersetzungen, einschließlich der Übersetzung von Relevanz wurden zu einem großen Teil von vielen Akteuren und Gruppen geleistet, die in diese Zusammenhänge involviert sind. Sie sind diejenigen, die in einem spezifischen Kontext entwickelte Ideen, Strategien und Institutionen in einen anderen übertragen. Diese Übersetzer repräsentieren den Knotenpunkt zwischen den verschiedenen Sphären, welche das Kontinuum zwischen dem lokalen und globalen

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aufspannen. Sie übernehmen die vermittelnde Rolle, indem sie global zirkulierende Ideen in beide Richtungen übersetzen: nach unten in lokale soziokulturelle Gegebenheiten und lokale Missstände, kulturelle Praktiken etc. und nach oben in den globalen Menschenrechtsdiskurs. In diesem Zusammenhang können die unterschiedlichsten Akteure als Übersetzer dienen, z.B. Menschenrechtsaktivisten, NGOs, Grassroots-Initiativen, religiöse Führer usw. Diese Übersetzer durchschauen einerseits die globalen politischen und strategischen Praktiken und haben andererseits Einblick in die Situiertheit lokaler Traditionen und können zwischen ihnen navigieren (vgl. Merry 2006a). Doch was ist hier mit Übersetzung gemeint? Grob gesagt meint Übersetzung hier das Herausnehmen, Verlegen oder Bewegen und Wiedereinbetten einer Idee, eines Artefakts oder einer Person in einen anderen Kontext (vgl. Rottenburg 2002). Ausgehend von einem solchen Übersetzungsverständnis könnten wir im vorliegenden Untersuchungszusammenhang von der globalen Verbreitung von Menschenrechts- und Kultur rechtsidealen, -strategien, -konventionen, -institutionen, -narrativen, -bildern, -techniken und -rhetorik als Übersetzung sprechen. Der Prozess des Wiedereinbettens ist niemals einfach nur eine Sache der Installation eines präkonfigurierten und abgeschlossenen funktionalen Ganzen in einen neuen Kontext. Er resultiert demgegenüber aus einem Prozess der Verhandlung. Doch die Übersetzung beschränkt sich nicht nur auf den Prozess der Verhandlung, der gesamte Prozess ist als Übersetzung zu verstehen. Dabei ist ›Übersetzung‹ nicht im Sinne einer ›Transplantation‹ oder einer ›Transformation‹ zu begreifen. Während Transplantation und Transformation Totalitäten voraussetzen und beinhalten, geht die Übersetzungstheorie davon aus, dass Institutionen, Strategien etc. nicht als abgeschlossene Einheiten (unities) übersetzt werden können. Stattdessen umfasst Übersetzung nur Gruppen von ›Elementen‹ der zuvor genannten größeren Einheiten. Die Gelingensbedingungen für eine Übersetzung hängen von verschiedenem ab. Damit eine Idee von einem Kontext zu einem anderen gelangen kann, spielt seine Form der Objektivierung, seine Träger, die Art der Bewegung (der Weg, den sie genommen hat) und der Prozess der Einführung in einen anderen Kontext bei der Wiedereinbettung eine wichtige Rolle. Obgleich sie nicht der einzige Modus von Bewegung sind, haben sich besonders im letzten Jahrhundert Menschen als eine der produktiveren und effizienteren Formen der Übersetzung erwiesen. Durch die rasante Weiterentwicklung von Transportmitteln und -wegen, ist der Mensch, wie nie zuvor, in der Lage innerhalb kürzester Zeit weite Wege zurückzulegen. Aber es geht um mehr als nur unsere Fähigkeit durch technologische Mittel Raum und Zeit zu beeinflussen. Historisch betrachtet wa-

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ren Menschen immer in Bewegung und haben neue Ideen, Artefakte und Fähigkeiten mit sich gebracht und getragen. Aber vor allem ist der Mensch kommunikativ; dadurch wird ein Raum der Begegnung erschaffen. Obwohl solche Elemente und Übersetzungsprozesse meist als theoretisch neutral zu bezeichnen sind, sind keine tatsächlich bindungs- und wertfrei, dies gilt auch für interlinguale Übersetzungen im engeren Sinne. Ganz gleich wie ›gut‹ sie auch sind, es finden stets ›Verluste‹ und Veränderungen statt, oder es bleiben bestimmte Elemente unübersetzt. Dies sollte jedoch nicht als Mangel oder Makel betrachtet werden, sondern als Charakteristikum menschlicher Kommunikation schlechthin.4 Die Bewegung vom globalen zum lokalen Kontext (und umgekehrt) besteht für gewöhnlich aus mehreren Übersetzungen. Es kommt extrem selten vor, dass eine bestimmte Regelung z.B. aus dem Kontext des Völkerrechts unmittelbar in einem lokalen Kontext eingesetzt wird. In diesen sogenannten translation chains, wie Richard Rottenburg sie bezeichnet, sehen wir, wie Ideen oder Daten, die mit einer bestimmten Absicht gesammelt wurden und gemäß zuvor festgelegter Kriterien zum Gegenstand von Re-Interpretationen im Verlauf der verschiedenen Phasen ihres Sammlungs- und Auswertungsprozesses werden. Mit anderen Worten, die Daten, welche in einer Phase der Kette gesammelt und präsentiert werden, sind zwangsläufig reorganisiert, zusammengestellt und simplifiziert – entsprechend der jeweiligen Phase oder Binnenstruktur in der Kette. Das Ergebnis dieses Prozesses dient dann als weitere Basis für Bewertung und Reinterpretation. Der Prozess kann als reduktiv charakterisiert werden, da er dazu tendiert, die lokalen Eigenheiten und Einzelheiten aus den Daten herauszufiltern. Dadurch liefert er verallgemeinerte Informationen, die dann als Basis für einen Amplifikationsprozess dienen können, der die Formulierung von universalen Behauptungen und Forderungen ermöglicht. Dieser Prozess der Reduktion und Vergrößerung erlaubt schlussendlich die Generierung positiver Ergebnisse und zugleich scheinen Spuren von Fehlurteilen, Fehlern (vgl. Rottenburg 2002) oder Dissens unterdrückt oder minimiert zu werden. Zwei Punkte müssen hier zusammengebracht werden, nämlich die Möglichkeit der Übersetzung und die diskursive Dichotomie von Universalität und Perspektive. Die konstante Spannung und der Druck, der von beiden Polen ausgeht, setzen eine Vielzahl von Ausdrücken einer eigentlich singulären Realität voraus und verweisen auf diese Realität. Rottenburg beschreibt die Situation folgendermaßen:

4

Viele Sprachphilosophen des 20. Jahrhunderts teilen diese Ansicht, am klarsten ist diese Idee allerdings bei den Pragmatisten vertreten, vgl. Dewey 1925.

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Die Annahme der einen und erreichbaren Wirklichkeit geht mit der Annahme einher, dass es den einen Metacode geben muss, in dem sich die eine Wirklichkeit unverzerrt abbilden lässt. Die Annahme des Metacodes bedeutet wiederum, dass alle übrigen vorfindbaren Codes Kulturcodes sein müssen. Ohne die Unterscheidung zwischen dem einen universalen Metacode und den vielen partikularen Kulturcodes wäre die Annahme der einen Realität nicht aufrecht zu erhalten, denn unterschiedliche Kulturcodes entwerfen unterschiedliche Realitäten. Wer nun aber umgekehrt an der Behauptung multipler Realitäten festhält, ist selbst wieder darauf angewiesen, auf den einen Metacode zu rekurrieren, der die Behauptung der vielen Realitäten überhaupt erst ermöglicht. Damit ist die Aussage also wieder unterlaufen. Folgt daraus, dass es die eine Wirklichkeit geben muss? (vgl. Rottenburg 2003: 154) Der universelle Metacode scheint der Schlüssel zur Strukturierung unserer Realität zu sein. Es ist die Annahme eines Metacodes, d.h. die Annahme einer gemeinsamen und universell anwendbaren Realität, die verschiedene Kulturen nicht nur in ihrer einzigartigen Art und Weise ausdrücken, sondern auf welche sie sich zwangsläufig berufen und auf die sie sich zurückbeziehen. Es ist diese Realität, die verschiedene kulturelle Perspektiven ermöglicht, ohne in eine starke Form des kulturellen Relativismus zurückzufallen. Diese universelle Realität, um es pointiert zu sagen, ›hält alles zusammen‹; sie ermöglicht eine universelle Geltung, während zur gleichen Zeit verschiedene Standpunkte anerkannt werden und zu Wort kommen können (und als solche keine echte Bedrohung darstellen).

S CHLUSSBEMERKUNGEN Ich hoffe deutlich gemacht haben zu können, warum ›Kultur‹ nicht übersetzt werden kann. Es ist zwar nicht meine Absicht, die Unübersetzbarkeit direkt mit der »Bildtheorie der Sprache« des frühen Wittgensteins zu verbinden. In Bezug auf Repräsentation, Grenzen und ihre ermöglichende Funktion lassen sich allerdings meiner Meinung nach einige nützliche Parallelen herausstellen. Für Wittgenstein waren globalere Propositionen (im Falle des Tractatus jene über die Welt) unsinnig, weil sie versuchten, über das zu sprechen, was Repräsentation möglich macht (logische Strukturen) und dadurch versuchten über die Welt (im Sinne des Tractatus) hinauszugehen oder ihre Fähigkeiten zu überschreiten. Anders gesagt: Die Bedingungen der Möglichkeit der Repräsentation (inklusive der Sprache) können nach Auffassung des frühen Wittgenstein nicht repräsentiert oder Gegenstand von Repräsentation werden. Von hier aus ist auch seine

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provozierende und kryptische Aussage zu verstehen: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen« (Wittgenstein 1963). Und obwohl ich Wittgensteins Aufforderung des Schweigens nicht befürworten kann, hoffe ich nichtsdestotrotz an dieser Stelle gewisse Parallelen ziehen zu können, welche Funktionen dem Kulturbegriff im Bereich der internationalen Politik und rechtlichen Kontexte zukommen. Kultur wird nicht (oder zumindest selten) als ein ›Inhalt- oder Substanz-Begriff‹ gebraucht, in welchem er eine bestimmte Bedeutung hat. Stattdessen wird Kultur absichtlich verwendet, um eine Grenze zu markieren. Es ist eine unbestimmte Grenze, welche Kommunikation ermöglicht und fördert. Und es ist genau diese Rolle als Grenze oder Demarkationslinie von Differenz, welche Kultur von der Übersetzung ausschließt; denn diese ist nichts, was objektiviert oder bewegt werden kann. Vielmehr dient der Kulturbegriff dazu, verschiedene Sphären der Bedeutung, der Aktivitäten und Handlungen zu gliedern bzw. zu markieren. Und es ist gerade diese referenzielle Differenz, die erst das Sprechen über universelle Ideen, Werte, Forderungen und Rechte ermöglicht. Schlussendlich formt sich mit dieser unübersetzbaren Struktur ein übergreifender Metacode aus, welcher von einer universellen/relativen Dichotomie Gebrauch macht, vermittels der eine Vielzahl von Gruppen in einen internationalen Rahmen miteintreten und an einem »offenen und gemeinsamen« Dialog partizipieren können. Vielleicht verbürgt – ironisch gesagt – erst die Anerkennung von kultureller Verschiedenheit die Möglichkeit einer gemeinsamen Diskussion, einer interkulturellen Diskussion.

P OSTSKRIPTUM Es gibt jedoch einige wichtige Aspekte des Themas, die ich in diesem Beitrag nicht behandelt habe, die nichtsdestotrotz weiterverfolgt werden sollten. An dieser Stelle möchte ich Frau Dr. Julija Boguna für ihre anregenden Bemerkungen und Vorschläge danken, wie diese Analyse weiterverfolgt werden könnte. Im Anschluss an ihr Kommentar habe ich drei Kernpunkte identifiziert und als Fragen formuliert, zu denen ich hier noch Stellung nehmen möchte, nämlich 1. zum Verhältnis zwischen Kultur- und Metacodes, 2. zur Rolle des Übersetzers im Prozess der Übersetzung und 3. zur Möglichkeit einer subversiven Übersetzung und/oder Übersetzungen, die über Konsensbildung hinausgeht. 1. Wie Frau Boguna zu Recht bemerkt, stammt der Begriff des Metacodes, mit dem ich arbeite, ursprünglich aus der ethnographischen Analyse von Hilfs- und Entwicklungsprojekten. Obwohl man im Zusammenhang solcher Analysen

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durchaus vom Einsatz konsensbildender Strategien reden kann und solche den Fortschritt eines Projekts beschleunigen, sind die Ergebnisse der ethnologischen Beobachtungen und Analysen weitgehend Beschreibungen von dynamischen Prozessen. Durch die Auswertung der empirisch erfassten Daten kann man von einem vorhandenen Metacode sprechen, der eine wechselseitig stützende Pluralität/Singularität-Struktur etabliert. Aber die Behauptung, alle Parteien wüssten (entweder stillschweigend oder explizit) im Vorhinein, worum es sich handelt, und hätten zugestimmt, würde wohl zu weit gehen. Denn das würde bedeuten, dass eine gewisse täuschende Absicht hinter dem Diskurs steht und die Glaubwürdigkeit des gesamten Prozesses in Frage stellen könnte. Im aktuellen Menschenrechtsdiskurs sehe ich viele Parallelen zur Logik von Entwicklungsprojekten. Dennoch ist im Fall der universellen Anerkennung der Menschenrechte sowie im Fall internationaler Völkerrechtsvereinbarungen und Pakte von einem höheren Niveau von Intentionen auszugehen. Im Kontext des Völkerrechts wird der Metacode als Mittel eingesetzt, um gerade einen Konsens durch die Universalität vs. Pluralität Struktur zu bilden. Dieses Wechselspiel zwischen einer singulären Wirklichkeit und mehreren Realitäten bildet sich deutlich am heterogenen Gebrauch des Kulturbegriffs innerhalb des Völkerrechtsdiskurses ab. Die konzeptionelle Vagheit, die eher eine Struktur oder Form als einen bestimmten Inhalt andeutet, dient als »Angelbegriff«, als etwas, das nicht in Frage gestellt wird (Wittgenstein 1984). Dies zielt nicht nur darauf ab, einen Dialog zwischen den verschiedenen Parteien zu ermöglichen (um etwa Konsens herzustellen). Vielmehr macht die wechselseitige Bestärkung des Metacodes die Teilnahme am Prozess attraktiv, weil diese Struktur von allen Seiten mobilisiert werden kann – von einem Befürworter der Menschenrechte ebenso wie von einem Kritiker. Wie die zitierten Passagen und Artikel belegen, wird der Kulturbegriff naturalistisch verwendet (vgl. Art. 1). Kultur ist nicht etwas, das in den verschiedenen Kontexten eingeführt werden muss, sondern wird als etwas Natürliches verstanden, als etwas, das schon vorhanden ist, als etwas, das ›wir‹ schon haben. Es kann sein, dass die Betonung des Kulturbegriffs zu einer weiteren Auseinandersetzung mit und Reflexion über Kultur und dadurch zu einem ausgeprägteren Selbstverständnis und einer entsprechenden Außendarstellung jener Kultur führt. Konzeptionell betrachtet wäre das eine weitere Entfaltung und nicht Schaffung von etwas Neuem. Inhaltlicher Konsens ist ein mögliches Ergebnis des Prozesses, aber nicht das Ziel des Metacodes. Eher geht es darum, die Basis zu legen und die Voraussetzungen für den Diskurs zu bestimmen, um überhaupt ins Gespräch zu kommen – quasi eine gemeinsame Sprache zu sprechen. Insofern ist ein Metacode etwas

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Provisorisches und Kontingentes, dass aber gleichzeitig universelle Ansprüche erhebt. 2. Mit der Rolle des Übersetzers im Translationsprozess ist ein wichtiger Aspekt aufgerufen, der eingehende Klärung verlangt. Diese Ebene der Analyse ist in der vorliegenden Untersuchung mit Bedacht ausgeklammert worden, um einen bestimmten Aspekt des Metacodes zu verdeutlichen, nämlich die Selbstverständlichkeit des universalen Anspruchs der Menschenrechte. Hinter solchen Texten stecken selbstverständlich Autoren5, die den Text in andere Sprachen übersetzen (oder sogar rückübersetzen – sogenannte reverse flows). Es gilt hier aber herauszustellen, dass das, worauf die Wörter abzielen, die Ideen, die dahinter stecken, universell zugänglich und zu begreifen sind. Ihrer Selbstevidenz unterliegt damit das gesamte Unternehmen und stattet es mit einem anthropologischen Ursprung der Natur aus. Wer den Text übersetzt hat, was übersetzt wurde, für wen und zu welchem Zweck, spielt selbstverständlich eine nicht zu unterschätzende Rolle im Metacode. Mir ging es aber gerade darum zu zeigen, dass der selbstverständliche Charakter des Metacodes genau diese Faktoren weitgehend ausblendet. Frau Boguna hat Recht, wenn sie behauptet, dass die Texte, die als Basis für die universellen anerkannten Menschenrechte fungieren, »Objektivationen eines translatorischen Handelns« darstellen. Erstens sind die zitierten Texte in deutscher Sprache verfasst und als solche in einem bestimmten kulturellen Kontext eingebettet. Zweitens sind die Texte in einer Fachsprache verfasst, nämlich der Rechtssprache, »mit ihren Regeln, Rhetorik und Sematik«. Genau dieser Anspruch auf Objektivität und Universalität soll jedoch den ursprünglichen Kontext oder genauer gesagt ›Kulturcode‹ in den Hintergrund drängen. An dieser Stelle wird das asymmetrische Machtverhältnis zwischen den unterschiedlichen Parteien besonders gut erkennbar. Um mitzumachen und mitzubestimmen, muss man die Objektivität des Metacodes anerkennen. Der Metacode verleiht in dieser Hinsicht bestimmten Parteien eine Stimme. Gleichzeitig gilt die Stimme als relativ, als nur eine unter vielen, die die Objektivität nicht erlangt hat, weil sie zur Pluralität gehört. 3. Das führt uns zum letzten Punkt, nämlich die Möglichkeit einer subversiven Übersetzung bzw. eines reverse flow, der den Metacode untergräbt oder gefährdet. Diese Möglichkeit stellt quasi die Kehrseite der Medaille dar. Obwohl die Machtverhältnisse meistens nicht auf der Seite der Pluralität der Wirklichkeit

5

Zur sprachlichen Gestaltung und Aushandlung von Policy-Making bezüglich »Geschlecht« und »geschlechtsbezogener Gewalt« siehe Merry 2006b.

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stehen, da der Metacode nur bestimmten Stimmen Legitimität verleiht, kann es dazu kommen, dass eine Rückübersetzung das bestehende Machtverhältnis gefährdet und eine Verschiebung verursacht. Die von Frau Boguna erwähnte Kairoer Erklärung der Menschenrechte hat eine solche Verschiebung nicht zu Wege gebracht; sie hat aber nichtdestotrotz durch die Aneignung der Struktur und der Begrifflichkeit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte das Potential der Rückübersetzung eines Textes aufgezeigt.

L ITERATUR Boguna, Julija: Ko-Referat zu diesem Beitrag. Unveröffentlichtes Manuskript. Dewey, John (1925): Experience and Nature, Chicago: The Open Court Publishing Company. Merry, Sally Engle (2006a): »Transnational Human Rights and Local Activism: Mapping the Middle«, in: American Anthropologist 108:1, S. 38-51. — (2006b): Human Rights and Gender Violence, Chicago: University of Chicago Press. Rottenburg, Richard (2002): Weit hergeholte Fakten. Eine Parabel der Entwicklungshilfe, Stuttgart: Lucius und Lucius. — (2003): »Code-Wechsel. Ein Versuch zur Umgehung der Frage: Gibt es eine oder viele Wirklichkeiten?«, in: Matthias Kaufmann (Hg.), Wahn und Wirklichkeit. Multiple Realitäten, Frankfurt a.M.: Peter Lang, S. 153-174. Thompson, James (2013): »Human Rights and the Translation of Relevance: An Interplay between the Global and the Local«, in: Stefania De Lucia/ Gabriella Sgambati (Hg.): PROC – PROCida/PROCeedings of Summer School Homelands in Translation. Homelands in Translation (= Civiltà del Mediterraneo, Band 13), Napoli: Edizioni di Storia e Letteratura, S. 245-260. UNESCO Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt, http://www. unesco.de/fileadmin/medien/Dokumente/Kultur/kkv/deklaration_kulturelle_ vielfalt.pdf UNESCO Weltbericht: In kulturelle Vielfalt und interkulturellen Dialog investieren, in: https://www.unesco.de/fileadmin/medien/Dokumente/Kultur/ Weltbericht_FINALg.pdf Wittgenstein, Ludwig (1963): Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (1984): Über Gewißheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Translation als Bedeutungsverschiebung sozialer Begriffe und Konstruktionen Das Beispiel »subjektives Recht« M ATTHIAS K AUFMANN

V ORBEMERKUNG Der vorliegende Text setzt die Reflexionen fort, die in interdisziplinärer Arbeit am Forschungsschwerpunkt Gesellschaft und Kultur in Bewegung der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg entstanden sind (vgl. u.a. Kaufmann/ Rottenburg 2012; Kaufmann/Rottenburg 2013). Die von Dilek Dizdar in einem Korreferat während der Tagung Translationstheoretische Positionen im Spannungsfeld zeitgenössischer kultur- und sozialwissenschaftlicher Diskurse formulierten Fragen und Bedenken waren mir dabei außerordentlich hilfreich. Wichtig ist dabei der Hinweis, dass mit der hier vorgestellten Weise, den Begriff Translation zu verwenden, keineswegs die richtige – womöglich noch die einzig richtige – Form des Gebrauchs bestimmt wird, vielmehr eine für viele Fälle nützliche Art des Gebrauchs vorgeschlagen werden soll. Eine gewisse Spannung entsteht daraus, dass Frau Dizdars Perspektive relativ stark durch ein Konzept von Translation als weiter gefasste, kulturelle, soziologische und andere Aspekte berücksichtigende Übersetzung sprachlicher Entitäten bestimmt scheint. In der genannten Kooperation wurde hingegen versucht, einen aus der analytischen Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie hervorgegangenen Begriff auch für den Bereich der Sozialwissenschaften anwendbar zu machen, nicht zuletzt für mögliche Beschreibungen und Erklärungen der durch »Wanderung von Ideen« induzierten sozialen Veränderungen nach der Globalisierung.

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E INIGE B EISPIELE

UND WAS IHNEN ZU ENTNEHMEN IST

Im Jahr 1539 hält der spanische Dominikaner Francisco de Vitoria in Salamanca drei Vorlesungen mit dem Titel De indis recenter inventis. Die erste soll zeigen, dass die Indianer trotz ihres Unglaubens und diverser schwerer Sünden echte Eigentümer (veri domini) ihrer Besitzungen seien, in der zweiten weist er einige vermeintliche Rechtstitel der Eroberung zurück, darunter die Annahme, der Kaiser sei der Herr der Welt und die Annahme einer Weltherrschaft des Papstes. In der dritten Vorlesung erläutert er, warum der Krieg der Spanier doch gerechtfertigt war, unter anderem weil die Indianer die Rechte mehrerer Spanier auf Handelsfreiheit und freie Missionierung verletzten (vgl. Vitoria 1997). Knapp vierhundert Jahre später feiert ihn der amerikanische Völkerrechtler James Brown Scott mit seinem Werk The Spanish Origin of International Law. Francisco de Vitoria and his Law of Nations aus dem Jahr 1934, das vom Carnegie Endowment for International Peace gefördert wurde, als Urvater des modernen Völkerrechts und hebt gerade die genauen Überlegungen hervor, die bei Vitoria und seinen Zeitgenossen zur Frage nach den Kriterien für einen gerechten Krieg geführt wurden (vgl. Scott 1934). Carl Schmitt entdeckt darin wiederum eine mißbräuchliche »Verwertung« Vitorias, wobei es zu beachten gilt, welches Ausmaß an Missbilligung die Rede von einer – vom liberalen, d.h. kapitalistischen Denken getragenen – »Verwertung« zum Ausdruck bringt: »Im Falle Vitorias hat ein Ordensmann, der fest in seinem ordo stand, als gründlicher Moraltheologe und vorsichtiger Lehrer sein Pro und Contra gewissenhaft durchdacht […]. Aus der gedanklichen Einheit einer solchen, zugleich innerkirchlichen und innerspanischen Kontroverse haben sich dann andere, nicht-kirchliche und spanienfeindliche Autoren die ihnen passenden Argumente und Formulierungen als juristische Trümpfe herausgeholt. Die Kraft eines Denkers von scholastischer Gründlichkeit und Offenheit wurde vor den Wagen einer ihm fremden und oft sogar feindlichen Sache gespannt. Der Melodie, die für einen frommen, christ-katholischen Text verfaßt war, wurde ein ganz anderes, weltliches Libretto unterlegt. Aber auch das gehört zu der Heteronomie der Intentionen, die in der Geschichte des menschlichen Geistes so oft wirksam sind.« (Schmitt 1974: 95)

Nicht zuletzt im Umfeld der Kriege im Irak und in Afghanistan und in Auseinandersetzung mit dem islamistischen Terror wurden die scholastischen Erwägungen zum gerechten Krieg, gerade auch die Reflexionen Vitorias, wieder zur Diskussion um die Berechtigung oder Nicht-Berechtigung kriegerischer Handlungen herangezogen (vgl. z.B. Meggle 2004; Orend 2006; Schnelle 2013).

T RANSLATION

ALS

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SOZIALER

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Auch ohne allzu intensive Forschungen lässt sich vermuten, dass die Intentionen der beteiligten Autoren nicht die selben waren wie diejenigen Vitorias. Im Kontext der Translationsforschung dreht es sich darum, wie jenseits von Klagen und Anklagen der Transfer und die Übersetzung von Normen, Begriffen und Argumenten in einen neuen Kontext vor sich gehen. Ob die moralische Anklage des Missbrauchs berechtigt ist oder nicht, ob eine Argumentation, eine Theorie in ihrem neuen Kontext absichtlich oder unbeabsichtigt verfremdet, vom Kopf auf die Füße gestellt wird oder umgekehrt, spielt zunächst keine Rolle. Forschungsobjekt ist die sich ändernde Einbindung von Begriffen und Argumenten, möglicherweise auch von technischen Verfahren und Apparaten in Überzeugungs- und Handlungszusammenhänge, in unterschiedliche webs of belief. Frau Dizdars Verdacht, dass es bei Übersetzungen nicht selten »aneignend, einbürgernd, verfremdend« zugeht, bis hin zu »Verrat und gar Vergewaltigung« – wobei leider nicht jede Sprache das markante traduttore – traditore zur Verfügung hat – ist sicher berechtigt. Ein wesentliches Merkmal des von uns verwendeten Translationskonzepts besteht darin, dass diese Bewertung der Translation – Frau Dizdar stellt sogar die Frage nach der Gerechtigkeit – für die Beschreibung des Vorganges keine Rolle spielt. Fragen nach der ›Richtigkeit‹ der Wiedergabe, nach der Korrektheit der Translation im Sinne einer Übereinstimmung mit dem Original, sei es im Bezug auf den Inhalt oder auf die damit verbundenen Absichten, können natürlich Gegenstand einer eigenen Untersuchung werden, selbst wenn ihr Frau Dizdar, wenn ich sie richtig verstehe, nicht immer großen Erfolg zutraut. Den Untersuchungen in der Translationsforschung liegt also die Behauptung zugrunde, dass genau die von Schmitt gegeißelte Art der Übertragung das Standardmodell für eine große Zahl sozialer Veränderungen, insbesondere für jede Wanderung von Ideen darstellt. Ideen sind dabei natürlich keine in einem Ideenhimmel angesiedelten Entitäten sui generis und auch keine nur introspektiv zu ermittelnden Bewusstseinsinhalte, sondern im sozialen Kontext geäußerte Überzeugungen, Programme, Konzeptionen, Konstruktionsprinzipien technischer Vorrichtungen etc. Man kann das Forschungsprogramm so weit ausdehnen, dass es nicht nur um einzelne Begriffe oder Argumentationsfiguren geht. Es wurden ganze Rechtsinstitute der Translation unterzogen, etwa wesentliche Teile des deutschen Strafrechts in Japan, Korea, Griechenland, Spanien und Polen, der Strafprozessordnung in der Türkei. Letzteres geschah übrigens 1929, nachdem man festgestellt hatte, dass die zuvor benutzte italienische Prozessordnung für die Türkei mit ih-

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ren Rahmenbedingungen ungeeignet war (vgl. Özsunay 2010: 11).1 Im Privatrecht gilt der Code Civil als das am Häufigsten adaptierte Gesetzbuch (vgl. Schlosser 1979: 60-67). Als Beispiel für eine Translation im technischen Bereich mag die Verwendung von Mobiltelefonen als Medium des bargeldlosen Zahlungsverkehrs in Ostafrika dienen, das als Form der Auszahlung von Löhnen in Gegenden ohne dichtes Netz von Bankfilialen dem Transport von Bargeld aufgrund der höheren Sicherheit vorgezogen wird (vgl. Spiegel Online 10.01.2010). Seit einigen Jahren wird diese Form der Bezahlung in verschiedenen Ländern mit sehr unterschiedlichem Erfolg angeboten, zuerst wohl eher im Bereich des Micropayment, mit den neueren Generationen von Handys zunehmend auch im Flug- und Bahnverkehr. Das Motiv für die Verwendung dieses Beispiels, das Frau Dizdar irritierte, bestand darin, dass spezifische geographische und soziale Gegebenheiten selbst bei einem derart universell verwendeten technischen Gegenstand auch spezifische Gebrauchsformen hervorbringen. So scheint die Verwendung der Handys im bargeldlosen Zahlungsverkehr sich in Ostafrika sehr schnell verbreitet zu haben, während sich die Einführung dieser Verwendungsweisen auf Europa laut jener Nachrichtenmeldung als schwieriger erwies, wohl auch, weil es genügend alternative Wege zur sicheren Übermittlung von Löhnen und anderen Zahlungen gab. Ob diese Meldung in der genannten Weise der sozialen Realität entsprach und ob dies immer noch Bestand hat, habe ich nicht überprüft, da es mir lediglich um das plastische Beispiel ging. Natürlich hat Frau Dizdar ferner Recht, wenn sie gewissermaßen konnotativ anzweifelt, dass zur Translation notwendig räumliche und/oder zeitliche Distanz gehört, dies kam wesentlich durch die Kooperation von Philosophie und Ethnologie zustande, in der wir in Halle unsere Konzeption entwickelt haben, die auch stark mit den sozialen und ideologischen Folgen der Globalisierung befasst ist. Zur Translation in dieser Lesart gehört wesentlich, dass sowohl das wandernde Element einer normativen oder epistemischen Ordnung, als auch der Empfängerkontext, in vielen Fällen obendrein der Ursprungsort der Translation, innovativen Veränderungen unterliegen. Attraktiv scheint das Konzept der Translation für derartige Untersuchungen nicht zuletzt deshalb, weil sowohl Versuche zur Beschreibung und Erklärung historischer konzeptueller ›Großentwicklungen‹ damit zu fassen sind, als auch minuziöse Detailuntersuchungen und zudem die Möglichkeit besteht, beide Arten von Forschungen miteinander zu

1

Die Anordnung der Nationen erfolgt nicht der Ordnung abnehmender Exotik, wie Frau Dizdar zu vermuten scheint, sondern ungefähr dem Zeitraum der Übernahme, soweit mir dieser bekannt war; vgl. genauer u.a. Streng/Kett-Straub (2012).

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verbinden. Man sollte sich indessen darüber im Klaren sein, dass sowohl die Identifikation der wandernden »Idee« und ihres »Trägers«, als auch des Umfeldes, in welchem ihre neue Vernetzung beobachtet wird, und ebenso des »Ursprungs« oder der Herkunft der Idee ein Reflex des jeweiligen Forschungsinteresses ist. Wir finden keine solchen Dinge in der Welt vor, wir schaffen diese Entitäten, wenn uns bestimmte Fragen nach bestimmten Entwicklungen bewegen. Das von Frau Dizdar angesprochene »Fixieren« des Ursprungs erfolgt somit durch den Kontext der Fragestellung, der man sich zuwendet. Keineswegs muss man damit unterstellen, dass der Inhalt der Translation dort allererst entsteht. Auch Frau Dizdar scheint angesichts der Art, wie sie das Wort »Entität« in Anführungszeichen setzt, eine sehr breite Verwendungsweise zu akzeptieren.

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Man kann sich diesem Begriff der Translation, wie ich ihn zu lesen vorschlage, zunächst in der angesprochenen intuitiven Weise nähern, indem man die Elemente des räumlichen und/oder zeitlichen Transfers und der Übersetzung kombiniert. Eine Wesensdefinition im traditionellen Sinne ist damit nicht beabsichtigt. Die Bandbreite dessen, was unter Translation fallen kann, ist breit gefächert, weshalb es sinnvoll erscheint, diesen Vorgang als Schlüsseloperation parallel zu setzen zu »Zuschreibung«, »Begründung« oder »Rechtfertigung«. Der Hinweis auf »Transfer plus Übersetzung« soll dennoch deutlich machen, dass nicht jedes soziale Phänomen, auch nicht jeder Transfer und nicht jede Übersetzung eine Translation in unserem Sinne darstellt, da es zugleich auf die Vernetzung des transferierten Gegenstandes in eine neue Umgebung ankommt. Zur Translation kommt es erst, wenn der transferierte Inhalt in seinem neuen sozialen Kontext positiv oder negativ oder in kreativer Veränderung aufgenommen wird und dort eine eigene Dynamik entfaltet. Der wie auch immer geartete Erwerb afrikanischer Kunst durch europäische oder amerikanische Sammler ist z.B. noch keine Translation, wohl aber die enorm vielfältige Anverwandlung afrikanischer Kunst in diversen europäischen Strömungen des 20. Jahrhunderts. Das Paradebeispiel ist hier Picassos Bericht, dass er durch den Anblick von Masken aus Gabun im Museum am Trocadero wusste, wie er sein Werk Les Desmoiselles d’Avignon fertigstellen konnte. Es werden also Gegenstände aus einem ursprünglich religiösen Umfeld in eine andere Umgebung transferiert, wo sie einem der einflussreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts zur Lösung eines gewiss nicht spirituellen formalen Problems verhelfen. Auch andere europäische Künstler beriefen sich im frühen 20. Jahrhundert auf afrikanische oder anderwei-

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tig ›exotische‹ Vorbilder, man denke an die berühmte Tunisreise. Damit wird keine monokausale »Zurückführbarkeit« ganzer Kunstrichtungen unterstellt, wie Frau Dizdar vermutet, zumal es auch zahlreiche Bezugnahmen – etwa aus der Dadaistischen Szene – auf die sog. Sammlung Prinzhorn mit Werken schizophrener Künstler gab. Wohl aber wird behauptet, dass uns der Begriff der Translation gestattet, einen Typus von Wandlungsprozess zu identifizieren. Umgekehrt stellt die bloße sprachliche Übersetzung zumindest in den alltäglichen Fällen eher ein unwichtiges Randphänomen dar, weil dabei kaum eine relevante Veränderung des Überzeugungsnetzwerks und der damit verbundenen Handlungsabläufe zu beobachten ist. Wieder ein banales Beispiel: Dass man das italienische latte auf deutsch mit »Milch« wiedergibt bleibt uninteressant, dass aber ein Getränk namens latte macchiato, welches zumindest in Süditalien niemand mehr nach dem Mittagessen, ja eigentlich nach dem Frühstück zu sich nähme, zum festen Bestandteil deutscher Restaurantkultur und da zu jeder Tageszeit konsumiert wird, ist der Ansatz eines Translationsvorgangs. Bei der Frage, wann ein Phänomen zur interessanten Translation wird, spielen quantitative Aspekte keine wesentliche Rolle. Es mag sein, dass der »kontextlose Kontext« des Wörterbuchs der einzige Ort ist, an dem die Wörter »so nackt, ganz ohne Umfeld nebeneinander stehen« (Dizdar), doch wird eben täglich millionenfach in Wörterbüchern und auf websites wie leo.org nachgesehen, was ein bestimmtes Wort heißt, weil man ein Essen bestellen will, etwas einkaufen, einen fremdsprachlichen Zeitungsartikel nicht versteht. Nach wie vor sehe ich da noch keinen Grund, diese Fälle intensiv zu erforschen, weil in den allermeisten Fällen keine Änderung des Überzeugungsnetzwerks oder des Verhaltens bestimmter Gruppen, ja nicht einmal einer Person stattfindet. Selbst wenn es heißt: »Nero latte dell’alba lo beviamo la sera«, so handelt sich um die gelungene Übersetzung eines Meisterwerks, die den Rhythmus der Sprache aufgreift und sicher ihre Wirkung in der italienischen Leserschaft nicht verfehlte. Dass »Milch« hier korrekt mit latte wiedergegeben wird, bleibt aber wiederum wenig verblüffend. Ein Beispiel dafür, dass Konnotationsverschiebungen einzelner Wörter auch das web of belief ganzer Kulturen beeinflussen können, ist die von Peter Burke vorgeführte Art, wie die japanische Übersetzung von »Freiheit« Konnotationen von »Selbstsucht« erhielt, was die Ansichten breiter Kreise über westliche Freiheitsforderungen nicht unerheblich beeinflusste (Burke 2010). Die für unseren speziellen Kontext vielleicht passendste, jedenfalls suggestivste Weise, die unter den Begriff der Translation fallenden Phänomene zusammenzufassen, von denen einige Beispiele genannt wurden, ist es nach unserer Überzeugung, von einer Wanderung von Ideen zu sprechen. Wie gesagt ist das Wort »Idee« hier eine Metapher, die nicht etwa für einen abstrakten und

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ewigen Gegenstand in einem über uns Menschen befindlichen Ideenhimmel steht, ebensowenig für einen bei allen oder einer Vielzahl von Menschen nachweisbaren vorsprachlichen ›Bewußtseinsinhalt‹. Es geht um die grob identifizierbaren Stücke aus Überzeugungsnetzwerken, webs of belief, oder auch institutionalisierten Handlungszusammenhängen, die sich in sprachlicher und anderer Form äußern. Ideen können freilich nur wandern, sozial anerkannt oder umstritten sein, soweit sie in der einen oder anderen Form objektiviert sind. Zirkulierende Ideen müssen immer neu übersetzt sein in einen Text, ein Bild, einen numerischen Ausdruck, ein technologisches Artefakt oder ein Modell davon, wie etwas zu tun oder zu organisieren ist. Erst in dieser reisefähigen Form können Ideen ihren Kontext wechseln. Im allgemeinen Fall geht es bei der Translation in diesem Sinne um räumliche und zeitliche Wanderungen von 1. Argumentations- und Narrationsstrukturen, 2. Konzepten, 3. Modellen politischer und ökonomischer Organisation, 4. rechtlichen und normativen Ordnungen sowie von 5. Überzeugungen und religiösen Glaubensinhalten. In unserem Projekt ging es um bestimmte Begriffe und Teile normativer Ordnungen. Bei der Translation werden wie gesagt Teile eines Netzwerks von Überzeugungen, eines web of belief, wie Willard Van Orman Quine es nannte, in eine neue Umgebung transportiert und treten dort mit teilweise ähnlichen, teilweise divergierenden Bestandteilen eines anderen Netzwerks von Überzeugungen in neue Relationen, so dass etwas Neues entsteht. Dies kann in verschiedenen Teilen des menschlichen Zusammenlebens unterschiedliche Formen annehmen. Beispiele wurden genannt, weitere folgen. Wir können viele Teile unseres institutionalisierten Zusammenlebens auch unter dem Übersetzungsaspekt betrachten und es müssen nicht immer die großen Erzählungen sein, die da übersetzt werden. Manchmal lassen sich diese auch in eine Vielzahl von Einzeltranslationen aufschlüsseln, wie etwa die demokratische Rechtfertigung politischer Herrschaft in die diversen Handlungsmöglichkeiten, die den Individuen als Partizipationswege geboten werden. Wie Frau Dizdar zu Recht anmerkt, muss Derartiges nicht nur für institutionell vorgesehene Einzeltranslationen gelten, sondern es können aus »zivilgesellschaftlichen Unmutsäußerungen« umgekehrt große Erzählungen werden wie die Proteste im Gezi-Park oder die eindrucksvolle Performance des schweigenden Mannes auf dem Taksim-Platz, die in der Folge durch die meisten internationalen Medien ging. Eine weitere Frage ist, wie sich die mediale Präsentation derartiger Ereignisse auf die Überzeugungen der Menschen in der näheren und weiteren Umgebung auswirken. Ob sich etwa auf die despotische Unterdrückung solcher Ereignisse und das dadurch erzeugte Schweigen der von mir vor-

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geschlagene Translationsbegriff sinnvoll anwenden lässt, hängt davon ab, welche Vorgänge man genau beschreiben will. Translation als Schlüsseloperation geht also über die Übersetzung aus einem Idiom in ein anderes ebenso hinaus wie über die traditionelle interkulturelle Übersetzung. Diese radikalere Definition des Translationskonzeptes entnimmt der analytisch-philosophischen Debatte um die radikale Übersetzung den Gedanken, dass es keine ›eigentliche‹, ›wahre‹ abstrakte oder mentale Bedeutung gibt, mittels deren sich Erfolg oder Misserfolg der Übersetzung bestimmen ließe. Willard Van Orman Quine hatte in seinem philosophischen Hauptwerk Word and Object im Jahr 1960 das Problem von der Unbestimmtheit der Übersetzung aufgebracht, um das allgemeinere Phänomen der evidentiellen Unterbestimmtheit wissenschaftlicher Theorien zu erläutern. Sein Hilfsmittel ist das Gedankenexperiment eines Ethnologen, der zu einer völlig unbekannten Gruppe von Menschen kommt und dort ein Wörterbuch der Sprache aufstellen soll. Selbst wenn er, so das Beispiel Quines, lernt, im richtigen Moment das Wort gavagai zu rufen, wenn er ein Kaninchen sieht, weiß er nicht, ob sein Gesprächspartner mit gavagai nun ein Kaninchen, oder ein Kaninchenstadium oder einen Kaninchenteil oder einen Fall von Kaninität meint, er kennt, in Quines Worten, nicht die Ontologie seines Gesprächspartners (vgl. Quine 1960: Kapitel 2). Eine dieser Übersetzungsannahmen wäre zunächst so gut wie die andere. Prinzipiell müssen wir bei einer solchen Übersetzung das sogenannte principle of charity anwenden, also unsere Logik unterstellen und nicht als erstes annehmen, dass unserem Gesprächspartner Logik und Verstand fehlten. Erst wenn alternative Übersetzungen extrem kompliziert würden, sind wir bereit, unseren Gesprächspartnern sehr exzentrische Ansichten über die Welt zuzusprechen. Sätze und erst recht Wörter haben nur einen feststellbaren Sinn im Rahmen einer großen Gesamttheorie, in der sie untereinander vernetzt sind, in einem Begriffsschema, wie er es nennt. Quine spricht hier von wissenschaftlichem Holismus. Quine will freilich nicht bestreiten, dass es in unserem normalen Alltagssinn bessere und schlechtere Übersetzungen gibt, doch legt er Wert darauf, dass diese nicht durch die Übereinstimmung mit einem ›wirklichen‹ Inhalt des fraglichen Begriffs, durch eine »freischwebende sprachneutrale Bedeutung« ermittelt werden, sondern durch die bessere oder schlechtere, d.h. kohärentere oder z.B. unnötig komplizierte, Einbindung in das gesamte Begriffsschema, das web of belief der Beteiligten. Dabei legt gerade Quine größten Wert auf rationales, wissenschaftlich kontrollierbares Vorgehen und die Ersetzung weniger rationaler Hypothesen durch vernünftigere. Erst wenn zwei vollständige Begriffsschemata vorliegen, die in allen Formen des Umganges mit nichtsprachlichen Gegenständen gleichwertig sind, aber sich mindestens in Hinblick auf einen der theoretischen

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Sätze, die zur Erklärung der Welt herangezogen werden, unterscheiden, kann man von einer echten Unbestimmtheit der Übersetzung sprechen. Für unseren Kontext wichtig ist von diesen Überlegungen erstens, dass wir keinen Grund zur Annahme einer sprachunabhängigen ›wahren‹ Bedeutung von Begriffen haben, dass wir für die meisten Fälle dennoch rationale Verfahren zur Überprüfung der Übersetzung besitzen und dass wir unseren Gesprächspartnern bis zum Beweis des Gegenteils erst einmal in unserem Sinne vernünftige Ansichten unterstellen. Diesen Umstand hervorgehoben und zum Gegenstand ihrer Forschung gemacht zu haben, ist ein Verdienst der soziologischen oder auch der ethnologischen Wissenschafts- und Technikforschung. Es geht vor allem um die Methode der sogenannten Akteur-Netzwerk-Theorie, mit der die bei einer solchen Translation beteiligten Akteure unterschiedlicher Art in ihren Wechselwirkungen benannt werden (vgl. u.a. Callon 1986; Latour 1986). Anstelle eines erkennenden Subjektes, das einer objektiven Welt oder vielleicht auch nur einem Ding an sich gegenübersteht und dessen begriffliche und experimentelle Konstruktionen untersucht werden können, geht man von einem – nicht unbedingt machtfreien – Gefüge von »Handelnden« aus, wobei das Handeln manchmal real, manchmal metaphorisch verstanden wird. Gemeinsam führt dieses Netzwerk von Akteuren und Aktanten Hypothesenbildungen und deren Überprüfung mittels einer Kette von Übersetzungen durch, die benannt werden und im günstigen Fall bei Bedarf gerechtfertigt werden können. »Die erkannte Welt und die erkennende Welt formen einander ständig um.« (Latour 1996: 197) Die vielleicht anschaulichste Beschreibung eines solchen Vorgehens, der auch dieses Zitat entstammt, liefert Bruno Latour in seiner sogenannten »photophilosophischen Montage« Der Pedologenfaden von Boa Vista: An einer bestimmten Stelle des hunderte von Kilometern langen Saums zwischen Urwald und Savanne in der Mitte Brasiliens steht ein eigentlich an den Urwaldrand gehörender Baum in der Savanne. Eine Forscherin vertritt die Hypothese, er sei ein Zeichen für das Vordringen des Urwalds, ein Forscher die Gegenhypothese, er sei ein Überbleibsel beim Vordringen der Savanne. Der Text beschreibt nun, wie die Wissenschaftler das relevante Areal unter Zuhilfenahme einer Karte vermessen, in ein kartesisches System von Koordinaten einteilen, parzellieren, Pflanzen- und Bodenproben entnehmen, diese nach bereits vorhandenen Kriterien auswerten, etwa auch vorhandene Mikroorganismen oder andere Indizien, bis hin zu den Exkrementen der Regenwürmer auszählen und die Resultate den jeweiligen Fundstellen auf Millimeterpapier zuordnen, so dass schließlich mathematisierbare Daten und Kurven entstehen. Anstelle der Sprache einerseits, der Welt andererseits, oder auch des Dinges an sich einerseits und des transzenden-

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talen Subjektes andererseits, jedenfalls anstelle der traditionellen korrespondenztheoretischen Wahrheitskonzeption, die Wahrheit als adaequatio intellectus et rei versteht, haben wir also eine stets reversible Kette an Übersetzungen, die – um zu Quine zurückzukehren – an jeder Stelle in das Netzwerk unserer Überzeugungen über die Welt eingeordnet oder mit ihm konfrontiert werden müssen. Damit, dies wird man kritisch gegenüber manchen Äußerungen Latours festhalten müssen, ist das Bemühen um eine für alle akzeptable rationale Argumentation in den unterschiedlichsten Bereichen unserer Forschung in keiner Weise aufgegeben. Gewiss hat man nicht in allen Wissenschaften die Möglichkeit, den fraglichen Gegenstandsbereich in ein Koordinatensystem zu vermessen, zu parzellieren und das relevante Material auszuzählen, nicht immer hat man ja auch so genaues Vorwissen, etwa über die für eine Überprüfung der Hypothese relevanten Pflanzen und ihre Wachstumsbedingungen. Häufig sind die Gegenstände unserer Untersuchung Bilder, Erzählungen, Metaphern und Mythen, die in einen anderen geographischen, zeitlichen oder auch kulturellen Bereich übertragen werden sollen bzw. die einer solchen Translation im Wege stehen. Auch in diesen Fällen besteht jedoch die Möglichkeit, die beteiligten ›Akteure‹ zu benennen, die festgestellten Beobachtungen zu erläutern und die daraus gezogenen Schlüsse präzise zu begründen.

