Mauricio Kagels musikalisches Werk: Der Komponist als Erzähler, Medienarrangeur und Sammler 9783412213398, 9783412202453

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Mauricio Kagels musikalisches Werk: Der Komponist als Erzähler, Medienarrangeur und Sammler
 9783412213398, 9783412202453

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Knut Holtsträter Mauricio Kagels musikalisches Werk

Schriftenreihe der Hochschule für Musik Franz Liszt herausgegeben von Detlef Altenburg Band 5

Knut Holtsträter

Mauricio Kagels musikalisches Werk Der Komponist als Erzähler, Medienarrangeur und Sammler

2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Mit freundlicher Unterstützung der

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Sammlung Mauricio Kagel der Paul Sacher Stiftung, Les Idées fixes, Skizzenblatt „10“ © 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20245-3

Inhalt

I.

Einleitung ............................................................................................................................... 7

II. Erzählen und Musik .......................................................................................................... 17 1 Ästhetische Leerstellen ............................................................................................. 17 2 Lügen und Ironie in Musik ...................................................................................... 27 3 Möglichkeiten und Grenzen der Musiknarratologie ............................................ 40 4 Südosten ........................................................................................................................ 46 5 Erzählsysteme ............................................................................................................ 57 III. Intermedialität und Musik ................................................................................................ 65 1 Zum Terminus ........................................................................................................... 65 2 Intermediales Komponieren bei Ludwig van .......................................................... 74 3 Medien, ihre Techniken und ihre Wahrnehmungsweisen ................................... 90 4 Exotica als ironische Replik auf Stockhausen ....................................................... 94 IV. Sammeln und Musik ........................................................................................................ 1 Sammeln und Sammlung ....................................................................................... 2 Sammeln als Kulturtechnik ................................................................................... 3 Der surrealistische Blick des Sammlers ............................................................... 4 Konsequenzen für Analyse und Interpretation .................................................. 5 Ludwig van ................................................................................................................. 5.1 Werkgenese als Sammeln ......................................................................... 5.2 Intermedialität und Sammeln .................................................................. 6 Zusammenfassung über das Sammeln ................................................................ V.

109 109 113 120 124 131 131 141 146

Die Geschichte(n) der Seriellen Tonalität .................................................................... 147 1 Serielle Tonalität aus ‚innerer Notwendigkeit‘? .................................................. 150 2 Anagrama: Kompositorischer Anspruch und musikalische Wirklichkeit ........ 158 2.1 Montage/Collage als Synthetisierung von seriellen Parametern ........ 159 2.2 Komplexität und Verunsicherung ........................................................... 164 2.3 Die ‚webernsche‘ Frühfassung ................................................................ 168 2.4 Sexteto de cuerdas (1953) von 1953 bis 1957/58 ...................................... 178 2.5 Die werkabschließende Geste des Komponisten ................................. 185 3 Kagels Poetik der Seriellen Tonalität ................................................................... 189 3.1 Die aleatorischen Anteile der Seriellen Tonalität .................................. 189 3.2 Kagels Auseinandersetzung mit der Wiener Schule ............................. 190 3.3 Zur Reetablierung der Konsonanz ......................................................... 195

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Inhalt

4

5 6

Osten: Kontextualität und musikalische Struktur ................................................ 201 4.1 Serialität und Kontextualität .................................................................... 201 4.2 Vorgeschobene Interkulturalität und inhärente Medienkritik ............ 210 4.3 Auflösungen im Korsett ........................................................................... 210 4.4 Fazit zu Osten .............................................................................................. 213 Die Rolle des kompositorischen Subjekts ........................................................... 214 Genese von Serieller Tonalität: Südosten, Klavierpart, Takte 108 bis 119 ....... 219

VI. Les Idées fixes ...................................................................................................................... 1 Serielle Tonalität und ‚orchestrales Spätwerk‘ ..................................................... 2 Automatisierung von Musik und Komposition ................................................. 3 Montage als Wahrnehmungsweise ....................................................................... 4 Rondoform als Montiertes .................................................................................... 5 Zur Konzeption der Idée fixe ............................................................................... 6 C-Dur ........................................................................................................................ 7 Fazit zu Les Idées fixes ..............................................................................................

229 230 235 240 243 247 253 265

VII. Zum Schluss ..................................................................................................................... 269 I.

Verzeichnis der Quellen .................................................................................................. 273 Anagrama 277, Exotica 286, Les Idées fixes 288, Ludwig van 297, Osten 299, Sexteto de cuerdas (1953) 302, Südosten 306

II. Verzeichnis der Literatur, Noten und Tonträger ........................................................ 310 Verwendete Literatur 310, Publizierte Noten 321, Tonträger 322

I.

Einleitung

Bevor die im Titel angedeuteten und für Kagels musikalisches Werk angenommenen Kompositionsstrategien dargestellt werden, seien einige methodische Probleme angeschnitten, mit denen sich die vorliegende Untersuchung auseinander zu setzen hat. Bei wahrscheinlich keinem anderen Komponisten des 20. Jahrhunderts – bis auf Karlheinz Stockhausen (siehe Kap. III.4) – stößt die Einbeziehung der Aussagen des Komponisten in die Werkanalyse und -interpretation auf vergleichbare Probleme wie bei Mauricio Kagel. Dessen Aussagen zu eigenen Werken in Form von Programmhefttexten, Booklets, Interviews usw. oszillieren zwischen essayhafter Reflexion und systematischer Theoriebildung. Zudem ist bei allen Texten ein literarischer Anspruch zu erken nen. Der Autor Kagel inszeniert sehr oft den Komponisten Kagel. Die enge Anbindung von Kagels literarischem Werk an sein kompositorisches, verbunden mit einem hohen Grad an Reflexion über das eigene Komponieren, verleitet dazu, Kagels Aussagen und Selbstzeugnisse als ein mit dem Werk konsistentes Gebilde zu begreifen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass das Verhältnis zwischen Schrifttum und komposito rischem Werk stetig durch Strategien des Verschleierns, mitunter auch durch rhetorische Finessen oder durch bloßes Nichtaussprechen, in Frage gestellt wird. Diese Gemengelage bringt den Analytiker in eine prekäre Situation: Einerseits ermöglichen Kagels Selbstaussagen einen ersten Einblick in die generelle Werkkonstitution. Beispielhaft ist hierfür sein Interview mit Werner Klüppelholz 1, in dem er sein Konzept der so genannten Seriellen Tonalität ausführt (siehe Kap. V). Zudem lassen sich durch sie wichtige ästhetische Voraussetzungen des kagelschen Komponierens erkennen, zum Beispiel die Vorstellung, Musik sei Kommunikation und Musiksprache und könne als solche auch rhetorisch eingesetzt werden. Andererseits aber kann der Analytiker durch die Beschäftigung mit Kagels Aussagen dazu verleitet werden, diese Begriffe unreflektiert zu übernehmen und so zum ‚Hofberichterstatter‘ des Komponisten zu werden. Dies ist für die Musik im 20. Jahrhundert besonders brisant, da in dieser Zeit individuelle Komponistentheorien immer mehr den Anspruch des Normativen erheben und übergreifende Deutungsmuster nicht mehr auf vormals gültige musikhisto rische Kategorien wie beispielsweise Gattung, Epoche oder ähnliches zurückgreifen können.2 1 2

„..../1991. Ein Gespräch zwischen Mauricio Kagel und Werner Klüppelholz“, in: Kagel ..../1991, hg. v. Werner Klüppelholz, Köln 1991, S. 11-53. Nikúa Gligo hat in seinem Aufsatz „‚Structure, un des mots de notre époques‘. Die Komponisten theorie als notwendiger Beitrag zum Verständnis der Neuen Musik?“, in: Verbalisierung und Sinngehalt: Über semantische Tendenzen im Denken in und über Musik heute, hg. v. Otto Kolleritsch, Wien 1989 (= Studien zur Wertungsforschung, Bd. 21), S. 82-103, dieses grundsätzliche Problem erkannt und schlägt vor, die Komponistentheorie als reflektierten Gegenstand von Forschung zu etablieren. Siehe auch Gianmario Borio, „Komponisten als Theoretiker. Zum Stand der Musiktheorie im Umfeld des seriellen Komponierens“, in: Musiktheoretisches Denken und kultureller Kontext, hg. v. Dörte Schmidt, Schliengen 2005 (= Forum Musikwissenschaft, hg. v. Dörte Schmidt u. Joachim Kremer,

8

Einleitung

Kagels literarisches Werk – wozu auch die Interviews gezählt werden können, da Kagel sie alle einer ausführlichen Redaktion unterzog – ist in jeder Hinsicht als solches problematisierenswert. Seine Aussagen sind sicher auch als Paratexte oder Beiwerk zum ‚eigentlichen‘ Werk zu lesen, da sie den durch die Moderne auferlegten Rechtfertigungszwang des Komponisten veräußerlichen und versprachlichen. 3 Ziel einer analytischen Auseinandersetzung mit diesen Paratexten kann es demnach nur sein, entweder deren Begriffe zu ordnen und deren Wichtigkeit für die Komposition und die Rezeption eines Werks kritisch zu hinterfragen oder sie in größere, werkübergreifende musikästhetische und historische Diskurse einzuordnen. Ersteres versuche ich in der Analyse von Südosten, bei der ich Kagels programmmusikalische Hinweise zu diesem Werk mit einbeziehe (siehe Kap. II.4), letzteres ist die Prämisse meiner Auseinandersetzung mit der so genannten Seriellen Tonalität. Im Laufe der Untersuchung wird nicht nur zu zeigen sein, dass den Aussagen Kagels ein inhärentes ästhetisches System zugrunde liegt (zum Beispiel bezüglich des Problems der Musiksprachlichkeit), sondern dass dieses System sich nicht nur aus der Auseinandersetzung mit musikalischer und musikwissenschaftlicher Literatur, sondern auch aus der praktischen kompositorischen Auseinandersetzung mit der Musiktradition ergeben haben könnte. So wird die Frage, warum Kagel sich auch bei musiksprachlichen und kompositorischen Problemen, die die serielle Moderne betreffen, dezidiert auf Arnold Schönberg und Anton von Webern bezieht, durch einen Einblick in die frühe Entstehungsphase von Anagrama erhellt (siehe Kap. V.2.3). Kagels dezidierter Rekurs auf die Zweite Wiener Schule gab mir zudem Anlass, mich mit seinem bisher von der Literatur weitestgehend unbeachteten Sexteto de cuerdas (1953) zu beschäftigen (Kap. V.2.4). Die Selbstaussagen Kagels bilden hier die Voraussetzung für die wissenschaftliche Untersuchung. Es ist also zu bemerken, dass Kagels Aussagen über sein Werk nicht als ‚hermeneutischer Beipackzettel‘ verstanden werden dürfen, da sie den Analytiker unweigerlich auf den Holzweg führen müssen. Andererseits ist Kagels sich in diesen Selbstaussagen abzeichnende ‚Komponistentheorie‘ teilweise von einer solch systematischen Konsistenz, dass in der Gesamtschau viele verstreute Textpassagen, die vormals für sich ste hend rätselhaft erscheinen, erhellt werden konnten. Für das literarische Werk Kagels bieten sich, wie auch für das musikalische Werk, keine übergreifenden Analysemethoden an: Weder sind Kagels Aussagen in ihrer Gesamtheit zu verwerfen, noch sind sie alle ‚glaubhaft‘ in dem Sinne, dass sie zum Verständnis des Werks beitragen. Bei jeder Reflexion der Aussagen ist zu beachten, welcher Textart sie angehören (beispielsweise Interview, Polemik, Programmhefttext), aus welchem Anlass sie geschrieben wurden (zum Beispiel als Beilage für ein Konzert) und an welchen Adressaten sie sich richten (ob an ein Konzert- oder ein Fachpublikum).

3

Bd. 1), S. 247-274. Vgl. Genette, Gérard, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, übers. v. Dieter Hornig, mit einem Vorwort von Harald Weinrich, Frankfurt a. M. 2001, besonders S. 9-21. Gennette bezeichnet mit diesem Begriff Vorworte, Nachworte und alle anderen sekundären Texte sowie alles andere „Bei werk“ von Literaten zu ihren Werken.

Einleitung

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Neben der Analyse und Interpretation endgültiger Werke besteht die Untersuchung zu einem beträchtlichen Teil aus werkgenetischen Untersuchungen auf Grundlage der in der Paul Sacher Stiftung befindlichen Manuskripte und Skizzen Kagels. Die hermeneutisch geprägte Analyse und Interpretation auf der Basis von quellenkundlichen Erkenntnissen ist generell ein zweischneidiges Schwert: Zwar erhält der For scher durch die Arbeit mit Kompositionsskizzen einen Einblick in kompositorische Arbeitsweisen, den er ohne sie nicht hätte. Der Erkenntnisgewinn für die Analyse ist mithin immens. Aber auch hier besteht allein durch die Masse an untersuchbarem Material die Gefahr, wider Willen zum Berichterstatter der Quellen und zum Referenten einer angenommenen Poetik des Komponisten zu werden. Im günstigsten Fall bestätigen die Quellenfunde eine vorher mittels Analyse aufgestellte These. In diesen Fällen ist es wichtig, die Reihenfolge der analytischen Herangehensweise darzustellen. Die Sachverhalte müssen differenziert werden, damit nachvollziehbar wird, wer gerade ‚spricht‘: der Quellenbefund, die Anmerkung des Komponisten, der mehr oder weniger ‚neutrale‘ analytische Befund oder die Deutung. Ich habe an den Stellen, wo mich das analytische ‚Finderglück‘ heimsuchte und sich meine Thesen im Nachhinein durch die Quellen bestätigen ließen, versucht, dies auch in der Chronologie des ‚Findens‘ darzustellen. Aber es gibt ebenso viele aus den Quellen ersichtliche Sachverhalte, die grundlegend hinterfragt werden mussten, zum Beispiel Kagels Vordatierungen seiner in Argentinien begonnenen und in der BRD revidierten Frühwerke, wie Sexteto de cuerdas und Anagrama (siehe Kap. V.2). Hierbei sei angemerkt, dass mein analytischer Ansatz nicht von der Vorstellung einer Werkgenese getragen wird, in der die Skizzen als vorläufige oder minderwertige Vorstufen zum endgültigen oder ‚eigentlichen‘ Werk gewertet werden. Ich fasse Komponieren als prozessuales System auf, in dem jede Skizze ihre jeweilige Funktion erfüllt. 4 Ohne diese Sicht auf die Quellen wäre es nicht möglich, die nachfolgend beschriebenen Inter pretationsansätze zu entwickeln. Die in den ersten drei Kapiteln aufgeworfenen Fragen knüpfen in verschiedener Weise an kulturwissenschaftliche Diskurse an, die aus der Sicht der Musikforschung als der Disziplin periphere oder als nicht aus dem genuinen Erkenntnisinteresse der Disziplin entwachsene bezeichnet werden können. Insofern ließe sich diese Herangehensweise, obgleich ihr Gegenstand der Beobachtung die Musik ist, als interdisziplinär motiviert beschreiben. Zunächst geht es um das Erzählen bei Kagel. Dieser Diskurs knüpft an die Erzähltheorie der Literaturwissenschaft und den hermeneutischen Diskurs der angelsächsischen Narratology an. Der zweite Themenbereich ist die Intermedialität bei Kagel. Dieses Kapitel beginnt mit einer problemorientierten Definition des Begriffs „Medium“, da eine solche für den Bereich der Musik bislang noch nicht vorliegt. Als letzter großer Themenbereich wäre das Sammeln bei Kagel zu nennen. Da dieser kulturanthropologi4

Insofern darf sich diese Arbeit in den von Bernhard R. Appel beschriebenen neuen Trend innerhalb der Skizzenforschung einreihen: „In den vergangenen Dezennien verlagerten sich die Akzente: Das abgeschlossene Werk rückte in den Hintergrund, und Skizzen und Entwürfe wurden zum Gegenstand monographischer Untersuchungen; der Schaffensprozeß selbst wurde zum eigenständigen Forschungsthema.“ Bernhard R. Appel, „Sechs Thesen zur genetischen Kritik kompositorischer Prozesse“, in: Musiktheorie 20 (2005), Nr. 2, S. 112-122, hier S. 112.

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Einleitung

sche Aspekt für die Musikästhetik bisher nicht erschlossen ist, besteht dieses Kapitel im Wesentlichen aus grundlegenden Ausführungen. Die übergreifende Fragestellung, die diese drei Diskurse verbindet, ist die nach dem Subjekt in der Musik. Das Subjekt begeg net hier als Erzähler, als Sammler und als Arrangeur von Medien. Dabei ist es nicht das Ziel dieser Ausführungen, die drei genannten Bereiche widerspruchsfrei in Einklang zu bringen. Vielmehr soll hier nach Kongruenzen und Analogien gesucht werden, um Aussagen über den Komponisten Kagel und mit Einschränkungen sicher auch über das Komponieren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu formulieren. In diesem Zusammenhang scheint es mir nicht möglich, im Vorhinein zu sagen, was dieses Subjekt ausmacht, wo es sich bemerkbar macht und verorten lässt. Zudem erschien es mir auch nicht erstrebenswert, alle Aspekte des Subjekts, die die verschiede nen Ansätze thematisieren, in eine umfassende Systematik zu bringen. Die Selbstthematisierung des Subjekts in Kagels Werk zeichnet sich, wie im Weiteren zu zeigen sein wird, durch eine explizite Diskursivität aus, die sich im Kompositionsprozess schrittweise äußert und das endgültige Werk in allen musikalischen Parametern und Ebenen beeinflusst. Setzte man diese Selbstthematisierung des Subjekts in eine starre hierarchische Ordnung, so wäre gerade sein prozessualer und diskursiver Charakter von vornherein ausgeblendet. An dieser Stelle sei der Ausgangspunkt der Überlegung geschildert, die in den beiden Kapiteln V (über die Serielle Tonalität) und VI (über das Orchesterwerk Les Idées fixes) weiter vertieft werden: Zunächst lassen sich zwei Bereiche des Subjektiven voneinander unterscheiden. Da ist auf der Seite der poesis das ‚kompositorische‘ oder auch ‚künstlerische‘ Subjekt, das in der Diskussion um das Sammeln und die Serielle Tonalität im Mittelpunkt stehen wird. Auf der Seite der aisthesis hingegen geht es – um es möglichst weit zu fassen – um das ‚musikalische‘ Subjekt. Dieses ‚musikalische‘ Subjekt wird beispielsweise im Zusammenhang mit dem Erzählen Beachtung finden und dort als Figur in einer Handlung beschrieben werden. Zugleich wird es ebenfalls im Kapitel über das Sammeln begegnen, dort jedoch in der Umkehrung seiner Bedeutung als ‚Objekt‘, welches systemisch fungiert. Ferner wird die Frage aufgeworfen, welche kompositorischen Mechanismen und Strategien in Kagels Fall den Eindruck von Subjektivität und Subjektbildung generieren. Die Unterteilung in ein kompositorisches und ein musikalisches Subjekt erscheint zunächst sehr einfach, man kennt sie aus der Forschung über die Musikästhetik des 20. Jahrhunderts, die zu großen Teilen vom Denken Theodor W. Adornos beeinflusst ist. Jedoch zielen Adornos Denkfiguren – so weit ich sie zu verstehen glaube – immer auf das ‚kompositorische‘ Subjekt, welches sich, hervorgerufen durch den Mimesischarakter von Kunst, selbst in den Bereich des ‚musikalischen Subjekts‘ projiziert. Diese Widerspiegelung des kompositorischen Subjekts ist dann im Kunstwerk wahrnehmbar. Das musikalische Subjekt wäre nach Adorno also das durch das Kunstschaffen ins Kunstwerk geronnene ‚Abbild‘ seines Schöpfers. Oder, um einen seiner Termini zu persiflieren: das musikalische Subjekt, welches wir in Musik zu erkennen glauben, ist das Ergebnis oder auch das „technische Korrelat“ eines affirmativen Komponierens, also eines Komponierens, das idealiter nach Identifikation ‚mit sich selbst‘ strebt. Insofern steht Adornos Ästhetik der romantischen Kunstästhetik sehr nahe, und hat ihre Grundlage und ihren Ausgangsund immerwährenden Referenzpunkt in der Poetik, dem Komponieren.

Einleitung

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Die Untersuchung baut auf dieser Überlegung, dass Ästhetik und Poetik untrennbar miteinander verwoben sind und sich einander bedingen, auf. Insofern wird die ästhetische Seite des Kunstwerks bei Fragen nach der Werkgenese immer mit beleuchtet. Und da die Poetik den ästhetischen Prozess voraussetzt, initiiert und steuert, wird im Gegenzug bei ästhetischen Fragen die Poetik, das Komponieren, bereits mitbedacht. Daher wird bei allen drei Interpretationsansätzen, dem über das Erzählen, über die Medialität und über das Sammeln, auch der jeweilige Kompositionsprozess betrachtet und als Kompositionsstrategie definiert, die sich ebenso wie das adornosche Subjekt auf ästheti scher Ebene als Strategie des künstlerischen bzw. kompositorischen Subjekts widerspiegeln kann. Es wird sich außerdem zeigen, dass diese Kompositionsstrategien des Subjekts nicht mehr zum Ziel haben, Identifikation zu schaffen, sondern diesen Prozess der Identifikationssuche zu thematisieren. In diesem Sinne ist der quellenkundliche Anteil dieser Untersuchung nicht als Selbstzweck oder Zutat zu verstehen, sondern als Vorbedingung für die Fragestellung und als Hilfsmittel der Ausführung – unter anderem auch, um den von Bernhard R. Appel kritisierten Widerspruch zwischen analytischer Deutung und quellenkritischer Textgenetik, zumindest im Falle Kagels, zu synthetisieren: Was der musikalischen Werkanalyse bedeutungsträchtig in den Blick gerät, deckt sich mit dem beobachtbaren kompositorischen Denkaufwand, der diese Bedeutung erzeugt haben soll, wohl eher selten. Und was der Hermeneut und Analytiker als raffinierten zyklischen Zusammenhang zu erkennen glaubt, erweist sich in der Realität des Schaffensvorgangs manchmal als pragmatisches Patchwork aus einer Vielzahl montierter Bruchstücke. Und über kompositorische Resteverwertungen zu sprechen, die jeder Substanzästhetik spotten und den emphatischen Kunstwerkbegriff tangieren, muß der Textgenetiker sich nicht scheuen. 5

Bei Kagels Komponieren ist jedoch das „pragmatische Patchwork“ und die „kompositorische Resteverwertung“ Teil seiner Substanzästhetik. Um mögliche Missverständnisse bereits von vornherein zu vermeiden, sei an dieser Stelle betont, dass diese Untersuchung bei all ihren möglichen psychologischen Implikationen nicht als biographischer Deutungsversuch verstanden werden will. Ebenso hat die Fragestellung nach dem künstlerischen und kompositorischen Subjekt nicht zum Ziel, ein Psychogramm Mauricio Kagels zu entwickeln. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Strategien, die in Kagels Komponierens zu finden sind, sich auch bei dem Komponieren anderer Komponisten so oder ähnlich ereignen und gedeutet werden können. In den einzelnen Interpretationsansätzen sowie in den Analysen nimmt der Aspekt der unmittelbaren und mittelbaren Wahrnehmung einen großen Teil der Argumentation ein. Beispielsweise ist der im Kapitel III eingeführte Begriff der Intermedialität hier meistenteils und – auch, wenn er in den Einzelbetrachtungen poetologisch ausgeführt wird, – letztendlich auf die Wahrnehmung von (technischen) Medien und nicht auf diese Medien selbst (in ihrer Eigenschaft als Apparaturen) ausgerichtet. Ästhetik kann unter diesen Voraussetzungen immer nur die Beschreibung und Kategorisierung von subjekti5

Appel, Sechs Thesen, S. 120.

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Einleitung

ven Wahrnehmungen bedeuten. Erst in ihrem Rekurs aufeinander können sie den Anschein objektiver Allgemeingültigkeit gewinnen. Die Untersuchung versucht nicht, diesen ‚Anschein‘ mittels Sprachgebung oder durch wissenschaftliche Kategorisierungsversuche erwecken zu wollen, sondern setzt sich in den Bereichen, wo eine objektive Allgemeingültigkeit bereits im Ansatz nicht gegeben und nicht möglich ist, kritisch mit diesem Problem auseinander. Bei Kagel ist dieser Aspekt der Wahrnehmung kompositorisch in das Werk eingeschrieben und daraus nährt sich ein Großteil der von diesem ausgehenden Faszination. Die in der Untersuchung aufgeworfenen Fragen bezüglich der Medialität sind demnach auch keine, die von einer objektiven Darstellung von Welt beziehungsweise Kunst ausgehen. In einer Epoche, die ihre ureigenen Wahrnehmungsweisen bereits von Anfang an durch technische Medien entwickelt, und in der der Mensch sich als durch diese Medien Beeinflusstes und sogar Gestaltetes geriert, ist die Abgrenzung Mensch/Medium/Welt nur noch schwerlich möglich. Die technischen Medien sind kraft ihrer Eigenschaft, Welt zu spiegeln, für den Menschen bereits zur Welt geworden, sie konstruieren Weltwahrnehmung. Die einzige Möglichkeit, dem medialen Diskurs kurzzeitig zu entgehen und ihn zu thematisieren, ist der ästhetische Rekurs aus den daraus folgenden, jedoch unmittelbaren und subjektiven, Wahrnehmungsweisen von Medien. Diese Eingebundenheit des Beobachters in den Prozess der Beobachtung ist nicht nur im medialen Diskurs zu finden, sondern auch in der Interpretation von Kunst. Analyse ist immer auch verdeckte Selbstanalyse und sagt oft mehr über den Analytiker aus als über den Gegenstand. Dies gilt nicht nur für die oftmals im Bereich der vollbewussten Ratio angesiedelte Theorie, wie Carl Dahlhaus schreibt: Ein Stück Theorie bildet, explizit oder unausgesprochen, den Ausgangspunkt jeder Analyse – die Idee einer voraussetzungslosen Deskription ist ein Phantom; und sie wäre es, wenn sie sich realisieren ließe, nicht wert, realisiert zu werden.6

Der der Analyse eigene Hang zur unfreiwilligen Selbstoffenbarung des Analytikers mag generell im Wesen von Kunst liegen, deren Aura nach Walter Benjamin auf uns ‚zurückschaut‘.7 Die Interdependenzen zwischen Kunstwerk und Beobachter sollten in einer hermeneutisch geprägten Analyse ihren Ausdruck finden. Gute Analyse unterscheidet sich von schlechter Analyse nicht in der ‚richtigen‘ Wahl der Analysewerkzeuge sondern im Grad ihrer Reflexionsfähigkeit in Bezug auf ihren Gegenstand und auf ihre Mittel. Die meisten Kunsttheorien des 20. Jahrhunderts haben bereits mit dem gängigen Vorur teil aufgeräumt, dass mit Analyse eine wie immer auch geartete Faktizität, die unabhängig vom Standpunkt und der Perspektive des Analytikers ist, erreicht werden könne. Bestenfalls – und das ist der Anspruch dieser Arbeit – kann durch den kontinuierlichen 6 7

Carl Dahlhaus, Analyse und Werturteil, Mainz 1970 (= Musikpädagogik, Forschung und Lehre, hg. v. Sigrid Abel-Struth, Bd. 8), S. 16. Sehr deutlich formuliert von Dieter Mersch, „Ereignis und Aura. Zur Dialektik von ästhetischem Augenblick und kulturellem Gedächtnis“ in: Musik und Ästhetik 1 (1997), Nr. 2, S. 20-36. Vgl. auch Walter Benjamins Ausführungen zur Herkunft der Kunst aus dem Ritual in seinem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: ders., Das Kunstwerk [...]. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a. M. 2003, S. 7-44.

Einleitung

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Austausch zwischen dem Analytiker und dem Gegenstand der Untersuchung ein kleiner und übersichtlicher Bereich von analytischer Objektivität erlangt werden. In diesem Sinne hat die vorliegende Arbeit einen sehr unbescheidenen Anspruch, der darin besteht, sich einer idealen Musikanalyse anzunähern, die die Möglichkeit der Interpretation schon immer mitbedenkt. Jedoch erheben die Analysen in dieser Arbeit keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Überzeitlichkeit. Analyse kann – wie alle anderen kulturellen Äußerungen auch – nur als Ausdruck einer spezifischen Ausformung einer geistesgeschichtlichen Haltung, als Dokument ihrer Zeit, verstanden werden. Erst dieses Sich-Bescheiden auf ihre Rolle und Funktion innerhalb der Geistesgeschichte vermag ihr vielleicht die Aussagekraft zu verleihen, die sie für das ‚ersehnte Überzeitliche‘ qualifiziert. Deshalb sind die in diesem Buch erarbeiteten Analysen nicht als Fallbeispiele einer übergreifenden Analysemethode gedacht, sondern innerhalb des jeweiligen Argumentationszusammenhangs zu werten. So werden bei drei ähnlichen Musiken verschiedene Analysemittel genutzt: In einem Beispiel werden Termini der traditionellen Funktionsharmonik (bei Les Idées fixes, Kap. VI.6) zu Hilfe genommen, in einem anderen wird von Skalen ausgegangen (bei Südosten, Kap. V.6), während in einem dritten Beispiel gleichzeitig Begriffe aus der mittelalterlichen monodischen Stimmführ ung sowie aus der Reihenorganisation des 20. Jahrhunderts (beides bei Osten, Kap. V.4) verwendet werden. Alle diese interpretativen Vorannahmen, die vor der eigentlichen Analyse geschehen, sind bei diesen Beispielen generell auch austauschbar und berechtigen sich lediglich durch ihre Eingebundenheit in den jeweiligen Argumentationszusammenhang. Die Analysen sind in der Weise zu verstehen, dass an ihnen – durchaus auch mit einem didaktischen Anspruch – die jeweilige Herangehensweise erprobt werden soll. Die Paul Sacher Stiftung ermöglichte mir durch ein insgesamt viermonatiges Stipendium die Einsicht in die Sammlung Mauricio Kagel (SMK). Für diese großzügige Unterstützung sowie die Hilfsbereitschaft der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung, namentlich Matthias Kassel, Michelle Noirjean und Robert Piencikowski, sei herzlich gedankt. Zu den Abbildungen von Quellen ist anzumerken, dass die Paul Sacher Stiftung grundsätzlich keine Reproduktionen von Manuskripten erlaubt. Die Abbildungen der Quellen sind, ebenso wie die anderen handschriftlichen Notenbeispiele, Umschriften aus meiner Hand. Daneben finden sich digitale Reproduktionen von Ausschnitten aus Drucken. Die Art und Herkunft der Notenbeispiele sowie die Art der Reproduktion sind an den jeweiligen Stellen verzeichnet. Im Falle des Werkkomplexes Ludwig van habe ich zur besseren Einbindung in die Argumentation die betreffenden Quellenangaben in den jeweiligen Passagen der Arbeit in den Anmerkungsapparat untergebracht. Auf eine detaillierte Auflistung im Verzeichnis der Quellen wurde in diesem Fall verzichtet; dort findet sich zu Ludwig van eine Übersicht der beiden Quellenordnungen, mit denen ich im Laufe der Untersuchung konfrontiert war, zum einen die ursprüngliche Kagels, zum anderen die neu erstellte der Paul Sacher Stiftung. Die Beschreibungen und Bewertungen der Quellen der anderen, in der Untersuchung hinsichtlich ihrer Genese problematisierten Werke finden sich im Ver-

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Einleitung

zeichnis der Quellen in Reihenfolge der mutmaßlichen Entstehung der Quellen (siehe auch Vorbemerkungen zum Verzeichnis der Quellen). Zahlreiche Gespräche mit meinem Doktorvater Prof. Dr. Albrecht von Massow sowie mit den Kolleginnen, Kollegen und Studierenden begleiteten die Arbeit an dieser Untersuchung. Die bei solchen Gelegenheiten diskutierten Themen wie die Sprachähnlichkeit von Musik, der Surrealismus und die Postmoderne sind als Exkurse oder abschweifende Reflexionen in die jeweiligen Argumentationen verwoben. Neben Prof. Dr. Albrecht von Massow und bereits Genannten gilt folgenden Menschen mein Dank: Prof. Dr. Detlef Altenburg, Prof. Dr. Joachim Veit, Prof. Dr. Gerhard All roggen, Prof. Dr. Gisela Ecker, Prof. Dr. Oliver Huck, Dr. Nina Noeske, Dr. Matthias Tischer, Verena Thole, Kea Flörcken, Dr. Ruth Seehaber und besonders Janine Droese.

Einleitung

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Anmerkungen zu Schreibweisen Takthälften sind in Minuskeln gesetzt und den Taktzahlen hochgestellt angefügt, zum Beispiel Takt 87b; ebenso sind Zählzeiten mit hochgestellten Zahlen angefügt, beispielsweise Takt 651-2. Die Oktavlage von Tönen ist mit hoch- bzw. tiefgestellten Zahlen angemerkt, z.B. eingestrichenes c = c1 oder C1 = Kontra-C (also keine amerikanische Schreibweise). Wenn in der Analyse die Oktavlagen von Tönen von untergeordneter Wichtigkeit sind, werden sie bei den einzelnen Tönen nicht vermerkt. Wenn Tonhöhen Grundlage von Akkorden und Skalen sind oder Achsen definieren, sind sie nicht kursiv gesetzt, z.B „aMoll“, „C-Dur-Tonalität“, „phrygische Skala auf c“, „c als Spiegelachse“ usw. Instrumentenangaben sind im Fließtext ausgeschrieben; im Verzeichnis der Quellen, in Klammern und in Fußnoten jedoch abgekürzt. Jahreszahlen, die dezidiert dem Werktitel angehören, sind kursiv gesetzt, zum Beispiel Sexteto de cuerdas (1953), und werden als solche problematisiert. Zu abweichenden Schreibweisen im Zusammenhang mit den Quellen siehe auch Verzeichnis der Quellen.

Abkürzungen AdornoGS = Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften, 20 Bde., hg. v. Rolf Tiedemann u.a., Mischauflage, Frankfurt a. M. 1997. DahlhausGS = Carl Dahlhaus. Gesammelte Schriften in 10 Bänden, hg. v. Hermann Danuser, Laaber 2000-2005. Grove2 = The New Grove Dictionary of Music and Musicians, 2. Ausg., 29 Bde., hg. v. Stanley Sadie, London 2001. MGG2 = Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2., neubearb. Ausgabe, 26 Bde. in 2 Teilen, hg. von Ludwig Finscher, Kassel und Stuttgart, ab 1994. NZfM = Neue Zeitschrift für Musik

II.

Erzählen und Musik

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Ästhetische Leerstellen

Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist der subjektive Eindruck, dass die inhärenten narrativen Konzepte und der surreale Witz der Werke Kagels immer nur einen Teil ihrer Bedeutung ausmachen. Bei vielen Werken bleibt ein unmittelbares Gefühl der Leere und des Fehlens zurück. Eventuell ist dieser ‚Eindruck des Fehlens‘ auf das Fehlen einer künstlerischen Subjektivität oder einfach auf eine unmittelbar empfundene ‚Inhaltsleere‘ zurückzuführen. Hierbei ist es bemerkenswert, dass Kagels Werkeinführungen meistenteils diesen anscheinenden Missstand nicht beheben können und wollen. Im Folgenden wird versucht, dieses ‚Fehlen‘ zuerst auf Seite der Ästhetik (also in der ästhetischen Erfahrung des Kunstwerks) zu definieren, um anschließend in poetologischer Hinsicht die Ursachen für ein solches Fehlen der künstlerischen Subjektivität zu ergründen. Man mag diesen ‚Eindruck des Fehlens‘ dramentheoretisch als Ausbleiben einer Katharsis, rhetorisch als Ausbleiben einer ‚ästhetische Befriedigung‘ oder nach Freud als Ausbleiben einer ‚Abfuhr‘ kommentieren. Insofern könnte die nachhaltige Irritation, die Kagels Werk hervorzurufen scheint, auch allein auf Seiten der Rezeption zu suchen sein, könnte also ein Problem des Verfassers selbst sein. Betrachtet man jedoch die Analysen anderer Autoren, so erweisen sich auch diese von dem ‚Eindruck des Fehlens‘ geprägt. Insofern sind die ästhetischen Leerstellen objektivierbar. Insgesamt lassen sich mehrere Kategorien des Fehlens ausmachen, die teilweise miteinander diskursiv verwoben sind und die Bereiche der Syntax, der Form, der Pragmatik und letztendlich auch der Poetik betreffen. Insofern sollte die folgende Auflistung nicht als Systematik verstanden wer den. Zunächst meint man, 1. den Verlust der kathartischen Wirkung, dann 2. den Verlust des subjektiven Ausdrucks oder einer Expression zu erkennen, daraufhin 3. den Verlust der Sprachfähigkeit von Musik im Allgemeinen und als eventuelle Ursache für diese ‚Verlustgeschichte‘, die nicht nur für Kagels Werk, sondern auch für die musikalische Moderne und Postmoderne sowie ihre Betrachtung den Handlungsrahmen bilden, 4. das Herausziehen oder die Selbstauslöschung des künstlerischen Subjekts. Fangen wir mit dem Aspekt an, der dem Rezipienten augenscheinlich am nächsten liegt, der fehlenden Katharsis. In Kagels Werken kann der unmittelbare Eindruck des ‚Fehlens‘ dadurch erzeugt werden, dass eine gefühlsmäßige und ästhetische Befriedigung, wie sie beispielsweise in for maler Hinsicht in der klassischen und romantischen Sonatenästhetik zu finden ist, verweigert wird. Spätestens seit der romantischen Rezeption von Beethovens Sonaten ist dieser, zuerst hier nur vage umrissenen Strategie der Befriedigung auch das aristotelische Dramenkonzept aufgesetzt, dessen Ziel im Erlangen der Katharsis liegt. Jean-Jacques Nattiez beschreibt dieses Prinzip der Katharsis nicht nur für die Sonatenform als grund-

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legend, sondern er erkennt das Prinzip der Katharsis („per aspera ad astra“) als einen dem europäischen Abendland zugehörigen und in allen seinen kulturellen Äußerungen inhärenten Topos an.8 In Kagels Werken ist die Katharsis hingegen auch als ästhetisches Paradigma nicht mehr anzutreffen. In seinen frühen seriellen Werken lässt sich dieses Moment der Nichtbefriedigung noch durch die Auseinandersetzung mit der besonderen Zeitlichkeit der seriellen Kompositionsweise erklären. Bemerkenswerterweise verhalten sich aber die als ‚postmodern‘ zu bezeichnenden Werke ab den 1970er Jahren, die for mal, harmonisch und melodisch mit den Sinnkonstituenten der klassisch-romantischen Musiksprache operieren – und damit eigentlich in der Lage wären, mit deren Wirkungsästhetik zu agieren – hinsichtlich der Verweigerung einer Befriedigung ebenso negativ wie die früheren ‚modernen‘ Werke Kagels. Wenn überhaupt, dann wirkt der Eindruck der Befriedigung, obgleich gerade im Spätwerk durch Konsonanzen und nachvollziehbare Sinneinheiten unterstützt, schal, als ob Kagel sich der musiksprachlichen Kategorie der Katharsis – ihrer Erfüllung wie ihrer Nichterfüllung – gänzlich entzogen hätte. Dieses ‚Fehlen von etwas‘ ist, wie bereits angedeutet, ein Phänomen, das nicht nur in den Werken Kagels zu finden ist, sondern auch in bestimmten Strömungen der musikalischen Moderne und Postmoderne. Gianmario Borio versucht, dieses Fehlen beziehungsweise die Sinnlosigkeit (und damit auch die Nicht-Analysierbarkeit) als generelles Phänomen in der postseriellen Musik der 1960er Jahre aufzuzeigen. Er kommt – verkürzt gefasst – dabei zu dem Schluss, dass die Negation von Sinn als Antwort auf die Krise der seriellen Musik verstanden werden kann.9 8

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Im Weiteren sei auf den für die Diskussion um die sog. Narratology grundlegenden Aufsatz von Jean-Jacques Nattiez „Can One Speak of Narrativity in Music?“, in: JRMA 115 (1990), S. 240-257, rekurriert. Dieser Aufsatz ist eine Reaktion auf einen sehr heterogen gestalteten Diskurs der amerikanischen Musikästhetik, deren Begriffe von der amerikanischen Filmästhetik und der französischen und amerikanischen Literaturtheorie abgeleitet sind. Angesichts der Vielzahl von Geistesströmungen, die an diesem Diskurs beteiligt waren, sei auch lediglich auf die zahlreiche Hinweise Nattiez’ auf fremde und eigene Literatur verwiesen. Nattiez hat den Versuch unternommen, die verschiedenen bisherigen Überlegungen zu bündeln, um die tatsächliche Anwendungsbezogenheit von narrati ven Strukturen und Prozessen auf Musik zu hinterfragen. Daher erscheint mir dieser Beitrag für die weitere Diskussion sehr gut als Grundlage geeignet. Als neueren Versuch, diesen Diskurs für die Analyse nutzbar zu machen, sei hingewiesen auf Vera Micznik, „Music and Narrative Revisited: Degrees of Narrativity in Beethoven and Mahler“, in: JRMA 126 (2001), S. 193-249. Gianmario Borio, Musikalische Avantgarde um 1960. Entwurf einer Theorie der informellen Musik, Laaber 1993 (= Freiburger Beiträge zur Musikwissenschaft, Bd. 1), S. 15-16. Als Beispiel zieht er u.a. Kagels Match für drei Spieler (1964) heran. Ob aber die, von Borio bei den thematisierten Werken angenommene, „komplexe Negationsstruktur“ sich von der adornoschen „bestimmten Negation“, die ja eine philosophische ist, in analytischer Hinsicht auf eine objektivierbare Ebene bringen lässt, ohne dass dies Adornos Begriff zu sehr strapaziert, wage ich zu bezweifeln. Das Vorhandensein von nicht unmittelbar erschließbaren musikalischen Strukturen, deren musikalische Komplexität meistenteils durch einen Zuwachs an kompositorischer Komplexität erreicht wird, kann einem Werk nicht gleich als die Geste einer Negation angelastet werden. Lediglich der Grad der Komplexität ist aus schlaggebend für das Verhindern von Verstehensprozessen. Der Moment des Umschlagens von Verstehen zu Nichtverstehen, der bei der Zunahme an Komplexität eintritt, ist m. E. eigentlich der interessante, weil in ästhetischer Hinsicht entscheidende. Es stellt sich die Frage, ob Borios philoso phisch motivierte Beobachtung und die sich daraus ergebenden Fragen nicht in erster Linie auf dem Problem einer nur schwer zu fassenden Musiksyntax gründen.

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Wie verhält es sich jedoch mit den Werken Kagels, die nach dieser postseriellen Phase geschaffen wurden? Schließlich ist dieses Fehlen von Befriedigung auch in den Werken besonders der 1980er und 1990er Jahre zu finden, in denen Kagel dezidiert auf die großen Komponisten der Vergangenheit rekurriert, seine Werke tonal klingen, an klassische Formprinzipien anknüpfen und motivisch-thematische Verarbeitungstechniken aufweisen. Generell herrscht bei den Werken dieser Phase der Eindruck vor, Kagel überhole die Postmoderne, um schließlich in einer ‚Prämoderne nach der Postmoderne‘ anzukommen. Phänomenologisch wären diese Werke einer Musik zuzuordnen, die Leo Samana als „Neoromantik“ bezeichnet: Wörtlich genommen enthält Neoromantik eine Tendenz, die rückverweist auf die Romantik des 19. Jahrhunderts – dabei lassen wir außer Betracht, an welchem Punkt diese kulturhistorische Phase endet –, in der entweder Stil und Technik oder Sprache und Diktion der Musik des 19. Jahrhunderts erneut verarbeitet und angewandt werden. In dieser Tendenz scheint es, als ob – und das im Vergleich zu den seriellen, aleatorischen und postseriellen Tendenzen in den fünfziger und sechziger Jahren – die schöpferischen Künstler, bewußt oder unbewußt, ‚einen Schritt zurück‘ getan, über die Schulter zurückgeblickt haben.10

Folgt man dem ‚Blick über die Schulter‘ Kagels sieht man vor allem eine musikalische Entwicklung, die sich mit der Negativität besonders produktiv auseinander gesetzt zu haben scheint, und zwar die Zweite Wiener Schule. Wie im Zusammenhang mit Kagels so genannter Serieller Tonalität (Kap. V) darzustellen sein wird, lässt sich die Dodekaphonie Arnold Schönbergs in ihrem Agens und Movens auf den Expressionismus zurückführen, also auf eine Kunstästhetik, die den künstlerischen Ausdruck und damit die künstlerische Subjektivität zum Ideal erhebt. Musik kann diesem Denken zufolge mehr als nur den Topos Leiden-Erlösung ausdrücken. Sie kann differenziertere Ausdrucksweisen erreichen, die dazu führen, dass die ästhetische Erfahrung nicht zwangsläufig in die, der klassischen Sonatenform inhärenten, ästhetische Katharsis münden muss. Jedoch ist das „Komponieren mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ hinsichtlich der musikalischen Sinnkonstituenten wie Form und Entwicklung, Motiv- und Melodiebildung noch in die Ästhetik der Romantik und Klassik eingebettet. 11 Und auch die im Expressionismus praktizierte Negation der Ästhetik des Schönen und der Katharsiswirkung von Kunst spielt noch mit den Erwartungshaltungen der klassisch-romantischen Musikästhetik und operiert in deren Kategorien. So ist auch zu verstehen, dass die Negation der oben genannten musikalischen Sinnkonstituenten wie Form, Entwicklung und motivischer Arbeit bei der Rezeption nicht zwangsläufig die Erwartung der Befriedigung an sich auflösen. Die Negation bewirkt eher das Gegenteil, sie erzeugt eben Nichtbefriedigung, ohne sich aus der generellen Gesetzmäßigkeit der klassisch-romantischen Wirkungsästhetik lösen zu müssen. Beispielhaft dafür ist der erste Satz der sog. Großen Sonate B-Dur, D 960 von Franz Schubert. Dort erfährt der Hörer zum 10

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Leo Samana, „Neoromantik in der Musik: Regression oder Progression?“, in: Die unvollendete Vernunft: Moderne versus Postmoderne, hg. v. Ditmar Kamper und Willem van Reijen, Frankfurt a. M. 1987, S. 446-476, hier S. 448. In diesem Sinne sind auch Schönbergs Selbstaussagen über seine Traditionsverbundenheit zu verstehen, z.B. in seinem Aufsatz „Brahms der Fortschrittliche“, in: ders., Stil und Gedanke, hg. v. Ivan Vojtĕch, Frankfurt a. M. 1976, S. 35-71, hier S. 49.

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Ende der Reprise keine erlösende Katharsis, sondern kann die tiefe Resignation eines sich in Musik äußernden Subjekts nachempfinden. 12 Die Wirkungsästhetik ist zwar noch vorhanden und äußert sich beim Rezipienten als mitfühlende Anteilnahme, jedoch nicht für die ‚musikalischen Schicksale‘, sondern für das ‚imaginierte‘ Schicksal ihres Schöpfers, des Komponisten. Bezeichnenderweise beruft sich die serielle Avantgarde im Deutschland der Nachkriegszeit nun auf denjenigen der kleinen ‚Zwölfton-Clique‘, der sich in seinen Kompositionen am weitesten von der klassisch-romantischen Ästhetik entfernt hat, nämlich auf Anton Webern. Bereits bei ihm sind die oben genannten musikalischen Sinnkonstituenten weitgehend in ihrer herkömmlichen intentionalen Funktionalität aufgelöst, sie werden durch eine in Strukturen operierende Kompositionsweise aufgefangen und teilweise durch diese ‚absorbiert‘. Besonders die Zeitbehandlung Weberns spielte für die Serialisten der Nachkriegsmoderne eine entscheidende Rolle: die Möglichkeit, Musik nun quasi architektonisch zu konzipieren, schließt den klassisch-romantischen Entwicklungsgedanken und damit das der Musik vormals zugesprochene Paradigma der Katharsis kategorisch aus. Diese neue Ästhetik äußert sich in analytischen und interpretatorischen Begriffen wie „Struktur“, „Prozess“ und „Raum“. Die Serialisten können sich hierbei auf ihr Vorbild Schönberg berufen, da er selbst in ähnlich gearteten Metaphern spricht. 13 Was 12

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Zwar sieht Hermann Danuser in der Musikästhetik der Romantik den empirischen Komponisten vom eigentlichen „Subjekt der musikalischen Sprachäußerung“, also jener Instanz, ‚welche durch das Werk spricht‘, abgehoben. Jedoch folgert er: „In diesem [romantischen] Begriff einer instrumentalen Tonsprache ist das Moment eines Subjekts, das sich äußert und die musikalische Sprache werkästhetisch konstituiert, notwendig eingeschlossen. Da weder produktionsästhetisch der empirische Komponist noch rezeptionsästhetisch der empirische Hörer noch aufführungspraktisch der Interpret oder Dirigent als eigentliches Subjekt der musikalischen Sprachäußerung gelten können, [...] ist – unter der Voraussetzung der erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Beziehung – das Subjekt reiner Instrumentalmusik zu denken als eine der Musik selbst inhärierende abstrakte, allgemeine Kategorie, die der thematischen und ausdrucksmäßigen Entwicklung eines Musikwerks ästhetische Einheit garantiert.“ Danuser, Hermann, „Symphonisches Subjekt und Form in Berlioz’ Harold en Italie“, in: Melos/NZfM 3 (1977), S. 203-212, hier S. 204. Wenngleich vermutlich etwas gänzlich anderes darunter zu verstehen ist: So bemerkt Franz Schupp, dass Schönbergs Verständnis vom „musikalischen Raum“ auf Wittgensteins „logischen Raum“ zurückführbar ist. Franz Schupp, „Ethik der Form. Wiener Kultur und Gegenkultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts“, in: „Was du nicht hören kannst, Musik“. Zum Verhältnis von Musik und Philosophie im 20. Jahrhundert, hg. v. Werner Keil und Jürgen Arndt, Hildesheim 1999 (= Diskordanzen. Studien zur neueren Musikgeschichte, hg. v. Werner Keil, Bd. 7), S. 122-147, hier S. 131-133. Es liegt nahe, die von Schönberg eingeforderte „Fasslichkeit von Musik“ wörtlich zu nehmen und Musik als räumliches Gebilde zu konkretisieren bzw. in gestalttheoretischer Hinsicht als fasslich anzusehen. Vgl. z.B. seine Aussage: „Gerade so wie unser Verstand zum Beispiel ein Messer, eine Flasche oder eine Uhr ungeachtet ihrer Lage immer erkennt und sich in der Phantasie in allen möglichen Lagen vorzustellen vermag, gerade so kann der Verstand des Musik-Schöpfers mit einer Reihe von Tönen unterbe wußt arbeiten, ohne auf ihre Richtung und die Art zu achten, in der ein Spiegel die gegenseitigen Beziehungen zeigen könnte, deren Quantität vorgegeben ist.“ (Arnold Schönberg, „Komposition mit zwölf Tönen“, in: Stil und Gedanke, hg. v. Ivan Vojtĕch, Frankf. a. M. 1976, S. 72-96, hier S. 79.) Jedoch verträgt sich diese fast haptische Assoziation nicht mit vorhergehender Passage: „Die Einheit des musikalischen Raumes erfordert eine absolute und einheitliche Wahrnehmung. In diesem Raum gibt es wie in Swedenborgs Himmel (beschrieben in Balzacs Seraphita) kein absolutes Unten,

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ist es aber, das beim Hören von Musik eine ästhetische Befriedigung oder eine Katharsis auslösen kann? Bei tonaler Musik ist diese Befriedigung sicher in der Abgeschlossenheit der Periode, durch Kadenz oder Klausel, zu finden. 14 Und ebenso verbleibt die Atonalität der Zweiten Wiener Schule und im speziellen deren Dodekaphonie noch innerhalb dieses Regelkreislaufs der Befriedigung. Zwar wirkt diese Musik durch ihren Sprachcharakter und ihre Expressivität zunächst nichtbefriedigend und markiert damit die Grenzen der Musiksprachlichkeit, sie überschreitet diese Grenze aber nicht. Mit Kagels seriell-tonaler Phase ab den 1970ern kommen zu diesen, aus der Moderne und der Romantik stammenden Prämissen Aspekte hinzu, die mit jenen nicht mehr widerspruchsfrei zu erklären sind. Die Sekundärliteratur über Kagel beschreibt die Musik der seriell-tonalen Phase vielfach als Meta-Komponieren15 oder Musik über Musik16. In diesem Zusammenhang wird der Komponist als ein Arrangeur von Kontexten, nicht mehr von einzelnen Tönen, verstanden. Das Präfix „Meta-“ bezüglich des Komponierens legt unter anderem Vergleiche mit konzeptueller Kunst nahe. So zieht beispielsweise Werner Keil Analogien zwischen Kagels Musik und der Concept Art Josef Kosuths und schließt, dass Kagels Musik auf das Moment der „Abwesenheit von Musik“ verweise, ähnlich wie Kosuth Buchstaben und Möbelstücke einsetzt, um Erfahrungen von Präsenz und Nichtpräsenz zu erreichen. 17 Damit wäre, um den losen Reigen der ‚Verlustmeldungen‘ vorerst abzuschließen, die Musik selbst zur Leerstelle geworden, oder wäre eventuell dorthin zurückgekommen, wo die Musikästhetiker der Romantik sie ehemals vermutet hatten. Um es mit Kagel zu sagen: „Die ideale Bleibe der Musik jedoch befindet sich an einem Ort jenseits von Raum und Zeit“18.

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kein Rechts oder Links, Vor- oder Rückwärts.“ (ebd.) Nach Schupp wäre „die Logik dieses musikalischen Raumes [...] die eines richtungslosen Raumes.“ (Schupp, ebd., S. 132). Das Gegenteil der geschlossenen Periode, der Satz, bildet in dieser Hinsicht nur eine komplexere Variante derselben, da auch er im Weiteren meistens geschlossen wird, spätestens z.B. im Seitensatz oder in der Schlussgruppe der Exposition einer Sonatenform. Kagel bezeichnet die Collageverfahren zu Ludwig van auch als Meta-Collage. Vgl. u.a. auch Werktitel wie Mimetics (Meta-Piece) von 1961. Einzug in die Rezeption erhält der Begriff z.B. über Peter Becker, „...nach einer Lektüre von Orwell. Metasprache und Manipulation in Kagels Hörspiel – Eine Skizze“, in: Musik & Bildung: Praxis Musikunterricht 24 (1992), Nr. 5, S. 18-25. Es ist davon auszugehen, dass dieses begriffliche Etikett – wie viele andere auch – auf Theodor W. Adornos erstmals 1949 veröffentlichte Philosophie der neuen Musik (in: AdornoGS, Bd. 12, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss u. Klaus Schulz, S. 166-169) zurückgeht. Er bezeichnet damit Stravinskys Komponieren, bemerkt aber dort auch, dass der Schwerpunkt bei Stravinsky im ‚Musik über Musik Machen‘, ob Musizieren oder Komponieren, liegt. Werner Keil, „Mauricio Kagels kompositorischer Umgang mit Elementen populärer Musik“, in: Das Populäre in der Musik des 20. Jahrhunderts. Wesenszüge und Erscheinungsformen, hg. v. Claudia Bullerjahn und Hans-Joachim Erwe, Hildesheim 2002, S. 311-336, hier S. 332. Mauricio Kagel, Zur Eröffnung der Kölner Philharmonie. Festvortrag zur Einweihung des neuen Hauses am 14. September 1986, Hamburg 1986, S. 7.

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Es ist also zu konstatieren, dass dieser Eindruck des Fehlens sich bei allen Werken Kagels, ob sie aus der seriellen, der post-seriellen bzw. der postmodernen Phase stammen, einstellt. Daher ist anzunehmen, dass dieses Fehlen sich nicht zuerst kunstimmanent durch das Nichtvorhandensein von musikalischen oder anderen konstitutiven Parametern äußert, sondern ein ‚Problem‘ der Vermittlung, des kommunikativen Aktes ist. Das Fehlen, wie es oben dargestellt wurde, lässt sich zusammenfassend als ein Fehlen auf drei Ebenen verorten: Auf der ersten stellt sich das Fehlen (auf Seiten der Rezep tion) als übergreifende Kategorie der ästhetischen Befriedigung beziehungsweise Nichtbefriedigung dar, auf der zweiten (nach Borio) als übergreifende Kategorie der werkimmanenten Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit und auf dritter Ebene (nach Keil) als generell die ‚Musik‘ bzw. ihren romantisch-künstlerischen Ethos hinterfragend und hintergehend. Greifen wir Keils Ansatz auf, so besteht die Gemeinsamkeit zwischen der Concept Art und Kagels Werken im Infragestellen der eigenen schöpferischen Instanz bis hin zur anscheinenden Selbstauslöschung des künstlerischen Subjekts. Dies ist generell in der Postmoderne zu beobachten. So merkt Ihab Hassan an, dass im „Postmodernismus“ ein „Ichverlust“ zu konstatieren sei. Das „traditionelle Ich“ bzw. das „romantische Ich“ sei entleert, weil „es entweder Selbstauslöschung (eine falsche Einebnung des Unterschieds von Innen und Außen) oder das Gegenteil, nämlich Vervielfältigung und Reflexion des Ich vortäuscht.“19 Hassan verweist hierbei auf Nietzsche, der das Subjekt zur „bloßen Fiktion“ erklärt habe. Ähnliche Argumentationen finden sich auch im Bereich der Literaturtheorie. Am deutlichsten wird dieser ‚Ichverlust‘ der Postmoderne in der französischen strukturalistischen Literaturtheorie benannt, die in der provokanten Aussage Roland Barthes mündet, dass der Autor tot sei. Der Autorbegriff sei in einer strukturalistischen Theoriebildung, die es ernst mit sich meint, nicht mehr aufrechtzuerhalten, seiner Ansicht nach ist der Text „ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur“ 20. Die Einschreibung erfolge durch den Autor, wobei das schöpferische Subjekt sich darauf reduziert, dass es als durchlässiges Medium fungiert. „Schreiben bedeutet, mit Hilfe einer unverzichtbaren Unpersönlichkeit [...] an den Punkt zu gelangen, wo nicht ‚ich‘, sondern nur die Sprache ‚handelt‘“.21 Umberto Eco entgegnet dieser strukturalistischen Vorstellung einer Abwesenheit des Autors lakonisch, dass der antike Philosoph „Zenon zwar die Realität der Bewegung widerlegte, sich aber stets darüber bewußt blieb, daß er hierbei wenigstens seine Zunge und seine Lippen bewegen mußte.“22 19 20

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Ihab Hassan, „Pluralismus in der Postmoderne“, in: Die unvollendete Vernunft: Moderne versus Postmoderne, hg. v. Ditmar Kamper und Willem van Reijen, Frankfurt a. M. 1987, S. 157-184, hier S. 160. Roland Barthes, „Der Tod des Autors“ (zuerst 1967 im Englischen erschienen, 1968 im Französischen), übers. v. Matias Martinez (nach Roland Barthes: Œuvres complèts, Bd. 2: 1966-1973, hg. v. Éric Marty, Paris 1994, S. 491-495), in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hg. u. komm. v. Fotis Jannidis u. a., Stuttgart 2000, S. 185-193, hier S. 190. Ebd. Umberto Eco, „Zwischen Autor und Text“ (dritter Vortrag 1990 der sog. Tanner-Lectures an der Cambridge University, gekürzter Abdruck in: ders., Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation, aus dem Englischen übers. v. Hans Günter Holl, München 1996), in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hg. v. Fotis Jannidis u.a., Stuttgart 2000, S. 279-294, hier S. 279. Interessanterweise

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Meines Erachtens lässt sich zwischen diesen beiden Positionen, der von Barthes angenommenen Abwesenheit des Autors und Ecos Reetablierung desselben, vermitteln, indem man den Autor zwar ‚am Leben lässt‘, das heißt dessen schöpferische Subjektivi tät weiterhin anerkennt, aber die Einschreibungen in seinem Werk unter die Lupe nimmt. Unter dem Begriff der Einschreibung lassen sich hierbei Techniken und Strategien von Komposition zusammenfassen, die infolge eines teils normativen, teils emanzipatorischen Prozesses, welcher vom Komponisten bewusst oder unbewusst herbeigeführt wurde, in das Kunstwerk einfließen und dort letztendlich ein unbewusstes Eigenleben führen. Der Personalstil eines Komponisten definiert sich dann über die Verhältnisse dieser Normen und Normbrechungen zueinander und über den Grad der Bewusstheit oder Unbewusstheit, der diesen Prozessen der Einschreibung zugrunde liegt. Es sei auf diesen wichtigen Unterschied hingewiesen, der zum Beispiel in der Literatur über Stravinsky meines Erachtens immer noch zur Debatte steht: Ein Komponist mag vielleicht einen werkübergreifenden Personalstil bewusst gewählt haben, dennoch können sich in dessen Werk unbewusste Normierungen beziehungsweise Einschreibungen verschiedenster Art wieder finden. (Die Vorstellung, dass Normen sich – quasi als stille Praktiken – in ein musikalisches Werk einschreiben können, ohne dass es dadurch an seiner Originalität einbüßen muss, findet sich bereits in Carl Dahlhaus’ Begriff des unausgesprochenen ästhetischen Paradigmas23 oder in Eggebrechts Beobachtung einer kompositorischen Norm24.) Demgegenüber – und sich kategorial anders verhaltend – steht allerdings die Attitüde oder Erzählhaltung eines Autors, die von ihm ebenfalls bewusst, jedoch für ein einzelnes Werk, gewählt wird. Die Annahme einer „Haltung“ findet sich ansatzweise auch schon in Helga de la Motte-Habers Analyse von Kagels seriell-tonalem Klavierwerk An Tasten. Klavieretüde (1977)25, das ihrer Meinung nach nachhaltige Irritationsmomente birgt. So spricht sie

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beschreibt Eco wie Jürgen H. Petersen (Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte, Stuttgart u. Weimar, 1993) eine Doppel-Figur des Autors. Einerseits gebe es einen empirischen Autor, also den leibhaftig am Schreibtisch sitzenden, andererseits ließe sich ein exemplarischer Autor, der in der expliziten Textstrategie zu finden ist, festmachen. Zwischen diesen beiden steht aber noch eine „gespenstische Figur eines Grenz- oder Schwellenautors“ (S. 281). Letzterer wäre m.E. in poetischer Hinsicht das Analogon zu Barthes’ Begriff der ‚Einschreibung‘. Zu finden in seiner Beobachtung, dass „die Idee der absoluten Musik – allmählich und gegen Widerstände – zum ästhetischen Paradigma der deutschen Musikkultur des 19. Jahrhunderts geworden“ sei. Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, 3. Aufl., Kassel u.a. 1994, S. 15. U.a. nachzuvollziehen in dem Kapitel „Musikalische Klassik – Was heißt das?“, in: Hans Heinrich Eggebrecht, Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München u. Zürich 1991, S. 471-487, besonders S. 485. Die Idee zu An Tasten (UA: 13. Okt. 1977, Steirischer Herbst, Graz) basiert auf dem Etüdenspielen des Jungen in dem Hörspiel Soundtrack (Ursendung: 13. Juni 1975, WDR III, siehe auch Kagels „Erläuterungen“ bzw. zu Soundtrack für Klavier (1974/1975), in: Ausgabe. Ein Literatur- und Kunstmagazin, Nr. 1 (Mai 1976), hg. von Armin Hundertmark u.a., Berlin, S. 32-33). Die endgültige Komposi tion von An Tasten kann als eine mögliche kompositorische Ausformung und Ausdifferenzierung dieser generellen und in ihrer Konkretion indeterminierten Spielanweisungen angesehen werden (siehe auch Kagels Einleitung zur Partitur An Tasten. Klavieretüde (1977) UE PN: 16753, o. S.) Diese Abstammung erschließt sich aus einem Blick in die Quellenkonvolute der beiden Werke in der Sammlung Kagel (im Quellenverzeichnis nicht gesondert aufgeführt). In dem Konvolut zu An Tasten findet sich u.a. ein sechsseitiges hss. Skript mit Spielanweisungen, das die in der Ausgabe veröf -

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zwar nicht vom Fehlen des kompositorischen Subjekts, sie konstatiert jedoch eine „Dis krepanz“, die aus seiner Arbeit mir musikalischen Versatzstücken aus der Romantik und älterer Musik herrühre. Sie bemerkt, dass diese Diskrepanz vom Komponisten beabsichtigt ist, sie „erzeugt verfremdete paradoxe Wirkungen und schafft ein intellektuelles Vergnügen.“. Voraussetzung, dass eine solche Musik nicht in Beliebigkeit abrutsche, sei die dezidierte „ästhetische Haltung“ des Komponisten. Damit unterscheide sie sich von „neoromantischen Kompositionen“.26 Zwar ist der Begriff ‚Neoromantik‘, unter dem in den 1980ern auch die Werke der Komponisten der so genannten Neuen Einfachheit (Wolfgang Rihm, Hans-Jürgen von Bose) subsummiert wurden, bei ihr eindeutig pejorativ konnotiert. Jedoch hebt sie den Unterschied zwischen der ‚Neoromantik‘ und Kagels Musik, die mit romantischen Anleihen jeglicher Art arbeitet, hervor: Während die neoromantische Strömung versucht habe, die Musik zu emotionalisieren, scheint bei Kagel die Emotion durch die Ironie der Postmoderne gebrochen zu sein, sie stellt sich als trügerisch heraus Ulrich Dibelius hingegen deutet dieses Werk gänzlich anders. Er bescheinigt Kagels An Tasten ein Defizit „an eingebauter Widerborstigkeit und kritischen Erkennungszeichen“, worauf er auf einen „Mangel an kompositorischer Bewußtheit und investierter Reflexion“ auf Seiten des Komponisten schließt. 27 Dibelius erkennt bei Kagel – und hierbei ist er ganz in der modernistischen Argumentation verhangen – eine „tolerantere Haltung“ gegenüber der Tradition, die sich in der „Zweckfreiheit“ äußere, im „Nachvollzug bestimmter satztechnischer, harmonischer oder besetzungsmäßiger Konstellationen“.28 Bei An Tasten entstehe – und dies ist sicher negativ konnotiert – „kaum noch Bewältigung, eher Beschwörung“.29 Während also de la Motte-Haber von bewussten kompositorischen Prozessen ausgeht, die sich schließlich in einer „Haltung“ zum Werk manifestieren, siedelt Dibelius die kompositorische Leistung – oder in seinen Augen eher den kompositorischen Misserfolg – eher auf einer unbewussten Ebene, und zwar der „Beschwörung“ an. Vermutlich liegt, zumindest in der wertneutralen Beobachtung, die analytische Wahrheit zwischen diesen beiden Polen der absoluten Kontrolle und der Maßlosigkeit, nämlich in dem Bereich, der beides vereinigt: den der Einschreibungen.

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fentlichten Erläuterungen zu einer eigenständigen Aufführungspartitur präzisiert, die noch die offene Form der Fassung aus Soundtrack hat, jedoch vermutlich für eine eigenständige Publikation geplant war. (Meines Wissens war diese Fassung bislang nicht bekannt.) In den folgenden Fassungen, welche sich ebenfalls im Konvolut befinden, ist die weitere, schrittweise Entwicklung von Soundtrack hin zur Determination und zur eindeutigen Verschriftlichung in den Notentext von An Tasten gut nachzuvollziehen. Helga de la Motte-Haber, „Musikalische Postmoderne. Rückschau als Neubewertung“, in: Moderne versus Postmoderne. Zur ästhetischen Theorie und Praxis in den Künsten, hg. v. Oswald Georg Bauer, Schaftlach 1990 (= Jahrbuch der Bayerischen Akademie der schönen Künste, Bd. 4), S. 384-394, hier S. 390. Ulrich Dibelius, „Historisches Bewußtsein und Irrationalität“, in: Die neue Musik und die Tradition. Sieben Kongreßbeiträge und eine analytische Studie, hg. v. Reinhold Brinkmann, Mainz u.a. 1978 (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung, Bd. 19), S. 69-79, hier S. 76. Zeigte sich für ihn eine ideale moderne Musik – neben ihrer Erfüllung des Originalitätsanspruches – demnach durch formale ‚Zweckmäßigkeit‘ und ‚Intoleranz‘ gegenüber der Tradition geprägt? Ebd., S. 75.

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Wie auch bei Dibelius gründen alle bisherigen Deutungen kagelscher Musik (beispielsweise von de la Motte-Haber, Keil und Borio), unabhängig von ihrer Einstellung zum Werk und zum Komponisten, auf dem Prinzip des Ausschlusses. Das ‚Fehlen‘ wird über negative Kriterien beschrieben und damit als Leerstelle beschworen. Ästhetische Werturteile lassen sich über eine solche Herangehensweise nur schlecht formulieren. Vielmehr ließe sich fragen, warum man also nicht versucht, Kagels Werk auf seine offensichtlichen Einflüsse aus anderen Künsten und von anderen Künstlern zu untersuchen sowie Kagels Art, Phänomene zu kontextualisieren und als kontext- und somit sinnstiftend zu interpretieren. (Björn Heile reflektiert diese offensichtliche Kontextualität in Kagels Werk über die Erzähltheorie Mikhail Bachtins.30) Die Überwindung des Dilemmas ist meines Erachtens durch die Etablierung einer Instanz möglich, die zwischen dem Autor und dem Werk steht. Damit wird allerdings auch der Vorstellung der uneingeschränkten Bekenntnishaftigkeit von Musik, die den musikwissenschaftlichen Diskurs über die Moderne wie auch über die Postmoderne beherrscht, ein Ende gesetzt. Die Literaturwissenschaft scheint dieses Dilemma überwunden zu haben, indem sie, wie zum Beispiel die französische, den – für Außenste hende mitunter verwirrenden – Diskurs über den Autor eröffnet hat. Die deutsche und englischsprachige Literaturtheorie hat das Fehlen des Autors durch die Etablierung der ergänzenden Instanz des Erzählers aufgefangen. Im Folgenden möchte ich mich auf die deutsche Literaturtheorie stützen, namentlich auf Jürgen H. Petersens Theorieansatz, 30

Björn Heile, ‚Transcending Quotation‘: Cross- cultural Musical Representation in Mauricio Kagel‘s ‚Die Stuecke der Windrose fuer Salonorchester‘, PhD diss., University of Southampton, 2001, und in zusammenfassender Form in seinem gleichnamigen Aufsatz, in: Music Analysis 23 (2004), Nr. 1, S. 57-85. Wobei generell bemerkt werden muss, dass das Heranziehen von Bachtins Erzähltheorie für die musikalische Analyse und Interpretation grundsätzlich zu Verkürzungen kategorialer Art führt. Zum einen geht Bachtin von der Vorstellung aus, dass Autor und Erzähler eine Personalunion bilden. Erst auf dieser Grundlage kann er von einer Polyphonie der Stimmen sprechen. Tanja Dembski, Paradigmen der Romantheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Lukács, Bachtin und Rilke, Würzburg 2001, hat bereits angemerkt, dass Bachtins Erzähltheorie in diesem Sinne als Theorie auf ihre Anwendungsbezogenheit hinterfragt werden muss, da fast alle Erzähltheorien des späteren 20. Jahrhunderts erkannt haben, dass für eine detaillierte Beobachtung von narrativen Strukturen eine Trennung zwischen Autor und Erzähler vonnöten ist: „Fragt man nach der Erzählform des Romans, so ist zunächst offensichtlich, daß Bachtins romanpoetologische Arbeiten zu diesem für die formale Konzeption des jeweiligen Kunstwerks doch konstitutiven Aspekt kaum konkrete Bestimmungen liefern. Hier findet sich keine präzise Differenzierung zwischen Ich- und Er-Erzählform, und auch zur zeitgenössischen Diskussion dieser Fragen in der Narratologie gibt es keine Stellungnahmen Bachtins.“ (S. 97.) Diese grundlegende Problematik hindert die neuere Musikästhetik jedoch nicht daran, Bachtins Erzähltheorie in schöner Regelmäßigkeit ‚wiederzuentdecken‘. Nehmen wir dennoch an, Bachtins Erzähltheorie und besonders seine attraktiven Begriffe wie „Karnevalisierung“ und die Metapher der „Polyphonie der Stimmen“ ließen sich ohne weiteres benutzen, so stellt sich in musikanalytischer Hinsicht bei letzterer Metapher hinsichtlich Kagels Musik ein weiteres Problem: Polyphonie beschreibt in ihrer ursprünglichen Bedeutung die streng geregelte Abfolge von linear geführten Stimmen sowie die Gesetzmäßigkeiten, in denen diese Stimmen zueinander stehen. Wenn man die bachtinsche Metapher der „Polyphonie der Stimmen“ übernimmt, so stellt sich die Frage nach eben diesen Gesetzmäßigkeiten in Kagels musikalischem Werk. Lediglich kontextuelle ‚Heteronomie‘ und ‚Pluralität‘ zu konstatieren und mit der Begriffsbildung Bachtins zu versehen bedeutet im Ansatz, eine Metapher zurück in ihren ursprünglichen Zusammenhang zu metaphorisieren.

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Erzählen und Musik

der eine kategorische Trennung zwischen der Instanz des Autors und Erzählers voraussetzt.31 So ließe sich die von de la Motte-Haber konstatierte ‚ästhetische Haltung‘ des Komponisten Kagels erzähltheoretisch als Haltung eines im Werk konkretisierten ‚Erzählers‘ deuten. Es ist aus diesem Blickwinkel befremdlich zu beobachten, dass in der Musikästhetik (und der Musikwissenschaft) über die Moderne immer noch von einem Komponisten ausgegangen wird, der bekenntnishaft – quasi sein Innerstes preisgebend – Musik ‚veräußerlicht‘. Die Musikästhetik arbeitet bis auf den heutigen Tag mit einer Auffassung des Künstlers, wie sie die ältere Erzähltheorie der Literaturwissenschaft mit der Doppelfigur des Autor-Erzählers bereits zum Anfang des 20. Jahrhunderts abgelegt hat. So betrachtet dürften sich die ästhetischen Präferenzen der musikalischen Moderne des 20. Jahrhunderts kaum von denjenigen der musikalischen Romantik unterscheiden. In der Ästhetik der Moderne scheint der Glaube an das künstlerische Bekenntnis sogar noch stärker geworden zu sein. Somit wäre zu fragen, ob die Musik des 20. Jahrhunderts nur eine (im erzähltheoretischen Sinne) affirmative bzw. emphatische Kompositionsweise kennt. Wäre Luigi Nonos Musik, wenn sie die sozialen und menschlichen Missstände in der Welt in Dissonanzen und schmerzhaften Lautstärken darstellt, in diesem Sinne als emphatisch und affirmativ zu bezeichnen, nämlich emphatisch hinsichtlich der ‚Erzählhaltung‘ des Autors zu seinem Werk und affirmativ hinsichtlich der beabsichtigten und tatsächlichen Wirkung des Werks auf den Hörer?32 Diesem Denken liegt ein dreistufiges Kommunikationsmodell zugrunde, das aus den drei Instanzen eines Empfängers (des Komponisten), einer Botschaft (des Werks) und eines Empfänger (des Hörers) besteht. Dieses Modell, das Kommunikation als ungehindert, eingleisig und eindeutig versteht, ist so bestechend einfach wie in seiner Anwendung auf konkrete Fragestellungen falsch. Die neue oder auch postmoderne Ästhetik der Mittelbarkeit, die es demgegenüber im Weiteren darzustellen gilt, ist eng verzahnt mit einer womöglich neuen musikalischen Poetik. Ebenso, wie postmoderne Musik ein distanziertes Hören zu implizieren scheint, setzt postmodernes Komponieren ein distanziertes Verhältnis zur Komposition und zur Kompositionsmethode voraus. Beispielsweise beobachtet der Musiksemiotiker Eero Tarasti, dass der Komponist in der Postmoderne, bedingt durch die Medialisierung und die allgegenwärtige Präsenz und Erreichbarkeit von Musik, schon ‚zu viel‘ gehört habe. Dieses Schicksal teile er mit Künstlern anderer Kunstformen: Typically, the postmodern artist has no preestablished rules or categories but is instead searching for them. Without such rules, the postmodern artist is eternally seeking and trying to make visible something that cannot be rendered present. For example, Proust surrenders his authorial 31

32

Jürgen H. Petersen, Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte, Stuttgart u. Weimar 1993. Die kategorische Trennung der Instanzen des Autors und Erzähler unterscheidet seine Poetik von den älteren Erzähltheorien wie z.B. von Franz K. Stanzels Theorie des Erzählens, 6. unveränd. Aufl., Göttingen 1995. Siehe auch Heinz-Klaus Metzgers Ausfall gegenüber Nono, er sei ein „serieller Pfitzner“ in seinem Aufsatz „Das Altern der jüngsten Musik (1962)“, in: ders., Musik wozu. Literatur zu Noten, hg. v. Rainer Riehn, Frankfurt a. M. 1980, S. 113-128, hier S. 121. Zu dieser generellen Problematik siehe auch Heinz Gramann, Die Ästhetisierung des Schreckens in der europäischen Musik des 20. Jahrhunderts, Bonn 1984, S. 171-199.

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Erzählen und Musik identity to temporality: he remembers too much and too well. Joyce abandons his identity for the principle of ‚too many books,‘ as in the verbal acrobatics of Finnegans Wake and in his texts about texts. In music we may think of a post-modern composer as one who replaces self-identity with the principle of ‚too much music.‘ Such a composer has heard too much music to be able to say anything himself, positively and absolutely, to be himself, with his own voice present in the musical text he creates.33

Der postmoderne Künstler steht nun vor der Möglichkeit – oder, aus einem anderen Blickwinkel gesehen, unter dem Zwang –, für jedes einzelne Werk aus der großen Zahl an bekannten Kompositionsmethoden und Musiksprachen auszuwählen, oder – wie Tarasti an der Minimal Music beschreibt – sich von der Tradition gänzlich zu verabschieden. Daran anschließend lässt sich fragen, ob der postmoderne Komponist also nicht allein vor der Herausforderung steht, seine künstlerische und musikalische Ausdrucksfähigkeit wiederzufinden, sondern auch generell gezwungen ist, dafür zuerst eine adäquate musikalische Sprache zu entwickeln.

2

Lügen und Ironie in Musik Der Gebrauch einer Tonika ist trügerisch, wenn er nicht auf den gesamten Beziehungen der Tonalität beruht.34

Ein möglicher Ansatz, das fehlende Subjekt in Musik zu definieren, besteht darin, das Subjekt grundsätzlich als Urheber eines allgemeinen subjektiven Ausdrucks zu begreifen. Das Fehlen eines subjektiven Ausdrucks lässt sich dann als Fehlen des Subjekts interpretieren. Diese Argumentation setzt allerdings oben beschriebene allgemeine Annahme, dass das Subjekt sich zu seinem Kunstwerk immer affirmativ verhält, also mit ihm identisch zu werden versucht, voraus. Wie ist es jedoch um Kunst bestellt, die diese Identifikation gar nicht mehr vermuten lässt, zum Beispiel in Fällen, in denen das Subjekt sich durch Ironie klar und im Vorhinein von der Aussage des Kunstwerks distanziert hat? Ein Weg hin zu einer allgemeineren Darlegung eines ‚Erzählens in Musik‘ könnte darin bestehen, sich zunächst mit dem ähnlich gearteten, aber leichter zu erörternden Phänomen der Ironie in Musik zu befassen. Jeder Leser hatte sicher schon einmal das Gefühl, eine Musik sei ‚ironisch‘. Dies sei als Ausgangspunkt genommen, und im Folgenden versucht, die Frage nach dem fehlenden Subjekt an der Ironie und den ihr eigen tümlichen Wechselverhältnissen zu beobachten. Um Ironie zu erzeugen, muss das ‚Gesagte‘ vom ‚Gemeinten‘ divergent sein, was bedeutet, dass der Ironiker faktisch lügen muss. Diese Eigenschaft der Lüge vereint die Ironie und die Erzählung, da die augenfälligste Eigenschaft letzterer ihre Fähigkeit zur Fiktio33 34

Eero Tarasti, A Theory of Musical Semiotics, Indiana Univ. Press 1994 (= Advances in Semiotics, hg. v. Thomas E. Sebeok), S. 277. Schönberg, Komposition mit zwölf Tönen, S. 76.

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nalität, ihre Fähigkeit zur Lüge ist. Damit wäre zumindest ein wichtiger Anknüpfungspunkt für eine narratologische Sichtweise gegeben. Die Fähigkeit zur Lüge erkennt Nattiez der Musik jedoch ab, da sie nicht einmal in der Lage sei, eindeutige syntaktische Zusammenhänge zu schaffen: „it is not within the semiological possibilities of music to link a subject to a predicate.“35 Er ordnet das Lügen, wenn es sich überhaupt einstellt, dem Aufgabenbereich des Hörers zu. Am Beispiel des Umgangs von Musik mit Ironie wird gezeigt werden, dass Nattiez’ Vorstellung sowohl von Sprache und deren Fähigkeiten als auch von der ‚Sprachfähigkeit‘ von Musik und deren Unfähigkeit zur Lüge grundlegend zu hinterfragen ist. Musik ist meines Erachtens sehr wohl in der Lage zu lügen. Im Folgenden soll gefragt werden, ob es das Lügen, welches für das Erzählen (im erzähltheoretischen Sinne) unabdingbar ist, in der Musik nicht schon in vielen Ausprägungen gibt, ob also die Postmoderne dieser Gemengelage nur noch eine Reflexionsebene hinzufügt, indem sie das Erzählen und seine poetischen und ästhetischen Auswirkungen problematisiert und selbst zum Gegenstand von Kunst macht. Mit den folgenden Musikbeispielen von Orlando di Lasso, Giovanni Battista Pergolesi und Paul Hindemith möchte ich keine Historie des Erzählens in der Musik schreiben, dafür sind sie als Stichproben zu willkürlich. Sie sollen eher als Hilfestellungen fungieren, um eine vorläufige Systematik des Lügens und der Ironie in der Musik zu skizzieren. (Der hier verwendete Begriff der Lüge kann im wertfreien Sinne der Erzähltheorie als das grundsätzliche Vorhandensein von Fiktionalität verstanden werden, berührt aber in allen Beispielen auch das umgangssprachliche Verständnis dieses Wortes.) Lasso spielt in Audite nova mit den Hörerwartungen: Der Anfang des Werkes ist, für Madrigale typisch, mottetisch-imitativ gesetzt. Der lateinische Text, im Genaueren die Textphrase „Audite nova“, unterstützt diese Erwartungshaltung zweifach: Zum einen erinnert sie an Einleitungstropen wie „Audite filia“ oder „Audite verum“, und assoziiert damit einen sakralen Kontext. Zum anderen spricht die Textphrase „Hört das Neue oder auch die Neuigkeit“ den zeitgenössischen Hörer direkt an und lenkt die Hörerwartung auf das im Text Angekündigte:

35

Nattiez, Narrativity in Music, S. 244.

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Abb. 1: Orlando di Lasso, Audite nova. Der Baur von Eselßkirchen (1583), in: Orlando di Lasso. Sämtliche Werke, 2. nach d. Quellen rev. Aufl. der Ausg. v. F[ranz] X[aver] Haberl und Adolf Sandberger, Bd. 20: Kompositionen mit deutschem Text II, neu hg. v. Horst Leuchtmann, Wiesbaden 1971, S. 9-11, hier S. 9, T. 1-6.

Was jedoch folgt, enttäuscht den Hörer in textlicher wie musikalischer Hinsicht. Denn es folgt ein auf deutsch textierter Abschnitt in einem energischen Tanzrhythmus. Der Text lautet: Der Bawr von Eselszkirchen | der hat ain faiste ga ga Gans | das gyri gyri, ga ga Gans | die hat ein langen | faisten | dicken | weidelichen halß | bring her die Gans| hab dirs mein trauter Hans | rupff sie | zupff sie | seud sie | brat sie | zreiß sie | frisß sie | das ist sanct Martins vögelein | dem können wir nit feind seyn | Knecht Haintz, bring her ein guten Wein | und schenck uns dapffer ein | laß umbher gahn | in Gottes nam trincken wir | gut Wein und Bier | auff die gsotne Gans | auff die bratne Gans | auff die junge Gans | dasz sie uns nit schaden mag.36

36

Der hier abgedruckte Text aus der Gesamtausgabe in der Originalschreibung, S. XLVI, weicht von der Notentextierung ab.

30

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Abb. 2: Orlando di Lasso, Audite nova. Der Baur von Eselßkirchen, in: Orlando di Lasso. Sämtliche Werke, 2. nach d. Quellen rev. Aufl. der Ausg. v. F[ranz] X[aver] Haberl und Adolf Sandberger, Bd. 20: Kompositionen mit deutschem Text II, neu hg. v. Horst Leuchtmann, Wiesbaden 1971, S. 10, T. 7-14.

Dieser Abschnitt ist im rhythmisch-homophonen Stil gesetzt. 37 Der ausschlaggebende Aspekt für das Lügen – und der intendierte und resultierende Witz – wird hauptsächlich über die Textebene erreicht; der (niedere) deutsche Text trägt dazu bei, die einleitende (hohe) Musik als Lüge zu entlarven. Doch schon die Musik ohne Text irritiert aufgrund ihrer Faktur, da sie die anfängliche Satzart nicht fortsetzt. So ist hier auf musikalischer Ebene das Moment der Irritation bzw. der Enttäuschung des Erwarteten zu konstatieren. Die textliche Ebene (Sprache und Inhalt) fokussiert die Hörerwartung und schafft die semantische Rückbindung der Musik (‚hoher‘ Kirchenstil gegen ‚niederen‘ Tanzsatz) zu verschiedenen, sich diametral verhaltenden Kontexten (sakral gegen derb-säkular). Der Komponist erzwingt so eine Perspektivierung, die erst im Nachhinein offenbar wird. Obwohl der vermittelte Witz nicht unbedingt anspruchsvoll ist, ist das Verhältnis zwischen Text und Musik bereits sehr komplex: ohne den Text wäre die Musik nicht in der Lage zu lügen. Das endgültige Aufdecken der Lüge vermag hier nur der Text zu leis ten.

37

Innerhalb des Zyklus führt der nachfolgende achtstimmige „Dialogus“ diese Satzart weiter.

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31

Das Phänomen, dass Musik in der Lage ist, die Lüge einer Figur zu unterstützen und im gleichen Atemzug diese Lüge als solche zu entlarven, findet sich u.a. bei vielen Opere buffe. Als Beispiel sei die Arie der Serpina aus Pergolesis La Serva Padrona herangezogen. Auf mehreren Ebenen zeigt sich die Falschheit der Serpina. Es sei kurz die Situation der Handlung dargestellt: Die vorwitzige und heiratswütige Serpina, als Magd bei dem alten Hagestolz Uberto angestellt, hat sich mit ihrem Herrn verstritten und versucht ihn zu erweichen. Unterbrochen wird ihr Lamento von Abschnitten in denen sie „zu sich“ spricht bzw. sich dem Publikum zuwendet und die Reaktion Ubertos auf ihre herzerweichende Klage kommentiert: 38 (zu Uberto) An Serpina sollt Ihr denken, sollt Ihr denken, manches Mal an manchem Tag, und Ihr werdet sagen: Ach, armes Mädchen. So teuer war dereinst sie mir! (zu sich) Er beginnt schon allmählich zu erweichen! Er beginnt schon allmählich zu erweichen! (zu Uberto) An Serpina sollt Ihr denken, und Ihr werdet sagen: Ach, armes Mädchen. So teuer war dereinst sie mir! (zu sich) Er beginnt schon allmählich zu erweichen! Er beginnt schon allmählich zu erweichen! (zu Uberto) Wenn ich jemals ungehörig war, entschuldige ich mich! Meine Trauer wird mich begleiten, ich sehe es, ja! (zu sich) Jetzt nimmt er meine Hand, ich konnte es zum Besseren wenden!

Diesen beiden Handlungsebenen, der offenen Anrede von Figur zu Figur sowie dem Kommentar ‚zu sich‘ wird auf musikalischer Ebene entsprochen. Interpretiert man das Erweichen Ubertos als fortlaufenden Prozess, ist an Serpinas Gesang aber die Wiederholung des ersten Abschnittes – quasi da capo – bemerkenswert, da sie der Handlungslogik zuwider läuft. Die Arie der Serpina ist als dreiteilige Da-capo-Arie angelegt, wobei sich die kommentierenden Allegro-Abschnitte, in denen Serpina „beiseite“ spricht, von den A- und B-Teilen in Tempo und Taktart abheben und sich innerhalb der Formdisposition wie Ritornelle verhalten.

38

Die deutsche, sinngemäße Übersetzung ist von mir. Die italienische Textvorlage ist entnommen aus: Die Magd als Herrin nach der italienischen Originalfassung übertr. u. überarb. von Hermann Abert, hg. v. der Pergolesi-Gesellschaft, München: Wunderhorn o.J. [Vorwort dat. 1910]. Aberts Übersetzung und die von Karl Geiringer neu herausgegebenen Taschenpartitur (Wien: Philharmonia 1925) sind notwendigerweise nach Versmaß und Endreim eingerichtet, so dass sie einige sinnentstellende Passagen enthalten.

32

Erzählen und Musik

Das folgende Formschema der Arie soll dies nochmals veranschaulichen, wobei der besseren Übersicht halber auf die Darstellung der kleingliedrigen Orchester-Ritornelle verzichtet sei: Takte tatsächliche Abschnitte Tempo Taktart Tonarten interpretiert als da capo-Arie

1 A

10 Tanz

30 A

Largo 4/4 F A1

Allegro 3/8 F Rit.

Largo 4/4 F mod. zu B A2

Fine

38 Tanz

60 B

65-77 Tanz

Allegro 3/8 B Rit.

Largo 4/4 g B

Allegro 3/8 g Rit.

Da capo al fine

A1+2

Abb. 3: Giovanni Battista Pergolesi, La Serva Padrona, Arie A Serpina penserete, Formschema

Innerhalb der Handlungs- und Figurenhierarchie ist die Da-capo-Arie normalerweise dem höheren Paar zugeordnet, sie steht der Figur der Bediensteten Serpina eigentlich nicht zu. Dementsprechend unbeholfen bewegt sich Serpina in diesem Umfeld: Ihre ‚Klage‘ ist zwar von charakteristischen musikalischen Topoi wie beispielsweise Seufzer motiven durchsetzt. Sie werden jedoch unverhältnismäßig oft eingesetzt und häufig – ohne Rücksicht auf die Symmetrie der musikalischen Zeilenbildung – wiederholt, so dass Serpina in ihrer Klagemotivik allzu insistierend und floskelhaft wirkt. Am Anfang des zweiten Largo-Abschnittes, also nach dem Zwischenritornell des A-Teils, wird Serpinas Insistieren durch die Diminution des mit „poverina“ unterlegten Klagetopos verstärkt, zugleich wirkt die Deklamation aber allzu kurzatmig.

Abb. 4: Giovanni Battista Pergolesi, La Serva Padrona, Arie A Serpina penserete, T. 30-34, Auszug aus der Partitur, Wien: Philharmonia 1925, neu hg. v. Karl Geiringer, S. 88.

Die Musik fungiert hier zunächst als Trägerin und Komplizin der textlichen Lüge, die Textaussage wird an die musikalischen Konventionen und Topoi der barocken LamentoArie geknüpft. Indem jedoch die falsche Nutzung des musikalischen Regelwerks zielgerichtet aufgezeigt wird, wird die Lüge als solche offengelegt und reflektiert. Demgegenüber stehen die ‚zu sich‘ gewandten Kommentare Serpinas, in denen sie spekuliert, wie lange Uberto noch braucht, bis er erweicht ist. Diese innerhalb der Arienform als Ritornelle angelegten Abschnitte sind in einem dreiteiligen Takt mit schnellerem Tempo gesetzt. Hier zeigt sich Serpina nicht nur in textlicher Hinsicht von ihrer wahren Seite, auch die Musik entspricht ihrer sozialen Stellung, und natürlich auch Serpi-

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nas Temperament. Die Musik der Ritornelle tritt wie in den ariosen Abschnitten wieder als Komplizin auf, sie legt aber auch Serpinas Stand und Absichten offen. Insgesamt tritt die Musik der Arie also in einen abwechslungsreichen Dialog mit der Bühnenhandlung, die musikalischen Mittel unterstützen die Perspektiven der Figurenrede und charakterisieren die verschiedenen Absichten der Figur. Zugegebenermaßen ist die Musik hier von Außermusikalischem abhängig, vorrangig vom Textinhalt. Erst durch die Textaussage wird die ‚Falschheit der Musik‘ bewusst. Was geschähe, wenn man den Text wegließe? Es würde sich beim Hörer zwar ein Irritationsmoment einstellen, allerdings würden ihm keine weiteren Mittel an die Hand gegeben, diese Irritation im Weiteren zu interpretieren und die Musik letztendlich zu verstehen. Die Musik der Serpina-Arie fungiert also in unterschiedlicher Weise. Sie dient zum einen der Charakterisierung der Figur, indem sie Serpina in den musikalischen Kontext des Volkstanzes stellt. In den Teilen, in denen Serpina jedoch lügt, trägt die Musik die textliche Aussage mit, die Musik beteiligt sich an der Lüge. Zugleich decken die unver hältnismäßig angewandten Regelwerke der Da-capo-Arie die Lüge auf: Dem Hausmädchen Serpina stünde es normalerweise nicht zu, eine Da-capo-Arie zu singen, des Weite ren strapaziert Serpina die musikalischen Topoi im Übermaß. Hier finden sich also entgegengesetzte Perspektivierungen. Die Musik wechselt hier zwischen Figurenrede und dem Erzählkommentar eines auktorial angelegten Erzählers, die Musik ‚weiß‘ also manchmal mehr als die Figur. Dieser Wechsel der Perspektiven trägt zum Perspektivismus des Erzählens, dem so genannten Erzählrelief bei, das später näher betrachtet wird (siehe dazu Kap. II.5). Die beiden Musiken von di Lasso und Pergolesi arbeiten mit Kontextualisierungen und Hörerwartungen bezüglich Gattung, Stilhöhe und musikalischen Topoi, deren Ursprung teilweise außerhalb der Musik liegt, die anderseits aber unabdingbar für das ‚Verstehen‘ dieser Musik sind. Am offensichtlichsten scheinen Perspektivierungen oder auch die kompositorische Haltung zur ‚Text‘- oder Werkaussage in den Fällen zu Tage zu treten, wo die Musik in den Dienst der Ironie gestellt wird. 39 Ironie schlägt sich generell in der Divergenz von Gesagtem und Gemeintem nieder. Die Wesensähnlichkeit mit dem Lügen ist hierbei nur durch die Tatsache dieser Divergenz gegeben, der diametrale Unterschied zum Lügen besteht darin, dass die Divergenz im gleichen Zuge als eine intentionale offengelegt wird. Damit Ironie funktionieren kann, müssen gewisse Vorbedingungen geschaffen werden, die über die bloßen Grundlagen der Kommunikation hinausgehen. Der Ironiker setzt beim Rezi39

Bezeichnenderweise ist die kritische Theorie Adornos bei der Suche nach der Erzählinstanz nicht hilfreich, da sich das kompositorische Subjekts nach Adorno letztendlich immer bekenntnishaft und – im erzähltheoretischen Sinne – affirmativ zum Werk verhält. Nach Adorno kennt das kompositorische Subjekt nur eine Distanzierung zur Welt bzw. Gesellschaft, die in mittelbarer Weise die Regel haftigkeiten der Komposition bestimmen, jedoch nicht zum eigentlichen Werk. Vgl. u.a. Adornos dialektischen Versuch, Schönbergs Zwölftontechnik als heroisches Scheitern an der Welt zu interpretieren: „Kein Künstler vermag es, von sich aus den Widerspruch der entfesselten Kunst zur gefesselten Gesellschaft auszuheben: alles, was er vermag, ist durch entfesselte Kunst der gefesselten Gesellschaft zu widersprechen, und auch daran muß er fast verzweifeln.“ (Adorno, Philosophie der neuen Musik, S. 102.)

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pienten ein Wissen (Kontext) voraus. Zudem muss der Ironiker annehmen (oder kann schlechterdings nur hoffen), dass der Rezipient die Position (Kontext) des Ironikers zum eigentlich Gemeinten kennt (zum Beispiel im generellen Vorwissen über Grundhaltun gen des Ironikers). Mit diesen Vorannahmen kann der Ironiker nun daran arbeiten, dass Gemeinte im Gesagten zu verschlüsseln. Ähnlich ist es um den Rezipienten bestellt: Um das vom Ironiker verschlüsselte Gemeinte zu entschlüsseln muss er kontextabhängiges Wissen besitzen, und zwar das Wissen um die Position des Ironikers, den Kontext des Ironikers und dessen kritische Reflexion seines eigenen Kontextes. Erst wenn all diese Vorabsprachen und Vorannahmen in diesen zuerst voneinander unabhängig gestalteten Regelkreisen geleistet sind, kann Ironie entstehen und als solche verstanden werden. Ein ‚Fehler‘ zwischen den Annahmen des Ironikers und denen des Rezipienten, würde sich als Nicht-Verstehen äußern. Bemerkenswert ist außerdem, dass Sprache als Informationsträger beim Verstehen von Ironie eine untergeordnete, vielleicht sogar gar keine Rolle spielt. So reicht die Fähigkeit zur Sprache allein nicht aus, um die Aussage eines ironisierenden Textes oder einer Rede zu verstehen. Das Verständnis der Ironie ist ein weitergehender Prozess, der grundsätzlich nicht nur auf die Medien Sprache oder Musik angewiesen ist, sondern auf Assoziationsprozessen beruht, die außerhalb dieser Medien liegen können, jedoch einem Regelsystem unterworfen sind, das die Vorleistungen zur geglückten Kommunikation gewährleisten kann. (Es liegt die Versuchung nahe, das ‚Gesagte‘ und ‚Gemeinte‘ des Ironikers auf der Ebene des Inhalts und der Form zu diskutieren. So wäre Pergolesis Verwendung der Da-capo-Arie als Gattung und deren inhaltliche Ausfüllung mit über mäßigen Topoi der Klage als eine Ironisierung zu verstehen. Gegen diese Überlegung ist aber einzuwenden, dass das ‚Gesagte‘ und das ‚Gemeinte‘ des Ironikers beiderseits auf der Ebene des Inhalts sind. Sie haben beide die Qualität der Information, und fungieren nicht als deren Träger bzw. Medium.) Inwieweit das zugrunde liegende Regelsystem der Ironie für ein widerspruchsfreies Verstehen notwendig ist, lässt sich unter anderem an Paul Hindemiths Bearbeitung der Ouvertüre zum „Fliegenden Holländer“ wie sie eine schlechte Kurkapelle morgens um 7 am Brunnen vom Blatt spielt für Streichquartett (um 1925) erkennen. Diese Musik parodiere, so Giselher Schuberts Partiturvorwort, „keinesfalls Wagners Komposition, sondern vielmehr die im Werktitel genau umschriebene Art des Musikmachens.“40 Die Musik gibt sich, als sei sie in großer Not gespielt: Es gibt zahlreiche fehlerhafte Einsätze, die Tonhöhen bei neuen Einsätzen sind fast immer falsch und werden meistenteils ‚nachgebessert‘, schnelle Achtelketten geraten metrisch durcheinander und bei vielen Phrasenabschlüssen entsteht der Eindruck, als warteten die Instrumentalisten aufeinander, um wenigs tens eine neue Phrase zusammen zu beginnen. Schließlich rettet sich die imaginäre Kurkapelle ab Takt 271 in einen Walzer, um sich vor dem abschließenden Finale noch einmal zu sammeln.

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Giselher Schubert, Vorwort zu Paul Hindemith, Ouvertüre zum „Fliegenden Holländer“ wie sie eine schlechte Kurkapelle morgens um 7 am Brunnen vom Blatt spielt für Streichquartett (um 1925), Partitur, ED 8106, Schott 1991, o. S.

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Der Komponist Hindemith tritt hier als Regisseur auf, der das Streichquartett eine Handlung nachvollziehen lässt, die mit dem eigentlichen, musikalischen Geschehen nur bedingt zu tun hat. Die Musiker ‚spielen‘ Musiker, ein Aspekt, der in dieser Ausprägung als eine Vorwegnahme von Kagels Instrumentaltheater oder auch seinen 10 Märschen um den Sieg zu verfehlen (1978/79) erscheint. Lässt man diese Handlungsebene der Interpretation jedoch außer Acht, und wird einzelner Passagen gewahr – zum Beispiel derjenigen unmittelbar vor dem Walzer-Teil (siehe Beispiel unten) – so erinnert die Musik in ihren Phrasenverschiebungen an avancierteste Streichquartettmusik Béla Bartóks:

Abb. 5: Paul Hindemith, Ouvertüre zum „Fliegenden Holländer“, T. 251-254, Reprographie des Partiturdrucks.

Nimmt man diese Rahmenhandlung der Kurkapelle weiterhin an, ließe sich zudem fragen, warum die imaginierten Musiker sich mit der Ausführung so schwer tun. So misslingen die, besonders bei Contrabassisten gefürchteten, wagnerschen Läufe ausnahmslos. Ebenso ‚scheitern‘ viele Phrasenenden, wie in folgendem Beispiel, in den Takten 77 bis 90, wo das Liebesmotiv so weit ausgefasert wird, dass es wie eine unbeantwortete Frage im Raum stehen bleibt. Durch die ‚fehlerhafte‘ Interpretation wird die Musik auch auf ihre Aufführbarkeit hin kritisiert.

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Abb. 6: Paul Hindemith, Ouvertüre zum „Fliegenden Holländer“, T. 77-90, Reprographie des Partiturdrucks.

Die Ironie liegt hier zum einen auf kompositorischer Ebene in Hindemiths ‚naivem‘ Versuch, die originale Orchesterbesetzung der wagnerschen Musik und deren Möglichkeiten zur Klangdifferenzierung auf ein Streichquartett zu reduzieren. Durch die Reduzierung der symphonischen Musik vom orchestral Monumentalen auf das Streichquartett wird jedoch ihre Abhängigkeit von der ausdifferenzierten Orchesterklangfarbe offensichtlich. Die durch die Symphonik mögliche klangliche Vielfalt der Wiederholungen schlägt in der instrumentalen Reduzierung in gleichtönige Redundanz um – ein Phänomen, das sich bei vielen Instrumentationen symphonischer Musik für kleinere Ensembles beobachten lässt. Eine weitere ironische Facette von Hindemiths Komposition mag auch darin bestehen, dass sie eine sehr genaue und ‚glaubhafte‘ Ausführung benötigt, um mit all ihren einkomponierten Widerborstigkeiten zu wirken. Unabhängig davon, welche Intention Hindemith mit dieser Holländer-‚Bearbeitung‘ nun genau verfolgt hat und welcher Interpretation man am ehesten zustimmt, ist zu konstatieren, dass eine Divergenz zwischen dem Gesagten, ‚Wagners Musik im Original‘, und dem Gemeinten, ‚Wagners Musik als Parodie‘, besteht. Der Unterschied zu den beiden Beispielen di Lassos und Pergolesis besteht darin, dass die Musik in diesem Fall ohne eine Textebene auskommt, und allein mit Erwartungshaltungen operiert, die nichtsprachlicher Art sind. Auch die Frage, wie Hindemith zu Wagners Holländer-Musik steht, lässt sich nicht eindeutig klären: Anders als beispielsweise in der Satire ist die Beziehung des Ironikers zum Gegenstand der Ironie durch ein ambivalentes Spannungsverhältnis geprägt. Obwohl der Ironiker das ironisch behandelte Objekt ablehnt und sich

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von ihm durch die Art der Behandlung distanziert, ist er zugleich vom Objekt affiziert. Äußert sich also in Hindemiths Parodie heimliche Bewunderung für Wagner? Wie an den obigen Musikbeispielen deutlich wird, gibt es bei der erzählenden Haltung Pergolesis und der Ironie Hindemiths Gemeinsamkeiten. Bei beiden Musikbeispielen findet sich eine Differenz zwischen dem Gesagten und Gemeinten, im Falle der Ironie ist die Distanz im Maß der Affirmation und der Ablehnung zum Gegenstand zu finden, im Falle eines Erzählens mündet die Distanz zwischen dem Komponisten und seiner Musik in einer ‚Erzählsituation‘. Beiden Verfahren ist gemein, dass sie die Rezeption bewusst lenken und somit einen „Perspektivismus“ hervorrufen können. Mit diesem Begriff umschreibt beispielsweise Ihab Hassan die Ironie (in Anlehnung an Kenneth Burke und zumindest für die Postmoderne), wobei er sie als philosophische Grundhaltung annimmt: „Diese Ironie beinhaltet Unbestimmtheit und Multivalenz; sie strebt nach Klarheit, einer Klarheit der Entmystifizierung, nach dem reinen Licht der Abwesenheit.“41 Zweifellos hat sich die Bedeutung von Ironie im Laufe der Geschichte, von der Antike bis zur postmodernen Theorie, geändert. Sokrates verstand unter der eironeìa die Haltung eines Menschen, der sich im Gespräch als geringer hinstellt, als er wirklich ist. Indem Sokrates sich als Nichtwissender gab, deckte er das Wissen seines Gesprächspartners als eitel auf und brachte den Gesprächspartner in die Aporie, das heißt Verlegen heit.42 Diese Ironie, bei Sokrates noch philosophische Grundhaltung, wurde später in die Reihe der rhetorischen Verfahren aufgenommen und auf ihre Anwendungsbezogenheit hin systematisiert; letzteres Verständnis prägt unser alltägliches Reden über Ironie. Die sokratische Ironie als philosophische Grundhaltung ist in der Kunst des 20. Jahrhunderts aber in vielfacher Ausprägung anzutreffen: Ironie, Perspektivismus und Reflexivität drücken die notwendige, spielerische Erholung des menschlichen Geistes auf der Suche nach der Wahrheit aus, die ihm beständig entflieht und ihm lediglich einen ironischen Einblick oder ein Übermaß an Selbstbewußtsein gestattet. 43

Bei Künstlern der Pop-Art, die meines Erachtens eine Facette der Postmoderne darstellt, lässt sich nicht nur an zahllosen Beispielen die Divergenz zwischen dem Gesagten und Gemeinten festmachen, sondern auch das „Übermaß an Selbstbewußtsein“, welches Hassan oben beschreibt. Beispielsweise hinterfragt Andy Warhol den emphatischen Begriff des Kunstwerks und die Rolle des schöpfenden Künstlers durch das Vermischen von Kunst und Nichtkunst und das stetiges Kopieren und Automatisieren.

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Ihab Hassan, Pluralismus in der Postmoderne, S. 161-162. Karl Heinz Bohrer hingegen spricht der Postmoderne die Fähigkeit zur Reflexion ab, beispielsweise in seinem Aufsatz „Hat die Postmoderne den historischen Ironieverlust der Moderne aufgeholt“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 52 (1998), S. 794-807. Otto Hiltbrunner, Art. „Ironie“, in: ders., Kleines Lexikon der Antike. Umfassend die griechisch-römische Welt von ihren Anfängen bis zum Beginn des Mittelalters, 2. neubearb. u. erw. Aufl., Bern 1950 (= Sammlung Dalp, Bd. 14), S. 235-236. Ihab Hassan, Pluralismus in der Postmoderne, S. 161-162.

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Weitere Beispiele finden sich im Bereich der Literatur. Beispielsweise arbeitet Christian Kracht in seinem Roman Faserland mit einem sich dem Leser als völlig erbärmlich und regressiv darstellenden Ich-Erzähler, der nicht lernt und nicht handelt. 44 Damit knüpft Kracht an Handlungtopoi an, wie sie beispielsweise in Erzählungen von Laurence Sternes, Fjodor M. Dostojewskis und Thomas Manns45 zu finden sind; radikalisiert sie jedoch hinsichtlich der ironischen Behandlung: Der Roman ist gleichsam als ganze Erzählung in Anführungsstriche zu setzen und als Distanzierung zum Schreiben zu verstehen. Ebenso genannt werden kann Michel Houellebecqs Roman Ausweitung der Kampfzone, der mit ähnlichen Mitteln arbeitet. 46 Die Distanzierung zum Plot, zu den Figuren, zum Erzählen und zum Schreiben ist eine besondere Leistung beider, in der Kritik besonders auch wegen dieser Eigenschaften umstrittenen Werke. Ohne dass der Kritiker eine rigorose Trennung zwischen dem Autor (dem Gemeinten) und der Fiktion (dem Gesagten) vornimmt, kann er diese Werke wohl kaum als literarische Kunst bewerten. Die durch diese Trennung entstehende Leerstelle kann dann durch die Instanz des Erzählers gefüllt werden. Auch wenn an dieser Stelle keine endgültige Zusammenführung der verschiedenen Ironiebegriffe der Literaturtheorie, der Rhetorik und der Philosophie angestrebt werden kann und soll, ist insgesamt wohl deutlich geworden, dass sich die hier dargelegten Vorstellungen von Ironie in wesentlichen Punkten von dem alltäglichen Sprachgebrauch und Sprachverständnis von Ironie unterscheidet.47 Für die weitere Betrachtung über 44 45

46 47

Christian Kracht, Faserland, München 1995. So erkennt Reinhard Baumgart den Perspektivismus des Ironikers in den Erzählhaltungen Thomas Manns: „Ginge der Erzähler auf im Erleben seiner Figur, wäre sein Abstandsbedürfnis, das ironische Selbstbewußtsein über der Illusionswelt des Werkes verlorengegangen. Sähe er immer nur von außen, so bliebe sein Erzählen kühl an der Oberfläche haften. Innensicht oder Außensicht überan strengen den Ironiker auf gleiche Weise, weil sie auf eine Perspektive beschränkt sind und zur Ent scheidung zwingen. Darum übernimmt er die Rolle des Helden, mimt sein Reden und Denken zum Verwechseln ähnlich nach, ohne sein eigenes Selbstbewußtsein in der Rolle untergehen zu lassen. Er wahrt das Gesetz der doppelten Perspektive, in der sich hier harmonisches Einstimmen und dissonantes Abstandnehmen wechselseitig und ironisch durchdringen.“ Reinhard Baumgart, Das Ironische und die Ironie in den Werken Thomas Manns, München 1964 (= Literatur als Kunst, hg. v. Kurt May u. Walter Höllerer), S. 63-64. Er unterscheidet jedoch im Sinne der älteren Erzähltheorie nach Stanzel nicht kategorisch zwischen der Instanz des Autors und des Erzählers. Michel Houellebecq, Ausweitung der Kampfzone, aus dem Französischen von Leopold Federmair, Reinbek bei Hamburg 2001. Wenn man die Distanzierung des komponierenden Subjekts zum Objekt, der Musik oder den Musiken, nur auf die Ebene der Affirmation oder Nichtaffirmation beschränkt, ließen sich damit lediglich die negativen Eigenschaften des ironisch behandelten Objekts analysieren. Man ließe sich zwar ein Gefälle der Stilhöhen erkennen, das zwischen dem ‚hohen‘ Personalstil des Komponisten (dem Stil des Autors) und dem in die Komposition ‚ein‘-gebrachten, niederen Fremdstile wie z.B. Marsch, Popularmusik zu unterscheiden weiß. Diese Sichtweise scheint den Blickwinkel auf Musik des 20. Jahrhunderts nur noch einzuschränken, und für den Erkenntnisgewinn nicht zuträglich zu sein. (Bei Hindemiths Holländer-Bearbeitung scheinen sich gerade diese ästhetischen Vorzeichen auch umdrehen zu können, gerade das macht dort den Witz aus.) Dass die Frage nach der Stilhöhe überhaupt für eine ästhetische Diskussion über Musik des 20. Jahrhunderts noch tragfähig ist, ist sehr zu bezweifeln. Zur Stilhöhe siehe auch Hermann Danuser, „Musikalische Zitat- und Collageverfahren im Lichte der (Post) Moderne-Diskussion“, in: Moderne versus Postmoderne, Schaftlach 1990 (= Jahr-

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Musik und für Kagel lässt sich festhalten, dass sich Ironie unter anderem in einer perspektivischen Distanzierung von den angewendeten musikalischen Mitteln ausdrückt, zum Beispiel in einer ironischen Distanzierung des Komponisten von den Musiken, die er verwendet. Beispielsweise verwendet Kagel in seinen Collagen oft Musiken, die ihm offenbar am Herzen liegen, wie in Ludwig van oder Osten. Sein Verhältnis zu diesen Musiken ist dann insofern ein ironisches, als im Kunstwerk die spannungsvolle Ambivalenz zwischen Faszination und Ablehnung von Seiten des künstlerischen Subjekts zum Gegenstand nicht nur offensichtlich, sondern auch zu einem bedeutungsvollen oder auch zentralen Moment des Werkes wird. Das sokratische Moment der Ironie bestünde darin, dass der Komponist sich hinsichtlich seiner Musik (oder dem, was er in erzählender Weise als solche ausgibt) als Nichtwissender gibt, und somit in der Musik enthaltene Identifiktionsangebote wie Kulturvorstellungen und kulturelle Werte in Frage stellt. Das ‚ironische Komponieren‘ hat seine Grundvoraussetzung im ‚Vorgeben‘ oder auch Erzählen, wobei dieses durch eine Perspektivierung zwischen dem Subjekt, dem Kom ponisten beziehungsweise der erzählenden Instanz, und dem Werk, oder dessen, was als solches erzählend vorgegeben wird, erreicht wird. Es ist ebenso festzuhalten, dass zwi schen dem Erzählen und der Ironie Wesensähnlichkeiten bestehen, die sich in einer Mittelbarkeit zwischen dem Subjekt und dem Objekt manifestiert. Das bloße Konstatieren dieses Sachverhaltes ist jedoch von geringem Erkenntniswert, so dass im Weiteren versucht werden soll, diese Mittelbarkeit durch die Instanz des Erzählers zu personifizieren und auf Musik zu übertragen.

buch der Bayerischen Akademie der schönen Künste, Bd. 4), S. 395-409. Dass die Unterteilung in Stilhöhen generell problematisch ist, wird an der dodekaphonen Moderne deutlich: Die Ansicht, dass das Komponieren mit 12 Tönen das Nonplusultra ist, finden wir bei der Avantgarde der Zweiten Wiener Schule wie auch in der Ästhetik Adornos. (Der frühe Boulez ist sicherlich auch von diesem Denken beeinflusst.) Andererseits stand die seriell komponierende Moderne Anfang der 1960er Jahre vor dem Problem der Selbstaushöhlung. Mit seiner Verschulung und Verbreitung ging der Serialismus in den allgemeinen Kanon von Komposition ein und verlor damit seinen avantgardistischen Anspruch oder auch seine ‚Stilhöhe‘. Zudem erlitt der Serialismus das gleiche Schicksal wie vormals die klassische Ästhetik der Sonatenform, er wurde formalisiert und ‚verkam‘ zu einer reinen Kompositionstechnik. (Obgleich die emphatische Interpretation der Sonatenform wie auch des Serialismus’ als ‚musikalisches Denken‘ erst die Ästhetik, nicht die ausführenden Komponisten, zu leisten vermochte. Es ist – um die Analogie weiter zu strapazieren – zu fragen, ob Sonatenform und Serialismus nicht beide zuerst die Aufgabe hatten kompositionstechnische Probleme zu lösen, und keine im Nachhinein aufgeworfenen ästhetischen.) Insofern ist das Verständnis von Ironie, die sich nur in einer Unterteilung in Stilhöhen erfüllt sieht, wie auch die Vorstellung der Musikwissenschaft von Stilhöhe im 20. Jh. generell, problematisch.

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Möglichkeiten und Grenzen der Musiknarratologie

Jürgen H. Petersens ‚Poetik epischer Texte‘48 ist für den Bereich der Epik konzipiert und weist bereits bei der Übertragung auf andere Textgattungen Schwierigkeiten auf. Wie kann sie dann erst recht auf Musik und Komposition anwendbar sein? Ich denke, dass gerade in Bezug auf musikalische Komposition, insbesondere der Kompositionen Kagels, einige Überlegungen und Begriffe dieser ‚Poetik‘ nutzbar gemacht werden können, um mit ihnen Phänomene zu beschreiben und zu erläutern, die mit der herkömmlichen Begriffsbildung nicht greifbar sind. (Zum Abschluss des Kapitels über das Erzählen, nach der Analyse von Kagels Südosten, werden einige Begriffe spezifiziert.) Das erste Problem, das bei der Übertragung theoretischer Überlegungen über literarische Erzählsysteme auf musikalische Kompositionen auftaucht, ist, dass nicht festgemacht werden kann, ob und was Musik überhaupt erzählen kann. Die aus dem angelsächsischen Sprachraum stammende Narratology versucht das Erzählen in Musik dadurch zu etablieren, dass sie sich auf die Vorannahme stützt, Sprache und Musik hätten auf Ebene der Syntax (Relation: Zeichen – Zeichen), der Pragmatik (Relation: Zei chen – Sender/Empfänger) und der Semantik (Relation: Zeichen – ‚Wirklichkeit‘) Wesensähnlichkeiten, die als solche auch beschreibbar sind. Begründet wird diese Vorannahme durch die generelle, vorwissenschaftliche Beobachtung, dass Musik grundsätzlich in der Lage sei, ‚etwas‘ mitzuteilen. Linguistische und strukturalistische Ansätze nehmen die Sprachähnlichkeit von Musik an und versuchen, sie zu erfassen, indem zwischen Signifikant (der Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens, in Bezug auf das Zeichen) und Signifikat (der Inhaltsseite des sprachlichen Zeichens, in Bezug auf das Bezeichnete) unterschieden wird. Eero Tarasti beschreibt die Versuche der Semiotik der 1960er Jahre folgendermaßen: It was thought that in music also one might distinguish the units of the first articulation (mean ingful items, musical ‚words‘) and the second articulation (musical ‚phonemes‘, meaningless items). Through a sort of ars combinatoria, musical semioticians tried to build units of signification from these small atoms. All sign systems, even music, were assumed to operate like lan guage.49

In diesem Zusammenhang kann nach Tarasti auch Claude Lévi-Strauss’ Einwand verstanden werden, dass abstrakte, nichtfigurative Malerei und atonale Musik keine ‚Sprachen‘ seien, da ihnen die ‚erste Artikulation‘, in Form von bedeutungsvollen und erkennbaren Figuren und von allgemeingültigen Zusammenhängen (wie in gegenständlicher Malerei und tonaler Musik) fehlt. 50 Kagel hingegen erkennt die Atonalität Schönbergs und Weberns als musikalische Prosa an und sagt beispielsweise zur Dodekaphonie: „Wir verfügen mittlerweile über ein solches Reservoir von musikalischen Sprachen, daß Konsonanz und Dissonanz keine wertungsfreien Größen darstellen können.“ 51 48 49 50 51

Jürgen H. Petersen, Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte, Stuttgart u. Weimar 1993. Tarasti, Musical Semiotics, S. 5. Zit. n. Tarasti, Musical Semiotics, S. 5. Vgl. auch Claude Lévi-Strauss, Mythologiques, Bd.1: Le Cru et le Cuit (1964), Paris 1985, S. 29. Kagel/Klüppelholz, ..../1991, S. 29.