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DES

» SUBJEKTIVEN R ECHTS «

Es geht bei der Translationsforschung in unserem Verständnis, soweit sie sich auf Begriffe bezieht, darum, die Wandlungen der Begriffsverwendungen im Kontext der sich ändernden sozialen Bedingungen, zu denen natürlich auch sich wandelnde Konflikte gehören, und Überzeugungsnetzwerke nachzuzeichnen. Auf diese Weise lassen sich die innere Entwicklung und innere Logik, aber auch die Risiken mancher Begriffe erkennen, die nach wie vor im täglichen Gebrauch sind. Wir wollen dies am Beispiel des subjektiven Rechts kurz andeuten, das einerseits mit der Konzeption von Menschenrechten in Verbindung steht, andererseits insofern verschieden ist, als Menschenrechte allen in gleicher Weise und unveräußerlich zukommen, während mit subjektiven Rechten generell durchaus Privilegien verbunden sein können. Dies gilt sowohl dann, wenn man unter subjektivem Recht nach dem üblichem Sprachgebrauch heutiger Nachschlagewerke einfach einen irgendwie gearteten, auf eine objektive rechtliche Regelung zurückgeführten Anspruch einer natürlichen oder rechtlichen Person versteht, als auch wenn damit eine von den rechtlichen Instanzen zu respektierende »Wil-

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lensmacht« gemeint ist, wie bei von Savigny (1973). Letztere Interpretation gab Anlass zu der Behauptung, das subjektive Recht sei eine Erfindung des deutschen Privatrechts im 19. Jahrhundert, während die allgemeinere Deutung eine sehr viel längere Geschichte erkennen lässt, aus der einige markante Elemente kurz benannt seien (vgl. dazu v.a. Tierney 2001: 43ff.) Wie es aussieht, entsteht die Rede von ius als subjektivem Recht im Kontext der generellen Tendenz des 12. Jahrhunderts zur Individualisierung und Subjektivierung in einer Zeit, in der infolge des sozialen Wandels traditionelle Rechtsansprüche strittig zu werden beginnen. Eine besondere Rolle spielte dabei eine intensive Diskussion innerhalb des Kirchenrechts. Im Decretum Gratiani (eigentlich: Concordantia discordantium canonum, c.1140) und vor allem in den dazu verfassten Glossen findet sich eine semantische Verschiebung des Naturrechtbegriffs. Dabei wurden Freiheit und Teilhabe am Gemeineigentum mehr und mehr zu einem natürlichen Anspruch. Der Arme begeht in der Not keinen Diebstahl, weil er nur nimmt, was iure naturali ihm gehört: Hostiensis formuliert bereits den mainstream der mittelalterlichen Jurisprudenz, wenn er betont, wer unter Not leide, scheine eher etwas gemäß seinem Recht zu gebrauchen, als einen Diebstahl zu planen (potius videtur is qui necessitatem patitur uti iure suo quam furti consilium inire). Ein freigelassener Höriger hat nach Auffassung einiger Glossen keine neue Freiheit, sondern nur die ihm durch positives Recht zeitweilig vorenthaltene Freiheit zurückerhalten. Diese Konzeptionen eines jeden Menschen als Menschen zu eigenen Rechtes auf Freiheit und auf Lebensunterhalt, auch wenn es hier noch ohne direkte politische Forderung zugesprochen wird, dürften über einige Zwischenstationen hinweg zur Formulierung der Menschenrechte geführt haben, wie wir sie heute verstehen. Und doch ist es eben nicht das Selbe, wenn ein derartiges Recht im Normalfall völlig selbstverständlich hinter dem positiven Recht zurücktritt, wie wenn es von einer mächtigen Gruppe benutzt wird, um das positive Recht zu ändern, vielleicht sogar gewaltsam zu ändern, wie dies ab dem 18. Jahrhundert geschah. Es ist aber auch nicht derart grundverschieden, dass eine gemeinsame Sprache unmöglich würde. Die Idee der Translationsforschung besteht in der letztlich einfachen Überlegung, dass es in derartigen Kontexten darauf ankommt, zu beschreiben, wie sich der Gebrauch eines Begriffs durch den verschiedenen sozialen Kontext ändert, aber auch wie der Kontext, das Netzwerk an Überzeugungen eben durch den Einfluss der in diesem Begriff ›verkapselten‹ Idee verwandelt wird. Beim subjektiven Recht ist von Beginn an auch von partikulären Rechtsansprüchen die Rede, wie etwa einem Recht des Papstes auf Einflussnahme bei Bischofswahlen. Man hat also die doppelte Deutung als durch irgendeine Ordnung

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zugestandenen Anspruch auf irgendetwas – bzw. die durch diese Ordnung zugestandene Verfügungsgewalt über etwas – und als möglicherweise gegen das positive Recht geltende Berechtigung, sich Leben und Freiheit zu sichern. Nicht immer sind diese beiden Typen von Rechten klar voneinander zu trennen. Manchmal werden gerade Vereinbarungen, die ursprünglich dazu dienen, die Rechte und Freiheiten bestimmter Gruppen und Stände zu sichern – das bekannteste, wenn auch nicht das erste Dokument dieser Art ist sicherlich die Magna Charta von 1215 – im Laufe der Jahrhunderte zu Manifesten allgemeiner Rechte der Freien uminterpretiert, eben in der Petition of Rights von 1628 und später der Bill of Rights von 1689, dies als etwas konkretere Version der eben angesprochenen Translation über die Zeiten hinweg. Die in den Glossen zum Decretum Gratiani entwickelte Bedeutung von ius wird zu Beginn des 14. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung des sogenannten Franziskanischen Armutsstreits insbesondere von Wilhelm von Ockham, bei dem man verschiedentlich die erste rights-based-theory of law identifiziert hat (vgl. Tierney 2001: 170ff.), und in die Debatte um die Frage nach natürlichem Eigentum eingebracht. Er ist wohl der erste noch heute einer weiteren Öffentlichkeit bekannte Autor, der zwischen positiven und natürlichen Rechten der Menschen klar unterscheidet. Er entwickelt diese Differenzierung in Reaktion auf die von Papst Johannes XXII. in der Bulle Quia vir reprobus (1329) auf dem Höhepunkt der theoretischen Auseinandersetzung um den Armutsstreit zwischen dem Franziskanerorden und der Kurie erhobene Behauptung, der Gebrauch eines Gegenstandes impliziere ein Gebrauchsrecht. Durch den Gebrauch und Verzehr der von ihnen benutzten Dinge, nähmen die Franziskaner daher ein Gebrauchsrecht (ius utendi) in Anspruch (vgl. Ockham 1940/1963: Kapitel 61, OP II: 558ff.).2 Jeder Mensch, so Ockhams Reaktion, hat ein natürliches Gebrauchsrecht, welches ihm aber kein bleibendes Recht auf den Gebrauch verschafft. Diejenigen, die auf ihr Recht auf Eigentum, sowohl als einzelne wie als Gemeinschaft verzichtet haben, also die Franziskaner, behalten ihr natürliches Recht, fremde Dinge im extremen Notfall zu benutzen. Auf dieses Recht können sie auch überhaupt nicht verzichten. Dagegen kann eine Erlaubnis zum Gebrauch, die einem Menschen von einem anderen gewährt wird, auch ohne jedes schuldhafte Verhalten des Betroffenen wieder entzogen werden. Ockham geht mit dieser Behauptung eines unverzichtbaren natürlichen Rechtsanspruchs aller Menschen auf Lebenserhaltung einen wichtigen Schritt in Richtung der Annahme unveräußerlicher Menschenrechte.

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Die Bulle Quia vir reprobus ist wörtlich wiedergegeben in Ockhams Antwort, dem Opus nonaginta dierum.

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Beim Lebensnotwendigen fallen Menschenrechte und Besitznahmerechte zusammen. Für die spätere Diskussion wurde die Debatte um den Begriff des dominium relevant, in der die Doppelbedeutung des Terminus als »Herrschaft« einerseits, »Eigentum« andererseits ausgenutzt wurde. Laut Johannes XXII. war das Besitzrecht eines Menschen über das Seine dem Begriff nach dasselbe wie Gottes dominium über die Welt. Da Adam vor der Erschaffung Evas das alleinige dominium über die irdischen Dinge ausübte, auf welches sich aller heutiger Besitz über die Generationen hinweg ableiten lasse, gehöre privates Eigentum nach Gottes Gesetz unvermeidlich zur Natur des Menschen. Ockham (1940/1963) lässt in seiner Erwiderung als dominium im Sinne von Eigentum nur gelten, was vor einem irdischen Gericht als solches eingeklagt werden kann, macht Eigentum damit zu einer Sache menschlicher Konvention (Kapitel 26 OP II 484). Die Ureltern im Paradies konnten ihr dominium über die Tiere und Pflanzen ohne deren Widerstand, also ohne Zwang ausüben, ähnlich der Art, wie die Engel in manchen Fällen uns Menschen führen (Kap. 14, 434). Diese Art von dominium ist mit dem Rechtsinstitut des Eigentums nur durch Äquivokation verbunden. Nach dem Sündenfall ist solch ein dominium ohne Zwang nicht mehr möglich. Die im Armutsstreit ausdifferenzierte Begrifflichkeit spielte eine wesentliche Rolle in der Spanischen Scholastik, u.a. bei der Diskussion um die Rechte der südamerikanischen Indianer, aber auch in Bezug auf den beginnenden transatlantischen Sklavenhandel. Auf der einen Seite nahmen fast sämtliche Meister der Spanischen Scholastik auch Bezug auf diesen Armutsstreit, führten, um unsere Metapher aufzugreifen, die Wanderung der Idee subjektiven Rechts fort, andererseits reicherte sich die Terminologie angesichts der völlig anderen politischen Umgebung um Elemente an, die für die spätere Menschenrechtsdiskussion entscheidend sind. Teilweise entspringt diese Veränderung den Rahmenbedingungen der intensiven Diskussion, die einerseits eine Rechtfertigung des status quo – also der Eroberung Südamerikas und des Sklavenbesitzes – nach universal gültigen Völkerrechtsregeln liefern sollte, andererseits von dem unübersehbaren massenhaften Unrecht beeinflusst wurde, mit dem sich einige der Theoretiker nicht vorbehaltlos abfinden wollten. Zentral für die Diskussion um die Berechtigung des Krieges gegen die indigenes und deren damit verbundene Versklavung wurde die von Francisco de Vitoria (1483-1546) 1539 gehaltene Vorlesung De indis. Auf sie beriefen sich sowohl Verteidiger als auch Kritiker der Unterwerfung Amerikas durch die Spanier. Für unseren Kontext ist sie wichtig, weil Vitoria einerseits den Indianern in seiner ersten Vorlesung zugesteht, unabhängig von Verdiensten und Fähigkeiten wahre Besitzer ihrer Güter zu sein (veri domini), andererseits eine völkerrechtli-

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che Rechtfertigung des Krieges gegen sie unter Rückgriff auf universal gültige Rechtsansprüche aller Menschen führt, die sie angeblich verletzt hätten. Generell gilt Vitoria als derjenige, der wie kein anderer die spanische Dominanz in der Moraltheologie begründet hat (vgl. Alonso-Lasheras 2011: 31). Welche Rolle bei der Wanderung der Ideen ein etwas genauerer Blick auf den Kontext spielt, zeigt sich, wenn wir unser Eingangsbeispiel mit der Anklage Schmitts aufgreifen und sehen, dass mit Vitoria keineswegs ein unpolitischer Ordensmann eine rein innerkatholische und innerspanische Diskussion führt. Zumindest war sein spanischer König Karl V. so erbost über den Text, dass er Vitoria Predigtverbot erteilte. Gewiss waren beide Beteiligten Katholiken und wollten daran auch nichts ändern, doch argumentiert Vitoria gerade sehr bewusst auf deutlich allgemeinerer, nicht rein religiöser Ebene: In der ersten Vorlesung weist Vitoria einige mögliche Gründe dafür zurück, den Indianern das Recht auf Eigentum abzusprechen: Weder die Todsünde, noch die Ungläubigkeit, noch die fehlenden geistigen Fähigkeiten können es rechtfertigen, ihnen den Status als Besitzer ihrer Güter abzusprechen. Der letzte Punkt stellt insofern eine wichtige, weit über den momentanen Kontext hinausweisende Innovation Vitorias gegenüber der aristotelischen Tradition dar, als er auch den amentes aufgrund ihrer Gottesebenbildlichkeit und unabhängig von der aktualen Fähigkeit, die typisch menschlichen Fähigkeiten auszuüben, eine Rechtsposition zuspricht (vgl. Tosi 2002: 85-88). Nachdem Vitoria in der zweiten Vorlesung acht illegitime Begründungen eines Krieges gegen die barbari zurückgewiesen hat, darunter die Behauptung eines Rechtes, das aus der Entdeckung entspringt, oder etwa daraus, dass sie den christlichen Glauben nicht angenommen haben, nennt er in der dritten Vorlesung sieben legitime Gründe. Deren wichtigste basieren auf universellen Rechten, nämlich dem Recht auf Freizügigkeit, dem Gastrecht, dem Recht auf freien Handel einerseits, dem Recht auf das Predigen des Evangeliums andererseits. Wenn die Indios den Spaniern diese Rechte verweigern, so stellt dies einen legitimen Kriegsgrund dar. Ein weiterer bemerkenswerter Titel entsteht aus dem Schutz der unschuldigen Opfer von Menschenopfern und Kannibalismus. Wir finden bei Vitoria erstmals das Konzept eines universell gültigen Rechts mit völkerrechtlichem Status, das von einzelnen Individuen ausgeübt wird und das im Extremfall mit Gewalt durchgesetzt werden darf. Obwohl im konkreten Fall das angeblich für alle Menschen gleiche Recht Handel zu treiben und das Evangelium zu predigen aufgrund seines offenbar asymmetrischen Charakters sehr fragwürdiger Natur ist (vgl. Tosi 2002: 124-128), wurde damit eine wirkungsvolle Argumentationsfigur geschaffen, die nach mannigfachen Translationen, nicht zuletzt durch Gelehrte wie James Brown Scott, beim Gedanken der responsiblity to pro-

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tect in die Legitimation der humanitären Intervention eingeflossen ist. Kant wiederum reagiert in Zum ewigen Frieden auf die kolonialistischen Konnotationen der mit dem Gastrecht verknüpften Argumentationsfigur – ob mit oder ohne Kenntnis des Vitoria-Textes scheint immer noch nicht gewiss –, wenn er im dritten Definitivartikel das Weltbürgerrecht auf ein Besuchsrecht begrenzt (1795/ 1968b: 357-359). Ein weiteres Beispiel dafür, wie gerade die nach heutigen Maßstäben moralisch ambivalente, aber stets um präzise naturrechtliche Argumentation bemühte Vorgehensweise in der Spanischen Scholastik die Diskussion um Freiheit und allgemeine Rechte bereicherte, liefert der in portugiesischem Dienst tätige Jesuit Luis de Molina (1535-1600). In seinem Werk De iustitia et iure (1592/1659) betont er allerdings zunächst, dass der Mensch gerade kein dominium, kein absolutes Recht über sein Leben und seine Glieder besitze, weshalb er bei der Selbsttötung eine Todsünde gegen Gott begehe. Dieses Eigentum Gottes impliziert, dass auch das Vaterland nicht befugt ist, über das Leben des Bürgers zu verfügen und ein Sklave von seinem Herrn nicht verstümmelt oder getötet, nicht einmal an der Heirat gehindert werden darf. Molina ist deshalb von spezifischer Bedeutung, weil er die Begriffe »Freiheit«, insbesondere Willensfreiheit, »Recht«, gerade im Sinne eines subjektiven Rechts, »Eigentum« und »Herrschaft«, letztere bezeichnet als dominium proprietatis bzw. dominium iurisdictionis, in einen inneren Zusammenhang bringt, der von späteren Autoren aufgegriffen, jedoch teilweise drastisch verändert wird. Da auch hier davon auszugehen ist, dass Molinas Termini Translationen aus anderen Kontexten sind, sollte sein Werk nicht als Ursprung, sondern als signifikanter Passagepunkt für zunächst heterogene, bei ihm jedoch zusammenfindende Theoriestücke gelesen werden, die es ermöglichen, den Weg von einem allgemeinen Begriff subjektiven Rechts, bei Molina durchaus verbunden mit der Feststellung von bestimmten Rechten, die selbst ein Sklave qua homo besitzt, zur Behauptung eines unveräußerlichen Menschenrechtes auf »Freiheit« in seinen Translationselementen zu untersuchen. Mit dem von der Antike (vgl. z.B. Pabst 2010: 51-65) bis weit in die Neuzeit gebräuchlichen Freiheitsbegriff im Sinne der Freiheit als Gruppenprivileg – bzw. aus subjektiver Perspektive als durchaus veräußerbares Gut – lässt sich das Eigentum an anderen Menschen, z.B. Sklaven oder Leibeigenen, problemlos vereinbaren. Mit dem modernen, maßgeblich von der Aufklärung beeinflussten Freiheitsbegriff und der darin enthaltenen Konzeption der Freiheit als unveräußerliches Recht wird dies unvorstellbar; insbesondere nachdem Rousseau festhielt, dass es gleichbedeutend sei, auf seine Freiheit zu verzichten und auf das Menschsein zu verzichten (Contrat social I 4). Freiheit wird also vom Privileg

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bzw. Gut zum gleichen Recht aller Menschen, dennoch ist der Begriff nicht in all seinen Facetten ein völlig anderer geworden. Die enge Verbindung von Freiheitsrecht und Sklavereidebatte hinterlässt ihre Spuren noch in Kants Bestimmung des »inneren Mein und Dein« und damit des einzigen angeborenen Rechtes: »Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht.« (Kant 1797/1968a: 237)

Im Verlauf der hier benannten Entwicklung gewinnt der Freiheitsbegriff, der bis weit ins 18. Jahrhundert vor allem rechtlich-sozialer Natur war, auf dem Weg zu Kants Freiheit als Autonomie wesentlich an moralischer Bedeutung, was wohl zur Translation vom Gruppenprivileg zum unveräußerlichen Recht beiträgt, wozu eben das Recht gehört, niemandes Eigentum zu sein. Hier dürfte auch die Kennzeichnung der Würde als über jeden Preis erhaben zu sein, ihre Wurzel haben. Die Translationen von Theorieelementen bei der Einbindung in neue Kontexte treten daher beim Begriff des subjektiven Rechts deutlich hervor: Die jahrhundertelange Verwendung von Begriffen wie facultas und facultas moralis für bestimmte Verwendungsformen von ius, die erstmals wohl von Achenwall als ius subiective sumtum identifiziert werden, schaffen den theoretischen Boden für die Menschenrechte, doch ist der Begriff subjektiven Rechts, wie schon festgehalten deutlich allgemeiner. Subjektive Rechte können nämlich sowohl allen Menschen oder allen Bürgern zugesprochen werden, als auch Privilegierungen für bestimmte Gruppen beinhalten. So zitieren noch Marx und Engels in Die Deutsche Ideologie die Beschwerde eines amerikanischen Südstaatlers, der sich in England in seiner Freiheit eingeschränkt sieht, da es ihm dort untersagt ist, seinen schwarzen Sklaven zu schlagen (vgl. Marx/Engels 1958: 191). Nach dem einzigen angeborenen Recht der Freiheit, sind bei Kant derartige Privilegien, die das Recht der Menschheit in der Person des anderen missachten, ausgeschlossen. Erst durch ein Zusammenfinden von rechtlichen-sozialen sowie moralischen Komponenten, das die Translationsmethode aufzuschlüsseln vermag, konnte also ein Freiheitsbegriff wachsen, der einerseits in den starken Begriff subjektiven Rechts im frühen 19. Jahrhundert einfließt und andererseits die Idee der Menschenrechte hervorzubringen vermochte. Molina ist zudem der erste Autor, der den transatlantischen Sklavenhandel, der entgegen früherer Ansichten eine typisch moderne Institution ist (vgl. u.a.

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Blackburn 1997), systematisch untersucht und rechtlich wie moralisch bewertet. Da er dies mit dem aus dem römischen Recht, der aristotelischen und der christlichen Tradition überlieferten Instrumentarium tut, findet hier bereits eine Translation statt. Ein wichtiger Teil seiner Argumentation richtet sich auf die Frage, ob, warum und unter welchen Bedingungen ein dominium proprietatis, ein Eigentum an Menschen möglich und gerechtfertigt ist. Die Antworten gehen ein in die spätere Diskussion um staatliche Herrschaft, die bei Hobbes und Pufendorf nicht mehr von der Herrschaft über Sklaven verschieden ist, bis hin zu Kants eben zitiertem angeborenem Recht auf Freiheit als Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür als dem »inneren Mein und Dein«. Sehen wir uns einige Punkte etwas näher an: Bei Menschen, die sich nicht selbst zu bestimmen vermögen, wie die aristotelische Tradition bis hin zu Sepulveda von Sklaven von Natur zu sprechen, ist laut Molina, wie auch für de Soto und andere vor ihm eine unpassende Ausdrucksweise, da es ja nur ein Akt der Billigkeit ist, diese Menschen anzuleiten und zu fördern (vgl. Molina 1659: disp. 32). Von Natur sind zunächst alle Menschen frei. Für den Fall, dass bestimmte Umstände eintreten, die eine Versklavung rechtfertigen, wurde sie jedoch vom ius gentium zu Recht eingeführt. Diese Umstände sind einmal die Versklavung in einem gerechten Krieg, die für den Betroffenen, der ja eigentlich sein Leben verwirkt hätte, die angenehmere Lösung ist als der Tod, ganz in der Tradition des römischen Rechts. Freiheit zählt hier wieder ganz eindeutig zu den bona fortunae, den Vermögens- oder Glücksgütern, deren man gegebenenfalls verlustig gehen kann. Diese Einschätzung hält sich noch bis ins achtzehnte Jahrhundert, wie das Beispiel des deutschen Frühaufklärers Christian Thomasius zeigt (ebd. 1692/1968: § 125). Ein weiterer Rechtsgrund für die Versklavung ist der Selbstverkauf. Dieser ist möglich, weil die Freiheit – im Unterschied zum Leben – als ein Gut unter mehreren in das dominium eines Menschen fällt. Allerdings schränkt Molina sofort ein, dies sei nur im Falle äußerster Not berechtigt. Wer es ohne Not tue, sündige schlimmer als jemand, der Vermögen oder Ehre aufgebe. Am Ende einer langen, unter anderem auf Befragung der Sklavenhändler basierenden Disputation (vgl. Molina 1659: disp. 34: col. 178) betont er, so wie man gestohlene Güter zurückgeben müsse, habe man auch den zu Unrecht Versklavten und ihren Kindern die Freiheit zurückzugeben. Nachdem er sodann die von ihm erarbeiteten Rechtstitel möglicher Versklavung mit der Wirklichkeit des portugiesischen Sklavenhandels verglichen hat, hält er es für wahrscheinlich, dass die Sklavenhändler eine Todsünde begehen und der ewigen Verdammnis sicher sind (vgl. Molina 1659: disp. 35: col. 189). Molinas Ambivalenz, hier zwischen der prinzipiellen Rechtfertigung der Institution der Sklaverei und der Verdammung ihrer Praxis, die nach dem Urteil einiger Gelehrter lange Zeit spä-

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ter zur Abschaffung der Sklaverei beitrug, ist in verschiedener Weise charakteristisch für die Spanische Scholastik: Mit weit ins Mittelalter reichenden Argumentationsmethoden schuf man angesichts der Herausforderung durch die neue politische Wirklichkeit die Begriffe und Prinzipien, deren sich die Naturrechtler und Philosophen der Aufklärung bedienten, um zur Formulierung der Menschenrechte zu gelangen. Dies geschieht nicht zuletzt dadurch, dass man einen auf sehr grundsätzliche Argumente aufgebauten naturrechtlichen Diskurs bewusst über die religiösen und, wie man heute sagen würde, kulturellen Grenzen hinweg ausdehnt. Ferner entwickelt sich eine Differenzierung von Recht und Moral, wenngleich mit unterschiedlicher Terminologie: Molina hält fest, wer etwa eine Notlage ausnütze, um einen anderen zu versklaven, anstatt einfach Almosen zu geben, begehe unter Umständen eine Todsünde gegen die Nächstenliebe, caritas, die bei ihm sehr stark die Art des moralischen Urteils bestimmt, doch sei der Vertrag naturrechtlich gültig (vgl. Molina 1659: disp. 33). Hingegen findet sich bei Suárez so etwas wie eine Moralisierung des Naturrechts gegenüber dem positiven Recht (vgl. Kaufmann 2007). Eine Art Angelpunkt hinsichtlich der Frage, inwieweit sich diese Translationen aus der Spanischen Scholastik in die protestantische Welt des europäischen Nordens und in die Aufklärungszeit nachvollziehen lassen, war die lange Zeit stark konfessionell geprägte Debatte darüber, ob Grotius nun von den Spaniern abhing oder nicht, ob sein Werk somit eine Innovation darstellt oder schlicht eine Reproduktion scholastischer Gedanken. Dominik Recknagel (2010) hat jüngst in einer minuziösen Untersuchung gezeigt, dass Grotius die wesentlichen Argumente von Suárez übernimmt, jedoch teilweise neue, der römischen und griechischen Tradition entstammende Begründungen anfügt, wodurch die »katholischen« Theorien für die protestantischen Gelehrten des Europäischen Nordens leichter akzeptabel wurden. Es handelt sich also wiederum um Translationsvorgänge im hier erläuterten Sinn. Diese knappen, schlaglichtartigen Bezugnahmen auf mittelalterliche Debatten und Vertreter der Spanischen Scholastik sollten andeuten, in welcher Weise sich das Konzept der Translation im Umgang mit historischen, aber ebenso gut natürlich gegenwärtigen Formen der Wanderung von Ideen und Konzeptionen zur Anwendung bringen lässt, in der Hoffnung, die Brauchbarkeit des Konzepts plausibel zu machen.

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Theoretische Übersetzungsprobleme und transatlantische Methodenerweiterung Epistemischer Wandel in der Wissenschaftskultur des Instituts für Sozialforschung von 1930 bis in die späten 1950er Jahre F ABIAN L INK

E INFÜHRUNG : S OZIALE V ERSCHIEBUNGEN E PISTEMISCHER W ANDEL

UND

Der Wissenschaftssoziologe und Mikrobiologe Ludwik Fleck hat einmal gesagt, dass Zeiten allgemeiner Wirrnis profunde Wissenswandlungen nach sich ziehen (vgl. Fleck 1935/1980: 124). Das Jahr 1933 löste solche Wirrnisse aus und brachte massive epistemische Transformationen in Gang. Die Emigration jüdischer und politisch unliebsamer Wissenschaftler und Intellektueller vor allem in die Vereinigten Staaten zog nachhaltige Veränderungen im epistemischen Gefüge des deutschen und österreichischen Wissenschaftsfelds und der Wissenschaften in den Emigrationsländern nach sich. Diese Wandlungen waren in den Sozialwissenschaften – worunter ich empirische Sozialforschung, Sozialphilosophie, Sozialpsychologie und Soziologie verstehe – besonders drastisch, denn nicht wenige Sozialwissenschaftler Deutschlands und Österreichs hatten einen jüdischen Hintergrund oder verstanden sich als linke Sozialreformer. Das Feld der Sozialwissenschaften war in der Weimarer Republik disziplinär noch nicht gefestigt, weshalb Wissenschaftler mosaischer Religion und mit linken politischen Haltungen hier bessere Karrieremöglichkeiten sahen als in eher konservativ bestimmten und etablierten Feldern wie der Geschichtswissenschaft (vgl. Aschheim 2012). Zu den emigrierten Sozialwissenschaftlern gehörten auch die Forscher im Umfeld des Instituts für Sozialforschung (IfS) in Frankfurt am Main

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unter der Leitung Max Horkheimers. Horkheimer und die Mitarbeiter des IfS emigrierten erst nach Genf, dann nach Paris und schließlich nach New York. 1949 kehrten zunächst Horkheimer und Friedrich Pollock, wenig später auch Theodor W. Adorno nach Frankfurt zurück. 1951 konnte das IfS mit Hilfe von Donationen der Stadt Frankfurt, des Landes Hessen, des McCloy Funds und weiterer privater Unterstützer wiedereröffnet werden (vgl. Jay 1973/1996; Wiggershaus 1988/2008). Der vorliegende Beitrag zeichnet den transatlantischen Weg des IfS zwischen amerikanischem Exil und Rückkehr nach Frankfurt nach. Im Vordergrund steht die Frage, welche Wandlungen des sozialwissenschaftlichen Wissens, das die Mitarbeiter des IfS generierten, mit den während des Exils erfolgten sozialen Neukonfigurationen einhergingen. Hauptthese dieses Aufsatzes ist, dass die sozialen Brüche, das, wie Adorno 1951 sagte, »beschädigte Leben« der Frankfurter Exilanten, vielschichte Fragmentierungen innerhalb ihres epistemischen Konzepts nach sich zogen. Ein Spezifikum der Sozialwissenschaften in den späten 1950er Jahren war ihre Aufspaltung in verschiedene Lager, deren Bruchlinien entlang der eher nomologisch ausgerichteten empirischen Sozialforschung und der tendenziell ideografischen Sozialphilosophie verliefen. Im Falle der IfSMitarbeiter und ihrer Geschichte von 1930 bis in die späten 1950er Jahre lässt sich festhalten, dass dieser epistemische Bruch im amerikanischen Exil erfolgte und nach der Rückkehr nach Frankfurt weiter vertieft wurde. Die vielfältigen epistemischen Aufspaltungen leisteten dem ab 1961 sich entwickelnden »Positivismusstreit«, an dem Adorno und sein Schüler Jürgen Habermas maßgebend beteiligt waren, Vorschub (vgl. hierzu Dahms 1994). Thema und Fragestellung gehe ich mit einer Kombination von Ludwik Flecks Theorie vom wissenschaftlichen Denkkollektiv und dem Idiom-Begriff nach Bernhard Waldenfels einerseits und einem translationstheoretischen Zugriff, der von Bruno Latour und Michael Callon im Rahmen der AkteurNetzwerk-Theorie entwickelt wurde, andererseits an. Gleichwohl die Gefahr unlauteren Zusammenwerfens von Versatzstücken unterschiedlicher Theorien groß ist, hoffe ich, mit einem solchen methodischen Eklektizismus gerade der Komplexität des Forschungsgegenstands Rechnung tragen zu können. Ich werde zeigen, dass epistemische Wandlungen mit sehr komplexen, sich wandelnden Ressourcenkonstellationen und Neukonfigurationen sozialer Bündnisse zusammenhingen, die durch äußere Zwänge bedingt waren. Ich strukturiere den Text wie folgt. In einem ersten Kapitel werde ich den hier verwendeten methodischen Ansatz vorstellen. Die Evidenz dieses Ansatzes liegt in der transatlantischen Laufbahn des IfS-Direktors Horkheimer und seiner Mitarbeiter als deutsche Sozialwissenschaftler, die aus dem nationalsozialisti-

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schen Deutschland über Umwege ins amerikanische Exil flüchteten und um 1950 wieder nach Frankfurt zurückkehrten. Dass die Übersiedlung von der einen Wissenschafts-, Sprach- und Nationalkultur in eine andere nicht nur Wandlungen des sprachlichen Ausdrucks mit sich brachten, sondern auch epistemische Transformationen, hatten die Akteure selbst reflektiert. In einem Vortrag vor dem Jewish Club Los Angeles am 27. Mai 1945 meinte Adorno, dass von den deutschen Emigranten wohl kein einziger die englische Sprache »wirklich so zu schreiben vermag, wie wenigstens einige von uns deutsch schrieben«, und dass eine sprachliche Anpassung zu Vergröberungen und zur »Verdinglichung« des Dargestellten führe, weil man die Dinge »in kleine Bröckchen« schneide und sie »in einer allgemeinen Sauce der geistigen Verständigung« verrühre (Adorno 1945/2003c: 356-357). Sprache und Denken waren für Adorno untrennbar verknüpft. Für ihn gab es ein »deutsches Denken«, das zwar ein »wahnhafte[s] Moment« in sich berge, dessen spezifisch philosophisch-spekulative Kraft für Adorno aber auch im amerikanischen Exil richtungsweisend blieb (Adorno 1945/2003c: 358). Die Analyse sprachlich gebundenen philosophischen Denkens, wie dasjenige Adornos, im Zusammenhang mit der Verschiebung der nationalstaatlich verankerten Wirkungsstätte des jeweiligen Vertreters dieses Denkens, kann spezifische Wandlungen von Wissen aufzeigen (vgl. Jurt 2014). Die Übersetzung von deutscher Sprache und deutscher Philosophie ins Englische darf jedoch keinesfalls als reine Verflachung gesehen werden, wie Adorno dies beschrieb. Im Gegenteil werde ich unten zeigen, dass zwar in philosophischer und theoretischer Hinsicht Adorno und Horkheimer tatsächlich Schwierigkeiten hatten, ihr kritisches Denken in die amerikanische Sprach- und Wissenschaftskultur zu transferieren, dass sie aber gleichzeitig die in Frankfurt entwickelten Ansätze empirischer Sozialforschung auf eine solche Weise an die Praktiken der amerikanischen Sozialforschung anschließen konnten, dass daraus neue und innovative methodische Verfahren entstanden. Im Anschluss an diesen Abschnitt zeige ich die Spezifika des Forschungsprogramms des IfS auf. Danach folgt die Analyse der epistemischen Wandlungen, die sich im Laufe des amerikanischen Exils ereigneten. Ein letzter Teil wird die weiteren Wissenstransformationen nach ihrer Rückkehr nach Frankfurt in den Blick nehmen. Im Schlussteil werde ich dann ein Resümee ziehen und die Grenzen des Wissenstransfers zwischen Sprach-, Wissenschafts- und Nationalkultur aufzeigen. Jens Loenhoff hat eine erste Fassung dieses Aufsatzes anlässlich des Workshops Translationstheoretische Positionen im Spannungsfeld zeitgenössischer kultur- und sozialwissenschaftlicher Diskurse, der im November 2013 am FTSK in Germersheim veranstaltet wurde, kritisch kommentiert. Ich danke ihm und der Herausgeberin dieses Sammelbands für Kritik und Anregungen.

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D ENKSTILE UND I DIOME UND DEREN Ü BERSETZUNGEN : M ETHODISCHE B EGRÜNDUNG EPISTEMISCHEN W ANDELS Nach Ludwik Flecks Theorie vom wissenschaftlichen Denkkollektiv und dem davon abgeleiteten Denkstil ist Wissen Ergebnis von sozialen und kulturellen Prozessen (vgl. Werner/Zittel 2011: 11). Ein Denkkollektiv wird durch Wissenschaftler gebildet, die über eine längere Zeit hinweg an einem bestimmten Ort in einem Gedankenaustausch miteinander stehen und dadurch einen spezifischen Denkstil ausbilden. Der Denkstil nimmt sich nach Fleck als Gesamtheit der geistigen Dispositionen aus, die innerhalb eines bestimmten Denkkollektivs herrschen und von diesem reproduziert werden (vgl. Fleck 1935/1980: 85). Ein Denkstil ist ein »ausgebautes, geschlossenes Meinungssystem«, eine stilgemäße Einheit, die, einmal geformt, beharrlich weiterwirkt. Durch sie wird wissenschaftliches Erkennen überhaupt erst möglich (ebd.: 40, 55-56). Das stilgebundene Wissen der Wissenschaftler manifestiert sich u.a. in den sprachlichen Eigenarten, den Idiomen. Das Idiom »bezeichnet gemeinhin eine dem Konzept der Muttersprache als Eigensprache entstammende sprachliche Eigenart, eine Mundart, die sich von anderen Mundarten abhebt«, und »eine Singularität der Denkungsart«, die implizites Wissen miteinschließt (Waldenfels 2005: 11, 310, 318319). Mit implizitem Wissen ist im Sinne Michael Polanyis (1966/1985) intuitives, erfahrungsgebundenes und praktisches Wissen gemeint, das Wissenschaftler im Laufe ihrer akademischen Sozialisation inkorporieren, es jedoch kaum verbalisieren oder vermitteln können. Ermöglicht der Begriff des Denkstils eine wissenssoziologische Perspektive auf sozialwissenschaftliches Wissen, so erlaubt der Begriff des Idioms die sprachliche und voranalytische Dimension dieses Wissens zu erschließen. Diese sprachliche Dimension sozialwissenschaftlichen Wissens muss auf die Ebene konkreter Handlungen bezogen werden. Denn Wissenschaftler müssen sich mit ihren jeweiligen Denkstilen und Idiomen im sozialen Feld der Wissenschaft behaupten. Pierre Bourdieu (1976) zufolge versuchen Wissenschaftler eine möglichst mächtige Position in ihrem sozialen Feld einzunehmen, indem sie wissenschaftliche Autorität anreichern. Wissenschaftliche Autorität erlangen sie durch viel zitierte Publikationen, durch prestigeträchtige Positionen als akademische Lehrer oder als Forscher an bekannten Institutionen und durch die Mobilisierung von finanziellen Ressourcen für ihre Forschungen. Hierbei sind unterschiedliche Allianzen mit Wissenschaftlern und mit Akteuren anderer Sphären der Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Besonders die Mobilisierung von finanziellen Ressourcen verlangt, solche Allianzen mit außerwissenschaftlichen Akteuren einzugehen, womit vornehmlich Politiker und Industrielle gemeint

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sind, die über finanzielles Kapital verfügen. Denn die Wissenschaften, besonders aber die Geistes- und Sozialwissenschaften, stehen in der Regel in finanzieller Abhängigkeit von staatlicher Politik, der Privatwirtschaft oder philanthropischen Stiftungen (vgl. Bourdieu 1997/2001: 30). Durch eine spezifische Adressierung wissenschaftlichen Wissens an Akteure in Wissenschaft, Politik, Wirtschaft oder Öffentlichkeit können diese Akteure an die Forschungsinteressen der Wissenschaftler gebunden werden. Um dies zu erreichen, müssen Wissenschaftler den Industriellen, Politikern oder Medienleuten ihre Interessen vermitteln. Diese Vermittlung heißt in der Begriffswelt der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) übersetzen. Die Forschungsinteressen von Wissenschaftlern werden an Akteure aus Politik oder Wirtschaft herangetragen und so übersetzt, dass die Interessen der Wissenschaftler mit den Interessen der Politiker und Industriellen konvergieren respektive in ein Verhältnis gegenseitigen Profits gebracht werden. Auf diese Weise entstehen Allianzen, die von den Wissenschaftlern laufend unterhalten werden müssen, soll die Übersetzung nicht nur gelingen, sondern als gelungene Übersetzung von Dauer sein (vgl. Callon 1986/2006a: 135-136; Latour 1987: 111-121). Die ANT schlägt eine gleichberechtigte Betrachtung menschlicher Akteure und dinghafter Aktanten vor (vgl. Latour 1991/2008). Im vorliegenden Fall sind mit »Aktanten« weniger materielle Dinge gemeint, sondern philosophische Theorieelemente, Denkstrukturen, sozialwissenschaftliche Techniken und Methoden, also Entitäten, die Denkstil und Idiom des jeweiligen Denkkollektivs ausmachen. Diese Entitäten samt ihren je eigenen Geschichten und Existenzbedingungen gehen Wechselbeziehungen mit anderen Entitäten und deren Geschichten und Existenzweisen ein und bilden dadurch ein Akteur-Netzwerk (vgl. Callon 1991/2006b). Akteur-Netzwerke bestehen sowohl aus Beziehungen zwischen Wissenschaftlern und Forschungsgegenständen, Theorien, Methoden, Forschungstechniken als auch aus Beziehungen zwischen Wissenschaftlern, Politikern, Industriellen, Medienleuten, was oben als Allianzen bezeichnet wurde. Grundlegende Tätigkeit für die Etablierung von Akteur-Netzwerken ist das Übersetzen; Übersetzungen im Sinne der ANT sind Definitionen und Umdefinitionen der Identitäten, der Eigenschaften und der Verhaltensweisen von Entitäten, seien es Menschen, seien es Theorien oder Methoden, die darauf ausgerichtet sind, neue und andere Verbindungen zwischen diesen Entitäten und ihren Eigenschaften zu etablieren. Dadurch werden bereits bestehende Akteur-Netzwerke ausgebaut, rekonfiguriert oder verändert (ebd.: 323; Latour 2005/2007: 108). Das Ausmaß, »in dem der Übersetzungsprozess und seine Zirkulation von Vermittlern zu einer Übereinstimmung führen« (Callon 1991/2006b: 324), wird in der ANT Konvergenz genannt. Callon (ebd.: 326-329) unterscheidet Akteur-

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Netzwerke, die »stark gruppiert« und »koordiniert« sind von solchen, die schwach und unbeständig sind, wobei der Grad der Konvergenzen das Maß für die Stärke eines Akteur-Netzwerks ist. Stark gruppierte Akteur-Netzwerke sind also solche, in denen die Übersetzungen erfolgreich und von Dauer sind. »Je höher der Grad der Gruppierung und Koordination eines Netzwerkes ist, desto mehr arbeiten seine Akteure zusammen.« (ebd.: 329) Hierbei muss bedacht werden, dass hochgradig konvergente Akteur-Netzwerke »sich erst nach langen Investitionsperioden, intensiver Bemühung und Koordination« entwickeln (ebd.: 330), um Dauerhaftigkeit und Robustheit von Übersetzungen garantieren zu können (ebd.: 332). Die Frage, wie weit diese Ausbauten, Rekonfigurationen oder profunden Veränderungen von Wechselbeziehungen zwischen Akteuren und Akteuren, zwischen Akteuren und Aktanten sowie zwischen Aktanten und Aktanten gehen, hängt von den jeweiligen, historisch bedingten Intentionen der Akteure und den allgemeinen Umständen ihrer Lebenswelten sowie der Zirkulationsfähigkeit von Theorien, Methoden und Techniken ab. In diesem Sinne impliziert die kontextabhängige Geschichtlichkeit des Wissens laufende Transformationen dieses Wissens (vgl. Buzelin 2013: 189; Latour 1999/2002: 36-95). Die Objekte der Übersetzung – sozialwissenschaftliche empirische Methoden und Forschungstechniken, sozialphilosophische Grundannahmen, wissenschaftspolitische Strategien, aber auch rhetorische Figuren und gewisse Elemente der Identitäten der Akteure samt ihren politischen Ansichten – wurden bei den hier zu behandelnden Exilanten über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg in neue Konstellationen eingebunden (vgl. Lethen 2013: 61). Die übersetzten Objekte sind nicht mehr mit den originalen Objekten identisch, sie sind zu etwas Neuem geworden. Insofern beschreiben Übersetzungen Veränderung und Bewegung, im vorliegenden Fall eben epistemischen Wandel (ebd.; vgl. a. Benjamin 1923/2011). Durch Übersetzungsprozesse verändert sich das jeweilige Wissen auch deshalb, weil es nicht nur in eine andere Sprach-, National- und Wissenschaftskultur verlagert wird, sondern andere gesellschaftliche Sphären als die der Wissenschaft berührt. Wenn Wissen innerhalb einer Kooperation zwischen Wissenschaftlern und Politikern oder Industriellen entsteht, dann wird dieses Wissen in die exoterischen Kreise verlagert, die das esoterische Denkkollektiv und dessen Denkstil stützen (vgl. Fleck 1935/1980: 138-139). Solche Verlagerungen können je nach gesellschaftlicher Reichweite bis zur vollständigen Popularisierung führen, sodass wissenschaftliches Wissen zu Deutungs- oder Orientierungswissen wird (ebd.: 148-163). Erfolgreiche epistemische Übersetzungsprozesse, also Übersetzungen, die ein hohes Maß an Konvergenz zwischen den am jeweiligen Akteur-Netzwerk Beteiligten herstellen, treten demnach als Gradmesser für die gesellschaftliche

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Distribution von Wissen auf und lassen Schlüsse auf die Machtposition von wissenschaftlichen Denkkollektiven innerhalb der Gesellschaft zu. Unübersetzbarkeit durch Missverständnisse, Nichtkommunikation oder kulturelle Divergenzen sind ebenso als Mechanismus anzusehen, der Transformationen von sozialwissenschaftlichem Wissen nach sich zieht (vgl. Lotman 2004: 22). Nicht zustande gekommene Übersetzungen, obwohl von den Akteuren intendiert, können deren Lebensläufe in ganz andere Bahnen lenken als von diesen angestrebt, wodurch sich auch ihr im sozialen Raum erzeugtes Wissen verändert. Die Mitarbeiter des IfS, die in eine andere Kultur emigrierten, in der eine andere Sprache gesprochen wurde und ein anderes wissenschaftliches Denken herrschte, mussten ihre epistemischen Grundsätze und Praktiken, aber auch ihre Persönlichkeitsstrukturen, ihr Verhalten, ja ihr ganzes Denken auf irgendeine Weise in diese andere Kultur übersetzen, wollten sie ihre Laufbahnen weiterführen (vgl. Lüsebrink 2009: 97). Zustande gekommene Übersetzungen im Sinne einer erfolgreichen Befriedigung der Interessen der jeweiligen Akteure genauso wie nicht zustande gekommene Übersetzungen bilden demnach die drei zentralen kulturellen Grenzen ab, über die hinweg übersetzt wurde: Wissenschafts-, Sprach- und Nationalkultur. Diese drei Kulturformen überschneiden sich in vielen Aspekten. Sprach- und Nationalkultur sind z.B. mit wissenschaftlichen Idiomen verbunden, wie das Beispiel von Adornos Verhältnis zur deutschen Sprache gezeigt hat. Auch auf Ebene der Methoden und Forschungstechniken der empirischen Sozialforschung existierten bereits in den 1920er Jahren Standards und Praktiken, welche die Grenzen nationaler und sprachlich gebundener Wissenschaftskulturen überschritten (vgl. Weischer 2004: 38). Der vorliegende Aufsatz behandelt sowohl die Geschichte der gelungenen als auch die der gescheiterten Übersetzungen im Kontext dieser drei kulturellen Horizonte. Durch diese doppelte Perspektive werden die epistemischen Wandlungen von 1930 bis Ende der 1950er Jahre verständlich, welche die sozialen und geografischen Verschiebungen des IfS von Deutschland in die Vereinigten Staaten und wieder zurück nach Deutschland begleiteten.

D ENKSTIL

UND I DIOM DES

F RANKFURTER I F S

Das 1923 gegründete IfS war ein mehr oder weniger abgeschlossener Wissenschaftsort, an dem sich ein Denkkollektiv mit einem spezifischen Denkstil entwickelte. Zwar unterhielten sich die Mitarbeiter des IfS mit anderen Wissenschaftlern wie Kurt Riezler, Paul Tillich, Adolf Löwe oder Karl Mannheim, dessen Soziologisches Seminar sich im selben Gebäude befand, schotteten sich nach

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außen hin also nicht ab (vgl. Barboza 2010: 163; Wheatland 2009: 97-98). Doch das IfS verfolgte ein epistemisches Programm, das sich bewusst von anderen sozialwissenschaftlichen Ansätzen abgrenzte. Dieses Programm gab Max Horkheimer vor, der das Institut seit 1930 leitete und als epistemische und soziale Autorität im Mittelpunkt dieses Denkkollektivs stand (vgl. Dubiel 1978: 193-197). Horkheimer setzte sich gegen die als Bestätigung des status quo apostrophierte Wissenssoziologie Mannheims und Max Schelers ab, verwarf den seiner Ansicht nach ins Metaphysische gekehrten logischen Positivismus und lehnte Lenins allzu simple Festlegung auf materialistische Wahrheit ab. Auch Entwürfe einer neuen Metaphysik, wie sie Fundamentalontologen und Lebensphilosophen veranschlagten, trafen auf Horkheimers scharfe Kritik (vgl. Abromeit 2011: 143156, 249-251; Jay 1973/1996: 62). Diese intellektuellen und politisch-weltanschaulichen Bindungen hielten den inneren Kreis der Mitarbeiter – Max Horkheimer, Friedrich Pollock, Erich Fromm, Leo Löwenthal, Herbert Marcuse, Otto Kirchheimer, Franz Neumann, Karl-August Wittfogel, Henryk Grossmann – und die dem Institut nahestehenden wie Theodor Wiesengrund (später Theodor W. Adorno), Siegfried Kracauer oder Walter Benjamin zusammen (vgl. Zeitschrift für Sozialforschung 1932). In seiner Antrittsvorlesung von 1931 stellte Horkheimer das Forschungsprogramm des IfS vor. Er entfaltete darin ein Idealprogramm einer holistischkollektiven Herangehensweise an die Erforschung der modernen Gesellschaft (vgl. Schneider 2014: 9-10). Mit der philosophisch-theoretischen Perspektive des dialektischen Materialismus, die der empirischen Forschung die Richtung wies, wollte Horkheimer Repräsentanten der Nationalökonomie, Soziologie, empirisch und naturwissenschaftlich ausgerichteten Sozialforschung, Psychologie, Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunst- und Medienkritik zu einer dauernden Arbeitsgemeinschaft zusammenfügen, die »anhand der feinsten wissenschaftlichen Methoden« die »aufs Große zielenden philosophischen Fragen« verfolgen sollte (Horkheimer 1931/1981: 41; vgl. Dubiel 1978: 149; Jay 1973/1996: 21, 25). Die materialistische Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse verknüpfte Horkheimer mit einer hegelianisch inspirierten dialektischen Philosophie, welche die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft reflektierte. Das philosophische Idiom des Instituts konstituierte sich aus der Grundannahme, die bürgerlichmoderne Gesellschaft sei von in sich widersprüchlichen Prozessen gekennzeichnet, und aus dem marxistischen Axiom von der Ungleichheit der Herrschaftsverhältnisse. Letzteres verknüpfte Horkheimer mit der Freudschen Psychologie. Ungleiche Herrschaftsverhältnisse ließen sich so als Ausformungen unterdrückter Triebhaushalte auffassen. Damit brachte er die drei Elemente »wirtschaftliches Leben der Gesellschaft«, »psychische Entwicklung der Individuen« und

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»Veränderungen auf den Kulturgebieten« in einen Zusammenhang (Horkheimer 1931/1981: 43; vgl. Dahms 1994: 45). Ziel dieser Herangehensweise war, einer »neutralen« und »bürgerlichen« Wissenschaft entgegenzuwirken und dafür die als das »unwahre« Ganze bezeichnete gesellschaftliche Totalität und die daraus hervorgehenden drängenden Fragen nach den sozialen Mechanismen und Ursachen für soziale Ungleichheit in der Gesellschaft kritisch zu erforschen (Dahmer 2014: 79-80). »Als letztes Ziel gilt danach die philosophische Deutung des Schicksals der Menschen, insofern sie nicht bloß Individuen, sondern Glieder einer Gemeinschaft sind.« (Horkheimer 1931/1981: 33) Der Produktion von sozialwissenschaftlichem Wissen musste nach Horkheimer eine mögliche Verbesserung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse durch dieses Wissen inhärent sein (vgl. Walter-Busch 2010: 47-52; Wiggershaus 1988/2008: 71). Diese erkenntnistheoretischen Grundlinien sind im Sinne Flecks als die aktiven Rückkoppelungen anzusehen, an welche die Wissenschaftler im Umfeld des IfS ihr wissenschaftliches Denken banden (vgl. Fleck 1935/1980: 124). In Frankfurt begannen die Mitarbeiter des Instituts, dieses Programm umzusetzen. Dabei handelte es sich sowohl um qualitative und medienästhetische Forschungen Adornos, Benjamins und Kracauers als auch um empirische Projekte, wie sie Fromm und Grossmann mit dem ersten empirischen Projekt des Instituts, der Arbeiter- und Angestelltenstudie von 1929 bis 1932, durchführten. Hierbei, wie Pollock später betonte, wandte das Institut auch Methoden an, die in den Vereinigten Staaten gängig waren, wie z.B. ausgefeilte Fragebögen (vgl. Abromeit 2011: 282, 215). Laut Horkheimer sollten die »veröffentlichten Statistiken, Berichte von Organisationen und politischen Verbänden das Material der öffentlichen Körperschaften« als empirische Basis der Arbeiter- und Angestelltenstudie dienen (Horkheimer 1931/1981: 44). Dann waren auch »Presse und Belletristik« zu durchforsten, um die psychische Lage der Arbeiter und Angestellten zu eruieren (ebd.). Darauf sollten die »verschiedenartigsten Enquêteverfahren« folgen, wobei die »Fragebogenmethoden auf mannigfache Weise in unsere Untersuchungen eingegliedert werden und wertvolle Dienste leisten, wenn man nur immer weiß, daß induktive Schlüsse aus ihnen allein voreilige sind« (ebd.). Laut Horkheimer war jede dieser Methoden für sich unzureichend, nur »sie alle zusammen können in Jahren geduldiger und ausgedehnter Forschungen vielleicht fruchtbar werden« (ebd.). Das IfS wurde durch eine Stiftung des Kaufmanns und Mäzens Felix Weil und seines Vaters Hermann Weil gegründet. Es war zwar Teil der Johann Wolfgang Goethe-Universität, blieb als Forschungsinstitut jedoch weitgehend autonom (vgl. Dahmer 2014: 77-78; Wiggershaus 2013: 57-58). Aufgrund der finanziellen Unabhängigkeit, die Felix Weil Horkheimer gewährte, existierte in

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Frankfurt für die Wissenschaftler des IfS keine Notwendigkeit, über den esoterischen Wissenskreis hinaus- und in den exoterischen hineinzuwirken. Die institutionelle Anbindung des IfS an die Universität Frankfurt war zwar wichtig, für dessen Existenz aber nicht notwendig (vgl. Walter-Busch 2010: 14-15).

Ü BERSETZUNGSPROZESSE INFOLGE DER E XILIERUNG : D IE A UFSPALTUNG DES HOLISTISCH - KOLLEKTIVEN W ISSENSCHAFTSKONZEPTS IN DEN V EREINIGTEN S TAATEN Im folgenden Abschnitt werde ich mit dem oben dargelegten analytischen Instrumentarium die verschiedenen Neukonfigurationen von Denkstil und Idiom des IfS, die mit dessen Exilierung eintraten, als unterschiedliche AkteurNetzwerke fassen. Mit dem Transfer des Instituts in die Vereinigten Staaten, bedingt durch die Verschiedenheit der deutschen und der amerikanischen Wissenschafts-, Sprach- und Nationalkultur, ereignete sich eine Aufspaltung des ursprünglichen in Frankfurt entwickelten Denkstils und Idioms in mehrere, auf unterschiedlichen Ebenen angelegte Akteur-Netzwerke. 1. Gruppierung und Koordination eines neuen deutsch-amerikanischen AkteurNetzwerks Horkheimer und seine Mitarbeiter hatten durch die empirischen Untersuchungen zur weltanschaulichen Haltung der deutschen Angestellten und Arbeiter erkannt, dass sich der Faschismus in Deutschland etablieren würde; die durch einen detaillierten Fragebogen bei deutschen Arbeitern und Angestellten zwischen 1929 und 1932 erhobenen Daten zeigten eindeutig, dass die befragten Personen dem Faschismus zuneigten.1 Horkheimer und seine engeren Mitarbeiter verließen Frankfurt frühzeitig. Nachdem Löwenthal Frankfurt als letzter Mitarbeiter verlassen hatte, wurde das IfS schließlich im März 1933 von der Polizei geschlossen. Adorno verblieb in Deutschland, da er durch die nationalsozialistischen Rassengesetzte als »Halbjude« eingestuft und noch nicht unmittelbar gefährdet war. Die nach wie vor bestehende finanzielle Unabhängigkeit des Instituts und Horkheimers Kontakte zu französischsprachigen Intellektuellen und Sozialwis-

1

Archivzentrum der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main (UBA Ffm), Na 1, 36, Bl. 216-217: Leo Löwenthal an Heinrich Meng vom 19.1.1937, hier: Bl. 216.