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Im Grunde genommen besteht also das Problem darin, zu unterscheiden, was an Außermusikalischem in erzählender Weise und in der Art einer musikalischen Sprache vermit telt werden kann, und was nicht. Daran knüpft sich die Frage an, was dieses ‚Außermusi kalische‘ ist, und wie es sich äußert. Die Narratology lässt das Problem der Unterscheidung zwischen Erzählen und Erzähltem im Detail außen vor und definiert die Erzählung hauptsächlich über die Handlung, sucht in Musik deshalb auch nach dieser. Handlung kann unter Umständen durch musikalische Entwicklung hervorgerufen werden, jedoch ist dieser Sachverhalt nicht näher spezifizierbar. So merkt Nattiez bereits an, dass der Ent wicklungsgedanke „Leiden-Erlösung“ ein „typical schema of behaviour, a cultural scheme and a way of being“52 ist, also eigentlich ein kultureller Topos beziehungsweise ein kulturelles Paradigma, welches keine weitere Differenzierung zulässt. Nattiez bezeichnet diesen ‚topischen‘, ästhetischen (und hinsichtlich des Komponierens auch implizit poetischen) Vor gang des „per aspera ad astra“ im Zusammenhang mit Beethovens Musik als ‚Illusion eines Erzählens‘, welches aber außersprachlich und daher nicht näher bestimmbar ist. 53 Er geht davon aus, dass musikalische Entwicklung (also motivisch-thematische Arbeit, Sonatenform) und die Erzählung einer Handlung strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen, so dass eine Kohärenz, die Illusion eines Erzählens, stattfinde. 54 Ausgehend von den oben dargestellten Überlegungen seien die wichtigsten Prämissen nochmals gegeneinander gestellt und für die folgende Diskussion ausgewertet. Die Paragraphen sind hierbei als Beobachtung und Folgerung zu verstehen. Zuerst ist grundsätzlich zu konstatieren, dass Musik als menschliche Äußerung Kommunikation ist. Dieser Punkt ist freilich so allgemein, dass man ihn mit dem Axiom des Kommunikationsforschers Paul Watzlawick, es sei unmöglich, nicht zu kommunizieren, unterlegen könnte.55 Er sei aber trotz seiner banalen Einfachheit genannt, weil sich diese Grundvoraussetzung augenscheinlich diametral zu einigen Aspekten der Musikanschauung der deutschen Moderne und des Weiteren zur idealistisch geprägten Vorstellung einer absoluten Musik – also einer Musik, die ihr Dasein allein durch ihre Integralität beziehungsweise ihre vollständige Eigengesetzlichkeit und Sinnhaftigkeit berechtigt – verhält. In den Ausführungen über die serielle Tonalität in Kapitel V sollen diese Fragen weiter ausgeführt werden. Dies angenommen, ist weiter zu fragen, wie das Erzählen in Musik erzeugt wird. Der narratologische Ansatz Nattiez’ geht interessanterweise nicht von der Frage aus, ob Musik bereits ‚Erzähltes‘ (Handlung) oder ‚Erzählen‘ (der Akt des Erzählens) ist. Nattiez 52 53 54

55

Nattiez, Narrativity in Music, S. 249-250. Ebd., S. 248. Eigentlich wäre dies eine Kohärenz des musikalischen Handlungszusammenhangs, die ohne eine weitere Ebene des Erzählens einer Handlung auskäme. Der Eindruck, dass dieser Prozess einer erzählerischen Behandlung unterliegt, wäre durch den Grad der Mittelbarkeit hervorgerufen. Paul Watzlawick u.a., Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, 10. unveränd. Aufl., Bern u.a., 2000, S. 50-53. Die Unmöglichkeit nicht zu kommunizieren ist das erste von fünf pragmatischen Axiomen.

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nimmt musikalische Vorgänge als Erzähltes an und untersucht die Musik nun nach den beiden von ihm angenommenen und für ihn gleich wichtigen Voraussetzungen für Narration: der Handlung beziehungsweise dem so genannten plot und der erzählerischen Behandlung, dem „narrative thread“.56 Er kommt zu folgenden Ergebnissen: Die musikalische Entwicklung könne die Fähigkeit besitzen, eine Handlung zu suggerieren. Um Narrativität entstehen zu lassen, bedürfe es aber auch eines Akts des Erzählens, also der narrativen ‚Behandlung‘ oder auch des erzählerischen Zugriffs. ‚Handlung‘ entsteht für ihn, wenn ‚existents‘ und ‚events‘ 57 miteinander in Beziehung gebracht werden, und zwar 1. durch die lineare Dimension der zeitlichen Aufeinanderfolge und 2. durch die Kausalverbindungen dieser ‚existents‘ und ‚events‘ zueinander. 58 Zudem müssen nach Nattiez zwei Voraussetzungen erfüllt sein, damit eine ‚narrative Behandlung‘, ein „thread“, erzeugt werden kann: 1. Mindestens zwei Objekte, egal welcher Art, müssen dargebracht werden, und 2. diese beiden Objekte müssen in einer linearen und zeitlichen Dimension so dargebracht werden, dass zwischen ihnen eine Beziehung geschaffen werden kann. 59 Die Voraussetzung für den Eindruck eines Aktes des Erzählens ist also die strukturelle Anordnung der Musik. Fehlen letzterer die Sinnkonstituenten, beispielsweise ein plot, kann sie demnach auch nicht als ‚Erzähltes‘ in Erscheinung treten. Nattiez betont in diesem Zusammenhang jedoch nachdrücklich, dass die Musik diese Aufgaben nicht allein erfüllen kann. Vielmehr müsse die Interpretation des Hörers den größten Teil der Arbeit leisten. Sie sei der „gap-filler“ zwischen den beiden voneinander unabhängigen Sinnkonstituenten, erst sie könne eine Verbindung zwischen diesen herstellen. In literarischen Erzählungen finden wir jedoch viele Passagen, die keinen Plot beziehungsweise keine Entwicklung der Handlung aufweisen. Zum Beispiel enthalten Thomas Manns Erzählungen längere Passagen, die nicht zur Handlung beitragen oder keine Handlung enthalten, sie beschreiben eher, als dass sie erzählen. Ebenso findet man in James Joyces Ulysses60 Handlungen, die dermaßen gedehnt werden, dass sie nur noch als Beschreibung zu lesen sind. Genau umgekehrt verfährt Hermann Hesse im Glasperlenspiel, wo er Joseph Knechts ersten, zweijährigen Aufenthalt im Stift Marienfels als eine einzige und subsummierende Wahrnehmung darstellt. 61 In Termini der Erzähltheorie gesagt, fände sich hier der Konflikt zwischen der „Erzählzeit“, also der Zeit, die benötigt wird, um zu erzählen beziehungsweise um zu lesen, und der „erzählten Zeit“, dem Zeitrahmen der Handlung, die erzählt wird. In Musik, so verstehe ich Nattiez, wären diese Zeitprobleme mit den nötigen plot-Markern (exists und events) zu versehen. Ein ganzes Heldenschicksal in einer halbstündigen Klaviersonate von Beethoven kann ich aber nur 56 57

58 59 60 61

Nattiez, Narrativity in Music, S. 243. Nattiez assoziiert diese Begriffe, soweit ich ihn verstehe, mit grammatikalischen Satzstrukturen. So ließen sich ‚existents‘ als ‚Bestehendes‘ (d.h. Subjekt oder Objekt) übersetzen, während ‚events‘ prädikative Bedeutung haben. Ebd., S. 242. Ebd., S. 246. Bei der erzählerischen Behandlung unterscheidet er jedoch nicht systematisch zwischen Autor bzw. dem Komponisten und Erzähler, sie sind eine Person. James Joyce, Ulysses, hg. u. mit einer Einleitung v. Declan Kiberd, London 1992. Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel. Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Joseph Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften, Frankfurt a. M. 2002, S. 154-174.

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als solches verstehen, wenn ich den Konflikt zwischen Erzählzeit und der erzählten Zeit als in der Klaviersonate bereits angelegt (und natürlich durch die Gattungsdiskurse der Programmmusik angeregt) akzeptiere. Es wäre in solchen Fällen also zu fragen, ob gerade nicht dieser Konflikt der Zeitlichkeit wichtiger für die Annahme einer Erzählung ist als die tatsächliche syntaktische Beschaffenheit der Musik. In dem Konflikt zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit liegt ein weiterer genereller Einwand gegen das Konstatieren eines Erzählens in Musik verborgen: Musik kann in ihrer Unmittelbarkeit – und damit steht sie dem Drama nahe – in erster Linie nur ‚im Präsens sprechen‘. Sie ist nicht in der Lage, von Vergangenem zu berichten. Gegen dieses Argument ist jedoch einzuwenden, dass die Fiktionalität generell diese Problematik der Zeitlichkeit anrührt und sie immerwährend thematisiert. So ist Käthe Hamburgers in ein gebundenes Buch gedruckter Satz: „Gestern regnete es in Köln“ 62 ebenso wenig eindeutig zeitlich determiniert wie ein ‚erinnert klingendes‘ Motiv in einer Beethoven-Sonate. Indem eindeutige Aussagen in die Sphäre der Fiktionalität gehoben werden, lösen sich nicht nur die Zeitlichkeit von fiktionaler Handlung und die empfundene allgemeine Zeitstruktur auf, sondern auch die Zeitlichkeit innerhalb der Fiktion gerät ins Wanken. Auch wenn wir den Satz Hamburgers jeden Tag lesen würden, ist die Zeitangabe „Gestern“ im Satz insofern richtig, als es sich um fiktionales Sprechen handelt. Diese Grundproblematik zwischen Faktizität von Aussagen und deren gleichzeitiger Fiktionalität ist nach Petersen keine, die sich in der gesamten Struktur fiktionaler Texte äußert: Nun existieren ästhetische Ausdrucksformen aber nicht an und für sich, sondern im Verbund mit dem, was man die Aussage, den Gehalt, den eigentlichen Sinn eines poetischen Textes nennen kann. Das ist nicht der „plot“, sondern das Ganze der auf bestimmte ästhetische Weise repräsentierten Elemente der Handlung, der Probleme, der Figurenkonstellationen etc. In einem sprachlichen Kunstwerk sind alle Elemente miteinander funktional verbunden und machen als diese Verbindung das artistische Ganze aus.63

Diese Grundvoraussetzung hat meines Erachtens die Musiksemiologie und im Besonderen die Narratology nicht erkannt. Sie geht in ihren Grundprämissen von nichtfiktionalen Aussagen aus und überträgt diese Folgerungen auf fiktionale Texte, die den Regeln der Handlungs- und Zeitlogik nicht folgen müssen bzw. nicht folgen dürfen, wenn sie den Anspruch von Kunst erfüllen wollen. Das von der Narratology praktizierte ausschließliche Rekurrieren auf die Handlung stellt sich dabei als weiteres Dilemma heraus, da diese nicht einmal in einer herkömmlichen Erzählung zugegen sein muss. Im Gegenzug lässt sich dieses Konzept der Handlung, die sich in Musik als Entwicklung nieder schlüge, nur bei Musik beobachten, die auch dem Gebot der Entwicklung Folge leistet. Damit wäre aber Musik der Moderne, die sich von dem Gebot der Entwicklung befreit hat, nicht interpretierbar. Es ist hierbei bemerkenswert, dass das Erzählen als ästhetisches Problem in beiden Bereichen, Musik wie Literatur, erst als Grundsätzliches erkannt und kategorisiert wurde, als es in den Kunstformen durch die Auflösung eines 62 63

Zit. n. Petersen, Erzählsysteme, S. 5. Ebd., S. 3.

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seiner vormaligen Paradigmen, in diesem Fall der Handlung beziehungsweise der Entwicklung, in Frage gestellt wurde. Die Folgerungen zu diesem Fragenkomplex seien nochmals zusammengefasst: a) Handlung ist für das Etablieren eines Erzählens nicht grundsätzlich erforderlich. b) Phänomene einer erzählten oder Erzähl-Zeit sind dem Umstand der grundsätzlichen Fiktionalität von Erzählung zuzuordnen. c) Musik hat in diesem Zusammenhang den Anschein von Fiktionalität. Ausgehend von der Annahme, dass die Fiktionalität von Aussagen der Garant für eine Erzählung ist, ist ferner zu folgern, dass Erzählung nicht auf Sprache basieren muss. Beispiele hierfür findet man im Tanztheater, in der Pantomime, in Comics, in der bildenden Kunst, in Allegorien und anderen Kunstformen. In der bildenden Kunst übernehmen die in einem genauen Verweissystem plazierten Symbole die Rolle der Sprache. Zwar lassen sich diese ‚außersprachlichen‘ Medien im Nachhinein alle versprachlichen, aber für deren Verstehen als Erzählung ist die Versprachlichung nicht notwendig. Nattiez deutet diese Unabhängigkeit vom Medium (in Anlehnung an englischsprachige Literaturtheorien) als eine Dichotomie zwischen „story“ und „discourse“: The content of a narrative, the story which is told, can be ‚unglued‘ from its linguistic support in order to be taken on by another medium, another kind of discourse, film or comic strip. 64

Die Textsorte, aber auch das ‚Erzählmedium‘ (discourse) kann demnach unabhängig vom Erzählten sein. Allerdings schränkt Nattiez ein: „In music, connections are situated at the level of the discourse, rather than the level of story.“65 Die Folgerung daraus wäre, dass bei der Übertragung des Erzählens auf Musik die Sprachähnlichkeit letzterer nicht vonnöten ist. Das Dilemma der Unterscheidung zwischen ‚Erzähltem‘ und ‚Erzählen‘, das ja ein genuines Problem von Sprache zu sein scheint, muss demnach nicht weiter erörtert werden. An ihre Stelle tritt die ‚Konnotation‘66, ob musikalischer oder außermusikalischer, assoziativer oder anderer Art. All diesen Konnotationen ist gemein, dass sie außerhalb des jeweiligen Mitteilungsmediums liegen. In diesem Zusammenhang kann beobachtet werden, dass es Erzählung auch in nicht-epischen Gattungen wie beispielsweise der Lyrik und dem Drama gibt. Beispielsweise wird im epischen Theater Bertolt Brechts und im expressionistischen Theater seines Lehrers Erwin Piscator mit ‚zeigenden‘ Mitteln der Eindruck eines ‚Erzählens‘ erzeugt. 64 65 66

Nattiez, Narrativity in Music, S. 244. Ebd. Im Weiteren sei bei der Definition von ‚Denotation‘ und ‚Konnotation‘ auf Umberto Eco vertraut, dessen Definitionen sich weitestgehend mit dem allgemeinen Sprachgebrauch dieser Begriffe decken. (Vgl. Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, autorisierte. dt. Ausg. hg. v. Jürgen Trabant, 8. unveränd. Aufl., München 1994, S. 101 und 108.) Die Denotation ist ein einmaliger ‚mehr oder weniger‘ ein-eindeutiger Verweis erster Ordnung, während die Konnotation mehrfach und in ver schiedenen Ordnungen fungieren kann. Zum Beispiel bezeichnet das deutsche Lexem ‚Wald‘ auf denotativer Ebene eine Ansammlung von Bäumen, während auf der Konnotationsebene mehrere Bedeutungen mitschwingen können, z.B. Wochenendausflug, Thoreau, Rotkäppchen, Misteln schneiden oder ähnliches.

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Da die bisher aufgeführten Kriterien der Handlung und der Sprachgebundenheit wahlweise oder ganz wegfallen können, also nicht grundsätzlich konstitutiv für ein Erzählen sind, sind die einzigen Kriterien für Erzählen das der Mittelbarkeit und das vorgelagerte Paradigma der Fiktionalität. Diese beiden Kriterien müssten berücksichtigt werden, um Erzählen auf Musik übertragen und dort beschreiben zu können. Dabei kann es nicht das Ziel einer musika lischen Analyse sein, die Musik in Handlungsmomente zu unterteilen und nach dem Kriterium der Sprachähnlichkeit zu erörtern, sondern die verschiedenen, vom Kompo nisten eingesetzten Erzählstrategien und Erzähltechniken im musikalischen Verlauf zu erkennen und als einen Akt des Erzählens zu bewerten. Dass die anderen fakultativen Momente wie Sprachähnlichkeit, Plot oder musikalische Entwicklung beobachtet werden können und sollten, steht außer Frage, sie sind aber nicht zwingend notwendig für das Etablieren eines Erzählens. Ziel einer musikalischen Analyse, die mit Termini der Erzähltheorie operiert, ist demnach möglicherweise nicht, die Erzählung, also quasi den Plot, zu fassen und Musik als Programm zu verstehen, sondern eher die Mittelbarkeit herauszustellen, und zwar erstens in der Nähe/Distanz zwischen Autor und Werk und zweitens in der Nähe/Distanz des Werks zum Rezipienten – wobei ersteres durch die angenommene Erzählerinstanz hergestellt wird, und zweites durch die verschiedenen Haltungen des Rezipienten zum Werk, zum Beispiel durch Affirmation oder Distanzierung. Die Frage, inwiefern sich Fiktionalität in Musik tatsächlich als solche darstellen lässt, wäre hingegen, da sie ein vorgelagertes Paradigma ist, nicht Gegenstand der Fragestellung. Fiktionalität ließe sich in diesem Zusammenhang als eine Absprache verstehen, die unter Umständen sogar unabhängig vom Kunstwerk und dessen Paratexten entstanden ist. Das Einbringen des Außermusikalischen mag alleine durch den – semiologisch schwerlich zu kategorisierenden – Prozess der Assoziation erfolgen. Warum lohnt es sich bei all diesen Unwägbarkeiten und kategorischen Ungenauigkeiten trotzdem, gerade bei Kagels Musik a priori von narrativen Prozessen auszugehen? Zur Beantwortung dieser Frage ist es vonnöten, sich mit den Prozessen des Erzählens aus einander zusetzen. Dies sei am einfachen Beispiel des Lesens veranschaulicht: Der Lesende nimmt im Leseakt die Zeichen und Wörter auf und gruppiert sie zu Sinneinheiten. Dieser Prozess mag allgemein gültig sein: Jedes Wort löst beim Leser eine per sönliche, außersprachliche Assoziation aus, die das Wort im Rahmen des Erfahrungsho rizonts des Lesers in einen außersprachlichen Eindruck oder eine Erinnerung (an ein Bild, einen Geruch oder einen Laut) umwandelt. Dieser individuelle Umsetzungsprozess vom Medium der Sprache in ein anderes Medium ist aber nicht willkürlich, sondern kann vom Erzähler durch die Art des Erzäh lens gesteuert und in Bahnen gelenkt werden, er kann bestimmte Assoziationsprozesse fördern und andere unterdrücken. 67 Koppelt man nun, unter der Annahme, dass auch 67

In diesem Sinne ist das von Eco postulierte ‚offene Kunstwerk‘ (ders., Das offene Kunstwerk, übers. v. Jürgen Memmert, 8. Aufl., Frankfurt a. M. 1998) nicht als zu allen Seiten und für jede Deutungsmöglichkeit ‚offen‘ zu verstehen. Der Künstler bzw. Autor oder Komponist legt bereits die Wege an oder Spuren aus, die den Rezipienten dazu veranlassen sich diesem Kunstwerk aus einer bestimmten Richtung zu nähern. Eco bezeichnet diesen Steuerungsmechanismus als eine „gezielte Suggestion“

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ohne Sprache erzählt werden kann – wie beispielsweise in der Pantomime, Malerei, Bildhauerei und anderen – die Sprachlichkeit vom Erzählen ab, bleibt lediglich das Verfahren der Assoziation übrig, und zwar das generelle Umsetzen eines Ein- oder Ausdrucks von dem einen Medium in ein anderes. Ein wichtiges Element von Kagels Kompositionsweise – und für mich der Auslöser, Petersens Konzept der Erzählsysteme heranzuziehen –, ist Kagels eigenartige Verknüpfung von Narration und Komposition. Narration tritt in seinen Werken in vielfältiger Weise auf, besonders offensichtlich als Handlungen in Film, auf der Bühne und beim Instrumentaltheater. Ebenso hervorzuheben sind Kagels begleitende ‚Erzählungen‘ zu seinen Werken, meist in Form von Titeln und Begleittexten, die außermusikalische Kontexte, Entwicklungshaftes oder Programmmusikalisches suggerieren (wie in Die Stücke der Windrose). Schließlich finden sich bei Kagel im Schaffensprozess eine Vielzahl von Erzählungen und Handlungen als Anreger und Inspiration.

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Südosten

Südosten ist eines jener Werke, in denen die narrativen Paratexte in Form eines von Kagel vorgegebenen plots oder eines Programm dezidiert eine musikalische Handlung suggerieren. Aufgrund dessen und wegen seiner Prominenz im Konzertsaal, erscheint es besonders geeignet, das Erzählen in Kagels Musik nachzuvollziehen. Versuchen wir dieses Werk vorerst unter narratologischen Prämissen zu betrachten: Kagel versteht seinen Werkzyklus Die Stücke der Windrose für Salonorchester als Auseinandersetzung mit den Wind- bzw. Himmelsrichtungen, die für jeden mit bestimmten Erlebnissen, Sehnsüchten und schematischen Vorstellungen verbunden sind. Dass diese jedoch vom Standpunkt abhängig sind und nicht immer mit der Realität übereinstimmen müssen, beschreibt er anhand des Begriffs „Norden“ und den daran anknüpfenden Assoziationen. So verknüpft der Argentinier Kagel mit der Himmelsrichtung Norden die Schwüle und Wärme Brasiliens, während in der „Gefühlswelt der Europäer“ der Norden mit der Kälte Skan(S. 72), die sich als „mehrwertige Botschaft“ (S. 88) im modernen Kunstwerk ausdrücken kann. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei jedoch gesagt, dass Eco den Unterschied zwischen „eindeutiger“ und „mehrwertiger“ Botschaft nicht unbedingt als kategorialen Unterschied auffasst, wenn er sagt, dass „zu dem typischen Reichtum der ästhetischen Rezeption eine neue Art von Reichhaltigkeit [hinzukomme], die der moderne Autor als zu verwirklichenden Wert anstrebt.“ (S. 88). Ebenso sind folgende Worte Ecos für den Versuch, das offene Kunstwerk in der modernen oder postmodernen Musik analytisch zu objektivieren, eher unergiebig: „Dieser Wert [einer mehrwertigen Botschaft], auf den die moderne Kunst bewußt, hinarbeitet und den wir bei Joyce herausstellen wollten, ist derselbe, den die serielle Musik dadurch zu realisieren sucht, daß sie das Musikhören von den obligato rischen Geleisen der Tonalität wegführt und die Parameter, denen gemäß das musikalische Material organisiert und rezipiert werden soll, vervielfacht; es ist derselbe, den die informelle Malerei anstrebt, wenn sie nicht mehr nur eine, sondern mehrere Lesarten eines Bildes zuläßt [...]“. (S. 88, Anm. v. KH.) Obwohl Eco z. B. mit Luciano Berio in Gedankenaustausch stand, und viele Passagen seiner Texte Musik zum Thema haben, sind seine Schriften immer noch auf ihre tatsächliche Aussagefähigkeit in Hinsicht auf Musik zu untersuchen.

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dinaviens verbunden wird. Für Kagel, der beide Standpunkte kennt, ergeben sich dadurch Konflikte, die sich seiner Aussage nach bisweilen in der Störung seines Orientierungssinnes äußern können. 68 Diese Ambivalenz der Himmelsrichtungen veranlasste ihn dazu, bei den Stücken auch die Ausgangspunkte der ‚Reise‘ oder der Betrachtung zu wechseln. Er schreibt dazu: Unsere Vorstellungen neigen [...] zur Vereinfachung, sie setzen sich aus flüchtigen oder bleibenden Reiseeindrücken, Lektüren und Erfahrungen, aus Neigungen und Abneigungen zusammen. Fühlt man sich auch nach einigen Takten an den angedeuteten geographischen Punkt versetzt, dann können wir als Hörer vielleicht die Atmosphäre des Stückes durch Bruchteile unserer musikalischen Erinnerungen oder Erlebnisse vor Ort bereichern.69

Diese Worte vermitteln zuerst den Eindruck, die Salonstücke hätten zum Ziel, den Hörer in Lokalkolorit oder in vergangenen Urlaubserlebnissen schwelgen zu lassen. Betrachtet man aber Kagels Auswahl der Länder für die Stücke, erscheint das Zitat hintergründig. So sieht Kagel in dem Stück Osten von Mitteleuropa in Richtung Ungarn, Ukraine, Weißrussland, Lettland und Estland beziehungsweise im Stück Süden über die Alpen bis nach Sizilien. In den Stücken Nordwesten und Nordosten nimmt er Südargentinien als Ausgangspunkt und beschreibt die Anden und den Nordosten Brasiliens. In Südosten führt die Reise von Kuba über die Staaten der Nordküste Südamerikas und Brasilien nach Afrika, verfolgt also den Weg der Sklaventransporte zur Zeit der Kolonialisie rung zurück.70 Die meisten dieser geographischen Räume werden der so genannten Zweiten und Dritten Welt zugerechnet, sind dem mitteleuropäischen Konzertpublikum eventuell nur vom Namen bekannt oder mit Vorurteilen behaftet. Bereits im Begleittext gibt Kagel sich als Ironiker zu erkennen, wenn er die mögliche Kette an Vorurteilen mit den Worten „Vereinfachung“, „Neigungen und Abneigungen“ umschreibt und dem Hörer Weltgewandtheit zuerkennt, die er aus „Reiseeindrücken“ und „Lektüren“ gewonnen habe. Wer hat in solch strukturschwachen Regionen der Welt bislang seinen Urlaub verbracht beziehungsweise wer ist dabei über die Abgrenzungen seines Ferienghettos hinausgekommen? Um den Zugang zum Werkzyklus zu erleichtern und die Rezeption zu steuern, wurde in der CD-Beilage eine ‚Kompassrose‘ abgebildet, die Kagel einem Sachbuch entnommen hat. Es handelt sich um die Zeichnung einer „ethischen“, das heißt die verschiedenen Himmelsrichtungen zwischen „sehr schlecht“ und „sehr gut“ bewertenden Flächenorientierung der Erde, wie sie auf Schamanentrommeln von südamerikanischen Indianderkulturen zu finden ist.71

68 69 70 71

Mauricio Kagel, Begleittext zur CD Die Stücke der Windrose: Osten, Süden, Nordosten, Nordwesten, Südosten; Phantasiestück, Audivis Montagne MO 782017, 1994, S. 10-13, hier S. 11. Ebd., S. 10. Ebd., S. 10-13. Claus Schreiner, Musica Latina. Musikfolklore zwischen Kuba und Feuerland, Frankf. a. M. 1982, S. 180; Reprographie hier übernommen aus Kagel, Booklet Windrose, S. 4.

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Erzählen und Musik Abb. 7: Ethische Flächenorientierung der Erde, in: Kagel, Die Stücke der Windrose, MO 782017, Booklet, S. 4.

Diese hier erkennbare Drehung der Himmelsrichtungen um 90 Grad gegen den Uhrzeigersinn und die dadurch ausgelöste Desorientierung hat sicher auch ihren Ausdruck in den szenischen Anweisungen an den jeweiligen Enden der Windrosen-Stücke gefunden. Die Musiker drehen sich bei Südosten zwar nach rechts unten, aus der Perspektive des Publikum ist es jedoch links unten. Das Stück Südosten sticht aus dem programmatischen Konzept des Zyklus’ besonders hervor, da Kagel nicht nur einen Ausgangspunkt und eine Blickrichtung angibt, sondern die einzenen Stationen und den Endpunkt einer Reise. So beginnt diese Reise in Kuba, führt über die Karibik nach Südosten in einen „Raum, der in Kolumbien beginnt und sich über Venezuela, Surinam und die Guyanas bis zum Amazonas erstreckt“. 72 Die Reise nach Südosten endet in Afrika und ist nach Kagel auch eine Reise zurück in die Ursprünge der karibischen Musik: „Südosten ist über den Atlantik nach Afrika zu den ethnischen Quellen gewandert, und es sind diese, die letztlich die Partitur systematisch unterwandern.“ 73 Bereits bei der Skizzierung hat Kagel dieses Reiseziel bestimmt. So trägt die Particellskizze „3“, in der das zweite Motiv vorkommt, den Untertitel „Südafrika“. 74 Im Folgenden sei, nach einer Reflexion über die beiden zentralen Motive dieses Stückes, der Beginn und die zentrale, im folgenden Formaufbau als fünfter Abschnitt bezeichnete Passage analysiert. Kagels kompositorische Intention scheint darin zu bestehen, zwei Motive – wie er sagt „Wesensmerkmale“ – herauszustellen und zu verarbeiten. Damit dieses Herausstellen plausibel ist, verwendet Kagel Motive, die kulturell und historisch bereits in einem jeweiligen Kontext eingebunden sind. Gerade diese Kontextualität der Motive ist ausschlaggebend dafür, dass Komponieren unter dem Aspekt des Erzählens plausibel wird. Kagel stellt die Herkunft der Motive wie folgt dar: Das eine wird gleich am Anfang vorgestellt und beruht auf einer typischen Begleitfigur, die, von einer zweiten Figur begleitet, zur Hauptstimme wird. Wenig später taucht ein weiteres Motiv auf, das ähnlich diatonischer Melodien für Balafon und Zansa in einigen Regionen Afrikas auf der Wiederholung eines einzigen Intervalles fußt und mit fallender Tendenz immer auf dem gleichen Grundton endet.75 72 73 74

75

Kagel, Begleittext Windrose, S. 12. Ebd., S. 13. In der Particellskizze „3“ zu Südosten (dat. 29.7.91) ist diesem Titel noch ein Fragezeichen angefügt, in der am 25.9.90 datierten Skizze „4“ ist „Südafrika“ ohne Fragezeichen versehen und unterstrichen. Kagel, Begleittext Windrose, S. 13 (fehlerhafte Interpunktion getilgt).

Erzählen und Musik

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Das erste Motiv – nach Kagel eine „typische“ Begleitfigur, erinnert durch den anfängli chen Moll-Dreiklang und die Synkopierung desselben an afrocubanische Begleitfiguren einer tres (einer doppelchörig gestimmten Variante der Gitarre) oder eines Klaviers, die in den cubanischen Musikstilen des Son und Montuno zum festen Instrumentarium gehören:

Abb. 8: Kagel, Südosten, erstes Motiv, T. 1-4, Klarinette, bereinigte Reprographie des Ausschnitts aus dem Partiturdruck.

Das zweite von Kagel beschriebene Motiv erinnert durch seine heptatonische Tonfolge und seine Intervallsprünge an das Spiel einer afrikanischen Sansa (bzw. Zanza oder auch Daumenklavier). Bereits beim ersten Einsatz in Takt 97 erklingt es in mehreren Stimmen:

Abb. 9: Kagel, Südosten, zweites Motiv, T. 97-99, Umschrift als Particell.

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Erzählen und Musik

Nimmt man Kagels programmatische Einführung als Grundlage für eine narratologische Interpretation, lässt sich Südosten als eine Reise darstellen. Die rechte Spalte der nachstehenden Tabelle gibt die an Kagels Aussagen angelehnte ‚Reiseroute‘ an. Dadurch, dass die einzelne Abschnitte sich in ihrer motivischen Charakteristik und in ihrer Faktur sehr deutlich unterscheiden lassen, kann man das Stück in sechs Abschnitte gliedern, wobei die Abschnitte 1 und 2 sowie 3 und 4 durch ihre Motivik jeweils zu einem größeren Abschnitt (fett umrandet) zusammengefasst werden können. Abschnitte Takte 1 1-73 2

74-96

3 4

97-107 108-136

5

137-154

6

155-229

Motive: Exposition und Verarbeitung des 1. Motivs 1. Motiv klingt im 3er-Takt nach.

Stationen der Reise: Cuba

Exposition des 2. Motivs ‚Verzerrung‘ und ‚Zerstückelung‘ des 2. Motivs Tango (Milonga) mit 2. Motiv (dissonant gesetzt) 1. Motiv und dazugehöriger Rhythmus, dann allmähliche Auflösung der Faktur durch das 2. Motiv (Aleatorik)

Kolumbien Durch den Dschungel, d.h. Venezuela, Surinam, Guyana Am Amazonasdelta

Flug über die Karibik

Über den Ozean zurück zu den musikalischen Wurzeln nach Südafrika

Abb. 10: Kagel, Südosten, Formschema.

In den ersten beiden Abschnitten wird das erste Motiv exponiert und verarbeitet und in den folgenden zwei Abschnitten das zweite Motiv. Im 5. Abschnitt kommt es zu einem musikalischen Höhepunkt, der durch ein Orchestertremolo eingeleitet wird und in einen Milonga mit neuem Motivmaterial mündet. Im letzten Abschnitt wird das erste Motiv im tieferem Klangregister wieder aufgenommen und nach kurzer Zeit durch das zweite Motiv abgelöst, welches schließlich mittels aleatorischen Verfahren in eine klangflächige Textur transformiert wird. Wenden wir uns nochmals dem ersten Motiv zu: Es besteht aus einer a-Moll-Dreiklangfigur, die im Verlauf des Stückes transponiert, in sich alteriert und rhythmisch variiert wird. In den Takten 1 bis 31 wird das Motiv in a-Moll von den einzelnen Instrumenten vorgestellt: Zuerst von der Klarinette, dann der Viola, dem Klavier und dem Violoncello (Takte 1-13). Nach Wiederholung dieses Abschnittes erklingt in den Takten 16-31 das Motiv im ‚Stehgeiger‘, dem Harmonium, der Violine und dem Contrabass. Dieser Teil wird ebenfalls wiederholt. (Die Marimba spielt in diesen Wiederholungsteilen als Einzige das Motiv nicht.)

Erzählen und Musik

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In den Takten 41 bis 52 wird das Motiv jeweils von zwei Instrumenten vorgetragen (mit Ausnahme der Viola ab Takt 50, sie spielt das Motiv solo), wobei es aber bereits alteriert und transponiert wird.76 Kagel geht in seinem Formplan und in der Particellskizze „2“ von der Idee einer „Polytonalität“ aus, in letzterer führt er dies auch aus. (Aus diesem Grund und der Anschaulichkeit halber beziehe ich in der weiteren Darstellung die angesprochenen Dreiklänge aus Grundtöne und Tonalitäten.) Das ursprüngliche Motiv in a-Moll bleibt bei den Transpositionen immer durch ein Instrument zugegen (bis auf Takt 50 und 51), insofern bildet a einen Achsenton: die ersten beiden Transpositionen in c und fis (Takt 41 und 44) stehen dazu im Terzabstand, die beiden folgenden auf h und as (Takt 47 und 50) im Sekundabstand. Ab Takt 61 bis 68 wird eine klangfarbliche Intensivierung erreicht, indem das Motiv gleichzeitig in vier Stimmen beziehungsweise in drei Tonalitäten erklingt, zuerst in a, e und dis (Takt 61), dann in a, b und f (Takt 65). Die Tonalitäten stehen also in beiden Fällen in der Intervallkonstellation kleine Sekunde und Quinte/Quarte zueinander. Von Takt 69 bis 73 erreichen die Dissonanzen ihren vorläufigen Höhepunkt, das Motiv wird von sechs Stimmen bzw. in fünf Tonalitäten dargebracht und in sich alteriert. (So spielt das Harmonium in Takt 69 und 70 in der rechten Hand das Motiv in d-Moll und in der linken Hand in H-Dur, ab Takt 71 dann mit verminderten Quinten. Gleichzeitig einsetzend mit dem Harmonium spielen die Viola und die Marimba das Motiv in g-Moll und in a-Moll. Das Klavier beginnt in der zweiten Hälfte von Takt 69 und alteriert Dreiklänge über d in der rechten und e in der linken Hand.) Die Grundtöne der transponierten Motive ergeben eine mehrfache Symmetrie um den Ton a, entweder in Terzen, Quarten, oder Quinten. Die Motiveinsätze des ersten Abschnitts seien hier nochmals schematisch im Überblick dargestellt:

Abb. 11: Kagel, Südosten, Schema der Tonalitäten des ersten Motivs im ersten Abschnitt. Die Töne repräsentieren die jeweiligen Grundtöne der Tonalitäten.

Durch die allmähliche Zunahme der simultanen Einsätze wird eine formale Steigerung erreicht: Kagel vermerkt dies in seiner Formskizze und spielt dort mit den rein hypothetischen und freilich musikalisch nicht besonders sinnvollen Möglichkeiten „à 6, à 7, à 8, à

76

So spielt ab Takt 38 der Contrabass das Motiv in c-vermindert und c-Moll und die Marimba in avermindert. Ab Takt 43 erklingt das Motiv vom ‚Stehgeiger‘ in fis-Moll, dann variiert in Fis-Dur und vom Violoncello in a-vermindert und dann variiert in Dur und Moll. Ab Takt 47 spielt die Klarinette das Motiv in h-vermindert und Dur und das Harmonium in a-Moll. In der linken Hand sind aber auch die Töne der Klarinette gesetzt, so dass es hier die Klarinetten-Stimme verstärkt. Ab Takt 50 spielt die Viola das Motiv in as-Moll.

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Erzählen und Musik

9“.77 Die Harmonik und Instrumentation trägt dazu bei, die anfängliche Tonalität a-Moll zu verschleiern.78 Insgesamt wird in diesem ersten Abschnitt eine allmähliche Steigerung erreicht, die nur durch klangflächige Zwischenteile (Takte 14-16, 32-40, 53-60) unterbrochen wird. Während das Motiv erst von jedem Instrument vorgestellt wird, wird es ab Takt 41 von zwei, ab Takt 61 von vier und schließlich ab Takt 69 von sechs Stimmen gleichzeitig gespielt. Das Resultat ist eine Intensivierung der Klangfarbe, da die Transpositionen untereinander und mit dem ursprünglichen Motiv in a-Moll dissonieren. Obwohl das ursprüngliche Motiv vielfach wiedergegeben wird, „zerfasert“ es und verliert seinen figurativen Charakter. Die allmähliche Entwicklung des Motivs von einer motivischen Kontur hin zur rhythmisierten Klangfläche wird auch in dem Übergang in den nachfolgenden Abschnitt schlüssig weitergeführt: Ab Takt 75 (siehe folgendes Notenbeispiel) erklingen Moll-Dreiklänge in abwärts gerichteten Arpeggien. Das Tonmaterial dieser Arpeggien lässt sich aus dem ersten Motiv herleiten, ebenso ist die Phrasierung ähnlich gestaltet.

77

78

Kagels Formskizze ist lediglich in abgeänderter Form in die Komposition eingegangen. Ähnliche Skizzen finden sich auch zu Les Idées fixes (siehe Abb. 56) und zur Sequenz des Musikzimmers in Ludwig van (vgl. meinen Aufsatz „Kompositionsweisen in Mauricio Kagels filmischer Arbeit zu Ludwig van“, in: „Alte“ Musik und „Neue“ Medien, hg. v. Jürgen Arndt und Werner Keil (= Diskordanzen. Studien zur neueren Musikgeschichte, hg. v. Werner Keil, Bd. 14), Hildesheim 2003, S. 56-103, besonders die Abbildung auf S. 90. Von dieser Verschleierung bleiben die Periodik und Rhythmik hingegen unberührt. Zwar entwickelt Kagel den Rhythmus aus permutativen Verfahren (wie z.B. auch an anderer Stelle bei Südosten, siehe Kap. V.6), er übernimmt aber in Particellskizze „2“ für das Motiv der von ihm so genannten „Reprise“ (T. 17) das komplette Rhythmusschema des Anfangs, und das ohne Rücksicht auf die unterschiedliche Taktgebung. (Jedoch sind zwei Takte in der Skizze gestrichen.)

Erzählen und Musik

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Abb. 12: Kagel, Südosten, Partiturdruck, S. 18, T. 73-77.

Nachdem im Laufe des ersten Abschnitts dem ersten Motiv zuerst der tonale Zusammenhang genommen wird, verliert es am Anfang des zweiten Abschnitts auch den

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Erzählen und Musik

rhythmischen Zusammenhalt. Die abwärtsgerichtete Bewegung deutet bereits auf das im übernächsten beziehungsweise letzten Abschnitt auftretende ‚afrikanische‘ Motiv hin. Der fünfte Abschnitt (Takte 137 bis 150) lässt sich in einen einleitenden Teil (Etablierung der Tonalität, Takte 137 bis 142) und einen Hauptteil (im Stil eines Milonga, Takte 143 bis 150) gliedern. Dem Abschnitt kommt in formdramaturgischer Hinsicht durch die plötzliche Zurücknahme der Dynamik eine zentrale Bedeutung zu: Ihm geht in Takt 136 ein Tremolo im tutti mit vierfachem forte und extremen Höhen voraus. Darauf folgt unvermittelt ein C-Dur-Akkord mit dreifachem und vierfachem piano. (Diese für Kagel typische Formdramaturgie der Zurücknahme, und besonders das C-Dur, findet sich auch in Les Idées fixes, siehe Kap. VI.6.) Der C-Dur-Akkord wird von Klarinette und Harmonium gehalten und von Klavier und Marimba in Akzenten gespielt, während die Streicher unisono beziehungsweise in Oktavkopplung eine absteigende Melodie, die aus den Tönen c, b, as, g, fis und dis besteht, spielen. Nach einer Fermate verschärft sich der Gesamtklang durch ein fis in der Klarinette und ein dis in der rechten Hand der Harmonium-Stimme. Die Melodie wird fortgesetzt mit den Tönen d, cis, h, a und f und endet schließlich bei Takt 143 auf e. Obwohl der Anfang der Melodie (c, b, as, g) an eine Tangoähnliche Bassfigur erinnert, ist die ganze Melodie (Takte 137 bis 143) eine elftönige Reihe, die durch den ersten Ton e des folgenden Abschnitts (Takt 143 in den Streichern) zu einer 12-Ton-Reihe vervollständigt wird.

Abb. 13: Kagel, Südosten, Umschrift des Parts der Violine aus dem Partiturdruck, T. 137-143.

Dieser durch den ‚Filter‘ der Tonalität abgeleistete Reihenzwang, der hier als Relikt dodekaphoner Ästhetik erscheint, ist auch in dem den Teil einleitenden Orchestertremolo (Takt 136) wirksam. Dort bilden die beiden Liegeakkorde ein 11-Ton-Feld, das durch den fehlenden Ton c in Form des C-Dur-Akkords (Takt 137) vervollständigt wird. Dem skizzierten Reiseplan zufolge befände sich der imaginäre Reisende nun am Amazonas, und in der Tat fände sich im gesamten Stück keine passendere Stelle, das Reiseerlebnis zu schildern. Der ruhige Puls, die flirrenden Klangflächen und der archaische Duktus der Melodie vermittelt etwas von der Erhabenheit des riesigen Stromes. Das stilistische Vorbild für diesen einleitenden Teil ist vermutlich ein Milonga, einer Liedgattung aus Uruguay, Paraguay, Argentinien und Chile. Eine besondere Eigenschaften des Milonga ist es, dass die zumeist absteigenden Melodien in geraden Metren verlaufen, während die Begleitung im 6/8- oder 3/4-Takt gehalten ist. 79 Das Gegeneinanderstellen von verschiedenen Metren ist auch in dieser Passage zu finden, jedoch verkompliziert: So spielt die 79

William Gradante, Art. „Milonga“, in: Grove2, Bd. 16, S. 706.

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rechte Hand der Klavier-Stimme Betonungen im 6/8-Metrum, die Marimba hält bis Takt 141 das gleiche Metrum, setzt aber drei 16tel später ein. (Die abweichende 7/8Taktvorschreibung hat keine Auswirkung auf die Metrik.) Die absteigende Melodie folgt hingegen keinem regelmäßigen Metrum. Die Überlagerung dieser Rhythmen führt zu einer Polymetrik. Im nachfolgenden Teil von Takt 143 bis 150 finden sich weitere charakteristische Elemente aus dem Tango: Der ‚Stehgeiger‘, die Violine und die Viola spielen unisono eine für den Tango typische auftaktige Figur (siehe vorige Abbildung, letzter Takt), die im harmonischen Kontext a-Moll gesetzt ist und mit den im pianissimo geführten Klän gen des Klaviers dissoniert. Ein weiteres Element, was an den Tango erinnert, ist das chromatische Absteigen des Akkordgrundtons in den Akkordfortschreitungen des unisono gespielten Arpeggio (Takt 143: a-Moll) von Klarinette und Harmonium. In Takt 144: ergibt sich daraus der Akkord gis-e-c. Die Erwartungshaltung wird aber in Takt 145 enttäuscht. Statt des in diesem tonalen Zusammenhang zu erwartenden, ‚richtigen‘ Tons g erklingt ein verminderter Dreiklang auf a, der anfängliche Akkord a-Moll wird einer nochmaligen Alteration unterzogen. Mit weiteren, ähnlich gestalteten Akkordbehandlungen, die im Kontext des Tango zwar ‚falsch‘, aber durch ihre konsequente Weiterführung melodisch ‚richtig‘ klingen, wird die angespannte Hörerwartung durchgehend aufrechterhalten, und schließlich ein g7, 9-Akkord erreicht (Takte 149 und 150). Weitere Verfremdungen werden durch die Stimmen der Violinen und der Viola erzeugt. Von dem ‚Stehgeiger‘ erklingt nach dem unisono das zweite, ‚afrikanische‘ Motiv, welches von der Violine und der Viola gekoppelt, jedoch in realer Transposition begleitet wird. Diese Koppelung wird bis zu Takt 149 durchgehalten, bei jedem neuen Einsatz wird das Maß der realen Transposition aber verändert. So wird die Melodie des ‚Stehgeigers‘ durch die beiden anderen Streicher zuerst um eine kleine Terz und eine kleine None, dann um eine kleine Septime und kleine None, Quinte und große Tredezime, große Sexte und oktavierte kleine Septime, große Terz und oktavierten Tritonus und schließlich um eine kleine Sekunde und kleine Dezime real transponiert. Kombiniert wird dies mit den motivischen Variationen im ‚Stehgeiger‘, wie zum Beispiel das Ersetzen des Quartsprungs durch einen Sekundgang (Takt 146) oder die Alteration der vormals gemischten Terzabstände in große (Takt 147) und kleine Terzen (Takt 148). Diese Art der Motivverarbeitung taucht bereits im 4. Abschnitt auf. So sind beispielsweise in Takt 112 (Marimba und Viola) die Terzen des Motivs durchgehend kleine. In Takt 118 (Harmonium und Violoncello) wird das Motiv sogar gestaltverändernd variiert: Die Quartabstände werden zu kleinen Sekundabständen verkleinert, so dass das Motiv zur diminuierten Umkehrung seiner selbst wird: ging es vormals sprungweise abwärts, geht es nun schrittweise aufwärts. Jedoch ist auch hier das Motiv immer noch klar erkennbar, da es entweder von einem Instrument oder von mehreren unisono gespielt wird. Also wird das zweite Motiv, ähnlich wie bereits mit dem ersten Motiv im ersten Abschnitt geschehen, durch die reale Transposition zerfasert. Anders als dort, erhält die Verfremdung im fünften Abschnitt, dem Milonga-Teil, jedoch eine weitere Dimension: Die Zerfaserung findet nicht mehr durch das simultane Erklingen und die damit einhergehende Auflösung der Konturen statt – dies widerlegt der Schluss der Komposition, in welchem das Motiv trotz seiner Auflösung in ein fluktuierendes Klangfeld immer noch erkennbar ist. Die ursprüngliche, gestalthafte Qualität des Motivs mag eher in seiner

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Erzählen und Musik

Eingebundenheit in den Kontext der Heptatonik, liegen, welche aber durch die reale Transposition in der Violine und der Viola sowie durch die gleichzeitige Alteration innerhalb des Motivs zerstört wird. Die Stimme des Klaviers scheint in dieser Milonga-Passage keinem vorgegebenen tonalen Zusammenhang zu folgen, die Dissonanzen tragen (auch durch die zurückgenommene Dynamik) eher zu einer Verschärfung der gesamten Klangfarbe bei. Aber auch hier scheinen die grundtonbezogenen Dreiklänge regulierend zu wirken, jedoch, wenn man die linke und rechte Hand unabhängig voneinander interpretiert: In der rechten Hand ist eine Tendenz zu G-Dur (beispielsweise in Takt 148) erkennbar, in der lin ken Hand begegnen fast durchgängig Dreiklänge, beispielsweise G- und F-Dur aufeinander folgend (Takt 1436 bis 1443), c- , es- und a-Moll aufeinander folgend (Takt 1446 bis 1457), und g-Moll in Takt 148. Diese Akkorde werden jedoch nicht durch Kadenzen geschlossen und stabilisiert. Vielmehr lassen sich die Terzfiguren im Klavier mit der Motivverarbeitung beim ‚Stehgeiger‘ vergleichen, wie zum Beispiel in den Takten 146 und 148, in denen der Quartsprung des zweiten Motivs durch einen Sekundschritt ersetzt wird, und das ganze Motiv in eine aufsteigende Figur verwandelt wird. Kagel stellt durch diese Veränderung die aufwärtsgerichteten Terzsprünge als ein für das zweite Motiv konstitutives Element heraus. Insofern liegt es nahe anzunehmen, dass Kagel auch bei dem Entwurf des Klavierparts nicht von grundtonbezogenen Akkorden ausging, sondern eher den konstitutiven Terzsprung des zweiten Motivs in Arpeggien auskomponierte. Das Werk erscheint als eine Hommage an alte Musikkulturen; das tatsächlich ältere Motiv der afrikanischen Heptatonik beherrscht am Ende die Komposition, oder in Kagels Worten, es „unterwandert“ diese.80 Gewahrt man jedoch auch die fortwährenden Motivauflösungen, so entsteht der Eindruck, dass es des Komponisten einziges Ziel war, die Motive mit allen kompositorischen Mitteln zu vernichten. Diese kompositorische ‚Zerarbeitung‘ wird aber durch die ‚musikalische Erzählung‘ unterminiert, das historisch betrachtet ältere und ursprünglichere zweite Motiv gewinnt in der musikalischen Handlungsfolge am Ende die Oberhand. Beispielweise bildet die Terz, das konstitutive Inter vall beider Motive, immer wieder in der Komposition ein bildnerisches Potential, auf das der Komponist nicht verzichten kann. Der Komponist gibt sich zum Schluss ‚geschlagen‘, lässt die Eigendetermination der Aleatorik walten und die Musiker verneigen sich demütig gen Südosten (beziehungsweise in die entgegengesetzte Richtung). Lässt man die narratologische Interpretation nicht nur für das musikalische Geschehen gelten, die ‚Reise nach Südosten‘, sondern auch für das Komponieren, welches hier während des musikalischen Erklingens thematisiert und in gewisser Weise auch inszeniert wird, thematisiert Kagel mit der Figur eines scheiternden Komponisten auch den Prozess der Komposition an sich. Diese angenommene zweite narrative Schicht, das Darstellen des Dramas des Komponierens, ließe sich als Meta-Komposition deuten.

80

Kagel, Begleittext Windrose, S. 14.

Erzählen und Musik

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Eine solche narratologische Analyse ergibt zwar einen Erkenntniszuwachs, ist demnach als Analysemethode gerechtfertigt, jedoch funktioniert sie nur bei Werken, denen ein Programm vorangestellt ist, oder die, wie zum Beispiel Beethovens Sonaten, durch ihre stetige Einschreibung in die Rezeptionsgeschichte und der daraus resultierenden Ästhetik sozusagen einen Erkenntnisfokus vorschreiben. Werke, die nicht nach dem Modell „Per aspera ad astra“ oder nach einem Programm funktionieren, können womöglich nicht hinsichtlich einer Handlung oder einem plot untersucht werden. (Dass die Narratology sich nur auf die kanonisierten Meisterwerke der Klassik und Romantik beschränkt, ist einer der Hauptkritikpunkte.) Dieses methodische Dilemma lässt sich auch für dieses Werk nicht lösen. Viel interessanter erscheint mir, dass an den beabsichtigten und unbeabsichtigten plots von Südosten eine generelle Haltung des Komponisten exemplifizierbar ist, die ähnlich wie die des Ironikers zwischen den Polen der Distanzie rung und der Affirmation oszilliert. Die kompositorische Distanzierung drückt sich zum einen auf der Ebene des plots in einer erzählerischen Perspektivierung aus, zum anderen im grundsätzlichen Infragestellen des Komponierens, also des ‚Schreibens‘. Insofern ähnelt dieses Verhältnis des Komponisten zum Werk demjenigen, welches in der moder nen und postmodernen Literatur zwischen dem Autor und dem Text zu beobachten ist.

5

Erzählsysteme

Nachdem das Erzählen in Musik grundsätzlich angenommen und am Beispiel von Südosten problematisiert wurde, stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, auf eine Erzähltheorie, die sich bewusst auf epische Textsorten beschränkt, zu rekurrieren, wenn das Erzählen erstens gattungsübergreifend zu konstatieren, zweitens nicht unbedingt von Sprache abhängig und drittens nicht auf Handlung angewiesen ist und sich somit lediglich durch die Mittelbarkeit des Autors zum Erzählten äußert. Würde der Rückgriff auf eine so spezialisierte, eng gefasste Theorie nicht die oben genannten Thesen aufweichen oder in ein zu enges Bezugsfeld fassen? Das Entscheidende und Gewinnbringende an Jürgen H. Petersens 1993 herausgegebener Poetik epischer Texte – so der Untertitel – gegenüber anderen Erzähltheorien ist die Etablierung einer Erzählerinstanz, die zwischen den Autor, also den tatsächlichen Verfasser, und die Erzählung tritt. Im Folgenden seien Petersens Kriterien des Erzählens dargestellt, wobei der analytische Befund von Südosten teilweise mit herangezogen werden soll: Petersen entkoppelt den literarischen Autor von der Figur des Erzählers (beziehungsweise Narrators) in der Form, dass der Autor in Distanz zum Erzähler treten kann. Das ist an sich nichts Außergewöhnliches: Die Entdeckung, dass der Autor (also der Mensch, der tatsächlich am Schreibtisch sitzt) und der Erzähler (derjenige der zum Leser spricht) nicht identisch sein müssen, ist so alt wie die Literatur selbst. Die strikte Systematisierung macht Petersens ‚Poetik‘ aber interessant, sie beschreibt, wie der Autor, der Erzähler und das Erzählte durch unterschiedliche Techniken in ein Verhältnis zueinander treten.

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Erzählen und Musik

Petersen nennt seine Kriterien (1.) Der Standort des Erzählers (point of view), (2.) Sichtweisen, (3.) Erzählverhalten, (4.) Erzählhaltung, (5.) Arten der Darbietung, und (6.) Sprachstile, die alle zur Reliefbildung: dem Perspektivismus des Erzählens beitragen.81 Unter dem Standort des Erzählers versteht er „das raum-zeitliche Verhältnis des Narrators zu den Personen und Vorgängen, die er schildert und berichtet“. 82 Dieses Verhältnis könnte besonders leicht bei Musik beobachtet werden, in der zeitlich oder räumlich ent fernte Musiken verwendet werden. Beispielsweise wird in Südosten die historisch ältere Heptatonik Südafrikas und die jüngere Begleitfigur des kubanischen Son genutzt. Der erzählerische Zugriff funktioniert dabei auch hörbar, und zwar indem Kagel das ent fernte, afrikanische Motiv gegenüber dem kubanischen von vornherein weniger konturiert setzt. Es klingt daher auch ‚wie aus der Ferne gespielt‘. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass der so genannte Standort des Erzählers nicht unbedingt gleichzusetzen ist mit dem des Komponisten Kagel, sondern dass der Standort des Erzählers sich ändern kann. Insofern ließe sich bei den Stücken der Windrose zwischen dem Komponisten Kagel (an seinem Schreibtisch in Köln) und den verschiedenen, vom Autor angenommenen Standorten eines Erzählers unterscheiden. Im Falle Südostens wäre dies vielleicht ein Flugreisender. Mit Sichtweise bezeichnet Petersen das Erzählverfahren, „sich auf die Beschreibung der Außenseite aller Figuren zu beschränken oder in sie hineinzublicken“. 83 Auf Musik übertragen ließe sich fragen, ob und wie die Instanz des Erzählers in verschiedene Musiken und Kompositionstechniken ‚eindringt‘. Beispielsweise können Musiken emblematisch, quasi als reines Klangzeichen, verwendet werden: Der Erzähler vermag nicht in sie einzudringen, sie offenbaren ihm lediglich ihre Außensicht. Besonders musikalische Zitate oder Versatzstücke berechtigen ihr erstes ‚Auftreten‘ zumeist aus ‚sich selbst‘, sie werden somit in erster Linie präsentiert. Erst im Laufe des Werkes werden sie kompositorisch ‚verarbeitet‘, wie zum Beispiel die beiden Motive aus Südosten. Erst im Laufe der Komposition werden ihre Charakteristika, d.h. ihre musikalisch-parametrischen Eigenschaften, aus denen sie ihr So-Sein musikalisch definieren, offen gelegt und musikalisch genutzt. (Motivisch-thematische Entwicklung wäre in diesem Zusammenhang generell als ein perspektivisches Eindringen in die musikalische Figur zu deuten.) Ebenso können verschiedene Eigenschaften von Musiken sich auf Ebene der Struktur äußern, ohne dass diese als solche wahrnehmbar ist. Das Vorhandensein einer komplett dodekaphonen Struktur, die zwar in den Kontext der Tonalität eingebunden, aber nicht erkennbar ist, lässt sich in diesem Zusammenhang als eine Innensicht auf den Topos Dodekaphonie verstehen; der Erzähler ‚schaut‘ gleichsam von dem Standort und der Sichtweise der Dodekaphonie auf die Tonalität. Ebenso lässt sich eine erzählerische Sicht81

82 83

In seinem Kapitel „III. Praxis“ unterscheidet er dabei zwischen „Stabilen Systemen, Variablen Systemen und Inkohärenter Systemvielfalt, die das Erzählsystem auflösen können.“ (Petersen, Erzählsysteme, S. 95-153.) Petersen, Erzählsysteme, S. 65. Diese Kategorie ist etwa vergleichbar mit dem point of view der angelsächsischen Erzähltheorie. Ebd., S. 67.

Erzählen und Musik

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weise in umgekehrter Richtung annehmen, und zwar in Fällen, in denen die Dodekapho nie unvermittelt als Topos, oder sogar als Fremdkörper, im musikalischen plot oder der Komposition erscheint. In solchen Fällen wäre der Standort des Erzählers außerhalb einer zwölftönigen Struktur, seine Sichtweise erscheint in diesen Momenten von der Tonalität geprägt. Mit Erzählverhalten meint Petersen „das Verhalten des Narrators zum Erzählten, und zwar nicht im Sinne einer Wertung, sondern in der Präsentation einer Geschichte“. Hierbei unterscheidet er zwischen auktorialem, personalem und neutralem Erzählverhalten: 84 Verhält sich der Erzähler auktorial, so bringt er sich selbst ins Spiel, indem er das erzählte Geschehen keineswegs auf sich beruhen läßt, sondern eigene Meinungen, zusätzliche Überlegungen, Kommentare, also eine Subjektivität wirksam werden läßt. Welcher Art diese Stellungnahmen sind, bleibt dabei offen; dergleichen erfaßt die Kategorie der Erzählhaltung. Aber daß das epische Medium sich überhaupt einmischt, bezeichne ich – hier durchaus in etwa Stanzel folgend – als auktoriales Erzählverhalten.85

Beim personalen Erzählverhalten erzählt der Narrator „aus der Perspektive der Figur.“ 86 Dies muss aber nicht kohärent sein mit der Innensicht, das heißt, der Erzähler kann zwar in die Figur hineinblicken, kann jedoch auktoriales Erzählverhalten an den Tag legen. Ebenso muss das personale Erzählverhalten nicht übereinstimmen mit der Erzählhaltung; der Narrator ist in der Lage, aus der Perspektive der Figur erzählen, ohne sich notwendigerweise mit ihr zu identifizieren. Das neutrale Verhalten zeichnet sich dadurch aus, das der Erzähler „weder aus der Sicht der Figuren noch aus seiner eigenen“ spricht: „Wir beobachten genau das, was Otto Ludwig als ‚szenisches Erzählen‘ bezeichnet hat: Wie auf einer Bühne reden die Figuren, wir nehmen ihre Einlassungen ganz direkt wahr.“ 87, unter anderem bei Dialogen mit fehlender inquit-Formel. Als Beispiel für das neutrale Erzählverhalten sei eine Passage aus Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz zitiert: „Was will er bei uns? Ick hab gesagt, er is verrückt, er is woll dämlich, jawoll hab ick ihm gesagt, wenn man bloß eenen Arm hat und kommt und will bei uns mitspielen. Und er.“ Pums: „Na, wat sagt er denn?“ „Wat er sagt: der lacht und grient, der is eben kreuzdämlich, der muß een Klapps von damals haben. Ick denk erst, ick hör nich recht. Wat, sag ick, mit dem Arm? Nanu, warum nicht grient der, er hat Kraft genug in dem andern, ich soll mal sehen, er kann stemmen, schießen, sogar klettern, wenn sein muß.“ „Is denn wahr?“ „Geht mich doch nischt an. Der 84 85

86 87

Petersen, Erzählsysteme, S. 68. Ebd., S. 68. Vgl. auch Franz K. Stanzels Typologie in: Theorie des Erzählens, S. 240-257 und seinen so genannten Typenkreis im Anhang. Wenn Stanzel die Ich-Erzählsituation von der auktorialen und personalen Erzählsituation zu unterscheiden versucht, kombiniere er nach Petersen „Unvergleichbares“: „Stanzel unterscheidet die Ich-Erzählsituation von der auktorialen und der personalen Erzählsituation, stellt also einer Erzählform zwei Arten epischen Verhaltens gegenüber: das Hervortreten des Narrators mit Hilfe von Reflexionen etc. und sein Verschwinden hinter den Figuren. Das Erzählverhalten hat aber mit der Erzählform nichts zu tun, ist ihr jedenfalls nicht entgegenzusetzen, was sich schon daran zeigte, daß es durchaus ein auktoriales Erzählverhalten in der der Ich-Form gibt.“ (Petersen, Erzählsysteme, S. 68) Petersen, Erzählsysteme, S. 70. Ebd., S. 76-77.

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Erzählen und Musik gefällt mir nicht. Wollen wir denn son Kerl haben? Du etwa, Pums, können wir bei der Arbeit noch brauchen. Überhaupt, wenn ick den mit sein Bullengesicht sehen, nee, hör uff. 88

Der Erzähler gibt sich in dieser Passage nur durch das Anbringen des Figurenvermerks „Pums:“ zu erkennen, nimmt also ein neutrales Erzählverhalten ein. Seine Sichtweise beschränkt sich auf die Außensicht, ebenso verhält es sich mit seinem Standort. Er fungiert hier als Dokumentarist. Das Erzählverhalten als Spezifikum bestimmter musikalischer Kompositionen wiederzufinden ist hingegen problematisch, da Musik sich in dieser Hinsicht generell als Szenisches gibt, so dass eine Erzählhaltung a priori als eine neutrale zu deuten ist. Es mag so etwas wie musikalische inquit-Formeln in der Musik geben, und viele Einleitungen von Musiken, denen das ‚eigentliche Geschehen‘ erst später folgt, können als inquit-For meln gedeutet werden, aber für die Musikanalyse ist das Erzählverhalten als tragfähige Kategorie kaum zu etablieren, da das ‚Gesagte‘ und der ‚Sprechakt‘, in der sich diese inquit-Formel bemerkbar machen würde, nur schwer zu differenzieren sind. Erzählhaltung bezeichnet die „wertende Einstellung des Erzählers zum Erzählten“, die sich durch ironische Distanz, Affirmation, Anklage und ähnliches ausdrücken kann. 89 So ist obiges Beispiel aus Berlin Alexanderplatz zwar neutral in seinem Erzählverhalten, aber durch die Auswahl dieses Dialogs mit seinen Eigentümlichkeiten sicher wertend in seiner Erzählhaltung. Wie bereits schon in Bezug auf die Ironie und an Helga de la Motte-Habers Begriff der ästhetischen Haltung dargestellt, ist die Erzählhaltung eine übergreifende Kategorie, die sich in einem Kunstwerk unter anderem als Ironie ausformen kann. In musikalischer Hinsicht kann sich diese Erzählhaltung in der Art der Darstellung ausdrücken, zum Beispiel in der Vorbereitung von Klängen und Formabschnitten. Anhand dieser Kategorie lässt sich fragen, wie Harmonien und Dissonanzen gegeneinander gesetzt werden und ob sich in dieser Behandlung eine Bewertung erkennen lässt. Arten der Darbietung sind unter anderem der Erzählerbericht, die erlebte Rede, die indirekte Rede, der innere Monolog oder die direkte Rede. In Musik ließen sich diese unterschiedlichen ‚Reden‘ in der Aufeinanderfolge von heterogenen Abschnitten und deren Verfahrensweisen erkennen, zum Beispiel in polystilistischen Passagen oder in angewandten Collage- und Montageverfahren. Beim Sprachstil werden sprachliche Besonderheiten untersucht, die dem Text ein besonderes Gepräge geben und unter anderem über das Erzählverhalten und die Erzählhaltung Aufschluss geben. Indikatoren für das Vorhandensein eines Sprachstils sind, wie auch bei voriger Kategorie, verschiedene Stilmittel und deren Collage und Montage. So ließen sich bei Südosten der generelle Sprachstil hinsichtlich der ‚Fremdmusiken‘ und der Art und Weise, wie sie eingebunden wurden, untersuchen. Der Sprachstil in einer Erzählung ist nicht mit dem Sprachstil des Autors, also dem so genannten Personalstil iden tisch. Insofern wäre Kagels Serielle Tonalität auf ihre Eigenschaft als Personalstil Kagels 88 89

Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf, 29. Aufl., München 1990, S. 278. Petersen, Erzählsysteme, S. 78.

Erzählen und Musik

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zu untersuchen, aber auch auf seine speziellen Eigenschaften als Sprachstil, der für dieses eine Werk, Südosten, bewusst gewählt wurde. Der Grad der Bewusstheit und Anwendungsbezogenheit eines Stils unterscheidet zwischen Personalstil und Sprachstil.90 Die Benutzung der oben genannten, von Petersen aufgestellten Kriterien und der Wechsel dieser innerhalb des Textes führt schließlich zur Reliefbildung.91 Diese von Petersen im Rahmen seiner Poetik aufgestellten Kategorien sind sicher nicht alle auf musikalische Komposition übertragbar, sicher wird es auch nicht damit erledigt sein, die für die Musik als sinnvoll erachteten Kriterien dieser Poetik ohne weiteres in die Beschreibung zu übernehmen und sie zum Beispiel ‚Kompositionsverhalten‘ und ‚Kompositionshaltung‘ zu nennen. Damit wären auch die künstlerischen Entscheidungen auf der Ebene der Komposition (Technik) und auf der Ebene der musikalischen Erzählung (oder auch Entwicklung) noch nicht näher benannt. Dennoch bietet Petersens Poetik einen entscheidenden Vorteil gegenüber anderen Erzählsystemen, nämlich die Etablie rung einer Instanz zwischen dem Autor (Komponist) und der Erzählung (Komposition). Allein mit dieser Grundannahme ließen sich zwei musikästhetische Aspekte nachhaltig novellieren: Zum einen wird mit der Vorannahme eines Erzählers die in der Ästhetik über die musikalische Moderne und Postmoderne immer noch anzutreffende unausgesprochene Vorstellung einer Bekenntnishaftigkeit des Komponisten hinterfragt. Zum anderen lässt sich die Systematik dieser Poetik nutzbar machen, um die Frage, was Ironie in der Musik ist und wie sie funktioniert, von der eingeschränkten Diskussion um Stilhöhen oder ähnliches auszuweiten und für die Analyse und die Interpretation zu kategorisieren. Wo ist aber der Erzähler beziehungsweise die Erzählinstanz zu suchen? Zum einen kann der Erzähler in seinem erzählerischen Zugriff geortet werden, zum Beispiel in Südosten in der Art und Weise, wie verschiedene Musiken miteinander verarbeitet werden, 90

91

In der auf Michail Bachtin gründenden Terminologie lässt sich dieser Sprachstil als die bewusste Aufeinanderfolge von Repräsentation bezeichnet. Wenn dem so ist, erscheint Heiles Übernahme dieses Terminus aber problematisch, da er mit dem Begriff der Repräsentation die klanglichen Phänomene bezeichnet, die schon erzählen, also auf das Erzählte verweisen, d.h. Musik wäre schon Repräsentation von Kontexten. Wenn man jedoch ein Klangereignis als Repräsentation bezeichnete, was nichts anderes bedeutet als ‚Art der Darbietung‘, was ist dann das Dargebotene? Wäre es das Außermusikalische, also der Kontext? Bachtin arbeitet schließlich noch mit weiteren Instanzen, der Handlung, Sprache usw. Ein Versuch, Bachtins Modell gerecht zu werden, könnte darin bestehen, zunächst die stilistische Behandlung von Musik als Repräsentation aufzufassen, wobei aber Kontexte repräsentiert werden, die außerhalb der Musik liegen. Obwohl die Metapher des Reliefs sehr griffig erscheint, ist sie gerade in Bezug auf eine Zeitkunst wie Musik nicht sofort einsichtig und bedarf einer pragmatischen Erklärung: Petersen schien sie verwendet zu haben, da sie den Text in der nichtzeitlichen Form beschreibt, also als ganzes Stück, ähnlich eines Wandreliefs. Betastet man dieses Relief aber mit den Fingern, so erlebt man die Erhe bungen und Vertiefungen als ein Zeitliches. Die einzelne Erhebung gibt aber noch keinen Aufschluss über die Gestalt und das Aussehen des Reliefs, nur über die Art und Weise von dessen Beschaffenheit. Erst die Gesamtsicht (oder die gedankliche Rekonstruktion des Erfühlten) auf das Relief, d.h. die Summe aller Erhebungen, zeigt das Bild. Insofern scheint mir diese Metapher auch auf Musik als Zeitkunst übertragbar, da auch Musik als Zeitkunst ihre gesamte Gestalt nur auf Ebene der Erinnerung und der Reflexion preisgibt.

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die dann durch bestimmte Mittel in Syntax, Ausdruck und Semantik den Charakter des Erzählenden annehmen können. Es ist bei diesem erzählerischen Zugriff belanglos, ob der Erzähler sich als solcher zu erkennen gibt oder nicht. Schließlich sagt auch ein litera rischer Erzähler nicht immer „ich“. Zum anderen kann dieser Erzähler, wie auch der Erzähler in einem Roman, figürliche Züge annehmen und im Laufe der Handlung, die er erzählt, einen Konflikt durchleben. Dieser ‚Konflikt‘ oder dieses ‚Handeln im Erzählen‘ ist meines Erachtens sehr gut in Südosten nachzuvollziehen, wo der Erzähler beziehungsweise der ‚erzählende Komponist‘ einen Konflikt erleidet. Die Figuren und Motive der musikalischen Erzählung erscheinen und verschwinden ohne seinen Einfluss, sie scheinen sich zuweilen seinen Bestrebungen zu widersetzen. Dieses Erzählen ließe sich als eines begreifen, welches auf Ebene der Komposition geschieht und damit wiederum Komposition in Musik darstellt. Das erzählerische Moment dieses Konflikts erzeugt ein fiktionales raumzeitliches Kontinuum, die Diegese. Das Erzählen thematisiert damit immer auch den Schaffensakt, das kompositorische und schöpferische Subjekt reflektiert über das Erzählen auch das Erschaffen und Komponieren. Dieses Selbst-Thematisieren des Subjekts, welches in der ‚höheren Erzählebene‘ Südostens anzutreffen ist, begegnet auch in zahlreichen Beispielen der Literatur. Eines dieser Beispiele ist Kurt Vonneguts Roman Breakfast for Champions 92, in dem er verschiedene Erzählebenen entwirft, miteinander vergleicht und mitunter auch verschränkt. Er thematisiert den Schöpfungsakt des Autors, wenn er über die Nebenfigur Eliot Rosewater schreibt: Ich hatte ihn natürlich erfunden – und seinen Piloten auch. Ich hatte Colonel Looseleaf Harper, den Mann, der die Atombombe auf Nagasaki abgeworfen hatte, ins Cockpit gesetzt. In einem anderen Buch habe ich Rosewater zu einem Alkoholiker gemacht. Inzwischen hatte ich für seine einigermaßen totale Ausnüchterung, veranlaßt durch den Bund für alkoholfreien Verkehr, gesorgt. Ich hatte ihn in seiner neugewonnenen Nüchternheit in die Lage versetzt, sich mit den vermeintlichen geistigen und körperlichen Vorzügen von Sexualorgien mit Fremden in New York City bekannt zu machen. Er war vorerst über eine gewisse Verwirrung nicht hinausgekommen. Ich hätte für einen ihn und auch den Piloten betreffenden tödlichen Unfall sorgen können, aber ich ließ sie beide am Leben. Und so landete ihr Flugzeug ohne Zwischenfall. 93

Im Laufe der Geschichte findet sich nicht nur der allwissende Erzähler zu seiner Über raschung in der Handlung wieder, sondern auch Vonnegut selbst als Figur. Er, ‚Vonnegut‘, gibt sich zum Schluss des Romans der Hauptfigur Kilgore Trout als Schöpfer dessen Universums zu erkennen, natürlich nicht, ohne seine Allmacht zu beweisen: Ich beförderte ihn zum Tadsch Mahal und dann nach Venedig und dann nach Daressalam und dann zur Oberfläche der Sonne, wo die Flammen ihn nicht verschlingen konnten – und dann wieder zurück nach Midland City. Der arme Mann brach in die Knie. Das erinnerte mich daran, wie meine [d.h. Vonneguts] Mutter und Bunny Hoovers [d.h. eine Nebenfigur des Romans] Mutter sich aufführten, wenn jemand sie zu fotografieren versuchte. Als er nun vor mir kauerte, beförderte ich ihn zum Bermuda seiner Kindheit und ließ ihn dort Betrachtungen anstellen über das unfruchtbare Ei eines Bermuda-Adlers. Ich brachte ihn von dort in das Indianapolis meiner 92 93

In der deutschen Übersetzung etwas unglücklich übersetzt mit Frühstück für starke Männer, Reinbek bei Hamburg 1977. Die weiteren Zitate sind dieser Übersetzung entnommen. Vonnegut, Frühstück für starke Männer, S. 186-187.

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Kindheit. Ich ließ ihn dort in einem Vergnügungszentrum einen Mann im letzten Stadium der Syphilis und eine Frau mit einem kürbisgroßen Kopf sehen.94

Neben dieser Tour de force durch die Erzählebenen und die ‚Diegesen‘ (die raum-zeitlichen Universen der Erzählung, der Romanfigur und des Autors) mischt sich zusätzlich auch ein stark autobiographischer Zug. Unter anderem stattet Vonnegut seine Figur Kilgore Trout mit Merkmalen seines ‚echten‘ Vaters aus. All dem liegt eine Ironisierung des Schreibaktes zugrunde, die auf eine hypertrophierte Ironisierung hinausläuft. Diese Ironie ist durchaus postmodern, denn der Autor ironisiert ‚als Erzähler‘ seine Position als schaffender Autor. Beispielsweise reflektiert Vonnegut sich in seiner Funktion als allmächtig Schöpfender, gleichwohl er während eines Auftrittes als Figur innerhalb der Diegese von seinen Geschöpfen auch angegriffen und verletzt wird. Vonneguts Roman legt die grundsätzliche Infragestellung des Schreibens als eine des Erschaffens von Diegese aus. Der inflationäre Gebrauch des Wortes „ich“ in dieser Erzählung wird durch die Instanzen Figur, Erzähler und Autor ‚Vonnegut‘ zugleich vervielfacht als auch in dessen Bedeutung aufgelöst. Die stetige Selbstthematisierung des Künstlers lässt Zweifel dar über aufkommen, ob er sein eigentliches Ziel, nämlich Romane zu schreiben, überhaupt verfolgen kann. Diese von Seiten des Autors angebotenen Reflexionsebenen, ebenso wie die Darlegung der Möglichkeiten der Identifikation und Nicht-Identifikation im erzählerischen Akt, bilden auch in Kagels Werken und namentlich in Südosten die Grundlage der künstlerischen und kompositorischen Entscheidungen.

94

Vonnegut, Frühstück für starke Männer, S. 202. Letzterer Satz bezieht sich auf Vonneguts im Vorwort des Romans mitgeteilte autobiographische Erlebnisse. – Eine ähnliche transzendente, wenn auch viel flüchtigere Erfahrung durchlebt der Protagonist Arndt in Helmut Kraussers Roman UC, in der der Autor einfach als der liebe Gott auftritt: „Und er sah vor dem Fenster ein Wesen, ein Wesen von großer Leuchtkraft und Schönheit, und wußte im Moment, als er das Wesen sah, daß er dem Wächter aller Wächter, mehr noch, dem Chef, dem Schöpfer, dem Maximus Creator ins Antlitz sah. [...] ‚Ja.‘ Sagte das Wesen. ‚Deine Zeit ist gekommen, gegangen, und wird immer sein.‘ So sprach das leuchtende Wesen, und in seinen Zügen lag Majestät und Verständnis. Zuversicht. ‚Sag mir, wie ich dich nennen soll.‘ [in Kleindruck bzw. leise] ‚Helmut.‘ [normal] Arndt beugte sich vor, um besser zu verstehen. Seine Finger halten nichts mehr fest. Er stürzt.“ (Helmut Krausser, UC, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 474-475.) Die umfassende Paranoia des Protagonisten Arndt, die ihn während der gesamten Erzählung umtreibt und nach Kräften psychologisiert oder mystifiziert wird, erhält im Augenblick seines Todes ihre ironische Auflösung außerhalb des diegetischen Universums.

III.

Intermedialität und Musik

Der Aspekt der Selbstthematisierung des Subjekts, der im vorigen Kapitel durch die Konstellation des Autors/Erzählers problematisiert wurde, führt zu dem nächsten Themenkomplex, der Intermedialität. Anders als das Präfix „inter-“ vermuten lässt, wird sich das Subjekt, auf dessen Suche diese Arbeit ist, nicht ‚zwischen‘ den Medien finden lassen, sondern die Intermedialität ist als künstlerische Ausformung der Suche des Subjekts ‚nach sich selbst‘ zu verstehen. Unter anderem werden sich die Collage- und Montageverfahren als unmittelbarer Ausdruck der Verunsicherung des Subjekts in der Moderne beschreiben lassen. Insofern äußern sich durch sie Wahrnehmungsweisen, die Aufschluss über die Verfasstheit des Subjekts geben. Ein weiterer Aspekt, der die Intermedialität betrifft, ist der den technischen Aufzeichnungs- und Wiedergabemedien genuine und zugleich widersprüchliche Anschein der Unmittelbarkeit und Authentizität, welche Kagel besonders in Exotica thematisiert.

1

Zum Terminus

Die Intermedialität in Kagels Werken ist als Konstante so grundlegend und umfassend, dass eine Thematisierung dieses Aspekts leicht zu Allgemeinplätzen führen kann. So begegnen in Kagels Werk immer wieder Werkgruppen, die auf einer gemeinsamen Idee basieren, und deren Transformation in ein anderes Medium sich im medienkomparatistischen Sinne als Medienwechsel bezeichnen lässt.95 Bei der Rezeption von Kunst, die mit 95

Der Begriff ‚Medienwechsel‘ ist besonders in der medienwissenschaftlichen Forschung über Literaturverfilmung verbreitet, bietet aber einiges Potential zum Missverständnis. Freilich kann es keinen vollständigen Medienwechsel geben, da einige Charakteristika, welche den Medien bereits schon zu eigen sind, evtl. auch in ihrer Form übernommen werden können, z.B. die Narrativität von Roman und Erzählfilm. Ebenso ist der Begriff auf Kagel angewendet defizitär, bleibt die Musik doch bei all den zu beobachtbaren Medienwechseln immer eine grundlegende medienübergreifende Konstante. Dennoch erscheint mir diese Art der Betrachtung sinnvoller, als kategorial unterschiedliche Phänomene mit begrifflichen Anleihen aus der französischen Intertextualitätstheorie (u.a. von Julia Kristeva oder Gérard Genette) vollends zu verdecken, wie dies gerade in der neueren musikästhetischen Forschung über das 20. Jahrhundert getan wird. Das Grundproblem der Anwendung von Intertextualitätstheorien auf Musik ist eines, das die Medien betrifft: Ist eine klingende Melodie ein ‚Text‘? Und was unterscheidet diesen ‚Text‘ von seiner Niederschrift als Text? Zu dieser Problematik siehe auch Nikša Gligo, „Text als Musik – Text als Literatur? Ansätze zu einer musikalischen ‚Intertextualität‘“, in: Musik als Text. Bericht über den Int. Kongress der GfM Freiburg in Breisgau 1993, hg. v. Hermann Danuser u. Tobias Plebuch, Kassel u.a. 1998, Bd. 2, S. 11-14. Zu Fragen der Terminologie vgl. auch den literaturanalytisch geprägten Systematisierungsversuch in: Irina O. Rajewsky, Intermedialität, Tübingen u. Basel 2002, S. 16. Obwohl ihre Untersuchung diesbezüglich Maßstäbe setzt, bietet sie im Zusammenhang mit Fragen nach der Technizität von Medien und der Unmittelbarkeit von Musik nur wenig Anknüpfungspunkte.

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Intermedialiät und Musik

verschiedenen Medien operiert, ergeben sich immer auch simultane Formen der Wahr nehmung, die den jeweils beteiligten Medien zu eigen sind und auf sie zurückverweisen. Beispielsweise kann sich orchestrale Filmmusik in bestimmten Momenten von seiner Funktion ablösen und den Eindruck des absolut Musikalischen erzeugen. Die sich daraus ergebende Gemengelage ästhetischer Wahrnehmungsweisen ließe sich in ihrer Komplexität durchaus als ‚Intermedialität‘ bezeichnen.96 Als Beispiel für einen so genannten Medienwechsel kann der Werkkomplex Antithese angeführt werden, welcher aus einer Tonbandmusik, einer Bühnenfassung und einem Film besteht.97 Die 1963 uraufgeführte Tonbandmusik verwendet so genannte „elektronische und öffentliche Klänge“ und thematisiert die besondere Konzertsaalsituation, die bei der Aufführung von elektronischer Musik entsteht. 98 Mit ‚öffentlichen Klängen‘ sind Aufzeichnungen von Publikumsreaktionen wie Applaus, Gejohle sowie Geräusche einer Cocktailparty gemeint. Dieter Schnebel beschreibt den klanglichen Eindruck: Da rumort eine Öffentlichkeit: man hört das Publikum bei Beginn eines Konzerts, in der Pause, auch in Wut; die johlende Meute eines Fußballplatzes; die randalierende Begeisterung einer Partyversammlung; aber auch die distinguiert gedämpfte Unterhaltung einer Cocktailparty. Die Bandaufnahmen von derlei öffentlichen Klängen erscheinen zuweilen lediglich durch die klangliche Umgebung verändert, oft so, daß sie erst recht tückisch tönen: Klatschen wird zum prasselnden Unwetter, Geheul zum Sturzangriff von Düsenjägern. 99

Zu dem unmittelbaren Irritationsmoment, das bei Präsentation von elektroakustischer Musik im Konzertsaal wohl immer entsteht, gesellt sich eine zweite Bedeutungsschicht, die den Hörer nun vollends und grundsätzlich verunsichert. Die musikalische Konzeption ist handlungsgeleitet und lässt sich in Dieter Schnebels Worten als „Vorführung eines Skandals“ interpretieren: So bietet der Verlauf von ‚Antithèse‘ die Vorführung eines Skandals und zwar eines so prächtigen, wie es ihn heute kaum noch gibt. Es geht zu wie dereinst bei Aufführungen neuer Musik: Zunächst Gemurmel, dann beim Auftritt der Interpreten Beifall und Ruhe. Die folgende Musik ist zunächst ungestört zu hören, wird dann in zunehmendem Maß von Äußerungen des Publikums begleitet, ja verschüttet, kommt aber immer wieder durch. Endlich kocht’s im Saal, hellt sich wieder auf (die Leute verlassen den Raum), und dann endet das Stück mit den freundlichen 96

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Die Intermedialität ist zunächst grundsätzlich trennen von der Multimedialität. Die „multimediale Performanz“ ist nach Hansen-Löve „entgegen einem verbreiteten ‚naiven‘ Kunstverständnis [...] nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel im System der Kunstformen und Gattungen gleich welcher Epoche.“ Aage A. Hansen-Löve, „Intermedialität und Intertextualität. Probleme der Korrelation von Wort- und Bildkunst – Am Beispiel der russischen Moderne“ (1983), in: Mathias Mer tens, Forschungsüberblick „Intermedialität“. Kommentierungen und Bibliographie, Hannover 2000, S. 27-83, hier S. 64. Vgl. hierzu auch Rajewskys Systematik (Intermedialität, S. 15-18.) Die Literatur ist sich über die Frage, ob Antithese mit oder ohne accent grave geschrieben wird, uneinig. Das Drehbuch (im Nachlass Alfred Feussner der Paul Sacher Stiftung) ist ohne Akzent betitelt. UA am 22. März 1963 im Werkraumtheater der Münchner Kammerspiele im Rahmen des 5. Int. Kulturkongresses „Fernsehen“. In den Skizzen zur Tonbandkomposition Antithese finden sich jedoch Hinweise darauf, dass Kagel neben Instrumental- und Vokalklängen auch Klänge und Passagen aus bereits bestehenden Aufnahmen eigener Werke verwendet und mit Ringmodulation oder Vocoder verarbeitet hat, u.a. Transicion I und II, die Sätze I, II und IV von Anagrama und ebenfalls Passagen aus Improvisation ajoutée, Sonant und Heterophonie (in: Mappe „Antithese (Tonband; 19611962) [1/2]“). Dieter Schnebel, Mauricio Kagel. Musik. Theater. Film, Köln 1970, S. 103.

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Geräuschen einer Cocktailparty: anschließender Empfang im Rundfunk, beim Mäzen oder sonst wo. Also ist der Skandal auskomponiert; wird freilich durch solche Spiegelung gebrochen, was ihn gleichsam verfärbt. Musik wird quasi theatralisch mit der Situation konfrontiert, in der sie sich abspielt.100

Laut Kagels Begleittext wird diese Verunsicherung von verschiedenen „Wirklichkeiten“, oder eher innerhalb der Erzählung etablierten Raum-Zeit-Kontinuen, hervorgerufen: die elektronischen klänge befinden sich auf der bühne; das publikum des tonbandes spendiert zugleich beifall und ablehnung, aufgeregte pfiffe und vernehmbare kommentare. die zuhörer dieser klänge reagieren ähnlicherweise in ihren „bedingten reflexen“: das klatschen, die unterhaltung vor und während der ereignisse sind kaum voneinander zu unterscheiden, obwohl konzertpublikum, sportzuschauer und cocktail-party-besucher sich im laufe des stückes ablösen. weil der hörer von „antithese“ einem theatralischen vorgang gegenübergestellt wird, in dem andere „hörer“ sich für ihn der unwirklichkeit lebhaft widmen, wird das stück (sozusagen) in dritter person wahrgenommen: der reale hörer dieses werks ist durch den irrealen schon reichlich vertreten (denn ist nicht wirklichkeit eine erfindung der vorstellungskraft?). 101

Angesichts solch einer (geäußerten) Intention Kagels und der Interpretation Schnebels liegt die Frage nahe, ob diese Komposition nicht als Kagels erstes Hörspiel betrachtet werden kann.102 Die etwa drei Monate nach der Tonbandmusik uraufgeführte Bühnen-Fassung 103 von Antithese, mit dem Untertitel Spiel für einen Darsteller mit elektronischen und öffentlichen Klängen, fügt der Komplexität der Narration eine weitere Ebene hinzu. Der stumme Spieler hat verschiedene Tätigkeiten zu verrichten, die augenscheinlich keinen handlungsmäßigen Sinn ergeben, zum Beispiel trägt er technische Geräte von einer Bühnenseite auf die andere oder isst ein Butterbrot. Die Tonband-Einspielung wird mit diesen Aktionen collagiert, wobei die ‚öffentlichen‘ und elektronischen Klänge mit den Aktionen des Spielers in einen direkten szenischen Zusammenhang treten. 100 101

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Ebd., S. 105. Kagel, „über das schauen des zuhörers“, in: Hefte des Ulmer Theaters 63/17 und 63/22, (o. S.) jeweils 2 Seiten, hier 63/17. (Schreibung wie Original.) Schnebel interpretiert diesen Passus jedoch mit Blick auf das Bühnenwerk. Eine ähnliche Konzertsituation ist in dem Hörspiel Neues von der Musikmesse zu finden, bei der die Musiker zuerst von einem Ansager zur Bühne gerufen werden, und dann – obwohl sie im Verlauf des Hörspiels bereits ihre Virtuosität unter Beweis stellen konnten – im Zusammenspiel unsäglich dilettantisch klingen. Die musikalische Interpretation schwankt hierbei unablässig zwischen der klapprigen Unbeholfenheit einer US-amerikanischen Blasmusik-Anfängerklasse und der absichtlich herbeigeführten Heteronomie monodischer Stimmführung, wie sie im US-amerikanischen Jazz im Kreise um Carla Bley und Paul Motian gepflegt wurde. Die von Kagel ‚einkomponierte‘ Publikums reaktion ist im Gegensatz zu Antithese jedoch unerwartet wohlwollend; nach der Aufführung gibt es artigen Applaus. Der inszenierte Skandal bleibt hier aus. Die ‚Öffentlichkeit‘ der Klänge, die einen großen Teil ihrer narrativen Qualität ausmachen, ist bei Neues von der Musikmesse dadurch gewährleistet, dass in dieser Sequenz alle Klänge ihre räumliche Entsprechung innerhalb des diegetischen Kontinuums erhalten: die Ansage des Konzerts klingt wie durch eine Sprechanlage, das Konzert – ver mutlich durch nachträglich hinzugefügte Hall- und Filtereffekte – wie live mitgeschnitten. UA am 23. Juni 1963 im Kölner Schauspielhaus, Darsteller: Alfred Feussner, Regie: Mauricio Kagel. Hierbei sei erwähnt, dass am 14. April 1964 im Werkraumtheater der Münchner Kammerspiele im Rahmen der Neue Musik München eine Fassung für zwei Darsteller uraufgeführt wurde. Die Dar steller waren Alfred Feussner und Werner Abrolat.

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Die drei Jahre später urgesendete Filmfassung104 von Antithese kann dieser diegetischen Gemengelage weitere Ebenen der Komplexität hinzufügen, u.a. durch weitere musikalisch-kompositorische Eingriffe, die als solche im Drehbuch fixiert sind. So erkennt Dieter Schnebel dort unter anderem Zeitstrukturen und andere Ordnungskriterien, die auf eine serielle Bearbeitung schließen lassen. 105 Der Zuschauer im Kinosaal muss nun nicht mehr befürchten, dass der Darsteller seinen Aktionsraum auf den Zuschauerbereich ausweitet. Ebenso ist er von der irritierenden Körperlosigkeit des auf Tonband aufge zeichneten Publikums nicht mehr tangiert. Die Diegese ist hier nunmehr filmisch abgeschottet im heillos chaotischen und solipsistischen Geschehen des stummen Protagonisten Alfred Feussner, der sich wie Buster Keaton dem chaotischen Instrumentarium der Filmkulisse mit stoischer Systematik entgegenzustellen versucht, aber dadurch immer weiter im Gewirr der Apparate versinkt. Die Handlungsrichtung weist hier ganz klar von der Ordnung zum Chaos, ähnlich wie in Kagels Film Solo von 1967, an dessen Schluss die Studiokulisse in Flammen aufgeht. Diese Abnahme an handlungs- und gefühlsmäßiger Irritation von der Konzert- und Bühnenfassung zur Filmfassung wird jedoch durch eine Zunahme an Komplexität hinsichtlich des Raumes überlagert: Die verschiedenen Kameraperspektiven nutzen alle drei Raum- und Bewegungsachsen, so dass eine räumliche Orientierung innerhalb der Handlung zuerst unmöglich gemacht wird. Lediglich in der letzten Einstellung, einer Totalen, wird die räumliche Disposition der Kulisse aufgedeckt. Ebenso bleiben die Aktionen des Protagonisten als Handlung unerklärlich. Sie werden lediglich im kompositorischen Sinne gerechtfertigt: Mehr noch als bei der Büh nenfassung ahnt der Zuschauer, dass es ein kompositorisches Ordnungskriterium gibt, das hinter allem steckt. An diesem Beispiel wird bereits deutlich, dass die Frage nach der Medialität oder der Unterscheidbarkeit von Medien eng mit der Intermedialität, insbesondere dem Medienwechsel, zusammenhängt, und zudem von Faktoren abhängig ist, die nicht unbedingt unter das Schlagwort der Medialität zusammengefasst werden können. Bei der Transformation von Werken und Werkideen von einem Medium in ein anderes – dem Medienwechsel – ergeben sich fundamentale Bedeutungswandel und es fließen verschiedene Kontexte ineinander. Beispielsweise werden Fragen der Gattung und deren Konventionen (formaler oder inhaltlicher Art) eröffnet, wie auch Fragen des medienspezifischen Kontextes in Produktion und Rezeption, zum Beispiel bezüglich der Aufführung. Diese Gemengelage, die den Prozess der Komposition und der Perzeption umfasst, systematisch und eindeutig in Kategorien zu differenzieren, kann angesichts der Komplexität der Befunde und des zu erwartenden geringen Erkenntnisgewinns nicht Ziel einer medienspezifischen Untersuchung sein. Ebenso ruft die jeweilige mediale Ausprägung 104 105

Produktion des NDR, Erstsendung am 1. April 1966 im 3. Fernsehprogramm. Diesen Befund kann ich jedoch nicht nachvollziehen. Falls sich Ordnungsprinzipien im Drehbuch niederschlagen, dann nur solche, die auf die Reihenfolge der ‚Handlung‘ und des Drehplans rekur rieren. Vgl. auch Drehbuch betitelt mit „ANTITHESE | Spiel für einen Darsteller mit elektronischen + öffentlichen Klängen | 1962 | Alfred Feussner + Mauricio Kagel | Drehbuch | NDR Hamburg | III. Programm“, 1. Exemplar: 27 Bl. Durchschlagkopie mit hss. Einträgen (vermutlich Feussner) mit angehängten Skizzen, sowie 2. Exemplar: Fotokopien mit zahlreichen Einträgen bezüglich der Dreharbeiten (im Nachlass Alfred Feussner, Paul Sacher Stiftung). Laut Feussners Angaben Dreharbeiten vom 6. bis zum 10. Dezember 1965.

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des Werkes – vergleicht man beispielsweise den Film Antithese mit der früheren Bühnenfassung – durch die am Werk beteiligten Medien komplett andere Konventionen und Inhalte hervor, die sich – durch die Tatsache, dass sie medienspezifisch sind, also nur dem jeweiligen Medium zu eigen – nicht in einer konsistenten, übergreifenden Systematik summieren lassen. Eine medienspezifische Analyse läuft unter diesen Umständen immer Gefahr entweder defizitär oder beliebig zu werden. Daher möchte ich mich auf einige ausgesuchte Aspekte des Medialen in Kagels Werk beschränken. Ein Aspekt, der bei Kagels Werken in medienästhetischer Hinsicht von besonderer Bedeutung ist, ist der der Transformation eines Werkes oder einer Werkidee in verschiedene Gattungen106, also der bei Antithese beschriebene Medienwechsel. In den meisten Fällen geht mit dieser Transformation eine Zunahme von Komplexität des jeweiligen Werkes einher. Dieser Zuwachs an Komplexität ist zum einen in der medienkompositorischen Ausbildung des Werkes selbst zu konstatieren. Bei Antithese wird die Zunahme an Komplexität insofern erreicht, als die Wahrnehmungsebene des Auditiven durch die visuelle Ebene ergänzt wird. Zum anderen ist diese Steigerung der Komplexität auch dadurch bedingt, dass die Transformationen in der Werkgenese aufeinanderfolgen: Jeder nachfolgende ‚Werkzustand‘ ist eine Interpretation des vorausgehenden. Analysen und Interpretationen, die medienästhetisch operieren, müssen diesem Zuwachs an Bedeutungen Rechnung tragen. Jedoch ist zu bemerken, dass einige inhaltliche und formale Konventionen des Mediums, die sich in älterer Terminologie auch als Gattungsspezifika bezeichnen lassen, bei dieser Medientransformation (oder diesem Medienwechsel) auch gänzlich wegfallen oder sich mit denjenigen des neu hinzugekommenen Mediums abwechseln können. Das bedeutet, dass die Komplexität nicht unbedingt zunehmen muss, sie kann sich auch in andere Bereiche verlagern. Zum Beispiel wird beim Medienwechsel von Antithese vom Bühnenstück zum Film die Komplexität des Wahrgenommenen von der Räumlichkeit des tatsächlichen Konzertsaals in die Räumlichkeit der filmischen Diegese verbannt. Insofern erscheint mir für die weitere analytische Betrachtung eine Systematisierung der Bezugsfelder, durch die sich ein Medium definieren lässt, nicht erstrebenswert. Zwar sind die Aspekte des Erzählens (bzw. insgesamt der Diegese), der Grad der (Un-)Mittel barkeit und die Unterschiedlichkeit der Anwendung von kompositorischer Komplexität durch das jeweilige Medium bedingt, diese Bezugsfelder können sich nach einem Medienwechsel, beispielsweise vom Theater zum Film, jedoch grundsätzlich gewandelt haben. Nachdem nun zur Genüge die Schwierigkeit der Beschreibung von medialen Prozessen hervorgehoben wurde, sei nun endlich die Frage gestellt, was im medienästhetischen Sinne unter Medien zu verstehen ist.107 Hierfür ist es erforderlich, zwischen dem 106

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Zur Frage der Gattungen im 20. Jahrhundert siehe auch Wolfgang Marx, Klassifikation und Gattungsbegriff in der Musikwissenschaft, Hildesheim u.a. 2004, S. 383-404. Eine vollständige Systematisierung und Kategorisierung kann hier freilich nicht angestrebt sein. Die Disziplin der Medientheorie kennt eine Vielzahl von Medienbegriffen, die aus verschiedenen Ansätzen gewonnen sind, z.B. Marshall McLuhans Vorstellung des Mediums als Erweiterung des menschlichen Körpers; Friedrich A. Kittlers zuerst sich als rein medientechnischer Ansatz gebende Kultur-

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Medium als solchem und seiner übergreifenden Spezifik zu unterscheiden, also zwischen Medienbegriffen und Medienspezifika. Zuerst sei die Frage aufgeworfen, was man als Medium bezeichnen kann, des Weiteren die Frage, welche Eigenschaften ein Medium haben muss, damit es als solches erscheint. Für eine praktikable Lösung der Frage, was ein Medium ist, lassen sich drei Medienbegriffe heranziehen. Während die ersten beiden, Medium als Kunstform und Medium als Gattung, auch ohne einen Medienbegriff beschreibbar sind, ist der dritte, Medium als Technikum, ein durch das Aufkommen der maschinell-apparativen Medien, also der so genannten ‚technischen Medien‘, entstandener Begriff 108. Dass jedoch die ersten beiden Bereiche, die Kunstform und die Gattung, als Medium notwendigerweise berücksichtigt und bezeichnet werden sollten, wird sich besonders an den Beispielen zeigen, wo diese beiden von dem dritten Medienbegriff, dem Medium als Technikum, durchdrungen werden. Zunächst lassen sich Kunstformen als kulturelle Medien bezeichnen, beispielsweise die Bildende Kunst (Malerei, Plastik), die Musik und die auf narrativen Strukturen basie rende Kunstform des Theaters. 109 Als Medien unterscheiden Kunstformen sich voneinander signifikant in ihren jeweils zugrundeliegenden ästhetischen Dichotomien, wie zum Beispiel denen des Raumes und der Zeit oder des Erzählens und Zeigens. Des Weiteren sind, wie bereits oben angeschnitten, Gattungsspezifika als medienkonstituierende

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kritik, die den Krieg als Vater aller technischen Errungenschaften sieht; Paul Virillios sog. Dromologie (lässt sich übersetzen als ‚Lehre von der Geschwindigkeit‘), die davon ausgeht, dass die Medien eine kontinuierliche Beschleunigung der Weltwahrnehmung bewirken, und dass die gebärende Frau das erste Medium ist. An dieser willkürlichen und unvollständigen Aufzählung dieser sehr promi nenten Theorien wird deutlich, dass die kulturwissenschaftliche Auffassung dessen, was ein Medium ist, mit dem allgemein gebräuchlichen Sinne des Wortes Medium schwerlich in Einklang zu bringen ist. Dem interessierten Leser sei ein Blick in Medientheorien. Eine Einführung von Daniela Kloock und Angela Spahr (München 1997) empfohlen, die u.a. auch auf o.g. Theorien eingehen. Eine allgemeingültige medienästhetische Definition des Begriffs Medium, die sich auf Kunst anwenden lässt, gibt es nicht (vgl. hierzu auch Dieter Mersch, „Einleitung: Wort, Bild, Ton, Zahl – Modalitäten medialen Darstellens“, in: Die Medien der Künste. Beiträge zur Theorie des Darstellens, hg. v. dems., München 2003, S. 9-49, besonders S. 10-14). Einen guten Überblick über die Forschungsliteratur (bis 2000) verschafft Mathias Mertens, Forschungsüberblick „Intermedialität“. Die Unterscheidung zwischen Medium und Gattung ist bereits seit 1983 durch Hansen-Löves Aufsatz Intermedialität und Intertextualität Gegenstand der Diskussion. Eine ähnliche Vorstellung hatten vermutlich auch Günter Schnitzler und Edelgard Spaude, als sie ihren Aufsatzband mit dem Titel Intermedialität – Studien zur Wechselwirkung zwischen den Künsten, Freiburg 2004 (= Litterae, hg. v. Gerhard Naumann und Günter Schnitzler, Bd. 126), herausgaben, gleichwohl die im Vorwort angestrebte Interdisziplinarität die Beiträge im Band sicher besser beschrieben hätte. In Hinblick auf die Missverständnisse, die der inflationäre Gebrauch des Wortes „intermedial“ gerade in den älteren Geisteswissenschaften hervorgerufen hat, sei deutlich darauf hingewiesen, dass die Disziplin Medienwissenschaft zwar eine junge, aber eben durch ihren Rechtfertigungsdruck eine sehr genau definierte ist. Ebenso muss die medienwissenschaftliche Beschäftigung mit Intermedialität nicht zwangsläufig interdisziplinär sein, da Interdisziplinarität im allgemeinen nicht das Untersuchen von vormals anderen Disziplinen zugeschriebenen Gegenständen bedeutet, sondern eine gegenseitigen Durchdringung von wissenschaftlichen Paradigmen und Techniken, u.a. auch mit dem Ziel, diese fremden Paradigmen und Techniken auf den Gegenstand der eigenen Disziplin anzuwenden.

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Unterscheidungskriterien zu betrachten, beispielsweise bei Gattungen wie dem Instrumentaltheater oder dem so genannten Neuen Hörspiel. Schließlich unterscheiden sich Medien in ihren technischen Eigenschaften, also in ihrer Technizität, genauer ihren technischen Apparaturen und den sich daraus entwickelnden Verfahren. Diese Technizität von Medien ist der ursprüngliche Gegenstand der Medienwissenschaft und der Medientechnologie, auf ihr gründet die für die Medienäs thetik grundlegende Wahrnehmung von Kunst als Medium. 110 Im Falle Kagels lässt sich der medientechnische Aspekt in seiner poetischen Ausformung, also das Medium als Mittel zur Komposition, recht einfach reduzieren, und zwar auf die technischen Aufzeichnungs- und Wiedergabemedien des Tonbandes (Elektroakustik, Hörspiel und deren Mischformen mit Musik und Theater) und des Filmstreifens. 111 Deren originäre Verfahrensweisen sind das Collage- und Montageverfahren in ihrer tatsächlichen Anwendung. Insofern sind Montage und Collage durch apparative Technik bedingte kompositorische Techniken. Die Medienästhetik geht gemeinhin davon aus, dass die audiovisuellen Medien „Ausdruck einer spezifischen, durch ihre Technik definierten und nur ihr eigenen Form der Wahrnehmung“ sind. Laut Ralf Schnell ist der Begriff Medienästhetik, seiner Etymologie entsprechend, als „Wahrnehmungsweise der Medien“ zu verstehen: Diese ist nicht identisch mit dem, was gezeigt oder gesagt wird, sondern sie besitzt ihr charakteristisches Merkmal in der Art und Weise, wie sie ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten, ihre Techniken, ihre Mittel zur Verarbeitung von vorgegebenen oder hergestellten Inhalten oder Gegen ständen einsetzt.112

Insofern lassen sich hier – unabhängig von den drei oben genannten Medienbegriffen (Kunstform, Gattung und Technikum) – insgesamt vier Medienspezifika definieren. Als erstes Spezifikum kann die grundlegende menschliche Wahrnehmungsebene des Auditiven und Visuellen festgehalten werden. Das Verhältnis beider Sinne, Audio und Video, kann in Bezug auf die Zeitlichkeit von Wahrnehmungsprozessen als dichotomisch betrachtet werden: Die auditive Ebene wird durch den Fluss der Informationen beherrscht (oder als Syntagma113, als Zeichenkette), während auf visueller Ebene die räumliche und somit nicht-zeitliche Projektion auf die Fläche (also Struktur) vorherrscht. Das hier genannte zweite Spezifikum ist das der medienübergreifenden Technizität von Medien, das aus der – zugegebenermaßen subjektiven – Erfahrung herrührt, dass die aus 110

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Wobei hier prinzipiell beide Definitionsmöglichkeiten der Technizität des Mediums gemeint sind, d.h. die technische ‚Hardware‘, welche ein Medium von einem anderen abgrenzen (z.B. Radio vom Fernsehen), aber auch die generelle Eigenschaft eines Mediums, spezifische kulturelle Techniken, d.h. ‚Praxen‘, für sich zu beanspruchen. Insofern kann mit Hartmut Winkler gesagt werden: „Medien sind immer technische Medien“ Hartmut Winkler, „Mediendefinitionen“, in: Medienwissenschaft. Rezensionen. Reviews (2004), Nr. 1, S. 9-27. Kagels erstes vollständig digital geschnittenes und gemischtes Werk ist Nah und Fern. Radiostück für Glocken und Trompeten mit Hintergrund von 1993-94. Alle davor entstandenen Werke sind auf Magnetbändern oder auf Filmspur aufgenommen und geschnitten. Ralf Schnell, Art.: „Medienästhetik“, in: Metzler Lexikon Medientheorie – Medienwissenschaft. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hg. v. Helmut Schanze, unter der Mitarb. v. Susanne Pütz, Stuttgart u. Weimar 2002, S. 207-211, hier S. 208. Siehe hierzu Umberto Eco, „Die Zeit in der Kunst“ (1985) in: ders., Über Spiegel und andere Phänomene, übers. v. Burkhart Kroeber, 4. Aufl., München 1995, S. 143-154, hier S. 146.

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dem Umgang mit technischen Medien gewonnenen Wahrnehmungs- und Kompositionsweisen auch wieder in den Bereich der Musik, den man zuerst als nicht von den Medien berührt erachten würde (und zwar in die Komposition von Vokal- und Instrumentalwerken), zurückwirken. Ich gehe davon aus, dass die Technizität als Gemachtes und Wahrgenommenes auch in der ‚nicht-medialen‘ Musik Kagels Einzug gehalten hat, und dass diese analytisch objektivierbar ist. (Am Vergleich von Stockhausens elektroakustischer Komposition Kontakte mit einem nicht-elektroakustischen (oder rein instrumentalen) Abschnitt in Kagels Exotica wird dies darzustellen sein.) Klangliche Phänomene, die aus der elektroakustischen Musik stammen, lassen sich in instrumentaler Musik allenthalben finden. Beispielsweise klingen einigen Passagen von Kagels Musik für Renaissanceinstrumente114 so, als seien sie elektroakustisch generiert.115 Ein drittes, für Kagels Werk insgesamt bedeutsames Spezifikum ist die Fähigkeit der technischen Medien zur Speicherung und Wiedergabe von Wissen und Erfahrungen, das technische Medium fungiert als Speicher- und Wiedergabemedium. (Dies wird am Beispiel von Passé composé zu zeigen sein.) Die Wiedergabe von Gespeichertem in weitestgehend authentischer Qualität kann beim Rezipienten zu einer Wahrnehmung von unmittelbarer Authentizität führen, die paradoxerweise die technische und kommunikative Seite des Mediums (als Maschine und als Mittel) verbergen kann. Die dem Speicher- und Wiedergabemedium zuerkannte Fähigkeit, Unmittelbarkeit zu suggerieren, ist damit als viertes Spezifikum festzuhalten. Hierbei ist anzumerken, dass im Gegensatz zu den ‚reinen‘ Kommunikationsmedien wie dem Telefon, dem Brief oder der E-mail die Kommunikation bei den meisten Künsten traditionellerweise nur kontinuierlich in eine Richtung geschieht: vom Sender (vom Werk) zum Empfänger (zum Rezipienten). Fluxus- und Happening-Künstler versuchten diesen autoritären Diskurs des Künstlers – nach dem Motto: einer spricht und die anderen müssen sitzen bleiben und zuhören – zu unterbrechen und umzukehren, indem sie den Zuschauer an dem künstlerischen Akt beteiligten. Bei aller Koketterie Kagels mit diesen Kunstbewegungen116, ist sein Ansatz von Kunst erstaunlich traditionell: Die kommunikative Einbahnstraße der herkömmlichen Konzertsituation wird 114

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Komp. 1965/66, UA: 26. April 1967 in Köln, Konzertreihe Musik der Zeit. Angaben laut Schnebel, Musik. Theater. Film, S. 195. Vgl. auch Werner Klüppelholz, Sprache als Musik: Studien zur Vokalkomposition bei Karlheinz Stockhausen, Hans G. Helms, Mauricio Kagel, Dieter Schnebel und György Ligeti, 2., durchgesehene und erweiterte Aufl. Saarbrücken 1995, zugleich: Diss. Univ. Köln 1976, wo er den Verlust der Sprachsemantik bei Anagrama durch eine, an den elektroakustischen Klangmöglichkeiten entwickelte Phänomenologie interpretiert. Dieser Ansatz mag durch Kagels etwa zeitgleiche Arbeit an Transición I für elektronische Klänge gerechtfertigt sein. Kagels Erkenntnis, dass Sprache ähnlich wie Klang als kompositorisches Material systematisierbar und somit komponierbar ist, rührt m. E. eher aus seiner Auseinandersetzung mit der Serialität her (siehe auch die weiterführende Problematisierung am Beispiel Anagramas auf den folgenden Seiten) – und vielleicht auch mit einer fremden Sprache, dem Deutschen: Für einige, in Deutschland entstandene Skizzen für Anagrama hat Kagel die Rückseiten von Übungsblättern eines Sprachkurses Spanisch-Deutsch verwendet. Zu Kagels Kollaborationen mit der Fluxus-Bewegung siehe auch meinen Beitrag „Kagel, Beuys, Beethoven ... in flux“, in: Joseph Beuys. „Beethovens Küche“. Eine Dokumentation in Fotografien von Birgitte Dannehl, Kat. der Ausst., hg. v. der Stiftung Museum Schloss Moyland, Sammlung van der Grinten, Joseph Beuys Archiv des Landes Nordrhein-Westfalen, ebd. 2004, S. 111-121.

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meistenteils aufrechterhalten; wenn die kreative Unordnung hereinbricht, dann nur auf der Bühne oder im Film, nie im Zuschauerraum.117 Ein weiterer Aspekt, der hier problematisiert sei, ist der Begriff der Intermedialität, den beispielsweise Matthias Kassel in Hinblick auf die „intermediale Umsetzung von Sprache in Musik“118 bei Anagrama einbringt. Er subsumiert darunter einerseits die Transformation von Sprache in die Faktur und Struktur der Komposition, also die Auflösung der Buchstaben des in Anagrama verwendeten Palindroms in andere kompositorisch anwendbare, musikalische Parameter. Andererseits bezeichnet er mit Intermedialität die Überführung des Sprechens in eine vokale Klanglautlichkeit, die mit der Syntax und der Semantik von Sprache nichts mehr zu tun hat. Die Auflösung beider Ebenen von Spra che, der ikonischen wie auch der klanglautlichen, sei mit der Technik der Serialität eng verbunden. Die Vorstellung, kompositorisches Material, also in diesem Falle Sprache, in seine kleinsten unterscheidbaren Bestandteile zu zerlegen und neu zu komponieren, ist meines Erachtens jedoch eine Grundvoraussetzung für das serielle Komponieren, so dass die Gegenfrage erlaubt sein muss, inwieweit das serielle Komponieren unter diesen analytischen Prämissen nicht immer als intermedial bezeichnet werden kann, weil die Serialität Eigenschaften des einen Mediums in das andere Medium transformiert, somit deren Gemeinsamkeit darstellt und daher in den meisten Fällen synthetisierend wirkt.119 Intermedialität als poetisches und ästhetisches Phänomen ist meines Erachtens nicht in den Kunstwerken zu suchen, in denen Medien synthetisiert und schließlich ununterscheidbar werden, wie zum Beispiel allgemein im Serialismus. Sie tritt eher bei den Werken hervor, die die Verschiedenheit der Medien im Werk beibehalten oder hervorheben und somit beim Rezipienten einen Bruch in der ästhetischen Erfahrung auslösen. ‚Inter mediales Komponieren‘ wäre in dieser Hinsicht als etwas zu beschreiben, das seine Aufgabe in der Darstellung dieser Brüche in der Wahrnehmung und der grundlegenden Unterschiedlichkeit der Medien in Bezug auf die Wahrnehmungen sieht. 117

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Als einzige Ausnahmen ließen sich Kagels an die Praxis des Fluxus’ angelehnten Multiples Saitensprung (1968) und Perforation of a Hole (o. J.) ausfindig machen, zwei Objekte, die der Rezipient selbst zusammenbauen kann. Ersteres ist dokumentiert in: Fluxus. Aspekte eines Phänomens, Katalog der Aust. vom 15. Dez. 1981 - 31. Jan. 1982, Kunst- und Museumsverein Wuppertal, im Vonder-Heydt-Museum, Wuppertal, hg. v. Ursula Peters u. Georg F. Schwarzbauer, Wuppertal 1981, S. 119. Zweites ist auf einem Bestellformular von Pages M.art (HRS Graphics Ltd., 117 High Street, Berkhamstedt, Hertfordshire, England) abgedruckt. (Diese Firma vertrieb u.a. auch den Saitensprung.) Das Multiple besteht aus einem bedruckten Karton, der mit verschiedenen Dynamikbezeichnungen, Linien und Vortragsangaben bedruckt ist. Der Karton ist mehrfach perforiert, so dass er in verschieden große Streifen geteilt werden kann. Die lapidare Aufführungsanweisung für diese ‚graphische Notation‘ lautet: „Tear off the punched lines. | Thanks“ (zum Zeitpunkt meiner Einsicht in Kasten „Ludwig van III“, Werkkonvolut Ludwig van der Sacher Stiftung). Matthias Kassel, „Das Fundament im Turm zu Babel. Ein weiterer Versuch, Anagrama zu lesen“, in: Mauricio Kagel (= Musik-Konzepte, Neue Folge, hg. v. Ulrich Tadday, München: April 2004, Nr. 124), S. 5-26, hier S. 18. Das für den Komponisten substantiell Neue an der Serialität läge demnach nicht in der Freiheit, alle musikalischen Parameter voneinander zu entkoppeln, sondern in der Freiheit, diese wieder in anderen Kombinationen miteinander zu verbinden.

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Insofern ist die im Folgenden vorgeschlagene Unterscheidung der Medien in deren grundlegende Wahrnehmungsweisen, die auf der Basis von Grundkonstanten wie Zeit und Raum operiert, vielleicht unvollständig. Aber sie erscheint mir immer noch geeigneter als die voraussetzungslose Anerkennung von Intermedialität zwischen Medien, die sich zwar ähneln (wie Musik und Sprache), aber deren Verarbeitungsmodi von der Ästhetik des Serialismus geleitet werden, deren grundlegendes Anliegen gerade nicht darin besteht, die Unterscheidbarkeit der Medien darzustellen. Ebenso versuchen Gesamtkunstwerkkonzepte die Medien bis zur Ununterscheidbarkeit zu synthetisieren. In Kagels Werken werden hingegen die Unterscheidbarkeit der Medien sowie deren jeweilige Spezifik thematisiert und die zu erwartenden Brüche bei den möglichen Transformationen offengelegt. Die Intermedialität wird als Ästhetisches erfahrbar und gehört zum Gehalt des Werks.

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Intermediales Komponieren bei Ludwig van

Am Beispiel des „Musikzimmers“ aus dem Film Ludwig van soll im Detail gezeigt werden, wie Kagel intermedial arbeitet, wobei auch versucht werden soll, eine übergreifende Definition für Kagels Montage- und Collageverfahren zu finden. Die Werkgenese sei hier nur kurz angeschnitten, da sie anhand der Quellen zu Ludwig van in Kap. IV.5 thematisiert wird. Ludwig van ist das Werk Kagels, das am offensichtlichsten gerade mit den Konventionen des Mediums Film, aber auch mit denen der Bildenden Kunst und der Musik, spielt. Konventionen finden sich in diesem Film auf verschiedenen Ebenen: Beispielsweise gibt es dem Erzählfilm angenäherte, narrative Elemente ebenso wie Sequenzen, die aus einem Experimentalfilm stammen könnten. Ähnliches in der Musik: Das Spektrum reicht von Musiken, die den Charakter von herkömmlicher Filmmusik haben (und auch tatsächlich als solche fungieren, beispielsweise in der Sequenz „S Rheinfahrt“) bis hin zu ‚absoluter‘ Musik, die vom bewegten Bild emanzipiert zu sein scheint und auf dieses durch ihre Musiksprachlichkeit einwirkt (unter anderem in der so genannten Handschuhsequenz).120 Ein Kulminationspunkt dieser erzeugbaren und erfahrbaren Heterogenität der durch technische Medien erzeugten Wahrnehmungsweisen und ihrer Konventionen stellt sicher die Sequenz „MZ Musikzimmer des ‚Beethovenhauses‘“ dar. Kagels Idee, Beethovens Musikzimmer zu ‚rekonstruieren‘, ist bereits 1967 in einem ersten Exposé zum Film dokumentiert.121 Dort ist die Überlegung festgehalten, die einzel120

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Die Sequenz „S Rheinfahrt“, die sog. Handschuhsequenz sowie die hier im Weiteren besprochene Sequenz „MZ Musikzimmer des ‚Beethovenhauses‘“ habe ich bereits in meiner Magisterarbeit ausführlich analysiert, die Analysen beider letzterer sind bereits in meinem Beitrag Kompositionsweisen veröffentlicht. Im Folgenden sei lediglich, in gekürzter Form und mit neuen Schwerpunkten, auf die Sequenz des Musikzimmers eingegangen. Siehe „Frühes Exposé. Ein Dokumentationsbericht von Mauricio K.“ (3 Bl. Typoskript mit autographen Einträgen, in: SMK 1/8). Vermutlich ist es für einen möglichen Finanzier entworfen. Die Betonung liegt in diesem Exposé noch auf der Person Beethovens. Die Idee des Film bestand

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nen Räume des Beethovenhauses an öffentlichen Orten zu installieren und „mit verschiedenen (apokryphen) Dokumenten und Gegenständen“ auszustatten. Für das Musikzimmer dachte Kagel an einen Platz „etwa in der Abteilung für afrikanische Instrumente des Rautenstrauch-Joest-Museums“ in Köln. 122 Das zwei Jahre später realisierte Konzept lehnt sich mehr an die private Atmosphäre des originalen Beethovenhau ses an, jedoch wurden die Decke, die Wände, sowie die Möbel und markante Utensilien komplett mit Beethovens Noten beklebt. Wie bei den anderen Zimmern des Beethovenhauses leitet der Museumsführer den Wiedergänger Beethoven durch das Zimmer, der Zuschauer verfolgt aus Beethovens Perspektive, wie dieser die auf die Oberflächen der Wände und Gegenstände geklebten Noten liest, und hört mit dessen ‚innerem Ohr‘ die Musik. Während die anderen Zimmer vorwiegend Bildende Künstler aus dem Kölner und Düsseldorfer Raum gestalteten, sollte der tschechische Collage-Künstler Jiří Kolář, dessen Arbeiten Kagel vermutlich aus Ausstellungen kannte, die Einrichtung des Musikzimmers und die Notencollage übernehmen. Die tatsächlich realisierte Version des Musik zimmers gestaltete Kagel jedoch selbst.123 Kagels Vorstellung war es, wie er Kolář über seinen Freund Konrad Balder Schäuffelen 124 brieflich mitteilte, das Musikzimmer so herzurichten, dass alle Wände, Fußboden und Decke, sowie alle Requisiten mit einer Col lage aus antiquarisch gekauften Beethoven-Noten überdeckt werden. Er habe an die Mitarbeit von Kolář gedacht, wobei die Collage, um Arbeit und Zeit zu sparen, keine kleinen Details aufweisen müsste, sondern größere Flächen abdecken kann. 125 Kolář bekam jedoch keine Ausreisegenehmigung aus der CSSR, so dass Kagel letztendlich gezwungen war, auf Kolářs Mitarbeit zu verzichten und das Musikzimmer in kürzester Zeit selbst herzustellen.126 Kagel nahm sich Kolářs Arbeitsweise der Collagierung von Notenpapier – ersichtlich aus Kolářs Collagen dieser Zeit, z.B. Wolfgang Amadeusz Mozart aus den späten 1960ern – zum Vorbild.