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senschaftlern ermöglichten ihm und seinen Mitstreitern, Zweigstellen des Instituts in Genf und Paris zu eröffnen (vgl. Wiggershaus 1988/2008: 147-153). In Genf arbeiteten Fromm und seine Mitarbeiter an einer neuen empirischen Studie, die den Zusammenhang von Autorität und Familie untersuchte. Durch die empirischen Daten, die von den politischen Tagesereignissen gewissermaßen bestätigt wurden, kamen die Mitarbeiter des IfS zu dem Schluss, dass der Faschismus als radikale Ausformung des Autoritarismus in ganz Europa auf dem Vormarsch war und keineswegs nur in spezifischen nationalen Kontexten auftrat (vgl. Jay 1973/1996: 37; Wiggershaus 2013: 79). Das Institut streckte seine Fühler nach den Vereinigten Staaten aus, von wo Fromm und Julian Gumperz, ein deutsch-amerikanischer Mitarbeiter des IfS, berichteten, dass die politische Lage besser sei (vgl. Jay 1973/1996: 38-40; Wiggershaus 1988/2008: 161-165). Zudem wird Horkheimer bekannt gewesen sein, dass die Sozialwissenschaften an den amerikanischen Universitäten der frühen 1930er Jahre stärker institutionalisiert waren als in Deutschland, wo die Sozialforschung in theoretischer Hinsicht unter der Vormundschaft der Nationalökonomie stand und methodisch von der Amtsstatistik geprägt war (vgl. Fleck 2007: 49, 186). Fromm und Gumperz nahmen Kontakt mit Sozialwissenschaftlern der Columbia University in New York auf, eine der hochangesehenen Eliteinstitutionen an der amerikanischen Ostküste, und konnten die Interessen des Präsidenten der Universität, Nicholas Murray Butler, und des Soziologen Robert Lynd am Institut wecken. Von der Angliederung des IfS an die Faculty for Political Science versprach sich Lynd eine disziplinäre Stärkung seines Wissenschaftsfelds (vgl. Ziege 2009: 86), denn Soziologie war an der Columbia University noch kein eigenständiger Fachbereich. Es bestand die Hoffnung, dass die Soziologie durch die Forcierung von Forschungen Aufschwung erfuhr, in denen neue empirische sozialwissenschaftliche Methoden zur Anwendung kamen. Zudem hatten die Soziologen der Columbia University in politischer Hinsicht eine tendenziell linksliberale Haltung (vgl. Steinmetz 2007: 324-327). Das Denkkollektiv des IfS ging also Allianzen mit amerikanischen Sozialwissenschaftlern der Columbia University ein. Drei Übersetzungen lagen dieser Allianzenbildung zugrunde. Zum ersten konnte Horkheimer die empirischen Sozialforschungen und die dafür angewandten Methoden zumindest auf rhetorischer Ebene in die Ansätze der amerikanischen Sozialforschung übersetzen, wobei anzumerken ist, dass diese Übersetzung aus Sicht der Columbia-Soziologen deshalb möglich war, weil sie glaubten, von der am IfS betriebenen Sozialforschung für den Ausbau ihres Fachgebiets an der Columbia University zu profitieren. Zudem brauchte die Columbia University kein Geld für das IfS aufzubringen, da das Institut finanziell unabhängig war. Zum zweiten handelte es sich um eine

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Übersetzung politischer Anschauungen. Die sozialkritisch-marxistischen Haltungen der IfS-Mitarbeiter konvergierten zwar nicht vollends mit den linksliberalen Einstellungen der Columbia-Soziologen. Doch der dem Geist des New Deal entsprungene linksliberale Reformwille Robert Lynds (vgl. Lynd/Lynd 1929/ 1965) ermöglichte partielle Konvergenzen zwischen Lynd und Horkheimer. Die dritte Übersetzung ist die humanistische Einstellung, der sich sowohl Horkheimer als auch Lynd verpflichtet fühlten und die ein die Wissenschafts-, Sprachund Nationalkulturen übergreifendes Element darstellte. Diese Einstellung forderte einerseits Hilfestellung für in Not geratene Wissenschaftler und Intellektuelle, andererseits verpflichtete sie die Sozialwissenschaftler zur Ausrichtung ihrer Forschungen auf eine bessere, gerechtere und demokratischere Gesellschaft. So schrieb Horkheimer kurz nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten an seinen Doktorvater und Habilitationsbetreuer Hans Cornelius, dass den amerikanischen Wissenschaftlern »zum grossen [sic] Teil die Skepsis und das grundsätzliche Misstrauen […] jedem neuen Gedanken« gegenüber fehle. »Während dort [in Europa, Anm. F.L.] der Glaube an einen möglichen Fortschritt zur Verbesserung der menschlichen Verhältnisse fast verschwunden ist, hat hier der Durchschnitt der Menschen den Willen zu einer immer vernünftigeren Einrichtung aller Verhältnisse und das Vertrauen darauf, dass es auch möglich ist, diesen Willen zu verwirklichen.«2 Ein entscheidender transatlantischer Übersetzer, der zur Verfestigung dieses deutsch-amerikanischen Akteur-Netzwerks beitrug, war der österreichische Sozialwissenschaftler Paul F. Lazarsfeld, der sich als Stipendiat der Rockefeller Foundation seit 1933 in New York aufhielt (vgl. Neurath 1988: 77-78). Lazarsfeld und Horkheimer kannten sich aus Kooperationen im Rahmen der empirischen Forschungsprojekte des IfS in den frühen 1930er Jahren. Zudem unterstützte Horkheimer Lazarsfeld bei dessen Emigration in die Vereinigten Staaten, die jener 1935 endgültig zu seiner Wahlheimat machte (vgl. Albrecht et al. 1999: 279-280).3 Als ausgewiesener sozialwissenschaftlicher Empiriker hatte sich Lazarsfeld einen Namen in New York gemacht und sprach sich für die Aufnahme des Instituts an der Columbia University aus (vgl. Wheatland 2009: 37-60; vgl. Oberschall 1981: 15; vgl. Fleck 2007: 110, 250). Er übersetzte den amerikanischen Soziologen, was sie sich unter der am IfS betriebenen Sozialforschung

2

UBA Ffm, Na 1, 10, Bl. 351-352: Max Horkheimer an Hans Cornelius vom 15.6.1934.

3

UBA Ffm, Na 1, 2, Bl. 281-283: Max Horkheimer an Raymond Aron vom 30.12.1936, hier: Bl. 281; UBA Ffm, Na 1, 31, Bl. 235: Max Horkheimer an Paul Lazarsfeld vom 16.5.1935.

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vorzustellen hatten, nämlich handfeste empirische Forschung, die den Anspruch hatte, zur Behebung sozialer Missstände beizutragen. Es lag also bereits ein in Europa etabliertes, wenn auch nur loses Akteur-Netzwerk vor, das sich mit der Ansiedlung des IfS in New York um amerikanische Entitäten – Personen, Forschungsansätze, politische Einstellungen – erweiterte. Nach der Übersiedlung des Instituts nach New York erfolgten zunächst geringfügige epistemische Veränderungen. Die weiterhin bestehende finanzielle Unabhängigkeit ermöglichte es dem IfS, die in Europa begonnenen Projekte fortzuführen und seine Zeitschrift für Sozialforschung, die mittlerweile beim Alcan-Verlag in Paris erschien, weiterhin in deutscher Sprache zu publizieren, gleichwohl amerikanische sozialwissenschaftliche Arbeiten rezipiert wurden (vgl. Jay 1973/1996: 114; Schmid Noerr 1988: 255-256). Erst 1939 änderte Horkheimer den Titel der Zeitschrift in Studies in Philosophy and Social Science und veröffentlichte Arbeiten von Emigranten und Amerikanerinnen und Amerikanern, wie Herta Hertzog, Lazarsfeld, Charles A. Siepman und Harold D. Lasswell. Während Horkheimer die in Europa begonnenen Projekte weiterführte, suchte Fromm den intellektuellen Austausch mit der amerikanischen Wissenschaftskultur, vor allem mit dem befreundeten Robert Lynd (vgl. Wheatland 2009: 65-78). Horkheimer, Löwenthal, Marcuse und andere – Adorno emigrierte erst 1938 nach New York und arbeitete dann zunächst für Lazarsfeld (vgl. Ziege 2009: 45) – waren auch verpflichtet, Kurse in englischer Sprache an der Columbia University abzuhalten, so Horkheimer 1937 über Authoritarian Doctrines and Modern European Institutions oder Neumann 1936/37 über den totalitären Staat. Dies stellte zwar ein sprachliches Problem dar, denn die Frankfurter Emigranten verfügten zu dieser Zeit noch über ein eher rudimentäres Englisch. Noch 1941 schrieb Horkheimer an Harold Laski in London, dass »it will take us some time before we are able to express our ideas adequately in English – that is to say in such a way that language per se conveys some of the meaning we hope to attach to it.«4 Inhaltlich jedoch schlossen die Kurse an die in Europa durchgeführten Studien an (vgl. Wheatland 2009: 357; Wiggershaus 1988/2008: 256). Es ist deutlich geworden, dass das neue deutsch-amerikanische AkteurNetzwerk auf eher oberflächlichen Konvergenzen beruhte, die, so liegt die Vermutung nahe, von einem partiellen gegenseitigen Unwissen über die wissenschaftlichen Ansätze und Praktiken des jeweils anderen Akteurs geprägt waren. Vielmehr beruhte dieses Akteur-Netzwerk auf einem Vertrauensverhältnis einerseits, zu dessen Zustandekommen der Übersetzer Lazarsfeld maßgeblich beige-

4

Max Horkheimer an Harold Laski vom 10.3.1941. Zitiert in: Horkheimer 1996, S. 1720, hier: S. 17-18.

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tragen hatte, auf einer wechselseitigen Profiterwartung andererseits. Der Grad der Gruppierung und Koordination dieses Akteur-Netzwerks war demnach niedrig (vgl. Callon 2006b/1991: 329). 2. Drei Akteur-Netzwerke: Ausweitung und Neukonfiguration des empirischsozialwissenschaftlichen Akteur-Netzwerks (1), Übersetzungen in die Öffentlichkeit und Erziehungspolitik (2), Beständigkeit des idiomatischphilosophischen Akteur-Netzwerks (3) Entscheidende Verschiebungen im epistemischen Gefüge des IfS erfolgten 1939/40. Pollock und Weil verloren bedeutende Teile des Kapitals des Instituts durch Fehlinvestitionen an der amerikanischen Börse. Als Reaktion auf den finanziellen Einbruch reduzierte Horkheimer den Personalbestand des Instituts auf ein Minimum (vgl. Wiggershaus 1988/2008: 257). Marcuse und Neumann gingen in den Staatsdienst, Fromm wurde entlassen. Zwischen Fromm und Horkheimer bestanden seit längerem epistemische Differenzen in Bezug auf den Umgang mit der Psychologie Freuds, was maßgeblich auf den Einfluss Adornos zurückging, der seit 1938 offizieller Mitarbeiter am IfS war. Adorno wandte sich vehement gegen die von Fromm in einem Aufsatz von 1935 geäußerte Kritik an Freuds »patrizentrisch-autoritärer« Einstellung Patienten gegenüber (Fahrenberg/Steiner 2004: 131). Außerdem hatte sich Fromm zunehmend von Freuds Libido-Theorie distanziert; für ihn waren individuelle und familiäre Bedingungen für die Herausbildung bestimmter Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen ausschlaggebender als gesellschaftliche Einflüsse, was Horkheimer als einen pseudo-naturwissenschaftlichen und metaphysischen Ansatz betrachtete (vgl. Fahrenberg/Steiner 2004: 132). Etwa zur selben Zeit führte die Columbia University eine Evaluation des IfS durch und kam zum Schluss, dieses solle seine Forschungsergebnisse dem amerikanischen Publikum im Rahmen größerer Publikationen zugänglich machen (vgl. Wheatland 2009: 72, 81-85; Ziege 2009: 25, 43-44). Die Vertreter der Universität legten Horkheimer nahe, das IfS mit Lazarsfelds Bureau of Applied Social Research an der Columbia University zusammenzulegen, um die Publikationstätigkeit durch die Zusammenarbeit mit dem umtriebigen Lazarsfeld zu intensivieren. Gleichwohl Horkheimer und Lazarsfeld bei empirischen Projekten zusammenarbeiteten, sah Horkheimer Lazarsfeld doch als Vertreter einer positivistischen Sozialwissenschaft, mit dessen Denkstil das IfS nicht vermengt werden sollte (vgl. Wheatland 2009: 86; Wiggershaus 2013: 165-173). Wie nachfolgend zu zeigen sein wird, bewirkten die Veränderung der ökonomischen Situation und die Brüche im Akteur-Netzwerk zwischen IfS und den

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Columbia-Soziologen die Bildung dreier neuer Akteur-Netzwerke. Das erste Akteur-Netzwerk bestand aus Allianzen zwischen dem IfS und zwei jüdischen Interessensverbänden, dem American Jewish Committee (AJC) und dem Jewish Labor Committee (JLC), und verschiedenen epistemischen Übersetzungsprozessen auf Ebene der empirischen Sozialforschung. Das zweite Akteur-Netzwerk war eng mit dem ersten verknüpft und umfasste Übersetzungen von sozialwissenschaftlichem Wissen in die Öffentlichkeit und demokratische Erziehungspolitik. Das dritte Akteur-Netzwerk war ein esoterisches, das bloß aus Horkheimer, Adorno, am Rande auch aus Pollock, und sozialphilosophischen Entitäten bestand. Es war relativ abgekoppelt von den anderen beiden Akteur-Netzwerken. Innerhalb dieses dritten Akteur-Netzwerks führten die philosophischen deutschen Idiome Horkheimers und Adornos ihre Existenz weiter. Akteur-Netzwerk 1: Starke Gruppierung und Koordination durch empirischsozialwissenschaftliche Konvergenzen: Der Verlust der ökonomischen Unabhängigkeit des Instituts und der Druck von Seiten der Columbia University hatten zur Folge, dass das IfS nun Forschungsgelder mobilisieren, sich also an die Strukturen der amerikanischen Sozialwissenschaften anpassen musste. Die Sozialwissenschaften in den Vereinigten Staaten wiesen folgende Charakteristiken auf: 1. Social Science bedeutete mehrheitlich empirische Sozialforschung, die statistisch oder mit quantitativen Methoden der Sozialpsychologie arbeitete; 2. Teilergebnisse der Forschungen mussten regelmäßig in entsprechenden Zeitschriften publiziert werden. So erwartete auch die Columbia University vom IfS vor allem die Publikation der Ergebnisse aus dessen empirischen Forschungsprojekten; 3. die Forschungen waren besonders stark auf die Unterstützung durch philanthropische Stiftungen wie die Rockefeller Foundation, die Carnegie Corporation oder die in den 1930er Jahren noch kleine Ford Foundation angewiesen (vgl. Berghahn 2004: 183-185). Um Geld einzuwerben, mussten Sozialwissenschaftler Anträge stellen, ihre Forschungsinteressen in die Interessen der Stiftungen übersetzen. Das Verhältnis zwischen Wissenschaftler und Forschungsgegenstand war in den Vereinigten Staaten demnach weit stärker von marktförmigen Strukturen bestimmt als in Deutschland (vgl. Albrecht et al. 1999: 73-74); 4. sozialwissenschaftliche Unternehmen waren in der Regel projektförmig angelegt, was eine Zusammenarbeit mehrerer Forscher und Institute und damit eine Einebnung hierarchischer sozialer Strukturen implizierte (vgl. Fleck 2007: 41-42, 229, 237-255). Die Voraussetzungen für solche Kooperationen zwischen Sozialwissenschaftlern, anderen Sozialwissen-

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schaftlern und Geldgebern waren Allianzen, die durch verschiedene Übersetzungsprozesse zustande kommen mussten. In epistemischer Hinsicht erfolgte die oben angedeutete Aufsplitterung des ursprünglichen deutsch-amerikanischen Akteur-Netzwerks durch das problematische Verhältnis der verbliebenen IfS-Mitarbeiter zur amerikanischen Sozialforschung. Das Grundproblem war die Sachlage, dass empirisch-statistisch arbeitende amerikanische Sozialforscher mit dem dialektisch-philosophischen und gesellschaftskritischen Idiom Horkheimers und seiner Mitarbeiter nicht konvergierten. Vielmehr hielten amerikanische Sozialwissenschaftler empirische Sozialforschung und Sozialphilosophie getrennt voneinander, eine holistischkollektive Herangehensweise an soziale Probleme unter Einnahme einer gesellschaftskritischen und dialektisch-philosophischen Position war kaum zu finden in den Vereinigten Staaten. Diese Problematik zeigte sich für Adorno schon seit 1938, als er bei Lazarsfelds Princeton Radio Research Project mitarbeitete. Gleichwohl er sich mit großem Interesse an die Arbeit machte, konnte oder wollte sich Adorno nicht an den dort herrschenden Denkstil anpassen. Lazarsfeld, ein studierter Mathematiker und erfahrener Mathematik- und Physiklehrer (vgl. Neurath 1988: 70), vertrat eine quantitativ orientierte Methodik empirischer Sozialforschung. Im Radio-Projekt ging es darum, Persönlichkeitstypen des Radiohörers durch die Analyse von dessen Hörgewohnheiten zu ermitteln, um einerseits die Hörerquoten transparent zu machen, andererseits die Auswirkungen des Radiohörens auf die Bevölkerung zu erforschen. An einer Reflexion und Kritik des Radiohörens und der Radiohörer waren Lazarsfeld und seine Mitarbeiter nicht interessiert, vielmehr ging es darum, Wissen zu generieren, das ökonomisch verwertet werden konnte (vgl. Bonß 2011: 238-239). Nebst den unterschiedlichen Zielvorstellungen existierten auch profunde methodische Differenzen zwischen Adorno und Lazarsfeld. Adornos Auffassung nach musste die Theorie die Techniken zur Erfassung der Meinung der Radiohörer leiten. Empirisch erhobene Fakten ohne eine im Vorfeld festgelegte theoretische Ausrichtung waren für ihn wertlos. Im Gegensatz dazu bildete Lazarsfeld seine Typen und Kategorien aus dem empirischen Material heraus, dies jedoch nicht begrifflichphilosophisch, sondern auf Basis verallgemeinerbarer quantitativer Ergebnisse. Für Horkheimer und damit für den Denkstil des IfS war jedoch im Marx’schen Sinne die Historisierung der Begriffe entscheidend, die induktiv-philosophisch und nicht quantitativ-deduktiv erarbeitet werden sollte. So kam es, dass nach zweieinhalbjähriger Tätigkeit am Radio-Projekt sich die Rockefeller Foundation, welche die Studie bezahlte, gegen eine Weiterbeschäftigung Adornos aussprach (vgl. Claussen 1999: 32; Fleck 2007: 276-277, 284-296, 330, 357; Wheatland 2009: 86).

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Es lagen also zunächst Übersetzungshindernisse vor, um ein stark gruppiertes und koordiniertes Akteur-Netzwerk zu etablieren. Diese Hindernisse überwanden Horkheimer und seine Mitarbeiter sehr bald; trotz der Abneigung gegen administrative research und Marktforschung (vgl. Fleck 2007: 50-64, 307-309), richtete Horkheimer Anträge empirischer Forschungsprojekte an die Rockefeller Foundation sowie an Organisationen wie das American Council for Learned Societies, so ein Projekt über Cultural Aspects of National Socialism, das in Kooperation mit Eugene Anderson und mit Hilfe eines Gremiums bekannter amerikanischer Wissenschaftler durchgeführt werden sollte.5 Hier zeigten sich Horkheimers Fähigkeiten als Akteur-Netzwerker; er konnte die Forschungsprojekte und methodischen Herangehensweisen so in die amerikanische Sozialforschung übersetzen, dass dadurch wichtige Allianzen mit amerikanischen Wissenschaftlern geschmiedet wurden. Zunächst hatte Horkheimer keinen Erfolg mit seinen Anträgen (vgl. WalterBusch 2010: 126; Jay 1973/1996: 169). Zwei private Stiftungen waren allerdings bereit, die empirischen Forschungen des IfS mitzufinanzieren, und zwar das AJC und das JLC. Horkheimer hatte in seinen Anträgen u.a. ein Thema vorgeschlagen, das die Institutsmitarbeiter bis dahin nur mit Fokus auf den europäischen Kontinent behandelt hatten, nämlich den Antisemitismus. Mitte der 1940er Jahre arbeitete eine ganze Reihe von amerikanischen Sozialforscherinnen und Sozialpsychologen zum Thema Antisemitismus (vgl. Ziege 2009: 177). Auch in England beschäftigten sich Sozialwissenschaftler mit sozialstrukturellen Analysen von Faschismus und Antisemitismus, um einer Festsetzung faschistischer Strukturen in der englischen Gesellschaft mit wissenschaftlichen Instrumenten entgegenzuwirken.6 Horkheimer übersetzte also eines der gängigen Themen der anglophonen Sozialforschung in die Forschungsagenda des IfS und hatte damit Erfolg. 1941 kündigte er ein Forschungsprojekt zu einer Typologie der antisemitischen Persönlichkeit in der letzten Ausgabe der Studies in Philosophy and Social Science an (vgl. Fleck 2007: 358). Eine weitere Projektidee umfasste ein Preisausschreiben, das in der Emigrantenzeitschrift Aufbau in New York veröffentlicht wurde und die Bevölkerung dazu aufforderte, in Briefen ihre persönli-

5

UBA Ffm, Na 1, 1, Bl. 83-88: Frederick Pollock an das American Council for Learned Societies vom 27.6.1941.

6

Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA Marbach), A Elias, No. 1494 (Mappe 4): Notizen Norbert Elias, undatiert [wohl 1940er und 1950er Jahre]: Redl XII: Compley group psychological pattern rather than escape into group psychological mysticism; Notizen Norbert Elias: Types of Leaders V: Agitator or Charismatic Leader; Notizen Norbert Elias, Leadership X.

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chen Erfahrungen mit dem NS-Antisemitismus zu schildern (Institute of Social Research 1944a). Die Studies in Antisemitism, die das IfS von 1943-1944 in Kooperation mit dem AJC durchführte, dienten schließlich als Pilotprojekt für die bereits geplanten umfangreicheren Forschungen zum Thema (Institute of Social Research 1944b). Die neuen Allianzen mit den amerikanisch-jüdischen Interessenverbänden ermöglichten es dem IfS, seine Verbindung mit der Columbia University 1944/45 zu lockern, bedeuteten aber gleichzeitig, dass sich die empirischen Forschungen nach den Wünschen und Bedürfnissen der Auftraggeber zu richten hatten (vgl. Wiggershaus 2013: 165-173). In diesem neuen Akteur-Netzwerk waren größere Übersetzungsbemühungen gefordert, weil einige Entitäten des AkteurNetzwerks, nämlich Horkheimer, seine Mitarbeiter und das von ihnen generierte empirische Wissen, in einer ökonomischen Abhängigkeit von anderen Entitäten, den Verhandlungspartnern beim AJC und JLC, standen. Die Frankfurter Sozialwissenschaftler bewegten sich auf einem schwierigen Terrain, auf dem zwischen administrative research im Stile Lazarsfelds und einer Erforschung eines gesellschaftlich hoch brisanten Problems mit sozialkritischem Impetus balanciert werden musste. Denn obwohl sich Horkheimer bei seinen Forschungsanträgen von marxistischen Ansätzen distanzierte, beabsichtigten er und seine Mitarbeiter nicht, auf eine kritische Interpretation des empirischen Materials zu verzichten. Die Lösung dieses Problems bot eine weitere Übersetzung: die marxistischdialektische kritische Theorie als Grundperspektive, von der Horkheimer und seine Mitarbeiter die sozialen Phänomene her interpretierten, musste in eine progressivere, am amerikanischen Glauben orientierte Richtung, dass wissenschaftliches Wissen im demokratischen Sinne zu einer besseren Gesellschaft führte (vgl. Westbrook 1991: XV, 319-373), übersetzt werden. Diese Übersetzung machte für Horkheimer und seine Mitarbeiter die gesellschaftskritische Erforschung des Antisemitismus möglich, der, so Horkheimer, »heute eine Lebensfrage für die jüdische Gemeinschaft in allen Ländern«7 geworden war. Gleichzeitig ließ diese Übersetzung Zugeständnisse an den politisch konservativen AJC zu, ohne dass die IfS-Mitarbeiter ihre kritischen Ansätze vollends hätten verleugnen müssen (vgl. Ziege 2009: 28, 69, 80-81, 234). Dennoch gingen mit dieser Übersetzung Transformationen der politischen Einstellung Horkheimers einher. Horkheimer konstatierte, dass die »bürgerliche Stellung der Juden in Amerika […] freilich nur behauptet werden [kann], wenn man dem Antisemitismus mit allen theoretisch und praktisch zu Gebote stehenden Mitteln zu Leibe

7

UBA Ffm, Na 1, 5, Bl. 29-34: Draft, Projektbeschreibung, Beilage zum Memorandum zum Antisemitismus-Projekt, undatiert (vermutlich Frühjahr 1940), hier: Bl. 29.

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rückt.«8 Das waren durchaus andere Worte als noch in Horkheimers 1939 erschienenem Essay Die Juden und Europa zu lesen waren. Dort hatte Horkheimer massive Kritik am Liberalismus und am Bürgertum geübt, das laut Horkheimer in seiner Vollendung nichts anderes als der faschistische Staat geworden war. Damit verbunden war auch eine Kritik am Denken und Verhalten der Juden, insbesondere derjenigen jüdischen Intellektuellen, die ins Exil geflüchtet waren: »Sie weinen der Vergangenheit viele Tränen nach. Dass es ihnen im Liberalismus besser ging, verbürgt nicht seine Gerechtigkeit.« (Horkheimer 1939/1988b: 323) Horkheimers Kritik zielte auf den Vernunftglauben der Juden, die nicht gesehen hätten, dass genau diese moderne Vernunft in den Faschismus umgeschlagen war. »Vernünftigkeit, die den spezifischen Verwertungsbedingungen auf der je erreichten Stufe zuwiderläuft, hat auch der jüdische Unternehmer für verstiegen oder subversiv gehalten. Diese Art von Rationalität wendet sich jetzt gegen ihn.« (Horkheimer 1939/1988b: 324) Tatsächlich handelte es sich bei diesen Vorgängen um drei Übersetzungen: Eine, oben bereits beschriebene epistemische Übersetzung, eine nun deutlich gewordene Übersetzung politischer Haltungen in Bezug auf bürgerlichen Konsens und Demokratie und eine Übersetzung der eigenen jüdischen Identität in die bürgerlich-jüdische Identitätspolitik des AJC, die eine Neukonfiguration der Selbstwahrnehmung Horkheimers, Pollocks und Adornos als Juden nach sich zog.9 Die im amerikanischen Exil aktualisierte und rekonfigurierte jüdische Identität vor allem Horkheimers wurde durch seine zahlreichen Hilfestellungen in Form von Geldbeträgen und Affidavits bekräftigt, die er näheren und weiteren jüdischen Wissenschaftlern und Verwandten auf der Flucht vor den Nationalsozialisten ausstellte.10 Erst das amerikanische Exil schuf das Bewusstsein, dem Judentum als der global verfolgten Minderheit per se anzugehören. 1944 fanden zwei große Tagungen zum Thema Antisemitismus statt, im Mai eine vom AJC in New York, Mitte Juni eine Tagung der Psychoanalytic Society in San Francisco. Zahlreiche amerikanische und emigrierte Sozialwissenschaftle-

8 9

Ebd., Bl. 30. Vgl. UBA Ffm, Na 1, 2, Bl. 327: Manfred George, Editor der Zeitschrift Der Aufbau an Max Horkheimer vom 5.12.1940; UBA Ffm, Na 1, 5, Bl. 29-34: Draft, Projektbeschreibung, Beilage zum Memorandum zum Antisemitismus-Projekt, undatiert (vermutlich Frühjahr 1940).

10 Vgl. stellvertretend UBA Ffm, Na 1, 7, Bl. 108: Max Horkheimer an Erwin Cahn vom 6.5.1940; Bl. 128: Max Horkheimer an Erwin Cahn vom 6.4.1940. Horkheimer stellte so viele Affidavits aus, dass er vom Generalkonsulat der Vereinigten Staaten als unglaubwürdiger Bürge angesehen wurde und keine Bürgschaft mehr leisten konnte.

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rinnen und Sozialwissenschaftler nahmen an den Tagungen teil, so auch Horkheimer. An diesen beiden Konferenzen schloss Horkheimer weitere Allianzen mit empirisch arbeitenden Sozialforschern und Sozialpsychologen. Denn mit dem Rauswurf Fromms war der empirisch arbeitende Zweig des IfS weggefallen. Horkheimer selbst betrieb vor allem philosophische Studien und hatte schon bei den empirischen Forschungen in Europa mehr als Steuermann agiert denn als praktischer Feldforscher (vgl. Abromeit 2011: 211). Pollock dirigierte zwar empirische Studien, arbeitete jedoch vornehmlich nicht mit quantitativen Methoden. Gleiches gilt für Adorno, der vor allem in qualitativ-interpretativer Soziologie und Philosophie geübt war. Umfangreiche empirische Projekte waren jedoch auf einen Stab von Feldforschern und wissenschaftlichen Assistenten angewiesen. So übersetzte Horkheimer seine Forschungsziele in die Forschungen amerikanischer Sozialwissenschaftler und Sozialpsychologen. Er rekrutierte Else FrenkelBrunswik und Nevitt R. Sanford von der University of California, Berkeley, die an der Psychologentagung ihre Pilotstudie über die antisemitische Persönlichkeit vorstellten. Beide Forscher arbeiteten später zusammen mit anderen Sozialwissenschaftlern an den umfangreichen empirischen Untersuchungen des IfS über antisemitische Einstellungen der amerikanischen Bevölkerung mit. Während Horkheimer vor allem Anträge schrieb und mit den Geldgebern verhandelte, betreuten Pollock und Adorno die Forschungsarbeiten. Adorno wertete auch weite Teile des umfangreichen empirischen Materials qualitativ aus.11 Horkheimer avancierte 1944 zum Research Consultant der wissenschaftlichen Abteilung des AJC, die als Schaltstelle für die Auswertung der empirischen Daten aus den Antisemitismusforschungen diente. Das Endprodukt dieses Projekts war die fünfbändige Publikationsreihe Studies in Prejudice, die 1949/50 auf dem amerikanischen Buchmarkt erschien (vgl. Ziege 2009: 175, 70) und aus der vor allem The Authoritarian Personality bekannt wurde. Die Feldforschungen für die vom JLC finanzierte Untersuchung Antisemitism among American Labor, an denen auch Leo Löwenthal beteiligt war, dauerten vom Frühjahr bis November 1944 und umfassten Erhebungen in New York, Philadelphia-Camden, Newark, kleineren Gebieten in Jew Jersey, Pittsburgh, Los Angeles, Detroit, San Francisco, Massachusetts, Maryland und Wisconsin. Methodisch gesehen war das Konzept der Attitude Surveys ausschlaggebend, ein Ansatz, den amerikanische Sozialwissenschaftler bereits um 1920 entwickelt hatten. Attitude meinte den »state of mind of the individual toward a value«. Mit

11 Vgl. UBA Ffm, Na 1, 10, Bl. 341-342: Max Horkheimer an Hans Cornelius vom 29.5.1947, hier: Bl. 341. Exemplarisch: UBA Ffm, Na 1, 61, Bl. 127-130: Max Horkheimer an Samuel H. Flowerman vom 13.3.1948, hier: Bl. 127.

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Fragebögen ermittelten die Feldforscher die Einstellungen der Bevölkerung, indem sie die Antworten durch Indices aufschlüsselten und in Skalen eintrugen. Beim Erstellen eines Index nach Lazarsfeld »wird zu einer bestimmten zu untersuchenden Dimension eine Zahl von – zumeist Verhalten messenden – Merkmalen festgelegt, und die Versuchspersonen erhalten dann für jeden Treffer einen Punkt. Die Gesamtpunktzahl ist der Indexwert.« (Fleck 2007: 400) In der Laborstudy kam zudem die sogenannte Gruppenmethode zur Anwendung, die erlaubte, die heikle Frage nach antisemitischen Einstellungen möglichst indirekt anzugehen (vgl. Jay 1973/1996: 226). Einzelne Arbeiter sollten mit ihren Kollegen Gespräche führen und die Ergebnisse auf standardisierten Protokollen festhalten. Hintergrund dieser Methode war die Absicht, die Hürden für ein freies Sprechen möglichst niedrig zu halten und affektive Äußerungen zu provozieren (vgl. Ziege 2009: 188-189). Ein Stab von vier Forschungsassistenten, zwei Sekretärinnen und 14 Mitarbeiterinnen stand mit den Interviewern in ständigem Kontakt. Insgesamt waren an der Laborstudy etwa 30 Mitarbeiter beteiligt. 4.500 Fragebögen wurden verteilt und 1000 Arbeiter als mögliche Interviewer angesprochen, von denen sich 500 dazu bereit erklärten, sich an den Erhebungen aktiv zu beteiligen. 270 davon reichten 613 verwertbare Protokolle ein. Die Grundidee solcher Interviews hatten Jahoda, Lazarsfeld, Felix und Zeisel Anfang der 1930er Jahre entwickelt (vgl. Ziege 2009: 189-190, 196-197). Bei den Untersuchungen zur Authoritarian Personality, bei denen die Befragungsgruppe auf amerikanische College-Studenten, Hausfrauen oder Handwerker ausgedehnt wurde, waren die methodischen Grundlegungen amerikanischer Psychologen und Sozialforscherinnen ausschlaggebend. Als eine Erweiterung des Skalierungsverfahrens, das in der amerikanischen Sozialforschung seit etwa 1940 zur Standardmethode gehörte, entwickelten Sanford und Levinson die erste Antisemitismus-Skala. Einstellungen und deren Intensität konnten Zahlenwerten zugeordnet, also vermessen werden. Die IfS-Mitarbeiter entwickelten infolge methodologischer Übersetzungen diese Ansätze weiter und reicherten sie mit qualitativen Verfahren an. Das wohl wichtigste Ergebnis dieser ›Übersetzungen‹ waren die Faschismus-Skala (F-Skala) und weitere Skalen zur Ermittlung »autoritärer Haltungen« (Ziege 2009: 174). Akteur-Netzwerk 2: Übersetzungen in die Öffentlichkeit und Erziehungspolitik: Die Transformation gesellschaftskritischen Denkens in eine progressive Orientierung sozialwissenschaftlichen Wissens eröffnete ein weiteres AkteurNetzwerk, das dem Akteur-Netzwerk 1 nahe stand, jedoch auf einer anderen Interaktionsebene angelegt war. Hierbei handelte es sich um Übersetzungen empi-

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rischen Wissens in demokratische Erziehungspolitik, was Kommunikation mit Vertretern von Institutionen der Öffentlichkeit, so Gewerkschaftsfunktionären, Vertretern der jüdischen Interessensverbände oder einfachen Gewerkschaftsmitgliedern umfasste. Horkheimer, Pollock und Adorno praktizierten diese Übersetzungsarbeit vor allem im Rahmen der Laborstudy, indem sie z.B. vor Gewerkschaftsversammlungen sprachen und einem sozialwissenschaftlich ungeschulten Publikum ihr empirisch erhobenes Wissen nahe brachten (vgl. Ziege 2009: 192193). Horkheimer meinte 1939, je »nach Stiftungen oder Privatpersonen, [müssen] die Projekte natürlich mit spezifischen Mantelnoten versehen [werden], die viel populärer und direkter gehalten sind als die Entwürfe selbst.« Denn »die Wissenschaft [existiert] hier zu Lande nicht wie in Europa aus Staatsmitteln, sondern aus privaten Quellen« oder »vom kunstgerechten Bettel«.12 Die Übersetzungen von sozialwissenschaftlichem Wissen in die Interessen von Erziehungspolitikern und Akteuren öffentlich-rechtlicher Institutionen zogen demnach wiederum Transformationen von Wissen nach sich, die im Sinne Ludwik Flecks als eine Popularisierung bezeichnet werden können, da diese Übersetzungen von der engeren Sozialwissenschaft in weitere gesellschaftliche Sphären hineingetragen wurden (vgl. Fleck 1935/1980: 148-163). Die Studies in Prejudice waren nicht zuletzt deshalb ein Sensationserfolg in den Vereinigten Staaten, weil Horkheimer zusammen mit dem AJC intensive Öffentlichkeitsarbeit betrieb und so für die Verbreitung des darin enthaltenen sozialwissenschaftlichen Wissens sorgte. Akteur-Netzwerk 3: Ein esoterisches Akteur-Netzwerk durch schwache Konvergenzen mit der amerikanischen Philosophie und sozialwissenschaftlichen Theorie: Horkheimer hatte schon in den frühen 1930er Jahren eine umfassende Arbeit über dialektische Logik geplant. Dieses genuin philosophisch konzipierte Werk verfolgte er im amerikanischen Exil weiter. Als er 1939 den Personalbestand des IfS reduzierte, begann Horkheimer intensiver mit Adorno zusammenzuarbeiten und gewichtete dadurch immer stärker die Philosophie als ausschlaggebende Wissenschaft für seine kritische Theorie der Gesellschaft (vgl. Abromeit 2011: 336-341). Die Etablierung des ursprünglichen deutsch-amerikanischen AkteurNetzwerks und seine Rekonfiguration in die beiden stark gruppierten und koordinierten Akteur-Netzwerke 1 und 2, Tätigkeiten, die einen großen Einsatz von

12 Max Horkheimer an Katharina Hirsch vom 14.7.1939; Max Horkheimer an Clara und Siegfried Kander vom 6.3.1941. Zitiert in: Ziege 2009: 152-153.

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Zeit und Energie in administrative Arbeit erforderten, verhinderten allerdings zunächst ein vertieftes Arbeiten an diesem Projekt. Erst nachdem Horkheimer intensiver mit Adorno seine dialektische Philosophie zu diskutieren begann und nachdem beide samt ihren Frauen nach Pacific Palisades in Kalifornien umgezogen waren, etablierte sich dieses dritte Akteur-Netzwerk, bestehend aus Horkheimer, Adorno, am Rande auch Pollock, und den philosophisch-dialektischen Entitäten, die im Rahmen der gemeinsamen Diskussion entstanden (vgl. Abromeit 2011: 302, 394-395).13 Die Ergebnisse dieses Akteur-Netzwerks waren die Dialektik der Aufklärung Horkheimers und Adornos und die Monographie Eclipse of Reason, die Horkheimer allein veröffentlichte. Beide Bücher erschienen 1947. Weiter zu erwähnen ist die Aphorismen-Sammlung Minima Moralia Adornos, die 1951 auf dem deutschen Buchmarkt erschien, und soziale Problemlagen aufgriff, mit denen Adorno im amerikanischen Exil konfrontiert war. Horkheimers und Adornos philosophisch-dialektische Idiome konvergierten so stark, dass daraus ein esoterisches Akteur-Netzwerk entstand. Dieses MiniAkteur-Netzwerk war gegenüber den Entitäten der Außenwelt relativ abgeschlossen. Grund dieser Abschließung war vor allem, dass keine Übersetzungen in die gängigen philosophisch-sozialtheoretischen Entitäten der Vereinigten Staaten stattfanden, sondern vielmehr Abstoßungen zwischen Horkheimers und Adornos philosophisch-dialektischen Entitäten und den Ansätzen der amerikanischen Philosophie und Sozialtheorie festzustellen sind. In theoretischer Hinsicht waren die amerikanischen Sozialwissenschaften in den 1930er und 1940er Jahren ausgesprochen heterogen. Zum einen waren sie bestimmt vom positivistisch-gesetzesorientierten Behaviorismus, zum anderen vom Strukturfunktionalismus Talcott Parsons, der seinerseits Max Webers Idealtypen mit der handlungsorientierten Rational Choice Theory und dem amerikanischen Pragmatismus William James’, Charles S. Peirces und John Deweys verkoppelt hatte (vgl. Bannister 2003: 344-348; Haney 2008: 71-74; Wagner 1981: 205-206). Hinzu kamen interpretierend-ideografische Ansätze von Charles Horton Cooley oder Howard P. Becker und kulturanthropologische, oft eng an die Biologie angelehnte Untersuchungen, wie sie z.B. George Herbert Mead praktizierte. Weiter zu erwähnen sind die ethnologisch-strukturfunktionalistischen Arbeiten von Bronislaw Malinowski und Alfred Radcliffe-Brown, die in den Vereinigten Staaten intensiv rezipiert wurden (vgl. Steinmetz 2007: 316-339; Hartmann 2003: 49-99, 57). Eine wichtige erkenntnistheoretische Strömung, die zu einem großen Teil von Emigranten aus Europa repräsentiert und in den Ver-

13 UBA Ffm, Na 1, 1, Bl. 33: Max Horkheimer an Franz Alexander vom 22.9.1938.

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einigten Staaten weiterentwickelt wurde, war der logische Empirismus Wiener Prägung. In vier Aufsätzen, von denen Traditionelle und kritische Theorie (1937) besonders hervorzuheben ist, formulierte Horkheimer eine Kritik am angloamerikanischen Rationalismus und an der Geschichtslosigkeit und Statik des logischen Empirismus, denn ohne historisches Bewusstsein war für Horkheimer die Formulierung einer den gegenwärtigen Gesellschaftsverhältnissen adäquaten Sozialtheorie nicht möglich.14 Nach Horkheimer machten die logischen Empiristen mit ihrem Glauben an eine nomologische Struktur des Erkennens nichts anderes, als eine neue Metaphysik zu schaffen, die letztlich den Phantastereien völkischer Vitalisten in nichts nachstand (vgl. Horkheimer 1937/1988a; s. a. Abromeit 2011: 301-321; Jay 1973/1996: 82-83). Der Positivismus hatte für Horkheimer »das Dogma von der Unwandelbarkeit der Naturgesetze« und den »Glauben an die Möglichkeit eines abschließenden Systems« zu einer »metaphysischen These« erhoben (Dahms 1994: 57). In Eclipse of Reason, die erst 1967 unter dem Titel Zur Kritik der instrumentellen Vernunft in deutscher Sprache erschien, führte Horkheimer seine Kritik weiter und konzentrierte sich dabei insbesondere auf den amerikanischen Pragmatismus. Diese »subjektive Philosophie« besaß laut Horkheimer keinen objektiven Standpunkt dafür, was gut und was schlecht war. So würde der Pragmatismus zwangsweise dem jeweils herrschenden Politiksystem in die Hände spielen, gleichgültig, ob es sich dabei um den Faschismus oder die totale Technokratie der kapitalistischen Welt handelte (vgl. Horkheimer 1967/2007: 22-23, 55-75, 89-90). Deshalb war für Horkheimer der Pragmatismus keine Philosophie, die auf Vernunft im Sinne von Wahrheit ausgerichtet war, sondern auf Vernunft im Sinne von Utilitarismus und Instrumentalisierung des Denkens. Die einzige Möglichkeit, einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken, war sowohl für Horkheimer (ebd.: 101, 165, 196-206) als auch für Adorno (1951/2003b: 42) der autonome, non-konformistische Intellektuelle, der die Freiheit des Denkens noch nicht aufgegeben hatte. Gleichwohl Horkheimers Eclipse of Reason in englischer Sprache verfasst war, wies das Buch wenige Konvergenzen mit philosophischen und theoretischen Ansätzen der Vereinigten Staaten auf, sondern formulierte ausschließlich eine Kritik am philosophischen Denken der Amerikaner. Dennoch war der Grundton des Buchs durchaus progressiv, da Horkheimer auf eine Verbesserung der herrschenden desolaten Lage des philosophischen und theoretischen Denkens in den Vereinigten Staaten abzielte. Im Gegensatz dazu waren Dialektik der

14 Max Horkheimer an Friedrich Pollock vom 9.6.1943. Zitiert in: Wiggershaus 1988/2008: 383.

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Aufklärung und Minima Moralia in deutscher Sprache abgefasst und beinhalteten eine ausgesprochen pessimistische Botschaft. Horkheimer und Adorno fassten im Vorhinein eine auch nur sprachlich-formale Übersetzung gar nicht erst ins Auge (vgl. Jay 1973/1999: 46-49).15 Vielmehr stilisierte vor allem Adorno seit 1941 das Werk als »Flaschenpost«, was auf den esoterischen Charakter der darin enthaltenen Gedanken hindeutet (vgl. Schmid Noerr 1988: 253). In der Dialektik der Aufklärung versuchten Horkheimer und Adorno zu zeigen, dass die Aufklärung die bürgerliche Emanzipation und zugleich die Selbstzerstörung des Bürgertums losgetreten hatte. Diese Entwicklung führte nicht in teleologischem Sinne in die unabweisbare Vernichtung der bürgerlichen Welt, resultierte aber doch in der unwahrscheinlichen Errettung derselben (vgl. Horkheimer/Adorno 1947/2008: 7). Das Buch stellte nichts weniger als eine geschichtsphilosophisch orientierte Anthropologie dar, denn Horkheimer und Adorno ließen diese dialektische Entwicklung des Menschen bereits in der Antike, wenn nicht gar in grauer Urzeit beginnen (ebd.: 51; vgl. Abromeit 2011: 425432; Jay 1973/1996: 258-266). Die Selbstzerstörung des bürgerlichen Liberalismus erfolgte durch dessen Pervertierung im Faschismus, eine Entwicklung, die Horkheimer und Adorno sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten auf dem Vormarsch sahen. Mit dieser geschichtsphilosophisch-anthropologischen Perspektive schrieben sie eine Fundamentalkritik an der Moderne schlechthin, an deren westlich-demokratischen, faschistischen wie auch sowjetischen Varianten, und verwischten dabei die Grenzen zwischen deutschem Faschismus, Sowjetkommunismus und der Konsum- und Massenkultur in den Vereinigten Staaten. Adorno ging in der Minima Moralia noch weiter, indem er meinte, dass »der Gedanke, daß nach diesem Krieg das Leben ›normal‹ weitergehen oder gar die Kultur ›wiederaufgebaut‹ werden könnte – als wäre nicht der Wiederaufbau von Kultur allein schon deren Negation« idiotisch sei. »Millionen Juden sind ermordet worden, und das soll ein Zwischenspiel sein und nicht die Katastrophe selbst.« (Adorno 1951/2003b: 61-62) Diese spekulative und pessimistische Geschichtsphilosophie wies keinerlei Konvergenzen mit theoretischen Arbeiten in den amerikanischen Sozialwissenschaften und der Philosophie auf.

15 Vgl. die Hinweise auf amerikanische Reaktionen auf Adornos Denk- und Schreibstil bei Jay 1999: 46-49. Allgemein kann festgehalten werden, dass das IfS nur wenige Publikationen in den angesehenen amerikanischen Zeitschriften für Soziologie, Politische Wissenschaft oder Philosophie unterbrachte (vgl. Ziege 2009: 50, 180). Siehe auch die starke Verhaftung von Adornos Denken in der deutschen Sprache (vgl. Adorno 1945/2003c).

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3. Das Wechselverhältnis zwischen den parallel laufenden Akteur-Netzwerken: Epistemische Widersprüche Diese drei Akteur-Netzwerke existierten nicht in getrennten Sphären, empirische Forschungen, erziehungspolitische Tätigkeiten und theoretisch-geschichtsphilosophische Arbeiten standen in einem Wechselverhältnis (vgl. Ziege 2009: 101102). Allerdings war dieses Wechselverhältnis von epistemischen Widersprüchen begleitet. Aus dem Briefwechsel zwischen Horkheimer und Adorno geht hervor, dass die beiden Sozialwissenschaftler Lazarsfeld für dessen »affirmative« Haltung kritisierten, die ihrer Meinung nach auf die Reproduktion und Bestätigung der gesellschaftlichen Zustände hinauslief. Zugleich aber suchte Horkheimer für die Umsetzung der empirischen Projekte die Zusammenarbeit mit eben solchen Forscherinnen und Forschern aus dem Umkreis des Wiener Positivismus, die empirische Sozialforschung in den Vereinigten Staaten betrieben, so Käthe Leichter, Maria Jahoda oder Herta Herzog. Ähnliches gilt für das Verhältnis von Kritik am amerikanischen Pragmatismus und Behaviorismus und der fruchtbaren Zusammenarbeit mit amerikanischen Sozialpsychologen aus Berkeley, so mit R. Nevitt Sanford und Daniel J. Levinson, die genau solche theoretischen und methodischen Ansätze vertraten (vgl. Fleck 2007: 381-382; Ziege 2009: 48-49; Jay 1973/1996: 239). Diese Widersprüche legitimierte Horkheimer zwar mit den erzwungenen Anpassungen an die herrschenden Produktions- und Machtverhältnisse im amerikanischen Wissenschaftsfeld. Epistemisch standen sie aber in einem tiefen Widerspruch zueinander. Inhaltlich stand der Band von Bettelheim und Janowitz über Dynamics of Prejudice der Reihe Studies in Prejudice z.B. den Grundannahmen des kritisch-philosophischen Denkens Horkheimers entgegen, vertraten die beiden Autoren doch eine dreifache Affirmation der herrschenden Verhältnisse in Familienstrukturen, was den Ergebnissen von Fromms empirischen Studien aus den frühen 1930er Jahren deutlicher nicht widersprechen konnte. Horkheimer erkannte und kritisierte diesen Sachverhalt zwar, setzte jedoch keine inhaltlichen Änderungen durch (vgl. Ziege 2009: 239-241). In den beiden großen empirischen Projekten zur Erforschung von autoritären Haltungen und Antisemitismus, der Studie Anti-Semitism among American Labor (unpubliziert) und der im Rahmen der Studies in Prejudice durchgeführten Untersuchung der Authoritarian Personality, behielten sich Horkheimer, Pollock und Adorno die Position vor, die empirischen Forscher anzuleiten, um diese »research-Hengste« und »research-Stuten« (Adorno) vor einem kritiklosen »Drauflosdenken« zu bewahren (Ziege 2009: 200, 224). Das empirische Wissen sollte qualitativ ausgewertet werden, indem vor allem Adorno die Fakten

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unter Einnahme einer kritischen Perspektive interpretierte. Adornos Ansicht nach war seine dort angewandte Methode »a phenomenology based on theoretical formulations and illustrated by quotations from the interviews«, die zum Ziel hatte, »to exploit the richness and concreteness of ›live‹ interviews to a degree otherwise hardly attainable« (Wiggershaus 1988/2008: 463). Adornos origineller Beitrag bestand in der Anhebung des empirischen Wissens auf eine kritischtheoretische Ebene durch ideengeschichtliche und kritisch-psychologische Interpretationen des empirischen Materials. Ziel der Forschungen war, eine Typologie der »autoritären Persönlichkeit« zu entwickeln (Fleck 2007: 402-404). Allerdings blieb die beabsichtigte Verstrebung von empirischer, Indices- und Skalenbasierter Typenbildung mit kritisch-theoretischer Typisierung unsystematisch. Denn Adorno streute spekulative Annahmen über die psychodynamischen Wurzeln des Antisemitismus in die typologischen Schemas der empirischen Indikatoren ein, folgte also weder Max Webers Idealtypen noch Lazarsfelds quantitativempirischer Typenbildung und vermischte dabei Real- mit Idealtypen. Hinzu kam, dass er die methodologische Grundlegung seiner Typologie stetig veränderte (vgl. Fleck 2007: 408, 414-415). Weitgehend unklar blieb daher die Frage, wie der Typ der authoritarian personality vom »faschistischen« abzugrenzen war; Adorno und die anderen Autorinnen und Autoren verwendeten diese Bezeichnungen teilweise synonym.16 Diese beispielhaften Episoden zeigen, dass Übersetzungen der einzelnen Entitäten in andere Entitäten der drei Akteur-Netzwerke im Sinne von Querverstrebungen ausgesprochen schwierig waren. Dies galt insbesondere für die Entitäten zwischen dem gesellschaftlich stark gruppierten und koordinierten AkteurNetzwerk 1 und dem bloß auf den inneren Kern des IfS reduzierten, jedoch dort nicht minder stark gruppierten und koordinierten Akteur-Netzwerk 3. 4. Neu entstandenes Wissen und neue Praktiken aus den drei AkteurNetzwerken: Universalisierung des Faschismus und demokratische Erziehung als Dispositionen für die Rückkehr nach Westdeutschland Die F-Skala fand in den 1950er Jahren weite Verbreitung an amerikanischen Universitäten, was Horkheimer und seinem Institut eine beträchtliche Reputation einbrachte (vgl. Walter-Busch 2010: 131-134; Ziege 2009: 84, 252-259, 267268). Das IfS erschien als ein erfolgreiches und finanziell gut gestelltes Forschungsinstitut, das Projekte unter Anwendung der neuesten amerikanischen sozialwissenschaftlichen Methoden durchführte. Diese Außenwahrnehmung war

16 So auch die Kritik von Edward Shils (vgl. Jay 1973/1996: 247).

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ein Grund dafür, weshalb Vertreter der Universität Frankfurt, der Stadt Frankfurt und des Hessischen Kultusministeriums Horkheimer im Oktober 1946 anfragten, ob das IfS nicht nach Frankfurt zurückkehren wolle (vgl. Boll 2013: 346; Drummer/Zwilling 2009: 18). Das Institut mit seiner internationalen Reputation erschien den Frankfurter Professoren und Politikern als ein ausgezeichnetes Instrument, um den Ruf der Goethe-Universität wiederherzustellen (vgl. Wiggershaus 2013: 170, 186). Gleichwohl das Wissen, das den drei unterschiedlichen Akteur-Netzwerken entsprang, zahlreiche epistemische Widersprüche aufwies, konvergierten die von Horkheimer, Pollock und Adorno daraus abgeleiteten Interpretationen in zwei entscheidenden Punkten: Zum einen in der Erkenntnis, dass autoritäre Haltungen, Faschismus und Antisemitismus nicht als spezifisch deutsche oder ausschließlich europäische Phänomene anzusehen waren, sondern Elemente waren, die in allen modernen Gesellschaften latent vorhanden waren. Die »autoritäre Persönlichkeit« war eine anthropological species, die sich durch Psychopathologien, die in falschen gesellschaftlichen Entwicklungen wie der Monopolisierung des Kapitals gründeten, herausgebildet hatte (Ziege 2009: 57-58, 270-271). Autoritäre Einstellungen und der daraus abgeleitete Faschismus waren Krankheiten der Moderne. Zum anderen in Bezug auf demokratische Erziehungspolitik: die Frage war nicht, ob Faschismus und Antisemitismus von Grund auf verhindert, sondern wie diese Elemente soweit eingedämmt werden konnten, dass sie nicht zum Ausbruch kamen. Grundlegende Mechanismen einer solchen Eindämmung waren christlich-demokratische Erziehung und Bildung. Wie nämlich die Laborstudy gezeigt hatte, war die Bereitschaft, sich antisemitischen und rassistischen Stereotypen zu entziehen, bei den befragten Arbeitern merklich größer, wenn die Arbeiter über einen relativ hohen Bildungsgrad verfügten und eine moralisch christliche Erziehung genossen hatten (vgl. Ziege 2009: 211, 214-215). Dass der Ausbruch von antisemitischen Regungen durch verstärkte Bildung und demokratische Erziehung verhindert werden konnte, war eine Grundüberzeugung für Horkheimer, Pollock und Adorno, in den späten 1940er Jahren nach Frankfurt zurückzukehren: »teaching in Europe during the coming years would indeed offer me the possibility of taking a real part in the case of democratic education«,17 wie Horkheimer 1948 meinte. Horkheimer war sich zudem schon 1941 im Klaren darüber, dass, falls die Vereinigten Staaten den Krieg für sich entschieden,

17 UBA Ffm, Na 1, 26, Bl. 293: Max Horkheimer an Fritz Karsen vom 17.9.1948.

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Experten gebraucht würden, die sich mit den europäischen sozialen Verhältnissen auskannten und bei der demokratischen Erziehungspolitik mithalfen.18 Konvergenzen zwischen den drei Akteur-Netzwerken, die eine Rückkehr nach Deutschland vielversprechend erscheinen ließen, ergaben sich vor allem aus Akteur-Netzwerk 1 und 2. Akteur-Netzwerk 3 stand mit seinen geschichtsphilosophischen und anthropologischen Entitäten abgekoppelt da, bis auf den Punkt, dass faschistische Haltungen kein deutsches Spezifikum waren, womit eine Teilkonvergenz mit den anderen beiden Akteur-Netzwerken vorlag. Es kündigten sich hier also mögliche Übersetzungen der Entitäten aus den drei Akteur-Netzwerken in die westdeutsche Wissenschafts-, Sprach- und Nationalkultur an.