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damals aus einer großen Beethoven-Feier aus der Sicht Beethovens. Dieter Schnebel griff 1969 für die Darstellung des Films in seiner Kagel-Monographie auf dieses Exposé nicht zurück. Aus seinen Beschreibungen der einzelnen Szenen lässt sich aber folgern, dass er bereits einige Szenen oder den gesamten Rohschnitt vor der endgültigen Fassung gesehen hat. Siehe Schnebel, Musik. Theater. Film, S. 252 und 258-259. Das Exposé ist auch in: Mauricio Kagel. Das filmische Werk I. 1965-1985, Kat. der Wanderausstellung 1985 (in Frankfurt, Berlin, Amsterdam, Stuttgart u. Köln), hg. v. Werner Klüppelholz und Lothar Prox, Amsterdam u. Köln 1985, S. 89, als Abschrift veröffentlicht, jedoch in bereinigter Form ohne Darstellung der verschiedenen Schreibschichten. Ebd., Bl. 1/3. Zum Problem der Urheberschaft siehe meinen Beitrag Kompositionsweisen, S. 82-85. Der Arzt und Schriftsteller Schäuffelen (geb. 1929 in Ulm) übersetzte u.a. mehrere Gedichte und Schriften von Kolář und schrieb einige Vorworte zu deutschen Publikationen Kolářs. Er besitzt eine Sammlung von Kolářs Werken. Brief Kagel an Schäuffelen (undat.), in: SMK 4/8. Dass es für Kagel höchste Zeit wurde, zu einer Entscheidung zu kommen – und dass er sich die Entscheidung nicht leicht gemacht hat –, ist aus dem Ausstattungsprotokoll der Produktionssitzung am 13. August 1969 und der Ausstattungsbesprechung am 14. August 1969 des WDR ersichtlich, in dem Kolář noch als Dekorateur für das Musikzimmer vorgesehen war (insg. 5 Blätter, auf den 15.8.69 datiert, in: SMK 4/8). Nach diesem Protokoll hätten sämtliche Unterlagen für das Musikzimmer bereits bis zum 29. August in der Abteilung Ausstattung des WDR mit Zeichnungen und einem Modell, jeweils im Maßstab 1:25, vorliegen müssen.

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Intermedialiät und Musik Abb. 14: Jirí Kolář: Wolfgang Amadeusz Mozart127

Viele von Kolářs Collagen bestehen aus Notenmaterial, das ähnlich wie im Musikzimmer auf Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs aufgetragen ist. Es gibt aber grundsätzliche Unterschiede in der Konzeption. Kolář verkleinert die zu collagierenden Teile bis auf einzelne Noten, atomisiert also gleichsam die Notenschrift zu einzelnen Zeichen. Diese Verfahrensweise ist auch in seinen Arbeiten mit Sprache bzw. Schriftzeichen zu finden. Kolář isoliert das Zeichen und hebt somit seine semantische und syntaktische Bedeutung auf. Bei Kagels Musikzimmer wird hingegen das Notenpapier großflächiger collagiert. Dadurch bleiben räumlich und zeitlich beschränkte Sinneinheiten des musikalischen Originals erhalten. Kagels Arbeitsweise scheint pragmatisch begründet – er schrieb Schäuffelen, dass er etwas haben wollte, „wo die Flächen nicht so mühsam beklebt werden“ 128 –, aber dieser Unterschied ist ausschlaggebend für die spätere Verfilmung und Vertonung und für die Zitathaftigkeit der Notentapete und deren Eignung zur Montage und Collage. Kagel ließ die Wände, die Möbel und alle Utensilien des Musikzimmers, das im Studio K des WDR in Köln aufgebaut wurde, mit Notendrucken beethovenscher Musik bekleben und lebensgroße Fotocollagen von Portraits Haydns, Mozarts und Beethovens anfertigen, die, auf Pappe kaschiert, das Musikzimmer bevölkern sollten, eine weitere Anleihe aus Kolářs Werk.129

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Pos. 40, Objekt, 23x13x11,5 cm in: Jiri Kolar [sic!]. Works from the Collections of Jan and Meda Mladek, Kat. der Ausst. vom Nov. 95-Jan. 96 im Oberschlesischen Museum Bytom, hg. v. Marek Meschnik, Bytom 1995, o. S. Brief Kagel an Schäuffelen (undat.), in: SMK 4/8. In Kolářs Collagen begegnen sie als scherenschnittartige Silhouetten. Dass die Pappfiguren definitiv nicht aus Kolářs Hand stammen, ist im Dispositionsplan nachvollziehbar (gebundenes Exemplar, Typoskript, auf Bl. 2r, dat. mit 26.8.69, in: SMK 3/8). Auf Bl. 30r findet sich die Anweisung für den Bau der Figuren an die Werkstatt. Der einzige Beitrag von Kolář ist vermutlich das, mit einer Notencollage ausgefüllte, mondförmige Bild. Diese Annahme stützt sich jedoch nur auf den Vergleich mit anderen Werken Kolářs und Kagels Bezeichnung „Kolárbild“ (siehe auch 1 Bl. Skizze „MZ“ in den Cutterberichten, in: SMK Archivbox „Cutterberichte“).

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Abb. 15: Kagel, Ludwig van, Standfoto, Totale des Musikzimmers ohne Figuren.

Der Sequenz für das Musikzimmer wurde am vorletzten Drehtag, den 8. Oktober 1969 abgedreht. Die Kamera – laut Kagel der „Zuschauer Beethoven“ – bewegte sich dabei über die Noten. Diese, so Kagel, „stumme Montage“ wurde bei der Nachsynchronisa tion dem Kammerensemble auf einer Leinwand als „kinetischer Notentext“ zur Verto nung vorgeführt.130 Zwischen der Nachsynchronisation und dem fertigen Endschnitt lagen jedoch noch einige Arbeitsgänge, die ich bereits an anderer Stelle beschrieben habe.131 Die in den Quellen dokumentierte Vielzahl an Auswahl- und Kombinationsver130

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Mauricio Kagel u. Karl Faust, Interview mit Mauricio Kagel (Beitext zur Schallplatte); ebenso Mauricio Kagel, Vorwort der Partitur zu Ludwig van, S. V-VI, hier S. V, ebenso veröffentlicht als Faust/Kagel, „Anläßlich der Schallplattenaufnahme von ‚Ludwig van‘“, in: Ludwig van Beethoven 1770/1970, Bonn u. Bad Godesberg 1970, S. 66-69, und in: Beethoven‘70. Adorno. Kagel. Metzger. Pauli. Schnebel. Wildberger, Frankfurt a. M. 1972, S. 56-61, hier S. 56. Kagel gibt weiterhin an, dass er eine „lichtgesteuerte Vermittlung von musikalischen Notationen durch Film oder magnetische Bildaufzeichnung“ verwirklichen wollte. Kagel problematisiert die Notation von Musik in seinem gesamten Werk, vgl. auch die eigens zu diesem Thema gegebene Ausstellung in Köln und Gütersloh von 1991-1992, dokumentiert in dem Katalog Mauricio Kagel: Skizzen, Korrekturen, Partituren, hg. v. Werner Klüppelholz, KölnMusik und dem Kulturamt der Stadt Gütersloh, Köln 1991. Siehe auch meinen Beitrag Kompositionsweisen, S. 88-94. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war die Existenz der ersten, längeren Fassung des Films noch nicht bekannt, so dass sich die Analyse auf die bis dahin bekannte, gekürzte Fassung des Films bezieht. Bei der großen Kürzung im August 1970 wurde auch an der Sequenz des Musikzimmers gekürzt, es bestehen aber hier keine substantiellen Unterschiede zwischen den beiden Fassungen. Kagel hält in der Skizze namens „ Kürzungen (ausgeführt)“ (in: SMK 2/8) alle Einstellungen fest, an denen er Kürzungen vorgenommen hat, unter anderem auch für das Musikzimmer. Die vorliegenden Skizzen des Musikzimmers lassen annehmen, dass das Ensemble das Filmmaterial des Musikzimmers vollständig ‚vertont‘ hat; die im

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fahren, die auf das Film- und Tonmaterial in verschiedenen Produktionsstufen angewandt wurden, stehen im Gegensatz zu der Unmittelbarkeit des ästhetischen Eindrucks. Dem Zuschauer wird durch die lückenlose Kontinuität des filmischen und erzählerischen Ablaufs suggeriert, dass die Tonspur das Ergebnis lediglich eines Produktionsganges sei und die Musiker auf der Grundlage der stummen Filmspur improvisiert hätten .132 Die Kontinuität des Bildflusses wird unter anderem dadurch gewährleistet, dass Kagel mit unsichtbaren Schnitten arbeitet. Kagels Konzeption des Musikzimmers sucht in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts sicher ihresgleichen; in ihr treffen sich Bildende Kunst und Musik im Film. Das Verbindungsglied beider ist die Collage und Montage allein fremden Materials. Bevor diese beiden Verfahren am Beispiel des Musikzimmers erörtert werden, soll versucht werden, die Begriffe der Collage und Montage zu spezifizieren. Bei einer genaueren Begriffsbestimmung der Collage und Montage sind verschiedenen ‚Ästhetiken‘, welche durch diese Begriffe impliziert werden, als Diskussionshintergrund anzuerkennen. Denn bereits der Begriff Collage wird in der Musikwissenschaft unterschiedlich verstanden: Peter J. Burkholder beispielsweise versucht die Collage mit dem Begriff der Assemblage zu erklären und ignoriert diesbezüglich die Relevanz der Bildenden Kunst133, während Stefan Fricke Aspekte der auditiven Wahrnehmung mit handwerklichen Techniken der so genannten Partiturcollage vermengt. 134 Als Ausgangspunkt für eine Diskussion über die Collage darf immer noch Elmar Buddes Aufsatz von 1972 gelten135, einen substantiell neuen Ansatz hat erst dreißig Jahre später Pascal Decroupet versucht.136 Meines Erachtens ist eine vollständige Einbeziehung des Collagebegriffs nur über eine Problematisierung der medialen und die Wahrnehmung betreffenden Aspekte sinnvoll.

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fertigen Film bei Einstellung 411 beginnende Mondscheinsonate ist in diesen Skizzen noch nicht dokumentiert. Die Idee, diese Sonate in die Tonspur zu nehmen, scheint Kagel also sehr spät – vermutlich beim Endschnitt der 1. Fassung – gehabt zu haben. Vgl. auch Kagel/Faust, Interview mit Mauricio Kagel, Vorwort der Partitur zu Ludwig van, S. V, wo Kagel das Verfahren – wie bereits beschrieben – sehr vereinfacht darstellt. Tatsächlich hat Kagel für die Vertonung des Musikzimmers ähnliche Tabellen erstellt, wie sie bei Les Idées fixes oder Osten in Bezug auf die Formdisposition erhalten sind. Vgl. auch die Umschrift von Bl. 6-10 der insg. 10 Bl. Skizzen (Ringbuchbl. DIN A5, in: SMK 2/8) in meinem Beitrag Kompositionsweisen, S. 90. Peter J. Burkholder, Art. „Collage“, in: Grove2, Bd. 6, S. 110-111. Stefan Fricke, Art. „Collage“, in: MGG2, Sachteil, Bd. 2., Sp. 938-944. Budde, Elmar, „Zitat, Collage, Montage“, in: Die Musik der sechziger Jahre. Zwölf Versuche, hg. v. Rudolph Stephan, Mainz 1972 (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Bd. 12), S. 26-38. Pascal Decroupet, „Prinzip Montage – die andere Form des Zusammenhangs in der Musik des 20. Jahrhunderts? Ein Vorschlag“, in: Konzert – Klangkunst – Computer, hg. v. Institut für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Mainz u.a. 2002 (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Bd. 42), S. 241-254. Seine Begriffe sind der Terminologie Pierre Schaeffers entlehnt und auf die Systematisierung einer musikalischen Semantik ausgerichtet.

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In diesem Zusammenhang sei auch auf die uneinheitliche Verwendung der beiden Begriffe Montage und Collage in der Sekundärliteratur hingewiesen. Während der Begriff der Montage meistens im Zusammenhang mit Film und seiner – als syntagmati scher Fluss – angeordneten Zeitlichkeit benutzt wird 137, so dass die Montage gleichbedeutend wird mit dem einfachen Film- oder Tonschnitt, wird der Collage die Eigen schaft der Flächigkeit – und der damit einhergehenden simultanen Wahrnehmung – zugeschrieben, so zum Beispiel im Film bei Bildinhalten, in der bildenden Kunst bei Gemälden, in der Musik bei simultanen Ereignissen mit zitathaftem Charakter. 138 Freilich bestehen auch zwischen den nationalen Ausrichtungen der Wissenschaften Unterschiede. So findet sich gerade im von Sergej Eisensteins Terminologie geprägten Raum des ehemaligen Ostblocks eine Vorliebe für den Begriff der Montage. Beispielsweise bezeichnet Eisenstein das Verfahren, disparate Bildelemente als simultan erschei nen zu lassen, also zu ‚collagieren‘, als Attraktionsmontage. In Gefolge dieser Begriffstradition kann unter anderem Volker Klotz die Collagen Georges Braques’ als Montagen bezeichnen.139 Im französischen Sprachraum, geprägt durch den Impressionismus und Surrealismus der Bildenden Kunst, scheint sich eher der Begriff der Collage durchgesetzt zu haben. Die Begriffsbildung des deutschen Sprachraums erscheint hier als heterogen von beiden Sphären beeinflusst, wobei die Kunstästhetik der DDR in Anlehnung an Eisenstein den Begriff der Montage präferiert. Mein Vorschlag einer neuerlichen Begriffsortung sei nur als Arbeitsgrundlage verstanden: Collage und Montage bezeichnen möglicherweise ein- und dasselbe Verfahren des Zusammenfügens von sich divergent zueinander verhaltenden Elementen 140, die Unterschiede liegen meines Erachtens in der Ästhetik: Die Collage – deren begrifflicher Ursprung in der Malerei liegt – fordert durch ihren ‚flächigen‘ Charakter eine simultane Wahrnehmung heraus, zum Beispiel in den Bildenden Künsten, wie der Malerei und im eingeschränkten Maße auch der Plastik, die sui generis nicht zeitlich operieren. Ebenso lassen sich Simultanereignisse in Zeitkünsten wie Film und Musik als Collagen bezeichnen. Die Montage – deren Ursprung im Film liegt und deren immanenter Bezug zur Technik im Begriff weiter klingt – ist hingegen an den syntagmatischen Fluss der Zeit137

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So auch Béla Balázs, Der Geist des Films (1930), Frankf. a. M. 2001, bes. S. 42-69, und Siegfried Kracauer, Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit (1960), vom Verf. rev. Übers. von Friedrich Walter u. Ruth Zellschan, hg. v. Karsten Witte, Frankf. a. M. 1985. Vgl. auch Brunhilde Sonntag, Untersuchungen zur Collagetechnik in der Musik des 20. Jahrhunderts, Regensburg 1977 (= Perspektiven zur Musikpädagogik und Musikwissenschaft, Bd. 3), S. 15-16. Sie beschreibt die Collagetechnik durch die dabei entstehende, zeitliche Simultaneität, bemerkt aber auch, dass in der Literatur die Begriffsfelder Collage und Montage kongruieren können. Volker Klotz, „Zitat und Montage in neuerer Literatur und Kunst“, in: Sprache im technischen Zeitalter, H. 60 (Okt.-Dez. 1976), S. 259-277, hier S. 261-262. Divergenz bedeutet hier nicht unbedingt, dass die Elemente zitathaften Charakter haben müssen – also Kontexten angehören, die nicht die unmittelbaren des Werkes sind –, sondern sich in ihrem Wesen – sei dies musiksprachlich, medial, narrativ oder anders definierbar – und evtl. auch in der unmittelbaren Wahrnehmung als solche unterscheiden lassen. Pascal Decroupet (Prinzip Montage, S. 242-245) unterscheidet analytisch zwischen den beiden Kategorien „Morphologien“ und „Kombinationssystematik“.

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lichkeit gebunden, der eine disparate Wahrnehmung herausfordert, beispielsweise in Zeitkünsten wie Film und Musik. Die technische Grundlage für die Montage liefert das Schnittverfahren. Bezogen auf die Musik und in deren Termini bezeichnet, ließe sich die Collage also in der musikalischen Textur, dem Satz und der Klangfarbe orten – also in allen Phäno menen, die eine simultane Wahrnehmung voraussetzen und somit nicht-syntagmatisch fungieren. Die Montage hingegen fände sich in der Form, der musikalischen Syntax und in der Kontinuität beziehungsweise Diskontinuität von musikalischen Abläufen – also in allen Phänomenen, die eine Ausdehnung in die Zeitlichkeit für sich beanspruchen und eine ebensolche Wahrnehmung erfordern. Die Wirkungsweise der Collage ist unmittelbar, während die Montage dem Hörer das Knüpfen von Sinnzusammenhängen abverlangt. Die Montage arbeitet ihrem technischen Ursprung aus dem Film nach als ‚Geschnittenes‘ syntaktisch: Sie ist in der Lage, Sinnzusammenhänge auch bei ursprünglich zusammenhangslosen Teilen zu generieren und das auf semantischer Ebene hervorgerufene Irritationsmoment zu tilgen. Das technische Verfahren des Schnitts hat sich bei ihr zum Zeichenhaften gefestigt, so dass die Montage quasi als Satzzeichen fungiert. Die Collage hingegen bewahrt in ihrer unmittelbaren, simultanen Schichtung immer den Charakter des Nichtunterscheidbaren und dennoch Zusammenhangslosen. Insofern hält das Irritationsmoment der Collage länger vor, das Potential zur generellen Sinnstiftung findet sich in erster Linie in der Syntax der jeweiligen collagierten Kontexte. Inwiefern sich diese Arbeitsdefinition von Montage und Collage tatsächlich als fruchtbar erweist, sei in den weiteren Analysen erörtert. Es sei jedoch zusammengefasst, dass Montage und Collage zum einen wie üblich als technische Verfahren zu verstehen sind, und zum anderen als durch technische Medien hervorgerufene Wahrnehmungsweisen des 20. Jahrhunderts gelten können, die jedoch durch ihren ständigen Gebrauch eine solche ästhetische (und poetische) Eigenständigkeit entwickelt haben, dass sie auch unabhängig von den Medien sein können – wie sonst ließe sich bei Kompositionsverfahren, die nicht auf technischen Medien basieren, von Montage oder Collage sprechen?141 Ein berühmtes musikalisches Beispiel kann die verschiedenen Wirkungsweisen von Montage und Collage eventuell veranschaulichen: Der dritte Satz In ruhig fließender Bewegung von Luciano Berios Sinfonia for Eight Voices and Orchestra (1968) ist von beiden Verfahren durchzogen.142 Zum einen verhalten sich die beiden Schichten, die unzähligen, musikalischen Fragmente aus den verschiedenen Jahrhunderten und das durchgehende Klangband der so genannten Fischpredigt, dem dritten Satz von Gustav Mahlers Zweiter Sinfonie, auf der großformatigen Ebene als Collagiertes. Betrachtet man jedoch nur die Schicht der Fragmente, evozieren die einzelnen Zitate untereinander syntaktische Beziehungen – in dem sie sich beispielsweise zu musikalischen Phrasen zusammenfügen –, und geben sich als Montiertes. Ähnliches geschieht, wenn einige Fragmente mit der Musik Mahlers in eine unmittelbare syntaktische Beziehung treten, beispielsweise indem sie Phrasen vervollständigen oder musikalische Gesten hinzufügen. Das musikalische Resultat ist ein spannungsreiches Beziehungsgeflecht, wobei der Fokus der Wahrneh141

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Vgl. auch Decroupet, Prinzip Montage, S. 241, wenn er sagt, dass „Konzepte wie Montage und Collage auf eine essentielle, nicht reduzierbare Vielfalt der Erscheinungen“ verweisen. Luciano Berio, Sinfonia for Eight Voices and Orchestra, Reprographie der Partitur in Reinschrift UE 13f 783, 1969 und Partitur erheblich verbessert und als Drucksatz UE 13783, 1972.

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mung fortwährend zwischen der großflächig collagierten Textur und einzelnen syntaktisch motivierten Abschnitten und Phrasen changiert. Soweit der Versuch, anhand der allgemeinen Bezugsfelder und ästhetischer Maßgaben eine generelle Unterscheidung von Collage und Montage zu finden. Damit ist jedoch die Kontextualität der miteinander collagierten und montierten Teile, welche außerhalb des Kunstwerk liegt, noch nicht erfasst. Walter Gieseler versucht dies zu berücksichtigen, in dem er das ‚Vorhandensein‘ und die ‚Weltbezüglichkeit‘ der Teile beschreibt und die Collage der Moderne als ein „Zusammenklammern heterogener ‚objets trouvés‘“143 bezeichnet. Die Montage unterscheide sich dabei nur graduell von ihr: „Je äußerlicher dieses Prinzip angewandt wird, desto mehr nähert man sich der Montage.“144 Die Wahrnehmung der Äußerlichkeit ist für Kagel wiederum ein Kriterium, um den Schnitt von der Montage zu trennen. Er siedelt die Montage generell im Bereich des Film- und Tonschnitts an, der Unterschied läge in deren semantischem und syntaktischem Gehalt. So sagt er in einem Interview mit Klaus Schöning: Ich möchte dafür plädieren, Schnitt als unabhängiges Werkzeug zu betrachten, und zwar zunächst auch unabhängig vom Begriff „Montage“. [...] Montage entsteht immer als Folge einer inhaltlich beschreibbaren Absicht. Diese Absicht, welche zugleich einer dramaturgischen Verdeutlichung zukommt, ist nur mittels des gerichteten Schnitts möglich. Schnitt dagegen ist ohne inhaltliche Absicht möglich, wenn er eine vorgegebene dramaturgische Situation nicht verändert, sondern flüssiger zu formulieren hilft.145

Kagels Aussagen über die Collage und über deren Anwendung bei Ludwig van scheinen hingegen uneinheitlicher, und sollen im Folgenden zunächst unberücksichtigt bleiben, zumal sie meistens im Zusammenhang mit der Schallplattenproduktion146 entstanden sind und, auch in den Fällen, wo sie von Kagel selbst für den Film herangezogen wurden, nur bedingt greifen. Hierbei ist zu beachten, dass Kagels generelle Aussagen über 143

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Gieseler, Komposition im 20. Jahrhundert. Details – Zusammenhänge, Celle 1975, S. 166. Die Differenzierung dessen, was collagiert wird, bleibt er schuldig. Die Formulierung „objet trouvé“ deutet aber daraufhin, dass die Teile der Collage sich kontextuell divergent zur Komposition verhalten müssten. Gieseler, ebd. Vgl. auch Christine Finkbeiner, Aspekte des Allegorischen in der Neuen Musik. Überlegungen zum musikalischen Werkbegriff, Frankfurt a. M. 1982, S. 129, die die Collage-Technik durch deren Überblendungen der „Nahtstellen“ charakterisiert, während die Montage die „Bruchstellen“ akzentuiert. Mauricio Kagel und Klaus Schöning, „Das Handwerkszeug. Kleines Ohrganon des Hörspielmachens“, in: Spuren des Neuen Hörspiels, hg. v. Klaus Schöning, Frankfurt a. M. 1982, S. 96-103, hier S. 98. Ebenso sagt er in einem Interview mit Werner Klüppelholz: „Mich interessiert die Logik der Montage, die künstliche Zusammenfügung von scheinbar disparaten Elementen. Das bedingt eine streng organische Machart mit Materialien, die sich zueinander anorganisch verhalten.“ (Kagel/Klüppelholz, ... /1991, S. 49.) Proben ab dem 17. Dezember 1969 und Aufnahmen am 20. bis 22. Dezember 1969 (laut Aufnahmeplan vom 10.12.1969, beide in: SMK 4/8, im Brief Kagel an Frederic Rzewski vom 24. November 1969 ist als vorläufiger Aufnahmetermine noch der 19. Dezember angegeben). Die Montage der Bänder fand vom 2. bis zum 11. Januar 1970 statt (vgl. Aufnahmeplan vom 23.12.1969, in: SMK 4/8). Zu diesem Termin wurde auch die Schallplattenaufnahme für Der Schall für fünf Spieler gemacht. „Ende Januar“ nahm Kagel „zu Hause“ mit seinem Revox-Bandgerät „Korrekturen“ vor, die größtenteils aus Kürzungen bestehen (vgl. Skizzen zur Schallplattenproduktion, im: Ringbuch „Gedanken, Skizzen, Quellen“, Bl. 29r u. 30r/50, in: SMK Archivbox „Notizen zur Schallplattenproduktion“).

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Ludwig van in unterschiedlichen Kontexten gemacht und für verschiedene Anlässe wiederverwertet wurden: Das anlässlich der Schallplattenproduktion entstandene Interview mit Karl Faust ist auch in der Partitur zu Ludwig van vollständig abgedruckt. In einem von Kagel autorisierten Artikel des Kölner Stadtanzeigers werden diese Aussagen sogar im Zusammenhang zum Film verwertet.147 Um differenzierte Aussagen bezüglich der verschiedenen Produktionsstufen, die zur spezifischen Qualität der Musikzimmer-Sequenz beigetragen haben, zu erhalten, erscheint es nötig, die Notencollage auf den Kulissen des Musikzimmers und die spätere Verfilmung und Vertonung als völlig verschiedene Ansätze zu verstehen. Kagels Verständnis der Collage erscheint gerade beim Musikzimmer nicht aus einem auditiven, sondern aus einem rein visuellen Ursprung entstanden, und zwar – wie oben angemerkt – in erster Hinsicht aus der Auseinandersetzung mit den Collagetechniken von Kolář. Während Kolář sich auf die einzelnen Zeichen konzentriert, stellt Kagel musikalische Zusammenhänge zwischen den einzelnen Noten dar, die wiederum als Zitate den Konnex zur Musik und Person Beethovens herstellen. Diese Herangehensweise erinnert augenscheinlich an Wolf Vostells konzeptionelle Arbeiten, die in Werkgruppen die von ihm so genannte „De-Coll/age“ thematisieren. Seine Collagearbeiten zeichnen sich dadurch aus, dass Alltagsbilder, beispielsweise des Kölner Doms oder einer Coca-Cola-Werbung, zerrissen und mit anderen Bildern collagiert werden, als Beispiel sei hier EV, eine sehr frühe Foto-De-coll/age auf Papier von 1955 dargestellt.

Abb. 16: Wolf Vostell, EV, in: Vostell. Leben=Kunst=Leben, Kat. der Ausst. in der Kunstgalerie Gera (7. Nov 1993-30. Januar 1994), hg. v. Ulrike Rüdiger, Leipzig 1993, S. 59.

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Kagel, „Andante erfunden“, in: Kölner Stadt-Anzeiger, Nr. 293 (17. Dezember 1970), S. 8.

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Kagel kannte Vostells Arbeitsweise bereits aus zusammen durchgeführten Projekten wie der Ausstellung 5-Tage-Rennen des gemeinsam gegründeten Labors zur Erforschung akustischer und visueller Ereignisse e.V. Köln148 oder Vostells De-Coll/age-Arbeiten zu Kagels Film Duo (1968). Wulf Herzogenrath attestiert Vostells De-Coll/agen eine ähnliche Wirkung, wie sie Kagel als das „mühelose Kontinuum“149 beschreibt, welches erreicht werde, wenn man das Collage-Prinzip in endgültiger Konsequenz fortführen würde: Plakatabriße [sic!] oder wie zufällig überarbeitete Bilder mit neben- und übereinandergereihten Zeitschriften: die Reproduktionen aus der banalen Umwelt, dem Konsum und der Werbung, bilden die Grundlage und zugleich den Endpunkt der bildlichen Gestaltung: Gelebtes Leben wird in den vergessen Resten in einen neuen Zustand gehoben, die Geste des Künstlers hebt einen Zustand der Vergangenheit für die Zukunft auf.150

Das Ziel von Vostells Collagen ist es offenbar, das Disparate der Welt – gleichsam in einem mimetischen Akt – gegeneinander zu stellen, um die Zeichen und Codierungen der Gesellschaft zu ent-decken.151 Natürlich kann bei Kagel nicht von einem offenen gesellschaftskritischen Agens wie bei Vostell ausgegangen werden, zumal das von Kagel verwendete Material nicht mit der Banalität des Alltaglebens behaftet ist. Vielmehr besticht die Ähnlichkeit der Verfahrensweisen und des tatsächlichen Ergebnisses. Anders als Vostell, der heterogenes Material, also Material aus verschiedenen Kontexten, für seine Collagen benutzt, verwendet Kagel aber homogenes Material aus einem Kontext, nämlich Zitate beethovenscher Musik. 152 Während in Vostells Werken die Disparatheit der Welt in ihren Repräsentanten, den collagierten Elementen, aufrecht erhalten wird, und diese ‚Welt‘ somit im Werk dekonstruiert wird, kippt im Musikzimmer die Verweisrichtung der Repräsentanten, verursacht durch deren massive Häufung und die ausschließliche Zugehörigkeit zu Beethovens Musik, zurück auf den ursprünglichen, aber abwesenden Schöpfer. Die Notenfragmente des Musikzimmers funktionieren in diesem Sinne wie eine Sammlung von Objekten, die auf das abwesende Repräsentierte verweisen. 148

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Dieses Projekt ist dokumentiert in: interfunktionen., H. 2, Themen: Labor 5-Tage Rennen Die ideale Akademie Fluxus Materialien etc., hg. v. Friedrich Wolfram Heubach, Köln 1969. Vgl. auch Kagels Ausführungen in: Kagel, Herzogenrath u. Lueg: „Mauricio Kagel: Interview mit Wulf Herzogenrath u. Gabriele Lueg.“, in: Die 60er Jahre. Kölns Weg zur Kunstmetropole. Vom Happening zum Kunstmarkt, Kat. der Ausst. des Kölnischen Kunstvereins (Köln, Josef-Haubrich-Hof 1, 31.8.-16.11.1986), hg. v. Wulf Herzogenrath und Gabriele Lueg, Köln 1986, S. 175-186, hier S. 178. Kagel/Faust, Interview mit Mauricio Kagel, Vorwort der Partitur zu Ludwig van, S. V. Wulf Herzogenrath, „Die Geburt der Kunstmetropole Köln aus dem Geist der Musikaktion um 1960. Eine kühne These mit einigen Belegen“, in: Die 60er Jahre. Kölns Weg zur Kunstmetropole, S. 6-20, 22, 24-25, hier S. 16. Natürlich spielt die Herstellung der De-Coll/age, welche meistens als Happening oder innerhalb eines Happenings gestaltet wurde, bei Vostell eine tragende Rolle. Das Herunterreißen und Zerstören von Vorgegebenem war sicher in diesem Moment wichtiger als das Ergebnis. Dennoch hinderte es Vostell nicht daran – und darin ähnelt er Joseph Beuys – die Resultate dieser Aktionen als eigen ständige Kunstwerke auszustellen. Joachim Noller sieht sogar direkte Analogien zwischen Vostells Verfahren der De-Coll/age und Kagels Technik der Dekomposition. Jochim Noller, „Fluxus und die Musik des sechziger Jahre: Über vernachlässigte Aspekte am Beispiel Kagels und Stockhausens“, in: NZfM 146 (1985), Nr. 9, S. 14-19, hier S. 15.

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Spinnt man Vostells Idee der De-Coll/age weiter, also die eines Aufzeigens von Disparatem mit dem Ziel einer substantiellen Heterogenität, käme Kagel zu einer Rückkopplung der Verweise, quasi zu einer De-De-Coll/age. Die Dialektik besteht hier nicht in der Zersplitterung der Bedeutungen in das Heterogene, wie es bei Vostell zu interpretieren wäre, sondern im Umschlag auf die zersplitterte Repräsentation des abwesenden Ursprungs dieser Musik. In diesem Sinne können auch Kagels Worte verstanden werden: „So entsteht dialektisch ein Über-Beethoven.“ Denn nur in dieser Folgerung, die aus der Noten-Collage und ihrer flächigen Wahrnehmung kommt, kann Kagel sich die poetische Freiheit erlauben, die Musikzimmertapete nicht im buchstäblichen Sinne zu vertonen, sondern weitere Manipulationen mit dem Ton- und Bildmaterial zu unternehmen. Lässt man sich von der Kamera leiten und betrachtet die einzelnen Notenfragmente für sich, stellt sich ferner die Frage, ob diese Fragmente noch die Eigenschaften eines Zitats besitzen oder ob sie im kompositorischen Sinne bereits zu Material geworden sind. Auffällig an dieser Collage ist, dass die Beethoven-Zitate, obwohl schon größeren Formats als die der ‚Noten-Ursuppe‘ Jirí Kolářs, meistens zu klein und zu unbedeutend sind, als dass sie als originale Musik von Beethoven zu erkennen sind. Schließlich verweisen die Collage-Fetzen, die zu einem Großteil aus Nebenstimmen bestehen, nicht gerade auf personale kompositorische Eigenschaften Beethovens. 153 In ihrer Partikelhaftigkeit verlieren sie ihre Identität, d.h. ihre Herkunft und werden im höchsten Grade von der Collage assimiliert, so dass sie allenfalls den Charakter von Stilzitaten besitzen. (Von den wenigen markanten Werkzitaten sei hier abgesehen.) Demnach wäre Kagel seiner in Bezug auf die Schallplattenproduktion gestellten Forderung nach einer absoluten, also bis zur äußersten Konsequenz durchgeführten Collagetechnik auch im Film nachgekommen. So sagt er: Eine endgültige Konsequenz des Collage-Prinzips wäre die Aufhebung des intellektuellen Eigentums. Diese Aufhebung ist aber nicht gleichbedeutend mit Zerstörung. Die immanente Lebendigkeit der Collagetechnik beruht vielleicht in der fließenden Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen dem Hier und Woanders, zwischen privatem und öffentlichem Bewusstsein: die Möglichkeit eines mühelosen Kontinuums ist gegeben. 154

Diese fast vollständige Assimilation, welche „die Aufhebung des intellektuellen Eigentums“ nach sich zieht, spricht genau gegen den Begriff des Zitats, wie ihn Elmar Budde verstanden wissen möchte. Budde sieht das Zitat in einem Spannungsfeld von Dissimila tion und Assimilation; das Zitat soll in seiner Eigenschaft als Zeichen, welches auf etwas außerhalb des Kunstwerks weist, erkenn- oder zumindest erahnbar bleiben, sich aber ins Ganze des Kunstwerks einfügen. 155 Beim Musikzimmer sind diese Zitate im Einzelnen 153

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Torsten Möller unterzog die Partitur, die immerhin einen repräsentativen Teil des Musikzimmers wiedergibt, einer eingehenden Betrachtung und fand einige Fragmente von Klaviersonaten, der Vio linsonaten op. 12 und op. 23. Er geht davon aus, dass Kagel bekannte Orchesterwerke sowie so genannte ‚schöne Stellen‘ vermied, merkt aber auch an, dass das Identifizieren von Orchesterwerken dadurch erschwert wird, dass Kagel eher Einzelstimmen als Partituren verwendet hat. (Torsten Möller, ‚Ewig jung ist in Ruinen...‘ Die Beethoven-Rezeption Mauricio Kagels im Lichte eines vieldiskutierten Bizentenariums, unveröff. Magisterarbeit, Humboldt-Universität 2000, S. 50.) Kagel/Faust, Interview mit Mauricio Kagel, Vorwort der Partitur zu Ludwig van, S. V. Budde, Zitat, Collage, Montage, S. 26. Zwar bezieht sich Buddes Definition auf musikalische Zitate,

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nicht mehr als Verweis erfahrbar, sie sind gleichsam atomisiert. Sie tragen aber in ihrer Eigenschaft als Material zum Ganzen, zur Komposition bei, und erst durch Kagels zusätzlichen Verweis von außen – die Bezeichnung, dies sei Beethovens Zimmer – schlägt dieses System von Zitaten um in einen großen Verweis auf Beethoven. Kagel ließ nach der Anfertigung Kulisse und der Notentapete nun im nächsten Arbeitsgang das Zimmer filmen. Den Blick des Beobachters Beethoven simulierend, schweift die Kamera en détail über die Notentapete und die Requisiten sowie in Totalen durch das Zimmer. Durch das ‚Filmauge‘156 Kagels bzw. des Beobachters Beethovens betrachtet, wird die nicht-zeitliche Fläche (also die Tapete in ihrer flächigen Ausdehnung) in einen syntagmatischen Fluss (eine zeitliche Ausdehnung) umgesetzt. 157 Die ‚umkreisende‘ Kamera bringt die Tapete in eine zeitliche Folge von Ereignissen und transformiert die bildliche Collage in eine lesbare Vorlage für eine klangliche Interpretation. 158 Die so erzwungene Sicht wird jedoch für den Zuschauer zu einer Tour de force: Die anfänglich geglückten Versuche, die gehörten Instrumenten-Stimmen mit den Noten zu vereinbaren, scheitern letztendlich an der Geschwindigkeit und der Komplexität des Sichtbaren. Das von der Collage ausgehende, anhaltende Irritationsmoment verlangt vom Rezipienten eine besondere Haltung zum Wahrgenommenen, und zwar die Aner kennung des eigenen Ungenügens bei der Rezeption. Das Gefühl des Ungenügens ist ein Wesenszug der Collage, wie Heinz Hostnig sie in Bezug auf das Hörspiel und in Anlehnung an Walter Benjamins Vorstellung des Flaneurs 159 definiert: Es ist nicht erforderlich, daß wir in gespannter Konzentration die ursprünglichen Zusammenhänge rekonstruieren, denen die vorgeführten Details entnommen sind. Es liegt im Wesen der Collage, daß dem Hörer keine Zeit gelassen wird, über Details nachzudenken, sonst verliert er

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aber dieses Spannungsfeld kann an Zitaten jeglicher Art beobachtet werden. Er rekurriert auf den literaturwissenschaftlichen Zitatbegriff von Herman Meyer (Das Zitat in der Erzählkunst. Zur Geschichte und Poetik des europäischen Romans, 2., durchgesehene Aufl., Stuttgart 1967, S. 12). Die Relevanz von Buddes Artikel lässt sich an Stefan Frickes Artikel über die Collage (in: MGG2, Sachteil, Bd. 2, Sp. 938-944) ablesen, dessen Ausführungen sich weitestgehend auf Buddes Beitrag stützen. Diese Metapher ist an das Manifest Kinoglaz (übersetzt: Filmauge) von Dziga Vertov entlehnt. Vertov war Mitglied der in den 1920ern in Russland entstandenen „Kinoki“, und forderte, dass die Filmkamera „Behutsamkeit [...] bei der Erkundung des Lebens“ walten lassen solle, „denn ihre Hauptaufgabe ist es nicht, sich im Chaos des Lebens zu verlieren, sondern sich in der Umgebung zurechtzufinden, in die sie geraten ist.“ (Dziga Vertov, „Kinoglaz“ (1924), in: Texte zur Theorie des Films, 3. durchges. und erw. Aufl., hg. v. Franz-Josef Albersmeier, Stuttgart 1998, S. 51-53, hier S. 5152). Strukturalistisch ließe sich die nicht-zeitliche Fläche als ‚Paradigma‘ bezeichnen, da sie die Summe aller möglichen Beziehungen der Teile untereinander beinhaltet. Erst durch die Fokussierung und die Umsetzung in die Zeitlichkeit, also als Syntagma, wird die Noten-Collage ‚versprachlicht‘. Vgl. auch Umberto Eco, der beobachtet, dass es Kunstformen gibt, „deren Werke räumlich und zeitlich immobil sind, aber unabhängig von ihren Inhalten eine Zeit der Umkreisung verlangen. Gewöhnlich sind es dreidimensionale Werke, bei denen der Betrachter, wenn er nicht nur einen partiellen Eindruck von ihnen gewinnen will (wie er ihn durch eine zweidimensionale Reproduktion erhielte), eine gewisse Zeit braucht, um sie zu umkreisen.“ (ders., Die Zeit in der Kunst, S. 146). Walter Benjamin, Das Passagenwerk, hg. v. Rolf Tiedemann (= Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. V, 2 Teile), z.B. Bd. V, 2, S. 10521054.

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Intermedialiät und Musik den Anschluss. Das Tempo der Schnittfolge verbürgt die Autonomie des Details. Ihre beiläufige Wahrnehmung genügt.160

Obwohl Hostnig hier das Hören beschreibt, lässt sich dieser Befund auch auf die all mähliche optische Aneignung eines räumlich ausgedehnten Gegenstandes übertragen, sei es der Malerei oder der Plastik. Dieser Prozess ist an sich nichts Ungewöhnliches, es ist das Verarbeiten der Welt, welche uns als Räumliches oder Flächiges gegenübertritt, in ein für die menschliche Auffassungsgabe zumutbares Maß der zeitlichen Dimension. Der grundsätzliche Unterschied ist nun der, dass bei der Malerei der Betrachter – im Rahmen der vom Kunstwerk gesteckten, von Umberto Eco so genannten „Maßgaben der geforderten Rezeptionszeit“161 – frei entscheiden kann, welches Detail oder welchen Punkt er zuerst anschaut. Beim Betrachten eines Films ist er aber auf den Fokus des ‚Filmauges‘ beschränkt und kann nicht mehr wählen. Wenn man nun ein Kunstwerk abfilmt, fallen die Rezeptionszeit des freien Beobachters und der dem Medium Film innewohnende und immer einem Zwang unterworfene lineare – laut Eco syntagmatische – Fluss zusammen. Die Frage, ob es sich bei der filmischen Abbildung der Noten tapete um eine Collage oder eine Montage handelt, also ob der Eindruck der Simultaneität oder der Eindruck der syntaktisch operierenden Separiertheit vorherrscht, scheint hier nur noch von der Auffassungsgabe des Schauenden abhängig zu sein. Zudem wird die bildlich dargestellte Struktur von Beethovens Notenmaterial gleichzeitig in einen Leseakt (visuell) und in einen Sprechakt (akustisch) umgewandelt, wobei die Simultanität dieser beiden Vorgänge en détail kausale Wechselwirkungen impliziert. Das Gelesene wird vom Gehörten beeinflusst oder das Gehörte vom Gelesenen, je nachdem welchen Sinneseindruck der Zuschauer fokussiert. Als eine weitere Collage ließe sich natürlich auch die Schallplattenproduktion bezeichnen. In dem vielzitierten Interview mit Karl Faust sagt Kagel zur Schallplattenaufnahme: Der Hörer einer Komposition, in der Musikzitate sporadisch vorkommen, wird häufig in eine Rolle gedrängt, die der eines Fensterbank-Zuschauers ähnlich ist: Menschen gehen an ihm vorbei, er bleibt stets am gleichen Platz; kennt er zufällig einen Passanten, so wird höflich mit dem Kopf genickt. Das Gegenteil davon habe ich mir vorgenommen: durch minuziöse Inzucht von mehr oder weniger bekannten Stücken – ohne Fremdstoffzusatz – eine möglichst zusammenhängende Montage zu collagieren; die Aufmerksamkeit des Hörers sollte sich auf die musikalische Substanz des Kontextes richten können und nicht durch ein anekdotisches Erkennen abgelenkt werden.162 160

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Heinz Hostnig, „Hörspiel – Neues Hörspiel – Radiospiel“, in: Spuren des Neuen Hörspiels, hg. v. Klaus Schöning, Frankfurt a. M. 1982, S. 201-212, hier S. 208. Vgl. Eco, Die Zeit in der Kunst, S. 147. Kagel/Faust, Interview mit Mauricio Kagel, Vorwort der Partitur zu Ludwig van, S. V. Mit der Formulierung „Inzucht von mehr oder weniger bekannten Stücken“ sind also nicht die Notenschnipsel gemeint, sondern die Klangergebnisse der Schallplatte. Kagel schien hier hauptsächlich daran gelegen, die Stücke, in denen einzelne Zitate erscheinen, von seiner gänzlichen reinen Zitat-Collage zu trennen. Er rechtfertigt seine generelle Herangehensweise als postmoderner Komponist gegenüber dem drohenden Vorwurf des Plagiats, der vermutlich so hartnäckig gewesen sein muss, dass Francoise Escal sich noch 1993 damit beschäftigt. Vgl. Escal, „Hétéronome/autonome: La technique du collage dans Ludwig van de Mauricio Kagel“, in: Montages/collages: Actes du second colloque du CICADA, hg. v. Bertrand Rougé, Pau 1993, S. 51-57. In einer frühen Skizze zur Schallplattenauf-

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Der grundlegende Unterschied zur Filmsequenz des Musikzimmers besteht jedoch in der zeitlichen Ausdehnung der Zitate: In der Filmsequenz des Musikzimmers werden die Zitate assimiliert und somit quasi Material. In der Schallplattenaufnahme wird ihnen mehr Zeit eingeräumt, sich zu entfalten und entziffert zu werden, sie fungieren dort als formgebende Elemente und treten untereinander in musikalisch-syntaktische Beziehungen. Insofern ist Kagels widersprüchliche Beschreibung der Schallplatte „eine möglichst zusammenhängende Montage zu collagieren“ auch im Hinblick auf die Simultaneität der Collage und den grundlegend formkonstituierenden Charakter der Montage durchaus nachzuvollziehen. Zudem sind die Arten der Verfremdung bei Filmsequenz und Schallplattenaufnahme unterschiedlich: Bei der Filmsequenz sind beispielsweise Originaltempi, auch wenn die Fragmente identifizierbar sind, nicht bindend. In der später herausgegebenen Partitur, die ausschließlich aus Detailfotos des Musikzimmers besteht, ist dies nachzuvollziehen: „Der Aufführende“ der Partitur soll laut Kagel „versuchen, den optischen Verlauf des Notenbildes in die ihm passend erscheinenden Tempi umzusetzen.“ 163 Dies lässt sich auch im Film nachvollziehen: Neben der freien Wahl von Oktavierungen und Schlüsseln bleibt der Klang im Vergleich zur Instrumentation in den anderen Sequenzen des Films aber bemerkenswert unbearbeitet und unverfälscht. Kagel schien daran gelegen zu sein, dass der Zuschauer an einigen wenigen Stellen das Notenmaterial wiedererkennt, schließlich macht das einen großen Teil des Witzes dieser Sequenz aus. Anders bei der Schallplatte, dort setzt Kagel auf klangliche Verfremdung: Zwei von insgesamt drei Tonspuren sind mit Effektgeräten, einem Hallgerät und einem so genannten Zerhacker, der in einer bestimmten Frequenz das Signal unterbricht, bearbeitet. 164 Ebenso werden die Akkorde mit fortlaufenden Transpositionen versehen, dissonante Klänge werden ausgehalten und vieles mehr.165

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nahme (Bl. 1 von 50, in: Archivbox „Notizen zur Schallplattenaufnahme“) stellt Kagel die Beziehung zu Beethoven auch über das Kompositorische her, und zwar in der Form, dass der LP-Aufnahme die 32 Diabelli-Variationen zugrunde lägen, so dass die Beethovenschen Veränderungen transformiert würden und somit eine Potenzierung der Beethovenschen Techniken entstehe; es entstehe eine Collage von Kompositionstechniken. Kagel wiederholt diese Aussage in einem Telefonat mit Torsten Möller, in dem er sagt, dass er die Dauer der für ihn ‚wichtigen‘ Variationen auf die von ihm verwendeten Fragmente übertragen habe. „Darüber hinaus entwarf er einen ‚strengen Kontrapunkt‘ von Dauern und Tempi, so dass letztendlich ein Form-Gerüst resultierte, das – nach Kagel – „seine objektive Strenge auf das Ganze projizierte.“ (Möller, „Ewig jung ist in Ruinen...“, S. 85). Hierbei sei nochmals angemerkt, dass Kagel sich auch nach dem Endschnitt der Schallplatte die Freiheit genommen hat, umfangreiche Kürzungen vorzunehmen. Kagel/Faust, Interview mit Mauricio Kagel, Vorwort der Partitur zu Ludwig van, S. V. Kagel fertigte für diese Effekte eine Schaltskizze an (in: SMK 5/8). In der Aufnahme- und Mischpartitur der Schallplattenaufnahme ist die Verwendung derselben nachzuvollziehen (Bl. 31-50, in: SMK Archivbox „Notizen zur Schallplattenproduktion“). Die Technik der Transposition von vorhandenem Material erinnert an Kagels so genannte nicht-li neare Transpositionen, wie er sie in Chorbuch (1975/78) anwendete. Vgl. Kagel/Klüppelholz, ..../1991, S. 32; ebenso Wieland Reich, Mauricio Kagel. Sankt-Bach-Passion. Kompositionstechnik und didaktische Perspektiven, Saarbrücken 1995 (zugl. Diss. Univ. Siegen 1993), S. 19-38.

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Die somit gegensätzliche Konzeption von Filmsequenz und Schallplattenaufnahme hat sicher auch einen Grund in der unterschiedlichen Länge der beiden Abschnitte. So soll laut Kagel bei der Schallplattenaufnahme „die Aufmerksamkeit des Hörers [...] auf die musikalische Substanz des Kontextes“ 166 gerichtet werden. Diese Dauer steht in der Musikzimmer-Sequenz nicht zur Verfügung, sie besticht durch die Komplexität der Sinneseindrücke, durch die fortwährende Irritation, die die Collage als Wahrnehmungsweise erzeugen kann. Zum Schluss dieser ersten Darstellung von Ludwig van sei letztlich auf einen Aspekt hingewiesen, der die Anwendung von technischen Medien als Speicher- und Wiedergabemedium berührt. Durch die Wiedergabe von zeitlich und räumlich Entferntem sind sie in der Lage eine Unmittelbarkeit zu suggerieren, die zwischen Präsenz und Nichtprä senz, sowohl des Repräsentierten als auch des Medium, changiert. Einige Motive und Verfahren, die aus der filmischen Arbeit an Ludwig van hervorgegangen sind, haben dabei vielfältige Einflüsse auf das weitere Werk Kagels ausgeübt, beispielsweise die Sequenz „LA Liederabend Carlos Feller“. Der Anfang der Sequenz zeigt den Sänger Carlos Feller in der Totale vor dem Piano mit seiner Klavierbegleitung, sie bieten Beethovens Arietta „In questa tomba oscura“ dar. In den weiteren Einstellungen wird die Normalität durch die wechselnde Kameraperspektive aber durchbrochen: In einigen Einstellungen ist der Sänger in der Rückansicht zu sehen, zudem wechselt die Studiobeleuchtung fortwäh rend, wobei die Wechsel asynchron zur Musik und den Einstellungswechseln angelegt sind. (Kagel hat diese Einstellungen in einer Skizze systematisiert.) 167 Ebenso erfährt die Musik Veränderungen, so sind einige Passagen von Piano und Sänger einen Halbton höher intoniert. Zum Ende des Stückes wird wieder die erste Einstellung erreicht, während der Sänger in Spannung vor dem Piano verharrt, erklingt leise aus dem Off die Originalversion des Lieds.168 Dieses kleine Handlungs-Motiv des ‚Sich-Erinnerns nach dem Musizieren‘, oder des ‚Erinnerns nach dem Erklingen‘, nimmt Kagel 22 Jahre später im Klavierstück Passé composé. KlavieRhapsodie auf und gibt ihr durch den Titel eine eigenständige Gestalt. Die für das Rhapsodische generell charakteristische ‚Formlosigkeit‘ wird in Passé composé durch das Fehlen jeglicher Themen und Motive und durch die Aneinanderreihung von in sich inkonsistenten Formteilen erreicht. Das Stück endet abrupt, nach einer Klimax, einem circa 24 Sekunden (Takte 395 bis 407) andauernden, mit beidhändigen 64telSpielfiguren und mit Pedal im fff zu spielenden Abschnitt. Im vorletzten Halbtakt tritt der Pianist das Pedal und betätigt auf dem letzten Akkord unauffällig ein Abspielband, das laut Vorgabe einen „leichten, durchsichtigen Teil“ der Komposition vorzutragen habe: 166 167

168

Kagel/Faust, Interview mit Mauricio Kagel, Vorwort der Partitur zu Ludwig van, S. V. Laut Anweisung im Drehbuch Ludwig van, S. 37 (in: SMK 1/8): „Der provinzielle Eindruck seiner Darbietung ist durch eine unglückliche Kameraeinstellung zu verstärken, welche nur einmal verändert wird, und zwar zuungunsten [sic!] des Interpreten (z.B. ein Teil des Kopfes und die Beine unterhalb der Waden abschneiden).“ Diese Spur ist während des Tonschnitt hinzugefügt worden.

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Abb. 17: Kagel, Passé composé. KlavieRhapsodie (1992-93), Reprographie des Drucks, S. 33.

Aus der Klangfläche des verklingenden Schlussakkords tritt nach einiger Zeit die Wiedergabe der aufgezeichneten Passage heraus: „Die [sic!] wiederzugebende Abschnitt darf nicht länger als die ausklingenden Töne sein und die Einspielung soll mit einer langen, fast unmerklichen Ausblende versehen werden [decrescendo-Gabel] so dass das Gerät erst lange danach gestoppt werden kann.“ Für die Interpretation dieses ‚passé composé‘ stehen mehrere Möglichkeiten offen, zum Beispiel Kagels Interpretation in der Aufführungsanweisung: Auf eine elektroakustische Wiedergabe mit getrennter Verstärkung und Lautsprecher [sic!] ausgezeichneter Qualität sollte verzichtet werden. Gerade der unvollkommene Klang des [innerhalb des Flügels] eingebauten Lautsprechers wird hier der Atmosphäre einer ‚unbestimmten Vergangenheit‘ am ehesten entsprechen.169

Neben dem Konnex zur romantischen Klaviertradition, die bereits durch die Klanglichkeit des Werks gegeben ist, benennt ‚passé composé‘ in seiner Wortbedeutung eine „Handlung, die in einer unbestimmten oder bestimmten Vergangenheit durchgeführt wurde und die man in Beziehung zu Gegenwart betrachtet“ 170 – oder auch eine „vollendete Vergangenheit“171 – und zugleich die Tätigkeit der Erinnerns, und zwar das ‚zusammengesetzte‘ oder ‚komponierte Erinnern‘ einer „unbestimmten Vergangenheit“. 172 Durch seine rhapsodische Anlage wirkt das Werk selbst in seiner syntaktischen und for malen Unbestimmtheit zusammengesetzt. Zur Hilfe kommt diesem zusammengesetzten Erinnern schließlich ein technisches Medium, ein Aufnahme- und Wiedergabegerät.

169 170

171

172

Mauricio Kagel, Passé composé. KlavieRhapsodie (1992-93), Edition Peters 1996, PN 31999, S. 33. Kagels Definition nach einer französischen Grammatik von Maurice Grevisse, zit. nach Mauricio Kagel, in: Begleittext zur CD Mauricio Kagel, Solowerke für Akkordeon und Klavier, Theodore Anzellotti (Akk.), Luk Vaes (Klavier), Winter & Winter 910035-2, 1998, o. S. (Orig. nicht eingesehen.) Kagel vermerkt unter einer Zeitungsanzeige der Tagebücher Jean Cocteaus, betitelt mit „Vollendete Vergangenheit“: „Vollendete Vergangenheit = | Passé composé !!“ Die Zeitungsanzeige ist nach Kagels Angaben aus Die Zeit (22.10.92), in: Konvolut Passé composé, Mappe „Unterlagen: Mélange“ (im Verzeichnis der Quellen nicht gesondert aufgenommen). Kagel sagt zu dem Schluss von Passé composé: „Das Ende ist hier der Beginn einer Erinnerung.“ (ders., Dialoge, Monologe, hg. v. Werner Klüppelholz, Köln 2001, S. 119).

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Kagel löst das – hier dezidiert erzeugte – musikalische ‚Formproblem‘ durch ein techni sches Medium und schafft durch die technische Reproduktion eine Reprise, die zum einen musikalisch als Formteil fungiert und zum anderen unter Verwendung eines technischen Mediums in die Theatralik übersetzt wird. Die dem Speicher- und Wiedergabemedium Tonband inhärente Eigenschaft zur klanggetreuen Wiedergabe und damit die potentielle Fähigkeit des Mediums zur Authentizität wird hier durch die klangliche Verfremdung des eingebauten Lautsprechers thematisiert.

3

Medien, ihre Techniken und ihre Wahrnehmungsweisen

Die Ambivalenz des Medialen in seiner Daseinsmöglichkeit als Subjekt und Objekt scheint in der elektroakustischen Musik besonders zutage zu treten, ist doch hier das technische Aufzeichnungs- und Wiedergabemedium des Tonbandes immer auch Veräußerlichtes, dem Kompositionsprozess sich ein als Artefakt Darstellendes. Ähnlich wie eine Skizze dokumentiert das klangliche Zwischenresultat einer kompositorischen Realisation den Kompositionsprozess, ist also quasi der ‚Fußabdruck‘, den der Kompositi ons-‚Schritt‘ hinterlassen hat. Darüber hinaus besitzt es aber sinnliche Unmittelbarkeit, so dass es dem Komponisten als bereits Vollendetes, sich dem kompositorischen Sub jekt als komponiertes Objekt Gerierendes, entgegentritt. Insofern unterscheidet sich das sinnlich unmittelbar erlebbare Artefakt vom noch nicht zum Klang oder zur Szene gewordenen Notat. Dieser sinnlichen Unmittelbarkeit in der Rezeption steht jedoch im Kompositionsprozess die Mittelbarkeit des Mediums als Produktionsmedium entgegen. Die unmittelbare Klanglichkeit, welche die technischen Aufnahme-, Bearbeitungsund Wiedergabemedien erzeugt werden können, auch für die instrumentale Komposition auszunutzen, also den Weg des technischen Fortschritts gewissermaßen zurückzu gehen, mag zunächst ein wenig sonderbar erscheinen. György Ligeti ging diesen Weg, um unter anderem Klangverläufe zu determinieren, die ihren ideellen Ursprung in der Elektroakustik haben, aber mit der damaligen apparativen Technik nicht möglich gewesen wären. So war zum Beispiel eine seiner bekanntesten Orchesterkompositionen, Atmosphères, ursprünglich als elektronische Komposition geplant. 173 Um die Ambivalenz des Medialen zu erörtern, seien drei Beispiele herangezogen: zunächst ein kleineres aus der Schallplattenaufnahme Ludwig van, dann die „Romanze“ aus den Chorstücken aus Rrrrrrr... und schließlich eine längerer Abschnitt aus Exotica. Bei allen drei Beispielen handelt es sich um nicht-elektroakustische Musiken. Besonders für Exotica174 ist wichtig, dies festzuhalten, da es sich hierbei um eine Studioeinspielung 173

174

Laut Ligeti verursachte die damalige Tonbandtechnik unüberwindbare klangliche Probleme, so dass er seine Klangvorstellungen schließlich als Orchesterpartitur realisierte. Siehe Ligetis Beschreibung der Werkgenese von Atmosphères in seinem Beitrag „Musik und Technik. Eigene Erfahrungen und subjektive Betrachtungen“, in: Computermusik. Theoretische Grundlagen. Kompositionsgeschichtliche Zusammenhänge. Musiklernprogramme, hg. v. Günther Batel u.a., Laaber 1987, S. 9-35, hier 15-20. UA am 23.6.1972 im Pavillon der Ausstellung „Weltkulturen und Moderne Kunst“ im Rahmen des

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handelt, bei der die apparative Technik einerseits für die in der Partitur angewiesenen Montagen und Collagen und andererseits für die obligatorische Endbearbeitung eingesetzt wurde.175 Im später thematisierten Beispiel aus Exotica, der Schlussabschnitt des Teiles „A“ am Ende der ersten Schallplattenseite, ist aber davon nichts zu spüren, es ist eine der wenigen Stellen, an denen die Einflussnahme der apparativen Technik des Mediums nicht zu erkennen ist. Die Schallplatteneinspielung zu Ludwig van ist fast gleichzeitig mit dem Film entstanden und nimmt wie jener auch Klischees und Hörerwartungen zum Ausgangspunkt. Der direkte analytische Vergleich mit den Verfahrensweisen des Films zeigt aber, dass die Schallplatteneinspielung in ihrer kompositorischen Ausformung gänzlich andere Schwerpunkte als der Film und die aus dem Musikzimmer hervorgegangene Partitur legt, so dass man die Schallplattenaufnahme – anders als bei den bereits genannten Realisationen von Antithese – als einen neuen und unabhängigen Zugang zum Sujet ‚Beethoven‘ werten kann.176

175

176

Musikprogramms des „Olympischen Sommers“ am Haus der Kunst, München. Bei dieser Aufnahme handelt es sich um die Ersteinspielung für die DGG, aufgenommen vom 23. bis zum 26 März 1972 im DGG-Studio München (laut „Aufnahmeplan Nr. 29/72“ vom 29. Februar 1972, 3 Bl., in: Mappe [6/7], dort Konv. „[1]“). Es gibt noch eine spätere, von Kagel autorisierte Aufnahme, und zwar einen Live-Mitschnitt vom Juni 1992. (Koch/Schwann Aulos 3-1391-2; Mitglieder des Ensemble Modern, Ltg.: Mauricio Kagel). Dort ist die Formdisposition jedoch anders: Laut Wilson lässt Kagel den Ablauf des A-Teils, der bei der DGG-Aufnahme fast unberührt bleibt, „durch zahlreiche Einschübe aus dem Materialvorrat der anderen Teile unterbrechen“. Peter Niklas Wilson, „Welt-Musik-Politik. Das Fremde als Projektion, Imitation, Illusion in Mauricio Kagels Exotica“, in: Komposition als Kommunikation. Zur Musik des 20. Jahrhunderts, hg. v. Constantin Floros u. a., Frankf. a. M. u.a. 2000 (= Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft, Bd. 17), S. 227239, hier S. 230. Christian Utz hatte für seine Analyse vermutlich nur die spätere Einspielung des Ensemble Modern zur Hand, so dass er sich genötigt sah, Claus Raabs richtige Interpretation des Teiles A, welcher sie als eine in sich geschlossene und konsistente Form deutete, zu kritisieren (Christian Utz, Neue Musik und Interkulturalität. Von John Cage bis Tan Dun, Stuttgart 2002, S. 172-186, S. 179). Kagel stellte den Entwürfen, die in die endgültige Fassung Eingang gefunden hatten, eine Arbeits phase voran, die man als ‚Feldstudien‘ bezeichnen kann: Und zwar wertete er bekannte Schallplatteneinspielungen beethovenscher Werke nach ihrer Tauglichkeit für eine weitere Collage und Montage aus. Die Skizzen dieser frühen Arbeitsphase lassen annehmen, dass Kagel die Zwischenergebnisse dieses Prozesses auch auf Tonband festhielt. (Siehe Skizzen, Bl. 11r-17r/50, in: SMK Archivbox „Notizen zur Schallplattenproduktion“, und ebenso das Konvolut „Historische Aufnahmen | Ankündigungsblatt UE“ (überformatige Mappe, o.N.), wo auf 14 Blättern (DIN A4, Lichtpause des Typoskripts) die damals im Handel erhältlichen Einspielungen beethovenscher Werke aufgelistet sind.) Die Akribie, mit der er den Arbeitsprozess dokumentierte, lässt aber darauf schließen, dass das Konzept, allein fremde (und sehr prominente) Interpretationen als Materialgrundlage für die weitere Verarbeitung zu nehmen, tatsächlich realisiert werden sollte. Der Grund, warum er dieses Projekt hat fallen lassen, ist aus den Skizzen zwar nicht ersichtlich aber vermutlich sehr naheliegend: Die GEMA-Gebühren für die verwendeten Schallplatteneinspielungen wären sicher immens gewesen. Zumindest hätte diese Realisation erhebliche Anwaltskosten und im Beethovenjahr 1970 sicher auch einen Skandal verursacht.