Z WEI STARK GRUPPIERTE UND KOORDINIERTE A KTEUR N ETZWERKE DURCH VIELFÄLTIGE K ONVERGENZEN : A MERIKANISCH - DEUTSCHE Ü BERSETZUNGEN Wie oben gezeigt, spaltete sich im amerikanischen Exil das ursprüngliche deutsch-amerikanische Akteur-Netzwerk in drei verschiedene, parallel zueinander existierende Akteur-Netzwerke. In jedem dieser Akteur-Netzwerke bildeten sich Kopplungspunkte heraus, die eine erfolgversprechende Übersetzung ihrer je eigenen Entitäten in neue Allianzen in Westdeutschland versprachen, nachdem Max Horkheimer Frankfurt erstmals 1948 besucht und die Lage in Westdeutschland erkundet hatte (vgl. Kingreen 2009). Hierbei handelt es sich um die folgenden Entitäten: Akteur-Netzwerk 1: Mit den Methoden und Techniken der amerikanischen Sozialforschung konnten in Deutschland die empirischen Arbeiten weitergeführt werden, die das IfS in den Vereinigten Staaten bekannt gemacht hatten. Die empirische Sozialforschung war wichtig für den Aufbau eines neuen und demokratischen Deutschlands, weil sie die Einstellung der Bevölkerung hinsichtlich ideologisch-politischer Haltungen ermitteln konnte. Angesichts der von den amerikanischen Besatzern angestrebten Installierung demokratischer Politik und Kultur in Westdeutschland und der anzunehmenden Kontinuität nationalsozialistischen Denkens in der deutschen Bevölkerung stand Horkheimer klar vor Augen, dass in Westdeutschland solche Studien Relevanz hatten. Dieses Bewusstsein war maßgeblich durch die Mitarbeit Neumanns, Marcuses und Kirchheimers im Research and Analysis Branch (R&A) des Office of Strategic Services (einer Vor-

18 Max Horkheimer an Herbert Marcuse vom 24.12.1941. Zitiert in: Schmid Noerr 1988: 254.

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gängerorganisation des amerikanischen Geheimdienstes, während des Zweiten Weltkriegs) geprägt worden. Die Forschungsergebnisse über Kontinuitäten von NS-Ideologemen und die Neuerziehung der Deutschen, die der intellektuelle Kriegseinsatz der ehemaligen IfS-Mitarbeiter erbrachte, werden Horkheimer nicht verborgen geblieben sein, zumal Pollock ebenfalls für die R&A gearbeitet hatte (vgl. Laudani 2013: 14-15, 22). Methodische und technische Übersetzungen von der amerikanischen in die westdeutsche Wissenschaftskultur erschienen als gute Möglichkeit, die eigene Forschungstätigkeit zu legitimieren und zum Aufbau einer demokratischen Wissenschaftskultur in Westdeutschland beizutragen. Akteur Netzwerk 2: In Westdeutschland und besonders in Frankfurt als Sitz des High Commissioner of Germany (HICOG) erschien Horkheimer, Pollock und Adorno das Eintreten für die demokratische Erziehung der Studenten vielversprechend. Aus Sicht der amerikanischen Besatzungsbehörden und deutscher Politiker eigneten sich die beiden Sozialphilosophen für solche Erziehungsaufgaben besonders gut, weil sie einerseits einen deutsch-jüdischen kulturellen Hintergrund hatten, andererseits durch ihr Exil in den Vereinigten Staaten amerikanische und demokratische Werte repräsentierten. Deshalb wurden sie von amerikanischer Seite unterstützt und konnten damit rechnen, dass sie sich für eine bestimmte Zeit nicht um die Akquisition von Forschungsmitteln kümmern mussten (vgl. Walter-Busch 2010: 131-134).19 In den Vereinigten Staaten dagegen war Horkheimer im Rahmen der empirischen Forschungsprojekte dazu gezwungen gewesen, laufend Gelder vom AJC zu mobilisieren und sich an die eng gesetzten Vertragsbedingungen zu halten. Horkheimers Strategie der Verzögerung und des Versprechens von Forschungsergebnissen, die noch gar nicht vorhanden waren, war ein Vabanquespiel mit dem AJC, das relativ hohe Risiken barg und eine latente Unsicherheit erzeugte (vgl. Fleck 2007: 363, 373-375, 388, 393, 397; Ziege 2009: 159-160). Eine Rückkehr nach Frankfurt bot in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, im öffentlichen Raum als engagierte Intellektuelle zu wirken, die erziehungspolitisches Orientierungswissen für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft bereitstellten. Für die IfS-Mitglieder war das Engagement in demokratischer Erziehungspolitik deshalb so entscheidend, weil sie im demokratischen Staat die einzige politische Struktur sahen, die den Faschismus zumindest im Zaum halten könnte. Horkheimer und Adorno gingen davon aus, dass nationalsozialistische Ideologeme nun in der westdeutschen Demokratie weiterleben würden, was sie umso gefährlicher machte und weshalb sie von denen bekämpft werden mussten, die diese Zusammenhänge und Ent-

19 Bis etwa 1953 war der HICOG der wichtigste Geldgeber des IfS.

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wicklungen verstanden. Die Erfahrung, in einem Land gelebt zu haben, dessen Bevölkerung demokratische Werte und demokratisches Verhalten stärker inkorporiert hatte als in Deutschland, darf hierbei nicht unterschätzt werden (vgl. Claussen 2006: 9; Jay 1999: 53); diese bürgerlich-demokratische Haltung war ein Resultat der in Akteur-Netzwerk 1 erfolgten politischen und kulturellen Übersetzungen. Die im Zusammenhang mit diesen Übersetzungen zu sehende Abkehr von marxistischen Überzeugungen war in den späten 1940er Jahren auch mit strategischen Überlegungen vor allem Horkheimers verbunden, denn die Kommunistenhetze im Rahmen des McCarthyismus in den Vereinigten Staaten und der ausgeprägte Antikommunismus in Westdeutschland radikalisierten sich in den frühen 1950er Jahren und mussten Horkheimer an nationalsozialistische Verfolgungspraktiken politisch, religiös und ›rassisch‹ Missliebiger erinnert haben (vgl. Herbert 2014: 669). Akteur-Netzwerk 3: Ein intellektuelles Wirken in Westdeutschland versprach die Möglichkeit, die kritische Theorie weiterzuführen. Es war zu erwarten, dass das philosophische Idiom Horkheimers und Adornos bei deutschen und insbesondere bei Frankfurter Intellektuellen, Wissenschaftlern und Studierenden auf stärkere Resonanz stoßen würde als in den Vereinigten Staaten (vgl. Demirović 1999: 433), da in Deutschland Hegels dialektische Philosophie weit höher geschätzt wurde als in den anglophonen Ländern, wo sich spätestens seit dem Ersten Weltkrieg viele Philosophen gegen Hegels Metaphysik ausgesprochen und dafür die analytische Philosophie bevorzugt haben (vgl. Dubnov 2012: 123-124, 132-133, 138). Die Voraussetzung für die Rückkehr nach Frankfurt waren demnach vielfältige Möglichkeiten der Übersetzung derjenigen Praktiken, welche sich die IfSMitarbeiter im Rahmen der drei in den Vereinigten Staaten etablierten AkteurNetzwerke angeeignet hatten. Diese Praktiken konnten auf eine solche Weise in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft übersetzt werden, dass sie dem IfS ein hohes Maß an symbolischem Kapital einbrachten. Die transatlantische Neubildung von Allianzen und die epistemischen Übersetzungsleistungen des IfS, die um 1950 ihren Anfang nahmen, standen im Zusammenhang mit der Ausrichtung der westlichen Sozialwissenschaften auf die Formierung eines demokratischen intellektuellen »Westblocks« im frühen Kalten Krieg (vgl. Albrecht et al. 1999: 171-172; Guilhot 2007: 453). Sozialwissenschaftliches Wissen, das zu Kriegszeiten in den Vereinigten Staaten und in England der Analyse faschistischer Regime gedient hatte, stand nach 1945 im Dienst demokratischer und liberaler Erziehungspolitik, die dezidiert gegen den sowjetischen ›Totalitarismus‹ gerichtet war. So pries Horkheimer den amerikanischen Besatzungsbehörden und westdeutschen Politikern das IfS als »consultant office for the most pressing political

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and social questions of West Germany« an (Wiggershaus 1988/2008: 480). Die Wissenschaftspraxis und Erziehungsarbeit Horkheimers, Pollocks und Adornos versprach amerikanischen Besatzungsbehörden, hessischen Bildungspolitikern und Frankfurter Lokalpolitikern die intellektuelle Legitimation einer transatlantischen demokratisch-liberalen Allianz. Im Prozess dieser deutsch-amerikanischen Übersetzungen erfolgte eine Veränderung der drei in den Vereinigten Staaten etablierten Akteur-Netzwerke: Die Entitäten aus Akteur-Netzwerk 2 und Akteur-Netzwerk 3 konvergierten soweit, dass sie zu einem neuen Akteur-Netzwerk verschmolzen, das als kritischphilosophisch-erziehungspolitisches Akteur-Netzwerk bezeichnet werden kann. 1. Akteur-Netzwerk 1: Methodische Übersetzungen und wissenschaftspolitische Legitimation des IfS Die empirischen Projekte zur psychisch-mentalen Lage der Deutschen, die das IfS in den 1950er Jahren in Frankfurt durchführte, waren ausschlaggebend für die Etablierung des Instituts im westdeutschen Wissenschaftsfeld nach seiner offiziellen Wiedereröffnung 1951. Von entscheidender Bedeutung war dabei die beabsichtigte methodische Modernisierung der deutschen Sozialwissenschaften, die Horkheimer durch die Anwendung der »highest developed empirical research methods of the modern American social sciences« ins Werk setzen wollte (Wiggershaus 1988/2008: 480). Das erste empirische Großprojekt war das »Gruppenexperiment«. Das Projekt sollte die politisch-ideologischen Haltungen der Westdeutschen gegenüber demokratischer Politik vermessen, um der Reeducation-Politik eine zuverlässige Wissensbasis zu verschaffen. Wie Pollock formulierte, wollte das IfS »die transsubjektiven Faktoren« identifizieren, die sich in der politischen Meinung und den ethischen Einstellungen des westdeutschen Individuums manifestierten (Gruppenexperiment 1955: 34). Horkheimer, Pollock und Adorno transferierten dabei die methodischen Herangehensweisen aus den amerikanischen Forschungsprojekten nicht einfach nach Westdeutschland, vielmehr nahmen sie spezifische methodische Übersetzungen vor, um sie auf die ideologischen, politischen und ökonomischen Problemlagen der westdeutschen Gesellschaft anwendbar zu machen. Diese Übersetzungen sollten in Zusammenarbeit mit deutschen Sozialwissenschaftlern vorgenommen werden. Akteur-Netzwerk 1 wurde demnach um westdeutsche Entitäten erweitert, was die Voraussetzung einer amerikanisch-deutsch-jüdischen Allianzenbildung war. Unmittelbar nachdem das Institut seine Arbeit in Frankfurt aufgenommen hatte – zunächst in einer provisorischen Unterbringung, ab 1951 dann in einem neu errichteten Gebäude –, lud

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Horkheimer Sozialwissenschaftler der Universität Frankfurt und anderer westdeutscher Universitäten und Meinungsforschungsinstitute ans IfS ein, um gemeinsam neue Methoden für empirische Forschungsprojekte in Westdeutschland zu diskutieren. Hierbei sollten amerikanische Forschungstechniken nicht einfach von den westdeutschen Soziologen übernommen, sondern an die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Umstände im nachkriegszeitlichen Westdeutschen angepasst werden; die amerikanischen Forschungtechniken wurden demnach in die westdeutschen sozialwissenschaftlichen Praktiken übersetzt. Die Grundsatzfrage war, so Heinz Sauermann von der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt, wie die Einstellungen der Menschen zu den Dingen zu ergründen seien. Horkheimer meinte, man müsste versuchen, »die Menschen in einer Situation zu sehen, wo sie sich so natürlich wie möglich geben«, wobei er darauf verwies, dass die Gruppendiskussionen in den Vereinigten Staaten mehrheitlich im Rahmen künstlich geschaffener Kommunikationsräume stattgefunden hatten. Dies galt es nun zu vermeiden. Es sollte, so Sauermann, eine bestimmte Diskussionsatmosphäre geschaffen werden, um die ehrliche Meinung aus den Befragten herauszukitzeln.20 Zu diesem Zweck entwickelte die Gruppe die Idee, einen Grundreiz zum Einsatz zu bringen. Das Verfahren, das beim »Gruppenexperiment« schließlich angewendet wurde, den interviewten Gruppen einen fingierten Bericht eines amerikanischen Offiziers mit dem fiktiven Namen Colburn auf einem Tonband abzuspielen und dadurch die Gruppensitzungen anzufachen, ging auf die Diskussionen zwischen deutschen Sozialwissenschaftlern – Sauermann, Ludwig Neundörfer, Gerhard Wurzbacher – und Horkheimer und Adorno zurück (vgl. Klingemann 2014: 491-492).21 Allerdings setzten Horkheimer, Pollock und Adorno nicht alle angestrebten Übersetzungen erfolgreich um. Ein nach ihrer Rückkehr nach Frankfurt großes Anliegen war die Übersetzung einer gekürzten Version der Authoritarian Personality in deutscher Sprache, was zunächst eine Studentengruppe wenig erfolgreich versuchte zu leisten und 1952/53 dann von Ernst von Schenck vorgenommen wurde.22 Obwohl Max Graf Solms anbot, den Band in seine Reihe

20 Archiv des Instituts für Sozialforschung (Archiv IfS), S 1: Tagungen 1950-1961, Ordner 1: 1950-1952, Besprechung am 28. und 29. Juni (Protokoll von Fr. Bühler, 1950?), Bl. 1-19, hier: Bl. 7. 21 Ebd., Bl. 9. 22 Archiv IfS, F 1 / 40-60: Studies in Prejudice, Nr. 58: Aktennotiz vom 10.1.1951; stellvertretend Ernst von Schenck an Helmut Plessner vom 30.10.1952.

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aufzunehmen,23 kam die Publikation des Buchs nicht zustande. Erst 1968 erschien eine stark gekürzte Fassung von The Authoritarian Personality in zwei Bänden (Adorno et al. 1968/1969). 1973 schließlich gab Ludwig von Friedeburg eine durchgesehene, korrigierte, jedoch gleichermaßen stark gekürzte Fassung der Studie unter dem deutschen Titel Studien zum autoritären Charakter beim Suhrkamp Verlag heraus (vgl. Adorno 1973). Die Gründe für die nicht erfolgte Publikation einer Übersetzung des ganzen Buchs werden wohl darin zu sehen sein, dass Horkheimer, Pollock und Adorno befürchteten, die Deutschen könnten darin eine Möglichkeit sehen, ihre NS-Vergangenheit zu entsorgen, wenn sie sehen würden, dass Antisemitismus und Rassismus auch in der amerikanischen Vorzeigedemokratie stark ausgeprägt waren. Das IfS wollte keine falschen Zeichen setzen. So verweist auch die bereits um 1950 verwendete deutsche Bezeichnung »autoritärer Charakter« auf eine höhere sozialpsychologische Abstraktionsstufe, die weiter vom konkreten Individuum wegführte als der Begriff personality dies implizierte. Dies kann als Indiz dafür gesehen werden, dass für den hier spezifischen Fall Übersetzungen von einer Wissenschafts-, Sprach- und Nationalkultur in die andere mit politischen und vor allem erziehungspolitischen Implikationen verbunden waren, die mitunter eine vollständige Übersetzung verhinderten. Übersetzungsprobleme ergaben sich auch in der Praxis. Adorno, der mit Pollock zusammen die empirischen Forschungen im Rahmen des »Gruppenexperiments« konzeptionell betreute, strebte wie schon in den Vereinigten Staaten eine Zusammenführung von quantitativ erhobener empirischer Datenbasis und kritisch-qualitativer Auswertung an.24 Die Daten aus den empirischen Feldforschungen sollten in einen Sinnzusammenhang gestellt werden, an welchem sich die »qualitativen Monographien« orientierten. Wieder zeigte sich die Diskrepanz zwischen Adornos philosophisch-phänomenologischer Typenbildung des »autoritären Charakters« und den empirisch fassbaren Typen von Einstellungen. Die von Adorno veranlassten laufenden Umarbeitungen, Erweiterungen oder Änderungen der verschiedenen Skalen und der Kriterien für die quantitative Auswer-

23 Archiv IfS, F 1 / 40-60: Studies in Prejudice, Nr. 58: Theodor W. Adorno an Max Graf Solms vom 1.10.1952. 24 Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950-1961, Ordner 1: 1950-1952: Protokoll der Sitzung vom 1. März 1957: Zum Verhältnis von Soziologie und empirischer Sozialforschung. Anwesende: Prof. Adorno, Dr. Dahrendorf, Dr. v. Friedeburg, Prof. Gunzert, Dr. Habermas, Prof. Lieber, Dr. Noelle-Neumann, Dr. Popitz, Prof. Stammer, Bl. 1-29, hier: Bl. 24-25.

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tung wirkten sich weiter erschwerend auf die Forschungspraxis aus.25 Ausschlaggebend für dieses Verfahren war Adornos Kritik an den empirischen Methoden. Nach Adorno nahm sich der Komplex des Antisemitismus durch die geringen Zahlen bei den Kategorien für antisemitische Äußerungen harmloser aus als in der qualitativen Analyse, denn beim Coden – damit war die Zuordnung der Antworten der Befragten zu vorher festgelegten Kategorien gemeint – wurden die antisemitischen Äußerungen in mehr Kategorien aufgeteilt als die prosemitischen. »Ferner ist anzunehmen, dass eine große Zahl von Äußerungen, die in letzter Instanz als antisemitische angesehen werden müssen, in den Rubriken ›Sonstiges‹ verschwunden sind.« Bestimmte Kategorien des Scoring Manuals – das ist die Anleitung für die Bildung eines Gesamtpunktwerts – waren Adornos Ansicht nach zu eng gefasst, was eine unnötig hohe Zahl von Äußerungen von einer typologischen Zuschreibung ausschloss. Für Adorno verzerrte die quantitative Methode die empirische Faktenlage. Eine adäquate Beurteilung des quantitativen Materials sei eigentlich nur denjenigen möglich, so Adorno, die den Vorgang des Codens aus eigener Erfahrung kennen würden.26 Adorno artikulierte demnach eine grundlegende Kritik an den empirischen Forschungsmethoden, nämlich dass sie unreflektiert die technische Apparatur über das eigenständige Denken setzten, was eine philosophisch-kritische Kontrollperspektive obsolet machte. Allerdings verfügte Adorno nicht über das Wissen, eine wirklich interdisziplinäre Methodologie zu konzipieren, in der philosophisch-kritisches Denken den Forschungstechniken den Weg wies. Die von Adorno schon 1944 als »fetischistische Apparatur«27 bezeichneten empirischen Forschungsmethoden, also die formale Konzeption der Fragebögen, die Auswahl der Samples (Stichproben) und das Lochkarten-Verfahren, blieben sowohl Adorno als auch Horkheimer letztlich verschlossen. Die Frage, »[w]ie soll man ›Ideologien‹ in research terms fassen?«, wie also eine Übersetzung von qualitativ erarbeiteten Kategorien in die quantitativ-statistische Analyse vornehmen, blieb ohne befriedigende Antwort. Auch das Verfahren, jedem Teilprojekt einen »anthropologischen Teil« anzuheften, konnte über die methodischen Probleme nicht hinweg-

25 Vgl. stellvertretend Archiv IfS, Projekte 2 (6): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Interview Schema für Einzel-Interviews, 4.1.1950, Bl. 1-2. 26 Archiv IfS, Projekte 2 (1), Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Bericht über die Sitzung vom 8.7.1952: S. 1-2: Thema: Gruppenstudie, quantitativer Teil und Termine, anwesend: Adorno, Gretel Adorno, Osmer, Beier, Freedman, v. Hagen, Koehne, Dr. Maus, Sardemann, Schmidtchen, Dr. Sittenfeld, hier: S. 1. 27 Theodor W. Adorno an Max Horkheimer vom 30.12.1944. Zitiert in: Ziege 2009: 259.

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täuschen.28 Die sich bereits in den Vereinigten Staaten herausgebildete Abkopplung von Akteur-Netzwerk 1 und Akteur-Netzwerk 3 blieb demnach in Westdeutschland bestehen. Wie schon in den Vereinigten Staaten war das IfS darauf angewiesen, mit einem wechselnden Stab von Forschungsassistentinnen und Feldforschern zusammenzuarbeiten, die in Statistik und sozialpsychologischen Methoden geschult waren oder zumindest eine hohe Lernbereitschaft zeigten, sich die amerikanischen Methoden anzueignen. Auch an diesem Punkt mussten die amerikanischen Ansätze in die Praktiken der in Deutschland sozialisierten Sozialwissenschaftler übersetzt werden. Die deutschen sozialwissenschaftlichen Empiriker hatten mehrheitlich in statischen Ämtern und städtischen Verwaltungen, akademischen Sozialforschungsinstituten und in der Meinungsforschung gearbeitet. Auch hier zeigte sich das Weiterbestehen des gespaltenen Verhältnisses Horkheimers und Adornos zur empirischen Sozialforschung. Obgleich die kritischen Theoretiker den Forschungsstil der Meinungsforscher und Statistiker kritisierten, hob Adorno an einer Tagung von 1951 über empirische Sozialforschung das demokratische Potential der Meinungsforschung hervor, das die Nationalsozialisten ausgenutzt und pervertiert hätten (vgl. Adorno 1952/2003a: 478-480). Horkheimer, Pollock und Adorno war bewusst, dass Sozialwissenschaftler im NS-Regime Meinungsforschung und statistische Vermessungen von Bevölkerungsgruppen betrieben hatten (vgl. Klingemann 2009: 19-21). Einige der Forschungsassistenten und Feldforscherinnen, die nun an den empirischen Projekten des IfS beteiligt waren, hatten direkt oder indirekt für NS-Organisationen gearbeitet (vgl. Klingemann 2014: 488-493). Horkheimer hatte schon früh geäußert, dass ihm eine Zusammenarbeit mit jungen Wissenschaftlern, die seiner Ansicht nach nicht anders konnten, als am NS-Staat zu partizipieren, wenn sie im akademischen Feld weiterkommen wollten, lieber sei, als mit den zynischen Professoren der älteren Generation zu kooperieren (vgl. Kingreen 2009: 31-32). Die im Rahmen des Akteur-Netzwerks 1 geleisteten methodischen Übersetzungen waren demnach mit erziehungspolitischen Übersetzungen verbunden, nämlich dergestalt, dass die deutschen Sozialwissenschaftler durch die Praxis empirischer Sozialforschung demokratisch erzogen werden sollten. Bereits bei seiner Wiedereröffnung 1951 rekrutierte das IfS Diedrich Osmer, der sich auf diese Forschungstechniken spezialisieren sollte, und stellte 1956 Rudolf Gunzert als zweiten Direktor des Instituts ein. Gunzert war Statistiker und ehemaliges NSDAPMitglied, der im NS-Regime demografische Studien und Statistiken erstellt hat-

28 Archiv IfS, Projekte 2 (1), Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Entwurf, 2.10.1952, Staff Meeting Gruppenstudie, und Plessner, v. Schlauch: S. 1-4, hier: S. 1-2.

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te. Zusammen mit Ludwig von Friedeburg, der selbst ein in psychologischen Methoden ausgebildeter Sozialwissenschaftler war, blieb er bis 1977 Direktor des IfS.29 Als Kooperationspartner wählte das IfS unter anderem das Institut für Demoskopie in Allensbach, das in den 1950er und frühen 1960er Jahren als Zufluchtsort von Sozialwissenschaftlern galt, die für NS-Organisationen gearbeitet hatten oder ehemals überzeugte Nationalsozialisten waren.30 Diese deutschen Forscher vertraten keine explizit amerikanischen methodischen Ansätze, sondern hatten ihr Handwerk während der nationalsozialistischen Herrschaft erlernt. Dass hier ein Übersetzungsprozess zustande kam, der auf praktisch-methodischer Ebene Allianzen zwischen zurückgekehrten Exilanten und ehemaligen NSKollaborateuren zur Folge hatte (vgl. Klingemann 2009: 19-22), war dadurch bedingt, dass Sozialwissenschaftler im NS-Regime die methodischen Entwicklungen in anderen Ländern durchaus wahrgenommen und rezipiert hatten. Weil statistische Methoden in der Regel internationalen Standards folgten, konnten sie über die Grenzen der Wissenschafts-, Sprach- und Nationalkulturen hinweg mehr oder weniger problemlos miteinander kombiniert werden (vgl. Rammstedt 1986: 133-134). Das im amerikanischen Exil gebildete Akteur-Netzwerk 1 wurde demnach um deutsche Akteure und deren Entitäten – Forschungstechniken, Befragungsmethoden, Auswertungsprinzipien – erweitert, wodurch sich starke Allianzen zwischen den zurückgekehrten Emigranten des IfS und ›dabeigewesenen‹ deutschen Sozialwissenschaftlern bildeten. Diese Allianzen sollten sich für die Etablierung nicht nur des IfS, sondern einer empirisch ausgerichteten Soziologie im nachkriegszeitlichen Westdeutschland insgesamt als grundlegend erweisen (vgl. Weischer 2004). 2. Das neue kritisch-philosophisch-erziehungspolitische Demokratische Erziehungspolitik und kritische Theorie

Akteur-Netzwerk:

In den frühen 1950er Jahren fanden Horkheimer und Adorno nahezu keine Zeit für die Arbeit an ihren dialektisch-philosophischen Projekten. Horkheimer war mit Universitätsgeschäften und seinem wissenschafts- und erziehungspolitischen

29 Universitätsarchiv Frankfurt am Main (UAF), Abt. 154, Nr. 100, Bl. 50-52: Dr. Rudolf Gunzert, Lebenslauf, Frankfurt am Main, 22.12.1953, Bl. 50; Bl. 56-58: Spruchkammer Heidelberg, Aktenzeichen 59/1/5376 4266, 15.4.1947. 30 Archiv IfS, P 14, Bundeswehr, Akte 1.1: Entwurf eines Auswahlplans für das Projekt Auswahlstudie vom 15.2.1953, Bl. 1-2. Zur Leiterin des Allensbacher Instituts Elisabeth Noelle-Neumann vgl. Noelle 1940: 63, 67, 94.

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Engagement in Frankfurt ausgelastet, Adorno leitete die empirischen Projekte des IfS. Dennoch entfaltete die kritische Theorie eine Wirkung in Westdeutschland, die in den Vereinigten Staaten nicht erfolgt war, und zwar durch zwei Übersetzungsprozesse. Der eine Übersetzungsprozess war der Einbau kritischphilosophischer Entitäten in die demokratische Öffentlichkeitsarbeit. Dies umfasste Universitätsreden, die vor allem Horkheimer bestritt, Radiosendungen, TV-Interviews und Beiträge in Bildungszeitschriften. Die Direktoren des IfS demonstrierten der deutschen Öffentlichkeit, dass ihr Institut für demokratische, moderne und gegen den ›Totalitarismus‹ gerichtete Werte einstand (vgl. Albrecht et al. 1999: 206-208). Für Horkheimer bestand die Erziehung oder Selbsterziehung der deutschen Universität in »einer Ethik der wissenschaftlichen Tätigkeit« im Sinne einer wahrheitsethischen und vernunftgeleiteten Verpflichtung, die es den Universitätsangehörigen nicht mehr erlauben würde, »ihr Wissen als wertfrei zu verstehen, so dass sie als bloße Techniker politisch beliebig instrumentalisierbar wären, sondern sie vielmehr veranlassen, sich reflexiv auch als Mitglieder eines freien, rechtsstaatlichen Gemeinwesens zu verstehen« (Demirović 1999: 124). Stärker noch als Horkheimer übersetzte Adorno sein aus der Minima Moralia und der 1955 erschienenen Essaysammlung Prismen generiertes kritischphilosophisches Wissen in die zahlreichen Fernsehauftritte, Radiosendungen und Aufsätze in Bildungszeitschriften. Dieses Wissen stellte Orientierungswissen für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft bereit, indem es durch seine Übersetzung in die Öffentlichkeit einen bestimmten Modus der innerdeutschen Selbstreflexion, aber auch der Kritik an der Konsumkultur der Vereinigten Staaten anrührte.31 Adorno propagierte eine emanzipatorische Bildungspolitik, die durch die Aneignung einer antiautoritären und nonkonformistischen Einstellung das Selbstbewusstsein der Deutschen als Individuen stärken sollte (vgl. Schmid Noerr 2008: 30-31). Er profitierte hierbei von seinen Erfahrungen mit dem Medium Radio in den Vereinigten Staaten und wurde bei dieser Arbeit vom HICOG unterstützt. Die amerikanischen Besatzungsbehörden übten in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren eine mehr oder weniger vollständige Kontrolle über alle Publikationen, Nachrichten und Veranstaltungen im öffentlichen Raum und in der Bildungspolitik aus und arbeiteten mit deutschen Intellektuellen, Professoren, Publizisten und Künstlern zusammen, die demokratische Werte durch Ge-

31 So die öffentlichen Vorträge Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit? (Vortrag vor dem Koordinierungsrat für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit im Herbst 1959) und Erziehung nach Auschwitz (Vortrag im Hessischen Rundfunk, gesendet am 18.4.1966) (vgl. Adorno 1970: 10-28, 88-107).

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spräche und Vorträge der westdeutschen Öffentlichkeit vermittelten (vgl. Boll 2004: 6-7, 11). Remigranten wie Adorno erschienen als zuverlässige Helfer für die Demokratisierung der Deutschen, denn die Erziehungsarbeit sollte nicht von den Amerikanern den Deutschen aufoktroyiert, sondern von Deutschen selbst betrieben werden (vgl. Boll 2004: 11). In dieser Hinsicht ist insbesondere die Zusammenarbeit zwischen Horkheimer und Adorno mit dem schon seit den 1930er Jahren dem Institut vertrauten Walter Dirks hervorzuheben, der 1956 die Kulturabteilung am Westdeutschen Rundfunk übernahm (vgl. Boll 2004: 176). Die Stadt Frankfurt spielte eine zentrale Rolle, da hier Radio Frankfurt und die Frankfurter Hefte angesiedelt waren, die bereits vor der Rückkehr Horkheimers, Pollocks und Adornos eine rege Demokratisierungspolitik gefördert hatten (vgl. Adorno 1950; Albrecht et al. 1999: 83-87, 124, 229-232). Zu diesen Medien der Übersetzung gehörte auch der Suhrkamp-Verlag, der zum Hausverlag vor allem Adornos wurde. Besonders Adorno verkörperte im Laufe der 1950er und 1960er Jahre die Figur des kritischen Intellektuellen, der in der Öffentlichkeit eine starke Wirkung entfaltete. Der philosophisch-kritische, zugleich weltfremd scheinende und esoterisch redende Intellektuelle war eine Rolle, die Adorno in den Vereinigten Staaten nicht mit Erfolg spielen konnte, die aber für die Etablierung einer bestimmten Wert- und Erziehungsvorstellung in der jungen Bundesrepublik von großer Bedeutung war. Nur in Westdeutschland, besonders aber in Frankfurt, vermochte Adorno sein philosophisches Idiom dergestalt zu entfalten, dass sich dieses sozialphilosophische Wissen zu Orientierungs- und Deutungszwecken eines neuen demokratischen Westdeutschlands verwenden ließ (vgl. Schneider 2011). Begünstigt wurde dieser Übersetzungsprozess durch Adornos Vernachlässigung der marxistischen Entitäten der kritischen Theorie zugunsten einer in den 1950er Jahren gängigen Kulturkritik. Auch Horkheimer war in den frühen 1950er Jahren darum bemüht, die marxistischen Entitäten seines theoretischen Denkens nicht an die westdeutsche Öffentlichkeit dringen zu lassen, indem er die Neuauflage seiner theoretischen Arbeiten verhinderte. Er wollte nicht mehr als marxistischer Sozialphilosoph gelesen werden, was einerseits sicher seiner damaligen Haltung entsprach, andererseits mit strategischen Überlegungen verbunden war, denn marxistische Ansichten mussten aufgrund des antikommunistischen demokratischen Konsenses zwischen Westdeutschland und den Vereinigten Staaten einer erfolgreichen Karriere im westdeutschen Wissenschaftsfeld abträglich sein (vgl. Albrecht et al. 1999: 83). Die andere Übersetzung fand vornehmlich im Kreis der Studierenden statt. Hierbei handelte es sich um die dialektisch-philosophischen, zugleich aber auch pessimistischen Entitäten, die Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung, Horkheimer in Eclipse of Reason und Adorno in der Minima Moralia

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und den Prismen veröffentlicht hatten. Wichtigste Entität war die gesetzte Annahme, dass die gesamte zeitgenössische Massenkultur Ideologie sei (vgl. Demirović 1999: 453). Diese Entität wurde mit philosophischen und soziologisch-marxistischen Entitäten aus den Seminaren Horkheimers und Adornos zu Hegel oder zu Max Weber, Durkheim oder Veblen verbunden (vgl. Demirović 1999: 441-478). Bei diesen Übersetzungen ging es darum, bei den insbesondere in der Soziologie immer zahlreicheren Studierenden »eine bestimmte Form der Intellektualität zu verankern, nämlich die des nonkonformistischen, gesellschaftskritischen Intellektuellen« (ebd.: 429, 437). Ein besonderes Anliegen hierbei war, Pädagogen zu gesellschaftskritischem Denken anzuregen, da die Schule als wichtigster Ort einer Demokratisierung der deutschen Bevölkerung angesehen wurde. Es fand also eine weitere Übersetzung statt, und zwar eine wechselseitige: einerseits von den kritischen Theoretikern in die intellektuellen Einstellungen der Studierenden, dass sie trotz Auschwitz die Hoffnung auf ein demokratischeres Westdeutschland aufrechterhalten sollten. Andererseits übersetzten die Studierenden ihre Erwartungen in Adorno, Horkheimer und Pollock, dass die enge Bindung an die nach Deutschland zurückgekehrten jüdischen Intellektuellen eine Verarbeitung der eigenen Vergangenheit und derjenigen Deutschlands ermöglichte. Gerade das enge Bündnis zwischen Adorno und seinen Schülern »basierte letztlich auf einer unaussprechlichen Schuld: der des Überlebenden und der imaginierten der ›Kinder der Täter‹« (Schneider 2011: 123). Zusammenfassend ist deutlich geworden, dass der erfolgreichen Etablierung des IfS in Westdeutschland in den 1950er Jahren zwei stark gruppierte und koordinierte Akteur-Netzwerke zugrunde lagen. Mit ihren Tätigkeiten innerhalb dieser beiden Akteur-Netzwerke banden Horkheimer und Adorno nicht nur die Interessen der amerikanischen Besatzungsbehörden an sich, sondern auch diejenigen westdeutscher Politiker, Sozialwissenschaftler und Studierender. Sahen die einen im IfS eine Institution, die der demokratischen Reeducation der deutschen Bevölkerung diente, bedeutete die Rückkehr des Instituts für die anderen ein willkommenes Instrument für die Verdeckung und Verdrängung der eigenen Vergangenheit. Der Erfolg der in den 1960er Jahren als ›Frankfurter Schule‹ bekannten Direktoren des IfS beruhte zu einem großen Teil auf den im Laufe der 1950er Jahre stabilisierten und robusten Übersetzungsleistungen innerhalb der beiden Akteur-Netzwerke, die aus Max Horkheimer und den IfS-Mitarbeitern, amerikanischen Besatzungsbehörden, westdeutschen und Frankfurter Politikern und Sozialwissenschaftlern, Vertretern des Hessischen Kultusministeriums, den Studenten, insbesondere derjenigen der Pädagogik, und den sozialphilosophischkritischen sowie den empirisch-sozialwissenschaftlichen Entitäten bestanden.

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S CHLUSS : S CHWACH UND S TARK G RUPPIERTE A KTEUR -N ETZWERKE UND DIE G RENZEN KULTURELLER Ü BERSETZUNG Die Bildung, Veränderung und Neubildung der verschiedenen Akteur-Netzwerke, in die das IfS von seiner Exilierung in die Vereinigten Staaten bis in die späten 1950er Jahre eingewoben war, verdeutlicht die kulturellen Grenzen der Übersetzung und verweist darauf, wie stark gruppiert und koordiniert ein AkteurNetzwerk war. Je mehr Übersetzungen der einen Entitäten in die anderen stattfanden, desto stabiler war das jeweilige Akteur-Netzwerk. Im vorliegenden Fall fanden Übersetzungen über drei kulturelle Grenzen hinweg statt, über die sprachliche, die nationalstaatliche und die epistemische Grenze. Zwei AkteurNetzwerke stellten sich als besonders stark und über die Zeit von den frühen 1940er bis in die späten 1950er Jahren grenzübergreifend erfolgreich heraus: Das empirisch-sozialwissenschaftliche Akteur-Netzwerk und das demokratischerziehungspolitische Akteur-Netzwerk, das nach der Rückkehr nach Frankfurt mit popularisierten Entitäten des kritisch-philosophischen Akteur-Netzwerks vermengt und zu einem neuen Akteur-Netzwerk zusammengeschlossen wurde. Die vielen erfolgreichen Übersetzungen und die daraus resultierenden Transformationen von Verfahren der empirischen Feldforschung und Datenerhebung sowie der qualitativen Interpretation der erhobenen Daten innerhalb des AkteurNetzwerks 1 waren dadurch bedingt, dass sich in der empirischen Sozialforschung schon seit dem 19. Jahrhundert methodische Standards in der Statistik und Soziographie festgesetzt hatten. Diese teilweise standardisierten Entitäten ermöglichten Übersetzungen und damit Erweiterungen von sozialwissenschaftlich-empirischen Methoden und daraus resultierendem Wissen über die Grenzen der zwei unterschiedlichen Sprach-, National- und Wissenschaftskulturen hinweg (vgl. Weischer 2004: 38). Im amerikanischen Exil stand dieses stark gruppierte und koordinierte Akteur-Netzwerk demjenigen der demokratischen Erziehungspolitik nahe, da in der amerikanischen Wissenschaftskultur demokratisches Denken und Wissenschaftspraxis eine enge Beziehung aufwiesen. Dass die demokratisch-erziehungspolitischen und empirisch-sozialwissenschaftlichen Entitäten nach 1945 über die nationalstaatliche, sprachliche und epistemische Grenze hinweg auch in Westdeutschland erfolgreich Verbindungen mit anderen Entitäten eingingen, resultierte aus dem Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland und der Setzung der liberalen Demokratie als kulturelle, wissenschaftliche und politische Norm innerhalb des sich im frühen Kalten Kriegs formierenden »Westblocks« durch die Vereinigten Staaten. Mit dem Machtzugewinn der Vereinigten Staaten mit und nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr

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auch die amerikanische Sozialforschung als »contributing to its political goal of spreading democracy« globale Ausweitung (Platt 2010: 103). Als grenzübergreifend schwächstes Akteur-Netzwerk hat sich das kritisch-philosophische erwiesen. Dieses Akteur-Netzwerk hat sich erst im amerikanischen Exil herauskristallisiert, und zwar aus einem negativen Moment heraus, nämlich der Unübersetzbarkeit von Horkheimers und Adornos dialektisch-philosophisch-kulturkritischen Entitäten. Stärker gruppiert und koordiniert wurde dieses Akteur-Netzwerk nach der Rückkehr Horkheimers, Pollocks und Adornos nach Frankfurt, weil es dort Kopplungen mit westdeutschen Entitäten eingehen konnte, nämlich mit einem kulturkritisch öffentlichen Diskurs einerseits, den Haltungen der Studenten andererseits. Erst im Zuge der Studentenrevolte um 1968 und der zunehmenden Etablierung der New Left in den Vereinigten Staaten in den späten 1960er und dann vor allem in den 1970er Jahren wurde dieses Akteur-Netzwerk transatlantisch grenzübergreifend ausgeweitet (vgl. Zwarg 2011). Dies ist aber nicht mehr Thema dieses Aufsatzes.

L ITERATUR Abromeit, John (2011): Max Horkheimer and the Foundations of the Frankfurt School, Cambridge: University Press. Adorno, Theodor W. (1950): »Die auferstandene Kultur«, in: Frankfurter Hefte 5, S. 469-477. — (1970): Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (1973): Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (2003a [1952]): »Zur gegenwärtigen Stellung der empirischen Sozialforschung in Deutschland«, in: Soziologische Schriften I (= Gesammelte Schriften, Band 8), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 478-493. — (2003b [1951]): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (= Gesammelte Schriften, Band 4), Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (2003c [1945]): »Fragen an die intellektuelle Emigration«, in: Vermischte Schriften I. Theorien und Theoretiker. Gesellschaft, Unterricht, Politik (= Gesammelte Schriften, Band 20.1), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 352359. — /et.al. (1968/69): Der autoritäre Charakter. Studien über Autorität und Vorurteil (= Schwarze Reihe, Band 6), Amsterdam: de Munter.

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Philosophie als Translation Alexandre Kojèves Einführung-Überführung Hegels in die Gegenwart und nach Frankreich A NNETT J UBARA

Philosophie als Translation ist das Stichwort für die Besonderheit des Philosophierens von Alexandre Kojève, die sich in einer ganz bestimmten Weise der Überführung (Translation) Hegels manifestierte; woher und wohin, das wird noch zu klären sein. Wie Andreas Gipper in seinem Koreferat auf der Tagung anmerkte, ist gerade Kojèves Hegel-Translation ein guter Anlass, um die vertrauten Konzepte von Ausgangs- und Zielkultur neu zu befragen. Diesem Hinweis folgend, werde ich auf unterschiedliche Aspekte einer solchen Befragung in meinem Aufsatz eingehen. Kojève, russischer Emigrant und Kosmopolit, und später, im Laufe seines Lebens, ein hoher französischer und europäischer Beamter, wurde 1902 in Moskau als Aleksandr Koževnikov (Александр Владимирович Кожевников) geboren und starb 1968 in Brüssel. Seine Familie gehörte dem wohlhabenden Moskauer Bürgertum an, Vasilij Kandinsky war sein Onkel. Kojève emigrierte als 18-jähriger, als ihm bewusst wurde, dass er aufgrund seiner Herkunft im neuen Russland zeitlebens stigmatisiert sein würde – Menschen wie er galten zu diesem Zeitpunkt als »ehemalige Menschen«, d.h. als vom Ancien Régime geprägt und daher nicht in die neue Gesellschaft integrierbar. Dennoch hegte er, wie viele jüngere Emigranten, keine prinzipiell feindselige Einstellung gegenüber dem Bolschewismus, vielmehr übte dieser – ebenso wie der Marxismus – eine ambivalente Faszination auf ihn aus. Kojève lebte zunächst, von 1920-1928, in Deutschland, studierte in Heidelberg und promovierte 1924 bei Jaspers über die Philosophie Vladimir Solov´evs. 1928 ging er nach Frankreich, wo er die Vorlesungen von Alexandre Koyré (Александр Владимирович Койранский) an der

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Pariser École pratique des hautes études (EPHE) übernahm. Von 1933 bis 1939 hielt er dort Vorlesungen über Hegels Phänomenologie des Geistes (PdG); unter seinen Hörern waren Raymond Queneau, Georges Bataille, Jacques Lacan, Eric Weil, Jean Hyppolite und Maurice Merleau-Ponty. Diese Namen nennt Auffret (vgl. Auffret/Kojève 1990: 238). Andere Autoren fügen weitere Hörer als gesichert hinzu; stellen dafür aber die Teilnahme Hyppolites (die Auffret ausgerechnet auf 1938-39 datiert) in Frage (vgl. Tommissen 1998: 89). Die Frage nach der Teilnahme Hyppolites ist insofern brisant, als seine (Hyppolites) Übersetzung von Hegels Phänomenologie des Geistes, die gerade zwischen 1939 und 1941 erschien,1 zugleich die erste Übersetzung dieses Werks in Frankreich überhaupt war. Mit dieser Übersetzung sowie mit seinem 1946 veröffentlichten Kommentar zur Phänomenologie (Genèse et structure de la Phénoménologie de l’Esprit de Hegel) beeinflusste Hyppolite die neuere Hegel-Rezeption in Frankreich maßgeblich; zu seinen Schülern an der Sorbonne ab 1949 gehörten Louis Althusser, Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Jean Laplanche und Michel Foucault. Daher ist die Frage, ob und wie Kojèves ›Stegreifübersetzung‹ der PdG während seiner Vorlesungen die Hyppolitesche erste Übersetzung der PdG ins Französische beeinflusst hat, von großem Interesse. Jedoch ist nicht diese Frage Gegenstand der folgenden Ausführungen, sondern die Kojèvesche ›Stegreifübersetzung‹ selbst; ihr Charakter und ihr Zusammenhang mit der Besonderheit des Kojèveschen Philosophierens. Durch seine einflussreichen Vorlesungen führte Kojève seine Hörer in die Lektüre Hegels ein2 und überführte damit zugleich Hegel – das war seine erklärte Absicht – in die Gegenwart; und das alles geschah in Frankreich. Die Wirkung seiner Vorlesungen war so suggestiv, dass sich etliche seiner Hörer (beispielsweise Maurice Merleau-Ponty3 und Jacques Lacan) im Anschluss daran in ihren Texten auf Kojèves Hegel als Hegel bezogen, ohne ausdrücklich auf Kojève als Vermittler

1

Band 1 von La Phénoménologie de l’Esprit erschien 1939, Band 2 1941.

2

So der französische Titel der Buchausgabe seiner Vorlesungen: Introduction à la lecture de Hegel. Leçons sur la phénoménologie de l’esprit, professées de 1933 à 1939 à l’Ecole des Hautes-Etudes. Hg. von Raymond Queneau, Paris: Gallimard. 1947.- Teilübersetzung: Alexandre Kojève: Hegel, eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes. Üb. von Iring Fetscher. Stuttgart: Kohlhammer, 1958, ab 1975 bei Suhrkamp, Frankfurt a.M., zahlreiche Auflagen.

3

Etwa in seinem auf einem 1946 gehaltenen Vortrag basierenden Aufsatz Der Existentialismus bei Hegel (in: Merleau-Ponty), wo er ausdrücklich von Hyppolites Verdiensten spricht und die Hegel-Darstellung sehr stark an Kojèves Hegel angelehnt ist; wobei er Kojèves Namen jedoch nicht erwähnt.

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zu verweisen – d.h. es war Kojève gelungen, so weit sein Einfluss reichte, seinen Hegel als Hegel überhaupt zu präsentieren; und als Vermittler hinter dem Namen ›Hegel‹ zu verschwinden; worauf unten noch näher eingegangen werden soll. Seine originelle, unorthodoxe Hegel-Interpretation galt Kojèves Hörern in Frankreich als Einführung in Hegel und Überführung Hegels in die Gegenwart, während die akademische Philosophie und Hegelforschung im NachkriegsWestdeutschland empört auf die vermeintliche Entstellung Hegels durch Kojève reagierte. Noch 1993 sagte Otto Pöggeler in einem Vortrag: »Hegels Phänomenologie wird bei Kojève zu einer wächsernen Nase, die man nach Belieben drehen kann…« (Pöggeler 1995: 25). Die Rolle des »verschwindenden Vermittlers«4 in Frankreich erinnert an die Position eines Übersetzers, der hinter seine Übersetzung zurücktritt, die in der Translationswissenschaft als Unsichtbarkeit des Übersetzers bekannt ist und diskutiert wird. Die Reaktion der deutschen akademischen Philosophie hingegen erinnert an die ewige Unzufriedenheit mit dem Übersetzer und macht ihm das Heraustreten aus der Unsichtbarkeit zum Vorwurf. Hier wird die ewige Klage erhoben, die Übersetzung werde dem Original nicht gerecht. Um zu verstehen, was es mit dieser Besonderheit des Kojève’schen Philosophierens, das einem Übersetzten ähnelt, auf sich hat, möchte ich zunächst die Haltung Kojèves in der Rolle eines »verschwindenden Vermittlers« näher beleuchten.

K OJÈVE IN DER R OLLE D ES » VERSCHWINDENDEN V ERMITTLERS « Elisabeth Roudinesco schreibt in ihrer Lacan-Biografie über Kojèves Vorlesungen, Lacan »war nicht der einzige, der sechs Jahre lang vom unermüdlichen Sprechen dieses außergewöhnlichen Mannes gefesselt war, der perfekt französisch und deutsch mit einem […] slawischen (Akzent) sprach« (vgl. a. Auffret 1990: 240). In jeder Sitzung seines Seminars las er einige Zeilen aus der PdG,5

4

Zum Begriff vgl. Žižek (2001: 216). Žižek verwendet diesen Begriff im Anschluss an Jameson, der ihn für den zentralen Topos des Weberschen Denkens hält (vgl. Jameson 1988).

5

Kojève benutzte die Johannes Hoffmeister-Ausgabe (Leipzig: Felix Meiner 1927, 1937). Auffret verweist im Literaturverzeichnis seines Buches auf keine deutsche Ausgabe der PdG, sondern auf Hyppolites Übersetzung. Fetscher macht (in einer erweiterten Ausgabe von Kojèves Hegel (o.J.)) eine Konkordanz aller Hegel-Ausgaben (331-340).

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übersetzte sie dann in der Art eines Magiers, indem er stets im Jenseits der Aussage die kaum verhüllte Bedeutung des Textes suchte, um sie am Maßstab einer absoluten Modernität zum Leben zu erwecken. Und über die sozusagen magische Wirkung auf die Zuhörer heißt es bei ihr: »Georges Bataille war ›gerädert, zermalmt, festgenagelt an seinem Platz‹ und Queneau hatte es ›den Atem verschlagen‹.« (Roudinesco 1999: 159) 6 Kojève hat also deutsche Textteile vorgelesen und sie (so der Eindruck der Zuhörer) aus dem Stegreif übersetzt, indem er, wie Roudinesco sagt, ihre nur schwach verhüllte Bedeutung aufdeckte7 – also eine wortgetreue Übersetzung (was immer das sein könnte) strebte er zu keinem Zeitpunkt an. Und diese enthüllte Bedeutung modernisiert Kojève zugleich. Was heißt nun »modernisieren«? Hegel ist für Kojève der Denker der Moderne schlechthin, denn der Autor der PdG (die 1806/07 erschien) hat Kojève zufolge den Horizont der Moderne umrissen, der auch noch der unsere ist. Die Moderne nahm mit der Französischen Revolution und dem Auftreten Napoleons Gestalt an, und ihre Eckpfeiler tauchen entweder bereits in der PdG, oder, im Anschluss daran, im späteren Werk Hegels auf. Diese Eckpfeiler sind die Säkularisierung – Hegel ist für Kojève der atheistische Philosoph schlechthin, das Christentum die atheistische Religion, und Säkularisierung ist die Einbildung des Christentums in die Wirklichkeit, nachdem sein Sinn von der (Hegelschen) Philosophie erkannt wurde –, die bürgerliche Emanzipation durch allgemeine Bildung (= Wissensgesellschaft), die Arbeitsgesellschaft (oder synonym: der Kapitalismus) und der Rechtsstaat als Wirklichkeit und als Desiderat. Die Moderne, in die Kojève den Hegelschen Text übersetzt, ist aber, bei genauerer Betrachtung der Umstände dieser Übersetzung, nicht (bloß) der Horizont der Moderne, den Kojève mit der Schlacht bei Jena (1806) aufkommen sieht. Hier spiegelt sich vielmehr auch seine eigene Revolutionserfahrung wider, der russische Umbruch zur Moderne, der Kojève in die Emigration getrieben hatte; also geht es um eine radikalere, aktuellere Modernität. Wie prägt sich nun diese Hegelauffassung in Kojèves Hegel-Lektüre aus? Die Struktur der PdG ist aus dem Inhaltsverzeichnis der Bamberger Ausgabe ersichtlich:

6

Roudinesco zitiert Bataille aus seiner Werkausgabe sowie aus Auffrets Kojève-

7

Einen Eindruck von dieser Vorgehensweise vermittelt das erste Kapitel (Einleitung)

Biografie. seines Hegel-Kommentars (Kojève o.J.: 20-47).

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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Wissenschaft. Erster Theil: Die Phänomenologie des Geistes. Bamberg u. a., 18078 Einleitung (A) Bewuſstſeyn ((Subjektiver Geist)) I. Die ſinnliche Gewiſsheit, das Dieſes und das Meynen. II. Die Wahrnehmung, das Ding und die Täuſchung. III. Krafft und Verſtand, Erſcheinung und überſinnliche Welt (B) Selbſtbewuſstſeyn IV. Die Wahrheit der Gewiſsheit ſeiner ſelbſt. A. Selbſtſtändigkeit und Unſelbſtſtändigkeit des Selbſtbewuſstſeyns; Herrſchaft und Knechtſchaft. B. Freyheit des Selbſtbewuſstſeyns; Stoicismus, Skepticismus und das unglückliche Bewuſstſeyn. © (AA) Vernunft V. Gewiſsheit und Wahrheit der Vernunft … (A-B-C)… (BB) Der Geist ((Objektiver Geist)) VI. Der Geiſt A. Der wahre Geiſt. Die Sittlichkeit B. Der ſich entfremdete Geiſt. Die Bildung. I. Die Welt des ſich entfremdeten Geiſtes II. Die Aufklärung III. Die abſolute Freyheit und der Schrecken C. Der ſeiner ſelbſt gewiſſe Geiſt. Die Moralität - Die moraliſche Weltanſchauung - Die Verſtellung Das Gewiſſen - Die ſchöne Seele, das Böſe und ſoine Verzeyhung. (CC) Die Religion ((Absoluter Geist)) VII. Die Religion A. Die natürliche Religion. Das Lichtweſen - Die Pflanze und das Thier Der Werkmeiſter B. Die Kunſt–Religion. Das abſtracte Kunſtwerk - Das lebendige Kunſtwerk - Das geiſtige Kunſtwerk C. Die offenbare Religion (DD) Das abſolute Wiſſen VIII. Das abſolute Wiſſen

Die PdG ist zugleich Propädeutik (Hinführung zur Philosophie), Einleitung in das zu diesem Zeitpunkt von Hegel nur erst geplante philosophische System und Entwurf des späteren Systems. Aufgrund ihres Entwurfscharakters entspricht die Struktur der PdG der der Philosophie des Geistes (des dritten Teils der Enzyklo-

8

Zit.

nach

http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/hegel_phaenomenologie_

1807?p=5, ges. 2.01.2015.

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pädie der philosophischen Wissenschaften9). Die einzelnen Kapitel der Phänomenologie kann man ungefähr den charakteristischen (unzulänglich so genannten) Stufen des subjektiven (Kapitel 1-5: Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Vernunft), objektiven (Kapitel 6: Der Geist) und absoluten (Kapitel 7-8: Die Religion, Das absolute Wissen) Geistes in der Enzyklopädie zuordnen, die zur Erklärung daher oben von mir, in Klammern gesetzt, hinzugefügt wurden. Das schließlich erreichte absolute Wissen ist nichts anderes als der Rückblick des Geistes auf seinen Weg, der in der PdG beschritten wird: der Weg des natürlichen Bewusstseins zum Wissen; der Läuterung der Seele zu Geist und des erscheinenden Wissens zu wesentlichem Wissen, wie es in der Einleitung zur PdG heißt. Der Endpunkt dieses Weges ist der seiner selbst vollkommen bewusste Geist. Die Geschichte ist nur ein Teil dieses Wissens des Geistes von sich selbst. Kojève macht nun ein Kapitel der PdG (4/A über Herrschaft und Knechtschaft), es gehört in den Bereich des laut späterer Terminologie »subjektiven Geistes«, zum Dreh- und Angelpunkt seiner Lektüre. Die Konstellation HerrKnecht wird bei ihm zum Leitmotiv der gesamten PdG. Aufgrund dieser Fokussierung fasst er den Inhalt der PdG wie folgt zusammen. Der Knecht befreit sich, indem er für den Herrn arbeitet und dabei sowohl sich selbst, als auch die Gesellschaft und die Kultur immer weiterentwickelt. Dieser Prozess ist die Geschichte. Hier sieht man bereits, dass etwas, das bei Hegel eigentlich später (nämlich erst im Kapitel BB, also im Bereich des »objektiven Geistes«) thematisiert wird, von Kojève unter das dem »subjektiven Geist« angehörende Motiv Herr und Knecht subsumiert wird. Schließlich soll am ›Ende der Geschichte‹ auch die kapitalistische Arbeit überwunden werden – der Knecht befreit sich in einer letzten Schlacht von seinem Herrn, dem Kapital (nicht dem Kapitalisten) – die kapitalistische Arbeit wird aufgehoben in die Arbeit für den Staat, die keine Arbeit im strikten Sinne mehr ist. Dieses letztgenannte Theorieelement – sowohl Kojèves Begriff der Arbeit, der einmal sehr weit gefasst ist (als Kultur- und Bildungsarbeit), dann wieder sehr eng (als abstrakte Arbeit/Lohnarbeit), als auch das Ende der Arbeit – ist sehr widersprüchlich; und bei Kojève gibt es mehrere Anläufe und Entwürfe dazu, auf die ich hier nicht eingehen kann. Ich belasse es daher bei der Feststellung, dass die Arbeit überwunden werden soll; und wenn es keine Arbeit sensu stricto mehr gibt, wenn daher der Mensch das Gegebene nicht mehr negiert, dann ist die Geschichte zu Ende. Es tritt eine allgemeine Befrie-

9

Die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse erschien 1817 in Heidelberg, danach erschienen zu Hegels Lebzeiten noch zwei, stark erweiterte und veränderte, Auflagen.

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dung aller im endgültigen Staat ein, der alle Widersprüche löst. Dieser End-Staat ist ein Modell, das sich am Ende der Geschichte in verschiedenen Gestalten manifestiert: als Rechtsstaat und/oder Sozialstaat // westlicher/östlicher Provenienz. (Kojève denkt im Bezugsrahmen der staatskapitalistischen Ära und der Konvergenztheorie). Dieses Ende der Geschichte ist eng mit dem Ende des Menschen verbunden (auch dieser Gedanke tritt in verschiedenen Variationen bei Kojève auf), denn der Mensch ist bei ihm wesentlich Selbstbewusstsein, eben das knechtische Selbstbewusstsein, das sich durch Arbeit entfaltet. Wenn dieser Prozess zum zufriedenstellenden Abschluss und damit zum Stillstand gelangt, dann hört das Selbstbewusstsein, und damit der Mensch, auf. Es geht unter; es ist, so kann man sagen, tot. Das Ende der Geschichte/des Menschen ist auch das Ende der Philosophie, denn die Philosophie hatte den Selbstentfaltungsprozess mittels Arbeit durch dialektische Selbsterkenntnis – den Weg des Zweifels an allem – reflektiert und begleitet. Auch sie gelangt zu einem Ende: dem absoluten Wissen, der völligen Übereinstimmung des Geistes mit sich selbst10, und hört damit auf. Die Philosophie wird zur Weisheit, die in die ewige Betrachtung ihrer dauerhaften Formen – des ›absoluten Wissens‹ – versunken ist. Das Selbstbewusstsein gelangt am Ende der Geschichte zu völliger Befriedigung und negiert, d.h. arbeitet, nicht mehr. Der Philosoph negiert ebenfalls nicht mehr (er rebelliert nicht mehr, wie er es als sozialkritischer Intellektueller einst tat), er ist im Besitz der Wahrheit und wird zum Weisen, der in den Staatsdienst (in den Dienst des perfekten endgültigen Staates) tritt, wie Kojève es später tat, als er nach dem Krieg einen Posten im französischen Wirtschaftsministerium antrat und ab 1948 als Sekretär für die OEEC (Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit) tätig war. In dieser Funktion beriet er bis zu seinem Tod die französischen Regierungen in europapolitischen Fragen; er war also an der europäischen Integration und somit an der Schaffung früher Voraussetzungen für EG und EU beteiligt. Die EU ist eine weitere Gestalt des endgeschichtlichen Staates; nunmehr ein suprastaatliches Gebilde. Die Modernität ist dieser Zustand der Vollendung der Geschichte bzw. nach dem Ende der Geschichte (Kojève schwankte zwischen beiden Fassungen), in dem Mensch und Selbstbewusstsein untergehen. Der »verschwindende Vermittler«, den ich hier Translator nennen will, ist demnach das Selbstbewusstsein, das zeigt, dass es ein Selbstbewusstsein eigentlich schon gar nicht mehr gibt; er ist das Selbstbewusstsein, das sich als ver-

10 Das ist das Selbstbewusstsein, das sich nicht mehr in Bewusstsein und Selbstbewusstsein spaltet und durch Zweifel die Spaltungen überwindet.

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schwindendes vorführt und damit auf ähnliche Weise hinter seinem Produkt verschwindet, wie ein Übersetzer. Ein populärphilosophisches Textbeispiel soll zeigen, dass Kojève auch heute noch als Vermittler hinter Hegel zurücktritt; und dass sein Hegel inzwischen auch in Deutschland als Hegel angenommen wurde. Es geht also nicht um einen französischen vs. deutschen Hegel; in beiden Ländern, wie auch anderswo, gibt es mittlerweile sowohl Zustimmung, als auch Ablehnung (die es übrigens von Anfang an auch in Frankreich gegeben hatte11) des Kojève-Hegel. Wikipedia: »Phänomenologie des Geistes« (deutsch)12 … 5. Selbstbewusstsein 5.1. Herrschaft und Knechtschaft (als einziger Unterpunkt zu 5! /A.J.) Siehe auch: Die Dialektik von Herr und Knecht In der Vielzahl der Begierden, die sich gegenseitig ausschließen können, kommt der Mensch in Konflikt mit seinen Mitmenschen. Im Kampf um Anerkennung gerät der Unterlegene gegenüber dem Sieger in ein Abhängigkeitsverhältnis, das ihn in die Knechtschaft führt. Durch die Arbeit des Knechts gewinnt der Herr die Freiheit über die Natur. Doch die Arbeit des Knechts bringt eine Steigerung des Denkens, Technik, Wissenschaft und Kunst hervor und einen Fortschritt hin zu einer Idee der Freiheit, die den Knecht auf revolutionäre Art von der Abhängigkeit von seinem Gebieter befreien kann. Die Geschichte ist ein Prozess der Arbeit und des Kampfes um Anerkennung, eine Geschichte der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft, die in eine Synthese von Herrschaft und Knechtschaft mündet.

Wikipedia reduziert das gesamte Kapitel über das Selbstbewusstsein auf das Unterkapitel über Herr und Knecht. In Hegels Kapitel über Herr und Knecht gibt es allerdings weder einen »Mitmenschen«, noch einen »Konflikt« mit diesem (und auch keine Intersubjektivität), denn Herr und Knecht sind zwei Gestalten ein und desselben subjektiven Geistes. Technik, Wissenschaft, Kunst, Fortschritt und Geschichte haben in diesem Kapitel keinen Platz. Der deutsche WikipediaArtikel dokumentiert an dieser Stelle eindeutig den Kojève-Hegel. Als Ausgangs- und Zielkultur von Kojèves Übersetzung können also nicht die deutsche und die französische philosophische Kultur ausgemacht werden.

11 So insistierte Eric Weil auf dem Primat der »Logik« in der Hegelschen Philosophie, gegenüber der »Existenz«, die seiner Auffassung nach von der Phänomenologie repräsentiert wird (Auffret 1990: 245). 12 http://de.wikipedia.org/wiki/Ph%C3%A4nomenologie_des_Geistes, ges. 02.01.2014.

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Vielmehr handelt es sich um eine Übersetzung aus dem klassischen in den (für Kojève) aktuellen Horizont der Moderne, dessen Aktualität gerade durch die russische Revolution, deren Zeuge Kojève ist, auf die Spitze getrieben wird.13 Indem Kojève zum Translator der PdG wird, macht er deutlich, dass er kein originelles philosophierendes Subjekt ist. Als hegelianisches philosophierendes Subjekt müsste er Sinn aus der dialektischen Verneinung des eigenen Wissens über sich selbst schöpfen. Indem er zum Translator wird, zeigt er auch performativ, was sein Hegel-Text aussagt: dass es kein (im Hegelschen Sinne) philosophierendes Subjekt mehr gibt. Im Grunde ist der Stil seiner Vorlesung als Performance allein schon die Überführung Hegels in die Modernität, die eben laut Kojève davon gezeichnet ist, dass es keine Negation, und damit kein Selbstbewusstsein mehr gibt.

I ST

NUN DIESER V ERMITTLER -T RANSLATOR , DER AUS - DRÜCKLICH KEIN S ELBSTBEWUSSTSEIN MEHR IST , EIN S UBJEKT ? Und wenn ja, was für ein Subjekt ist das?14 Subjekt ist u.a. ein Synonym für Selbstbewusstsein. Wie kann man dieses Subjekt-Nicht(-Mehr)-Subjekt beschreiben? Was macht es als Translator mit dem Originaltext, dem Text der PdG?

13 Diese Überlegung ist eine Reaktion auf die Anmerkung von Andreas Gipper, der in seinem Koreferat die Frage stellte, ob die Zielkultur dieser Übersetzung tatsächlich mit »Frankreich« adäquat beschrieben ist; ob sich der aus der bolschewistischen Sowjetunion kommende russische Emigrant Kojève primär an Franzosen wendet. Natürlich übersetzte Kojève Hegel faktisch ins Französische, doch seine eigentliche Übersetzungsleistung scheint eine andere zu sein, so Gipper: Kojève übersetzt Hegel in die absolute Modernität. Als Konsequenz aus diesem Beispiel sollte man, so Gipper, daher auch die Frage stellen, ob die Identifizierung von Ausgangssprache und Ausgangskultur, und von Zielsprache und Zielkultur, im vorliegenden Fall nicht viel zu kurz greift. In der Tat steht im Hintergrund dieser Übersetzung aus dem Deutschen ins Französische der russisch-sowjetische und migrantische Erfahrungshorizont (einer Emigration über Deutschland nach Frankreich), der die Übersetzung maßgeblich beeinflusste, ohne sprachlich expliziert worden zu sein. 14 Vgl. hierzu auch die Überlegungen zur Stellung des translatorischen Subjekts in der Kultur bei Tashinskiy (2011).

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Das Subjekt, das betonte und sogar vorführte, dass es kein Subjekt ist, weil die Subjektivität an ihren Endpunkt gelangt ist, hat seine Hörer in ziemliche Ratlosigkeit gestürzt. Die bekannteste Reaktion ist die von Bataille, der auf einer »Negativität ohne Beschäftigung« bestand und zur Verneinung um der Verneinung willen aufrief.15 Einen anderen Weg des Umgangs mit diesem Paradox schlug Lacan ein. Er hat versucht, die Position dieses neuen Subjekts, das kein Subjekt mehr ist, zu beschreiben. Lacan beschreibt das Subjekt, über das Kojève spricht, und das er zugleich auch ist, und das Lacan sechs Jahre lang »unermüdlich beobachtet« hat, wie Roudinesco mitteilt. Seine Beschreibung fußt auf einem bestimmten Verständnis von Kultur; der Auffassung der Kultur als einer symbolischen Ordnung. Diese Auffassung von Kultur soll hier dazu dienen genauer zu bestimmen, worin die Subjektposition des verschwindenden Vermittlers, des Translator-Subjekts, besteht. Wichtig für das Verständnis der Lacanschen Beschreibung ist, dass Lacan nicht nur begeisterter Hörer von Kojève war, der seinen eigenen Stil der mündlichen Weitergabe theoretischer Erkenntnisse an Kojèves Vortragsstil geschult hatte.16 Er war nicht bloß ein wenig oberflächlich mit Kojève befreundet, sondern beide hatten im Jahr 1936 Pläne, gemeinsam eine Untersuchung zum Thema Hegel und Freud. Versuch einer Konfrontation der Deutungen zu verfassen, deren erster Teil der »Genese des Selbstbewusstseins« gewidmet sein sollte.17 Zu dieser Zusammenarbeit kam es dann aber aus ungeklärten Gründen nicht. Lacan hatte 1936 das Projekt seiner Rückkehr zu Freud auf strukturalistischer Grundlage noch nicht in Angriff genommen. Später, seit den 50er Jahren, hat er dann im Alleingang das Kojèvesche neue Subjekt konzipiert, wobei er daran anknüpft, was er bei Kojève über das klassische, geschichtliche Subjekt gelernt hat, und dieses modifiziert.

15 Eine knappe, pointierte Darstellung dieser Reaktion Batailles auf Kojèves Philosophieren gibt Agamben (2003). 16 So Lacans Mitteilung (laut Roudinesco). 17 Siehe Roudinesco (1999: 169), die sich wiederum auf Auffret stützt. Ideen aus Kojèves Notizen zu dieser gemeinsamen Arbeit sind in seinen publizierten HegelKommentar eingeflossen; sie betreffen den Unterschied zwischen Cartesianischem cogito und Hegelschem Selbstbewusstsein (die Rolle des Begehrens). Dabei ist das Begehren (analog zum Willen bei Descartes) Quelle des Irrtums, es markiert den Bruch zwischen Philosophie (»reinem Denken«) und Philosophieren. Auch bei Kojève gibt es also schon eine Art »Spaltung« im Selbstbewusstsein. Lacan sollte vermutlich die Reihe Descartes-Hegel mit Freud fortsetzen (Roudinesco 1999: 170).

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Ganz allgemein lässt sich über diese neue Subjektposition sagen, dass das Subjekt in der symbolischen Ordnung strukturell determiniert ist, ohne dabei ganz in der Struktur aufzugehen; es ist insofern vorgeschichtlich (im Sinne von: der Geschichte vorhergehend), und daher definitiv nicht das geschichtliche Subjekt, von dem Kojève sprach. Von Kojève übernimmt Lacan jedoch den Gedanken des Ichs als Subjekt des Begehrens, und den Gedanken, dass das Subjekt Negativität ist.18 Doch während es bei Kojève am Ende in der Geschichte aufgeht wie in einer Gleichung, die endlich gelöst ist, bleibt es bei Lacan Negativität (vgl. Braun 2010: 20); es hört nicht auf – hört nie auf – negativ zu sein, weil es primär nicht in der Geschichte angesiedelt ist, sondern in der symbolischen Ordnung, d.h. in der Kultur, in der Struktur. Die Negativität geht bei Lacan in keiner Gleichung auf, denn das Subjekt ist eine Funktion, die determiniert wird von der Signifikantenkette, welche unendlich ist. Die Negativität ist hier das fortschreitende Ersetzen, d.h. ein Signifikant wird verneint und durch einen anderen ersetzt. Bei Lacan ist das Subjekt einerseits Selbstbewusstsein (da folgt er also der philosophischen Tradition), und es ist andererseits zugleich sujet – das Unterworfene (vgl. ebd.) – unterworfen unter die Sprache. Das Subjekt, so seine Definition, ist, was von einem Signifikanten für einen anderen Signifikanten repräsentiert wird. Es ist ein Effekt der Sprache. Diese unhintergehbare Entfremdung in der Sprache bewirkt eine Spaltung des Subjekts. Die Stellung dieses Subjekts vollzieht sich in der Schöpfung von Sinn. Dieser entsteht aber nicht wie beim philosophischen Selbstbewusstsein durch die Negation von Bedeutung – also aus dem Nichts oder vielmehr aus dem Ver-Nichten von Sinn, semiotisch gesprochen: des Signifikats – sondern metaphorisch: aus der Substitution eines Signifikanten für einen anderen Signifikanten (vgl. ebd.: 255-256). Das Subjekt verliert damit gegenüber dem klassischen philosophischen Selbstbewusstsein an Autonomie, denn es ist ja der Sprache unterworfen; bewahrt sich aber die wichtige subjektive Eigenschaft der Negativität, und zwar in der Form eines fortschreitenden Ersetzens. Der »verschwindende Vermittler« oder Translator ist das posthistorische (und zugleich prä- und trans-historische; d.h. der Geschichte im Sinne einer transzendentalen Voraussetzung vorausgehende), der Sprache unterworfene kulturelle Subjekt. In unserem konkreten Fall ist es das philosophierende Subjekt (Kojève); oder anders gesagt: Das nicht-klassische Philosophieren dieses Subjekts gleicht einem Übersetzen.

18 Roudinesco sieht im Einfluss Kojèves den entscheidenden Impuls für Lacans Abkehr vom positivistischen Freudianismus (Roudinesco 1999: 171).

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An einem Beispiel möchte ich zeigen, wie sich die metaphorische Sinnschöpfung, von der Lacan redet, vollzieht. Lacan bezieht sich bei der Erläuterung der metaphorischen Sinnschöpfung in seinem Seminar V auf eine Erzählung Freuds, die in struktureller Hinsicht sehr interessant ist.

E IN B EISPIEL FÜR METAPHORISCHE S INNSCHÖPFUNG . F REUD UND L ACAN Es handelt sich um eine kleine Selbstanalyse, die Freud in dem kurzen Text Zum psychischen Mechanismus der Vergesslichkeit (Freud I 1999: 519-527) dargelegt hat und auf die er später noch einmal in der Psychopathologie des Alltagslebens19 zurückgekommen ist. In diesem Fall geht es darum, dass sich Freud an den Namen eines italienischen Renaissancemalers nicht erinnern kann, den er in einem beiläufigen Gespräch einem flüchtigen Bekannten mitteilen will. Anschließend versucht er zu ergründen, warum ihm dieser Name nicht einfiel, und dabei wird ihm klar, dass es sich nicht um ein banales zufälliges Vergessen handelt, sondern dass Verdrängung im Spiel ist; weil er diesen Namen – auf verschlungenen Wegen – aus ganz bestimmten Gründen mit den Themen Sexualität und Tod assoziiert; wobei ihm das erste Thema peinlich, und das zweite aufgrund einer kurz zuvor erhaltenen Nachricht vom Selbstmord eines ehemaligen Patienten sehr unangenehm ist. Diese verschlungenen Wege möchte ich hier so knapp wie möglich darstellen, weil Lacan eben daran seine Darstellung der metaphorischen Sinnschöpfung knüpft. In dem frühen Text, aus dem Jahre 1898, berichtet Freud, dass er eine Wagenfahrt von Ragusa (heute Dubrovnik) aus ins benachbarte Bosnien-Herzegowina unternahm, und sich unterwegs mit einem zufälligen Reisegefährten über die Sitten der bosnisch-herzegowinischen Bevölkerung, darunter auch der dort lebenden Türken (heute offiziell »Bosniaken« genannt) unterhielt. Dann kamen sie auf andere Themen zu sprechen, u.a. italienische Malerei, und Freud empfahl seinem Reisegefährten einmal nach Orvieto zu gehen, und dort im Dom die Fresken vom Weltuntergang und vom Jüngsten Gericht anzusehen; die Fresken des Malers ***? Der Name fiel ihm nicht ein. Stattdessen kamen ihm die Namen anderer Renaissancemaler in den Sinn: Botticelli und Boltraffio. Freud war aber

19 Ich beziehe mich auf den Abdruck in Gesammelte Werke IV, 5-12 (I. Vergessen von Eigennamen).

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sofort klar, dass diese Namen falsch sind. Die Bilder des Malers20 standen ihm ganz deutlich vor Augen, sogar die Gesichtszüge des Meisters selbst auf einem Selbstporträt, das dieser auf einem der Fresken untergebracht hatte; nur eben der Name nicht. Erst Tage später konnte ihn ein Italiener erlösen, indem er ihm den Namen nannte: Signorelli; und daraufhin verblasste sofort das Gesicht des Malers in seiner Erinnerung, so Freud. Freud fragt sich nun, warum ihm der Name nicht eingefallen ist. Den Grund für das Vergessen sucht Freud in dem, was unmittelbar zuvor geschehen war: Im Gespräch über die bosnisch-herzegowinischen Türken. Während dieses Gesprächs hatte er sich daran erinnert, dass ihm ein Kollege, also ein Arzt, der lange in dieser Gegend gelebt hatte, einst erzählte, dass sich die dort lebenden Türken durch drei Eigenschaften auszeichnen: 1) durch einen großen Respekt gegenüber dem Arzt, wie man ihn bei »unserer Bevölkerung« (in Wien) nicht mehr antrifft; 2) durch ihre Schicksalsergebenheit – wenn der Arzt den bevorstehenden tödlichen Ausgang einer Krankheit mitteilen muss, dann nehmen sie das als unausweichlich hin und machen dem Arzt keine Vorwürfe; und 3) durch ihre Überschätzung des Sexualgenusses. Wenn sich die Arzt-Patienten-Gespräche um diese beiden Themen (Tod und Sexualität) drehen, dann wenden sie sich stets respektvoll an den Arzt. Also etwa, wenn der Arzt mitteilt, dass ein naher Angehöriger bald sterben muss: »Herr, was ist da zu sagen? Wenn er zu retten wäre, würdest du ihm helfen.« Wegen des unangenehmen Themas Tod und des in Gegenwart eines Fremden peinlichen Themas Sexualität versuchte Freud während des Gesprächs ganz bewusst die Erinnerung an die Erzählung des Arzt-Kollegen zu unterdrücken. Und diese Unterdrückung muss sich dann, schlussfolgert Freud, auf den Namen des Malers verschoben und diesen mit in die Verdrängung herabgezogen haben; aber warum und wie? Am Inhalt der Bilder kann es nicht liegen, deren Zusammenhang mit Tod und Sexualität sei nicht ausgeprägt genug, meint Freud. (Lacan ist in diesem Punkt anderer Ansicht, wie wir noch sehen werden.) Und die Bilder selbst hatte er ja auch nicht vergessen, sie standen ihm ganz deutlich vor Augen. Vergessen hat er den Namen; der Name fiel der Verdrängung anheim. Was hat nun der Name mit dem peinlichen und mit dem unangenehmen Thema zu tun? Im Namen »Signorelli« steckt das Wort »Signor«; und da Freud kurz zuvor, bei seinem Aufenthalt in Ragusa, häufig italienisch gesprochen hatte, war es ihm zur Gewohnheit geworden, im Kopf ständig aus dem Deutschen ins Italienische zu übersetzen, so auch hier: Signor steht also für Herr; und Herr verweist doppelt (überdeterminiert) auf die bosnisch- herzegowinischen Türken und ihre Anrede »Herr…«, die stereotyp

20 Luca Signorelli (1450-1523) Fresken (1499-1504) über Die letzten Dinge und das Jüngste Gericht im Dom zu Orvieto.

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ihre Äußerungen zu Tod und Sexualität einleitet. »Herr« steht also für diese beiden unliebsamen Themen. Er wird unterdrückt und gleichzeitig übersetzt in »Signor«, und die Übersetzung zieht den Namen Signorelli in die Verdrängung nach (Freud I 1999: 523). Falsche Erinnerungen (Boticelli usw.) führen aber nicht völlig in die Irre, sondern auf einem Umweg, über eine Verschiebung, ebenfalls zum Verdrängten, denn die Richtung der Verschiebung wird durch einzelne Silben angegeben: die Endsilbe Botic-elli (Bild-f) verweist auf Signor -elli, und die Anfangssilbe beider Namen verweist auf die Anfangssilbe in »Bo- snienHerzegowina«, d.h., sie verweisen durchaus auf das Verdrängte, aber so, dass man es auf Anhieb nicht erkennt. Lacan liefert in Seminar V21 eine weiterführende Interpretation der Freudschen Selbstanalyse. Metonymische Bruchstücke (die Silben »Bo-« und »-elli«) verweisen, so Lacan, auf Signorelli; Signorelli selbst ist eine metonymische Bildung von »Signor«. Letzterer ist eine Übersetzung – eine »heteronyme Substitution, wie sie von der Existenz mehrerer Sprachsysteme erfordert wird« (Lacan 2006: 44). Übersetzungen, so Lacan, sind zwar keine Metaphern (und auch keine Metonymien), und doch gibt es in der Substitution zwischen Herr und Signor, d.h. in dieser konkreten Übersetzung, so etwas wie Metapher, »metaphorische Wirkung oder Induktion«. Denn Signor ist für den gesamten metonymischen Kontext, mit dem er verbunden ist – Signorelli, die Fresken von Orvieto, das Ansprechen der Letzten Dinge – die »schönste Metapher einer Realität, der man unmöglich ins Auge blicken kann und die der Tod ist« (Lacan 2006: 46). Also ist Signor eine zusätzliche Überdeterminierung, aufgrund des metonymischen Anhängsels Signorelli: die Bilder über die letzten Dinge, die nochmals – zusätzlich auf den Herrn – auf den Tod verweisen. Das Übersetzen ist hier zugleich ein Ersetzen. Substitution eines Signifikanten für einen anderen Signifikanten ist aber, wie oben ausgeführt wurde, Lacan zufolge der Weg der Sinnschöpfung durch das kulturelle Subjekt. Lacan schlussfolgert: Während »Herr« auf der Ebene des Diskurses unterdrückt wird, wird das heteronyme, die Überdeterminierung noch mehr verstärkende Substitut »Signor« verdrängt und kreist zwischen Code und Botschaft; d.h. es ist da, kann aber nicht entschlüsselt, nicht gelesen werden. Mit ihm kreist auch der Sinn, für den es metaphorisch steht: die Realität, der man unmöglich ins Auge sehen kann. Diese Metaphorik bringt aber einen neuen Signifikanten hervor: den »Tod, den absoluten Herrn« (Pontalis 2009: 83) (zufällig ebenfalls ein

21 In den Sitzungen vom 6., 13. und 20. November 1957.

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Motiv, das Lacan von Kojève übernommen hatte22). Dies ist der scheinbar verlorene Sinn (Signifikat), in der Tat aber ein neuer Signifikant, auf dessen Spur uns die metonymischen Ruinen des Objektes bringen. Die Übersetzung »Herr«::»Signor«, die mehr ist als heteronyme Substitution, da sie dank des metonymischen Kontextes von »Signor« (Signorelli und seine Bilder) metaphorische Wirkung entfaltet, ist ein Beispiel für die metaphorische Sinnschöpfung beim Übersetzen. »Das Spiel der metaphorischen Substitution« (Herr übersetzt als Signor steht für die unsagbare Realität des Todes) »ist nur möglich, weil es sich auf die signifikante Kette als Kombinationsprinzip stützt« (Pontalis 2009: 84). Hier noch einmal die signifikante Kette (die Kette der Signifikanten) und, hervorgehoben, die Handlungen mit und durch die Signifikanten: ((Tod)) – (1) »Herr« (wird im Diskurs unterdrückt) – wird übersetzt: (2) »Signor« (heteronymes Substitut, wird verdrängt) – bildet metonymisch: (2+a) »Signorelli«; (2+b) »Boticelli« usw. (weitere Metonymien – (2+c…) »Bo-«; »-elli« (metonymische Bruchstücke) – (2+abc…) metaphorisiert: (3) »Tod, der absolute Herr« (=»Wiederkehr des Verdrängten«)

Der am Anfang stehende ((Tod)) ist der Sinn (das Signifikat) das nicht zugänglich ist, zu dem der Zugang durch Widerstand gesperrt ist, der Sinn, »dem man unmöglich ins Auge blicken kann«. Bei Freud sind das »verdrängte Gedanken«. Zugleich ist er aber auch das nachträgliche Resultat des Signifikantenspiels, das, worauf man am Ende kommt. Die »Wiederkehr des Verdrängten« ist in Wahrheit Sinnschöpfung: Es entsteht ein Sinn, der uns als der ursprünglich verdrängte erscheint.

M ETAPHORISCHE S INNSCHÖPFUNG

BEI

K OJÈVE

Die in diesem Beispiel angeführten Charakteristika einer metaphorischen Sinnschöpfung finden sich bei Kojève wieder, der als Translator philosophiert. Das metonymische Bruchstück, mit dem er vorzugsweise arbeitet, ist das Kapitel aus der PdG, das oben bereits besprochen wurde, das Kapitel über Herr und Knecht.

22 Bei Kojève – und bei Hegel – packt die knechtische »Furcht des Todes, des absoluten Herrn« (Hegel 1986: 153) das menschliche Selbstbewusstsein. Mikkel BorchJacobsen spielt mit dem Titel seines Buches »Lacan«. Der absolute Herr und Meister auf den starken Eindruck an, den Kojèves Hegel-Vorlesungen auf Lacan gemacht hatten. (»Absoluter Herr«::»maître absolu«).

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Manche Kritiker behaupten, dass er nur über dieses Kapitel spricht und werfen ihm vor, dass er die PdG darauf reduziert. Das ist es aber nicht, was Kojève tut. Er betrachtet vielmehr dieses Kapitel wie durch ein einfaches optisches Prisma; wobei das Kapitel alle anderen Motive der PdG enthält; etwa so, wie das weiße Licht, das in das Prisma fällt, gewissermaßen alle Farben des Spektrums beinhaltet, und das Prisma das weiße Licht in die einzelnen Farben auftrennt. Das kleine Kapitel 4/A steht für das ganze Buch – pars pro toto – es ist also ein metonymisches Bruchstück der PdG. Das kann man deutlich an der Behandlung des Themas Religion erkennen. Religion ist bei Kojève nicht nur unglückliches Bewusstsein, wie manche Kritiker ihm vorwerfen, dann würde ihre Auffassung nicht über den Horizont von Kapitel 4/B (s.o., Inhaltsverzeichnis der PdG) hinausreichen. Vielmehr reicht die Auffassung und Darstellung der Religion inhaltlich bei Kojève bis hin zum absoluten Wissen, also bis zu Kapitel 8. Doch all das wird von ihm in das zum Rahmen des Ganzen aufgeblähte Kapitel über Herr und Knecht hineingezogen. »Herr und Knecht« ist aber nicht nur Metonymie, sondern auch Metapher für den Sinn des Ganzen. Warum? Bei Kojève handelt die PdG davon, wie der Geist (Selbstbewusstsein) durch die Arbeit des Knechtes für den Herrn zum Wissen über sich, zum absoluten Wissen vom Ganzen gelangt. Der arbeitende Knecht wird zur Metapher des menschlichen Geistes, der sich bildet. Dies wird schon dadurch deutlich, dass Kojève seinem Kommentar ein Marx-Zitat als Motto voranstellt: »Hegel […] erfaßt die Arbeit als das Wesen, als das sich bewährende Wesen des Menschen.« (Kojève o.J.: 20) Durch diese Metaphorisierung hat er aus der Philosophie des Geistes eine Sozialgeschichte des Geistes gemacht. Kojèves Hegel-Interpretation ist nach Kojèves eigenem Zeugnis vom Marxismus inspiriert; aber ist sie auch marxistisch?23 Möglicherweise wegen der Hervorhebung der Rolle der Arbeit? Auf jeden Fall weist diese Betonung der Arbeit Kojèves Nähe zum Junghegelianismus aus, hat doch Marx selbst die Hegelsche Entdeckung der Arbeit nur dank seinem Mentor Bruno Bauer entdeckt. Während Marx jedoch die Arbeit zum deus ex machina erklärt, der den Menschen vom Tier unterscheidet, und den Geist zu ihrem Epiphänomen, ist es bei

23 Diese Fragestellung und der darauf folgende Absatz ist eine Reaktion auf die im Koreferat von Andreas Gipper formulierte Frage, ob Kojève nicht vor allem deshalb als verschwindender Vermittler erscheint, weil seine Interpretation heute als die kanonische marxistische Hegel-Deutung gilt. Kojève wäre dann, so habe ich Andreas Gipper verstanden, lediglich der Vollstrecker einer marxistischen Hegel-Auslegung, und als dieser Vollstrecker verschwände er hinter der Autorität des Marxismus in der Unsichtbarkeit.

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Kojève der menschliche Geist (der Knecht), der arbeitet. Marx selbst muss eingestehen, daß die Arbeit, von der er spricht, die menschliche, nicht die tierische, instinktive Arbeit ist – also ist Geist, d.h. Selbstbewusstsein, im Marxismus immer schon vorausgesetzt, wird aber nicht thematisiert. Man könnte darüber streiten, ob Geist im Marxismus unterdrückt oder verdrängt wird. Kojèves Sozialgeschichte des Geistes ist immer noch (oder wieder) eine Geschichte des Geistes, der als Knecht metaphorisiert wird. Marx war seinem Selbstverständnis nach ein Überwinder der Philosophie (des Idealismus). Für ihn ist daher die Geschichte des Selbstbewusstseins eine von der Entwicklung der sozialen Formen abhängige. Geschichte haben bei Marx nur die Produktionsweisen; der Geist bzw. die einzelnen Gestalten des Geistes haben hingegen explizit keine eigene Geschichte. Folgt man Marx strikt, kann es weder einzelne Religions-, Kunst- oder Philosophiegeschichten, noch eine Geistesgeschichte geben. Bei Kojève ist dagegen die Geschichte des Geistes eine Geschichte sui generis, keine sekundäre, abhängige oder gespiegelte Form. Philosophie ist diese Sozialgeschichte des Geistes aber dennoch nicht, weil sich in ihr der Geist nicht selbst betrachtet, sondern von einem außen stehenden Beobachter betrachtet wird. Damit wird der Geist zum Objekt und verliert das, was ihn im Grunde ausmacht: die Subjektivität. Es gibt zwar auch bei Hegel Objektivierungen des Geistes, und es gibt sogar den »objektiven Geist«, aber der Geist als Ganzes ist kein Objekt. Diese Objektwerdung des Geistes, die sich bei Kojève mit einer Präferenz des Hegelschen objektiven Geistes (einer der Gestalten des Geistes) vermischt, macht die Spezifik von Kojèves Hegel-Interpretation aus. Verdinglichte Formen des menschlichen Bewusstseins spielen zwar in der marxistischen Theorie eine Rolle (etwa im Konzept des Warenfetischismus), aber die Untersuchung der Objekt- oder Dingwerdung des Geistes ist nicht der theoretische Ansatzpunkt, eher ein Nebeneffekt des Marxismus. Der Marxismus wechselt einfach das Thema – er spricht nicht mehr über den Geist; und darin besteht Marx’ theatralischer Bruch mit dem Hegelianismus. Es ist bezeichnend, dass Kojève sich selbst in den Kontext der Geschichte des Hegelianismus stellt, während Marx mit Hegel bricht. So könnte man vielleicht sagen, dass Kojève ein Motiv, das der Marxismus verdrängt oder unterdrückt (Geist), metaphorisiert und als Metapher (Knecht) zum Dreh- und Angelpunkt seiner Theorie macht, und damit auch auf den blinden Fleck des Marxismus hinweist. Seine spekulative Sozialtheorie wäre dann zwar nicht marxistisch, aber so etwas wie der Schatten des Marxismus. Man könnte noch weiter gehen und sagen, dass Kojève in seiner eigentümlichen Weise des Philosophierens-alsÜbersetzen performativ aufzeigt, wie der Geist verschwindet; während das Verschwinden des Geistes den selbstverständlichen, unerklärten Ausgangspunkt der Marx’schen Sozialtheorie bildet. Während also der Marxismus (wie die meisten

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Philosophien des 20. Jahrhunderts) den Geist kommentarlos verabschiedet, macht es sich Kojève zur Aufgabe zu zeigen, warum und wie der Geist untergeht. Bei Kojève geht es also nicht mehr, wie in der (Hegelschen) Philosophie, darum, dass ein/das Bewusstsein sich selbst und seinen oben beschriebenen Bildungsweg (vom natürlichen Bewusstsein zum seiner selbst vollkommen bewussten Geist) betrachtet, sondern es wird auf spekulative Weise beschrieben, wie sich in der und durch die Sozialgeschichte das menschliche Selbstbewusstsein entwickelt. Damit hat Kojève einen neuen Sinn des Ganzen erzeugt: eine neue Erzählung, die von der geschichtlichen Entwicklung und, schließlich, posthistorischen Überwindung des Selbstbewusstseins handelt. Aber dieser neue Sinn wird nicht durch Vernichtung eines vorherigen Sinns hergestellt, sondern entsteht als lediglich aktualisierter, modernisierter ursprünglich-hegelscher Sinn, für den ein Signifikant gefunden wurde, der eine ähnliche Rolle spielt, wie sie »Signor« im oben angeführten Freud-Beispiel für den »Tod« gespielt hat: Der Knecht, der aus Todesfurcht für den Herrn arbeitet, ist der neue Signifikant für den ((Geist)). Geist ist der Sinn, der als philosophischer verdrängt wurde – wie der eingeklammerte Tod24 im Freud-Beispiel. Da er nicht negiert, sondern verdrängt wird, kann er als ein anderer, als sozialhistorischer Sinn wiederkehren. Die Übersetzung der PdG verändert gewissermaßen auch den ›Ausgangstext‹: Kojèves Interpretation ist heute in vielen Zusammenhängen zu dem Horizont des Hegelschen Originaltextes geworden.25 Diese Veränderung des Ausgangstextes entspricht der Wiederverkehr des Verdrängten im oben angeführten Beispiel der Freudschen Selbstanalyse: In Wahrheit kehrt in der Analyse nicht der verdrängte Sinn wieder, sondern es wird ein neuer Sinn geschaffen, der uns als der ursprüngliche erscheint. Diesen neuen Sinn der PdG produziert Kojève nicht als ein autonomes Subjekt – durch Negation einer gegebenen Bedeutung –, sondern als »verschwindender Vermittler«, als Translator.

24 Der zuerst durch »Herr«, dann durch »Signor« signifiziert wurde. 25 Die Hervorhebung der verändernden Rückwirkung des Zieltextes auf die Ausgangskultur ist ein weiterer Aspekt der von Andreas Gipper in seinem Koreferat angeregten Hinterfragung der Konzepte Ausgangs- und Zielkultur.

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234 | A NNETT J UBARA

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Sprachen – Grenzen – Übersetzungen Überlegungen zum translatorischen Kulturbegriff am Beispiel Zentraleuropas J AN S URMAN

»Diese Musik […] ist doch ein unbezahlbares Symbol der Einheit des österreichischen Staates. Wenn ich in einem Sommercafé sitze und diese Musik höre, scheint mir, daß man dieselben Töne gleichzeitig auch in Zadar, Prag und Lemberg hören kann. Diese Märsche sind ›komponiert‹ aus Motiven der verschiedenen Regionen; diese Walzer – schrecklich durch ihre Monotonie.« HENRYK JOSSE

(H.J.E. 1908 ZIT.

NACH

JANOWSKI 2006: 844)

Henryk Josse, ein Krakauer Journalist, der diese Worte an einem Sommertag 1908 auf dem Krakauer Marktplatz verfasste, brachte das Wesen der Habsburgermonarchie auf den Punkt.1 So wie die Operetten der Wiener (aber durchaus auch jeder anderen Habsburger) Moderne, und noch vor den klassischen Musikund Theatererzeugnissen Kakaniens (vgl. Ther 2006), waren die von ihm erwähnten Märsche durch eine hohe Heterogenität und Verwobenheit der Motive, die aus unterschiedlichen Teilen der Monarchie stammten, charakterisiert. Auch die Küche des Imperiums Franz Josephs, die Josse wohl genauso in jedem Sommercafé in Zagreb wie in Prag hätte genießen können, war ein Sammelsuri-

1

Ich danke Lavinia Heller und Fabian Link für zahlreiche und hilfreiche Kommentare, Anregungen und Korrekturen der früheren Fassungen dieses Beitrags.

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um von Speisen, vom delikaten Tafelspitz über deftige Gulaschs bis hin zu böhmischen Mehlspeisen und Wildgerichten aus den Alpen (vgl. Csáky/Lack 2014). Ess- und Musikkultur entstanden in der Habsburgermonarchie aus vielschichtigen und langfristigen Transfer- und Translationsprozessen. Sprache, Speisen und (Musik-)Stile vermischten sich und wurden mehrfach umkodiert, wie der Begriff »Gulasch«, auf den sich das Ungarische mit dem Ausdruck »pörkölt« bezieht, während »gulyás« eine Gulaschsuppe meint (vgl. Csáky 2014: 28). Dieser Artikel behandelt die Frage nach der kulturellen Übersetzung in Zentraleuropa. Das Konzept der kulturellen Übersetzung wird mir als Ausgangspunkt dienen, um einen Zugriff auf die habsburgische Kultur des 19. Jahrhunderts zu entwickeln. Im Mittelpunkt meiner Ausführungen werden Grenzüberschreitungen stehen2 und die funktionale Mehrdeutigkeit der Übersetzung, die diese Grenzüberschreitungen ermöglichen und die sich im Spannungsfeld zwischen Integration und Entfremdung entwickeln. Übersetzung ermöglicht nicht nur Grenzüberschreitungen, sie schafft auch neue Grenzen, indem sie kulturelle und sprachliche Differenzen sichtbar werden lässt. Die Übersetzer in ihrer Rolle als go-betweens oder Vermittler sind durch ihre Kenntnisse dazu prädestiniert, die Unterschiede nicht nur zu durchkreuzen, sondern sie auch in Distinktionsmerkmale umzumünzen und somit kulturelle Distanzen zu schaffen. Sie werden einerseits zu Katalysatoren des Nationalismus, weil sie als Zwischenglieder innerhalb von Kommunikationsprozessen die im Habsburgerreich vorherrschende Mehrsprachigkeit unnötig machen (vgl. Wolf 2012) und somit einsprachige Vergemeinschaftungsformen festigen. Sie unterstreichen auch performativ eine Andersartigkeit des Originals und stellen somit eine kulturelle Differenz in den Mittelpunkt. Dennoch sind sie in der eigenen Kultur verhaftet und ihre Übersetzungspraktiken sagen viel über ihre kulturelle Situiertheit aus, gerade weil sie als Produzenten der Differenz ex negativo auf Ähnlichkeiten hinweisen. Auf diesen Feststellungen aufbauend werde ich den Begriff der kulturellen Grenze und der kulturellen Differenz mit Bezug auf Translationsprozesse ins Zentrum meiner Ausführungen stellen. Meine These lautet, dass die Untersuchung der Translationen eine habsburgische Kultur sichtbar macht, die durch die nationalisierten Kulturen im Laufe des 19. Jahrhunderts überblendet wurde, ohne aus den Alltagspraktiken zu verschwinden. Eine Translationsanalyse, die nicht sprach- und textzentriert ist, sondern einem breiten Kulturbegriff folgt, fördert

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Die Grenze, mit der ihr inhärenter Situiertheit und Abhängigkeit von dem sie feststellenden Forscher, bildet den Grundsatz von Jurij Lotmans Idee der Semiophären und deren Überschreitung. Dieser Grenzbegriff wird für meine Untersuchung leitend sein (vgl. Lotman 2005; Ruhe 2009).

S PRACHEN – G RENZEN – Ü BERSETZUNGEN

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Spuren dieser Kultur zutage und macht somit eine kulturelle Ähnlichkeit oder gar Verwandtschaft inmitten sprachlicher Differenzen sichtbar (vgl. Bhatti/ Kimmich 2015). Nach einer Skizze unterschiedlicher Zugänge, die Habsburger Kultur zu beschreiben, werde ich zwei Beispiele behandeln. Im ersten Beispiel wird es um die Übersetzung Joachim Heinrich Campes Robinson der Jüngere aus dem Deutschen ins Tschechische (1808) gehen. Im zweiten Beispiel behandle ich die Migration von Myhailo Hruševs’kyj aus Kiew nach Lemberg (1894), also aus der Ukraine/Kleinrussland im russischen Imperium nach Galizien im Habsburgerreich. Im ersten Fall schließt die sprachliche Übersetzung keine Transformationen der Inhalte mit ein, im zweiten Fall führt die Bewegung innerhalb einer Sprachgemeinschaft jedoch über imperiale Grenzen hinweg, zu inhaltlichen Umwandlungen. Die Sprachgrenze verliert in diesen Fällen also den kulturell determinierenden Charakter, den wir ihr häufig zusprechen. Die Staatsgrenze wird dagegen zu einer kulturellen Grenze aufgewertet. Aufbauend auf diesen Beispielen werde ich versuchen, einen Kulturbegriff zu skizzieren, der dieser Empirie angemessen ist. Kultur bedarf einer neuen Konzeptualisierung, die zu den nationalisierten Kulturnarrativen des 19. und 20. Jahrhunderts quer zu stehen scheint.