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Der im Weiteren thematisierte Abschnitt des Werkes ist etwa 15 Sekunden lang und findet sich in der Schnittpartitur bei 4’15’’ (Tonband I, Take 151). In der Schallplatteneinspielung liegt er etwa bei 3’13’’, so dass davon auszugehen ist, dass Kagel den in der Schnittpartitur dokumentierten Endschnitt ein weiteres Mal kürzte.177 In dieser Passage spielt ein in der Schnittpartitur so bezeichnetes „Klaviertrio“ einen tutti-Akkord: Das Klavier hält einen verminderten Dreiklang über e aus, worauf die Violine und das Violoncello zehn Zweiklänge spielen. Das anfängliche cis1 des Violoncello und die Phrase der Violine (cis2, b1, g1) lassen sich noch mit Bezug auf den Klavierakkord verstehen. Dieser harmonische Zusammenhalt wird jedoch durch die weitere Abwärtsbewegung beider Stimmen in diskontinuierlichen Schritten und Sprüngen gebrochen. Folgendes Notenbeispiel ist eine annähernde Transkription des klanglichen Verlaufes, die einzelnen Töne des Klaviers waren nicht zu ermitteln. Ebenso werden mit zunehmender Verlangsamung die Töne ‚verstimmter‘, die Transkription gibt die Tonhöhen für die zweite Hälfte der Phrase nur annäherungsweise an:

Abb. 18: Kagel, Ludwig van, Schallplatteneinspielung, eigenhändige Transkription der Abwärtsbewegung, 3’13’ (Einspielung), auch dokumentiert in der Schnittpartitur, Tonband I, Take 151 bzw. 4’15’’.

Das allmähliche Verlangsamung, kombiniert mit dem Abnehmen der hellen Klanganteile (vermutlich durch eine langsamer werdende Bogenführung), ergibt den Eindruck eines wiederholten Klanges, der per Tonband transponiert wird. Ob der Tonhöhenorganisation ein besonderes kompositorisches Verfahren zugrunde liegt, ist angesichts des enormen Arbeitstempos während des dreitägigen Aufenthaltes im Aufnahmestudio der DGG (vom 20. bis zum 22. Dezember 1969) 178 fraglich. Wahrscheinlicher ist, dass Kagel die Musiker mündlich anwies, so zu spielen, dass es sich so anhört, als ob ein Tonband oder ein Plattenteller auslaufe. Besonders die ‚verstimmten‘ Töne im tiefen Register lassen annehmen, dass die Musikern nur den Gestus nachah men. In einem Brief an den Pianisten Bruno Canino vom 16. Dezember 1969 bittet er 177

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Die Skizzenblätter Bl. 29r-30r/50, in: SMK Archivbox „Notizen zur Schallplattenproduktion“, dokumentieren, dass Kagel im Januar 1970 den Endschnitt mit seinem Revox-Bandgerät nochmals gekürzt hat. Angabe laut Aufnahmeplan Nr. 88/69 der DGG vom 10. Dezember 1969, Typoskript DIN A4, in: SMK 4/8.

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ihn, Vertrauen in die „Kagel-Methode“ zu haben.179 Als zweites Beispiel für eine interpretatorische Umsetzung des medialen Topos des Tonbandausschaltens lässt sich die Romance für gemischten Chor aus Rrrrrrr.... Sieben Stücke für gemischten Chor a cappella oder mit Klavier von 1981/82 heranziehen. Der Text (laut Kagel anonym aus dem 15. Jahrhundert) besteht aus vier Strophen à vier Zeilen. Weitere formale Ordnung erhält der Text durch die Etablierung von zwei ‚lyrischen Ichs‘, die in einen Dialog treten: in den ersten beiden Strophen ist es ein männliches, in den letzten beiden ein weibliches Ich. Die Aufteilung in männlich/weiblich übernimmt Kagel, jedoch in veränderter Form, indem er den Text als kurzgliedrigen Wechselgesang zwischen den Frauen- und Männerstimmen anlegt. Der streng periodisch geordnete Textes wird zweimal mit der gleichen Musik wiederholt und treibt das Stück in die formale Redundanz. Lediglich die Anweisung zur Interpretation verleiht diesem textlichen ‚Fundstück‘, welches Kagel hier – quasi ‚in der Hand drehend‘ – präsentiert, ein Moment der Abwechslung: Zwei Wiederholungen sind erforderlich, wobei jeder Sänger intoniert: 1. (2a. volta) zunehmend unrichtig; 2. (3a. volta) fast durchweg falsch, jedoch rhythmisch stets genau. Es gelten immer die gleichen Lautstärkeangaben.

Neben dieser Verfremdung der Tonhöhen setzt Kagel diese Handlungsanweisungen in seiner von ihm dirigierten, und insofern autorisierten, Aufnahme 180 um, führt die Verfremdung aber noch weiter: Er lässt den gesamten Chor in den letzten drei Takten (Takte 18 bis 20) gleichmäßig ritardieren und mit einem dazu simultan geführten, kontinuierlichen Abfallen der Tonhöhen die Strophen abschließen. Hierbei sei angemerkt, dass diese neue Interpretation eines ritardando mit gleichmäßigem Abfallen der Tonhö hen im Notentext nicht verzeichnet ist, dort steht für die letzten Takte lediglich quasi a tempo (ma più tranquillo). Beide Beispiele, Ludwig van wie auch Romance, haben eine Gemeinsamkeit: Sie spielen mit der Ausformung von Redundanz in Musik. Bei Ludwig van wird dies an einem Akkord nachvollzogen, der scheinbar wiederholt und transponiert wird, bei Romance ist es ein ganzer Strophenabschluss, der tatsächlich wiederholt, allerdings variiert interpretiert wird. (Die Wiederholung von eines musikalischen Abschnitts, eines Klanges oder einer ganzen Strophe ist sicher ein wichtiges Kriterium, um das Maschinenhafte eines musikalischen Ablaufes wahrzunehmen oder den Ursprung dieses Maschinenhaften aus einem technischen Medium zu orten.)181 179 180

181

Brief Kagel an Canino, 16.12.1969, Typoskript auf Durchschlagpapier DIN A4, in: SMK 4/8. Rrrrrrr.... Sieben Stücke für gemischten Chor a cappella oder mit Klavier, Anagrama für vier Gesangsoli, Sprechchor und Kammerensemble (Konzertmitschnitt vom 21.11.1981, Metz), Mitternachtsstük für Stimmen und Instrumente, hänssler classic 93.054, 2004. Dieser musikalische Topos ließe sich mit Rajewsky als „simulierende Systemerwähnung“ deuten, die sich durch die Herbeiführung einer Illusion, eines ‚Als ob‘ des jeweilig medial Spezifischen auszeichnet (Rajewsky, Intermedialität, S. 114).

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Inwieweit dieses ‚Ausschalten einer Maschine‘ als musikalischer Topos und als medien technische Geste als eine generelle Medienkritik Kagels gedeutet werden kann, ist fraglich. Aber es darf sicher als das fundamentale Sich-Versichern des Menschen verstanden werden, dass er die Maschinenwelt, ob Handy oder Bandmaschine, noch unter Kontrolle hat, und er letztendlich den Aus-Knopf findet. In dieser Hinsicht bedient dieser künstlerische Nachvollzug des Ausschaltens ein zutiefst menschliches Sicherheitsbedürfnis. Im dritten, abschließenden Beispiel aus Exotica wird die Redundanz von Musik ebenfalls genutzt, auch hier wird der Eindruck des technisch-medial Vermittelten hergestellt. Allerdings verbleibt Kagel nicht bei dem musikalischen Topos des Ausschaltens, sondern setzt diesen in einen Diskurs mit damals aktuellen musikästhetischen Diskussionen, wie unter anderem auch dem Weltmusik-Konzept Karlheinz Stockhausens.

4

Exotica als ironische Replik auf Stockhausen

Exotica erscheint für die Untersuchung des Wechselverhältnisses von Subjekt und Objekt prädestiniert, präsentiert es sich doch wie kein anderes Werk Kagels als Objekt: In der Musik, wie auch in den Aussagen Kagels über dieses Werk, lässt sich seine kritische Distanz zum komponierten Material, den außereuropäischen Musiken, erkennen. Die in den Inszenierungsangaben angedeuteten Laborbedingungen konstruieren auch in kompositorischer Hinsicht eine Atmosphäre der Nichtaffirmation, das musikalische Material des Werks erscheint lediglich als Objekt einer kompositorischen Behandlung durch das Subjekt. Damit wäre dieses Werk hinsichtlich der Grundannahme des Fehlens eines Subjekts eines der wenigen Beispiele, an denen sich dieses Subjekt durch seine eigene Thematisierung tatsächlich auch als Ästhetikum orten ließe, und sei es nur in seiner Nichtaffirmation und seinem Grad der Distanzierung. Jedoch geht beim Hören oft die Verwun derung einher, dass viele Klänge trotz ihrer ‚archaischen‘ Herkunft erstaunlich avanciert sind und sogar in die Nähe zu Klangphänomenen der Elektroakustik finden. Dies spiegelt sich in der Partitur wider und in den avancierten Techniken, denen das Material unterworfen wird. Insofern ist die Behandlungsweise des musikalischen Materials eine ironische, da die Beziehung des kompositorischen oder künstlerischen Subjekts zum Objekt, der Musik, von der Ambivalenz der Distanzierung und Affirmation geprägt ist. Darüber hinaus eröffnet dieses Werk meines Erachtens einen direkten Diskurs mit einem diametral entgegengesetzten Musik-Konzept, und zwar den Zeit- und Klangvorstellungen Karlheinz Stockhausens, wobei Kagels Nachvollzug von technisch bedingten musikalischen Prozessen sich als naiv gegenüber denen Stockhausens gibt. Im Folgenden sei zuerst anhand einer prominenten Passage aus Stockhausens Kontakte und seinen verbalen Ausführungen zu dieser Passage dargestellt, wie er seine elektroni schen Klangschöpfungen legitimiert und wie er sie künstlerisch umsetzt. Die Detailfreude, die die folgenden Seiten auszeichnen, sind hierbei zum einen der immer noch ungenügenden Kritikfähigkeit der Literatur gegenüber Stockhausens Aussagen geschuldet, zum anderen durch meine Meinung, dass Stockhausen in dieser Passage die Mög-

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lichkeiten der elektroakustischen Musik nicht ausnutzt, sondern Phänomene nachzeichnet, die prinzipiell mit elektroakustischen Klangerzeugern generiert werden könnten. (Dies geht zwar auch aus den Selbstaussagen Stockhausens hervor – wenn man sie unvoreingenommen liest –, aber es erscheint nötig, die Sachverhalte nochmals darzustellen.) Es wird zu zeigen sein, dass Stockhausen in der besprochenen Passage keine elektroakustische Musik (im emphatischen Sinne) macht, sondern elektroakustische Musik mit den Mitteln von Klangerzeugern der Elektroakustik nachzeichnet. Er benutzt die Klangerzeuger als ‚Instrumente‘, wobei sich diese instrumentale Verfahrensweise nicht fundamental von der Kagel unterscheidet, wenn dieser in Exotica elektroakustische Phänomene mit Hilfe von menschlichen Stimmen nachzeichnet. Des Weiteren sei anhand von Indizien der nicht unbedingt offensichtliche Konnex zu Kagels Exotica gezogen, um zu zeigen, dass Kagels hochartifizielle Umsetzung einer Klangtransformation durch ihre klangliche Naivität eine geglückte Umsetzung von Kompositionsweisen ist, die aus den technischen Medien herrühren, zugleich aber eine Kritik an Stockhausens Vorstellung einer Weltmusik darstellt. Karlheinz Stockhausen äußert sich in dem Artikel „Die Einheit der musikalischen Zeit“ sehr ausführlich über die elektronische Klangerzeugung und die daraus resultierenden Kompositionstechniken seiner Kontakte (1959-60).182 Er trennt anfänglich die musikalischen Parameter Tonfarbe, Tonhöhe, Tonstärke und Tondauer voneinander, um sie dann zu synthetisieren: Erst seit den Vorbereitungsarbeiten für die elektronische Komposition ‚Kontakte‘ habe ich Wege gefunden, alle Eigenschaften auf einen Nenner zu bringen. Ich ging davon aus, dass die Unterschiede akustischer Wahrnehmung doch alle auf Unterschiede zeitlicher Struktur von Schwingungen zurückführbar seien.183

Als Beispiel führt er eine Passage aus seinem Werk Kontakte (ab Minute 17) an. Im Folgenden sei kurz dargestellt, wie Stockhausen den Ton generiert, den er im Beispiel als glissando setzt und schließlich in eine Impulsfolge münden lässt. (Die Schritte der Klangerzeugung dieser Glissando-Stelle sind in der Realisationspartitur auf Seite 47-48 als Punkte 42, 44a-e vermerkt. In der nachliegenden sog. Aufführungspartitur ist auf Seite 19-20 bzw. ab 17’05’’, das Resultat der Tonbandmontage festgehalten.)

182

183

Karlheinz Stockhausen, „Die Einheit der musikalischen Zeit“, in: Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1, Aufsätze 1952-1962 zur Theorie des Komponierens, hg. u. mit einem Nachwort versehen v. Dieter Schnebel, 2. unveränd. Aufl., Köln 1988, S. 211-221 (ursprünglich Text für das Nachtprogramm des WDR, erschienen in Zeugnisse, Europäische Verlagsanstalt, Frankf. a. M. 1963). Stockhausen, Einheit der musikalischen Zeit, ebd., S. 212.

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Abb. 19: Karlheinz Stockhausen, Kontakte, Ausschnitt aus der Aufführungspartitur, S. 19-20.

Stockhausen nimmt die seit dem 19. Jahrhundert bekannte Eigenschaft der Schallwelle in der Luft als Longitudinalwelle als Ausganspunkt. 184 Bei der Longitudinalwelle verläuft die Bewegungsrichtung der angeregten Teilchen parallel zur gesamten Welle. 185 Stockhausen dazu: Eine regelmäßig ab- und wieder zunehmende periodische Schwingung, wie die eines Sinustones, wäre dann schließlich das Ergebnis einer kontinuierlich schneller und wieder langsamer werdenden Impulsfolge innerhalb jeder Periode. Der Unterschied zwischen schnellster und langsamster Impulsgeschwindigkeit in jeder Periode gäbe Aufschluß über ihren Schallstärkeverlauf, die Amplitude, und das Zeitintervall zwischen periodisch wiederkehrenden Geschwindigkeiten würde die Tonhöhe bestimmen.186

Er veranschaulicht die weitere Verfahrensweise an einem theoretischen Beispiel: Wenn man eine Impulsfolge, die die oben beschriebenen Charakteristika einer Longitudinalwelle aufweist, aufzeichnet und um das Mehrfache schneller abspielt, also quasi um mehrere Oktaven nach oben transponiert, erhielte man einen Ton mit bestimmbarer Tonhöhe. Allerdings müsse die Longitudinalwelle durch gleichmäßiges Drehen am 184

185

186

Vgl. u.a. Hermann von Helmholtz’ Beschreibung der Unterschiedlichkeit von Wasser- und Schallwelle: „Den Bergen der Wasserwellen entsprechen bei den Schallwellen Schichten. An der freien Wasseroberfläche kann die Masse nach oben ausweichen, wo sie sich zusammendrängt, und so die Berge bilden. Im Innern des Luftmeeres muß sie sich verdichten, weil sie nicht ausweichen kann.“ (Hermann von Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik, Reprogr. Nachdruck d. 6. Ausg., Hildesheim 2003 (= ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Jochen Brüning, Bd. II), S. 17); oder bereits Ernst Florens Friedrich Chladnis bis heute gebräuchliche Unterscheidung in Transversal- und Longitudinalwellen (E. F. Chladni, Die Akustik, Leipzig 1802, Reprogr. Nachdruck, Hildesheim u.a. 2004, S. 216). Insofern kann die allgemein gebräuchliche graphische Darstellung von Schallwellen als Sinuskurven bzw. als stehende Transversalwelle, wie sie bei angeregten Saiten zu beobachten ist, zu Missverständnissen führen, bildet die Darstellung einer Transversalwelle doch die Bewegung des einzelnen Teil chens in der Zeit ab. Stockhausen, Einheit der musikalischen Zeit, S. 212. Was Stockhausen unter einem Impuls versteht, wäre nach dem normalen physikalischen Verständnis ein sehr kurzer Schallimpuls ohne definierte Tonhöhe, also ein sehr kurzes Klangereignis, das der Leser sicher vom unsachgemäßen Einstecken von Lautsprecherkabeln an einen bereits eingeschalteten Verstärker kennt, und das sich lautmalerisch als stimmloses „pock“ äußert.

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Schnelligkeitsregler des Impulsgenerators sehr gut ‚nachgezeichnet‘ sein, sonst ergebe diese extreme Zunahme der Schnelligkeit beziehungsweise Transposition einen Ton mit sehr hohen Geräuschanteilen. Die ursprüngliche beziehungsweise vorher durch Resonanzfilter erzeugte Tonhöhe des Impulses wird durch das Transponieren in den Bereich des Obertonspektrums geführt und wird somit zur Klangfarbe. 187 Dieser physikalische Sachverhalt des kontinuierlichen Übergangs lässt sich nach Stockhausen auch umkehren und für eine Klangtransformation nutzen, so dass – wie in dem berühmten Beispiel aus Kontakte – diese für die Generierung eines scheinbar „kontinuierlichen Übergang[s] vom Zeitbereich der ‚Schwingungen‘ (der ‚Töne‘ mit ihren ‚Farben‘) in den Zeitbereich der ‚Rhythmen‘ (einzeln hörbarer Impulse in bestimmten Zeitintervallen)“ 188 nutzbar machen lässt. Dieser Übergang ereigne sich „in der Zone zwischen ca. 30 und 6 Impul sen pro sec“.189 Während man die ursprünglichen Tonhöhenveränderungen im beschleunigten Ergebnis zunächst als Klangfarbenveränderung hört, nehmen wir sie auf Grund der kontinuierlichen Auflösung des Tones in eine Folge einzelner Impulse allmählich wieder als Tonhöhe wahr. Der anfängliche Ton von 160 Hz gleitet also ca. 7 1/2 Oktaven abwärts und durchfährt dabei in 6’’ + 32’’ [siehe Abb. 17] die Zone, in der unsere Wahrnehmung von ‚Klangfarbe‘ in die Wahrnehmung von ‚Melodie‘ übergeht, die ‚Farbe‘ sich also in eine Folge einzelner ‚Tonhöhen‘ auflöst. An den Schluß dieser Impulsfolge – die letzten Impulsbestände betragen genau 45,5 cm, 48,5 cm, 52 cm, 57 cm (38,1 cm = 1 sec) – habe ich nun noch 3 weitere Impulse in den Abständen 89 cm und 140 cm und mit der Tonhöhe von 160 Hz als Fortsetzung des ritardando und der allmählichen Impulsverlängerung angehängt, und den letzten Impuls habe ich zu einem kontinuierlichen Ton verlängert durch Übersteuerung des Rückkopplungsfilters. Diesen Ton habe ich durch Verstärkung zunehmend obertonreich gemacht und in 5 Stadien kontinuierlich von der Tiefe zur Höhe gefiltert, so daß sich seine Farbe allmählich wieder aufhellt und er wieder ‚nach oben‘ aus dem Hörbereich verschwindet (in ca. 1 ½’)[.]190

Der kompositorische – und auch im Werk tatsächlich nachvollziehbare – Reiz an der Passage ist, dass die verschiedenen Parameter in andere transformiert werden: Zuerst wird die Tonhöhe reduziert (das wäre das glissando), bis sie in einen Bereich kommt, den Stockhausen als den bezeichnet, wo „unsere Wahrnehmung von ‚Klangfarbe‘“ (in seinem Beispiel dem Kompositum an Impulsdichten) „in die Wahrnehmung von ‚Melo die‘ übergeht“ (das wäre in diesem Fall der Impuls mit einer Tonhöhe). Die „Farbe“ löst sich nach seinen Worten „in eine Folge einzelner ‚Tonhöhen‘“ auf. Die Tonhöhe des Glissando transformiere sich ebenso, und zwar ginge sie vom Bereich der Tonhöhe in den Bereich des Metrums, d.h. in die Wahrnehmung eines gleichmäßigen Pulses bzw. von Tonwiederholungen. Sind die parameterübergreifenden Übergänge des Glissando gedanklich und klanglich noch mehr oder weniger nachzuvollziehen und vom Komponisten durchaus physikalisch richtig begründet, so ist der fortsetzende Übergang des ‚Impulses‘ in die Klangfarbe und die endgültige Transformation in die Klangfläche jedoch eher als eine künstle187

188 189 190

Stockhausen, Einheit der musikalischen Zeit, S. 214. Ein ‚reiner‘ Impuls ist aufgrund der Trägheit von Lautsprechermembranen und des dadurch bedingten Ausschwingvorgangs kaum realisierbar, der so erzeugte Impuls hat damit auch fast immer eine tonale Charakteristik. Ebd., S. 216. Ebd., S. 216. Ebd., S. 218.

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rische Setzung zu verstehen.191 Die Verkopplung der Tonhöhe und der Zeit in ihrem simultanen Glissando/Ritardando wird hier nicht mehr weitergeführt, lediglich die ‚Impuls‘-Folge wird verlangsamt, die Klangfarbe dieser Impulse löst sich indes allmählich in eine Klangfläche auf. (Interessanterweise beschreibt Stockhausen diese Klangfläche nur als „Farbe, die wieder ‚nach oben‘ aus dem Hörbereich verschwindet“.) Normalerweise würde bei einer mit Tonband ausgeführten Verlangsamung der Impulsfolgen jedoch auch das Klangfarbenspektrum absinken und das somit langsamer werdende Klangereignis immer dumpfer klingen, wie Kagel es beispielsweise bei den Klängen des Klaviertrios in der Schallplatteneinspielung von Ludwig van täuschend echt nachvollzogen hat. Stockhausen macht allerdings die technischen Grenzen des Mediums unkenntlich, indem er gegen das Dumpferwerden mit dem allmählichen Öffnen von Klangfiltern arbeitet, und dem Klang eine Klangfarbe hinzufügt, die sie durch das Wiedergabemedium allein nicht hätte. Schatt führt dies auf pragmatische Gründe zurück: Offenbar zeigte sich, daß die elektronische Technik nicht imstande war, die hochgespannten Erwartungen einzulösen, wenn Verfahren der seriellen Instrumentalkomposition auf sie angewandt wurden, sondern daß sie ihre eigenen ästhetischen Gesetze hatte. 192

Das grundsätzliche ‚Problem‘ an dieser Vorgehensweise ist aber, dass Stockhausen nicht, wie er im Aufsatz theoretisch herleitet, den Ton aus Impulsen anfertigt – also Impulse in eine Longitudinalwellenform bringt und dann soweit transponiert, dass ein Ton entsteht –, sondern sehr schnelle Folgen von Impulsen mit genau definierten Tonhöhen untransponiert aneinander reiht, so dass der Höreindruck eines durchlaufenden Tones entsteht. Dies lässt sich in der Realisationspartitur auf Seite 47-48, Punkt 42 und 44a-44e nachvollziehen, wo die Klangerzeugung für die Abschnitte des Glissando dokumentiert ist. (Peter Schatt merkt bereits an, dass Stockhausen nach einigen Versuchen mit dem Impulsgenerator zu Sinuswellen zurückgekehrt ist.193 Im weiteren Kompositionsprozess wird der Impulsgenerator mit klang- oder tonerzeugenden Geräten kombiniert, beispielsweise mit Verzerrern oder Engpassfiltern.) Stockhausens zeichnet also seine physikalisch richtige theoretische Herleitung in vereinfachter und praktikabler Form nach. Schatt hat als erster auf die Diskrepanz zwischen der theoretischen Herleitung Stockhausens und der tatsächlichen Umsetzung in der Komposition hingewiesen und deutet diese als ein kreatives Spannungsmoment, das sich in den „Ordnungsprinzipien der einzelnen Materialien“ abzeichne: „eine ehemalige Spannung zwischen der Statik konkreter Determination und der Dynamik des freien Gestaltens“.194 Schatt konstatiert, dass die „Verselbständigung des Materials [...] die Rolle des Komponisten“ verändere: „Statt als vorherbestimmender Planer von Klängen erscheint er schon im Verlaufe der Klangproduktion zunehmend als Auswählender.“ 195 Hierbei sei angemerkt, dass Stockhausen mehrere separate und unterschiedlich erarbeitete Abschnitte mit einander ver191 192

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Vgl. auch Punkte 44 d und e, in der Realisationspartitur, S. 48 und der Aufführungspartitur, S. 20. Peter Schatt, „Tendenzen des musikalischen Materials in Stockhausens ‚Kontakten‘“, in: AfMw 45 (1988), S. 206-223, hier S. 213. Siehe Stockhausen, Kontakte, Realisationspartitur, S. 5. Dort ist nach den ersten Versuchen mit dem Impulsgenerator am 20.2.58 und dem 25.2.58 eine Schaffenspause von drei Monaten zu verzeichnen. Schatt deutet die Versuche danach als Neuanfang. (Schatt, Tendenzen, S. 213). Schatt, Tendenzen, S. 210. Schatt, Tendenzen, S. 217.

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knüpft, um seine Idealvorstellung einer „einheitlich musikalischen Zeit“ zu verwirklichen. Im Aufsatz wie auch in der Realisationspartitur besteht das Ausgangsmaterial bereits aus Impulsen mit festgelegter Tonhöhe. Diese Glissando-Stelle ist also nicht eine direkte klangliche Realisation eines akustischen Phänomens, sondern versucht, physikalische Phänomene, die bereits bei der Klangerzeugung eine grundlegende Voraussetzung spielten, hörbar zu machen. An dieser Stelle werden die akustischen Gesetzmäßigkeiten idealisiert dargestellt und deren parametrische bzw. wahrnehmungspsychologische Grenzen kompositorisch ausgelotet.196 Was hat aber nun dieses Beispiel aus einer elektroakustischen Werk Stockhausens, welches mithilfe technischer Aufzeichnungs- und Wiedergabemedien entstanden ist, mit dem Schlussabschnitt des Teiles „A“ aus Kagels Exotica, also einer ‚rein‘ instrumentalen bzw. vokalen Komposition gemeinsam? Um diese Frage zu beantworten, sei zunächst dieser Abschnitt im Werkzusammenhang dargestellt und analysiert. Die formale Anlage der Partitur zu Exotica ist fünfteilig (Teile „A“ bis „E“), und – ähnlich wie bei Anagrama – steht es dem Interpreten frei, die Teile auch anders anzuordnen. Zudem lassen sie sich laut Partiturvorwort untereinander collagieren. Diese Anweisung zur Collage hat Kagel in der von ihm geschnittenen Schallplatteneinspielung konsequent weitergeführt, so dass Peter Niklas Wilson zu dem Schluss kommt, die Partitur sei für die Analyse der Einspielung nicht verwendbar. 197 Nach einem genauerem Vergleich der Studioaufnahme von 1972 mit der Partitur erweisen sich aber mehr als zwei Drittel des Teiles „A“ als einzige nicht mit anderen Abschnitten collagiert. Zudem ist dieser 196

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Trotz aller physikalischen Stringenz und Folgerichtigkeit der theoretischen Argumentation Stockhausens sorgte sie in der Sekundärliteratur für Missverständnisse, so bei Christoph Blumröder, „Serielle Musik um 1960. Stockhausens „Kontakte“, in: Analysen. Beiträge zu einer Problemgeschichte des Komponierens. Festschrift für Hans Heinrich Eggebrecht zum 65. Geburtstag , hg. v. Werner Breig u.a., Stuttgart 1984 (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Bd. 23), S. 423-435. Er übernimmt Stockhausens Aussage, dass sich alle elektronischen Klänge aus Impulsen zusammensetzen (ebd., S. 431, dortige Fußn. 19) – eine Vermutung, die Schatt bereits mit dem Nachvollzug des Kompositionsprozesses widerlegt hat. Peter Niklas Wilson, Welt-Musik-Politik, S. 229-230. Vermutlich hatte Wilson Einblick in die Quellen. So merkt er erhebliche Unterschiede zwischen der Partiturreinschrift und der gedruckten Partitur an und erkennt die Collageverfahren zu Anfang der Schallplatten-Einspielung. Alle mir bekannten bisher veröffentlichten Darstellungen und Analysen gehen entweder von der Partitur oder von einer der beiden Einspielungen aus, z.B. die kurzen Darstellungen Peter Andraschkes, Folklore und außereuropäische Kunstmusik in Kompositionen der Avantgarde im 20. Jahrhundert, Masch. Habil. Schr., Universität Freiburg im Breisgau 1981, S. 458-460 (wenig verändert auch in: ders. „Exotica aus Deutschland. Soziologisches Fragen in Kompositionen von Mauricio Kagel“, in: Mauricio Kagel (= Musik-Konzepte, Neue Folge, hg. v. Ulrich Tadday, April 2004, Nr. 124), S. 51-70, hier S. 63-66) und Peter W. Schatts kurze Problematisierung in: Exotik in der Musik des 20. Jahrhunderts. Historisch-systematische Untersuchungen zur Metamorphose einer ästhetischen Funktion, München 1986 (= Berliner Musikwissenschaftliche Arbeiten, hg. v. Carl Dahlhaus und Rudolf Stephan, Bd. 27), S. 11-15; Christian Utz’ Analyse, Neue Musik und Interkulturalität, S. 172-186; sowie Claus Raabs sehr ausführliche Analyse der Partitur, u.a. der modalrhythmischen Anlagen, „Zum Problem authentischer Musik. Eine Interpretation von Mauricio Kagels Exotica“, in: Reflexionen über Musik heute. Texte und Analysen, hg. v. Wilfried Gruhn, Mainz 1981, S. 290-315.

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Abschnitt an einer zentralen Stelle, und zwar zum Ende der ersten Schallplattenseite, in seine Gänze exponiert. Der in der Sacher Stiftung eingesehene Synchronisationsplan bestätigt den Hörbefund in den Grundzügen. Auf den Seiten 1-3 von 7’00’’ bis 26’21’’198 findet sich allein die Spur des bis zum Ende des Teiles „A“ aufgenommenen Takes ‚A‘ 199. Der Vergleich der Partitur mit der Einspielung ist jedoch erst ab etwa 14’07’’, mit dem Einsatz der hohen Stimmen möglich, so dass davon auszugehen ist, dass Kagel dem Beginn des Werks – vermutlich in einem späteren Schritt – noch weitere Spuren hinzu gefügt hat.200 Bei der ersten Synchronisation wie bei den weiteren kleineren Veränderungen hat Kagel die formale Geschlossenheit dieses Abschnitts bewahrt, und zwar in Hin sicht auf seine Schlusswirkung, die er bereits in der Aufführungspartitur aufweist. Insgesamt ist dieser Abschnitt die einzige Stelle im Werk, an der eine nachhaltige Schlusswirkung erreicht wird. Dieses Formkonzept ist bei Kagel häufiger zu finden, beispielsweise bei Les Idées fixes (siehe Kap. VI.6) oder Südosten (zentrale Milonga-Stelle), bei denen Höhepunkte ebenfalls durch Zurücknahme in der Dynamik und durch schlusswirkende Auflösungsfelder erreicht werden, auch dort jeweils in der Mitte des Werks. In diesem Abschnitt treten die das gesamte Werk prägende Collagetechnik und sogar die Schnitte gänzlich in den Hintergrund, er wirkt in seiner technischen Unbelassenheit wie ‚live‘ eingespielt. Der Teilabschnitt, der im Weiteren genauer untersucht werden soll, beginnt in der Partitur ab Takt 223 (in der Schallplattenaufnahme bei 22’39’) und endet mit dem Schluss des Teiles „A“ (circa 26’28’’). Zuvor, in den Takten 188 bis 215 (21’18’’ bis 22’07’’), gibt es einen Passage, der sich in seiner Sprachlautlichkeit als ‚japanisch/afrikanisch‘ bezeichnen lässt. ‚Japanisch‘, weil die sehr schnellen Phrasen auf der Aufnahme mit sehr harten Konsonanten und offenen Vokalen realisiert wurden, so dass sie unmittelbar an den Klang und die Akzentuierung der japanischen Sprache erinnern. ‚Afrikanisch‘, weil bei den einzelnen Liegetönen und auch in den pianissimo geführten Passagen die kehligen, obertonreichen Klanganteile vorherrschen und damit an ‚Black Scream Talk‘201, einer afrikanischen Rezitationstechnik, erinnern. 198

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Bei der für die Untersuchung vorliegenden CD-Auflage der Schallplattenproduktion endet der Abschnitt bei 26’29’’. Die weiteren Zeitangaben beziehen sich auf diese Aufnahme. In dem von Kagel autorisierten Live-Mitschnitt von 1992 beginnt die Passage bei etwa 30’ und geht mit Unterbrechungen bis zum Ende durch. Dieser Take ‚A‘ ist aber bereits ein Zusammenschnitt mehrerer Takes. Insgesamt wurden allein für den Teil „A“ 108 zum Teil sehr kurze Aufnahmetakes gemacht (siehe auch Verzeichnis der Quellen, Exotica). Ein dem Synchronisationsplan nachgelegtes Blatt dokumentiert zwar eine Veränderung des Schnitts der 1. Schallplattenseite, dort beginnt jedoch der Take ‚A‘ ab 16’45’’, also später als in der endgültigen Abmischung. Diese Bezeichnung stammt vom Jazzsaxophonisten Eddie Harris, der in den 1970ern – im Zuge der allgemeinen Rückbesinnung auf afrikanische Elemente im US-amerikanischen schwarzen Jazz – diese indigene Technik für den Scat-Gesang einsetzte. (Meine Recherche nach dieser Bezeichnung und generell nach dieser Gesangstechnik in der musikethnologischen Literatur war erfolglos, ver mutlich weil dieser Deklamationsstil – wie auch die durch resonierende Gesichtsmasken erzeugten ‚Geisterstimmen‘ – in rituelle Kontexte eingebunden ist.) Raab bezeichnet diese Figuren sinnfällig als „Lockrufe“ oder „Beschwörungsformeln“ (Raab, Zum Problem authentischer Musik, u.a. S. 313). Das Klangergebnis lässt sich als die Stimme Louis Armstrongs in Kastratenlage beschreiben. Man strapaziert hierfür mit großem Druck die Kopfstimme, wobei der Kehlbereich teilweise mit in die

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Diese Textur wird ab Takt 215 (22’07’’) durch absteigende Skalen allmählich abgelöst, bis letztere ab Takt 223 (22’39’’) den gesamten Satz beherrschen.202 Die Faktur dieser Passage ist relativ einfach nachzuvollziehen und ähnelt generell der des vorhergehenden Abschnitts: Die Skalen setzten jeweils paarweise und im Terzabstand (groß und/oder klein) ein.203 Ein wichtiges strukturelles Element sind die jeweiligen Proportionierungen der Skalengänge, und zwar von 8teln ausgehend 1:1, 3:2, 2:1 oder 3:1. An den ersten drei Stimmen der Takte 226 bis 234 sei dieser Sachverhalt exemplarisch dargestellt:

Abb. 20: Kagel, Exotica, Ausschnitt des Partiturdrucks, S. 22, T. 226-234.

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Stimmbildung einbezogen wird. Zu den Eigenheiten des Notentextes und der Tonhöhendisposition: Die Systeme für die Stimmen sind ohne Schlüssel ausgezeichnet, und die Stimmlage ist nach Kagels Angaben frei zu wählen, jedoch bei längeren Passagen mit dem Ensemble abzustimmen (vgl. Punkt 1.1 der Erläuterungen zur Partitur Exotica). Aufgrund der Vorzeichendisposition lassen sich die Systeme jedoch alle als in der Sopranlage angelegt interpretieren. Z.B. finden sich in Takt 205 und 206 in der Stimme III cis und d, sowie a und gis. Liest man diese Töne im Bassschlüssel, so ergäbe sich mit eis, f und c und his eine Lesart, die für eine Interpretation wenig sinnvoll ist. Setzt man die Violinschlüsselung voraus, so ergeben sich bei den zweifach geführten Stimmen große und kleine Terzabstände und bei der vierfachen Stimmführung Terzschichtungen, wie sie z.B. auch in seriell-tonalen Werken, wie An Tasten. Klavieretüde (1977) zu finden sind. Allerdings sind die Intervalle in der tatsächlichen Realisation für die Schallplatte nur schwer nachzuvollziehen, die Tonhöhen werden bis auf einige markante Stellen nur angenähert ausgeführt. Die vielen Akzidentien wirken sich demnach auch nicht in reale Tonhöhen aus, sondern geben den Modus bezüglich der linearen Stimmführung an, so ab Takt 215 in den absteigenden Sekundschritten. Hier läßt sich nur vermuten, dass Kagel mit permutativen Verfahren operiert hat, die denen bei dem Klavierpart (Takt 108ff.) zu Südosten ähneln (siehe Kap. V.6). Raab bezeichnet diese Technik auch als „Tripelkanon“. Er geht in seiner Analyse des gesamten Tei les „A“ von einer zugrunde liegenden Klagefigur, einer Art Passus duriusculus, aus, die in Form eines klassischen Entwicklungsrondos verarbeitet wird (Raab, Zum Problem authentischer Musik, S. 311, siehe auch seine interpretierende Verlaufstabelle, S. 313).

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Die Überlagerung der Skalen und deren zeitliche Proportionierung erzeugt eine Verwischung der Metrik und der melodisch-periodischen Konturen. Im folgenden Abschnitt (Takt 244 bzw. 23’20’’) fährt das bereits als führend disponierte Stimmenpaar IV und V mit dieser Behandlung in der Proportion 3:1 fort, allerdings mischen sich nun deutlich abgesetzte Pausen in die Skalengänge, so dass sich der Eindruck eines ‚Stockens‘ einstellt. Die beiden daraus entwickelten Zweiklänge in den Takten 250 und 252 werden durch das Tutti zu einem Akkord vervollständigt, so dass die Phrase geschlossen wird. Nach einer zweitaktigen Generalpause fahren alle Stimmen ab Takt 256 (23’35’’) mit dem abwärts schreitenden Skalengang fort, allerdings nun in der nicht mehr wahrnehmbaren Proportion 15:1 (!). Durch die zeitliche Ausdehnung verliert die Skalengang an satzstrukturierender Wirkung und die Aufmerksamkeit richtet sich auf die sich entfaltende Klangfläche (in Terzschichtung as-c-e-g). Mit der darauffolgenden Klangfläche (Takte 258-262) wird die chromatische Abwärtsbewegung nochmals in die Proportion 21½:1 verlangsamt und vorläufig zur Ruhe gebracht. Bis hierhin sei die Satztechnik dieser Passagen zusammengefasst: Durch die polyphone, sich überlagernde Schichtung der sich proportional zueinander verhaltenden absteigenden Skalengänge wird die Metrik zu Anfang verschleiert. Die zeitliche Proportion und die Gestalt der absteigenden Skala entwickeln sich dann zum Konstitutiv des weiteren musikalischen Verlaufs ab Takt 223. In Takt 256 wird die Proportion aber in unmäßiger Weise vergrößert, verliert so sie ihre integrative Kraft bezüglich der Satzstruktur und ist schließlich nur noch gliederndes Zeitmaß für die vorläufig zur Ruhe kommende Klangfläche. Die die Tonhöhen konstituierende Skala hingegen wird auf ähnliche Weise in die Klangfläche überführt. Sie ist zu Anfang gestalthaft, bildet dann das Bewegungsmuster für die weitere Fortschreitung der Zweiklänge und löst sich schließlich in bloße Bewegungsrichtung auf, in die Rückung der Klangfläche. Insgesamt ist der Abschnitts bis zu dieser Stelle von einer allmählichen Verlangsa mung und Stockung geprägt, die musikalische Entwicklung führt von der absteigenden Tonbewegung in die Klangfläche. Hier ergibt sich meines Erachtens die erste Analogie zu Stockhausens Konzept der Klangtransformation. Bei Stockhausen ist die theoretische Grundlage die Akustik, die tatsächliche kompositorische Umsetzung der akustischen Phänomene wird jedoch durch die künstlerische Transzendierung in eine musikalische Gestik erreicht. Bei Kagel ist hingegen die musikalische Gestik Ausgangspunkt seiner Klangtransformation. Die kompositorischen Mittel entnimmt er den gängigen Satztopoi der Polyphonie und der Proportionierung, die gestischen Topoi sind hier Verlangsamung und Stockung sowie absteigende Tonbewegungen. Das Frappierende ist jedoch, dass die beiden Musiken sich, als rein Musikalisches verstanden und ohne Berücksichtigung ihrer Entstehung, ähneln. Folgen wir dem weiteren Verlauf der Komposition: Nachdem die melodisch absteigenden Skalengänge in den Vierklängen bis Takt 262 (23’52’’) zu einem vorläufigen Ruhepunkt gefunden haben, werden vier weitere Klangflächen hinzugefügt, allerdings changieren die Simultanklänge nun in der Weise, dass die Stimmen II und IV bis VI chromatisch aufwärts gehen, während die Stimmen I und III weiter chromatisch abstei gen. (Aufgrund der Tonhöhendisposition ergibt sich im ersten Akkord ein Sechsklang, im zweiten ein Vierklang und im dritten wiederum ein Sechsklang.) Mit der Artikulation

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des dritten Klangs (Takt 265 oder auch 266 mit Auftakt, 24’02’’) im molto vibrato wird ein neuer musikalischer Parameter etabliert, der im Weiteren zur Transformation genutzt wird. Diese Artikulation wird im letzten Klang (Takt 267: es-g-b-h) zwar ohne Abbruch weitergeführt, jedoch beim neuen Einsatz der Stimmen zu einer Tonbewegung ausgeführt. Das molto vibrato wird in in Achtel verlaufenden halbtönigen Wechseltönen aufgelöst, die Artikulation wird zur Tonbewegung verlangsamt:

Abb. 21: Kagel, Exotica, Partiturdruck, S. 25, T. 261-269.

Diese neuerliche Tonbewegung erfährt im Weiteren, in den Takten 275 bis 278 (ab 24’31’’) eine ähnliche Veränderung wie die absteigenden Linien des zu Anfang betrachteten Abschnitts: Die Tonketten werden verkürzt und durch Pausen voneinander separiert, so dass auch hier der Eindruck des Stockens entsteht. Im weiteren Verlauf wechseln sich Tonflächen mit 8tel-Tonreihen ab, wobei die Stimmen insgesamt in tiefere Lagen geführt werden. Die abschließenden Klangflächen werden durch den Einsatz von zwei Gongs mit Obertönen angereichert. Insgesamt gesehen generiert Kagel den Eindruck der Verlangsamung – und dadurch den Eindruck einer Verlangsamung der Zeit – mit fünf voneinander unabhängigen Techni-

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ken: 1. durch ritardandi, 2. durch proportionale Vergrößerung des Tonlängen, 3. durch Phrasenbildung im Bereich des Musikalisch-Gestischen (‚Stocken‘) und 4. durch die Transformation von musikalischen Parametern wie Artikulation. Als 5. Punkt wäre die anschließende Öffnung der Klangfläche durch den Einsatz eines obertonreichen Instruments wie dem Gong zu nennen. Letzterer scheint aber auch wie bei der sich öffnenden Klangfläche des stockhausenschen Beispiels als eine künstlerische Umsetzung von bereits transzendierten Vorstellungen der Räumlichkeit oder ähnlichem anzusehen sein. Interessanterweise wird bei Kagels Transformation von musikalischen Parametern der Aspekt Tonhöhe nicht in dem grundsätzlichen Maße thematisiert, wie es bei Stockhausen der Fall ist. In neueren Termini umrissen, handelt es sich bei Kagel nicht um ein pitch and stretch, sondern um ein stretch, ein Strecken von zeitlichen Abläufen, welches die Tonhöhen nicht in dem Maße beeinflusst wie normalerweise bei einer realen Transposition von Klangereignissen.204 Warum kann dieser Abschnitt aus Exotica als ironischer oder auch ‚naiver Nachvollzug‘ einer auf elektroakustischer Kompositionsästhetik basierenden Klangentwicklung angesehen werden? Der Abschnitt ist in eine Komposition eingebunden, die sich mit außereuropäischen Musikkulturen auseinandersetzt, und deren erklärtes Ziel es ist, deren Fremdartigkeit als solche darzustellen. Die Naivität ist im ganzen Stück zu finden, von der gewollt lächerlichen Maskerade der Musiker bis hin zum gewollten Dilettantismus, mit dem die Musiker ihre Instrumente traktieren. Diese Auseinandersetzung verhält sich diametral zur Vorstellung einer Weltmusik, wie sie Stockhausen vorschwebt. Das ganze Stück kann als eine Fundamentalkritik an Stockhausens Weltmusikkonzept angesehen werden.205 Warum aber sollte Kagel bei diesem Abschnitt Exotica gerade auf Kontakte rekurrieren, also auf ein frühes Werk elektroakustischer Musik Stockhausens, das mit Interkulturalität ‚noch‘ nichts zu tun hatte? Der Konnex zwischen Kontakte von 1959/69 und Exotica von 1971/72 ist meines Erachtens Karlheinz Stockhausens Werk Telemusik, welches er im Zeitraum Januar-März 1966 im Studio für elektronische Musik des japanischen Rundfunks Nippon Hoso Kyokai realisierte 206, und in dem er seine einschneidenden Erfahrungen mit der japanischen Musikkultur und deren Zeitauffassung verarbeitet.207 Die in Telemusik angestrebte „Intermodulation zwischen gefundenen musikalischen Objekten“, hauptsächlich aus der ethnischen und traditionellen Musik Japans und seiner 204

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In dem Live-Mitschnitt wird auch ein pitch, d.h. die Tonhöhenänderung, realisiert. Das Ensemble Modern nutzt am Ende zudem mehrere Gongs, so dass die Klangfläche komplexer wird. Mit Stockhausens Ansatz wurde die generelle Weltmusikbewegung auch für die Neue Musik nutzbar. Vgl. dazu Peter Niklas Wilsons treffende Polemik „Das andere als Fremdes und Eigenes. Die Neue Musik und ihr Zugriff auf die Musiken der Welt“, in: MusikTexte 26 (1988), S. 3-6, und KarlHeinz Zarius, „Information und Empathie – (Un-)Möglichkeiten interkultureller Perspektiven bei Mauricio Kagel“, in: welt@musik – Musik interkulturell, hg. vom Institut für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Mainz u.a. 2004, S. 337-344. Angaben nach Andraschke, Folklore, S. 295. Karlheinz Stockhausen, „Erinnerungen an Japan“ (Auszug aus einem Vortrag von 1972), in: Karlheinz Stockhausen. Texte zur Musik 1970-1977, ausgewählt und zusammengestellt von Christoph von Blumröder, Bd. 4, Köln 1978, S. 442-455, hier S. 442.

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„neuen Musik“ habe nach Stockhausen „einen riesengroßen Eindruck auf japanische Kollegen“ gemacht: Da gab es ziemlich heiße Diskussionen. Sie fanden das zunächst einmal ganz unmöglich, und dann wurden sie langsam davon beeinflußt und fingen an, auch Instrumente aus der eigenen Vergangenheit und Formelemente aus ihrer Tradition zu verwenden. Da geschah also so eine erste Synthese, die das Selbstbewußtsein der Japaner wieder zunehmend stärkte. 208

Man mag sich an Stockhausens Einschätzung stoßen, dass es der japanischen Kultur generell an Selbstbewusstsein fehle, ebenso an der fälschlichen Annahme, dass Stockhausen den japanischen Kollegen den entscheidenden Impuls zu einer neuen kulturellen Identitätsfindung gegeben hätte, sie zeigt jedoch sehr deutlich die ‚grenzenlose‘ Naivität des Komponisten.209 Zwar sind die Texte Stockhausens über das Zeitempfinden der japanischen Kultur, über Weltmusik und über das Werk Telemusik alle zu spät veröffentlicht210, als dass Kagel sie direkt für eine Auseinandersetzung in Exotica verwendet haben könnte, aber es ist meines Erachtens fast unmöglich, dass Kagel von den für Stockhausens weitere Kompositionen so folgenschweren Ereignissen in Japan nichts gewusst hat, zumal Kagel und Stockhausen in dieser Zeit in direkter Konkurrenz zueinander standen. 211 Kagels in Form von Exotica komponierte Antwort auf Stockhausens Weltmusik-Konzept, das sich in diesem Zeitraum entwickelte, kann zudem nicht nur als Antwort auf die prinzipielle Unmöglichkeit der widerspruchsfreien Aneignung und Verwendung von Musik aus anderen Kulturen verstanden werden. 212 Kagel differenziert diese Problematik in einer mediatisierten Komposition und impliziert damit, dass die Adaption dieser 208

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Stockhausen, „Moderne Japanische Musik und Tradition“ (Diskussionsmitschrift von 1976), in: Karlheinz Stockhausen. Texte zur Musik 1970- 1977, ausgewählt und zusammengestellt von Christoph von Blumröder, Bd. 4, Köln 1978, S. 456-467, hier S. 457. „Die Kompositionsidee – Musik vieler Kontinente (nur australische Musik fehlt) und Völker miteinander in einem Werk zu verbinden – veranlaßte Stockhausen, sich Schallplatten und Tonbänder verschiedener Musikkulturen nach Tokio schicken zu lassen, ohne dass er dabei aufgrund eigener Sachkenntnisse eine geeignete Vorauswahl hätte treffen können. Die in der TELEMUSIK verarbeiteten Zeugnisse von Fremdmusik erscheinen daher in ihrer Zusammenstellung recht beliebig, bunt und zufällig. Aus musikethnologischer Sicht ist keine Konzeption bei der Auswahl des Materials zu erkennen.“ (Andraschke, Folklore, S. 302.) Stockhausens bereits oben erwähnte zwei Beiträge über Japan und der Beitrag „Weltmusik“ (Erstdruck in gekürzter Form in der FAZ vom 17.11.1973) sind im Kapitel „Weltmusik“ (in: Karlheinz Stockhausen. Texte zur Musik 1970- 1977) zusammengefasst. Zu dem Verhältnis beider zueinander vgl. die Ausführungen von Michael Custodis, Die soziale Isolation der neuen Musik. Zum Kölner Musikleben nach 1945, Stuttgart 2004 (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, hg. v. Albrecht Riethmüller, Bd. 54), S. 139-143. Siehe auch Kagels von Klaus Vetter festgehaltene, kritische Aussagen zum Kulturimperialismus der ‚westlichen‘ Welt und zur politischen und soziokulturellen Situation Japans, die er bei während einer vom Goethe-Institut organisierten Asien-Tournee gemacht hat. („Asien-Report“ (1973), in: Tamtam. Monologe und Dialoge zur Musik, hg. v. Felix Schmidt, München u. Zürich 1975, S. 117-193, besonders S. 125-148.) Der Bericht wurde, vermutlich aufgrund Kagels Kritik gegenüber jeglichem Hegemonieanspruch der abendländischen Kultur sowie der mangelnden Effizienz der einzelnen Bildungsmaßnahmen, vom Goethe-Institut München vorübergehend als „nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft (Ebd., S. 195).

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außereuropäischen Musik mit Hilfe technischer Aufzeichnungs- und Wiedergabemedien in elektroakustische Musik – also einer durch ihre Technizität und ihren unbedingten Willen zum Modernismus in zweifacher Hinsicht zutiefst vom Fortschrittsgedanken der abendländischen Kultur geprägten Kunstform – schlechterdings unmöglich ist. Zwar kann durch die technische Wiedergabe von Aufnahmen außereuropäischer Musik und ihre kompositorische Verarbeitung innerhalb einer Komposition der unmittelbare Eindruck von Authentizität, und somit auch ein gewisser Grad an klanglicher ‚Glaubwürdigkeit‘, erreicht werden. Und vielleicht vermag allein die Arbeit mit technischen Medien dazu imstande sein, diese klangliche Authentizität sinnvoll auch in eine Glaubwürdigkeit musikalischer Art zu überführen. In Exotica ist jedoch zu erkennen, dass die durch das Medium vorhandene und vorgegebene klangliche Authentizität den Komponisten nicht von der Verantwortung enthebt, diese medial vermittelte Authentizität als solche darzustellen und sie von der musikalischen Authentizität zu trennen. Insofern ließe sich folgern, dass das Komponieren mit Medien die gleiche Sorgfalt und die gleiche musikalische Durchdringung benötigt wie das reflektierte Arbeiten mit musikalischem Material. Und vielleicht sogar noch mehr, da dem Medium durch sein ästhetisches Nichterscheinen als Mittler und damit durch seine Unmittelbarkeit dessen, was es überträgt, die Tendenz der fehlenden Reflexion in poetischer Hinsicht, also in seiner Art, in der es dem Komponisten das Material unmittelbar präsentiert, und in ästhetischer Hinsicht, in der Unmittelbarkeit der Rezeption, bereits innewohnt. Das kompositorische beziehungsweise künstlerische Subjekt wird in Exotica in die distanzierende Figur des Ironikers verwandelt und infolge dessen tatsächlich reetabliert. Des Weiteren stellt sich am Vergleich von Exotica und Kontake die Frage der Medialität neu: Die unmittelbare Erfahrung, dass durch die Einbindung von technischen Aufzeichnungs- und Wiedergabemedien in die Komposition das herkömmliche Zeitverständnis in Frage gestellt wird, wird sicher jeder gemacht haben, der schon am Geschwindigkeitsregler eines Tonbandgerätes oder eines Schallplattenspielers gedreht hat. Eben diese – nicht nur physikalisch sondern auch ästhetisch – unmittelbaren Erfahrungswerte von langsam/tief und schnell/hoch sind der elektroakustischen Musik – als einer, die durch Medien gestaltet ist – inhärent und damit in ihr kompositorisch nutzbar. Diese allge meine ästhetische Vorabsprache zwischen Komponist und Hörer erlaubt es beiden, ein Glissando und dessen Manipulationen theoretisch und ästhetisch als einen Eingriff in ein zeitliches Kontinuum zu empfinden und zu rechtfertigen. Oder anders gesagt: Dem Medium Tonband wird auf poetischer und ästhetischer Ebene die Autorität über die Strukturierung von Zeit zugesprochen. Lässt man jedoch die Medialität des Tonbandes außer acht und beschränkt sich auf die Wahrnehmung der musikalischen Parameter, so ist der Eindruck einer zeitlichen Verlangsamung offensichtlich auch über medienunabhängige Wahrnehmungswerte wie beispielsweise Auf und Ab, Schneller und Langsamer, Öffnen und Schließen herstellbar. Diese Unabhängigkeit vom ursprünglichen Medium scheint im exponierten Schlussteil des ersten Satzes von Kagels Exotica einen Idealzustand erreicht zu haben. Und es bleibt zu fragen, ob diese Wahrnehmung von Zeitlich keit nicht nur im Bereich der elektroakustischen Musik und der von ihr motivierten Musik, wie zum Beispiel Stockhausens Formelkompositionen oder auch der französischen Spektralmusik, als ein Kriterium von Analyse und Interpretation anwendbar sein

Intermedialiät und Musik

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könnte, sondern auch bei Musiken, die von diesen Diskursen nicht berührt oder auch vor dem 20. Jahrhundert entstanden sind. Ebenso wäre daraufhin zu fragen, inwiefern die meiste elektroakustische Musik, die ohne die technischen Medien nicht entstanden wäre, diesen medienspezifischen Diskurs zu umgehen versucht, indem sie die medialen Phänomene nicht durch die zur Verfügung stehenden Medien verarbeitet, sondern die musikalischen Möglichkeiten, die sich durch den medialen Diskurs eröffnet haben, lediglich ‚instrumental nachzeichnet‘. Die elektroakustischen Klangerzeuger fungierten, obgleich sie aus dem medialen beziehungsweise medientechnischen Diskurs kommen und in diesem verhangen sind, nur als ‚Instrumente‘, sie wären demnach prinzipiell mit den Klangerzeugern der herkömmlichen Instrumentalmusik austauschbar. Im Endeffekt wäre also auch die elektroakustische Musik – in ästhetischer Hinsicht – unabhängig von ihren Medien und deren technischen Verfahren. Was bedeutet dies aber für das Komponieren? Lässt man obere Schlussfolgerungen gelten, so besteht Stockhausens künstlerische Leistung in dem meines Erachtens zwar unbewussten aber schöpferischen Fehllesen des medialen Diskurses, und Kagels Leistung in dem Aufdecken der Probleme, die dieser Diskurs mit sich bringt. Ist also Kagels ‚naiver Nachvollzug‘ als eine Auseinandersetzung mit dem medialen Diskurs zu verstehen, die ohne dessen Apparaturen auskommt? Und wäre Stockhausens ‚Traum der Klangtransformation‘ demnach einer, der zwar auf die Apparaturen angewiesen ist, aber nicht unbedingt einen medialen Diskurs eröffnet?

IV.