H ABSBURGISCHE M ONARCHIE

UND IHRE

K ULTUREN

Die in der Einleitung angeführte Forschung zur Heterogenität Wiener Kulturgüter wie Küche und Musik, ist einer von mehreren Versuchen, die Idee einer habsburgischen imperialen Kultur zu beschreiben. In der bisherigen Literatur zur Habsburger Monarchie wird mit einem Kulturbegriff gearbeitet, der zwei Verständnisformen von Kultur einzufangen versucht: Einerseits die moderne, allumfassende Kulturauffassung, welche die Kultur als System von handlungsleitenden sozial geteilten Überzeugungen beschreibt, und andererseits ›Kultur‹ verstanden als ein Streben nach etwas Höherem, wie dies Friedrich Nietzsche formuliert hat (vgl. Sommer 2008). Diese Doppeldeutigkeit des Kulturbegriffes ist für den Verlauf dieses Artikels wegweisend, da die Lebenswelt der Habsburger Untertanen im Laufe des 19. Jahrhunderts ›kulturalisiert‹ wurde, das bedeutet, dass das gesellschaftliche Leben, wie auch die Vergangenheitsnarrative, durch die Prismen einer ›höheren‹, später der jeweils ›nationalen‹ Kultur, definiert wurden (vgl. Fillafer 2012). Die österreichische, polnische, ruthenische, tschechische oder ungarische Kultur trat an Stelle der früheren altösterreichischhabsburgischen, universalistisch gedachten Hochkultur, was sich vor allem in der Musik bemerkbar machte. Bereiche, in denen Kultur früher keine explizite

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Rolle spielte, so wie die dörfliche Volkskultur, wurden auf diese Weise in die Nationsbildung einbezogen (vgl. Bausinger 1987). Somit wurde auch der Kulturbegriff selber übersetzt und erweitert, ohne die Spuren seiner ehemals elitären Bedeutung vollständig zu verlieren. Übersetzung, kulturelle oder sprachliche, fügte sich zusammen mit ihrem Vermittlungsideal, das Unbekannte heimisch zu machen, in die habsburgische Idealvorstellung eines auf ein friedliches, gemütliches Zusammenleben hin orientierten soft empires ein (vgl. Prutsch 2003: 36). Das von Übersetzungs- und Transfervorgängen durchzogene Zentraleuropa mündete aber gerade in die politische Imagination eines Völkerkerkers und eines Krieges, was die Frage aufwirft, ob das so optimistisch veranschlagte kulturelle Potpourri und die positiv besetzten Vermittlungsleistungen tatsächlich der lebensweltlichen Wahrnehmung der damaligen Akteure entsprachen, oder nicht vielmehr ein idealisiertes Vergangenheitsbild darstellten. Bedeutete Übersetzung Annäherung oder Distanzierung? Diese Frage hat bereits Michaela Wolf im Hinblick auf Dolmetscherleistungen aufgeworfen, indem sie gezeigt hat, wie Mehrsprachigkeit in der Habsburger Monarchie deshalb zurückging, weil die Kenntnis der Verwaltungssprache schlichtweg nicht notwendig war (vgl. Wolf 2012: 188-193). Wenn Übersetzung zugleich eine kommunikative Rolle hat und eine »performative negotiation of differences between identity constructions« darstellt, wie Federico Italiano und Michael Rössner (2012: 12) ausführen, muss ihre Rolle in den von Nationalisierungsprozessen durchzogenen Imperien des 19. Jahrhunderts besonders eingehend in den Blick genommen werden. Hier wurden Differenzen im Dienst politischer oder ethnischer Nationskonzeptionen erzeugt, aus Texten herausgelesen oder neukodiert. Dieses Schicksal erfuhr etwa die mehrbändige und populäre ethnographische Übersicht Kronprinzenwerk (24 Bände, 1886-1902), das die Vielfalt der Völker in der Habsburgermonarchie zeigen sollte, die unter Franz Joseph kulturell gediehen war. Zuletzt wurde das Werk jedoch als Repräsentation partikularer, den Nationen vorangehender Kulturen gelesen (vgl. Bendix 2003; vgl. a. für ähnliche Prozesse im russländischen Reich Višlenkova 2011). So erging es auch der Küche Wiens, besser bekannt als ©Wiener Küche, die zu einem Symbol und später zu einem Marketingbegriff der österreichischen Hauptstadt wurde und somit als translationales Produkt der wienerischen Identität aufgezwungen wurde (vgl. Danielczyk/Peter 2014; Danielczyk/Wasner-Peter 2007). Die Parallelexistenzen unterschiedlicher Sprachen, regionaler Bräuche, Kleidungen, Sprichwörter – konstitutive Elemente des Habsburgerreichs – lassen die Monarchie als polykulturell erscheinen (vgl. Wolf 2012: 57). Allerdings wurden diese Elemente im Laufe des 19. Jahrhunderts in separate Narrative entwoben. Dabei ergibt sich für HistorikerInnen die Frage,

S PRACHEN – G RENZEN – Ü BERSETZUNGEN

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inwiefern sich das Habsburgerreich von anderen polykulturellen Imperien unterschied und wo die Übergänge zwischen den jeweiligen Staaten verliefen und wie sie erfahren werden konnten, wenn Kulturen in der Forschung als fließende Entitäten definiert werden und die Grenzen einiger Sprachgemeinschaften sich nicht mit den Grenzen des habsburgischen Imperiums deckten. Der imperiale Synkretismus ist nicht der einzige Versuch der HabsburghistorikerInnen, das Gemeinsame aus dem Trennenden herauszuarbeiten. Die bisher ausgereiftesten Arbeiten behandeln vor allem das spätere 19. Jahrhundert, also die Zeit der nationalen Differenzierung. Auf sozialgeschichtlichem Wege versuchen etwa Ernst Bruckmüller (2006) und Istvan Deak (1990) das imperiale und transnationale Bewusstsein bei spezifischen sozialen Schichten der Monarchie hervorzuheben, was sie vor allem mit Mehrsprachigkeit gleichsetzen. Literaturhistoriker wie William O. McCagg (1989) oder Stefan Simonek (2002: 220-229) sehen polyglotte AutorInnen, die sich nationalen Zuschreibungen entzogen, als die Hauptvertreter habsburgischen Schrifttums: Zu nennen sind die böhmischen Juden Moritz Hartmann, Alfred Meissner und Siegfried Kapper (McCagg) oder der deutsch-/polnischsprachige Dichter Tadeusz/Thaddeus Rittner (Simonek). Simona Monti (2010) dagegen verortet die Eigenheit habsburgischer Literatur im spezifischen Verhandeln von kolonialen Kontexten. Hier kann auch auf eine längere Geschichte habsburgischer intellectual history hingewiesen werden, die gemeinsame Umgangsformen mit dem Fremden auf gemeinsame philosophische Traditionen zurückführt. Ernst Gellner (1998) steht stellvertretend für diesen Ansatz. Salvadore Pappalardo (2011), um ein letztes Beispiel zu nennen, visiert dagegen eine (unbewusste) Verwendung bestimmter Symbole in unterschiedlichen Sprachen an und plädiert für eine Offenheit der habsburgischen Kultur, die linguistische, kulturelle und religiöse Grenzen transzendierte (vgl. a. Feichtinger 2014). Die Kultur, der in diesem Aufsatz nachgegangen wird, steht außerhalb dieser Beschreibungen. Auf Moritz Csákys an Bronisław Malinowski angelehnter Kulturdefinition aufbauend, will ich Kultur als einen hybriden, performativen, dynamischen, entgrenzten Kommunikationsraum sehen, der von den historischen Akteuren wie auch den HistorikerInnen immer aufs Neue gelesen werden kann und muss (vgl. Csáky 2010: 89-128). Obwohl dieser Kommunikationsraum nicht stabil ist und je nach Perspektive variiert, wird dieser Raum nicht beliebig, da er durch den Bezug auf seine Grenzen definiert wird. Die habsburgische Kultur, die im Zuge der Nationalisierung unsichtbar gemacht wurde, will ich hier entschleiern. Das Gemeinsame kann aber nicht einfach herausgelesen werden, sondern erhält seine Konturen erst dadurch, dass seine Grenzen kartiert werden. Diese Neukartierung bedeutet auch, dass die Trennlinien, welche die Karte Zentraleu-

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ropas durchkreuzen, hinterfragt werden müssen. Mein erstes Beispiel nimmt einen etablierten Topos der Historiographie, den deutsch-tschechischen Konflikt in Böhmen, ins Visier. Wie ich zeigen werde, hilft der offene Translationsbegriff, hier eine gemeinsame Kultur zu verorten, die von Übersetzern überschrieben wird.

S PRACHWECHSEL OHNE KULTURELLE Ü BERSETZUNG : R OBINSON DER J ÜNGERE Der vorliegende Fall ist eine Übersetzung aus dem Deutschen ins Tschechische, zwei Sprachen die im frühen 19. Jahrhundert für unterschiedliche Kommunikationskontexte entwickelt waren und in einer Hierarchie zueinanderstanden: Deutsch war Kultur- und Bildungssprache, Tschechisch eine vornehmlich gesprochene Sprache, deren Standardisierung als Schriftsprache erst im Entstehen begriffen war (vgl. Berger 2000). Als Beispiel behandle ich einen der frühen deutschsprachigen Jugendromane, Joachim Heinrich Campes Robinson der Jüngere (1779/80), dessen Übersetzung ins Tschechische von Václav Matěj Kramerius im Jahr 1808 erschien und als der Beginn tschechischsprachiger Kinderliteratur gefeiert wird (vgl. Červenka 1959: 55).3 Wem dient und welche kommunikative Wirkung hat eine Übersetzung, wenn eine Gesellschaft respektive ihre lesekundigen Schichten plurilingual sind? Und was kann aus dem Verhältnis von Text und Bedeutung herausgelesen werden? Nationalisierung Bereits die Existenz dieser Übersetzung – in der Habsburgermonarchie war Tschechisch im frühen 19. Jahrhundert, mit wenigen Ausnahmen, als Schriftsprache nicht existent – muss die Frage nach dem Ziel der Translation in dieser Zeit aufwerfen. Eine von Jiří Fiala (1992) erstellte Übersicht über die tschechische Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts zeigt die übersetzten Textsorten: Librettos, Dramen, Gedichte und Märchen, vereinzelt auch populäre Handbücher. 1804 veröffentlicht Josef Jungmann mit den Übersetzungen François-René de Chateaubriands Atala, ou Les Amours de deux sauvages dans le désert und 1811 John Miltons Paradise Lost zwei Bücher, die heute und auch schon zu Jungmanns Zeiten als paradigmatische Texte tschechischer Sprache

3

Eine frühere Übersetzung, die 1797 erschien, geriet schnell in Vergessenheit und wurde weder in der Literatur der Zeit noch in gegenwärtiger Sekundärliteratur erwähnt.

S PRACHEN – G RENZEN – Ü BERSETZUNGEN

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gelten und galten.4 Es handelte sich um wenige Texte, die zudem von einer nur kleinen Gruppe von Gelehrten übersetzt wurden, die sich auf vielfältige Weise dem Aufbau der tschechischen Sprache widmete. Der Privatgelehrte, Lehr- und Wörterbuchautor Karel Ignác Thám übersetzte etwa Schiller und Shakespeare, aber auch ein Ratgeberbuch zum Umgang mit Dienstmädchen (vgl. Merhaut et al. 2008; F.S. 1804; Mi. 1906). Am besten bekannt ist er für ein Pamphlet zur Verteidigung der Bedeutung der tschechischen Sprache aus dem Jahr 1783, in dem er ein Programm der Spracherneuerung für den alltäglichen Umgang vorstellte (vgl. Thám 1783). Jungmann war nebst seinen Übersetzungen ein einflussreicher Literaturhistoriker und verfasste in den Jahren 1834-39 gemeinsam mit Jakub Malý das fünfbändige tschechisch-deutsche Wörterbuch. Kramerius, um zu Robinson zurückzukehren, war gleichzeitig auch Zeitschriftenredakteur und Buchverleger, sein Verlag Česká expedice (Tschechische Expedition) war um die Jahrhundertwende die wichtigste Adresse für tschechischsprachige Bücher. Von seiner Bedeutung für die tschechische Nationalbewegung zeugt, dass das Digitalisierungsprojekt der Tschechischen Nationalbibliothek seinen Namen trägt.5 Die Übersetzung in die böhmische Kultur war also »not a simple act of translation«, sondern vielmehr ein »act of cultural reaffirmation«, um Shanta Ramakrishnas Wendung zu verwenden (ebd. 2010: 33). Diese Funktion scheint charakteristisch für subalterne Sprachen zu sein, die ihre Existenz und ihre Kulturanbindung gerade durch Übersetzungen sichern wollen. Annie Brisset, die die Rolle der Übersetzungen im frankophonen Kanada untersucht, schreibt dazu: »The task of translation is thus to replace the language of the Other by a native language. [...] Translation becomes an act of reclaiming, of recentering of the identity, a re-territorializing operation. It does not create a new language, but it elevates a dialect to the status of a national and cultural language.« (Brisset 2001: 346) Auch die tschechischen »národní buditele« (Erwecker der Nation) haben einen anderen (der aber erst im Entstehen begriffen ist) und erheben einen Dialekt oder ein Patois zu ihrer Schriftsprache. Dennoch kreierten sie diese gleichzeitig, was erklärt, warum Übersetzungen in den Prozessen der Nationalbildung eine so bedeutsame Funktion zukommt. Die Übersetzer des frühen 19. Jahrhunderts waren demnach sowohl bewusst als auch unbewusst wichtige Akteure im Nationalisierungsprozess und es empfiehlt sich, die Übersetzung Robinsons durch die Brille der Nationalisierungsbestrebungen zu lesen. Diese ergänzt die von Michael Wögenbauer (2008) kürzlich

4

Siehe dazu Jungmanns Vorworte zu seinen Übersetzungen (Jungmann 1806; 1811).

5

Siehe http://kramerius.nkp.cz/kramerius/Welcome.do, ges. 27.11.2015.

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vorgestellte Idee der ›Vernakularisierung‹, d.h. der Zugänglichmachung des anderssprachigen Wissens für das böhmische Publikum, das der Prager Bohemist als die Grundlage seiner Beschreibung der Zeit um die Jahrhundertwende vorschlug. Denn auch die Zugänglichmachung von Wissen war mit einem Sprachwechsel verbunden; die lesekundigen Jugendlichen konnten aufgrund ihrer Bildung Deutsch wohl viel besser verstehen als Tschechisch.6 Wir können deshalb davon ausgehen, dass sie den Roman, der als Bestseller große Verbreitung in Zentraleuropa fand, bereits in der Campeischen Fassung kannten. Im Vergleich zu Literatur, deren Erstfassung auf Englisch, Italienisch oder Spanisch vorlag und deren Leserschaft in den böhmischen Ländern somit beschränkt war, flossen durch die Übersetzung aus der weit verbreiteten deutschen Sprache keine neuen Informationen in die Provinz. Bei dieser Übersetzung ging es also darum, den Kindern und Jugendlichen die tschechische Sprache beizubringen und sie im Sinne des tschechischen Nationalismus zu erziehen. Wie Jan Červenka (1959) zeigt, gestaltet Kramerius den Text in der Übersetzung viel dynamischer, indem er die direkte Rede und Idiome aus der gesprochenen Sprache verwendet. Dadurch wurde das Werk für den Sprachunterricht brauchbar. Diese Praxis passte ins Bildungskonzept, das Kramerius in seinen anderen Publikationen verfolgte, die zugleich auf die Bildung eines tschechischssprachigen Publikums wie auch dessen Ausbildung abzielten und aufklärerische Ideen verfolgten. Wie oben gesagt ging es darum, die tschechische Sprache als Schriftsprache zu etablieren, die alle Literaturbereiche abdeckt und somit der deutschen ›Kultursprache‹ entgegengesetzt werden konnte.7 Dieses Moment kultureller Aufwertung oder Selbstzivilisierung wird noch klarer, wenn man sich mit den Inhalten des Jüngeren Robinson auseinandersetzt. Zivilisierung Campes Robinson war selber eine Übersetzung, die im Vergleich zu Defoes Original einen deutlich kritischen Gestus aufwies. In der Version des aufklä-

6

Deutsch blieb noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein die Sprache der gebildeten

7

Diese Sprachhierarchien werden auf unterschiedliche Weise thematisiert, so am Bei-

Schichten (vgl. Sayer 1996). spiel der langen, aber durch die deutsche Unterdrückung unterbrochenen Geschichte des Tschechischen. Auch die Entwicklung der Sprache wurde hierarchisch gegliedert in Dichtung an erster, Belletristik an zweiter und Philosophie an dritter Stelle (vgl. Jungmann 1948). Eine interessante Analyse dieses Konzeptes findet sich bei Vladimír Macura (1973).

S PRACHEN – G RENZEN – Ü BERSETZUNGEN

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rerischen Pädagogen: »Robinson has to learn to live within nature without building a quasi-European culture […] [r]ather he builds an anti-European culture and suggests it as an alternative to the European.« (Shavit 2009: 127) Die von Rousseaus Bildungsideal inspirierte Fassung, in der Robinson noch hilfloser als in der Urfassung der Naturgewalt ausgesetzt wird, kann dennoch nicht als ein antikolonialer Roman verstanden werden. Vielmehr wird er als ein selfmade-man zum Herr über seine Seele, seinen Körper und seine Umgebung (vgl. Zantop 1999: 131), und schließlich auch über den kolonisierten Anderen stilisiert. Er durchlebt eine Metamorphose von einem Menschen, der die zivilisatorischen Errungenschaften seiner Gesellschaft zunächst nicht genügend nutzte (ebd.: 133), zum fleißigen Handwerkermeister. Gemeinsam mit Freitag gibt Robinson seinen »Mitmenschen ein Beispiel […], wie man es machen müsse um hier zufrieden, und einst ewig glüklich [sic!] zu werden«, wie Campe (1860: 203) schreibt. Der Hinwendung zum Fleiß kommt bei den tschechischen Kulturbestrebungen eine besondere Bedeutung zu. Es war gerade der Fleiß, der in mehreren Apologien für die tschechische Sprache als eine Tugend gefordert wurde, um ihn der deutschen Kultur entgegenzusetzen. Nur die Arbeit an der eigenen Kultur erlaubte eine Rückbesinnung auf frühere Werte, die das Tschechische zu Zeiten Hus’ großmachten. Es war eine Art innere Zivilisierungsmission (vgl. Osterhammel/Barth 2005), die gegen das kulturelle Übergewicht des Deutschen gerichtet werden sollte. Und in diesem Kontext kam Robinson dem Jüngeren eine besondere Bedeutung zu, denn der Roman sollte die junge Generation der »wiedererwachten« Nation auf dem Weg zu ihrer Maturität begleiten. Domestizierung Was aber wurde übersetzt bzw. was musste in Böhmen übersetzt werden, um diesen pädagogischen Ansprüchen der künftigen Selbstverwirklichung zu genügen? Die Verständlichkeit, die Kramerius hier zu erreichen versuchte und die besonders aufgrund des jungen Alters seiner antizipierten Leserschaft wichtig war, stellte der tschechische Pädagoge durch eine ›Einbürgerung‹ des Textes (vgl. Schleiermacher 1963) in die tschechische Kultur her. Deutlich wird diese Technik der Übersetzung an den tschechisierten Namen der Akteure, sowohl der Kinder, die der Erzählung zuhörten, wie auch der Personen der Erzählung, etwa Pátek für Friday und Krůzo für Cruzoe (Campe 1838). Dennoch veränderte Kramerius nicht so viel wie z.B. der anonyme englische Übersetzer von 1789, der die Erzählsituation von einer spontanen Versammlung der Familie unter einem Apfelbaum auf einem Gut nahe Hamburgs zu quasi-pädagogischen Unterrichtseinheiten am Zimmerkamin nahe Exeter machte (vgl. Campe 1789: 10;

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1860: 1-2). Kramerius versuchte stets bei der deutsch-tschechischen Version der Erzählung zu bleiben, in der die Kinder der deutschen Familie tschechische Namen trugen. Andere Übersetzer dieser Zeit haben eine deutlichere Domestizierung durchaus praktiziert.8 Zwei Dinge sind hier anzumerken: Erstens brauchte Kramerius nicht auf idiomatischer und inhaltlicher Ebene das Werk ›tschechisch‹ zu machen, denn das kulturelle Moment des Erzählens im Garten eines böhmischen Lesers war ihm nicht fremd, während der englische Übersetzer eine kulturelle Domestizierung (vgl. Venuti 1995) anstrebte, um das Werk pädagogisch wirksamer zu machen. Somit wäre Kramerius’ Übersetzung keine Translation fremder Kultur, sondern bloß ein Sprachwechsel. Zweitens bricht Kramerius auf diese Art und Weise die ›Wir-Anderen‹ Ebenen auf, denn die Kinder werden durch dieses Schema zu ›wir‹ aus Hamburg. Dies ist eine andere Form der Einbeziehung des anderen in das ›Wir‹ als die zu dieser Zeit noch übliche Transkription fremdsprachiger Namen, in denen etwa z.B. »Voltaire« zu »Wolter« und »Rousseau« zu »Ruso« wurden. Im späteren Verlauf der Geschichte Böhmens und Mährens werden Namen gewichtige markers of difference und haben die Funktion, die Grenze zwischen den Deutschen und den Tschechen zu unterstreichen. Demgegenüber markiert Kramerius inhaltlich keine Differenzen, er schreibt keine Erzählung von zwei böhmischen Kulturen fort, sondern macht vielmehr die sprachlichen Trennlinien unsichtbar. Eines ist hier wichtig festzuhalten: Kramerius schrieb sich mit seinem Buch in die Nationalisierungsbestrebungen seiner Zeit ein, blieb aber seinen pädagogischen Idealen der Verständlichkeit verpflichtet. Und dafür musste er auf eine Kultur zurückgreifen, die ihm heimisch war, nämlich die zweisprachige böhmische, innerhalb derer eine Übersetzung ein Sprachwechsel bedeutet, aber keinen Wechsel des kulturellen Codes bedarf, um verständlich zu sein.

K ULTURELLE Ü BERSETZUNG M YHAJLO H RUŠEVSKYJ

OHNE

S PRACHWECHSEL ?

Vom deutschsprachigen Zentrum Böhmens, Prag, wo Kramerius wirkte, möchte ich nun einen Schritt in Richtung Osten wagen, in das galizische »multifunktionale Piemont« (Mark 1993), Lemberg. Hier will ich an einem ruthenisch/

8

Vgl. die Abschnitte zu Übersetzungen ins Tschechische im 18. und frühen 19. Jahrhundert in der Übersicht zur Geschichte tschechischer Übersetzungen (vgl. Belisová et al. 2002).

S PRACHEN – G RENZEN – Ü BERSETZUNGEN

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ukrainischen Beispiel zeigen, wie eine Translation stattfand, ohne dass die Sprache geändert wurde. Es geht nicht mehr um eine Textübertragung, sondern um die Imperien überschreitende Mobilität, was der ursprünglichen Bedeutung des Übersetzungsbegriffs (translatio) nahekommt. Somit komme ich auch wieder zum eingangs erwähnten Übersetzungskonzept: die Grenze und deren Überschreitung. Bei diesem Beispiel ist zu fragen, inwiefern eine Erfahrung der Alterität bei Gelehrten festzustellen ist, die sich innerhalb einer Sprache und über die imperialen Grenzen hinwegbewegen. Nach den herkömmlichen Definitionen bewegte sich mein Protagonist innerhalb einer Kultur. Wie ich zeigen werde, musste es während einer Wanderung zu Transformationen kommen. Wie also hingen Wanderungsbewegungen, der Kulturbegriff und seine sprachliche Verankerung zusammen? Galizische Kulturalisierungen Im späten 19. Jahrhundert kam es in Galizien – wie auch in anderen Regionen der Monarchie – zur Spaltung der galizischen Gesellschaft in mehrere kulturell definierte Fraktionen, wobei der Hauptunterschied zwischen den politisch einflussreichsten Gruppen, Polen und Ruthenen, die Konfession war (vgl. Świątek 2014; Zayarnyuk 2013). Die polnische Gesellschaft verfügte über eine Schriftsprache, das Ruthenische als Verwaltungs-, Literatur- und Wissenschaftssprache war dagegen im Entstehen begriffen; durch Gesetze und Bildungspraxis setzte sich das Polnische als Sprache der Bildungsinstitutionen durch und hatte die Position inne, die das Deutsche in Böhmen hatte (vgl. Surman 2012a). Zur Konfliktsituation zwischen diesen beiden Gruppen kam noch ein weiteres Moment hinzu, und zwar die Spannungen zwischen Vertretern unterschiedlicher Konzepte der ruthenischen Nationsbildung. Die Hauptströmungen waren erstens die konservativ und kirchenslawisch orientierten Altruthenen, zweitens eine russophile (später moskwophile) Bewegung denen eine panimperiale, orthodoxrussische Kultur als Modell vorschwebte, drittens die volksnahen und ukrainophilen Ruthenen, die im Rahmen einer eigenen ukrainischen Nation eine grenzübergreifende völkische Verbindung postulierten (vgl. Hrytsak 2010/2011). Die imperiale Grenze war mit der konfessionellen Grenze verbunden, denn im russischen Imperium war Orthodoxie vorgeschrieben, im Habsburgerreich der Katholizismus.9

9

Selbstverständlich waren es oft nur offizielle Zuschreibungen und die Situation auf der Praxisebene war viel fluider (vgl. Kuzmany/Adelsgruber/Cohen 2011: 159-206).

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Die ukrainophile Bewegung, die aus diesen Konflikten siegreich hervorging, konstituierte sich im späten 19. Jahrhundert um Myhajlo Hruševs’kyj, einen Kiewer Historiker, der 1894 nach Lemberg berufen wurde. Diese Bewegung war am Volk orientiert und transzendierte die Grenzen zwischen den Imperien Romanovs und Habsburgs. Myhajlo Drahomanov, ein anderer Migrant aus dem Russischen Reich, der sich aber in Galizien aus politischen Gründen nur kurze Zeit aufhalten durfte, beeinflusste eine Generation von Ruthenen, die sich ab den 1870er Jahren verstärkt für eine Verbindung zwischen Kleinrussen und Ruthenen (so die offiziellen Namen in den zwei Imperien) im Rahmen einer ukrainischen Nation einsetzten (vgl. Hrycak 2006: 162-189). Wie beim böhmischen Fall standen auch hier mehrere sprachliche Übersetzungen am Anfang der Bewegung, allen voran die Enejida von Ivan Kotljarevs’kyj, eine freie Übersetzung respektive Travestie der Aeneis, in der mit dem Sprachwechsel gleichzeitig auch ein Personenaustausch stattfand – die trojanischen Helden wurden zu Saporoger Kossaken (vgl. Petrenko 1988). Die in der Volkssprache geschriebene Dichtung gilt als erstes Werk moderner ukrainischer Literatur – 1991, im Jahr der Unabhängigkeit der Ukraine, erschien auch die Verfilmung, die heute noch Kultstatus besitzt.10 Und auch später, vor allem in Galizien, wurden Übersetzungen dazu verwendet, ein verbindendes Geschichts- und somit Gegenwartsnarrativ zu entwickeln (vgl. Wöller/Hofeneder 2012). Hruševs’kyj erhielt 1894 den Lehrstuhl für Geschichte in ukrainischer Sprache (eigentlich in język ruski, also Ruthenisch), ein Posten, der eine Konzession an die ukrainischen Nationalisten (narodniki) in Galizien im Zuge der politischen Verständigung, darstellte (vgl. Barvins’kyj 1925). Der Lehrstuhl – obwohl offiziell nicht so genannt, wurde er bereits seit dem Inaugurationsvortrag als Lehrstuhl für Ukrainische Geschichte betrachtet (vgl. Plokhy 2005: 40-41) – besaß große Bedeutung für die nationale Bewegung und war deshalb von Vertretern unterschiedlicher Interessengruppen heiß umkämpf. Verbunden mit dem Lehrstuhl hatte Hruševs’kyj auch leitende Funktionen in anderen Organisationen inne, allen voran in der Ševčenko-Gesellschaft, eine Art Akademie der Wissenschaften (vgl. Zajceva 2006: 201-254). Die Berufung eines jungen, noch nicht graduierten russischen Untertanen, der einem Studenten der führenden königlich-kaiserlichen historischen Institution des Wiener Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Volodymyr

10 Analog zu Kotljarevs’kyj ukrainischer Version erschien 1845 (geschrieben 1820) Vikencij Ravinskis Eneida navyvrat (Aeneis umgedreht) in belorussischer Volkssprache, die einen ähnlichen Status in Weißrussland genießt (vgl. Sussex/Cubberley 2011: 88).

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Myl’kovych, vorgezogen wurde, war für diesen Lehrstuhl symbolisch. Mit Hruševs’kyj sollte ein Vermittler zwischen Ost und West berufen werden (vgl. Pacholkiv 2002: 179). Das bedeutete eine Abkehr von einem ruthenischhabsburgischen Narrativ, für das Myl’kovych stand und das stark mit der konservativ ausgerichteten, griechisch-katholischen Konfession verbunden war (vgl. Tel’vak 2008). Hruševs’kyjs Übersetzungen Hruševs’kyjs Ankunft in Galizien war mit einer zweifachen sprachlichen Übersetzung verbunden. Zuerst wurde sein Name, auf Kyrillisch Грушевський, latinisiert, und zwar in polnischer Schreibweise als »Gruszewski«. Es gab damals keine bindenden Regeln für Transkriptionen und diese wurden nach den landesüblichen Lautgesetzen vollzogen, was oft mit einer kulturellen Assimilation der Migranten an die jeweilig herrschende Sprache einherging.11 Um ein Beispiel zu geben: der Buchstabe »ш« in seinem Namen konnte damals als »sch« (deutsch), »sz« (polnisch) oder »š« (tschechisch oder wissenschaftliche Transliteration) wiedergegeben werden. So verzeichnete die österreichische Nationalbibliothek seine Werke unter Hruschewskyj. Die 1906 in Leipzig erschienene Übersetzung seiner Geschichte des ukrainischen (ruthenischen) Volkes erfolgte unter den Namen Michael Hruševśkyi, die 1915 veröffentlichte Die ukrainische Frage in historischer Entwicklung trug als Name des Autors Michael Hruschewskyj. Hruševs’kyj hatte in den meisten Kontexten nichts gegen die diversen möglichen Schreibweisen seines Namens einzuwenden. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Vehemenz, mit der er eines Tages in die Schreibweise des Namens eingriff, besondere Bedeutung. Der Buchstabe, den er selbst für die Transkription seines Namens beanspruchte, war nicht die oft für polnisch-ruthenische Missverständnisse sorgende polonisierende Transkription von »ш« als »sz«, sondern die Transkription des Buchstabes »г«. In seinem Antrag vom Juli 1896 argumentiert er, dass die Wiedergabe als »Gruszewski« statt »Hruszewski« auf seine russische Abstammung hindeute, denn in ruthenischer Sprache wird »г« als »h« und

11 Die Transkriptionsregeln spielten eine durchaus konfliktäre Rolle in der Latinisierung des ruthenischen Alphabets in den 1830er Jahren sowie 1859. Das Konfliktpotential, das in der Frage mitschwingt, welche Buchstaben aus welchem slawischen Alphabet am geeignetsten sind, um die ruthenischen Laute wiederzugeben, darf nicht unterschätzt werden. Die Wahl polnischer Buchstaben implizierte z.B. eine kulturelle Nähe. Für eine vertiefte Diskussion dieser Zusammenhänge siehe Surman (2012b: 84-88) und Franko (1912).

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nicht »g« ausgesprochen. Dieser Antrag bezog sich im Übrigen lediglich auf eine Veränderung der Schreibweise in den Universitätsdokumenten und nicht auf eine Namensänderung mit rechtlich bindendem Charakter. Dennoch war ihm die Bewilligung des Antrags wichtig, um seine identitäre Zugehörigkeit auf den zirkulierenden Vorlesungsverzeichnissen kenntlich zu machen. Auch die Universitätsverwaltung nahm diesen Antrag ernst und legte ihn den sprachwissenschaftlichen Experten zur Begutachtung vor. Die Experten stimmten der Veränderung zu und die Universität (wie auch die habsburgische Universitätsverwaltung in Wien) verwendete ab da in allen Dokumenten die ruthenisch-polonisierte Variante Hruszewski (Bericht 20.8.1896). Auch Hruševs’kyjs weitere Karriere war durch Sprachfragen gekennzeichnet. Als ein im Zarenreich sozialisierter Historiker sprach er kein Polnisch, das hegemoniale Sprache in Galizien und die Verwaltungssprache der Universität war. Es ist zwar davon auszugehen, dass er der inoffiziellen Forderung, binnen 3 Jahren Polnisch zu erlernen, nachgekommen ist,12 doch weigerte er sich für Universitätsgeschäfte die polnische Sprache zu verwenden und bestand auf sein Recht, Ruthenisch zu sprechen, was wiederum die polnischsprachigen Professoren ablehnten. Die Konflikte begannen bereits 1895, als Hruševs’kyj die Korrespondenz mit der Universitätsadministration auf Ruthenisch führte, was mehrheitlich abgelehnt wurde (Bericht 4.3.1895). Im November 1901 kam es zwischen ihm und dem Professorenkollegium zu einem tieferen Zerwürfnis: bei Verhandlungen um ein Lektorat in ruthenischer Sprache, lehnte Hruševs’kyj wiederholt ab, Polnisch zu sprechen, und nachdem der Dekan Twardowski ein Mitglied des Kollegiums um die Übersetzung bat, verließ Hruševs’kyj zu guter Letzt den Raum (Twardowski 24.07.1901; Hruševs’kyj 26.07.1901: 29). In den Ministeriumsakten verwiesen die Konfliktparteien auf die bestehende Gesetzeslage, wobei das Ministerium dem Dekan Recht gab und anordnete, Hruševs’kyj solle Polnisch sprechen (Ministerium für Cultus und Unterricht 1902). Dennoch lehnte sich der Historiker immer wieder gegen diese Anweisung auf, z.B. dadurch, dass er die offiziellen Angaben an die Universitätsleitung und Fakultät auf Ruthenisch einreichte (Dekanatsschreiben 11.3.1905). Konflikte mit den galizischen Polen führten gleichzeitig zu Spannungen zwischen Hruševs’kyj, der zum Anführer der ukrainischen Bewegung in Galizien wurde, den Konservativen und den Russophilen. Zu bestimmten Zeiten waren die Bezeichnungen » Hruševs’kyjs Ukrainer« und » Hruševs’kyjs Haydamaken«

12 Diese Forderung, die seit 1848 bei Berufungen zwischen Universitäten mit unterschiedlichen Lehrsprachen in der Monarchie üblich war, wurde in Hruševs’kyjs Vertrag nicht schriftliche fixiert, so der Dekan Kazimierz Twardowski (24.07.1901).

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in der uneinigen ruthenischen Presse üblich für ukrainophile Studenten (vgl. Surman 2010). Im Vergleich zu den griechisch-katholischen Konservativen setzte Hruševs’kyj auf eine intensive Auseinandersetzung zwischen Polen und Ukrainern und sah sie als seit langer Zeit verfeindete Kulturen an. Hier kommt ein zweites Moment der Übersetzung zutage, wobei die Frage der Richtung durchaus unterschiedlich beantwortet werden kann. Und zwar setzte Hruševs’kyj für sein historisches Narrativ die gleichen Maßstäbe wie für seine Politik, die sich um die Frage des ewigen Konfliktes zwischen den ukrainischen Volksmassen und den jeweils als Unterdrücker geltenden Polen und Russen drehte.13 Diese in Kiew im Kreis um seinen Lehrer Volodymyr Antonovyč weit verbreitet Ideologie, war in Galizien vor der Berufung des jungen Historikers nicht prominent gewesen (vgl. Plokhy 2005: 23-61). Diese Haltung brachte Hruševs’kyj immer wieder in ein Spannungsverhältnis zu den führenden Nationalisten seiner Zeit, etwa Anatol’ Vahnianyn und Oleksandr Barvins’kyj. Als er 1911 die Schrift Unsere Politik veröffentlichte, in der er die konservativen Intellektuellen und ihre politischen Ideale angriff und sich für eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Ukrainern aus beiden Imperien aussprach, wurde er schließlich von den Konservativen angegriffen und als Präsident der ŠevčenkoGesellschaft abgesetzt (vgl. Vynar/Pšenyčnyj 2003; Vynar 2006: 92-110). Jaroslav Daškevyč deutet dies als den »Bruch zwischen Galizischem Partikularismus und Hruševs’kyjs allukrainischer Politik« (ebd. 2007: 375). Man kann aber ergänzen, dass dieser Bruch vielmehr ein Ausbruch der bereits seit Hruševs’kyjs ›Über-Setzung‹ über die imperiale Grenze hinweg bestehenden Spannungen war. Hruševs’kyjs ›Über-setzung‹ bedeutete eine Verschärfung seiner Position angesichts der Differenzen, mit denen er konfrontiert war. Bald nach seiner Ankunft in Lemberg wurde er von einem apolitischen Historiker zu einem politisch engagierten Intellektuellen, dann zu einem Ukrainer, der auf die ›richtige‹ Schreibweise seines Namens beharrte, schließlich zu einem ethnischen Nationalisten. Er stellt ein gutes Beispiel eines restless hybrid (Papastergiadis 2002) dar, der seine Möglichkeiten auslotet, die Grenzen des Möglichen verschiebt und sich infolge dieser Verschiebungen selbst verändert. Er nahm auch einen Teil der imperialen Kultur Russlands auf, in der der »Narzissmus der kleinen Differenzen« (Freud 1948: 474) zwischen Russen und Kleinrussen scharfe ethnisierte Trennungen hervorrief, die früher in Galizien in dieser Form nicht existierten.

13 Zum Vergleich mit anderen Narrativen vgl. exemplarisch Kapeller (2012: 213-282).

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Imperiale Abgrenzungen Die von Hruševs’kyj erlebten und mitverursachten Spannungen markieren grundlegende Unterschiede, die zwischen der intellektuellen Entwicklung der Eliten in den zwei zentraleuropäischen Imperien bestanden. Während in Galizien die konservativen Kräfte und nationalen Diskurse bestimmten, herrschte in Romanovs Weichselland und Kleinrussland eine größere Heterogenität politischer Kulturen – vom Liberalismus, Positivismus und Sozialismus über den ethnischen Nationalismus und Antisemitismus –, und dies unter deutlich ungünstigeren Umständen für die intellektuelle Entwicklung aufgrund von Zensur und zeitweiligen Sprachverboten (z.B. des Ukrainischen nach dem Emser Erlass 1876 bis 1906).14 Im Habsburgerreich konnten sich die »-ismen« nur schwer und mit Verzug zu ihren östlichen Nachbarn durchsetzen, unter anderem weil die politisch überwachten Universitäten durch das 19. Jahrhundert hindurch konservativ ausgerichtet waren. Wissenschaftler, die aus Romanovs Imperium an die galizischen Universitäten wechselten, wie Julian Ochorowicz, Jan Baudouin de Courtenay und Wincenty Lutosławski, hatten ähnliche Erfahrungen gemacht. Sie alle mussten aufgrund ideologischer Konflikte, die bald nach ihrer Ankunft in Galizien entflammten, die Universitäten verlassen (vgl. Wantuła 1908; Weeks 2015; Mróz 2008). Ein anderes Beispiel ist Benedykt Dybowski, der wegen seiner Vorträge zu Darwin, die das städtische Bürgertum Lembergs aufbrachten, beinahe zur Rückkehr ins Russische Reich gezwungen wurde (vgl. Brzęk 2001: 273-278). Anders erging es den aus Wien kommenden Gelehrten. Twardowski war in Wien sozialisiert und ausgebildet und erfreute sich in Lemberg größter Beliebtheit. Ähnlich erlebten dies auch andere in Wien ausgebildete Forscher und Intellektuelle, wie der gleichfalls ukrainophile Linguist Iwan Franko, der trotz gewisser Spannungen in Galizien erfolgreicher war als Hruševs’kyj (vgl. Simonek 2013). Die Liste der vergleichbar ›glücklichen‹ Fälle könnte hier erweitert werden, denn der Austausch mit dem imperialen Zentrum blieb durch das 19. Jahrhundert hindurch trotz Nationalisierungstendenzen in der Akademie bestehen (vgl. Surman 2015). Für das heutige Verständnis mag es ironisch klingen, aber die aus Wien nach Galizien migrierenden Intellektuellen mussten bloß einen sprachlichen Wechsel vollziehen und überkreuzten somit keine kulturelle Grenze im Lotmanschen Sinne. Die aus Kiew oder Warschau nach Galizien kommenden Intellektuellen da-

14 Der Bedeutung dieser Unterschiede wird erst in jüngerer Zeit von HistorikerInnen Rechnung getragen, vgl. für den polnischen Fall Jedlicki (2009).

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gegen konnten zwar in einer Sprache bleiben, dennoch unterlagen sie kulturellen Übersetzungen. Wenn es also, wie z.B. Maciej Janowski schreibt, eine Galizische politische Öffentlichkeit gab (vgl. Janowski 2006: 844), dann gab es auch eine galizische Ideologie, die ebenfalls durch das Prisma Habsburgischer Kultur gelesen werden muss.

S CHLUSS An den zwei hier vorgestellten Beispielen, Robinson und Hruševs’kyj, habe ich drei Aspekte der Übersetzung vorgeführt, die im Kontext Zentraleuropas von Bedeutung waren. Erstens, kulturelle Übersetzung ist nicht auf einen Sprachwechsel beschränkt. Die Gleichsetzung von Sprache und Kultur ist ein Ausdruck methodischen Nationalismus, da sie einem Medium per definitionem ein Differenzierungspotential zuschreibt, ohne die jeweiligen Transformationen empirisch zu untersuchen. Die translation proper von Kramerius bleibt innerhalb eines kulturellen Rahmens und beinhaltet nur »oberflächliche« Transformationen, obwohl die Sprache geändert wird. Hruševs’kyj dagegen bewegt sich zwar innerhalb einer Sprache, ist aber Translat sensu stricto, ein Subjekt mehrerer Transformationsprozesse, das im Wechselverhältnis zu seinem Umfeld Bedeutung gewinnt. Zweitens, diese Transformationen verweisen auf eine kulturelle Grenze, die quer zu den gegenwärtig gültigen Grenzvorstellungen verläuft. Im frühen 19. Jahrhundert gab es in Böhmen zwei Sprachen, die nicht mit zwei Kulturen gleichzusetzen sind. Der ethnisch-nationale Differenzierungsprozess war zwar bereits im Gange, wenn auch sein Ausgang durchaus offen war, doch konnte dieser Prozess die Ähnlichkeiten nicht überschreiben, sonders höchstens mit einem sprachlichen Schimmer verzieren, um die Distinktionen sichtbar zu machen.15 Die imperiale Grenze im Osten der Habsburgermonarchie war dagegen keine Sprachgrenze, sondern eine Kulturgrenze; sie durchtrennte seit dem Vertrag von Perejaslaw (1654) die früher zu Polen-Litauen gehörenden Gebiete mit ukrainischsprachiger Bevölkerung und wurde im Laufe der Zeit mit der Zentralisierung von Bildung und somit fortschreitender Unifizierung intellektueller Kultur beider Imperien immer bedeutender. Im Falle der polnischsprachigen Bevöl-

15 Dieser Vergleich wurde der Kritik der Differenzierung zwischen unterschiedlichen ruthenischen Dialekten durch Manipulation auf der textuellen Ebene entnommen, die zwei prominente habsburgische Linguisten, Theodor Gartner und Stepan Smal’Stots’kyj im Jahr 1887 verfassten (vgl. Gartner/Smal-Stocki 1888: 23).

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kerung kam diese Grenze erst Ende des 18. Jahrhunderts mit den Teilungen auf, blieb aber in kultureller Hinsicht bedeutend. Als sogenannte Phantomgrenzen blieben diese Trennlinien bis ins 21. Jahrhundert einflussreich.16 Mit dem Verweis auf die Prozessualität von Grenzziehungen ist ein dritter Aspekt verbunden. Die hier angeführten Übertragungen zeigen, dass Unterschiede erst durch Übersetzung sichtbar, wenn nicht überhaupt erst dadurch ermöglicht wurden. Migration und Tourismus waren für die Differenzbildungen von immenser Bedeutung, da sie einer Gruppe einen Anderen vor Augen führten, in dessen Kontrast sich die Wir-Identität performativ herausbildete (exemplarisch Judson 2006: 141-176). Übersetzer von Texten sowie Dolmetscher popularisierten Einsprachigkeit und reichten somit nationalen Aktivisten die Hand. Durch die Erstellung eines Translats schufen sie das ›Original‹ (vgl. Hacking 1983: 136-142), kodierten es durch den Sprachenwechsel als fremd um und, wenn auch als wichtig und übersetzungswürdig anerkannt, betrachteten es dennoch als Teil einer anderen Kultur. Dieser Prozess unterscheidet sich von einem bewussten staging of difference, denn das Medium selbst wird zur Botschaft. Kotljarevs’kyjs Travestie wurde z.B. zu einem Markstein eines staging ukrainischer Volkskultur, auch wenn er dies nicht so intendierte. Die hier eingenommene Übersetzungsperspektive ermöglicht, die Frage nach der Spezifizität von Kultur(en) neu zu stellen. Die Übersetzungen (und Übersetzer) zielten auf eine Hervorbringung einer Kultur im Sinne Nietzsches ab, transzendierten dabei eine Kultur im Sinne Csákys/Malinowskis und erschufen eine Kultur, die dem dynamischen translatorischen Kulturkonzept Homi Bhabhas entspricht. Diese drei Kulturkonzepte möchte ich daher nicht getrennt voneinander, sondern in einer Beziehung zueinander betrachten. Nur so ist eine historisierende Dekonstruktion möglich, eine Geschichtspolitik die eine nationale und nationalistische Geschichtspolizei (vgl. Rancière 2002) durchdringt, ohne die Existenz und Rolle dieser zu verneinen. Diese Dekonstruktion durbricht die im 19. Jahrhundert nationalisierten Diskurse und stellt die Lebenswelten historischer Akteure ins Zentrum. So entsteht ein dynamisches Kulturkonzept, das sich auf die kommunikativen alltäglichen Translationsakte konzentriert. In dieser veränderten Perspektive wird Kommunikation nicht als ein hierarchiefreier Akt betrachtet, sondern prozessual verstanden, ohne von fixen Abhängigkeitsverhältnissen auszugehen, was z.B. in manchen gegenwärtigen zentraleuropäischen Postcolonial Studies der Fall ist (vgl. Uffelmann 2013). So werden auch die Translationsakte ins Zentrum gestellt, die sowohl Ähnlichkeit wie auch Differenz schaffen

16 Siehe die Projekte des BMBF-Kompetenznetzwerks »Phantomgrenzen in Ostmitteleuropa« (http://phantomgrenzen.eu/).

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können. Oder anders gesagt: sie schaffen diese zwei Kategorien immer gleichzeitig für jeweils andere Gruppen von Akteuren, denn eine Grenzziehung schafft auch immer ein ›Wir-Gefühl‹. Dieser Beitrag sollte ein bescheidener Ansporn für die Verwendung eines solchen historisierenden translatorischen Kulturbegriffs sein, der auch bewusst zwei Helden des Nationalismus unter die Lupe nimmt, um sie gegen den Strich zu lesen. Hruševs’kyj, der als nationaler Held der Ukraine gilt (vgl. Plokhy 2005: 9), scheiterte an den Differenzen innerhalb der Nation und Kultur. Sprachwechsel zwischen Tschechen und Deutschen dagegen bedeutete in Böhmen keine kulturelle Übersetzung, denn der prominente buditel Kramerius verwendet die gleichen kulturellen Codes wie Campe. In beiden Fällen ist die habsburgische Kultur sichtbarer und einflussreicher als die beiden im Entstehen begriffenen nationalen Kommunikationsgemeinschaften, auch wenn die spätere Historiographie dieses Phänomen nicht berücksichtigen wollte.

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Ein Muttermal, so schön wie ein Amberstückchen Das Verhältnis von sprachlicher und kultureller Übersetzung, diskutiert am Beispiel von Antoine Gallands Mille et une nuits B IRGIT W AGNER

K ULTURELLE Ü BERSETZUNG DER A NEIGNUNG

VS .

P RAKTIKEN

Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen, die mich nun schon ein paar Jahre begleiten, bildet ein gewisses Unbehagen, ein Zweifel, den die vermehrte Verwendung des Begriffs der kulturellen Übersetzung aufkommen lässt. Wie jeder Terminus der Kultur- und Sozialwissenschaften, erhält dieser Begriff seine Bedeutung, seine Bedeutungen, durch die Verwendungen, die er erfährt, durch seine Wanderschaft, um Mieke Bal zu zitieren,1 durch Diskurse und Wissenschaftsdisziplinen. Wenngleich es ja einleuchtend ist, dass das, was wir in humanwissenschaftlichen Fächern formulieren, nie die Eindeutigkeit der formalen Logik erreichen kann oder gar muss, so ist doch Beliebigkeit eine Gefahr, der man sich stellen sollte, auch, um der gelegentlich berechtigten Kritik an den Kulturwissenschaften entgegenzutreten. Und Beliebigkeit paart sich häufig auch mit dem Wunsch, sich gewissen sprachlichen Modeerscheinungen des Wissenschaftsbetriebs anzuschließen. Ich stelle dazu eingangs die Behauptung auf, dass »kulturelle Übersetzung« in vielen, nicht allen Fällen an die Stelle des früher

1

Vgl. Bal (2006), sowie Bachmann-Medick, die travelling concepts in den Horizont von Übersetzung stellt und vorschlägt, von concepts in translation (BachmannMedick 2014b: 50) zu sprechen.