Sammeln und Musik

1

Sammeln und Sammlung

Nachdem versucht wurde, das bei Kagels Werk angenommene Fehlen des identifikationsstiftenden Subjekts mithilfe der Instanz eines Erzählers sowie eines Medienarrangeurs zu deuten, wird in diesem Kapitel das Wechselverhältnis zwischen Subjekt und Objekt anhand des Sammelns untersucht. Hierbei ist anzumerken, dass der hier verfolgte Ansatz sich von dem des Erzählens gänzlich unterscheidet. Ein sammeltheoretischer Ansatz ist nicht auf die Voraussetzung angewiesen, Kunst beziehungsweise Musik sei ein kommunikativer Akt, da das Sammeln sich quasi selbst genügt. In dem Moment, wo der potentielle Empfänger einer Nachricht wegfällt, wird auch die dort noch postulierte vermittelnde Instanz überflüssig: das Sammler-Ich und das komponierende Subjekt verschmelzen zu einer Einheit. Innerhalb dieser Einheit des Subjekts sind dann auch identifikatorische Prozesse wie der künstlerische Ausdruck und die Affirmation zu verorten. Ebenso wird die in den vorigen Kapiteln aufgestellte postmoderne, intermediale oder wie auch immer geartete intentionale Mittelbarkeit in den Regelkreis des Subjekts gezogen. Die sich daran anknüpfenden Prozesse würden in diesem Regelkreis, quasi auf der Ebene eines angenommenen Unterbe wusstseins des Sammelnden, stattfinden. Übertragen auf das musikalische Komponieren bedeutet das, dass das kompositorische Material nun in einen engen Zusammenhang mit dem kompositorischen Subjekt gebracht und im Weiteren Aufschluss über Agens und Unterbewusstheit eines materialen Komponierens geben kann. Sammeln als künstlerisches Phänomen ist im Bereich der bildenden Kunst weit verbreitet, zum Beispiel bei Werken von objektorientierten Künstlern der 1960er Jahre wie Dieter Roth, der die komplette Ausstattung seiner Arbeitsräume in Kunstinstallationen verwandelte. Ebenso verhält es sich bei Joseph Beuys’ konzeptuellen Arbeiten: Die einzelnen, aus Aktionen gewonnenen Objekte fungieren zwar als eigenständige Werke, durch ihre besondere Entstehungsweise und die Anbindung an ihren Schöpfer verhalten sie sich aber wie Objekte einer Sammlung. Besonders eindrücklich hierfür ist die BeuysSammlung der Brüder van der Grinten, aber auch die in den Museen verstreuten Werke, an denen der Ursprung des Sammelns nicht mehr unmittelbar nachvollziehbar ist und die jeweils ‚für sich‘ wirken sollten, behalten den Charakter des Gesammelten. Diesen ‚Sammlungen‘ ist neben ihrer eindrücklichen Massierung immer der Charakter des Dokumentarischen bezüglich ihrer Werkgenese eingeschrieben, das gesammelte Objekt ist zugleich Dokumentation des Gesammeltwerdens. Indem es an sein eigenes Gesam meltwerden erinnert und gleichzeitig an die immerwährende Unabgeschlossenheit des Sammelns verweist, gemahnt es stets auch an das mögliche Scheitern des Kunst-Machens und an die Unmöglichkeit, den werkübergreifenden Prozess des künstlerischen Sammelns zur Vollständigkeit abzuschließen. Alle Werke, die durch Sammeln entstehen und/oder das Sammeln zum Thema haben, repräsentieren daher in besonderem Maße

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Sammeln und Musik

den Künstler durch dessen gesammelte Dinge. Erscheint eine einzelne Bleistiftskizze von Beuys angesichts der Erklärung des Künstlers, sie sei abgeschlossen, als rudimentär und vielleicht sogar defizitär, gestattet sie durch ihre Einbindung in die Sammlung – und damit auch als zeitliches Dokument eines übergreifenden, noch nicht abgeschlossenen Werkprozesses – einen Blick auf ihren Sammler. Im Bereich der Kunst ist dies durch das Mysterium des Schöpfungsaktes verquickt und potenziert. Der sammelnde Künstler ist zugleich auch Schöpfer, und die Doppelfigur des Schöpfer-Sammlers vereinigt sich zu dem künstlerischen Subjekt in biographischer und poetischer Hinsicht. Diese Zusammenhänge sind bereits in einigen Publikationen zur bildenden Kunst behandelt worden.213 Wie lässt sich ein solches poetisches Konzept nun auch auf das Komponieren von Musik übertragen? Schließlich bestehen fundamentale Unterschiede zwischen der Wahrnehmung von bildender Kunst und der von Musik. So wie uns eine herkömmliche Sammlung nicht unmittelbar das Sammeln nachvollziehen lässt, sondern nur deren repräsentative Ausformung als bereits Gesammeltes, ahmt die Sammlung in einem bildenden Kunstwerk diese repräsentative Ausformung nach. Insofern fällt es im Bereich der bildenden Kunst leicht, diese Mimesis von Sammlung als solche zu erkennen und zu bezeichnen, da die Syntax dieses Abbildes und die seines nicht-künstlerischen Originals miteinander identisch sind. Wie lässt sich aber dieses Sammeln und seine räumliche Syntax, die durch die Anord nung und Positionierung der einzelnen Objekte im Raum bestimmt ist, mit dem Eindruck des Sammelns in Musik, deren Syntax ja auf Zeitlichkeit beruht, miteinander in Einklang bringen? Und darauf fußend gefragt: Gibt es eine musikalische Syntax, die der räumlichen des Sammelns in irgendeiner Weise ähnelt, und lässt sich diese im Weiteren als eine des Sammelns bezeichnen? Und nach welchen Regeln funktioniert diese Syntax? Um sich diesen Fragen zu nähern, sei zunächst auf den Sammler Kagel eingegangen. Darauf soll anhand von Sammeltheorien das Sammeln als Technik zur Identitätsbildung und Strategie zur Ich-Bildung dargestellt werden. Schließlich soll überlegt werden, wie diese generellen Erkenntnisse auch auf die für Kagel eigenen kompositorischen Strategien angewandt werden können und inwieweit man mit ihnen künstlerische Phänomene des 20. Jahrhunderts interpretieren und insbesondere für Überlegungen über die Postmoderne fruchtbar machen kann. Daran anknüpfend soll eines in seiner Komplexität und Vollständigkeit ergiebigsten Quellen-Konvolute kagelscher Werke, das Konvolut zu Ludwig van, als Sammlung dargestellt und ausgewertet werden. Die Fragestellung nach einer ‚Syntax des Sammelns‘ wird hierbei nur indirekt angesprochen, sie soll in Exkursen bei den Analysen von Osten (Kap. V.4), Südosten (Kap. V.6) und Les Idées fixes (Kap. VI.7) angeschnitten werden. Das zuerst unstrukturierte, alle Medien, Stilhöhen und Grade der Authentizität umfassende Sammeln von Material ist eines der bemerkenswertesten Phänomene bei Kagels Arbeit.214 Der Sammler Kagel begegnet in vielfältiger Form in seinem Werk: in 213

214

Z. B. von der Arbeitsgruppe „Kulturelle Transformation von Dingen“, dokumentiert in: UmOrdnungen der Dinge, hg. von Gisela Ecker und Susanne Scholz, Königstein/Taunus 2000 (= Kulturwissenschaftliche Gender Studies, Bd. 1). Neben diesem unstrukturierten Sammeln sammelt Kagel auch systematisch. U.a. kann er beim Komponieren auf ca. 800 Skizzen, die er nach musikalischen Charakteristika vorgeordnet hat, zurückgreifen. (Kagels telefonische Auskunft gegenüber Björn Heile. Vgl. Heile, Transcending Quota-

Sammeln und Musik

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seiner spezifischen Art der Werkgenese, in seiner enzyklopädischen Arbeitsweise, der Verwendung von kompositorischem Material und in der Heterogenität der tatsächlichen Komposition. Dieses Sammeln findet man bei Kagel nicht nur in seinen Werkkonzep ten, auch die Privatperson Kagel ist ein Sammler. Beispielsweise sammelt er Musikinstrumente215 und Bücher; Teile dieser Sammlungen sind bereits in der Paul Sacher Stiftung archiviert. Die Beobachtung, dass die Privatperson Kagel ein Sammler ist, ist zunächst nicht weiter interessant. Sammeln ist eine der fundamentalen Kulturtechniken und muss nicht in die Produktion von Kunst münden. Hinsichtlich bereits bestehender Kunst wird das Einfließen des Sammelns in das Werk aber relevant und für die weitere Untersuchung interessant, da mit dessen Terminologie ein wichtiger Wesenszug der Postmoderne beschrieben werden kann, und zwar die allgemein konstatierte Pluralität beziehungsweise Heterogenität und die daraus entstehende Kontextualität, also das Vorhandensein von ‚außerwerklichen‘ Kontexten, die mit den Objekten innerhalb der Komposition verknüpft sind. Neben dem Verständnis dieser Verhältnisse, die sich auch als ein intertextueller (Verhältnis des Objekts als Repräsentant des vormaligen Kontextes zu eben jenem) und als ein intratextueller Diskurs (Verhältnis des Objekts zum ‚neuen‘ Kontext der Komposition) beschreiben lassen 216, geben uns die Sammeltheorien einen Einblick in das eigentümliche Verhältnis Kagels zu seinem Werk, sein vollständiges Zurückziehen des kompositorischen Subjekts. Betrachtet man das Sammeln nun als systemoid funktionierendes Gebilde, lassen sich Rückschlüsse auf Kagels Selbstverständnis als Komponist und auf seine Arbeitsweise ziehen. Wie auch im Kapitel über das Erzählen steht die Frage nach dem Subjekt in der Kunst des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. Das Vorhandensein einer Wesenheit, die durch das Werk ‚spricht‘, bezeichnet die Literaturwissenschaft in etlichen Romantheorien als literarisches Subjekt. Neben dieser Fähigkeit zur unmittelbaren Äußerung hat das Subjekt aber auch die Funktion, das Werk zusammen zuhalten und die Rezeption zu lenken. Nach Peter Zima217 ist dieses Subjekt in der Spätmoderne konsequent von den Autoren in Frage gestellt worden. Die Postmoderne führe dies wei ter, wobei der „intertextuelle Prozess“, der durch Zitation und gemeinhin durch Intertextualität geprägt ist, zwischen den Bestrebungen zur „Subjektkonstitution“ und zum „Subjektzerfall“ verhangen sei. Diese entgegengesetzten Bestrebungen lassen sich seiner 215 216

217

tion, Diss., S. 27.) Siehe auch Alexander Ivashkins Beschreibung von Kagels Arbeitszimmer in seinem Beitrag „Musik als große Bühne“, in: Kagel ..../1991, hg. v. Werner Klüppelholz, Köln 1991, S. 110-118, hier S. 111. Siehe auch Björn Heile, Transcending Quotation, S. 50, der dies bereits problematisiert, wenngleich der kategoriale Unterschied der Präfixe ‚inter‘ und ‚intra‘ bei genauerer Betrachtung enorm ist. Lässt sich das Verhältnis der Referenz oder des Objekts zu seinem bisherigen Kontext durch Analogien oder Assoziationen verstehen oder beschreiben – wie Heile es in seiner Arbeit macht –, reicht meines Erachtens bei dem neuen Verhältnis von Objekt und musikalischem Umfeld das reine Konstatieren nicht aus, würde es doch die Komplexität von Komposition verleugnen. Die Frage der Intratextualität berührt notwendigerweise alle Parameter des musikalisch Analysierbaren wie Form, Satztechnik, Harmonik und weiteres. Peter V. Zima, Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen u. Basel 2001, S. 206: „In diesem Kontext sind Roland Barthes’ radikale Aussagen über den Tod des Autors (in ‚La Mort de l’auteur‘, 1968) zu verstehen.“

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Meinung nach nicht auf hegelianische Weise zur Synthese bringen. Schließlich kommt er zu der These, dass die „Intertextualität“ in postmodernen Texten maßgeblich zur „Auf lösung der Subjektivität“ beitrage. Während in der modernen Literatur Intertextualität und Zitat die Funktion erfüllten, Subjektivi tät selbstkritisch zu konstituieren und zu stärken, tragen sie in postmodernen Texten zur Auflö sung des Subjektivität bei.218

Ein ähnliches Phänomen bezüglich der Auflösung der Subjektivität – und damit des scheinbaren Subjektverlusts – ist auch bei Kagel zu beobachten. Werner Keil hat ver sucht, diesem Phänomen gerecht zu werden, indem er – wie bereits an früherer Stelle dargestellt – die Autorenpoetik Kagels in die Beziehung mit der Concept Art von Joseph Kossuth bringt und schlussfolgert, dass „Kagels Musik auf die Abwesenheit von Musik“ verweise. Jedoch ist Kagel als kompositorisches Subjekt in einem postmodernen Sinne noch nicht in Frage gestellt, wenn Jürgen Arndt anmerkt: Er umgeht [...] seine etwa in Form eines personalen Stils mögliche eigene künstlerische Identität. Bleibt er daher auf Distanz zu seinen Arbeiten, so zielt das Fehlen eines Standpunktes auf die Irritation des Zuhörers und damit auf die Verhinderung von Identifikation mit den Kompositionen und auch mit dem Komponisten. Diese zweifache Distanzierung – diejenige von Kagel zu seinen Produktionen und diejenige von seinen Produktionen zum Rezipienten – macht die Kompositionen selbst in der Mitte als Leerstelle erfahrbar.219

Ähnliche Differenzierungsebenen ergeben sich in Hinblick auf das gesammelte Objekt, also das kompositorische Material in postmoderner Kunst beziehungsweise Musik. Musikalische Analyse kann leicht dazu tendieren, das ‚Material‘ nur auf seine kompositorische Anwendung zu untersuchen, wobei die ‚außermusikalischen‘ Bedeutungen übersehen werden können. Die Aufgabe und der Endzweck von Analyse und Interpretation ist demnach das Aufspüren der Kompositionstechniken, die das Material verarbeiten. Die Summe dieser Techniken ist demnach das eigentliche Werk, das Material wird durch den Verarbeitungsprozess quasi aufgelöst. Dass jedoch das Material in postmoderner Musik bereits im kompositionstechnischen Sinne werksubstituierend, vielleicht sogar gehaltsubstituierend sein könnte, bleibt bei dieser Herangehensweise von vornherein ausgeschlossen und beeinflusst die analytische Herangehensweise und für die weitere ästhetische Betrachtung von postmoderner Musik. Ist jedes Werk ab den 1960er Jahren, in dem ein Akkord von Beethoven oder ein Tangorhythmus vorkommt, auch sofort ein postmodernes Werk? Wird das bloße Konstatieren von Kompositionstechniken wie Collage, Montage und das Erkennen und das Beschreiben von Zitattechniken dem Phänomen der Postmoderne überhaupt im Ansatz gerecht? Interessanterweise ist in der kunstwissenschaftlichen Betrachtung von objektorientierter und gegenständlicher Kunst der analytische Ansatz oft genau umgekehrt motiviert. Zunächst wird das Objekt oder der Gegenstand betrachtet, im zweiten Schritt die Art und Weise der Verarbeitung. Die Analyse von Musik, die mit Material, sei es Fremdmaterial, Zitaten oder auch ‚Objekten‘ arbeitet, steht vor dem besonderen Problem, beide Arten der Herangehensweise stützen zu müssen. Zum einen muss der Analytiker dem bereits durch den Unter218 219

Zima, Das literarische Subjekt, S. 206, im Original kursiv. Notiz Jürgen Arndts, zit. n. Keil, Kagels kompositorischer Umgang mit Elementen populärer Musik, S. 331.

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suchungsgegenstand auferlegten Gebot der Betrachtung der Kompositionsweise und -technik Folge leisten. Zum anderen ist die Betrachtung der Objekte und deren ‚Objektgehalt‘ vonnöten, will man Aussagen über das Werk treffen, ohne in beschreibender Strukturanalyse stecken zu bleiben. Dieses kategorische Dilemma wird auch mit dem Rekurs auf das Sammeln nicht vollends zu lösen sein. Die Definition des Materials als Objekt wird aber hinsichtlich der Werkgenese, der Beschaffenheit des Materials und dessen Relation zum Subjekt neue Einsichten bieten.

2

Sammeln als Kulturtechnik

Im kulturanthropologischen Sinne kann Sammeln als Technik zur Identifikation und Strategie zur Ich-Bildung angesehen werden, also letztendlich als Kulturtechnik. Unter den Kulturtechniken ist es neben dem Lesen und Schreiben eine der ältesten. Indem der Sammler sich mit Objekten umgibt, schafft er – nach Jean Baudrillard – ein „System der Dinge“, das ihm dazu verhilft, Identität zu stiften und die Ansprüche des Ich gegen das Es zu stärken. Zudem verweisen die gesammelten Objekte ihrerseits auf Kontexte, die außerhalb der Sammlung liegen. So beschreibt Walter Benjamin: Man hat nur einen Sammler zu beobachten, wie er die Gegenstände seiner Vitrine handhabt. Kaum hält er sie in Händen, so scheint er inspiriert durch sie hindurch, in ihre Ferne zu schauen.220

Diese „Ferne“, die das Objekt repräsentiert, beschreibt Krzysztof Pomian als das „Unsichtbare“, welches mit dem Sichtbaren in ein Spannungsverhältnis tritt. Dieses Spannungsverhältnis ist bei Sammlungen, die noch in einem kultischen Rahmen stehen, wie zum Beispiel Grabbeilagen und Kultgegenstände, besonders präsent. Trotz ihrer verschiedenen Funktionen innerhalb der Sammlungen bemerkt er an den Gegenständen eine Gemeinsamkeit. Sie nehmen an dem „Austausch“ teil, „durch den die sichtbare Welt mit der unsichtbaren Welt verbunden ist“: Unsichtbar ist, was sehr weit im Raum entfernt ist; jenseits des Horizonts; aber auch, was sehr hoch oder tief ist. Doch unsichtbar ist ebenfalls, was sehr weit in der Zeit entfernt ist: in der Vergangenheit oder der Zukunft; außerdem was jenseits jedes physischen Raumes oder jeder räumlichen Ausdehnung liegt oder sich in einem Raum mit einer ganz eigenen Struktur befindet; doch unsichtbar ist auch, was sich in einer Zeit sui generis befindet oder außerhalb jedes zeitlichen Ablaufs: in der Ewigkeit. Manchmal ist es eine andere Körperlichkeit oder Materialität, als sie den Bestandteilen der sichtbaren Welt zukommt, doch manchmal ist es auch eine Art reine Antimaterialität.221

Die Objekte, die diese Wirkung erreichen können, bezeichnet Pomian als „Semiopho ren“, wörtlich übersetzt als Zeichenbehälter. 220

221

Walter Benjamin, „Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln“, in: Walter Benjamin. Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen, hg. v. Tillman Rexroth, Frankfurt a. M. 1997 (= Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser unter Mitwirkung v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem, Bd. IV,1), S. 388-396, hier S. 389. Krzysztof Pomian, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln (1998), Berlin 2001, S. 43.

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Ferner geht Pomian davon aus, dass einem Gegenstand ein gewisser Wert anhaften müsse, damit er in eine Sammlung aufgenommen werden kann. Damit einem Gegenstand Wert zugeschrieben werden kann, hat er entweder nützlich oder bedeutsam zu sein. Während die so genannten Dinge, „die nützlichen Gegenstände“ 222 wie beispielsweise Werkzeuge, durch ihren Gebrauch und ihre Einbindung in den ökonomischen Kreislauf eine Abnutzung und somit eine Wertminderung erleiden, ist die Semiophore durch ihre Nichtnutzung und ihr Ausgeschlossensein vom ökonomischen Kreislauf von dieser Wertminderung nicht beeinflusst. Der Wert einer Semiophore äußere sich dann im so genannten Tauschwert, wobei der Tauschwert einer Semiophore von deren Seltenheit abhängig sei.223 Allerdings kann das Kriterium der Seltenheit angesichts vieler Arten von Sammlungen wertloser Objekte nicht aufrecht erhalten werden, zum Beispiel bei Sammlungen von Kronkorken oder Bierdeckeln. Diese Dinge sind aus dem ökonomischen Kreislauf ausgeschieden, haben auch keine Nützlichkeit, demnach keinen Wert mehr. Ebenso scheint das Kriterium der Seltenheit hier nicht zu gelten, die meisten Objekte solcher Sammlungen sind Massenprodukte. Nach Pomians Definition wären diese Sammlungen nur Anhäufungen von wertlosem Abfall. Wie verhält es sich zudem mit Semiophoren, die in Massenfertigung allein für den Zweck des Sammelns hergestellt werden, beispielsweise Vereinsschals und Porzellanfiguren? Sie sind weder nützlich, noch können sie einen dezidierten Anspruch auf Seltenheit erheben. Um das kulturelle Phänomen des Sammelns zu erklären, lohnt es eher, den Blick von den Gegenständen zu lösen und nach der Motivation des Sammlers zu fragen. Dies führt uns zu der neueren, im weitesten Sinne psychoanalytisch motivierten Sichtweise auf das Sammeln, die nach der Persönlichkeit des Sammler und dessen Motivation fragt und das Sammeln als einen Versuch auffasst, ein System zu erschaffen. Der Psychoanalytiker Werner Muensterberger definiert das Sammeln als „das Auswählen, Zusammentragen und Aufbewahren von Objekten, die einen subjektiven Wert haben.“224 Die Semiophore erlangt für den Sammler insofern Bedeutung, als dass sie ihm einen Anschein der Erfahrung des Unsichtbaren vermittelt. Durch das Besitzen wird der ursprüngliche Wert der Dinge, ob kultureller oder ökonomischer Art, in der Sammlung abgelöst durch ihre Objekthaftigkeit, also durch den jeweiligen subjektiven Wert für den Sammler, der aus ihrer Bedeutung innerhalb der Sammlung herrührt. So ist nach Baudrillard beim Sammeln „das Besitzen [...] nie etwas Werkzeughaftes, das einen auf das Gebiet der Anwendung verweist, sondern meint das Objekt von seiner Funktion entho ben und im Verhältnis zum Subjekt. Aus dieser Perspektive bilden alle besessenen Gegenstände eine Abstraktion und sind aufeinander bezogen, es sei denn, sie beziehen sich ausschließlich auf das Subjekt. Sie schließen sich zu einem System zusammen, mit dessen Hilfe das Subjekt eine Welt aufzubauen sich bemüht.“225

222 223 224

Ebd., S. 49-50. Ebd., S. 80 u. 86-87. Werner Muensterberger, Sammeln. Eine unbändige Leidenschaft. Psychologische Perspektiven, aus dem Amerikanischen v. H. Jochen Bußmann, Frankfurt a. M. 1999, S. 20.

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Sammeln ist immer einem irrationalen Moment unterworfen, das laut Baudrillard von der Leidenschaft des Sammlers zum Objekt geprägt wird: Nehmen wir an, daß unsere Gegenstände tatsächlich der Grund einer Leidenschaft sind, der Leidenschaft des Besitzens, deren gefühlsmäßige Stärke sich in nichts von der Leidenschaft zu einer Person unterscheidet; daß sie eine ständige Leidenschaft ist, die häufig alle anderen an Heftigkeit übertrifft und manchmal sogar die einzige ist, die einen ergreift.

Sie ist nach Baudrillard „eine gedämpfte, diffuse und regelnde Leidenschaft, deren bestimmte Rolle wir im vitalen Haushalt des einzelnen wie der Gruppe und für den Selbstbehauptungswillen gar nicht hoch genug einschätzen können.“226 Dem Sammler ist aber die Irrationalität seines Verhaltens und seine Objektfixierung meistenteils sehr bewusst, und er ist fähig, über sie zu reflektieren. Muensterberger erkennt bei den verschiedenen Sammlern, die er untersucht hat, einige Grundcharakteristika, die er auf traumatische Verlusterfahrungen in der frühen Kindheit zurückführt. Normalerweise erschaffe sich ein Kleinkind beim kurzzeitigen Verlust der Bezugsperson mit Hilfe eines Gegenstandes einen Ersatz, der es über den Verlust hinwegtröstet. Dieser kann ein Stofftier, ein Spielzeug oder ein anderes Objekt sein. Diese vom Objekt ausgehende Tröstung sollte jedoch nur ein Übergangsstadium sein, das von der trösten den Mutter beendet wird. „Nur unter besonderen Umständen“, so Muensterberger „wird das Kind dabei bleiben, sich an etwas festzuhalten und ihm Bedeutung zu verleihen, was offensichtlich ein Ersatz ist, denn das Objekt ist kein liebevoller Mensch.“ 227 Diese Ersatzhandlung ist prägend für die spätere Leidenschaft des Sammlers. Ein derar tiger Mensch braucht nach Muensterberger „symbolische Ersatzstücke, um sich in einer Welt zurechtzufinden, die er im Grunde als unfreundlich, sogar als gefährlich betrachtet“. Solange der Sammler „etwas zum Berühren, Festhalten, Besitzen und, am wichtigsten, zum Nachfüllen“ habe, stellen diese „Surrogate eine Garantie für emotiona len Rückhalt“228 Weiter schreibt er: Unabhängig von den individuellen Idiosynkrasien von Sammlern [d.h. Überempfindlichkeiten gegenüber bestimmten Gegenständen] und gleich, was oder wie sie sammeln – ein Moment steht obenan: Die Objekte in ihrem Besitz sind allesamt letzte, oft unbewußte Absicherungen gegen Hoffnungslosigkeit und Verlassenheit. Sie fungieren als Abwehr im Dienst der Selbstbehauptung. Sie sind magische Mittel, um existentielle Zweifel zu verleugnen. 229

Diese Grundängste und die daraus resultierenden Seelenzustände neurotischer Art sind nach Muensterberger Auslöser für das Sammeln von Objekten: Im Lichte dieser Lebensgeschichten, die manchmal erinnert, manchmal konstruiert oder einfach als verletzungsreich oder schwierig bezeichnet werden, sehen wir, wie das Sammeln zu einem

225

226 227 228 229

Jean Baudrillard, Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, übers. v. Joseph Garzuly, mit einem Nachwort von Christian Rötzer, 2. Aufl., Frankfurt a. M. u. New York 2001, S. 110. Ebd. Muensterberger, Sammeln, S. 57-58. Ebd., S. 47. Ebd., S. 82-83.

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fast magischen Mittel geworden ist, um die Spannungen und Belastungen der frühen Lebensjahre zu verleugnen und sich des Geliebtwerdens zu versichern. 230

Da diese Tröstung aber nur vorübergehend sei, bestehe für den Sammler der für alle Ersatzhandlungen grundlegende Zwang der Wiederholung. Die angestrebte Tröstung kann sogar transzendentaler Art sein. So erkennt Muensterberger im gesammelten Objekt so etwas wie eine Beseeltheit, ähnlich der Transzendenz, die Kultgegenständen oder Reliquien primitiver Völker zugesprochen wird. Er berichtet: Verschiedene Sammler von Antiquitäten und primitiver Kunst haben mir erklärt, die Gegenstände ihrer Sammlungen seien stille Zeugen der Ewigkeit oder, wie [der Sammler] George Ortiz meinte, ‚Beweise unendlicher Wahrheit‘. Der entscheidende Faktor in dieser Suche nach ‚Beweisen‘ ist die Garantie fortwährender Dauer. Die Objekte werden als Zeugnisse dafür angesehen, daß der Tod nichts Endgültiges und nicht das Ende jedes Daseins ist; daß man nicht einfach preisgegeben ist, dem Schrecken des Verlassenseins, der Angst totaler Einsamkeit und letzt lich dem Tod und dem Nichts.231

Eine weitere Strategie des Sammlers, mit dieser Angst umzugehen, ist die Flucht in die Welt der Sammlung. So beobachtet Muensterberger an dem Sammler neben seiner Extrovertiertheit, mit der er seine Sammlung zeigt oder über sie spricht,232 einen Zug zur Introvertiertheit: Im Erleben des Sammlers ermöglichen Objekte, wirkliche oder phantasierte, einen magischen Fluchtweg in eine verborgene und private Welt. Vielleicht ist dies der faszinierendste Aspekt im Szenario des Sammlers. Aber es genügt nicht, nur ein Mal oder von Zeit zu Zeit in diese Welt zu entschlüpfen. Da es ein Erlebnis des Triumphes über Unsicherheit und Verlustängste darstellt, muß es wieder und wieder geschehen. 233

Walter Benjamin merkt hierbei an, dass „für den Sammler, ich verstehe den rechten, den Sammler wie er sein soll, der Besitz das allertiefste Verhältnis ist, das man zu Dingen überhaupt haben kann: nicht daß sie in ihm lebendig wären, er selber ist es, der in ihnen wohnt.“234 Sammeln beinhaltet trotz seines regressiven Charakters, der sich durch das Besitzenwollen und das Festhalten äußert, in mittelbarer Instanz Züge von Aktivität, nämlich einer Aktivität, die in dem Versuch gründet, die tiefe, traumatische Verunsicherung und das in allen Momenten hereinbrechende Chaos durch ein ‚System der Dinge‘ in Form der Sammlung zu bändigen und zu überwinden. Der Sammler stellt mit seiner Samm lung der Welt und ihrer Kontingenz ein einfacheres, alternatives und oftmals in sich stimmiges System entgegen, beziehungsweise der Sammler zieht sein von ihm selbst erstelltes System der Kontingenz vor. Insofern stimmt es nicht verwunderlich, dass die Strategien des Sammelns vielfältiger Art sein können: So ist aus Sammlungen, die nur Objekte einer bestimmten Art umfassen, beispielsweise Briefmarken, Badezimmerteppiche oder anderes, das Bestreben zur Vervollständigung und Perfektionierung dieses 230 231 232 233 234

Ebd., S. 33. Ebd., S. 96. Ebd., S. 32. Ebd., S. 39. Benjamin, Ich packe meine Bibliothek aus, S. 396.

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einen Subsystems der Dinge zu lesen, während scheinbar willkürlich angeordnete Sammlungen eine Nachahmung der Kontingenz der Welt im Kleinen – gleichsam eines mimetischen Aktes – anstreben. Die Bedeutung des Objekts ist also vielfältig: Zum einen repräsentiert es das Unsichtbare, also das in jeglicher Hinsicht weit Entfernte, zum anderen dient das Objekt und die Sammlung, in der es eingebettet ist, der Identitätsbildung und der Stärkung der Ich-Kräfte. Allerdings ist bei all diesen Strategien zur Ich-Stärkung auch das entgegengesetzte Bestreben zur Ich-Auslöschung zu beobachten. So schreibt Susan Sontag in ihrem mit essayhaften Einschüben versehenen Roman der Liebhaber des Vulkans: „Die Beziehung des Liebenden zu den Dingen ist das Gegenteil der des Sammlers, dessen Taktik leidenschaftliche Selbstauslöschung ist. Schaut nicht auf mich, sagt der Sammler, Ich bin nichts. Schaut auf das, was ich habe. Ist es nicht, sind sie nicht, wunderschön.“ 235 Und weiter heißt es: Die Welt des Sammlers kündet von einer überwältigenden vielfältigen Existenz anderer Welten, Energien, Reiche, Epochen als die, in der er lebt. Die Sammlung löscht das kleine Stückchen historischer Existenz des Sammlers aus. Die Beziehung des Liebenden zu den Dingen löscht alle anderen Welten aus, nicht nur die des Liebenden.236

Hierbei ist anzufügen, dass hier zwei Konzepte von Selbstbezüglichkeit aufeinander prallen, das Subjekt, wie es schon im Umgang mit Literaturtheorie, der PostmoderneDiskussion und im musikwissenschaftlichen Diskurs begegnet, und das von der Psychoanalyse eingebrachte Ich. Die grundlegende Problematik ist die, dass das Subjekt sich im erkenntnistheoretischen Sinne nicht auflösen kann. Zu diesem Vorgang scheint nur das vollbewusste Ich in psychologischer Hinsicht in der Lage – und auch nur in der Hinsicht, dass es von den Kräften des Es und Über-Ich zum einen generiert und im Weiteren überdeckt wird.237

235 236 237

Susan Sontag, Der Liebhaber des Vulkans, aus dem Amerikanischen von Isabell Lorenz, Frankfurt a. M. 1996, S. 309. Ebd., S. 309. So beschreibt Freud diese Verhältnisse am Beispiel des Ödipuskomplexes: „Das Ichideal [d.i. das Über-Ich] ist also der Erbe des Ödipuskomplexes und somit sein Ausdruck der mächtigsten Regungen und wichtigsten Libidoschicksale des Es. Durch seine Aufrichtung hat sich das Ich des Ödipus komplexes bemächtigt und gleichzeitig sich selbst dem Es unterworfen. Während das Ich wesentlich Repräsentant der Außenwelt, der Realität ist, tritt ihm das Über-Ich als Anwalt der Innenwelt, des Es, gegenüber. Konflikte zwischen Ich und Ideal werden, darauf sind wir nun vorbereitet, in letzter Linie den Gegensatz von Real und Psychisch, Außenwelt und Innenwelt, widerspiegeln.“ (Sigmund Freud, Das Ich und das Es (1923), in: Sigmund Freud. Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey, Frankfurt a. M. 2000, Bd. 3, S. 275-330, hier S. 303) Jedoch ist diese Gemengelage durch einen Austausch bestimmt: „Die Abkunft von den ersten Objektbesetzungen des Es, also dem Ödipuskomplex, bedeutet aber für das Über-Ich noch mehr. Sie bringt es [...] in Beziehung zu den phylogenetischen Erwerbungen des Es und macht es zur Reinkarnation früherer Ichbildungen, die ihre Niederschläge im Es hinterlassen haben. Somit steht das Über-Ich dem Es dauernd nahe und kann dem Ich gegenüber dessen Vertretung führen. Es taucht tief ins Es ein, ist dafür entfernter vom Bewußtsein als das Ich.“ (S. 315).

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Das Subjekt bleibt von diesem Konflikt im erkenntnistheoretischen Sinne unangetastet, da die Ganzheit des Menschen handelt, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. So bemängelt von Massow an der Postmoderne-Diskussion, dass sie das Subjekt immer als eine bewusste, handelnde und aktive Wesenheit betrachte: In aktuellen kulturphilosophischen Auseinandersetzungen mit Subjektivität fällt nun – von außen und vorerst nicht differenziert genug betrachtet – auf, daß dem Für und Wider meistens zumindest eine Voraussetzung gemeinsam ist, nämlich Subjektivität unter dem Kriterium der Bewußtheit zu diskutieren. So haben gerade Bestrebungen im sogenannten postmodernen soziologischen oder philosophischen Denken von einem nur auf das Bewußte und Aktive eingegrenzten Begriff Subjekt, den sie wiederum fälschlicherweise in der Philosophie des deutschen Idealismus zu bekämpfen glauben, obwohl er dort tatsächlich gar nicht so eingegrenzt vor kommt, die Auffassung abgeleitet, bei allem, was als unbewußt, passiv, unüberschaubar, gesellschaftlich ohnmächtig oder absichtslos gilt, von Entsubjektivierung zu sprechen.238

Von diesem Standpunkt aus ließe sich der in der Postmoderne zu beobachtende Zustand der Entsubjektivierung auch als Selbstvergessenheit des Subjekts interpretieren. Um also einen für die weitere Argumentation vorläufigen begrifflichen Kompromiss zu schaffen, sei das Ich des Sammlers als der vollbewusste Anteil des Subjekts verstanden – auch auf die Gefahr hin, dem philosophischen Subjekt-Begriff Unrecht zu tun. Es wäre aber in diesem Zusammenhang zu hinterfragen, ob Peter Zimas Begriff des Subjektzerfalls – so eingängig er auf den ersten Blick erscheint – nicht beide Anschauungsparadigmen der Philosophie und der Psychologie bedienen möchte und auch kann, und zwar mit der unmöglichen Vorbedingung, dass das philosophische Subjekt am Ende doch in der Lage ist, in die drei psychologischen Instanzen zu zerfallen. Jean Baudrillard ist der Auffassung, dass die Gegenstände „heute – da die religiösen und ideologischen Instanzen versagen – im Begriff [sind], zur Tröstung der Tröstungen zu werden, zu unserer täglichen Mythologie, die angesichts der Zeit und des Todes unser ständiges Angstgefühl überwinden hilft.“ 239 Die Fähigkeit der Sammlung, insgesamt Un238

239

Albrecht von Massow, Musikalisches Subjekt. Idee und Erscheinung in der Moderne, Freiburg i. Br. 2001 (= Litterae, hg. v. Gerhard Neumann und Günther Schnitzler, Bd. 84), S. 28. Insofern sieht sich von Massow in der Lage, Danusers generelle Beobachtungen über das Subjekt in der Postmoderne dialektisch in Frage zu stellen – er bezieht sich hier auf dessen Aufsatz „Zur Kritik der musikalischen Postmoderne“, in: Das Projekt Moderne und die Postmoderne, hg. v. Wilfried Gruhn, Regensburg 1989 (= Hochschuldokumentationen zu Musikwissenschaft und Musikpädagogik der Musikhochschule Freiburg, Bd. 2), S. 69-83, besonders S. 81: „Anders, als es hier von Danuser einer unter dem Begriff Postmoderne bezeichneten Haltung zugeschrieben wird, ist auch „Disparatheit“, die ohne „einheitsstiftende Kraft“ vollzogen wird, nicht Ausdruck von Subjektzerfall, sondern Ausdruck von Subjektthematisierung, nämlich als Problematisierung von Verfügungsgewalt, indem nämlich das Subjekt, welches eine Perspektivität bezüglich jener Materialien wie auch zwischen ihnen entweder herstellt, und damit als das Vermittelnde, oder gerade nicht herstellt, und damit als das Nicht-Ver mittelnde oder Trennende auftritt, unter eben diesen verschiedenen Aspekten seiner aktiven oder passiven Selbstpositionierung als handelbar bewußt wird.“ (von Massow, Musikalisches Subjekt, S. 178, Hervorhebungen vom Verf.). Baudrillard, Das System der Dinge, S. 124. Das Moment der ‚Tröstung‘ ist ja eines, welches auch bei Adornos Subjekt-Objekt-Diskussion eine Rolle spielt. Und es ist anzunehmen, dass Baudrillard hier auch Adorno paraphrasiert. Was geschieht aber mit dieser Tröstung am und durch das Objekt? Bei Adorno mag sie nur die letztendliche und dennoch nur unvollkommene Lösung des Dilemmas sein,

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sterblichkeit zu transzendieren – da sie aus mehreren einzelnen Semiophoren besteht, die jeweils für sich Ewigkeit transzendieren – ist nach Baudrillard für den Sammler jedoch nicht das entscheidende Mittel, um der Todesangst zu entgehen. Anders als Sontag, die der Meinung ist, dass das einzelne Objekt Ewigkeit beansprucht und diese widergespiegelt, vertritt er die These, dass die Ewigkeit durch den stetigen Kreislauf von Geburt und Tod in diesem System der Dinge vermittelt wird: Was der Mensch in den Gegenständen findet, ist nicht die Gewißheit des Fortlebens, sondern der kreislaufmäßige und gesteuerte Prozeß seiner Existenz als die symbolische Überwindung des tatsächlichen Lebenslaufes, dessen irreversibles Ereignis außerhalb der Beeinflußbarkeit liegt.240

Der Tod wird in seiner Eigenschaft also nicht ausgeblendet oder verdrängt, sondern in das System des Sammelns integriert, er verliert durch seine ‚Wiederholbarkeit‘ seine Bedeutung als einmaliges und endgültiges „Ereignis“. So Baudrillard: „Die grundlegende Funktion der Sammlung besteht zweifelsohne darin, die reale Zeit in eine systematische Dimension aufzulösen.“241 Der Sammler kreiert also diesen Kreislauf von Leben und Tod, und enthebt sich damit scheinbar den Gesetzmäßigkeiten desselben. Er löst die Linearität der Zeit in eine Systematik auf, die ihn glauben macht, dem Schicksal des Todes zu entrinnen, insofern können die Dinge „die Tröstung aller Tröstungen“ spenden. 242 Ebenso wie Baudrillard betont auch Sontag in ihrem Roman Der Liebhaber des Vulkans den systemischen Aspekt des Sammelns. Das einzelne Objekt der Sammlung spiele jedoch keine Rolle, nur noch die vielfältigen Anknüpfungsmöglichkeiten an das Unsichtbare:

240 241

242

für Baudrillard hingegen ist sie bereits nur kurzweilig und in einen Kreislauf von Wiederholungen eingebettet. Was Adorno bis in die letzte Konsequenz als teleologisch begreift und erhofft, ist bei Baudrillard bereits unentrinnbar zirkulär angelegt und beschädigt. Baudrillard, Das System der Dinge, S. 124. Baudrillard, Das System der Dinge, S. 122. Johann Wolfgang Goethe beschreibt diese Systematisierung hingegen auf das Verhältnis des Sammlers und sein Objekt bezogen, und zwar am Beispiel des Onkels und dessen Sammlung von Miniaturportraits der Fürsten, unter denen er als Offizier gedient hat: „Nirgends zeigte er [Goethes Onkel] sie [die Sammlung] vor[,] ohne daß ihm das Bildnis eines lebenden oder verstorbenen, aus irgend einem Schmuckkästchen, zugeflogen wäre; denn das eigne hat eine bestimmte Sammlung[,] daß sie das Zerstreute an sich zieht, und selbst die Affection eines Besitzers gegen irgend ein einzelnes Kleinod, durch die Gewalt der Masse, gleichsam aufhebt und vernichtet.“ (J. W. Goethe, Der Sammler und die Seinigen [erstmalige eigenständige Publikation des gleichnamigen Beitrags in den Propyläen, Bd. 2, 1799] hg. und mit einem Essay von Carrie Asman, Dresden 1997, S. 38-39) Die Sammlung schafft also als System nicht nur eine Objekt-Distanzierung durch die (poetische) Systematisierung von Zeit, sondern auch durch die (ästhetische) simultane Wahrnehmung der ganzen Sammlung als Systemoides. Baudrillard macht keinen Hehl aus seiner negativen Einstellung gegenüber dem Sammler, wenn er sagt: „Der Mensch, der sammelt, ist tot – überlebt aber tatsächlich in einer Sammlung, die ihn von nun an bis ins Jenseits ununterbrochen repräsentiert, indem der Tod selbst in die Serie und in den Kreislauf eingebaut wird.“ (Baudrillard, Das System der Dinge, S. 125.) Zu Ende seiner Reflexion über das Sammeln entgegnet er der Behauptung eines Sammlers, dass „jener, der nichts sammelt ein Kretin“ sei, mit der Schlussfolgerung, dass auch der Sammler „ebenfalls ein armer Kerl und Sonderling“ sei (ebd., S. 136).

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Sammeln ist der Ausdruck eines freischwebenden Verlangens, das Verbindungen und immer wieder neue Verbindungen sucht – es ist eine Folge verschiedener Verlangen. Der wahre Sammler ist im Bann nicht dessen, was gesammelt wird, sondern des Sammelns selbst. 243

Das sammelnde Subjekt ist also verhangen zwischen dem Bestreben nach Ich-Konstitution bzw. Identitätsbildung über die Dinge und dem Bestreben zur Ich-Auslöschung, die diesem Prozess der Repräsentation mittels der Dinge innewohnt. Diese beiden Bestrebungen halten sich aber in einem Gleichgewicht. Wie lässt sich dies mit der Konstruktion einer Postmoderne vereinbaren, in der – nach Zima – das Subjekt ja gänzlich zu zerfallen scheint? Begibt man sich auf die Suche nach einer Kunstrichtung, die von sich behaupten könnte, ähnlich wie ein Sammler von den Objekten besessen zu sein, ist man bei den Surrealisten an einer guten Adresse. Im Weiteren werden die Ähnlichkeiten zwischen Kagels Werk und denen des Surrealismus herausgestellt, wobei das Augenmerk nicht unbedingt auf der Fähigkeit eines Objekts, als ‚Zeichen‘ im Kunstwerk zu fungieren – also auf einer semantischen Ebene – liegen soll, sondern eher in dem poetischen Moment, also der Werkgenese.

3

Der surrealistische Blick des Sammlers

Die Beobachtung der Objekthaftigkeit von Material und die Bewertung dessen Bedeutungspotentials über seine Anwendungseignung hinaus sind schon in den Produktionsund Rezeptionsästhetiken von Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts anzutreffen, die im weitesten als gegenständlich zu bezeichnen sind, wie zum Beispiel im Dada, im Surrealismus und in den auf deren Traditionen fußenden Fluxus (beispielsweise bei Nam June Paik und Joseph Beuys) und Neuen Realismus (unter anderem Wolf Vostell). Sie äußert sich in Begriffen wie Symbol, Objektmagie, Zeichen und Ähnlichem. Der Surrealismus hat das Objekt in zweierlei Weise in seinen Schaffensprozess eingebracht, zum einen über das aktive Sammeln, zum anderen über die kritische Auseinandersetzung mit dem Symbolischen, bis hin zum dialektischen Umkehrschluss, der vorläufigen Negation des Symbols. Die surrealistische Grundhaltung begegnet auch in Kagels Werk. Zunächst macht sich der Surrealismus dort in semantischer Hinsicht bemerkbar: So hat sich Kagel mit surrealistischer Kunst auseinandergesetzt, sein bekanntestes Werk in dieser Hinsicht ist sicher die Filmmusik zu Luis Bunuels Le Chien Andalou. Aber auch auf bildlicher und kontextueller Ebene finden sich etliche Anspielungen auf den Surrealismus: Beispielsweise beherbergt die Kulisse des Fernsehspiels Er ein Gemälde von René Magritte. Diese tatsächlichen Anleihen am Surrealismus haben aber weitestgehend paraphrasierenden Charakter und gesellen sich in Kagels Themenwelt neben den Jugendstil, die Romantik, die Renaissance, das Mittelalter, biblische und mythologische Stoffe etc.

243

Sontag, Der Liebhaber des Vulkans, S. 36.

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Das eigentliche Moment, welches Kagels Werk mit denen des Surrealismus verbindet, ist dessen unterschwellige Aggressivität. Im Werk Tactil (UA: 1970) beispielsweise ist sie von Kagel sogar ästhetische Absicht, wenn er sagt: „Diese Sanftheit [des Stücks] aber löst häufig beim Zuhörer ein hohes Maß an Aggressivität aus, ein Phänomen, das mich immer wieder beschäftigt hat“. 244 Diese Aggressivität ist auch in den Orchesterwerken anzutreffen, zum Beispiel bei Les Idées fixes und seiner dortigen motivisch-thematischen Verarbeitungstechnik, bei der das zerstörerische Moment gegenüber dem entwickelnden vorherrscht. Voraussetzung für den Eindruck des Zerstörens ist eine Gegenständlichkeit in der Musik, die dadurch erreicht wird, dass musikalische Kontexte zitiert und verarbeitet werden, die in ihrer historischen oder auch ästhetischen Gesetztheit den Charakter des Gegenständlichen bereits angenommen haben. Diese Beziehung des zum Klang gewordenen ‚Gegenstand‘ beziehungsweise zum ‚Objekt‘ in Kagels Werk stellt die Wesensverwandtschaft mit den Surrealisten her. So beschreibt Werner Spies die surrea listische Bewegung gerade über die Beziehung zu ihren Gegenständen: Die Entdeckung der Objektmagie, des Marginalen, das Spiel mit den Wunderkammern, die sich die Surrealisten anlegen, die Hinwendung zu privaten Symbolen, die Erotisierung der Technik, all dies hat die Praxis auf unübersehbare Weise beeinflusst. Dazu gehört die Phänomenologie des Nutzlosen und Übersehenen, die im Skulpturenatelier Picassos in Boisgeloup, in der Ausstellung der ‚Objects‘ bei Ratton oder in der monumentalen Atelierwand [...], an der André Breton zeitlebens Korrekturen angebracht hat, ihren Höhepunkt erreicht. Ohne dieses an Texte und Begegnungen gebundene Zelebrieren der Dingwelt wären weder die ready-made-Doktrin Duchamps noch die zahllosen Ableger individueller Mythologien auf so intensive Weise ins Bewusstsein gerückt worden. Nachwirkungen davon finden wir nicht zuletzt im Existenzialismus, der so etwas wie die negative Emphase der surrealistischen Dingobsessionen fortführt, und schließlich in den melancholischen Akkumulationen der Nouveaux Réalistes.245

Die Wichtigkeit des Surrealismus für die Postmoderne hat bereits Dieter Mersch herausgestellt.246 Nach Mersch liegen die Wurzeln des Surrealismus im Dada, wo der Gegen244 245

246

Mauricio Kagel, Begleitext zur CD, S. 10, in: Mauricio Kagel: Exotica, Tactil (Aufn.: 1772, 1974), Polydor, Neuaufl. der Deutschen Grammophon (o. J.). Werner Spies, „Einführung“, in: Kat. der Ausst. Surrealismus 1919-1944. Dali, Max Ernst, Magritte, Miró, Picasso..., K20 Kunstsammlung, Düsseldorf (20. Juli-24. Nov. 2002), hg. v. dems., Ostfildern-Ruit 2002, S. 15-40, hier S. 25. In der Musikwissenschaft ist der Surrealismus bislang nur marginalisiert worden, bspw. von Helga de la Motte-Haber, „Warum es keinen musikalischen Surrealismus geben konnte“, in: Bericht über den internationalen musikwissenschaftlichen Kongress Bayreuth 1981, hg. v. Christoph-Hellmut Mahling u. Sigrid Wiesmann, Kassel u.a. 1984, S. 458-461. Etwas differenzierter argumentiert Karlheinz Roschitz, „Surrealität und Musik: Grenzen, Phänomene, Tendenzen“, in: ÖMZ 22 (1967), S. 262-270, der den Surrealismus im neueren Musiktheater beobachtet (S. 270): „Resümierend läßt sich feststellen, daß Musik schon der Gattung nach tektonisch ‚rein‘, ohne literarisches Sujet als Grundlage nur in wenigen Fällen echte surreale Praktiken, etwa der Collage und Dekomposition, des automatischen Kreierens usw., gebrauchen kann: ‚surrealistische‘ Musik im Sinne der historischen Stiletikette gab und gibt es nicht. Surreale Phänomene und Tendenzen mögen auftauchen. Aber erst die ‚unreine‘ musikalisch-theatralische Kategorie der Oper vermag all die elementaren Techniken und Kriterien des historischen Surrealismus und der verwandten Richtungen, wie der manieristisch beeinflußten Epochen, zu einer großen Synthese zusammenzufassen; allerdings zu einer Synthese, die sich heute in den meisten Fällen noch als formal problematisch erweist. Die Zukunft wird zeigen, ob diese Praktiken wie die typisch manieristischen Ideen von Zeitaufhebung,

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stand, das Gezeigte, bereits eine „Mystik“ beinhaltet. Mersch erkennt diese in der Materialkunst Kurt Schwitters und in der Ästhetik des Zufalls eines Marcel Duchamp und Jean Arp: Mystik nicht im Sinne des Geheimnisses, des Verborgenen oder Apokryphen, sondern im Sinne des Sichzeigens, des Erscheinens als Erscheinen, als Einzigartigkeit einer Präsenz. Ein anderer Ausdruck lautet Ekstasis: Hervortreten, Zum-Vorschein-kommen in der elementaren Bedeutung von Ex-istenz.247

Das geht über den herkömmlichen Materialbegriff, wie er in der Musikanalyse und -ästhetik anzutreffen ist, natürlich weit hinaus. Im Surrealismus ist die Besetzung des Gegenstandes um die Instanz der Symbolisierung verkompliziert und gleichsam negiert. So fragt Dieter Mersch: Welche Funktion haben jedoch solche anschaulichen [d.h. in seinem Beispiel surrealistischen] Mirakel; warum ihre Beharrung aufs Undeutbare, auf die Unentschlüsselbarkeit der Bilder? Handelt es sich nicht, wie beim Dadaismus, wenn auch in anderer Form, um Anrufungen des Sprachlosen, der Unsagbarkeit: Symbolische Hinweise oder Fingerzeige für das Unerklärbare, das Mystische? Das hieße freilich, im Mystischen wieder jenes Verborgene oder Verzauberte zu entdecken, dem sich der Dadaismus gerade entzog, indem er sich allein aufs Sichzeigen, dem [sic!] Erscheinen selbst kaprizierte – damit im Sinne Martin Heideggers auf das ‚Un-geheure‘, mit hin auch das Ungeheuerliche, daß etwas ist und nicht nichts. Demgegenüber setzt das Mysterium, das Geheimnisvolle – wie im Falle des Surrealismus – immer eine Symbolisierung voraus – und damit das, was der Dadaismus durch die Evokationen des Zu-Falls bewusst auszuschließen trachtete. Der Umstand gibt den Wink darauf, worum es dem Surrealismus eigentlich zu tun ist. Denn was dieser als Rätsel inszeniert, betrifft die Ordnungen des Symbolischen, die er buchstäblich ver-rätselt und damit durcheinander bringt.248

Insofern ist Kagels vielbeschriebener Enzyklopädismus nicht vom Gedanken der Auf klärung geprägt, wie der eines Denis Diderot, sondern vom Surrealismus. ‚Sein‘ Subjekt stellt sich uns in seinem Werk als ein durch die Objekte verzaubertes, mitunter diese Objekte zerstörendes Subjekt, dar. Allerdings enthebt sich das Subjekt durch den künstlerischen Diskurs des Sammelns, der sich als ein auktorialer bezeichnen lässt, der künstlerischen Auflage des Ausdrucks. Es sind nicht mehr – wie Walter Benjamin es beim Sammeln beschreibt – die Dinge, durch die der Sammler die Welt sieht, sondern es sind – in der Umkehrung, die dem künstlerischen Akt innewohnt – nun die Dinge, durch die der Sammler seine Welt sprechen lässt. Die Dinge repräsentieren das Subjekt, es äußert sich durch diese, obwohl es im Werk doch durch Abwesenheit beziehungsweise durch Unkenntlichkeit glänzt.

247

248

Vereinigung des Disparaten oder, in formaler Hinsicht, die fragmentarisch-aperçuhafte Organisationsweise à la longue echte Formen zu etablieren, sich in diesen zu konsolidieren imstande ist.“ Als neuerlicher Versuch ist auch Jörn Peter Hiekels Annäherung an das Thema anzusehen, deren Vor sicht sich in der uneigentlichen Rede im Titel niederschlägt, „Bernd Alois Zimmermanns ‚Surrealis mus‘“, in: Musica 49 (1995), S. 227-232. Dieter Mersch, „3. Das Politische: Der Surrealismus, in: Vom Werk zum Ereignis. Philosophie der Gegenwartskunst. Fünf Vorlesungen“, http://NYITOTTEGYETEM.PHIL-INST.HU/kmfil/ MERSCH/kunst_3.htm (Stand 30. 09. 02), o. S. Ebenso in allgemeinerem Zusammenhang Dieter Mersch, Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, S. 83-84. Mersch, Das Politische, o. S.

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Wie auch der Sammler hat der Surrealist ein leidenschaftliches Verhältnis zum Gegenstand. Diese Beschäftigung mit dem Gegenstand und der Gegenständlichkeit ist jedoch eine aus anderen, vielleicht sogar gegenläufigen Beweggründen. Während der Sammler versucht, das Es zu beruhigen, möchte der Surrealist dieses Es aufdecken und sprechen lassen. So schreibt Mersch, dass der Surrealismus seinen Impuls, „das Geheimnis oder das Wunderbare auszudrücken oder zu malen, der Psychoanalyse Freuds“ verdankt, jedoch mit gegenteiliger Zielrichtung: Statt, wie es Freud ausgedrückt hat, Aufklärungsarbeit zu leisten und die Ansprüche des Ich gegen das Es zu stärken und damit, [...] ‚Kulturarbeit‘ zu leisten, ‚wie die Trockenlegung der Zuyderzee‘, geht es dem Surrealismus gerade um die Freisetzung des Traums, das heißt die Stärkung des Es gegen die Ansprüche des Ich, der Vernunft. Dieselbe Umkehrung findet sich bei [Jaques Marie] Lacan. Hieß es bei Freud: ‚wo Es war, soll Ich werden‘, sucht Lacan dem Ich seine Panzerung zu entkleiden und es um das Gewicht des Es zu vertiefen: Wo Ich war, soll Es sich schreiben.249

Susan Sontag bringt das Sammeln und den Surrealismus in literarisch transzendierter Form in ihrem Roman Der Liebhaber des Vulkans in Einklang. Muensterberger und Baudrillard thematisieren bereits die existenziellen Ängste wie die Todes- oder Verlustangst, und deuten sie als Beweggründe des Sammelns, wobei das Sammeln als Abwehrmechanismus gesehen wird, der durch Regression geprägt wird. Susan Sontag thematisiert diese Angst im besonderen Maße, sie deutet die Angst als Anfang und Ende des Sammelns. Sie verdeutlicht dies in ihrem Roman an der Sammlung eines so genannten ver rückten Fürsten, dessen Anwesen und Sammlungen nach seinem Tode als Ausflugsziel für die neugierigen Adligen und Bürger des späten 18. Jh. dient. Das ganze Anwesen ist übersät mit grotesken Statuen, innerhalb der Gebäude sind sonderliche Kabinette mit den unglaublichsten Vorrichtungen zu entdecken: Lampen in Form menschlicher oder tierischer Gliedmaßen. Tische, die aus den Scherben von Ziegeln gemacht und zu hoch waren, als daß man sie benutzen konnte. Säulen und Pyramiden, mindestens vierzig, aus verschiedenen Arten Porzellan und Keramik gemacht; eine Säule hat einen Nachttopf als Sockel, einen Kranz kleiner Blumentöpfe als Kapitell und einen über einen Meter langen Schaft, der ganz aus Teekesseln bestand, die vom Sockel bis zum Kapitell allmählich an Größe abnehmen. Kronleuchter, deren vielarmige Elemente, die wie Ohrringe herabhingen, die Böden, Hälse und Griffe zerbrochener Flaschen und Barometer waren. Kandelaber, fast einen Meter groß, wacklige Konstruktionen aus Glühweintassen, Untertassen, Schüsseln, Krügen, Kesseln, die bedenklich schräg stehen. Als er einen der Kandelaber eingehender betrachtete, sah der Cavaliere zu seiner Überraschung, daß sich zwischen den Scherben einfachen, wahllos ineinandergesteckten Steinguts Teile außergewöhnlich kostbaren Porzellans befanden.250

Der verrückte Fürst bringt im Sinne des surrealistischen Gedankens die „Ordnungen des Symbolischen“ durcheinander. Sontag beschreibt den Eindruck, den der Protagonist des Romans, der Cavaliere, beim Besuch dieses Anwesens gewann. Der Cavaliere ist selbst ein leidenschaftlicher Sammler, wenn auch mit dem Charakter eines Gemäßigten und Gelehrten:251 249 250

Mersch, Das Politische, o. S. Sontag, Der Liebhaber des Vulkans, S. 327-328.

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Der Cavaliere fing an, sich unbehaglich zu fühlen und zwar als der Eindruck des Grotesken schließlich mehr und mehr durch den Eindruck eines ungeheuren Sarkasmus abgelöst wurde. [...] Schließlich war er [der Fürst] der Besitzer dieser Dinge – die für ihn sprachen, die zu erkennen gaben, wie er die Welt sah. Sie sagten nicht, was der Cavaliere, wie alle großen Sammler, mit Objekten sagen wollte: Schaut auf all das Schöne und all das Reizvolle, das es in der Welt gibt. Sie sagten: Die Welt ist verrückt! Das gewöhnliche Leben ist lächerlich, wenn man es aus einigem Abstand sieht. Alles kann sich in alles verwandeln, alles kann gefährlich sein, alles kann zusammenbrechen, nachgeben.252

Die Sammlung des Fürsten basiert also auf der mimetischen Strategie, die Welt, die ihm als solche grausam und unsinnig erscheint, zu akkumulieren und in dieser Akkumulation zu überhöhen, allerdings mit der letzten Konsequenz, dass die Objekte auf ihren Sammler zurückschlagen. Das System, mit dessen Hilfe das Subjekt laut Baudrillard „eine Welt aufzubauen sich bemüht“, schlägt ins Negative um. So lässt Sontag ihren Cavaliere schlussfolgern: Daß der Fürst groteske Gestalten und Dinge angehäuft hatte, bedeutete nicht, daß der Fürst wahnsinnig gewesen war. Es bedeutete, daß er Angst gehabt hatte. Er war mutiger als ich, dachte der Cavaliere [...]. Der Fürst hatte die Neugier und die Begierde des Sammlers in ihre Endphase geführt, wo die Bindung an die Dinge einen unkontrollierbaren Geist des Spottes freisetzt. Er [der Fürst] hatte allen Grund, verängstigt zu sein und daher den Wunsch zu haben, sich über seine Ängste lustig zu machen. Von der Last der Dinge niedergedrückt, hatte er sich erniedrigt, hatte er sich nach unten gleiten lassen, hatte er sich tief in seine eigenen Gefühle fallen lassen und war natürlich, weil er weit genug hinabgetaucht war, in der Hölle angekommen. 253

Das Weit-genug-Hinabtauchen, um schließlich in der Hölle anzukommen, ist bereits von den Surrealisten versucht worden, und bemerkenswert viele Objekte der Sammlung des Fürsten erinnern an Kunstwerke des Surrealismus oder neuerer gegenständlich orientierter Kunst, beispielsweise der Neuen Realisten Daniel Spoerri und Wolf Vostell.