262 | B IRGIT W AGNER

gerne gebrauchten Begriffs der Aneignung getreten ist, oft auch parallel und quasi-synonym gebraucht wird, ohne dass das ausreichend reflektiert würde. »Aneignung« hat vielleicht den Nachteil, dass dieses Wort kontextuell Negatives mitschwingen lässt – sich etwas zu Unrecht aneignen – und dass es suggerieren kann, dass das Fremde ins Eigene inkorporiert, gleichsam zum Verschwinden gebracht würde. Demgegenüber hat das Wort Übersetzung gewiss den Vorteil, dass es eindeutig Alterität konnotiert – jede Übersetzung ist eine Praxis, die etwas Neues hervorbringt, das zu dem sprachlichen oder sonstigen Ausgangsobjekt ein Spannungsverhältnis besitzt, dieses weiterhin bestehen lässt, ja sogar deutlich auf es verweist. Doch während es bei einer interlingualen Übersetzung ganz klar ist, was das Ausgangsobjekt ist – nämlich ein Text –, scheint es unmöglich, definitorisch auf befriedigende Weise zu benennen, was das Objekt kultureller Übersetzung sein kann. Autoren und Autorinnen, die sich darin versucht haben, mich selbst eingeschlossen, greifen auf die rhetorische Figur der enumeratio zurück (vgl. Bachmann-Medick 2014a: 244; Lässig 2012: 197, 215; Wagner 2012: 30; Lutter 2014). Solche Aufzählungen bleiben natürlich immer exemplarisch und ›kommen an kein Ende‹, können nicht exhaustiv sein. Das ist misslich und birgt bereits das Risiko der Beliebigkeit in sich. Ein weiterer Ursprung dieser Beliebigkeit ist meines Erachtens auf Homi K. Bhabhas folgenreiche Verwendung des Terminus »cultural translation« in seinem Band The Location of Culture zurückzuführen, weshalb ich noch einmal kurz auf meine Kritik an Bhabhas Text zurückkomme (vgl. Bhabha 1994; Wagner 2012). Was mich bei der Lektüre des 11. Kapitels dieses Buchs (How Newness Enters the World, eine schöne und programmatische Überschrift) stutzig macht, ist eine zweigleisige Vorgangsweise, wobei die beiden Argumentationslinien, die der sprachlichen und die der kulturellen Übersetzung, nie eindeutig getrennt werden. Einerseits beruft sich der Autor an vielen Stellen, fast emphatisch, auf Benjamin und seinen Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers (1923). Nun spricht ja Benjamin ausschließlich vom literarischen Übersetzen, und dass die Sprache ihm ein Ort messianischer Hoffnung ist, hat er ja schon in einem früheren Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen (1916) klargestellt. Andererseits wird Benjamin als Garant für die Validität der Kategorie »kulturelle Übersetzung« bemüht. Obwohl seiner Ausbildung nach Literaturwissenschaftler, obwohl der Derrida’schen Dekonstruktion verpflichtet, geht Bhabha an vielen Stellen wenig sorgfältig mit seiner Wissenschaftssprache, dem Englischen, um. Zwischen der literalen und der kulturellen Übersetzung oszilliert der Text in einem diffusen Bedeutungsspektrum, das, so denke ich, für manche das Faszinosum dieses Buches ausmacht, mich aber wenig befriedigt. Ich plädierte dafür, den semanti-

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schen Abstand zwischen dem verbum proprium und der Metapher bewusst zu halten und habe dafür in der Zwischenzeit viel Zustimmung, aber auch berechtigte Kritik erhalten, auf die ich gleich zu sprechen kommen werde. Neuerlich verstärkt wurde mein Unbehagen an der begrifflichen Unschärfe, als ich aufgefordert wurde, einen durchaus interessanten Sammelband zu rezensieren, herausgegeben von Anika Keinz, Klaus Schönberger und Vera Wolff, der den schlichten Titel Kulturelle Übersetzungen trägt (vgl. Wagner 2014). Die Autoren und Autorinnen des Bandes kommen aus folgenden Fächern: Kunstwissenschaft, Sozialanthropologie, europäische Ethnologie, Soziologie und Literaturwissenschaft – eine spannende Mischung, um die Erkenntnismöglichkeiten des Begriffs der kulturellen Übersetzung in verschiedenen Fächern und unterschiedlichen Fallbespielen zu erproben und zu vergleichen. Wer sich jedoch eine theoretisch-methodologische Auseinandersetzung mit der Metapher erwartet, wird enttäuscht werden: diese wird zwar vereinzelt und am Rande in einigen Beiträgen geführt, bildet jedoch keineswegs den oder auch nur einen roten Faden. Auch das Herausgeberteam gleitet in seinem Vorwort mit wenigen Sätzen über das theoretische Potential oder die theoretische Unschärfe des Begriffs hinweg. In der Praxis – in den Fallstudien, die man in dem Band lesen kann – geht es manchmal tatsächlich um kulturelle Übersetzung, oft aber um doch davon zu unterscheidende Phänomene, wie konkurrierende Narrative oder aber hegemoniale vs. widerständige Diskurse. Wo der Begriff kulturelle Übersetzung meines Erachtens zu Recht eingesetzt wird, könnte er oft auch durch »Praktiken der Aneignung« ersetzt werden. Das Verhältnis der kulturellen zur literalen Übersetzung kommt in diesem – ansonsten interessanten und anregenden – Band überhaupt nicht zur Sprache. Michael Schreiber, der Respondent meines Germersheimer Vortrags, hat zu Recht angemahnt, dass von Verfassern wissenschaftlicher Texte eine Klarstellung darüber zu erwarten ist, auf welcher Ebene des Begriffs »Kulturelle Übersetzung« sie sich situieren, wobei er vier Ebenen vorschlägt.2 Wie aber kann man die literale zur kulturellen Übersetzung in ein vernünftiges Verhältnis bringen? Treten die beiden nicht häufig gemeinsam auf? Um diese Fragen zu diskutieren, möchte ich zunächst auf die Kritik eingehen, die Simone Lässig in ihrem lesenswerten Forschungsbericht zum Schicksal des Begriffs Übersetzung in der Geschichtswissenschaft an meiner Kritik an Bhabha zu Recht geübt hat. Lässig schreibt:

2

1. Kulturelle Übersetzung als punktuelles Übersetzungsverfahren, 2. Kulturelle Übersetzung als globale Übersetzungsmethode, 3. Formen der Inter-/Transkulturalität als Kulturelle Übersetzung, 4. Kultur(en) als Übersetzung (Schreiber 2013).

264 | B IRGIT W AGNER »Nun gibt es einerseits gute Gründe, vor einer Überdehnung des Konzepts und einer allzu inflationären, beliebigen Verwendung des Begriffs Kulturelle Übersetzung zu warnen und diese Warnungen auch ernst zu nehmen. Andererseits sind die beiden analytischen Ebenen in der Forschungspraxis nur schwer voneinander zu trennen. Sie liegen neben- wie übereinander, verschieben sich je nach Fragestellung und gehen, sobald man die eine oder die andere historische Tiefenbohrung wagt, unmittelbar ineinander über.« (Lässig 2012: 197)

Und in der Tat, so ist es. Die Dimension der Sprache lässt sich aus kulturellen Praktiken nicht wegdenken, auch dort nicht, wo vordergründig keine Texte im Spiel sind. Lohnend scheint es mir aber nach wie vor, für jeden Fall, mit dem wir uns beschäftigen, den Anteil interlingualer und den Anteil metaphorischer Übersetzungsvorgänge zu bedenken. Wenn zum Beispiel Verhaltensmuster ›übersetzt‹ werden – ein Fall, den Simone Lässig in ihrer Version der enumeratio anführt – so kann mitunter das ›Original‹, aus dem übersetzt wird, ein visuelles Artefakt sein – ein Kultfilm etwa – während die Übersetzung sich in der Lebenspraxis der Fans manifestieren würde, in der Kleidung, in der Körpersprache, beim Ankauf bestimmter Waren usf. Interlinguale Übersetzung kann dabei auch eine Rolle spielen, aber welche? Nehmen wir an, deutschsprachige Fans sehen einen zum Kultfilm gewordenen Streifen der amerikanischen Unterhaltungsindustrie. Sie sehen ihn entweder auf Deutsch, und dann sind Übersetzer und Übersetzerinnen bereits am Werk gewesen, und sollten die Fans Zitate aus dem bewussten Film in ihren Sprachschatz aufnehmen, so sind das Resultate von Übersetzung zwischen zwei Sprachen. Oder aber die deutschsprachigen Fans sehen den Film im englischen Original, in diesem Fall sind die Zitate, die sie sich allenfalls aneignen, englische Einsprengsel im Deutschen, ein Fall von alltäglicher Mehrsprachigkeit. Fiktive und reale Beispiele dieser Art ließen sich viele finden, und – wie Simone Lässig anmerkt – jedes einzelne verschiebt die Fragestellung in eine bestimmte Richtung. Man kann daraus den Schluss ziehen, dass es keine endgültige und vor allem keine rein theoretisch gewonnene Klärung des Verhältnisses zwischen interlingualer und kultureller Übersetzung geben kann, dass wir uns in einem Feld bewegen, in dem case studies notwendig sind und den Horizont erweitern, ohne allerdings jemals restlos befriedigend als pars pro toto für das gesamte Feld der Fragestellung stehen zu können. In diesem Sinn – in diesem eingeschränkten Sinn – möchte ich im Folgenden eine »historische Tiefenbohrung« versuchen, und zwar mit der Fallgeschichte einer literarischen Übersetzung, die zugleich auch wesentliche Elemente kultureller Übersetzung enthält.3

3

Das entspricht Schreibers Ebene 2, s. Anm. 2.

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UND DIE

Die Fallgeschichte führt uns in eine ganz bestimmte »Übersetzungskultur« – ich verwende diesen Begriff in Anschluss an Peter Burke (2012) – nämlich in die Übersetzungskultur Frankreichs an der Wende zum 18. Jahrhundert. Im 17. Jahrhundert galt in diesem Land zunächst bekanntlich das Ideal der belles infidèles – der einbürgernden Übersetzung. Eine literarische Übersetzung wurde von der zeitgenössischen Leserschaft des Grand Siècle als umso schöner empfunden, je mehr sie sich den ästhetischen und sozialen Standards der französischen Elitekultur annäherte. Treue zum Original wird dabei nur eingeschränkt gefordert, während das, was wir heute kulturelle Übersetzung nennen, schlicht eine Voraussetzung für den Erfolg jeder literarischen Übersetzung war. Roger Zuber, dem die grundlegende Studie zu den belles infidèles zu verdanken ist, zeichnet eine Kurve vom »Aufstieg des Genres« (ab 1625) über seinen »Höhepunkt« (um 1640) bis zu seiner »Krise« (um 1650) nach. Denn unter verschärftem theologischem Druck erfolge danach eine Wende zum Ideal größerer Texttreue, und das Genre der Übersetzung falle damit aus dem Kanon des Literarischen.4 Das heißt aber nicht, dass die Praxis der belles infidèles verschwunden wäre. Zur selben Zeit, als Mme Dacier, eine überzeugte Gegnerin der ›freien‹ Übersetzung, ihre Versionen der Ilias (1711) und der Odyssee (1716) publiziert, macht sich Antoine Galland unter ganz anderen Prämissen an die Übersetzung der Märchen von 1001 Nacht. Galland, ein früher französischer Orientalist, hatte gegen Ende des 17. Jahrhunderts im Auftrag von König Ludwig XIV. ausgedehnte Reisen in den Raum unternommen, der zu jener Zeit in Frankreich als Orient bezeichnet wurde, nämlich in die gegenwärtigen Staaten Türkei, Syrien und Iran. Von diesen Reisen bringt er ein wertvolles arabischsprachiges Manuskript mit, das sogenannte manuscrit Galland, das heute im Besitz der französischen Nationalbibliothek ist. Seine Übersetzungsarbeit bedeutete für ihn Entlastung von den Mühen der gelehrten Schriften, doch die Rezeption hat gezeigt, dass er gerade mit seiner Version der Märchen in den Kanon der Weltliteratur eingegangen ist, während seine gelehrten Arbeiten nur Spezialisten bekannt sind.

4

Zuber (1995: 158): »Elle [la traduction – B.W.] était sortie du domaine de la littérature.« Für einen Überblick über die Geschichte der Übersetzung in Frankreich vgl. Van Hoof (1991: 24-117).

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Das manuscrit Galland wurde wahrscheinlich um 1450 verfasst5 und gilt als die älteste, einigermaßen umfangreiche Sammlung der Märchen von 1001 Nacht (kleinere Fragmente sind aus früheren Jahrhunderten erhalten). Sie ist dennoch ebenfalls ein Fragment, das mitten in einem Märchen abbricht. Galland hat für seine Übersetzung – oder sollte man besser sagen: Nach- und Neuerzählungen – auch andere Quellen herangezogen, sowohl schriftliche als auch mündliche, die seiner Manuskriptvorlage andere Märchen hinzufügen.6 Freilich muss die Einschränkung gemacht werden, dass ich ohne Kenntnisse des Arabischen gar keine Beurteilung der interlingualen Übersetzungsleistung Gallands vornehmen kann. Ich muss daher den Umweg über zwei weitere Übersetzungen nehmen, nämlich die 2004 erschienene Übertragung eben des erwähnten manuscrit Galland von Claudia Ott, eine Übersetzung ins Deutsche. Ich vertraue also darauf, dass sich diese Übersetzerin, wie sie in ihrem Nachwort ausführlich argumentiert, um einen deutschen Text bemüht hat, der dem arabischen möglichst getreu wird, das Fremde nicht einbürgert, sondern fremd wirken lässt, obwohl auch sie gelegentlich den Weg der kommentierenden Übersetzung wählen muss, wie noch zu zeigen sein wird. Ferner bietet sich der Vergleich mit der Übersetzung ins Französische an, die Jamel Eddine Bencheikh und André Miquel für die Ausgabe der Märchen in der Bibliothèque de la Pléiade angefertigt haben, denn auch diese Übersetzer halten sich, folgt man ihren Erläuterungen, genau an ihre Vorlage: allerdings an eine andere, denn Tausend und eine Nacht ist nicht nur ein Buch ohne Autor, sondern auch eines mit komplizierter und variantenreicher Überlieferungsgeschichte.7 Darüber hinaus schöpfe ich auch aus der ausführlichen Übersetzungskritik, die Sylvette Larzul 1996 im direkten Sprachvergleich Arabisch-Französisch für Galland vorgelegt hat. Jedenfalls ist es ein intellektuelles Abenteuer, die Mille et une nuits von Galland, erschienen in mehreren kleinformatigen Bänden zwischen 1704 und 1717, parallel zu Claudia Otts Tausendundeine Nacht von 2004 zu lesen. Mög-

5

Vgl. Claudia Otts Nachwort in Tausendundeine Nacht (2004: 650) sowie die Chronologie in Mille et Une Nuits (Band 1, 2006 : S. XLIX): »Date probable de réalisation du manuscrit Galland, le plus ancien manuscrit arabe connu (BNF): branche syrienne des Nuits (281 nuits: 35 contes)«.

6

Vgl. Nachwort in Tausendundeine Nacht (2004: 646).

7

Die beiden Übersetzer arbeiten mit den Druckausgaben von Bûlâq (1835, Ägypten) und Kalkutta (1839-1842), die sie als die Vulgata der Märchen bezeichnen (vgl. Préface, in: Les Mille et Une Nuits, Band 1, 2006: XXXIX). Das erklärt auch, warum sich deutlich erkennbare Unterschiede zu Claudia Otts Übersetzung ergeben, die offensichtlich nicht auf Übersetzerentscheidungen zurückzuführen sind.

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lich ist das, wie gesagt, deswegen, weil Ott denselben Quelltext benützt wie Galland im ersten Teil seiner Ausgabe (die Märchen, die er aus anderen Quellen bezogen hat, kommen für den Vergleich naturgemäß nicht in Betracht). Das manuscrit Galland bricht in der zweihundertundzweiundachtzigsten Nacht ab, während Galland selbst bis zu jenem Zeitpunkt weitererzählt, als Sultan Schariyar, von Scheherazades Erzählkunst bezaubert und geheilt, seinen Bannfluch über das weibliche Geschlecht außer Kraft setzt. Galland und Ott: Sie erzählen zweifellos dieselben Geschichten, man erkennt die Plots, die Handlungsorte, die Namen der handelnden Personen, und doch liefern die beiden Texte, die hochunterschiedliche Leseeindrücke erzeugen. Die zahlreichen Eingriffe, die der Erzähler/Übersetzer Galland vorgenommen hat, erfüllen einzeln und auch insgesamt gesehen den ›Tatbestand‹ kultureller Übersetzung. Um das zu illustrieren, sei zunächst der jeweilige Erzählbeginn zitiert, als eine der besonders markanten Stellen jedes Erzählaktes: Der Text (in der Version von Ott) beginnt mit einem Paratext, der Anrufung Gottes: »Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen. Auf Ihn traue ich.« (Tausendundeine Nacht 2004: 7)8 Darauf folgt eine Vorrede des Erzählers über seine Absichten. Der eigentliche Erzählbeginn lautet: »Der Erzähler und Verfasser spricht. Man hat erzählt – doch Gott allein kennt das Verborgene, und nur Er weiß, was wirklich geschah in den längst vergangenen Geschichten der Völker – , daß es in alter Zeit, als noch die Könige der Sasaniden herrschten, im Insel9

reich von Indien und China zwei Könige gab.« (Tausendundeine Nacht 2004: 9)

Bei Galland wird der arabische Paratext durch einen doppelten Paratext im eigenen Namen ersetzt, eine Widmung an eine adelige Dame und ein Avertissement an die französische Leserschaft. Der Erzählbeginn dagegen lautet: »Les chroniques des Sassaniens, anciens rois de Perse, qui avaient étendu leur empire dans les Indes, dans les grandes et petites îles qui en dépendent, et bien loi au-delà du Gange, jusqu’à la Chine, rapportent qu’il y avait autrefois un roi de cette puissante maison qui était le plus excellent prince de son temps.« (Mille et une nuits 1965: 23)

8

Vgl. Bencheikh/Miquel: »Au nom de Dieu, le Miséricordieux tout de miséricorde. Louange à Dieu, Maître des mondes.« (Les Mille et Une Nuits, Band 1, 2006: 3)

9

Vgl. Bencheikh/Miquel: »On raconte – mais Dieu est le plus savant, le plus sage, le plus puissant, le plus généreux – qu’il y avait, au temps jadis, il y a bien, bien longtemps, un souverain sassanide qui régnait sur les îles de l’Inde et de Chine.« (Les Mille et Une Nuits, Band 1, 2006: 5)

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Was ist hier passiert? Eine zweifache Auslassung: die Benennung der Erzählerstimme und die neuerliche Anrufung Gottes, sowie, offensichtlich als Hinzufügung, eine geographische Präzision zu der märchenhaften Angabe »Inselreich Indiens«. Das mag schon einen Begriff davon geben, wie Galland als Übersetzer/Autor vorgeht. In einer ersten Annäherung lassen sich seine Eingriffe in folgende analytische Ebenen gliedern: Einzelwörter, Auslassungen, Hinzufügungen und stilistische Angleichung an den goût classique. Ihrer Intention nach haben sie folgende Funktionen: die Herstellung von Verständlichkeit für das zeitgenössische französische Publikum, die Angleichung an französische sprachliche Standards und Rhythmen des Erzählens, die Anpassung an das soziokulturelle Ideal der bienséance, des Ziemlichen in Sprache und Verhalten. Beginnen wir mit den Einzelwörtern. Es tauchen Begriffe auf, die dem französischen Publikum geläufig sind wie »clergé« (Klerus), zu denen es aber keine institutionelle Entsprechung im Islam gibt. »Harem«, ein Wort, das wir erwarten würden, fehlt völlig, die Konkubine wird häufig durch »l’esclave« (die Sklavin) ersetzt; die jungen Prinzen lernen in ihrer Ausbildung nicht nur den traditionellen arabisch-islamischen Bildungskanon, sondern auch »les beaux arts«, ein eklatanter Anachronismus; eine Granatapfelkonfitüre kann schon mal zu einer »tarte à la crème« (Larzul 1996: 46) werden…10 Eine kleine Hinzufügung kann eine ganze Tradition des europäischen Orientbildes bestimmen, wie die Einführung der Figur der Scheherazade in der Rahmenerzählung lehrt. Auch sie hat bei Galland die schönen Künste studiert, doch mag dieses Detail vielen Lesern unwichtig erscheinen. Wichtig hingegen ist zweifellos ihre Schönheit. Bei Ott liest man: »Sie war klug, verständig, weise und gebildet, hatte gelesen und studiert.« (Tausendundeine Nacht 2004: 20)11 Das steht auch bei Galland, dazu aber noch Folgendes: »elle était pourvue d’une beauté excellente, et une vertu très solide couronnait toutes ces belles qualités« (Mille et une nuits 1965: 35), dieser Satz schließt als Klimax die Einführung der Figur ab. Von der Klugheit wird der Akzent also auf die Schönheit verlegt – jenes Detail, das alle späteren ›westlichen‹ bildlichen und kinematographischen

10 Diese Informationen entnehme ich aus Larzul (1996). 11 Vgl. Bencheikh/Miquel: »La première [i.e. Shahrâzâd – B.W.] avait dévoré bien des livres: annales, vie des rois anciens, histoire des peuples passés, ouvrages de médicine.« (Les Mille et Une Nuits, Band 1, 2006: 12) Allerdings werden in dieser Version die beiden Töchter des Wesirs, Scheherazade und Dinarzade, als schön und wohlgestaltet eingeführt, während im manuscrit Galland die Schönheit der Mädchen nicht erwähnt wird.

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Repräsentationen des klugen Mädchens prägen wird – während ihre Tugendhaftigkeit wohl nur für Gallands Publikum hervorgehoben werden musste, das weibliche Schönheit nur in Verbindung mit Tugend als unbedrohlich empfinden mochte. Hinzugefügt werden weiterhin geographische Präzisierungen und Erklärungen sowie didaktische und moralisierende Einschübe aus der Feder des Übersetzers. Auch Claudia Ott benötigt gelegentlich Hinzufügungen, wie sie in ihrem Nachwort ausführt: Koranzitate, die dem islamischen Publikum geläufig waren, wurden im arabischen Text nicht als solche ausgewiesen. Die Übersetzerin, die nicht damit rechnen kann, dass die deutschsprachigen Leser diese Zitate erkennen, muss billigerweise darauf hinweisen: So wird aus »Wahrhaftig, die Tücke von euch Weibern ist ungeheuerlich!« folgender Satz: »Wahrhaftig, der Koran hat recht: ›Die Tücke von euch Weibern ist ungeheuerlich! ‹«.12 Eine ähnlich explikative Funktion haben bei Galland die Fußnoten, die der französischen Leserschaft das Verständnis erleichtern sollten. Sie betreffen allerdings sehr viele Bereiche: Geographie, Geschichte, religiöse Glaubensinhalte und Praktiken, Fabeltiere, materielle Kultur, Übersetzungen von Eigennamen, die auf den Charakter fiktiver Figuren hinweisen, Vermutungen über die Quellen mancher Märchen. Als Fußnoten des Übersetzers ausgewiesen sind jene Änderungen, die für die Leser als solche erkennbar sind, wo Galland also mit offenem Visier antritt. Ganz anders verhält es sich mit den Auslassungen, die wohl Gallands größten Eingriff in den Text darstellen. Über einige wenige verständigt er sich mit seinen Lesern, so zum Beispiel darüber, dass er ab dem dritten Band Dinarzades rituelle Aufforderung an die Schwester Scheherazade, sie möge doch eine spannende Geschichte erzählen, weglässt, da dieses repetitive Element von der zeitgenössischen französischen Kritik mit Spott bedacht worden war. Generell aber, behauptet das Vorwort, sind die Auslassungen der Beachtung der bienséance geschuldet: »[…] l’on ne s’est écarté du texte que quand la bienséance n’a pas permis de s’y attacher. Le traducteur […] a fait voir les Arabes aux Français, avec toute la circonspection que demandait la délicatesse de notre langue et de notre temps.« (Mille et une nuits 1965: 22)

Abgesehen von der Tatsache, dass hier der Topos der Überlegenheit der französischen Kultur mitklingt, stellt sich die Frage, was es denn sei, das bienséance und délicatesse nicht erlaubt hätten? Und gibt es nicht auch noch andere Gründe für substantielle Auslassungen, die man wohl Streichungen nennen muss? Er-

12 Vgl. Nachwort in Tausendundeine Nacht (2004: 659).

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wartungsgemäß werden jene Textpassagen gestrichen, die skatologische Ausdrücke enthalten und sexuelle Handlungen erzählen. Ein Beispiel. In der Rahmenerzählung wird vom Ehebruch der Gattin König Schahriyars erzählt, also von jener Handlung, die den Blutrausch des erzürnten Ehemanns auslöst. Das Ereignis wird, ohne ins Pornographische abzugleiten, mit großer Direktheit vermittelt: »Plötzlich sprang vom Wipfel eines Baums ein schwarzer Sklave, kam auf der Erde auf, mit einem Satz war er bei ihr und fragte: ›Was hast du, Mädel? Ich bin es, Saadeddin Masud!‹ Die Herrin lachte laut, ließ sich auf den Rücken fallen, der Sklave bestieg sie und tat seine Arbeit. Genauso trieben es die anderen Sklaven.« (Tausendundeine Nacht 2004: 13

27)

Galland sieht sich hier zu einem Ausweichmanöver gezwungen: »[…] aussitôt un autre noir descendit du haut d’un arbre, et courut à elle avec beaucoup d’empressement. La pudeur ne permet pas de raconter tout ce qui se passa entre ces femmes et ces noirs...« (Mille et une nuits 1965: 27)

Andere Auslassungen sind jedoch nicht von bienséance, sondern von französischen Erzählkonventionen bestimmt. So fallen die wort- und formelreichen zeremoniellen Grußworte weg, die ein Untertan an einen Herrscher richten musste, wohl weil sie als störende Unterbrechung des Erzählrhythmus empfunden wurden. Und – es fallen die vielen lyrischen Einschübe weg, die den arabischen Text bereichern. Kein Wort darüber im Avertissement an die Leser. Diese Übersetzungsentscheidung ändert den Gesamtcharakter des Textes auf einschneidende Weise. Sie ist einerseits der Erzählökonomie geschuldet – die französische Klassik trennt streng zwischen lyrischen und narrativen Gattungen, und lyrische Einsprengsel fallen wohl auch deshalb weg, weil sie ein retardierendes Element darstellen würden –, andererseits aber spielt auch, wie wir gleich sehen werden, gelegentlich bienséance dabei eine Rolle. Die Gedichteinlagen, die Ott alle übersetzt hat, kann man in folgende Kategorien einteilen: Spruchweisheit, Klage über hartes Schicksal, Preis der Schönheit junger Mädchen und junger Männer, Liebeswerben und Liebesschmerz.

13 Vgl. Bencheikh/Miquel (man beachte die noch derbere Sprache): »[…] la reine appela Mas’ûd qui descendit d’un arbre en disant: ›Que me veux-tu, petite maquerelle, mon petit trou, je suis Sa’d le baiseur, Mas’ûd le fortuné.‹ La reine éclata de rire, se jeta sur le dos et se fit monter par l’esclave.« (Les Mille et Une Nuits, Band 1, 2006: 9)

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Auffällig ist, dass der Attraktivität junger Männer ebenso viel Platz im Text eingeräumt wird wie der Anmut junger Mädchen. Diese Stellen, die eine homoerotische Lesart nahelegen können, wurden von Galland ausnahmslos gestrichen, auch in der Prosa. Wenn von männlicher Schönheit die Rede ist, begnügt sich Galland mit Formeln wie »ce prince était bien fait de sa personne«, ein Satz, der in seiner klassischen Schlichtheit auch im Roman La Princesse de Clèves stehen könnte. An folgendem Beispiel aus dem Märchen Der Fischer und der Dschinni möge deutlich werden, wie der Gesamtduktus des Textes sich durch diese (systematisch vorgenommenen) Streichungen verändert: »Es war ein hübscher junger Mann von elegantem Wuchs und mit einer klaren Stimme. Seine Stirn leuchtete, sein Gesicht war hell wie der Mond; auf seiner roten Wange war frischer, grüner Bartflaum zu sehen. Er hatte ein Muttermal, das war so schön wie ein Amberstückchen, wie der Dichter sagt: Oft denk’ ich an den schlanken Jungen, durch dessen Haar und dessen Glanz Die ganze Menschheit bald ins Dunkel, bald ins helle Licht geriet. Mißachtet nicht das Muttermal auf seiner Wange! Es ist, als ob Auf ihr ein voller roter Mohn mit einem schwarzen Punkt erblüht. Es wird berichtet: Erfreut begrüßte ihn der Sultan. Der Jüngling aber saß da, in einem seidenen Gewand mit ägyptischen Goldstickereien, auf dem Kopf einen ägyptischen Filzhut, und dabei mit allen Zeichen von Trauer und Wehmut.« (Tausendundeine Nacht 2004: 14

82f.)

Bei Galland reduziert sich so viel männliche Schönheit auf einen knappen Satz: »[Le sultan] vit un jeune homme bien fait, et très richement vêtu, qui était assis sur un trône un peu élévé de terre. La tristesse était peinte sur son visage. Le sultan s’approcha de lui et salua.« (Mille et une nuits 1965: 95)

14 Vgl. Bencheikh/Miquel: »Il [i.e. le jeune homme – B.W.] était d’une grande beauté, avait la taille fine, le front lumineux et la joue empourprée. Un grain de beauté mouchetait sa pommette semblable à une écaille d’ambre. Tout en lui rappelait l’éphèbe chanté par le poète: Il avait la taille mince et son front brillait d’un éclat que seule pouvait éteindre la nuit de se cheveux. / Rien ne pouvait se voir qui vint égaler ce qu’il donnait à voir. / Sur sa joue incarnat, son grain de beauté noir rendait plus profond son regard. Tout heureux de trouver quelqu’un, le souverain salua le jeune homme assis qui portait une robe de soie brodée à longues manches. Sur sa tête était posée une couronne sertie de joyaux. Son visage était empreint de tristesse.« (Les Mille et Une Nuits, Band 1, 2006: 53)

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Streichung, Kürzung, Raffung, Vereinfachung, Klarheit als Stilideal: Wir sehen, dass Galland, Sohn seiner Zeit, der französischen Klassik, wenig Sinn für sprachlichen Exotismus hatte, obwohl er mit der arabischen Dichtungssprache als Orientalist natürlich vertraut war, diese aber offensichtlich seinem Publikum nicht zumuten wollte oder konnte. Der Stil seiner Übersetzung verströmt, wie Sylvette Larzul formuliert, »un tenace parfum Grand Siècle.« (Larzul 1996: 115)

N EWNESS

ENTERS THE WORLD

Zunächst ist dem bisher Gesagten hinzuzufügen, dass Gallands Text, in seinem Gegenüber dem Quelltext ganz anderen Stil und ohne die Gedichteinlagen, von deren Existenz die zeitgenössischen Leser nicht einmal unterrichtet wurden, auf seine Weise ein sehr schöner Text ist, ein chef-d’œuvre, ein Meisterwerk der französischen Klassik, wie Georges May schreibt.15 Die französische Version von 1001 Nacht, die zugleich die erste im europäischen Raum darstellt, war unmittelbar ein großer Erfolg auf dem Buchmarkt, und das nicht nur in Frankreich. Erstens war das Französische im frühen 18. Jahrhundert die europäische Bildungssprache, die von vielen Leserinnen und Lesern beherrscht wurde, und zweitens wurde Gallands Text in kürzester Zeit in alle großen europäischen Sprachen übersetzt. Europäische Leser lernten also den altgriechisch-indischpersisch-arabischen, vom mittelalterlichen Islam geprägten Märchenschatz in einer Fassung kennen, die zugleich vieles über französische Kultur, französische Stilvorstellungen und französische soziokulturelle Werte vermittelte. Das Neue, das damit in die europäische Welt trat – How Newness enters the World, wie das einschlägige Kapitel bei Homi K. Bhabha heißt – kann hier also tatsächlich das Resultat einer Hybridbildung genannt werden. Wie kann man für diesen Fall das Verhältnis von sprachlicher und kultureller Übersetzung beurteilen? Es handelt sich ja eindeutig um eine sprachliche Übersetzung, Galland hat die Märchen nicht erfunden, und an vielen Stellen, die ich nicht zitiert habe, folgt er der Handschrift relativ getreu. Zunächst einmal legt der Vergleich, den ich versucht habe, es nahe, die Bereiche, die wir mit Übersetzungsidealen und Übersetzerstrategien benennen, zur Gänze der kulturellen Übersetzung zuzurechnen: in seinem Fall ein Vorgang, der die Elemente Zensur und Anverwandlung an stilistische, narrative und gesellschaftliche Gepflogenheiten der Zielkultur enthält. Es entsteht ein neuer Text, der zwar – als Übersetzung ausgewiesen – auf seinen Quelltext verweist, ihn aber entscheidend verän-

15 So schon der Buchtitel von May (1986).

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dert hat. Diese historische Fallstudie kann uns auch nahelegen, die Übersetzungsideale und Übersetzerstrategien unserer eigenen Zeit als kulturell bedingte aufzufassen: Claudia Otts Version von 1001 Nacht sowie die der neuen Übersetzung ins Französische von Jamel Eddine Bencheikh und André Miquel sind unter anderem auch das Resultat von jahrzehntelanger Orientalismus-Kritik, die einen respektvollen Umgang mit den kulturellen Artefakten des sogenannten Orients nahelegt. Ebenso mag es das gestiegene Interesse der europäischen Leserschaft für die arabischsprachigen Kulturen mit sich gebracht haben, dass sich renommierte Verlage wie der Beck-Verlag und die französische KlassikerEdition Bibliothèque de la Pléiade überhaupt für solche Übersetzungsvorhaben interessiert haben. Lässt sich aus der präsentierten Fallstudie eine allgemeine Leitlinie für das Verhältnis von sprachlicher zu kultureller Übersetzung ableiten? Vermutlich nicht zwingend. Case studies bleiben case studies und beleuchten jeweils spezifische Verhältnisse. Eines aber kann aus dieser sowie aus anderen Fallstudien abgeleitet werden: literarische Übersetzungen praktizieren unter anderem auch kulturelle Übersetzung, wenn auch in einem ganz spezifischen Sinn, denn ihr Verhältnis zum Quelltext kann jeweils mit philologischen Methoden beurteilt werden. Ihre newness ist nicht gänzlich frei: Wenn die Textintentionen des Quelltexts in ihr Gegenteil verkehrt und/ oder der Lächerlichkeit preisgegeben werden, sprechen wir von Parodie und Travestie (die man freilich als Spezialfälle kultureller Übersetzung einordnen könnte). Jedenfalls gibt ihre newness Aufschluss über kulturelle Differenzen, historische und ästhetische Entwicklungslinien, lokale Verankerungen und geopolitische Machtverhältnisse – insofern sind sie ein privilegiertes Objekt kritischer Kulturanalyse.

L ITERATUR Bachmann-Medick, Doris (52014a): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Mit einem neuen Nachwort, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. — (2014b): »Nach der Hybridität: Travelling Concepts im Horizont von Übersetzung«, in: Ottmar Ette/Uwe Wirth (Hg.), Nach der Hybridität. Zukünfte der Kulturtheorie, Berlin: edition tranvia, S. 37-54. Bal, Mieke (2006): »Wandernde Begriffe, sich kreuzende Theorien: Von den cultural studies zur Kulturanalyse«, in: Kulturanalyse. Aus dem Englischen von Joachim Schulte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 7-27. Bhabha, Homi K. (1994): The Location of Culture, London: Routledge.

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Burke, Peter (2012): »Übersetzungskulturen im frühneuzeitlichen Europa, aus dem Englischen von Christina Lutter und Stefan Erdai«, in: Übersetzungen. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2, S. 17-50. Keinz, Anika/Schönberger, Klaus/Wolff, Vera (Hg.) (2012): Kulturelle Übersetzungen, Berlin: Reimer. Larzul, Sylvette (1996): Les traductions françaises des Mille et une nuits. Études des versions Galland, Trébution et Mardrus, Paris: L’Harmattan. Lässig, Simone (2012): »Übersetzungen in der Geschichte – Geschichte als Übersetzung? Überlegungen zu einem analytischen Konzept und Forschungsgegenstand für die Geschichtswissenschaft«, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 38, S. 189-216. Lutter, Christina (2014): »What Do We Translate when We Translate? Context, Process, and Practice as Categories of Cultural Analysis«, in: Doris Bachmann-Medick (Hg.), The Trans/National Study of Culture. A Translational Perspective, Berlin: De Gruyter, S. 155-167. May, Georges (1986): Les Mille et une nuits d’Antoine Galland ou le chefd’œuvre inconnu, Paris: Presses universitaires françaises. Les Mille et une nuits. Contes arabes (1965): Traduction d’Antoine Galland, Paris: Garnier Flammarion. Les Mille et Une nuits (2006): texte traduit, présenté et annoté par Jamel Eddine Bencheikh et André Miquel, 3 Bände, Paris: Bibliothèque de la Pléiade. Schreiber, Michael (2013): Ko-Referat zu diesem Beitrag. Unveröffentlichtes Manuskript. Tausendundeine Nacht (2004). Nach der ältesten arabischen Handschrift in der Ausgabe von Muhsin Mahdi erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott, München: Beck. Van Hoof, Henri (1991): Histoire de la traduction en Occident. Frankreich u.a.: Duculot. Wagner, Birgit (2012): »Kulturelle Übersetzung. Erkundungen über ein wanderndes Konzept«, in: Anna Babka, Julia Malle, Matthias Schmidt (Hg.), Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Kritik. Anwendung. Reflexion, Wien: Turia + Kant, S. 29-42. — (2014): Rezension zu Keinz, Anika/Schönberger, Klaus/Wolff, Vera (Hg.), Kulturelle Übersetzungen, Berlin: Reimer 2012, in: Anthropos 109, S. 298299. Zuber, Roger (1995 [1968]): Les »belles infidèles« et la formation du goût classique, Paris: Albin Michel.

Mehrsprachigkeit und (Selbst-)Übersetzung Translationspoetiken in den Texten von Ilma Rakusa und Yoko Tawada G ABRIELLA S GAMBATI

E INLEITUNG Wie viele Sprachen spricht die deutsche Literatur? Wörter, Sätze und ganze Textpassagen in anderen Sprachen kommen in der neueren deutschen Literatur vor. Die heutige Literaturwissenschaft wird maßgeblich von Autorinnen und Autoren aus bi- und mehrkulturellen Räumen bzw. von Autorinnen und Autoren geprägt, die nicht nur in einem kulturellen Raum stehen. In diesem Sinne begreift Ottmar Ette die deutschsprachige Literatur als eine »Literatur ohne festen Wohnsitz« (Ette 2005: 184) und sieht auch in genau jenem »translingualen Zwischen-verschiedenen-Zungen-Schreiben« die Zukunft der Literatur als Ganze (ebd.: 203). Auf diese Weise wird ein transkultureller Raum gezeichnet, der vornehmlich durch das Ineinanderfließen verschiedener Sprachen charakterisiert ist. Unsere heutige Gesellschaft ist nicht als homogenes, stabiles, in sich abgeschlossenes Gebilde zu begreifen. Globalisierung und Migrationsbewegungen haben unser gesellschaftliches Umfeld mehrsprachig werden lassen. So wendet sich der britische Soziologe Stuart Hall entschieden gegen den Identitätsbegriff, der dem Individuum einen einheitlichen, kohärenten Kern zuschreibt. Er betrachtet die Menschen, die zu Kulturen der Hybridität gehören als »Übersetzer«: »Sie mussten lernen, mindestens zwei Identitäten anzunehmen, zwei kulturelle Sprachen zu sprechen, um zwischen ihnen zu übersetzen und zu vermitteln.« (Hall 1994: 218) Phänomene wie Exil oder Migration sind der Germanistik natürlich wohlbekannt, aber die Begriffe Exilliteratur oder Migrationsliteratur scheinen überholt zu sein; zumindest stellen diese Etikettierungen die ›Anderssprachigkeit‹

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nicht in den Vordergrund. Heute spricht man lieber über exophone Literatur1 – oder translationale Literatur2 –, wo die phoné und die Sprachbewegung3 im Mittelpunkt steht. Zahlreiche plurilinguale Autorinnen und Autoren sind sich ihrer inneren und äußeren Mehrsprachigkeit bewusst und sie wissen diese als Potential zur Schaffung einer Kunstsprache kreativ zu nutzen (vgl. Baumann 2010: 225-250). Diesen strategischen Umgang mit Mehrsprachigkeit möchte ich in den Fokus nehmen, wenn ich im Folgenden das Schreiben von zwei Schriftstellerinnen – Ilma Rakusa und Yoko Tawada – untersuche, deren hybride Identitäten keineswegs als abgeschlossen, definitiv und statisch zu begreifen sind. In diesem Zusammenhang wird man zeigen, dass ihre Sprache ein entscheidendes Explorationsinstrument ist, das innerhalb des Identitätskonstruktionsprozesses auf eine Selbstverortung abzielt, die der sprachlichen und soziokulturellen Heterogenität des Individuums gerecht wird. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es zu zeigen,

1

Von Exophonie spricht man, wenn Schriftsteller nicht in ihrer Erst- bzw. Muttersprache schreiben. Der Begriff kam erstmals bei einer Tagung auf, die 2002 vom Goethe Institut in Dakar gemeinsam mit dem Berliner Zentrum für Literaturforschung veranstaltetet wurde. Dieser Begriff stammt ursprünglich aus der Ortsnamenkunde, wo er fremdsprachige Ortsbezeichnungen klassifiziert (z.B. »Munich« für München, vgl. Ivanovic 2010: 171). In den neunziger Jahren tauchte er in kulturwissenschaftlichen Debatten um anglo- und frankophone afrikanische Autorinnen auf, was auch den Hintergrund der Konferenz in Dakar darstellte. Nicht zuletzt finden wir den Terminus Exophonie als Titel einer japanischen Publikation (Ekusophonii: bogo no soto e deru tabi, 2003) Yoko Tawadas wieder. In der Tat fungiert er hier als Schlüsselbegriff ihrer Poetik. Ich komme später darauf zurück. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, das im Feld der literarischen Übersetzung bereits seit längerem in den Blick genommen wird, aber in seiner wissenstheoretischen und -geschichtlichen Reichweite noch weitgehend unerforscht ist.

2

Der Terminus translationale Literatur erscheint zum ersten Mal in Hassan (2006: 754): »In the space between translators and translated, there are texts that straddle two languages, at once foregrounding, performing, and problematizing the act of translation; they participate in the construction of cultural identities from that in-between space and raise many of the questions that preoccupy contemporary translation theory. I call such texts translational literature.«

3

Zur Übersetzung als Sprachbewegung vgl. Apel 1982.

M EHRSPRACHIGKEIT

UND

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dass Mehrsprachigkeit4 und ›Selbst-Übersetzung‹5 im Werk dieser Autorinnen aufs engste miteinander verbunden sind. Mehrsprachige Werke und das Phänomen der Selbst-Übersetzung stellen für die konventionellen Definitionen von Übersetzung und die problematischen Dichotomien von Original und Übersetzung, Autor und Übersetzer eine ganz neue Herausforderung dar. In der traditionellen Übersetzungswissenschaft wird Übersetzung verstanden als ›Substitution‹ eines Textes. Der Schlüsselbegriff in dieser Konzeption ist Äquivalenz, sie war für gewöhnlich das Hauptkriterium für die Bestimmung eines Textes als Übersetzung. Diese Begriffe verlieren vor dem Hintergrund meiner Untersuchung ihre Eindeutigkeit, sie nehmen hybride Gestalt an, durch die Mehrsprachigkeit der Texte werden auch diese analytischen Begriffe gewissermaßen ›kontaminiert‹. Diese Art von Texten, in denen das Verhältnis von Übersetzung und Original fraglich wird und in denen die ›Grenze‹ der Polyphonie und der Anderssprachigkeit aufgezeigt wird, stößt auf manche Schwierigkeiten, sich in andere literarische Polysysteme6 einzufügen. Vor diesem Problemhorizont möchte ich die Mehrsprachigkeit von Ilma Rakusa und Yoko Tawada untersuchen, in der Übersetzung und ›Selbstübersetzung‹ eine zentrale Rolle spielen. An einigen Übersetzungsbeispielen ins Italienische soll gezeigt werden, dass der (mehr-) sprachige Aspekt der Übersetzung trotz aller Kulturalisierung (cultural turn) und Metaphorisierung (translational turn) bedeutend bleibt. In diesem Zusammenhang werde ich folgende Fragen bearbeiten: Welches sind die besonderen Schwierigkeiten auf die man trifft, wenn man Texte, die, wie die Tawadas oder Rakusas, ›an der Grenze‹ stehen, in eine andere Sprache übersetzt? Ist es mög-

4

Mehrsprachigkeit ist in der Literatur in den letzten Jahren zu einem vielbeforschten Thema geworden. Es liegen zahlreiche Untersuchungen vor, vgl. dazu BürgerKoftis/Schweiger/Vlasta 2010; Kremnitz 2004; Schmeling/Schmitz-Emans 2002; Sturm-Trigonakis 2007.

5

Ich setze ›Selbstübersetzerin‹ und ›Selbstübersetzung‹ in Anführungszeichen, wenn ich den Begriff von Selbstübersetzung nicht nur als die Übersetzung eines eigenen Ausgangstextes in einen anderssprachigen Zieltext betrachte, sondern auch als eine Modalität des Schreibens. Die Schrifstellerinnen (Ilma Rakusa und Yoko Tawada) sind Übersetzerinnen im weitesten Sinne: Sie übersetzen in ihren Texten ihre eigene Identität.

6

Even-Zohar prägt den Begriff des »Polysystems«, der auf die offene Struktur und die Einwirkung interkultureller Transferprozesse auf das literarische System hinweisen soll. Das Polysystem ist »a System of various Systems which intersect with each other and partly overlap, using different options, yet functioning as one structured whole, whose members are inter-dependent« (vgl. Even-Zohar 1978: 21-27).

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lich, diese Texte zu übersetzen, wo sie doch selbst schon ›übersetzte‹ Werke sind, die sich in einem Prozess des stetigen Werdens befinden? Ohne die kulturellen Fragen auszuschließen, wird vor allem das translationspraktische und -theoretische Problem der Mehrsprachigkeit im Zentrum meiner Diskussion stehen. Trotz des Fokus auf den sprachlichen Aspekt der Übersetzung, wird der kulturwissenschaftliche, im Zuge des im translational turn entwickelte Translationsbegriff für meine Argumentation leitend sein. Denn er scheint mir besonders geeignet, das kulturrepräsentierende, verfremdende Moment der literarischen Übersetzung zu fassen und stellt die oben angesprochenen problematischen Kategorien in Rechnung: »Die vertrauten textzentrierten Kategorien literarischer Übersetzung wie Original, Äquivalenz, ‚Treue’ sind […] zunehmend ergänzt oder gar ersetzt worden durch neue Leitkategorien kultureller Übersetzung wie kulturelle Repräsentation und Transformation, Fremdheit und Alterität, Deplatzierung, kulturelle Differenzen und Macht.« (Doris BachmannMedick 2006: 239)

Die Diskussion des Schreibens dieser Schriftstellerinnen soll zu Tage bringen, dass erstens Kultur und Sprache nicht auseinanderdividiert werden können und dass es zweitens kaum mehr möglich ist, in der Kategorie einer homogenen monolinguistischen Kultur zu denken.

M EHRSPRACHIGE I DENTITÄTEN : I LMA UND Y OKO T AWADA

R AKUSA

Zunächst einmal ist es notwendig, genauer darzustellen, was hier ›Selbstübersetzung‹ bedeuten soll. Die Selbstübersetzung wird nach Rainier Grutman in der Routledge Encyclopedia of Translation Studies als »the act of translating ones own writings« und gleichzeitig »the result of such an undertaking« (Grutman 2009: 257) betrachtet. Sehr ähnlich ist die Definition von Lamping: »Unter Selbstübersetzung verstehe ich den Fall, dass ein Autor sich als sein Übersetzer betätigt und ein eigenes Werk übersetzt.« (Lamping 1992: 213) Die Selbstübersetzung impliziert also das Zusammenleben zweier oder mehrerer Sprachen in derselben Person. Im vorliegenden Kontext wird die Selbstübersetzung allerdings nicht nur als die Übersetzung eines eigenen Ausgangstextes in einen anderssprachigen Zieltext betrachtet, sondern auch als eine Modalität des Schreibens, die die Kategorien von ›Grenzen‹, ›Homogenität‹ und ›Einsprachigkeit‹, die der Übersetzungsbegriff traditionellerweise impliziert, zur Diskussion stellt.

M EHRSPRACHIGKEIT

UND

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Das Schreiben von Tawada und Rakusa bewegt sich im Spannungsfeld mehrerer Sprachen und Kulturen: Sie sind nicht nur als Thema und Konzept, sondern auch als ästhetisches Gestaltungsprinzip präsent. Beide setzen der gängigen Idee der reinen, homogenen Sprachen ihre Texte entgegen, die neben der Darstellung realer Mehrsprachigkeitssituationen auch mit textinterner Mehrsprachigkeit experimentieren (vgl. Straňáková 2010: 389). Diese Auseinandersetzung mit verschiedenen Sprachen stilisieren beide Autoren als Ausgangspunkt für ihr literarisches Schaffen. Nach Schneider-Özbek (2012: 24) lässt sich die These von Ottmar Ette zum translingualen Schreiben Tawadas auch auf Rakusa anwenden: »Im Prozess eigenen Fremdschreibens wird durch das Ineinanderblenden verschiedener Sprachen, die nicht inter-, sondern translingual erzeugte Offenheit der Ich-Figur potenziert« (Ette 2005: 187). Tawada und Rakusa sind Grenzgängerinnen zwischen Sprachen und Übersetzerinnen im weitesten Sinne, die die Liminalität und kulturelle Hybridität erleben und es verstehen, die Interferenzen von kulturellen Mustern durch ihre Sprache zu einem neuen Ganzen zusammenzufügen. Sie verarbeiten sehr verschiedene Erfahrungen, aber beide beschäftigen sich explizit mit dem Zusammenhang zwischen Schreiben und Identitätsfindung. Diese Thematik bearbeiten beide Autorinnen in Form eines permanenten Prozesses der Übersetzung, der ihre Werke durchzieht. Bevor ich näher auf diese Translationspoetiken eingehe, ein paar wenige biographische Bemerkungen zu den Autorinnen: Ilma Rakusa ist slowenisch-ungarischer Abstammung und lebt heute in der Schweiz. Sie wurde 1946 im slowakischen Rimavská Sobota geboren. Bevor sich die Familie 1951 in Zürich niederließ, hat sie ihre Kindheit in drei Städten verbracht: in Budapest, Ljubljana und Triest; Triest, wo sie Italienisch und etwas Englisch lernte, war damals eine geteilte Stadt. Rakusa lebte dort in der amerikanisch-britischen Zone A. An diesen verschiedenen Orten wurde ihr Ohr »auf Sprachen sensibilisiert.«7 Deutsch erlernte sie erst als vierte Sprache. Die Sprachenvielfalt ist konstitutiv für ihr Leben und ihre Arbeit als Schriftstellerin, Übersetzerin und Essayistin. Seit 1977 ist Rakusa als Lehrbeauftragte (Slawistik) der Universität Zürich, als Publizistin (Neue Zürcher Zeitung, Die Zeit) und freiberuflich als Schriftstellerin und Übersetzerin tätig. Yoko Tawada wurde 1960 in Tokyo geboren und lebt seit 1982 in Deutschland. In Hamburg setzte sie ihr in Japan begonnenes Studium der Literaturwissenschaften fort und im Jahr 1998 promovierte sie mit einer Arbeit über Spielzeug und Sprachmagie in der europäischen Literatur; heute lebt sie in Berlin.

7

Vgl. Rakusa (2006: 7): »Mein Ohr war auf Sprachen sensibilisiert: sie markierten Reichtum und Differenz.«

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Yoko Tawada ist Trägerin des Lessing-Förderpreises der Stadt Hamburg und des Adelbert-von-Chamisso Preises. Für ihre Poetik der Verwandlung und Mehrsprachigkeit hat Yoko Tawada den Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung erhalten. Mehrsprachigkeit ist auch für Tawadas Texte, in denen sie den Leser permanent mit der Existenz nicht nur fremder Sprachen, sondern auch fremder unterschiedlicher Schriftsysteme konfrontiert, konstitutiv.8 Die bewusste Positionierung beider Schriftstellerinnen in der Exophonie ist in ihrem Werk ganz deutlich. Ihre ›hybridsprachlichen‹ Texte sind Formen der Suche nach einer Identität, die selbst multipel ist. Meine Untersuchung der Schreibweise dieser Autorinnen zielt darauf ab, dieses identitätsstiftende Moment herauszuarbeiten und zu zeigen, wie ihre Texte polyphone Räume außerhalb der Muttersprache eröffnen. Beide Autorinnen bilden Echoräume der Exophonie, der Anderssprachigkeit, wo die Grenzen von Identität und Fremdheit, Original und Übersetzung verschwimmen. Tawadas Texte sind konstitutiv mehrsprachig, indem sie den Leser die Existenz einer ganz anderen Sprache spüren lassen, während in einigen Texten Rakusas mehrere Sprachen gleichzeitig präsent sind. Im Folgenden wird dargestellt, wie sich die Mehrsprachigkeit der Autorinnen konkret in ihren Werken widerspiegelt. Es soll gezeigt werden, dass die grundlegenden Charakteristika ihrer Werke, die Erfahrung des Fremden sowie die permanente Veränderung, in ihrer Mehrsprachigkeit wurzeln und ihren spielerischen Umgang mit der Sprache begründen. Daran anschließend wird der Frage nachgegangen, welchen Stellenwert das Übersetzen für ihre Poetik hat. Zum einen bewegt Yoko Tawada sich zwischen dem Deutschen und dem Japanischen beständig selbst als Übersetzerin, zum anderen thematisiert sie ihre Definition von Übersetzung wiederholt und ausführlich in ihren Texten. Ilma Rakusa ist dagegen als ›Selbstübersetzerin‹ und als Übersetzerin verschiedener Autoren aus verschiedenen Sprachen tätig. Sie bewegt sich zwischen einer Vielfalt an Sprachen, aber ihre Schreibsprache ist Deutsch, wo sie »Fluchtpunkt und Refugium« findet. Durch ihre Mehrsprachigkeit, die bei Rakusa und Tawada oft durch Sprachspiele hervortritt, entsteht keine bestimmte national- und kulturbezogene Identität, denn diese Sprache selbst ist durchdrungen von anderen Sprachen. Der Begriff des Übersetzens/›Selbstübersetzen‹ ist ebenfalls eine verbindende Linie zwischen beiden Autorinnen; Übersetzung geht über den bloßen Akt hinaus und wird zu einer Poetik des Schreibens.

8

Für weiterführende Informationen siehe die Homepage des Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung.

M EHRSPRACHIGKEIT

I LMA R AKUSA

UND I HR

UND

(S ELBST -)Ü BERSETZUNG

| 281

»S PRACHGEPÄCK « 9

Ilma Rakusa übersetzt seit vielen Jahren aus dem Russischen, Serbokroatischen, Französischen und Ungarischen ins Deutsche, sie übersetzte unter anderem poetische Prosa, Versdramen und Briefe von Marina Zwetajewa, mehrere Romane des serbisch-ungarisch-jüdischen Schriftstellers Danilo Kiš, vier Prosawerke von Marguerite Duras und Theaterstücke von Péter Nádas. Als Übersetzerin bewegt sie sich naturgemäß nicht nur in einem, sondern in mehreren sprachlichen Gravitationsfeldern und ist – etwa im Russischen – mit diversen dichterischen Personalstilen konfrontiert. Ihre Texte wirken wie Übersetzungen aus einer anderen östlichen Literatur bzw. sie werden von ihrer Übersetzungsarbeit beeinflusst (vgl. Rakusa 2005b: 35-36). In ihren Erzählungen sind fremde Töne hörbar, signalisiert durch Namen, ungewöhnliche Redewendungen oder Zitate. Beim Schreiben und Übersetzen spielt das Ohr eine fundamentale Rolle, das Ohr, das alles memoriert. Rakusa hört etwa die Kadenzen von Duras’ elliptischen Sätzen, den Rhythmus von Zwetajewas Prosa. Diese Muster setzen sich fest und können später für das eigene Schreiben abgerufen werden. Als sie seinerzeit den in Frankreich bereits zum Bestseller avancierten Roman L’Amant (Der Liebhaber) von Marguerite Duras (1986) übersetzte, erzählt Rakusa in verschiedenen Beiträgen, sie habe die Arbeit trotz großem Termindruck unterbrochen, um eine eigene Erzählung zu schreiben. Die Übertragungsvorgänge spielen sich meist ›unbewusst‹ ab, als Klangechos, als Quasi-Refrains. Etwas schält sich aus dem inneren Stimmenkonzert und nimmt Gestalt an. Ihr Gedichtband Love after love (2001) ist ein eindrucksvolles Beispiel für dieses Klangchaos, in dem die gekappten Sätze und der expressive Staccato-Rhythmus so manchen Leser an den Versstil Marina Zwetajewas erinnern kann (vgl. Rakusa 2005b: 36). Beim Schreiben hatte sie – bis auf ein Zitat (»das Brot tut weh«) – nicht an Zwetajewa gedacht, von der sie hauptsächlich Prosa übersetzt hat: »Fragt sich also, ob die (vermeintliche) Ähnlichkeit auf einer »typologischen Verwandtschaft« beruht oder ob in meinem Gedächtnisraum Zwetajewa-Klänge nachhallen. Letzteres ist nicht auszuschließen. Das innere Gemurmel ist vielstimmig.« Für sie darf der Übersetzung Fremdheit anhaften (vgl. Rakusa 2005a: 38). Wie Sandor Marai denkt Rakusa, dass »Übersetzung Entzifferung einer Geheimschrift ist – weil es auf dem Grunde jeder Sprache [...] einen [...] Code gibt, der beinahe unübersetzbar ist« (zit. nach ebd.: 39). Wie Rakusa selbst in Theater aus der Sprache

9

Für Ilma Rakusa ist Mehrsprachigkeit ihr »leichtes Sprachgepäck«: »Beim rastlosen Umherziehen führte ich keine Puppen und Plüschtiere mit, sondern leichtes Sprachgepäck: Ungarisch und Slowenisch.« (Rakusa 2006: 7)

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(1994) erklärt hat, erlebt sie Sprache eigentlich schon als übersetzte Sprache. Für sie bestehen nur ›graduelle‹ Unterschiede zwischen dem Übersetzen und dem Schreiben: Auch der Dichter ist »Leser, Überlieferer, in gewissem Sinne auch Kopierer und Übersetzer« (Rakusa 1994b: 31; vgl. a. Rakusa: 2006: 43-74). Ilma Rakusa ist nicht nur Übersetzerin in dem Sinne, als sie aus mehreren Sprachen übersetzt. Ihre Muttersprache ist Ungarisch, aber sie denkt, wie sie selbst behauptet, auf Deutsch. Deutsch ist auch ihre ausschließliche Schreibsprache, nie schrieb sie auf Ungarisch, Slowenisch oder Russisch, obgleich sie diese Sprachen perfekt beherrscht. »Deutsch ist zu meiner wichtigsten Sprache geworden: es ist die Sprache meiner literarischen Texte, die Sprache, in die ich übersetzte. Nur auf Deutsch kann ich mich bis in feinste stilistische Nuancen hinein ausdrücken, und geht es um Selbstgespräche, finden sie größtenteils deutsch statt.« (Rakusa 2006: 8)

Doch sind neben dem Deutschen immer auch andere Sprachen »leiser und etwas undeutlicher präsent, zumindest in ihrem Bewusstsein«, erläutert Rakusa. Deutsch ist ihr zwar zur Heimat gewordenen, aber es bleibt eine Fremdsprache und wird deshalb nie ganz selbstverständlich sein (vgl. Rakusa 1994a: 83). Am Deutschen erprobt sie wieder und wieder, wie viel Fremdheit einer Sprache zugemutet werden kann, wie viel Verfremdung sie verkraftet.10 In ihren Texten erscheinen aber auch andere Fremdsprachen; Mehrsprachig sind nämlich verschiedene Texte Rakusas. Zitate, Fundstücke, Fremdtexte werden angeeignet und integriert. Wie Kathrin Röggla im Nachwort von Durch Schnee (2005) geschrieben hat, ist »Durch Schnee (aber auch ihre anderen Werke) eine Übersetzung aus vielen Sprachen, ein hybrides Konstrukt, das sich in eine Sprache hineinbewegt hat, die nicht Muttersprache ist, aber eine Art Fluchtpunkt, Standort« (Röggla in Rakusa 2005c: 242). Ein interessantes Beispiel für Rakusas Sprachspiele, die wir ab den 1990er Jahren in ihren Texten beobachten können, ist ihr im Jahr 2009 erschienener autobiographischer Roman Mehr Meer. Erinnerungspassagen. Hier entwickelt sie eine Art Poetik der Erinnerung und des Unterwegsseins; Heimat gilt ihr nicht als ein topographisch festgelegter Ort, sondern verknüpft sich eng mit Sprache und Literatur. In ihren ersten Werken beschränkt sich Rakusa auf die Verwendung von fremden Eigennamen und die Nachahmung einiger sprachlicher Merkmale. In Mehr Meer manifestiert sich Mehrsprachigkeit nicht mehr nur in Eigen- und

10 Vgl. die Vorstellungsrede von Ilma Rakusa (1996) bei der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt im Oktober 1996.

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Ortsnamen, sondern auch in der Rede der Figuren.11 Der Text ist eine Collage von Erzählungen, von denen jede für sich stehen kann; man begegnet so vielen Sprachen, die den deutschen Text durchqueren: Englisch, Russisch, Italienisch, Ungarisch, Slowenisch, Französisch, Griechisch. Manchmal finden wir auch Verse aus Gedichten, aus Liedern. Die Schriftstellerin bricht auf diese Weise mit der Fiktion eines homogenen und einzigen Raums, sie zeigt den Reichtum der Vielsprachigkeit. In Mehr Meer erfüllen anderssprachige Wörter im deutschsprachigen Fließtext die Funktion eines Schibboleths.12 Die Mehrsprachigkeit des Textes wird bei ihr zur Chiffre, die entschlüsselt werden muss, denn Rakusa liefert keine Übersetzung für die fremdsprachigen Elemente mit (vgl. Katrin Schneider-Özbek 2012: 22), im Text sind oft slowenische und ungarische Wörter. Der Umgang mit Sprachen und die Reflexionen über die Sprachwahl sind wiederkehrende Handlungselemente in Rakusas Texten: »Ich bewegte mich zwischen fremden Gegenständen«, schreibt Rakusa in Mehr Meer, »umgeben von einer fremden Sprache.« »Die Gegenstände blieben, was sie waren, der Sprache näherte ich mich langsam« (Rakusa 2009: 45). Den Sprachen ordnet das Kind unbewusst verschiedene Zuständigkeitsbereiche zu: Ungarisch für Gefühle, Tiere, Kleinkinder, Zärtlichkeit (vgl. Rakusa 2009: 106), das Hochdeutsche als Schriftsprache ist die Sprache ihrer geheimen »Kopfreise« (ebd.: 120). In ihrer ersten Dresdner Chamisso-Poetikvorlesung (2006), Transit. Transfinit. Oder: Who Am I?, beschreibt sie sich selbst als Mehrsprachige und erzählt, dass sie der Regisseur ihrer Sprach- und Identitätsspiele ist: »Es gibt Tage, da führe ich Selbstgespräche in fünf Sprachen und spüre, dass auch das Schreiben sich fünfsprachig gebärden möchte. Nimm von allem das Beste [...] und schaff dir dein eigenes, multilingual changierendes Idiom.« (Rakusa 2006: 31) Manchmal wünschte sie sich, ein mehrsprachiges Buch zu schreiben, in dem der Makkaronismus zum Stilprinzip erhoben würde. So Rakusa: »Ich könnte Familiäres auf Ungarisch, Emotionales auf Russisch, Saloppes auf Englisch, Kapriziöses auf Französisch ausdrücken oder meine Figuren in allen diesen Sprachen reden lassen.« (Rakusa 2005b: 35) Trotz dieses Multilinguismus sieht sie sich in der deutschen Sprache und Literatur beheimatet, lehnt aber jede Zu-

11 Wie Katrin Schneider-Özbek bemerkt hat: »Das Ordnungssystem von Mehr Meer ist für ein transkulturelles wie translinguales Erzählverfahren typisch. Der Erzählstrang verläuft nicht linear, ist jedoch teilweise chronologisch und folgt Erzählmustern der postmodernen Literatur.« (Schneider-Özbek 2012: 30) 12 Die Wörter werden zu Schibboleth, insofern sie keine Erklärung benötigen. Das hebräische Wort Schibboleth bedeutet u.a. Getreideähre, wird aber hier im Sinne von Kennwort oder Codewort verwendet.

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schreibung und Etikettierung ab: »Ich war abwechselnd eine slowakische, eine ungarische und eine schweizerische Schriftstellerin, während ich nichts Anderes bin als eine deutschsprachige Schriftstellerin, die in Zürich lebt.« (Rakusa 2006: 7) Mehrsprachigkeit ist aber immer präsent in ihrem Werk. Sie bekämpft die monolithischen Definitionen von Sprache und Kultur, den Dualismus von ›Fremd‹ und ›Eigen‹: »Auf welchem Sprachboden bewege ich mich, was unterscheidet diese von der anderen Sprache, usw. Ich lernte von klein auf vergleichen, sondieren, abtasten. Ich verlernte den Glauben an ein Einziges, Absolutes, Tragfähiges.« (Rakusa 2006: 32) Die Sprachenvielfalt ist direkt mit der Identitätsfrage verbunden, sie ist ein entscheidendes Problem, Kennzeichen der ganzen Autobiographie. Wenn sie über ihre Kindheit spricht, behauptet sie: »Sprachenvielfalt als eine Vielfalt von Identitäten. Ja. Ich fühlte mich in jeder Sprache anders, und es hatte etwas lustvoll Spielerisches für mich, von einer Sprache zur anderen zu wechseln.« (Rakusa 2003: 99) In Zur Sprache gehen betont Rakusa, dass sie im »Grenzverkehr zwischen den Sprachen« ihren »künstlerischen Stimulus« (Rakusa 2006: 10) gefunden habe. In dieser Hinsicht hebt Aurélia Klimkiewicz (Professorin für Übersetzungswissenschaft York University Toronto) hervor: »l’impact que la pratique du bi/multilinguisme a sur la conscience de soi alors que celle-ci est continuellement traversée par la traduction, l´autotraduction ou l´autodialogue multilingue.« (Klimkiewicz 2011: 26-27, zit. nach Weissmann 2012: 5) Mehrsprachigkeit wird immer durch ›Selbstübersetzung‹ geprägt, die ein wichtiges Merkmal der translingualen Schriftsteller ist. Im folgenden Zitat aus Mehr Meer wird die Rolle der Übersetzung in Rakusas Leben explizit hervorgehoben: »Ich war ein Unterwegskind. In der Zugluft des Fahrens entdeckte ich die Welt, und wie sie verweht. Entdeckte das Jetzt, und wie es sich auflöst. Ich fuhr weg, um anzukommen, und kam an, um wegzufahren. Ich hatte einen Pelzhandschuh. Den hatte ich. Vater und Mutter hatte ich. Ein Kinderzimmer hatte ich nicht. Aber drei Sprachen, drei Sprachen hatte ich. Um überzusetzen, von hier nach dort.« (Rakusa 2009: 76)

Sie sucht immer den Dialog mit fremden Texten, sie versucht die Sprachen zusammenzureimen und klanglich zu amalgamieren, wie sie dies in Love after Love getan hat, wo das Englische als Gegenstimme und Widerpart figuriert, als Fremdkörper und Reibungsfläche, und sich abwechselnd kolloquial und poetisch gibt (vgl. Rakusa 2009: 35). Die englische Sprache hat eine sehr persönliche Dimension: Englisch ist eine der Sprachen, die Rakusa in Triest erlernt hat, ist die Sprache ihrer Kindheit, aber in Love after Love ist es auch die Sprache der Liebe. Das häufig in ihren Gedichten anzutreffende deutsch-englische Duett ist

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in Love after love mehrfach begründet. Der siebte Abgesang, Lament (44-50) genannt, beginnt mit einer langen Aufzählung südenglischer Ortsnamen, mit denen Abschied genommen wird und am Ende des Gedichts fängt der Dialog zwischen beiden Sprachen an, indem sie ein paar Sätze auf Englisch einführt. Im letzten Abgesang, And Venice (51-55), entrollt sich die gemeinsame Geschichte anhand einer venezianischen Topographie, die zum Klagelied wird. Was die Vielstimmigkeit angeht, trifft hier Deutsch – neben Englisch – auf Italienisch, und zwar so, dass die Übergänge fließend sind. Die andere Sprache, insbesondere Englisch, ist Gegenstimme, dramatischer oder zärtlicher Widerpart, Reibungselement (vgl. Rakusa 2006: 21). Dennoch versucht sie diese ›inkompatiblen‹ Sprachen klanglich zu amalgamieren: »Remember, I care. / I caress you / Das Karo ist leer« (Nevermore: 12). Oder »Leave me, lover. Belagerung beendet. / Die Festung freit sich selbst. Ruine. Aber frei /Freit sich, lover. In frivoler Verzweiflung. / Don’t cry. Don’t be shy. / Und das Pendel schwingt: Nein« (Nevermore: 13). Sehr oft sind Assonanzen zwischen Englisch und Deutsch präsent, die sich in jedem Vers abwechseln: »You love me? / oder nicht?/ what do you feel?/ what do you think? Wir ringen um das Ding/ das sich entzieht/« (Nowhere: 30). Die einzelnen Sprachen sollen in ihm, aber keine Kakophonie erzeugen, sondern zu etwas Eigenem geformt werden. Hier wird Mehrsprachigkeit als kreatives Element benutzt und stellt ein subversives Spiel dar, wo die Worte, wie in den Texten Tawadas, ein Spiel der Buchstaben und nicht eine Funktion der Bedeutung sind (vgl. Schmitz 2006: 216).

Y OKO T AWADA UND DIE P OETIK DER Ü BERSETZUNG : Z WISCHEN V ERWANDLUNGEN UND U NÜBERSETZBARKEIT Yoko Tawada ist eine ›Selbstübersetzerin‹ auf verschiedene Art und Weise, auch wenn sie keine Übersetzerin im herkömmlichen Sinne ist: Ihre Übersetzungen können in zwei »Kategorien« unterschieden werden: Zu einigen ihrer Texte verfasste Tawada neben den Originalversionen eine weitere deutsche oder japanische Version, je nachdem in welcher Sprache das Original verfasst wurde (z.B. Opium für Ovid oder Schwager in Bordeaux hat Tawada zunächst auf Deutsch geschrieben und dann selbst ins Japanische übersetzt). Matsunaga nennt diese Texte »Partnertexte« (Matsunaga 2002: 540). Viele dieser literarischen Übertragungen entwickeln sich zu endlosen Übersetzungsprozessen von einer Sprache in die andere und wieder zurück. Es gibt auch Werke, die Tawada gleichzeitig auf Deutsch und Japanisch schrieb: Das nackte

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Auge ist in dieser Hinsicht wohl das wichtigste Beispiel. Bei Tawada ist der Text nicht im herkömmlichen Sinn übersetzt, sondern verwandelt und umgedichtet, auch wenn sie in einem Interview selbst angibt, dass »sie jeden kleinsten Satzteil abwechselnd in die japanische oder in die deutsche Sprache übersetzte«. Sie nannte dies »eine ununterbrochene Übersetzung« (Eureka: 143, zit. und üb. in Saito 2010: 285). In der Tat existiert für dieses Werk kein Original. Tawada übersetzt und transformiert die Wirklichkeit und ihre Sprache durch Wortspiele und Reime. Verse, Sätze, Worte, Buchstaben werden zu Figuren, die Wiedergabe dieser ewigen Übersetzung ist eine komplexe Erfahrung und eine Herausforderung: Manchmal ist der Verlust unvermeidbar, ja sogar die einzige Möglichkeit, um verborgene Bedeutungen und ungeahnte sprachliche Verweise zu entdecken. Übersetzen lässt sich hier als ein Transferprozess zwischen dem Fremden und dem Eigenen verstehen. Tawadas Texte tragen in sich die Spuren zweier Kulturen, Traditionen und vor allem Sprachen. Wie Tawada in ihren Essays betont, ist das sogenannte Original kein Original im herkömmlichen Sinne, das durch die Übersetzung in eine andere Sprache übertragen wird. Für Tawada ist das Übersetzen mehr ein Umschreiben, ein rewriting, das keinen klaren Anfang und kein klares Ende hat, allein schon, weil das ›Original‹ längst schon das Ergebnis von Übersetzungsprozessen ist. In einem Gespräch hat sie dies einmal so formuliert: »Normalerweise bezeichnen wir den entstandenen, geschriebenen Text als Original, aber es gibt ja noch ein Vorher, bevor dieser Text endgültig auf dem Papier steht. Und wenn man schon in dem Moment, wo man schreibt, richtig ausformuliert, ist das wie eine Übersetzung aus der Idee. Die eigene Idee übersetzt man in die richtige Sprache. Insofern ist das ja kein Original, was auf dem Papier steht. Und die Idee ist bei mir die Übersetzung von den Bildern, die davor sind, und deshalb auch kein Original [...]. Also, es gibt kein Original!« (Kloepfer 1998: 14-15)

Insofern also Schreiben für sie schon eine Übersetzung aus einem nicht sprachlichen Bereich bedeutet13, kann die Übersetzung als fundamentales Element ihrer ›Originale‹ betrachtet werden, wobei solche ›Originale‹ nie abgeschlossen sind, sondern sich ständig weiterentwickeln: »Literarische Texte, die geschrieben werden, verwandeln sich in der Zukunft. Einige werden als Theater gespielt, andere werden in eine andere Sprache übersetzt. Und selbst wenn

13 In den Poetik-Vorlesungen Verwandlungen (1998) finden sich wichtige thematische Bezugspunkte auf Tawadas Umgang mit literarischen Übersetzungen.

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ein Text nur gelesen wird, findet eine Verwandlung statt: Im Kopf der Leser ruft er individuelle Assoziationsketten wach und lässt neue Bilder entstehen. Daher kann man vielleicht sagen, dass die Übersetzung eine Zukunft eines literarischen Textes ist. Mit der Zukunft ist in dem Fall ein Zeitraum gemeint, in dem ein Text sich verwandeln kann.« (Tawada 2000: 66-67)

Es gibt Erzählungen und Gedichte, in denen die Figur der Übersetzerin/ Dolmetscherin eine zentrale Rolle einnimmt; sie findet sich in vielen deutschen und deutsch-japanischen Texten Tawadas.14 Matsunaga zeigt, dass die Übersetzerinnen- bzw. Dolmetscherinnen-Figuren immer an den Rand gedrängt werden und sich an der Grenze von zwei einander fremden Welten befinden. Oft misslingt ihre Aufgabe, weil es für die Übersetzerinnen nicht möglich ist, das Fremde zu beherrschen, und so bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich dieser Fremdheit auszusetzen und sich mit ihr auseinanderzusetzen (vgl. Matsunaga 2002: 540). Die Übersetzung ist ein Prozess von Tawadas bilingualem Schreiben, das den Text nicht im herkömmlichen Sinn übersetzt, sondern transformiert und umdichtet (vgl. Arens 2007: 60). Oft stehen die Übersetzerinnen vor dem Problem der Unübersetzbarkeit, die dennoch für Tawada nicht etwas ganz Negatives ist. In den Poetik-Vorlesungen Verwandlungen behauptet sie: »Eine literarische Übersetzung muß obsessiv der Wörtlichkeit nachgehen, bis die Sprache der Übersetzung die konventionelle Ästhetik sprengt. Eine literarische Übersetzung muß von der Unübersetzbarkeit ausgehen und mit ihr umgehen, statt sie zu beseitigen« (Tawada 1998: 35). Das Problem der Unübersetzbarkeit wird von Tawada häufig thematisiert. Jedoch in einer positiven Weise, denn die Unübersetzbarkeit macht oft erst Aspekte des Originals sichtbar, die zuvor unbeachtet geblieben waren.15 In diesem Sinne hat die Unübersetzbarkeit auch eine produktive Funktion für den poetischen und literarischen Bereich, auch wenn sie zunächst einmal auf einen Verlust zu verweisen scheint. Eine interessante Verschiebung, eine Entstellung der eigenen Sprache ist insofern eher eine positive Leistung der Übersetzung. Für Tawada besteht der Reiz einer Übersetzung darin, dass sie den Leser die Existenz einer ganz anderen Sprache spüren lässt. Ein literarischer Text kann auf diese Weise erst nachträglich seinen Originaltext finden, aus dem er übersetzt worden sein könnte. In diesem Sinne sieht Tawada in der

14 Die Kranichmaske, die in der Nacht strahlt (1993a), Arufabetto no kizuguchi (1993b), Das Bad (1993c), Till (1998), Mukashibito (2000). 15 Die Unübersetzbarkeit macht meistens ein weiteres Gesicht des Originals sichtbar und somit bringt sie Gewinn, und zwar gerade dort, wo sie etwas zu verlieren scheint (Tawada 2007: 90).

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Übersetzung keinen Verlust, sondern ein Weiterleben des literarischen Werkes16: Die Übersetzung hebt die Existenz mehrerer Texte in ein- und demselben Text hervor (vgl. Tawada 1996: 19), und sie macht den Raum des ›Dazwischen‹ und die Grenzen des Schreibens deutlich. Hier artikuliert sich ein Prozess der Metamorphose, eine der möglichen Varianten eines Textes. In ihrem Werk verwirklicht sich die Begegnung zwischen zwei fremden Sprachen mit verschiedenen Schriftsystemen. Die deutsche Sprache und die japanische Sprache stoßen hier immer wieder aufeinander; manchmal verschmelzen sie, indem sie neue sprachliche Welten und ständige Metamorphosen schaffen. Ihre Texte stellen nicht nur Reflexionen zur deutschen Sprache, sondern auch zu ihrer japanischen ›Muttersprache‹ an. Genau in diesem Sinne kann ihr Schreiben als exophon beschrieben werden. Aus ihrer anderssprachigen Perspektive denkt Tawada häufig über die verschiedenen syntaktisch-grammatikalischen Strukturen der deutschen Sprache, z.B. über die Personalpronomen nach, die in ihren Texten neue Formen annehmen und das Genus wechseln, denn im Japanischen brauchen Substantive kein Genus, keinen Plural und keinen Artikel. Die Ich-Erzählerin in Von Muttersprache zur Sprachmutter (1996: 9-15) fragt sich z.B., warum das Wort »Enpitzu« (der Bleistift) als maskulin betrachtet werden muss. Außerdem überlegt sie sich die Personifizierung von Gegenständen und die Verwendung des Platzhalters »es«. Noch eine weitere Form der Übersetzung17 finden wir bei Tawada: »die Transkription der Übersetzung« (Tawada 2010: 41), die sie in Form des Gedichtes Die Flucht des Mondes sichtbar macht. Hier verwendet die Schriftstellerin gleichzeitig chinesische Ideogramme und phonetische Schrift, indem sie die deutsche Grammatik verwendet. In einer Anmerkung unter der Poesie behauptet sie, dass das Gedicht zeigt, »dass man mit dieser Mischmethode auch Deutsch schreiben kann« (ebd.). Tawadas Poetik des Übersetzens geht von einem anderen Prinzip aus, das nicht an der Semantik des Wortes ansetzt, sondern primär an Form und Klang des Wortes. Keijirō Suga (2007) benutzt den Begriff Translation poetics, um Tawadas Schreiben zu beschreiben, und erklärt, wie exophones Schreiben einen unvermeidbaren Übersetzungsprozess verursacht:

16 »Ich bin immer der Meinung gewesen, dass eine Übersetzung ein weiteres Leben eines literarischen Werkes ist und keine Reduzierung des Originals.« (Tawada 2007: 85) 17 Über die ›Figuren‹ der Übersetzung bei Tawada siehe u.a. Seisenbacher 2014.

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»Exophone writing, imaginably, involves a constant process of self-translation. One’s mind is kept alert by constantly going through the available phonetic and semantic resources in (at least) two languages, and this agitation within the writing gives one’s style an extraordinary agility. It is this agility born out of her own inherent translational poetics that gives her work a joyfully thrilling, magical touch.« (2007: 27)

T RANSLINGUALES S CHREIBEN

ÜBERSETZEN

Die unten angeführten Übersetzungen ins Italienische, die ich selbst angefertigt habe, stellen den Versuch dar, die Mehrsprachigkeit und plurikulturelle Dimension des Werkes Rakusas und Tawadas translatorisch ›einzufangen‹. Anhand dieser Versuche möchte ich zeigen, welche Schwierigkeiten sich aus dieser Mehrsprachigkeit für die Übersetzungsarbeit ergeben. Das Schreiben von Rakusa und Tawada ist immer im Werden, in Bewegung zwischen verschiedenen Sprachen und Welten – das ist eine reale Herausforderung für den Übersetzer, der die Fremde und den bereits im Original wahrnehmbaren permanenten Prozess des Übersetzens übertragen möchte. Man kann sich wohl fragen, inwiefern Übersetzung hier möglich sein kann, bzw. was übersetzt werden soll. Hier möchte ich einige italienische Übersetzungsvorschläge zu Gedichten von Tawada und Rakusa vorführen, in denen sich angenehme, aber auch heftige Begegnungen zwischen zwei oder mehreren Sprachen abzeichnen, wie ein »Wortduell oder ein Worttanz« (Rakusa 1994a: 85): »Zerredet/Zerfleddert/zerstückelt/zerschlagen/zerrissen/zerrüttet/zerschmettert/zerrieben/ zerkleinert/zermartert/zernichtet/zerhaut/zerhackt/zerfleischt/zerlegt/zermahlt/zerkaut/ zersetzt/zerstampft/zerstört/zerwirkt/zerwühlt/zerliebt« (Rakusa 2001: 39)

Das Gedicht von Ilma Rakusa Limbo III (39-43) in Love after Love beginnt mit einer Verbliste, die »Zerstörung« zum Thema hat. Wie kann man diese von der untrennbaren Vorsilbe »Zer« verursachte Wirkung in einer anderen Sprache wiedergeben? Die Vorsilbe »Zer« verweist auf Zerstörung, Destruktion, zerstückeln. Das Italienische hält kein vergleichbares Präfix für diese Verben bereit, die ein solches Wortfeld ›nahelegen‹. Ich habe deshalb Verben ausgewählt, die alle der ersten Konjugation18 folgen und mit »ato« im Partizip II enden:

18 Die italienischen Verben können drei verschiedenen Konjugationen folgen, diese werden nach ihren Endungen unterschieden: -are, -ere und -ire.

290 | G ABRIELLA S GAMBATI »straparlato/squinternato/smembrato/spaccato/strappato/logorato/fracassato/grattugiato/ frantumato/torturato/annientato/spezzato/tagliato/lacerato/trinciato/triturato/macinato/ disgregato/schiacciato/annientato/smontato/scompigliato/disinnamorato«

Das Gedicht setzt mit einem Verswechsel auf Deutsch und auf Englisch fort: »That’s it, I say. My sky fell on the street. Und Schweigen. Wo ortet sich das Wort Wenn Kopf und Herz entzweit Ich meine nirgends Und in den Straßen Londons Eine andre geht an deiner Seite Stop! der Ruf streift dich am Kragen fällt du sagst: Vorbei drehst dich nicht um das soll mein Leben sein the gap between knowing and pain Wiese aus Wahn Riesenklinge Riß […] Zungen zentnerschwer der Alp zuoberst du ich ohne Haut du stößt du gehst du bist gegangen I am caught in one body

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cramp splinter raw dark versagt die Sprache swords […]«

Mit der translatorischen Vereinheitlichung der beiden Sprachen zu einer würde sich das Gedicht auflösen, das gerade von der Untrennbarkeit bei gleichzeitiger Differenz der beiden Sprachen lebt. Hier spricht die Autorin nicht nur von einer Liebesbeziehung zwischen zwei Personen, sondern auch zwischen zwei fremden Sprachen – eine Beziehung, die sich mitunter auch als schwierig und zerstörerisch erweisen kann. Wo ortet sich das Wort, fragt Rakusa sich: Vielleicht nirgends oder zwischen knowing and pain. Das Wort ist der Ort des Wortes. Der Ort des Wortes ist dasselbe Wort (il luogo del logos) – ich habe versucht, auch in der Übersetzung die Spannung zwischen ›fremd‹ und ›eigen‹ erfahrbar zu machen: »That’s it, I say. My sky fell on the street. E silenzio Dov’è il luogo del logos quando testa e cuore separa io credo da nessuna parte e per le strade di Londra un´altra è al tuo fianco Stop! il grido ti sfiora il colletto cade Tu dici: Passato non ti voltare questa deve essere la mia vita the gap between knowing and pain campi di pazzia giganti lame fendenti […]

292 | G ABRIELLA S GAMBATI Lingue l’Alp pesante un quintale in alto tu io senza pelle tu colpisci tu vai tu sei andato I am caught in one body cramp splinter raw dark Fallisce la lingua Swords […]«

Es gibt Zungen, aber die Sprache versagt und tut weh wie die Schwerter, die auf Englisch auch Wörter sind: Swords. Dieselbe Gewalt der Sprache kommt im von Tawada auf Deutsch geschriebenen Gedicht Ein Gedicht für ein Buch (1997) heraus. Hier ist wieder das Wort der Ort des Dichtens: »Ein Gedicht für ein Buch ein wort ein mord wenn ich spreche bin ich nicht da ein wort in seinem käfig fesselnd gefesselt spuckt einen bericht über meine taten über meine karten kein wort nur sein schatten

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in dem ich ruhe mein schatten verschwindet darin wenn ich schweige bin ich aus demselben stoff gemacht wie du stoffliche zeit zwischen einem wort und einem schluck wasser dort wo die stimme im fleisch aufwacht hört man ohne ohren ein wort befreit von seinem dienst ein wort direkt auf das trommelfell geschrieben die trommel fällt lautlos stimmhaft ein wort ein ort« »Una poesia per un libro una parola un delitto quando parlo non sono qui una parola incatenata nella sua gabbia incatenante sputa un racconto sulle mie azioni sulle mie carte nessuna parola solo la sua ombra in lei riposo la mia ombra ci scompare dentro niente viene giudicato

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294 | G ABRIELLA S GAMBATI quando taccio sono fatta dello stesso materiale tuo tempo materiale tra una parola e un sorso d’acqua là dove la voce si sveglia nella carne si ascolta senza orecchie una parola libera dal suo lavoro una parola scritta tambureggiando sul timpano il tamburo cade silenzioso sonoro logos luogo« (Sgambati 2006: 167-181)

Das Gedicht beginnt mit dem lapidaren Zeilenpaar »ein wort/ein mord«, das an einen Titel eines Bandes von Rakusa erinnert: Les mots / morts (1992). Die beiden Zeilen, die durch die parallele Wortstellung und den Endreim eng verbunden sind, spiegeln sich am Schluss des Gedichts in dem Zeilenpaar »ein wort/ein ort« wider. Solche Wortmutationen, bei denen das Hinzufügen, Weglassen oder Austauschen eines Buchstabens den Sinn verändert, finden wir häufig bei Tawada und sie stellen eine große Herausforderung beim Übersetzen dar. Interessanter ist die in den nächsten Zeilen (22-24) beschriebene Möglichkeit, die Sprachlosigkeit zu überwinden: »dort/wo die stimme im fleisch aufwacht/hört man ohne ohren«. Dieses Bild ist, etwa aus dem Roman Ein Gast (1993d), bekannt. Hier wird die Utopie einer körpernahen, sinnlichen Wahrnehmung von Sprache beschrieben. Der Bezug auf die deutsche Sprache bei Tawada, sowie der auf die englische für Rakusa, sollte in der Übersetzung nicht verschwinden, er sollte immer spürbar sein, obwohl man in eine ›dritte‹ Sprache übersetzt. Ziel der Übersetzung kann es nicht sein, nach endgültigen Lösungen zu suchen oder nach stilistischen und semantischen Äquivalenzen zu streben,19 es handelt sich dabei vielmehr um eine ›Adaption‹, ein ›Wiederdichten‹. Die Erzählungen Tawadas sind in gewis-

19 Für die Analyse einiger italienischer Übersetzungen Tawadas Texten siehe Sgambati 2015.

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sem Sinne Überseezungen. Überseezungen ist der Titel ihres zweiten deutschsprachigen Essaybands (2002), der viele Überlegungen über die verschiedenen Übersetzungsverfahren bietet. Der Titel impliziert die phonetische Ähnlichkeit mit dem Wort »Übersetzung« und die Unterschiede in der Wahrnehmung von gesprochener und geschriebener Sprache, er umfasst die Wörter Übersee, Zunge, Seezungen, die eine Verbindung zwischen Fremde, Sprache und Körper nahelegen; dieses Wortspiel verweist auf Übersetzung als ein Prozess, der nicht nur zwischen Sprachen stattfindet. Im Prozess der Übersetzung ins Italienische20 braucht der Text eine Dislokation in einem anderen Raum. Ortsnamen sind bei Tawada beispielsweise in die deutsche und japanische Sprache eingebunden und deshalb muss die Übersetzung eine »Transplantation der Signifikanten« (Sgambati 2014: 191-204) erlauben. Ich komme später darauf zurück. So wie die Verse italienisch werden, so werden es auch die Orte und Städte. Auf Italienisch müssen die Orte neue Bedeutungen und einen neuen Körper annehmen. Dieser Prozess stellt ein Risiko dar, ermöglicht jedoch auch, die Freiheit der »Sprachbewegung« zu erfahren. Im Gedicht Vreemd in New Amsterdam (Tawada 2010: 30) schreibt Tawada deutsche Wörter, indem sie wie in der niederländischen Phonetik die Buchstaben »F« und »V« austauscht. Dabei kommt nur ein einziges ›richtiges‹ holländisches Wort vor: »Vreemd« (Fremd). In der italienischen Übersetzung wird die Dimension der Fremde nicht mehr von der Pseudo-Begegnung zwischen Holländisch und Deutsch durch Klang- und Buchstabenspiele gegeben, sondern durch das Deutsche und durch eine an der italienischen Phonetik orientierten Umschrift anderer Sprachen. Deshalb wird »New Amsterdam«, der ursprüngliche Name von New York, zu »Neapolis«, Name mehrerer antiker Städte in Europa, Asien und Afrika. Tawada praktiziert oft akustische Übersetzungen, wo das Assoziationsvermögen polyglott sein muss. Oft ist dieser Prozess in der Übersetzung verloren gegangen. Ein Beispiel ist das Gedicht: Slavia in Berlin (2007: 7-10), wo das lyrische Ich das Substantiv »Abschied« gemäß der japanischen Phonetik (»Abu-si-do«) liest und uns auf diese Weise nach »Abu Simbel« (im Süden Ägyptens) führt. Slavia in Berlin (aus Sprachpolizei und Spielpolyglotte) ist ein einziges Sprachspiel, bei dem die äußere Handlung – das Treffen zweier Liebender – in den Hintergrund tritt, da kontinuierlich Länder- oder Städtenamen an die Stelle von Wörtern treten, die der Leser aus dem Kontext heraus erschließen kann. Ich habe versucht in der Übersetzung eine Verschiebung der Signifikanten

20 Die einzige ins Italienische übersetzte Erzählung von Tawada ist Das Bad, Il bagno (üb. von Lucia Perrone Capano 2003). Übersetzungen einiger Gedichte, die ich selbst angefertigt habe, sind in verschiedenen Beiträgen erschienen.

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zu vollziehen. Im Ortsnamen »Parigi« klingt z.B. das Verb partire »weggehen«, »abreisen« an. Ebenso bei Vancouver, es beginnt mit »va«, der dritten Person von andare – »losgehen« (Siehe die Zeile »Ich nahm Abu Simbel von meinen Kamerun und ging Los Angeles«). Die Zigarettenautomaten sind nicht mehr »Kapstadt« (»kaputt«), sondern »Rotterdam« (rotto, »kaputt«). Während im Text von Tawada die Maschine keine »München« (»Münzen«) annimmt, lehnt die Maschine in der italienischen Phrase »Monet«, den französischen Maler, ab (entsprechend dem italienischen Wort moneta). »Slavia in Berlin Ich nahm Abu Simbel von meinen Kamerun und ging Los Angeles, verabredet um drei Uhr. Ein Sonntag mit leuchtenden Aluminiumblättern in Berlin. Zigarettenautomaten waren Heilbronn, Fahrkartenautomaten waren Kapstadt. Die Maschine nahm meine Europa nicht an, weder München noch Scheine.« »Slavia a Berlino Decisi Parigi dalla mia Camerun e andai Vancouver, appuntamento alle tre. Una domenica con foglie d’alluminio luminose a Berlino. Distributori intatti di sigarette erano Heilbronn, Distributori rotti di biglietti erano Rotterdam. La macchina non accettava la mia Europa, 21

né Monet né soldi di carta.«

Tawadas Texte basieren auf Missverständnissen, die oft den Unterschied zwischen einem westlichen Polysystem und einem asiatischen Polysystem aufzei-

21 Für meine Übersetzung ins Italienische und die Analyse des ganzen Gedichtes siehe Sgambati 2014.

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gen, wie es in Überseezungen geschieht, wo Missverständnisse und Fehler neue Bedeutungen ermöglichen. Man versteht unmittelbar, dass der Unterschied der sprachlich-kulturellen Kodes die Möglichkeit zahlloser missreadings eröffnet. Tatsächlich aber dürfte es schwer sein, überhaupt Beispiele eines vollständigen Verständnisses des Fremden zu finden, aber Missverständnisse sind unvermeidbar und können zu einem Teil des Schaffensprozesses werden.

S CHLUSSBEMERKUNGEN : »D AS INNERE G EMURMEL IST VIELSTIMMIG « Man könnte einfach schließen, dass das Fremde nicht etwas Äußerliches für Ilma Rakusa und Yoko Tawada ist, sondern Teil ihrer Selbst22. Es handelt sich um einen Osmoseprozess zwischen Autor und Übersetzer, ihre Texte tragen die Spuren vieler Kulturen und Traditionen, aber es handelt sich vor allem um Texte, die eine Übersetzung des eigenen sind, ein rewriting (Lefevere, 1992) eigener Identität. Ihr Schreiben ist immer im Werden; Ilma Rakusa übersetzt nicht nur Texte von Schriftstellern aus verschiedenen Sprachen, sondern auch sich selbst; ihre Identität und ihre Mehrsprachigkeit resümiert in einer einzigen Sprache: Ihr Deutsch. Dagegen ist für Tawada nicht wichtig, perfektes Deutsch zu sprechen, sie will die Schranken der Sprache erweitern und »schwarze Löcher im Gewebe der Sprache entdecken« (Klöpfer/Matsunaga 2000: 2). Heterogenität ist im Mittelpunkt ihres Schreibens als vielstimmiger, unendlicher Übersetzungsprozess. Tawada stellt durch ihr eigenes multilinguales Schreiben die »supposed identity of a language« und die »naturalized links between subjects and languages« in Frage (Yildiz 2007: 78). Yildiz erkennt als einen der wichtigsten Aspekte in Tawadas Schreiben »her multilingual writing practice within each of these languages. In both her German and her Japanese texts other languages are involved and inscribed« (ebd. 77). Das Schreiben von Rakusa ist zwangsweise von ihren Sprachen und Übersetzungen beeinflusst. Sie spricht vom notwendigen Stimmenmanagement einer Autorin und Übersetzerin23. Laut Rakusa existiert eine »Ethik« des Übersetzens,

22 In ihren Beiträgen erinnert Rakusa oft an Rimbauds Satz »Ich ist ein anderer«. 23 Rakusa spricht von »Stimmenmanagement« in Bezug auf das Schreiben, das sich in ihrem Fall aus mehreren Sprachen und Kulturen nährt. In Bezug auf das Übersetzen scheint ihr der Begriff weniger tauglich, da »ich mich hier einem ›Fremdmanagement‹ unterordne, das heißt, der Stimme des Autors folge«, wie Ilma Rakusa es im Gespräch mit Nadja Grbić beschreibt (2004: 215-220).

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die für sie darin besteht, bei jedem Satz auf die Stimme des Autors zu horchen, damit nicht nur keine semantischen, sondern auch keine musikalischen Fehler gemacht werden. Als Übersetzende, so Rakusa, »bin ich ein Medium, durchlässig, ganz Ohr« (Rakusa/Wirt 2008). Für Tawada ist das Ohr der Ort des Schreibens, des Schaffens, das die Anderssprachigkeit, die Heterogenität empfängt, die manchmal auch bedrohlich und gefährlich ist. Die Figuren ihrer Werke – häufig Übersetzer oder Dolmetscher – erreichen nicht immer das translatorische Ziel. Zum Beispiel hat ihr Gedicht Absturz und Wiedergeburt in Nur da wo du bist da ist nichts (1997) kein Happyend; Die Übersetzungsarbeit misslingt: »In der Muttersprache stumm sein Aus dem Ei schlüpft ein Flugzeug Die Blicke der Einzelteile Sammeln sich in der Sekunde des Starts«

Aus dem Verstummen der Muttersprache (durch das Ei figuriert) schlüpft ein Flugzeug. Die Sprache drängt nach außen, aber das Flugzeug stürzt in den Himmel: »Am Ende der Rollbahn hebt es kräftig den Kopf Der Maschinenleib sticht in den Himmel«

Es folgt die nicht gelungene Übersetzung der Dolmetscherin: »Sie übersetzt ›Ufer‹ mit ›Gott‹ Sie übersetzt ›Herz‹ mit ›Stadt‹ Sie übersetzt ›Warum‹ mit ›Frau‹«

Trotzdem überlebt die Dolmetscherin und eine neue Geschichte kann jetzt beginnen: »Die Frau bemerkt daß sie liegt auf der großen Erde die mit toten Dingen verstopft ist öffnet die Dolmetscherin ihre Lider Die Geschichte hat noch nicht begonnen«

M EHRSPRACHIGKEIT

UND

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L ITERATUR Apel, Friedmar (1982): Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens, Heidelberg: Winter. Arens, Hiltrud (2007): »Das kurze Leuchten unter dem Tor oder auf dem Weg zur geträumten Sprache: Poetological Reflections in Works by Yoko Tawada«, in: Doug Slaymaker (Hg.), Yoko Tawada. Voices from everywhere, Lanham u.a.: Lexington Books, S. 59-75. Bachmann-Medick, Doris (2006): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt-TaschenbuchVerlag. Baumann, Beate (2010): »›Ich drehte meine Zunge ins Deutsche, und plötzlich war ich glücklich.‹ Sprachbewusstheit und Neuinszenierungen des Themas Sprache in den Texten Emine Sevgi Özdamars«, in: Michaela BürgerKoftis/Hannes Schweiger/Sandra Vlasta (Hg.), Polyphonie – Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität, S. 225-250. Bürger-Koftis, Michaela/Schweiger, Hannes/Vlasta, Sandra (Hg.) (2010): Polyphonie – Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität, Wien: Praesens Verlag. Duras, Marguerite (1986): Der Liebhaber. Üb. von Ilma Rakusa, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung, http:// www.übersetzer werkstatt-erlangen.de/de/uebersetzerpreis-yoko-tawada Ette, Ottmar (2005): ZwischenWeltenSchreiben: Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin: Kulturverlag Kadmos. Even-Zohar, Itamar (1978): »The Position of Translated Literature within the Literary Polysystem«, in: Benjamin Hrushovski/Itamar Even-Zohar (Hg.), Papers on Poetics and Semiotics, Band 8, Tel Aviv: Porter Institute for Poetics and Semiotics, S. 21-27. Grbić, Nadja (2004): »›Auf dem Tisch liegt die Sprache und knistert‹ – Schreiben und Übersetzen als poetische Herausforderung. Ilma Rakusa im Gespräch mit NADJA GRBIĆ«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 29:2, S. 118-120. Grutman, Rainier (2009): »Self-translation«, in: Mona Baker/G. Saldanha (Hg.), Routledge Encyclopedia of Translation Studies, London/New York: Routledge, S. 257-260. Hall, Stuart (1994): Rassismus und kulturelle Identität, Hamburg: Argument. Hassan, Wail S. (2006): »Agency and Translational Literature: Ahdaf Soueif’s The map of Love«, in: PMLA 121:3, S. 753-768.

300 | G ABRIELLA S GAMBATI

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M EHRSPRACHIGKEIT

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Autorinnen und Autoren

Albrecht, Jörn, Professor für Französische Sprach- und Übersetzungswissenschaft an der Universität Heidelberg. Publikationen zu: linguistische Translationswissenschaft, literarische Übersetzung, romanische Philologie, allgemeine und kontrastive Sprachwissenschaft, Geschichte der Sprachwissenschaft, Varietätenlinguistik. Gipper, Andreas, Professor für Französische und Italienische Kulturwissenschaft am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in Germersheim. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Historische Übersetzungsforschung, Politik der Translation, Wissenschaftsvulgarisierung im 17. und 18. Jahrhundert. Heller, Lavinia, Professorin für Translationswissenschaft an der Karl-FranzensUniversität Graz. Ihre Forschungsinteressen liegen in der translationswissenschaftlichen Theorie- und Begriffsbildung, der Sprach- und Kulturgebundenheit translationswissenschaftlicher Denktraditionen und der Übersetzung literarischer, philosophischer und wissenschaftlicher Texte. Jubara, Annett, Dozentin am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in Germersheim. Studium der Philosophie in Rostow-am-Don (UdSSR), Promotion an der FU Berlin. Publikationen zur Philosophiegeschichte und zur Kulturtheorie. Kaufmann, Matthias, Professor am Seminar für Philosophie der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg und seit 2008 maßgeblich am interdisziplinären Forschungsschwerpunkt Gesellschaft und Kultur in Bewegung beteiligt. Er ist u.a. der Autor von Recht (Berlin/Boston 2016). Zu seinen Arbeitsgebieten gehören Politische Philosophie, Rechtsphilosophie und Sprachphilosophie.

304 | K ULTUR UND Ü BERSETZUNG

Link, Fabian, wissenschaftlicher Assistent bei der Arbeitsgruppe Wissenschaftsgeschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er beschäftigt sich mit der transatlantischen Geschichte der Sozialwissenschaften im Kalten Krieg. Schreiber, Michael, Professor für Französische und Italienische Sprach- und Übersetzungswissenschaft am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in Germersheim; Lehrtätigkeit in Stuttgart, Graz, Innsbruck und Köln. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: sprachenpaarbezogene Translationswissenschaft (romanisch-germanisch), Entwicklung der Translationswissenschaft in der Romania, Geschichte der Übersetzung (Schwerpunkte: Frankreich, Italien, Belgien). Sgambati, Gabriella, Postdoc-Stipendiatin und Lehrbeauftragte für Deutsche Sprache an der Universität L’Orientale (Neapel). Sie promovierte im Fach Komparatistik mit einer Arbeit zu Paul Celan in Japan. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören: Übersetzungswissenschaft, Mehrsprachigkeit, Interkulturelle Literatur, Literaturlinguistik. Shimada, Shingo, Inhaber des Lehrstuhls für Modernes Japan II mit sozialwissenschaftlichem Schwerpunkt an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen: Theorie und Methode des Kulturvergleichs, Wissenssoziologie, Soziologie des Alter(n)s, sozialer Wandel in der japanischen Gesellschaft. Publikationen: Grenzgänge – Fremdgänge. Japan und Europa im Kulturvergleich (1994); Die Erfindung Japans. Kulturelle Wechselwirkung und politische Identitätskonstruktion (2000/2007); (zusammen mit Christian Tagsold) Alternde Gesellschaften im Vergleich. Solidarität und Pflege in Deutschland und Japan (2006). Surman, Jan, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Herder Institut in Marburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Entwicklung der Wissenschaftssprachen in Zentraleuropa, Fragen der Wissenschaft und Übersetzung sowie des transkulturellen Wissenschaftstransfers. Thompson, James M., Senior Research Fellow an der Graduiertenschule Gesellschaft und Kultur in Bewegung an der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg und am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte tätig. Zu seinen Forschungsinteressen gehören u.a. Praxistheorie, Normativität und Translation insbesondere im Bereich der Menschenrechte und internationalen Recht.

A UTORINNEN

UND

A UTOREN

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van Doorslaer, Luc, Professor für Translationswissenschaft und Direktor des CETRA (Centre for Translation Studies) an der KU Leuven (Belgien) und Research Associate an der Universität Stellenbosch (Südafrika). Er ist Herausgeber der Translation Studies Bibliography sowie des Handbook of Translation Studies. Wagner, Birgit, Professorin für romanische Literatur- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Im Bereich der Translation Studies Arbeiten zu Gottsched, Sergio Atzeni, Antonio Gramsci und Homi K. Bhabha. Vgl. zuletzt »Cultural Translation: A Value or a Tool? Let’s start with Gramsci«, in: Federico Italiano/Michael Rössner (Hg.), Translatio/n. Narration, Media and the Staging of Differences, transcript 2012, S. 51-68.

Kulturwissenschaft Eva Horn, Peter Schnyder (Hg.) Romantische Klimatologie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2016 Mai 2016, 152 S., kart., 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3434-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3434-5

Fatima El-Tayeb Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft September 2016, 256 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.) Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2232-4 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kulturwissenschaft Andreas Langenohl, Ralph Poole, Manfred Weinberg (Hg.) Transkulturalität Klassische Texte 2015, 328 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-1709-2 E-Book:  € (DE), ISBN

María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung 2015, 376 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-1148-9 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-1148-3 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-1148-3

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Nadja Geer, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.) POP Kultur & Kritik (Jg. 5, 2/2016) September 2016, 176 S., kart., zahlr. Abb., 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8376-3566-9 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3566-3

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