4

Konsequenzen für Analyse und Interpretation

Nach dieser Annäherung soll versucht werden, die verschiedenen Kriterien des Sammelns zu ordnen. Hierbei gehe ich vom gesammelten Objekt aus über die Systemebene des Sammelns hin zum Sammler selbst, dem Subjekt. Als erster Punkt ist festzuhalten, dass die Betrachtung des Sammelns Aspekte offenlegt, die das grundlegende Selbstverständnis Kagels als postmoderner und surrealistischer Komponist erhellen können. Darunter fällt nicht nur Kagels dem modernistischen Bestreben nach Innovation scheinbar zuwiderlaufende Faszination für bereits in der Welt vorhandene, kulturelle Artefakte: 251 252 253

Die historische Vorlage für den Cavaliere bildete der englische Gesandte in Neapel, Sammler und Vulkanologe Sir William H. Hamilton (gest. 1803). Ebd., S. 328. Ebd., S. 334.

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Die Tatsache, daß Musik bereits vorhanden war, bevor ich selbst kompositorisch tätig wurde, habe ich immer als einen Bonus für meine eigene Arbeit empfunden. Das hat weniger mit einer akustischen als mit einer kompositorischen Tradition zu tun, die es Menschen ermöglicht, Klänge und Geräusche zusammenzustellen. Die Berechtigung meines Wunsches als junger Mann, Komponist zu werden, war eben das Vorhandensein von Musik, die andere geschrieben hatten.254

Dieser Prozess der Rezeption und Aneignung von Objekten geschieht bei Kagel immer vor dem Kompositionsprozess und schreibt sich im Werk ein. Er lässt sich auch in Kagels Komponieren mit scheinbar ‚außer‘- oder ‚nichtmusikalischem‘ Material beobachten. Ebenso – das wäre der zweite Punkt – kann Material oder Zitat als Semiophore, also als Zeichen des ‚Unsichtbaren‘ aufgefasst werden. Natürlich klingt dieser Begriff relativ unwissenschaftlich, aber er beschreibt meines Erachtens die Kontextualität(en) besser als der von der Literaturwissenschaft hergeleitete Begriff der Intertextualität, ist dieser doch untrennbar mit der Kommunizibiliät von Kunst verbunden, also der Auflage, Kunst müsse in ihrer Funktion als Trägermedium und Inhalt dieses Mediums in der Lage sein, Kommunikation zu leisten. Drittens kann das Material oder das Zitat in einer Komposition als Objekt begriffen werden, und zwar in der Form, dass es in ein Wechselverhältnis zum kompositorischen Subjekt tritt. Der Begriff ‚Objekt‘ impliziert den Prozess des Aufgreifens dieses Objekts aus der Welt in die Komposition, gibt also auch Aufschluss über die Art und Weise der künstlerischen Aneignung und ist bei der Betrachtung der Werkgenese ebenfalls von Bedeutung. Wie oben dargestellt bezeichnet Pomian den Wert eines Gegenstandes als entscheiden des Kriterium, damit er als Objekt in einer Sammlung fungieren kann, erkennt aber schon selbst die Defizienz seiner Herleitungen. Muensterberger und Baudrillard hingegen gehen davon aus, dass ein Objekt weder einen Tausch- oder Gebrauchswert noch einen Nutzen haben müsse, um in eine Sammlung aufgenommen zu werden. Es hat innerhalb der Sammlung und für den Sammler allein subjektiven Wert. Ebenso verhält es sich bei Kagel und der Frage, warum er denn auch ‚Abfall‘ verarbeite. So beschreibt Reinhard Schulz Kagels Musik als eine, die sich „zunächst auf die Müllplatzsituation unser kulturellen Landschaft [bezieht], indem sie (wie diese) keine Rücksicht auf oben und unten, auf Seichtheit oder Tiefe nimmt. Scheinbar beliebig wühlt sie im „Warenan gebot“ wie nach Sonderangeboten.“ 255 Als Beispiel führt er die Radiophantasie Rrrrrrr... mit ihrer lexikalischen Auswahl vom Rheinländer über Requiem bis hin zu Ragtime an. Er veranschaulicht diesen musikalischen Müllplatz, indem er nur Musiken verwendet, die durch ihren häufigen Gebrauch auf die Stufe des Dings herabgestiegen zu sein scheinen. Kagel verstärkt diesen Eindruck, indem er ihnen im übertragenen Sinne Gebrauchsspu ren zufügt: die Dinge haben damit ihren Gebrauchswert verloren und sind zum Abfall geworden. Für Kagel scheint also weder die Bedeutung noch der imaginäre Tauschwert 254 255

Mauricio Kagel u. András Varga, „Musikhören ist Geschichte hören: Ein Gespräch mit Mauricio Kagel.“, in: NZfM 146 (1985), Nr. 6, S. 20-24, hier S. 20. Reinhard Schulz, „Die Gesetze des Alltäglichen: Zur Konzeption des musikalischen Materials bei Mauricio Kagel.“, in: Kagel..../1991, hg. v. Werner Klüppelholz, Köln 1991, S. 256-261, hier S. 258.

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eines Gegenstandes ein Kriterium für das Sammeln zu sein. In seinen Sammlungen finden sich – in begrifflicher Anlehnung an Pomian – Semiophoren als auch Dinge, Wertvolles wie Abfall. Ebenso wie Schulz versucht Theodor Ross seine Irritation in Worte zu fassen: Er [Kagel] ist in seinen Stücken in gleicher Dichtigkeit vorhanden, ob sie uns in einen vollgestopften Gerümpelwinkel führen oder in die Lichthaufen der Milchstraße. Seine Sprache ist überall gleich, nur die Resonanzfähigkeit im Hörer wechselt mit den Gegenständen. 256

Dies führt uns zur Annahme einer möglichen Syntax des Sammelns. Wie Wieland Reich in seiner Arbeit über Kagels Sankt-Bach-Passion bemerkt hat, ist nicht nur Kagels Werk, sondern auch der kompositorische Prozess durch ein eigentümliches Verhältnis zwischen Subjekt (hier kompositorisches) und Objekt (in den musikalischen Abläufen niedergeschlagene Kompositionstechnik) geprägt.257 Im Folgenden soll versucht werden, die Beziehung dieser beiden Instanzen, Subjekt und Objekt, in einem sammeltheoretischen Sinne zu beschreiben: Zuerst finden sich diese beiden Instanzen in einem komplexen Gefüge eingebunden, die man als werkimmanente Heterogenität, Pluralität oder auch Kontextualität beschreiben mag. Das Systemische des Sammelns mag sich in der Komposition in der Form niederschlagen, dass die ‚musikalischen Objekte‘ in ihrem Zusammenhalt und in der Gestalt einer Sammlung aufeinander verweisen, in ihrer Gesamtheit verweisen sie jedoch wieder auf das Subjekt. Baudrillard bemerkt dieses Verweissystem der Objekte untereinander noch als Ausnahme („es sei denn, sie verweisen alle auf das Subjekt“). Die Konstante oder Gesetzmäßigkeit, die diesen Umschlag in ein kompositorisches Gebilde fortwährend leisten könnte, wäre meines Erachtens jedoch nicht bei den Objekten zu suchen, sondern im Systemoiden, der Zusammenführung der musikalischen Objekte in ihrer zeitlichen und räumlichen Komposition. Dies führt zur nächsten Frage, wie sich diese Systemebene des Sammelns in ein Systemoides innerhalb einer Komposition niederschlagen kann. Oder anders formuliert: Gibt es ein System der Verknüpfungen der Objekte innerhalb der Komposition, und wie ist dieses gestaltet? Hier sei noch einmal Theodor Ross’ Bemerkung angeführt, dass Kagels „Sprache [...] überall gleich [sei], nur die Resonanzfähigkeit im Hörer wechselt mit den Gegenständen.“258 Gibt es – ungeachtet der Aufhebung des Kommunizibilitätszwangs, den die Interpretation von Musik als Sammlung anbietet – bei Kagel also doch eine übergreifende Sprache oder eine Struktur, die zwar von der Gegenständlichkeit ihrer Elemente abhängig ist, jedoch unabhängig von deren jeweiliger Beschaffenheit? Ist diese Sprache zudem unabhängig von der „Resonanzfähigkeit des Hörers“? Und inwieweit kann sich diese Sprache – um zur herkömmlichen Terminologie zurückzukehren – als Personalstil im Werk niederschlagen? Nimmt man die Semiophore und deren Fähigkeit, das ‚Unsichtbare‘ zu repräsentieren, bei dieser Suche nach einer übergreifenden Struktur mit in den Blick, ergibt sich eine ähnliches Problem: Das Konstatieren der Auswirkungen des Sammelns in einem 256 257 258

Theodor Ross, „Nachruf zu Lebzeiten: Ein Plagiat“, in: Kagel..../1991, hg. v. Werner Klüppelholz. Köln, 1991, S. 119-125, hier S. 125. Reich, Sankt-Bach-Passion, S. 11-12. Ross, Nachruf zu Lebzeiten, S. 125.

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Kunstwerk führt den Analytiker zunächst nicht weiter als bis zur Tautologie, dass dieses Kunstwerk – wie eine normale Sammlung auch – durch Heterogenität oder Pluralität gekennzeichnet ist. Welche Systeme und Prozesse sind jedoch nötig, um einer Ansamm lung von Heterogenem Kunstcharakter zu verleihen? Klaus Kaehler beschreibt dies (siehe Zitat unten) als „Kontextualität“, das Setzen des Materials in seiner Heterogenität in eine ‚Fasslichkeit‘, also in ein Werk, das Anspruch erheben kann, Kunst zu sein. Als nächste Frage schließt sich hier an: Wenn Material aus einem Kontext gehoben wird, sprich dekontextualisiert wird, welche neuen Kontexte erfährt es in der Komposition? (Oder um das Sprachspiel fortzuführen: Auf welche Weise werden diese Semiophoren oder Objekte rekontextualisiert?) Diese Art, die Postmoderne zu betrachten, ist natürlich eingeengt und normativ. Viele Kompositionen und Komponisten, die man allgemein als postmodern bezeichnet, ließen sich damit nicht kanonisieren. Erwägen wir jedoch zunächst die Vorteile dieser Sichtweise: Sie löst den Analytiker vom Beobachtungszwang von Kompositionstechniken wie der Collage, der Montage und jeglichen Arten von Zitattechniken, die nicht sui generis postmodern sind. Ebenso lässt sich dadurch endlich ein Vorwurf gegenüber der Postmoderne abschwächen, der etwa lautet: ‚Musik über Musik‘ habe auch schon Orlando di Lasso gemacht. Vielmehr lässt sich doch eine allgemeine Umkehrung in der Perzeption (also in der Wahrnehmung) von dem, was komponiert werden kann, erkennen, wie Klaus Kaehler sie beschreibt: Die prinzipielle Wendung von moderner zu postmoderner Einstellung deckt eigentlich nur auf, was gerade schon diesseits der modernistischen Überhöhung und Überbeanspruchung zu finden ist, nämlich die Faktizität des Mannigfaltigen als solchem – nicht nur der Bereiche, sondern auch ihrer alternativ möglichen Gestaltungen wie ihrer faktisch doch immer schon vollzogenen, weil unumgänglichen Verflechtungen mit den je anderen Bereichen als ihre eigene Kontextualität.259

Schließlich ist das Sammeln auch ein Versuch zu verstehen, die Vergänglichkeit der einzelnen Objekte in einen übergreifenden, ordnenden und zumeist sinnstiftenden Zusammenhang aufzuheben. Dieses Systematisieren von Zeit als dem Kreislauf von Leben und Tod ist im kagelschen Komponieren in mehrfacher Hinsicht zugegen. Im Folgenden sei zuerst die Werkgenese betrachtet. (Die Fähigkeit von Objekten, das Unsichtbare zu repräsentieren und somit Simultaneität von Vergangenem und Heutigem zu erzeu gen, soll hier zunächst nicht berücksichtigt werden.) Die Systematisierung von Zeit in werkgenetischer Hinsicht müsste eine sein, die die Objekte miteinander in einen Zusammenhang bringt, der der realen Zeit enthoben wäre. Wie ist dies aber bei Kunstformen, die auf Zeit basieren, zu schaffen? Vielleicht gar nicht – siehe die anfänglichen Überlegungen zum Sammeln – aber bei Kagel finden sich immerhin Versuche, den zirkulären Akt des Sammelns gegen den linearen Fluss der Zeit zu schützen. Da ist zum einen der Versuch, die Reihe der Objekte nicht in einem endgültigen Werk abschließen zu lassen, ein Bestreben, das sich sehr deutlich in der Werkgenese einiger Stücke finden lässt. Am

259

Kaehler, Klaus E., „Philosophische Ästhetik im Zeichen der Postmoderne“, in: Das Projekt Moderne und Postmoderne, hg. v. Wilfried Gruhn u.a., Regensburg 1989 (= Hochschuldokumentationen zu Musikwissenschaft und Musikpädagogik. Musikhochschule Freiburg, Bd. 2), S. 35-52, hier S. 46-47.

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Beispiel von Anagrama (siehe Kap. V.2.5) deute ich dieses Verhalten als eine Geste des Aufschubs. Des Weiteren findet sich bei Kagels Komponieren das Bestreben, die bisherige unvollständige Sammlung in ihrer ungeordneten Form soweit wie möglich bestehen zu lassen, beispielsweise in dem Film Ludwig van (siehe Kap. IV.5.1) und sehr deutlich auch in der Formgenese von Les Idées fixes (siehe Kap. VI.4). Dieses ist natürlich auch durch die Art und Weise bedingt, in der Objekte in das Werk eingearbeitet werden und aus welchen Kontexten diese entstammen. Diese beiden Aspekte des Hinauszögerns einer konsistenten Umformung in die Zeit – sei das Endergebnis etwa syntaktisch, formal oder einfach nur ‚musikalisch‘ sinnvoll – müssen aber nicht unbedingt zu einem Werk führen, welches sich auch als ‚Sammlung‘ präsentiert. Dennoch finden sich bemerkenswert viele Werke Kagels, die auch in ihrer tatsächlichen syntaktischen und formalen Beschaffenheit, also in ihrer scheinbar willkürlichen Anordnung und in ihrer Unabgeschlossenheit als Serie Analogien zu einer Sammlung aufweisen. Damit ließe sich das Formproblem in Kagels Werk neu bewerten, da man hiermit einen Weg gefunden hätte, über das Konstatieren und Beschreiben der aufgefundenen, althergebrachten Formprinzipien in der Musik Kagels hinauszugehen. Lassen sich beispielsweise die fragmentarisch und formal inkonsistent erscheinenden Werke Kagels als Sammlungen von Objekten beschreiben, welche eigenen Gesetzen folgen? Dieser Vorstellung läge freilich eine Ambivalenz der Form zugrunde, eine Doppelbödigkeit von formaler Anlage und ästhetischer Wirkung derselben. Ließe sich dies als musikalische Rhetorik des Sammelns bezeichnen, quasi als ‚Geste des Sammelns‘? Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der der musikalischen Form als der einer unabge schlossenen Serie von Gesammeltem, beispielsweise bei Les Idées fixes. Das Hören eines solchen Werkes ähnelt dann dem langsamen Betrachten einer Sammlung. Der Rezipient des Werks wäre dann gleichsam der wandelnde Betrachter, der, von unsichtbarer Hand geführt, sich mal dem einen, mal dem anderen Objekt widmet. Obwohl die Objekte keine Bezüge untereinander aufweisen, ‚weiß‘ der Betrachter, dass sie durch ihr Gesammeltsein eine Beziehung haben müssen. Der Wunsch des Sammlers wie auch des sammelnden Künstlers, Sinn (oder ein Ver ständnis der Welt durch deren Aneignung) durch die Ordnung oder das System der Sammlung zu erschaffen, ist jedoch untrennbar mit dem vielleicht rätselhaftesten Phänomen der Kunst des 20. Jahrhunderts verknüpft, der bereits im vorigen Kapitel über das Erzählen erwähnten Ich-Auslöschung: Wie bereits dargestellt, ist der Sammler als ein Wesen zu verstehen, das zum einen bestrebt ist, sein Ich zu stärken; zum anderen ist sein Ich dem Hang zur Selbstauslöschung unterworfen. Meines Erachtens kann man diesen Hang zur Selbstauslöschung auch bei Kagel betrachten, wenn man das Zurückziehen des kompositorischen Subjekts in Kagels Werken als „Ich-Schwäche“ des Sammlers deutet. Zu fragen wäre weiter, wo das kompositorische Subjekt in Kagels Werk zu finden ist. Vielleicht definiert es sich nicht durch einen eigenen, originären Personalstil, sondern wird durch die Komposition und deren Objekte repräsentiert. Das kompositorische Subjekt definierte sich demnach immer wieder neu über die Komposition und dessen Strategie.

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Wie bereits mehrfach erwähnt, beschreibt Peter Zima den „intertextuellen Prozess“ in der Postmoderne als verhangen zwischen den Bestrebungen zur Subjektkonstitution und zum Subjektverfall. Diese entgegengesetzten Bestrebungen lassen sich seiner Meinung nach nicht auf hegelianische Art zur Synthese bringen. Abschließend folgert er, dass die Intertextualität in postmodernen Texten zur Auflösung des Subjekts beiträgt. Im Sammeln – und in Kagels Kompositionen – scheinen mir diese entgegengesetzten Bestrebungen allerdings beide in gleicher Stärke präsent, zum einen die Suche nach Identität, zum anderen das Verlangen des Subjekts nach Selbstauslöschung beziehungsweise IchAuslöschung. Des Weiteren ließe sich über das Sammeln auch die Frage nach der kulturellen Zugehörigkeit Kagels stellen: Kann Sammeln als Kulturtechnik auch Unzugehörigkeit ausdrücken? Der Schwebezustand der Verweise, den der Künstler durch das Herauslösen der Objekte erzeugt hat, kann auch als Ausdruck einer Beschäftigung mit der eigenen subjektiven Erfahrung des eigenen Herausgelöstwerdens aus Kontexten gedeutet werden. Eine Frage, die bei Kagel nahe liegt, betrachtet man seine Aussagen über seine kul turelle Zugehörigkeit. So sagt er: Kurios: dort (in Argentinien) wurde ich als Europäer und hier als Südamerikaner betrachtet. Das ist ein Widersinn, den ich heute wegen seiner Eigenart sehr schätze. Eigentlich fühle ich mich überall etwas fremd – nicht grundsätzlich, aber genug, um von ‚latenter Befremdung‘ zu sprechen. Und das schafft eine wohltuende Distanz zu vielem.260

Wie steht es also um Kagels kulturelle Identität und wie schlägt sich diese in den Werken nieder? Geht man die Frage nach dem kompositorischen Subjekt über die psychoanaly tisch geprägte Auffassung des Surrealismus eines Subjekts an, lassen sich die Instanzen des Ich, Es und Über-Ich für die musikalische Analyse weiterführen: Lässt sich das komponierende Subjekt aufteilen in ein komponierendes Ich, ein Über-Ich oder ein Es? Oder um ein Beispiel zu nennen: Sogar Zwölftontechnik kann als Objekt fungieren, zum Beispiel in Osten, wo eine dodekaphone Reihe in einen (seriell-)tonalen Kontext gesetzt wird, und deren Expressivität hier zeichenhaft auf den Stil Schönbergs verweist:

Abb. 22: Kagel, Osten, Stehgeiger, T. 6-8, Umschrift aus dem Partiturdruck.

260

Mauricio Kagel u. Max Nyffeler, Interview „Mitteilsamkeit in der Musik“, in: Lettre International, H. 51 (2000), S. 117-119.

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Wäre eine, in einem nicht-dodekaphonen Werk, ‚unmotiviert‘ erscheinende Zwölftonreihe – mit ihrem Zwang zur Vollständigkeit – als Abschlag an die Konventionen der Dodekaphonie zu interpretieren, als Äußerung des Über-Ich? 261 Oder mit den Termini des Surrealismus gefragt: Wäre dies ein automatisches Schreiben, écriture automatique, demnach eine Äußerung des Es? Oder in herkömmlicher Terminologie: Ist diese zwölftönige Gestalt etwa Personalstil? Ist dieser reflektiert oder unreflektiert? (Dass diese Reihe doch eine kompositorische Berechtigung findet, zeigt Kapitel V.4.) Wie schon Freud bemerkt hat, sollte man seine ‚Topographie‘ der Psyche nicht als Landkarte verstehen.262 Ebenso ist es in methodologischer Hinsicht fraglich, ob die drei Instanzen Ich, Es und Über-Ich in hinreichendem Maße mit dem philosophischen Subjekt-Begriff Adornos oder dem Diskurs der deutschen Erkenntnistheorie in Einklang zu bringen sind. Dennoch lassen sich diese Instanzen mit der generellen Frage der Subjektivität kombinieren. Ein Beispiel hierfür wäre der von Adorno vorgebrachte Vorwurf, dass neue Musik durch ihren Grad an Konstruiertheit nur noch ‚scheinbare Objektivität‘ suggeriere. Der Begriff der ‚scheinbaren Objektivität‘ ist in der Weise, wie Adorno ihn einsetzt, mit dem Über-Ich der Psyche vergleichbar, da sie beide die Normierungen und Regelsysteme von Gesellschaft – oder generell jeglichem menschlichem Miteinander – auf die Ebene des Unbewussten heben.263 Bei Kagel ist ein eigentümliches Verhältnis von musik-immanenter Konstruktion (wie Dodekaphonie und Aleatorik) und musikalischer Rhetorik (in Gestik und Formanlage) zu beobachten, die sich gegenseitig aufzuheben scheinen. Letzteres – die Rhetorik – hört man, ersteres – die Konstruktion – ahnt man, und beim Studium der Noten wird sie schließlich offenkundig. Das käme Adornos Ideal des ‚integralen Kunstwerks‘, in dem alle künstlerischen Kräfte verschiedenster Art im glücklichen Gleichgewicht sind, schon recht nahe. Bei Kagel ist es aber anders: seine Rhetorik wird durch die Konstruk tion fadenscheinig, die musikalische Geste wirkt gegenüber dem Grad der Konstruiertheit, mit der sie in die musikalischen Abläufe eingebunden ist, merkwürdig flach – und zwar so, als ob in ihr die Kritik Adornos an der Neuen Musik bereits ‚einkomponiert‘ oder ‚eingeschrieben‘ wäre. Der systematisierende Sammler Kagel scheint dem Anspruch des integralen Kunstwerk nicht (mehr) zu trauen, seine Operationen beschränken sich womöglich nur noch auf das Exponieren, Katalogisieren und Beschreiben der Objekte.

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262 263

Nach Freud ist das Über-Ich „die Vertretung aller moralischen Beschränkungen, der Anwalt des Strebens nach Vervollkommnung, kurz das, was uns von dem sogenannt Höheren im Menschenle ben psychologisch greifbar geworden ist.“ (Freud, „Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit“ (1916-17), in: Sigmund Freud. Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey, Frankfurt a. M. 2000, Bd. 1, S. 496-516, hier S. 505.) Siehe Freud, Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, S. 515. Wobei Freud den Bereich des Unbewussten in ‚unbewusst‘ und ‚vorbewusst‘ unterteilt. Das Vorbewusste, dasjenige „das nur latent ist und so leicht bewußt wird“, sei hinsichtlich der Deskription auch als ‚unbewusst‘ bezeichnet, „aber wir bezeichnen es nicht so, außer in lockerer Darstellung oder wenn wir die Existenz unbewußter Vorgänge überhaupt zu verteidigen haben.“ (Freud, Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, S. 509.)

Sammeln und Musik

5

Ludwig van

5.1

Werkgenese als Sammeln

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Die folgende Darstellung des Werkkomplexes Ludwig van versucht, die poetischen Aspekte des Sammelns, also den ‚Akt des Sammelns‘, an einem Beispiel begreifbar zu machen. Daneben sind auch einige Schlussfolgerungen zur Sammlung als syntaktisches oder formales Gebilde eingestreut. Die in der Sacher Stiftung gelagerten Dokumente von Ludwig van stellten sich mir als eine weitestgehend ungeordnete Sammlung von Dokumenten, Ideen- und Konzeptblättern dar, die unabhängig von ihrer Authentizität, ihrer Stilhöhe oder anderen Wertungs kriterien als gleichwertige Objekte in diese Sammlung aufgenommen wurden. Die Tätigkeit des Sammelns lässt sich dabei auch im Produktionsprozess des Films erkennen: Das bereits entworfene Kompositionsmaterial der Film-Sequenzen hat Kagel erst im zweiten Schritt, also nach der Akkumulation, in eine Ordnung gebracht. So gibt das Drehbuch zu Ludwig van über die letztendliche Form des Films keine Auskunft, die einzelnen Sequenzen sind in alphabetischer Reihenfolge und in Reihenfolge der voraussichtlichen Drehtage angeordnet.264 Die letztendliche Reihenfolge entschied Kagel erst nach den Drehtagen und nach dem Rohschnitt des Films. Ebenso fanden sich Skizzen und Entwürfe von anderen Künstlern, die von Kagel im wörtlichen Sinne vereinnahmt wurden, so wie ein Sammler verfährt, wenn er auf ein Objekt seiner Leidenschaft trifft. Zunächst sei die Dokumentensammlung zu Ludwig van systematisiert und im Weiteren an einigen ausgesuchten Sequenzen dargestellt, wie das ‚gefundene Objekt‘ zum Gegenstand von Komposition wird.265 Zum Zeitpunkt der ersten Einsicht im April 2001 lagen die Quellen noch als von Kagel zusammengefügte Konvolute vor, sie waren also noch nicht in die Archivsystematik der Stiftung eingearbeitet. Dadurch hatte ich die einzigartige Möglichkeit, Einsicht in Kagels Anordnung der Quellen zu bekommen und diese zu bewerten. Während meines Aufenthaltes im August und September 2005 wurde das Konvolut neu geordnet, so dass die Quellen nun in der Systematik der Sacher Stiftung vorliegen. Die generelle Beschreibung der Sammlung im folgenden Abschnitt und im Verzeichnis der Quellen geht von Kagels ursprünglicher Anordnung aus. Um im Einzelfall die Nachweisbarkeit zu gewährleisten, wird bei den jeweiligen Einzelnachweisen die neue Ordnung der Stiftung berücksichtigt 264

265

Drehbuch Ludwig van, S. 1-2 bzw. Bl. 3r-4r, in: SMK 1/8. Zu den Kürzeln und vollständigen Namen der Sequenzen siehe auch die Umschrift der Seite 1 des Drehbuches in: Klüppelholz/Prox, Das filmische Werk, S. 90. Die Rekonstruktion der Produktionsabläufe habe ich bereits in meiner unveröff. Magisterarbeit geleistet, ebenso beruhen meine Ausführungen im Aufsatz Kompositionsweisen auf diesen Erkenntnissen. Aufgrund der immensen Komplexität der Dokumentenlage erschien mir in diesem neuen Zusammenhang eine noch stärker gekürzte Darstellung aber nicht sinnvoll, zumal einige Aspekte die Fragestellung berühren und dafür neu geordnet und gewichtet worden sind.

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(im Weiteren als SMK=Sammlung Mauricio Kagel gekennzeichnet), und nur an quellenkritisch problematischen Stellen auf die alte Ordnung rekurriert. Das in der Sacher Stiftung befindliche Material ist außerordentlich reichhaltig – im Vergleich zu anderen Produktionen dieser Größe, aber auch zu anderen Filmen Kagels. Das mag unter anderem daran liegen, dass Filme wie beispielsweise Solo (1967) und Duo (1968) innerhalb der jeweiligen Sendeanstalten produziert und abgedreht wurden (beide beim NDR, Hamburg), so dass die meisten Absprachen über interne Memos oder mündlich erfolgten. Dies ist bei Ludwig van nicht der Fall: Die Produktionsabläufe verlangten die Koordination zwischen der Produktionsfirma Internationale Filmgesellschaft (IFAGE) mit Sitz in Wiesbaden, dem von der IFAGE engagierten Schweizer Produzenten Viktor Staub und dem Auftraggeber, dem WDR in Köln, was mit der nötigen Verbindlichkeit nur auf schriftlichem Weg möglich war. 266 Dank dieser umfangreichen Dokumente lassen sich die Produktionsabläufe detailliert rekonstruieren. Im Folgenden seien die Quellen im Hinblick auf ihre werkgenetische Funktion zusammengefasst und erläutert: a) Entwurfsphase: Entwurfsskizzen, Fremdbeiträge und Fundstücke vor der eigentlichen Filmproduktion, die sich assoziativ mit Beethoven auseinandersetzen (von frühesten Skizzen bis zur Anfertigung des Drehbuchs) Das Drehbuch ist in seiner endgültigen Form zwischen dem 17. Juli und dem 13. August 1969 entstanden.267 Der Zeitraum der Vorbereitung und gedanklichen Auseinandersetzung Kagels mit dem Film Ludwig van lässt sich aber bis zum Jahr 1967 dokumentieren.268 Das erste genau datierte Dokument ist ein Brief von Hans Geert Falkenberg (WDR) an Mauricio Kagel (28.3.1969), in dem das Projekt angesprochen wird. 269 Ebenso 266

267

268 269

Der Film war zwar eine so genannte Auftragsproduktion des WDR, die Herstellung übernahm jedoch die IFAGE. Der WDR stellte die Studioräume sowie den dazugehörigen Technik- und Mit arbeiterstab, für die Musikproduktion und das Engagement der Musiker war die Musikredaktion des WDR verantwortlich. Die IFAGE übernahm die Produktion der Außenaufnahmen, die dafür benötigte Technik und der Mitarbeiterstab wurden von der IFAGE engagiert. Die eigentliche Koordina tion beider Apparate, der Produktionsteams der Innen- und der Außenaufnahmen, übernahm der Produktionsleiter Viktor Staub von der Montana Film AG, die ihren Sitz in Zürich hat. (Bei der Sequenz „IF: Internationaler Frühschoppen“ vertritt er die Schweiz.) Ersteres Datum ergibt sich aus einem auf den 17. Juli datierten Antwortschreiben von Konrad Balder Schäuffelen, der Kontaktperson zu dem in der CSSR lebenden Collage-Künstler Jiří Kolář. Kagel erhielt mit diesem Brief zum ersten Mal Kolářs genaue Adresse, die er dann in das Mitarbeiterverzeichnis seines Drehbuchs einfügte (Drehbuch als Typoskript und Kopie auf Durchschlagpapier in: SMK 1/8.). Als letzter möglicher Zeitpunkt für die Entstehung des Drehbuches kann die Regiebesprechung am 13. August 1969 gelten, in der es dem Produktionsstab in seiner Vollständigkeit vorgelegen haben muss (dokumentiert in: 5 Bl. „Ausstattungsprotokoll der Produktionssitzung am 13.8.69 und der Ausstattungsbesprechung am 14.8.69“ von Harald Reichelt (WDR, Ausstattung) an Verteiler, in: SMK 4/8.) 3 Bl. „Frühes Exposé (1967)“, in: SMK 1/8. Eine überarbeitete Version des Exposés ist veröffentlicht in: Klüppelholz/Prox, Das filmische Werk, S. 89. Brief Hans-Geert Falkenberg (WDR) an Kagel „Betr.: Ludwig van“ (28.3.69), vormals in: Kasten „Ludwig van III“, nun in: SMK 4/8.

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sind die Skizzen mit eher assoziativem Charakter in die Frühphase von 1967 bis 1969 einzuordnen. Eine solch langfristige Vorbereitung bis hin zu einer Realisation ist für Kagel nicht ungewöhnlich. Da die Skizzen, die vor dem Drehbuch entstanden sind, jedoch alle nicht datiert sind, ist eine genauere chronologische Einordnung problema tisch.270 Die in diesem Zeitraum entstandenen Skizzen bestehen aus Auflistungen von Recherchemöglichkeiten, möglichen Drehorten, am Film Beteiligten und Interviewpartnern. Unter anderem erwog Kagel die Möglichkeit, ein Interview mit Theodor W. Adorno zu führen und Karlheinz Stockhausen als Sprecher zu gewinnen. Diese Skizzen sind vermutlich im Frühjahr 1969 entstanden. Ebenso mutmaßlich in diesem Zeitraum entstandene Skizzen thematisieren die Ausgestaltung von einzelnen Sequenzen: Zum Beispiel hält Kagel fest, wie man die äußere Erscheinung Beethovens mit Bildern der Tiere aus dem Kölner Zoo visuell kombinieren kann (siehe Sequenz „ZO: Zoologischer Garten“ zum Ende des Films). Weiterhin sind Skizzen überliefert, die die Möglichkeiten der Synchronität bzw. Asynchronität zwischen Bild und Ton systematisieren. 271 Schließlich finden sich unmittelbare Entwürfe des Drehbuchs. Neben diesen von Kagel verfassten Skizzen, die ihm zur Koordinierung dienten und seine ersten Entwürfe festhalten, finden sich aber auch Zeitungsausschnitte, die er gesammelt hat, beispielsweise einen Zeitungsartikel über den angeblichen Beethovennachfahren Peter Köwerich272, ebenso ein Artikel mit der Überschrift „War Beethoven Mischling?“ vom 18. Februar 1969, der sich über die Bemühungen mokiert, unter Beethovens Vorfahren Schwarze zu finden, und in rassistische Phrasen abgleitet. 273 Beide Artikel werden künstlerisch in die Sequenz „NA: Nachfahren Beethovens“ eingearbeitet. Weitere Inspirationsquellen könnten mehrere Artikel aus dem Frühjahr 1969 über die Baufälligkeit des Beethovenhauses gewesen sein. 274 270

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Zu diesen Skizzen vor dem Drehbuch gehören eine Reihe von Dokumenten in SMK 4/8, u.a. 13 Karteikarten mit Adressen und Skizzen, 1 Bl. Skizze „Wichtig“, 1 Bl. Skizze „Beethovenhaus“, 1 Bl. Skizze „Ohr(e) Tiere“, 1 Bl. Skizze „Bild Ton“, 1 Bl. Skizze „Sequenz ÜM“, 1 Bl. Skizze „Ohren: Baumwolle drin“, 1 Bl. Skizze „Miscelania“ sowie 1 Bl. Skizze „Bild/Ton“ (Typoskript), 1 Bl. Skizze „Ay Nelly“. Ebenso früh sind die Dokumente 1 Bl. Auflistung „Ludwig van Aufnahmeorte“ sowie 1 halbes Notenblatt mit Auflistung „Tanzlokale“ und 1 Bl. Adressenauflistung „Ludwig van: Material“. Die Skizzenblätter „Grundbegriffecollagen“ (1 Bl. Typoskript) und „Äussere Erscheinung Sequenz ZOO“ (3 Bl. Typoskript) sind unmittelbare Entwürfe für das Drehbuch. Die vormals im Kasten „Ludwig van III“ abgelegten Skizzen „Ludwig van | Metzger Interview?“ (1 Bl. DIN A5), „Ludwig van“ (2 Bl.), „Ludwig van | Pressearchiv“, „Ludwig van | Interview Adorno?“ (jeweils 1 Bl., nun alle in SMK 4/8) halten vermutlich die frühesten Überlegungen Kagels fest. In letztgenannter Skizze erwägt Kagel ein Interview mit Adorno. Daher muss diese vor dem 6. August 1969, Adornos Todestag, entstanden sein. Z.B. Skizzenblatt „Bild Ton“ und Typoskript „Bild/Ton“, beide in: SMK 4/8. Erstere hss. Skizze ist unvollständig, letztere ist eine maschinengeschriebene Auflistung, vermutlich die komplettierte Reinschrift der Skizze (abgedruckt in: Schnebel, Musik. Theater. Film, S. 220-221, und: Klüppelholz/Prox, Das filmische Werk, S. 67, jedoch beide Male zum Film Duo.) Marion Schreiber, „Geborene Keverich. Ist der Winzer aus Köwerich ein Beethoven-Nachfahr?“, in: Die Zeit (7. 2. 1969), S. 13, in: Konvolut „Rezensionen“ [sic!]. Brigitte Zander-Spahn, „War Beethoven Mischling? Das „schwarze Amerika“ spannt den großen Komponisten für seine Zwecke ein.“, in: SZ (18. 2. 1969), in: Konvolut „Rezensionen“ [sic!]. Neben einigen nicht datierten auch Günter Schumann, „Wer Abs sagt, der muß auch Beethoven sagen. Bankier will den Bonnern ein Denkmal retten“, in: Kölner Stadt-Anzeiger (5. 2. 1969), S. 4, vor-

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Zudem finden sich Fremdbeiträge von anderen Künstlern wie zum Beispiel ein Filmkonzept275 vom Dichter, Happening-Künstler und Ästhetiker Bazon Brock, das den Garten des Beethovenhauses zum Thema hat und in der jeweiligen Sequenz „GA: Garten + Hof des ‚Beethovenhauses‘“ teilweise Eingang fand. Ebenso lieferte der Hamburger Schriftsteller und Dichter Schuldt einen Essay über Beethovens Konversationshefte und eine Sammlung von Sinnsprüchen aus denselben. Das Essay wird im Film von ihm, auf einer Schreibmaschine tippend, in Auszügen vorgetragen; die Sinnsprüche verwendete Kagel für die Ansagen, die den gesamten zweiten Teil des Films prägen. 276 Ebenso ist Kagels Bemühen um die Künstler für die Realisierung seines Beethovenhauses dokumentiert, unter anderem ein auf den 17. Juli 1969 datierter Brief an einen Mitar beiter des bildenden Künstlers Diter Rot (beziehungsweise Dieter Roth), in dem Kagel sich über die schlechte Erreichbarkeit von Roth beklagt. 277 Bemerkenswert ist an diesem wie auch an Kagels anderen Gesuchen um künstlerische Mitarbeit der späte Zeitpunkt: kurz nach diesem Datum fertigte Kagel das Drehbuch in seiner endgültigen Form an. b) Kompositorisches Material (nach dem Drehbuch weitergehende Konzeptionsskizzen bis zur Fertigstellung des Films) und Dokumente koordinierender Art Im weiteren Verlauf der Produktion ist es schwer zu unterscheiden, welche Schriftstücke als Skizze, Entwurf, Ausarbeitungsskizze oder Dokumentation zu gelten haben, da an der Koordination und Realisation des Films ein ganzes Heer an Mitarbeitern beteiligt war und viele arbeitsteilige und in sich abgeschlossene Produktionsschritte aufeinander folgten. Neben diesen Gegebenheiten, die aus den spezifischen produktionstechnischen Bedingungen des Films herrühren, kommt für die Quellenbewertung erschwerend hinzu, dass Kagel seine Aufzeichnungen, mit denen er Arbeitsprozesse dokumentierte, als Grundlage für die Konzeption des nächsten Arbeitsganges nutzte, zum Beispiel bei den sog. „Mischberichten“. Um diese Sachverhalte darzustellen, seien im Folgenden die Phasen der Filmproduktion in geraffter und chronologischer Form dargestellt. Wie bereits geschildert, gibt das Drehbuch keine Auskunft über eine Handlung, sondern hält alle Sequenzen ihren Kurztiteln nach in alphabetischer Reihenfolge fest und präsentiert sich dadurch als Sammlungskatalog. Erst nach Fertigstellung des Drehbuchs scheint Kagel die Reihenfolge dieser Sequenzen und damit die narrative Gestalt des ganzen Fil-

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mals in: Kasten „Ludwig van III“, nun in: SMK 8/8. „Abs“ ist der Nachname eines Mäzens des Beethovenhauses. 1 Bl. Anschreiben von Bazon Brock, beigeheftet 3 Bl. „Prinzipien der Denkmalspflege | eine dialek tische Fallstudie am Beispiel des | Beethovenschen Gartens von Bazon Brock“, in: SMK 8/8. Vgl. auch den Eintrag in sein Werkverzeichnis in: Bazon Brock, Ästhetik als Vermittlung, Arbeitsbiographie eines Generalisten, hg. v. Karla Fohrbeck, Köln 1977, S. 1058, wo das Konzept als „Szenario für Mauricio Kagels Beethovenfilm, 1970“ eingeordnet ist, jedoch mit dem Vermerk „(nicht realisiert)“. In: SMK 8/8. Brief Kagel an Rieser (Mitarbeiter Rots und Gießer der Beethoven-Büsten) (17.7.1969), in: SMK 4/8. Kagel hatte sich schon vorher um Franz Eggenschwiler bemüht, erhielt aber eine Absage. Vgl. Brief Kagel an „Eckenschwiler“ [sic!] und Brief Franz Eggenschwiler an Kagel (17.7.69), beide in: SMK 4/8.

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mes konzipiert zu haben. Der späte Zeitpunkt, an dem Kagels sich für eine mögliche Form entscheidet, gibt den Hinweis auf das Sammeln: Kagels hält die Systematik der Sammlung so lange wie möglich aufrecht (siehe Kap. IV.5). Erscheint diese Arbeitsweise im Vergleich zu allgemeinen Verfahrensweisen bei der Konzeption narrativer Filme sehr ungewöhnlich, so bringt sie Kagel einigen komposito rischen Spielraum in der weiteren Produktion, die von vielfältigen Änderungen, Strei chungen von Sequenzen und Personalproblemen geprägt ist. Schon im Ausstattungsprotokoll278, in dem die aus der Regiebesprechung vom 13. August und der Ausstattungsbesprechung vom 14. August 1969 gewonnenen Ergebnisse verzeichnet sind, finden sich terminliche Änderungen gegenüber dem Drehbuch. Weitere Änderungen sind in den vom WDR erstellten Drehplänen, Stablisten und Dispositionsplänen vom 26. August 1969 dokumentiert.279 Der Drehplan wie auch die davon abhängigen Dispositionspläne erfuhren jedoch noch vielfältige Änderungen. So mussten bereits am 1. September 1969 Tonaufnahmen umgelegt werden. Ein Schicksalsschlag, wenn auch eher für Kagel als für die Disposition der Produktion, war die Nachricht über den tödlichen Unfall seines Freundes Alfred Feussner, der für die Rolle des Fremdenführers eingeplant war und für den ein „Ersatz“ gefunden werden musste. 280 Die größte Umdisposition ergab sich durch die Freistellung des WDR-Studios K für eine Wahlsendung. Dort sollten ursprünglich am 24. September die Sequenzen „KB Kurvenbilder (Interpretationsenergetik)“, die gesamte „KK Klavierpädagogik“ und „TI Tierpfoten“ gedreht werden.281 Am Dienstag, den 23. September 1969, begannen die Dreharbeiten. 282 Dokumentiert ist dies in den vermutlich vom Regieassistenten Ulrich Heiser ausgefüllten Tagesberichten.283 Die Tagesberichte geben den Drehort, die Darsteller, die gedrehte Sequenz, die abgedrehten Meter Rohfilm und Ähnliches an und dienten den Mitarbeitern als Arbeits278 279

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5 Bl. „Ausstattungsprotokoll der Produktionssitzung am 13.8.69 und der Ausstattungsbesprechung am 14.8.69“ von Harald Reichelt (WDR, Ausstattung) an Verteiler, in: SMK 4/8. Vormals geheftetes Exemplar „Drehpläne | Stablisten | Dispositionen“ von Kagel mit „DISPOSITIONSPLAN“ betitelt (46 Bl. Typoskript, auf Bl. 2r, dat. mit 26.8.1969, in: SMK 3/8). In diesen Dokumenten sind alle gültigen Drehtermine, Drehorte, der Mitarbeiterstab und die Einzelheiten für die Vorbereitung der Kulisse, des Tons und der Kamera festgehalten. Brief Kagel an Staub 3. September 1969, in: SMK 4/8. Dispositionsplan, S. Bl. 7r. Für diesen Termin bot der WDR das Studio L an, das jedoch nicht für Tonaufnahmen eingerichtet war, so dass der Dreh der Sequenzen KK und TI verlegt werden musste. Diese Änderungen sind in dem auf den 8. September datierten „Drehplan nach Umdispositionen“ festgehalten wie auch in dem am gleichen Tag geschriebenen Brief von Staub an Kagel. Einen Tag später wurden alle über den Verteiler in einem dreiseitigen Brief über die Umdispositionen wegen der Wahlsendung informiert. (Brief (3 Bl.) Staub an alle Beteiligten (9.9.1969) betr. „Umdispositionen“ wegen Wahlsendung am 24.6.1969 (Xerokopie auf gelbem Papier), in: SMK 4/8.) Es wurde insgesamt an 15 Tagen gedreht (von Dienstag, den 23., bis Samstag, den 27. September; Montag, den 29. September, bis Samstag, den 4. Oktober, und Montag, den 6., bis Donnerstag, den 9. Oktober). 15 Blätter Tagesberichte (pro Tag je ein Formular), und zwar Nr. 1 (23.9.1969)-5 (27.9.1969); Nr. 6 (29.9.1969)-11 (4.10.1969); Nr. 12 (6.10.1969)-15 (9.10.1969), in: SMK Archivbox „Cutterberichte“.

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nachweis. Kagel scheint den Rohschnitt immer noch am selben Tag mit dem Cutter geprüft und den brauchbaren Film zum Kopieren vermerkt zu haben. Für diesen Arbeitsgang gab es die auf einem Formblatt festgehaltenen sog. Cutterberichte, mit denen dem Kopierwerk angegeben wurde, welche Einstellungen aus dem Rohfilm kopiert werden sollten.284 Diese Formulare verwendete Kagel im weiteren Prozess als Grundlage und zur Orientierungshilfe für das erste Zusammenfügen der Einstellungen, die er in den jeweiligen, den Cutterberichten beiliegenden Skizzen festgehalten hat. Ob Kagel hier bereits das Filmmaterial hat schneiden lassen, ist aus den Dokumenten nicht zu ersehen, erscheint aber zweifelhaft, da für die Schnittphase normalerweise erst eine Arbeitskopie des originalen Rohfilms erstellt wird. Die Bavaria Atelier Gesellschaft, welche die Herstellung des Filmmaterials übernahm, schickte der IFAGE am 16. Oktober 1969 (mit Eingangsstempel des 20. Oktobers) die Arbeitskopien und stellte im beiliegenden Anschreiben fest, dass „Entladungen bei den Negativprüfungen“ aufgetreten seien, so dass einige Stellen des Rohfilms schadhaft waren.285 Etwa zeitgleich schrieb Staub in einem an die IFAGE adressierten Anschreiben, welches den Cutterberichten beilag, dass Kagel die Arbeitskopien ausmustern müsse.286 Dieses Ausmustern lässt sich an den Skizzen rekonstruieren, die Kagel den Cutterberichten beigeordnet hat. Kagel hatte die Arbeitskopien recht bald zur Verfügung; vermutlich änderte er sie nach den Vorstellungen, die er in den Skizzen zu den Cutterberichten festgehalten hatte. Die verschiedenen Schreibschichten der Skizzen zeugen aber auch hier von mehreren Arbeitsgängen. Eine erste großformatige Einordnung der Filmsequenzen aus Kagels Hand findet sich in den Skizzen Themen und Film Reihenfolge.287 Die Tatsache, dass Kagel die Sequenzen hier bereits in Filmrollen anordnete, lässt vermuten, dass bei dem folgenden Arbeitsgang die Arbeitskopien auf Filmrollen à circa 10 Minuten gezogen worden sein müssen, und zwar in der Form, wie sie auch aus den späteren Mischberichten zu ersehen ist. An einer auf den 25. Dezember 1969 datierten Skizze lässt sich ersehen, wie Kagel die zur Drehzeit aufgenommenen Tonspuren dem ersten vollständigen Filmschnitt zuordnete.288 In dieser Skizze wird auf die Einteilung in Rollen Bezug genommen, so dass anzunehmen ist, dass der Film schon einmal komplett geschnitten war. An dem 284

285 286 287 288

In: SMK Archivbox „Cutterberichte“. Die Handschrift dieser Dokumente erinnert auf den ersten Blick an Kagel, unterscheidet sich aber durch von Sütterlin-Schrift geprägte Eigentümlichkeiten, wie z.B. der fast identischen Schreibung der Bögen von u, m und n oder den Geminationsstrich über dem m, so dass sie eindeutig nicht Kagel zuzuschreiben ist. Interessant und bezeichnend für Kagels spielerische Art mit Sprache und Schrift umzugehen ist, dass Kagel den Geminationsstrich über dem m in einigen Skizzen vereinzelt wiederaufnimmt. 1 Bl. Brief Bavaria Atelier Gesellschaft an IFAGE betr. „Entladungen bei den Negativprüfungen“ (16.10.1969, eingegangen am 20.10.1969), in: SMK 4/8. Brief Staub an IFAGE, in: SMK 5/8. 1 Bl. Skizze „Themen Ludwig van“ und 1 Bl. Skizze „FilmReihenfolge“ (beide zusammengefasst), in: SMK 4/8. 1 Bl. Skizze „LUDWIG VAN Musikabschnitte“ (dat. 25.12.1969) in: SMK 4/8; bereits als Umschrift veröffentlicht in: Klüppelholz/Prox, Das filmische Werk, S. 90.

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Umstand, dass beispielsweise bei der Handschuhsequenz289 der Ton ausschlaggebend für den Bildschnitt ist, lässt sich folgern, dass die Skizzierung der Bildreihenfolge und die Vertonung voneinander abhängig und/oder zeitnah erfolgt sind. Die obligatorische Nachsynchronisation sollte am 23. März 1970 stattfinden. Welche Aufnahmen an diesem Termin durchzuführen waren, beschreibt Kagel in einer undatier ten Skizze mit der Überschrift „Aufnahmen durchzuführen“.290 Neben den normalen Nachsynchronisationen, die anfielen, weil zum Beispiel der O-Ton mangelhaft war, wurde während dieses Termins auch das Musikzimmer vertont. Weitere Skizzen, die von mir so genannten Kreuzlisten und Skizzen zur Auswahl der Tonspuren, dokumentieren den anschließenden Schneide- und Mischvorgang der Sequenz „MZ Musikzimmer des ‚Beethovenhauses‘“.291 Die Einordnung der anderen Skizzen, die die Spurenauswahl für andere Sequenzen angeben, lassen vermuten, dass auch diese Sequenzen zu diesem Zeitpunkt synchronisiert wurden. 292 Dass Kagel mit Hilfe der Cutterberichte und der zugehörigen Skizzen definitiv einen kompletten vorläufigen Bild-Schnitt anfertigte, lässt sich auch an den genauen Rollen- und Zeitangaben erkennen, die in den Skizzen vor der Nachsynchronisation auftreten. In das zeitliche Umfeld dieser Nachsynchronisation fällt ein Teil der frühen „Misch berichte“, in denen Kagel die verschiedenen Tonspuren zum Bild festlegte. 293 Die „Mischberichte“ sind vorgedruckte Formulare im DIN A3-Format, in die für die jeweilige Szenenfolge die Tonspuren und Zeiten eingetragen werden können. Da sie mehrere Schreibschichten und Korrekturen enthalten, ist davon auszugehen, dass sie zuerst als Entwurf und dann als Vorlage für den Schnitt sowie als Dokumentation des Schneidevorgangs dienten. Insofern ist die auf dem Formular aufgedruckte Bezeichnung „Misch bericht“ eher missverständlich. Zugleich weisen die Skizzen auch Spuren auf, die normalerweise bei Entscheidungen oder Änderungen während des Schnitts im Studio entste hen, wie beispielsweise Lautstärkeangaben, Bezeichnungen der Effekte und besondere Hervorhebungen für ein schnelles Lesen während der Abmischung. Die Mischberichte 289 290

291

292 293

Bzw. nach der DVD-Ausgabe 2006, „Magic with old props“. Bl. 2-4 von 10 Skizzen (paginiert, Ringbuchbl. DIN A5), ursprünglich in: Mappe „Cutterberichte“, dort Konv. „Produktion: Tutti frutti | Allgemeine Korrespondenz | Gedanken / Materialsammlung“, dort Teilkonv. „Produktion tutti frutti“, nun in: SMK 2/8 Bl. 6 u. 10 von 10 Bl. Skizzen (Ringbuchbl. DIN A5), in: SMK 2/8. Für eine genauere Beschreibung dieser Skizzen und eine Umschrift der verwendeten Teile siehe meinen Beitrag Kompositionsweisen, S. 88-92. Bl. 1 u. 5 von 10 Bl. Skizzen (Ringbuchbl. DIN A5), in: SMK 2/8, sowie 1 Bl. Skizze „101 NUR TON“ (als Kopie) in: SMK 5/8. „Mischbericht Ludwig van 1. Rolle | 9’34’’, 275,5 m“, „Mischbericht Ludwig van 1. Akt [Forts. 1. Rolle] | 275,5 m“, „Mischbericht Ludwig van (Blatt1) 2. Rolle | 8’56’’, 254,6 m“, „Mischbericht Ludwig van (Blatt2) [Forts.] 2. Rolle | 8’56’’, 254,6 m“, „Mischbericht Ludwig van 5. Rolle | 6’26’’, 183,3 m“ (in: Mappe „Drehbuch“), sowie „Mischbericht Ludwig van 6. Rolle | 5’23’’, 153,7 m, „Mischbericht Ludwig van (Blatt1) 8. Rolle | 7’46’’, 221,3 m“, „Mischbericht Ludwig van (Blatt2) [Forts.] 8. Rolle | 7’46’’, 221,3 m“, „Mischbericht Ludwig van 1. Fassung 9. Rolle | 7’09’’, 203,9 m“, „Mischbericht Ludwig van (Blatt1) 11. Rolle | 7’47’’, 221,1 m“, „Mischbericht Ludwig van (Blatt2) [Forts.] 11. Rolle | 7’47’’, 221,7 m“, alle in: SMK 2/8.

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repräsentieren in ihrer Anlage Kagels typische Art, eine Entwurfsskizze mehrfach zu verwenden.294 Die hier genannten Dokumente und Quellen hat Kagel in ihrer Vollständigkeit privat archiviert. Sie sind weniger ein Indiz für eine Sammelleidenschaft sondern eher für sein Bestreben der vollständigen Dokumentation der eigenen Werke, wie es vielen Komponisten und Künstlern zu eigen ist. Die Eigenschaften des Sammlers offenbart Kagel eher in den weiteren Dokumenten, die die Werk-Rezeption und die allgemeine Beethoven-Rezeption nach dem Film dokumentieren. Das Sammeln von Dokumenten über die Werkrezeption und generell Beethoven hat nach der Realisation von Ludwig van keinen 294

Es gibt mittlerweile drei(!) autorisierte Filmfassungen von Ludwig van: Zunächst eine frühere Fassung mit der Länge von ca. 100 Min. und eine spätere von ca. 89 Min., wobei die spätere von den beiden die öfter ausgestrahlte und damit bekanntere ist. Bei der von Kagel neu herausgegebenen DVD-Ausgabe in der limitierten Mauricio Kagel Edition, Winter & Winter 910 128-2, 2006, handelt es sich um eine nachträgliche und, obwohl von Kagel beaufsichtigt und damit autorisiert, unabhängig von den beiden anderen Fassungen entstandene ‚Neukomposition‘. Zwar beinhaltet diese dritte Fassung zwar Sequenzen, die nur in der längeren Fassung zu finden sind wie beispielsweise der Mond mit Bundesadler, der Film hat aber insgesamt die Länge der früheren Fassung von 89 Minuten. Dieser kuriose Umstand lässt sich eigentlich nur dadurch erklären, dass Kagel die längere Schnittfassung oder womöglich auch Rohschnittmaterial für den Schnitt zur Verfügung stand, er jedoch die Auflage der bekannten 89 Minuten Filmlänge einhalten wollte. Aufgrund dieses Umstandes bietet die dritte Filmfassung für die Dokumentation einzelner vormals unbekannter Sequenzen eine reichhaltige Quelle, sie ist jedoch für den Produktionsprozess irrelevant. Deswegen sei sie für die folgende Beschreibung des ohnehin komplexen Zusammenhangs der ersten beiden Fassungen ausgeblendet. — Die meisten Skizzen und Dokumentationen der Tonmischung und damit auch ein überwiegen der Teil der Mischberichte geben nicht die Zeiten und Sequenzanordnungen an, die dem heute, wei testgehend bekannten und als Videokopie kursierenden Film entsprechen, da Kagel an dem Film nach der UA in Wien einige große Kürzungen vornahm. Soweit mir bekannt, hat die Paul Sacher Stiftung Filmmaterial, welches evtl. noch existiert nicht angekauft. In einem Gespräch am 8. Dezember 2001 teilte Kagel mir jedoch mit, dass noch weiteres Material von Ludwig van, darunter auch Filmrollen, in Vorbereitung für den Weg in die Paul Sacher Stiftung sei. (Dieses könnte womöglich das Rohmaterial für die dritte Fassung, die DVD-Edition gewesen sein.) Als besonders problema tisch stellte sich die quellenkritische Bewertung des Skizzenblattes „Kürzungen LUDWIG VAN“, die auf den 12. August 1970 datiert ist, und weitere Kürzungen anführt. Ebenso gibt es zwei weitere undatierte Skizzenblätter mit dem Titel „Schnitte und Kürzungen (ausgeführt)“ sowie zwei handschriftliche Auflistungen der Rollen-Zeiten, erste namens „Neue Fassung“, zweite namens „Endgültige Fassung August ’70“ mit Auflistung der jeweiligen Zeiten der Rollen, vormals alle in: Mappe „Cutterberichte“, dort Konv. „Produktion: Tutti frutti | Allgemeine Korrespondenz | Gedanken / Materialsammlung“, dort Teilkonv. „Produktion tutti frutti“. — Im Zusammenhang mit der Kürzung sind die von Kagel mit „neue“ oder „endgültige Fassung“ betitelten Mischberichte werten, darunter: „Mischbericht Ludwig Van (Neue Fassung) 1. Rolle | 7’24’’, 210. 70 m“, „Mischbericht Ludwig Van (Neue Fassung) 2. Rolle | 8’38’’, 246. 2 m“, „Mischbericht Ludwig Van (Neue Fassung) 5. Rolle | 4’45’’, 135. 4 m“, „Mischbericht Ludwig Van (Neue Fassung) 6. Rolle | 7’21’’, 209. 4 m“, „Mischbericht Ludwig Van (Neue Fassung) 10. Rolle, 1. Teil | 2’13’’, 63,1 m“, „Mischbericht Ludwig Van (Neue Fassung) 10. Rolle, 2. Teil | 5’08’’, 146.2 m.“, sowie „Mischbericht Ludwig van Neue Fassung 2. Teil 8. Rolle | 7’15’’, 206,4 m“, „Mischbericht Ludwig van Endgültige Fassung!! 9. Akt | 7’08’’, 203,0 m“. Alle genannten Dokumente sind nun in der Mappe SMK 2/8 zusammengefasst. — Vergleicht man, soweit es möglich ist, die Skizzen der frühen und der „neuen“ bzw. „endgültigen“ Fassung, so lassen sich erstaunlich wenige inhaltliche Änderungen finden. Die Notwendigkeit, neue Mischberichte zu schreiben, scheint allein aus der Kürzung begründet. Lediglich die von Kagel

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Abbruch erfahren. So enthalten die drei von Kagel nachgelassenen, etwa schuhkarton großen Kästen „Ludwig van I“, „II“ und „3“ [sic!] fast ausschließlich Dokumente, die Kagel nach der Film- und Schallplattenproduktion gesammelt hat. Generell lassen sich die Dokumente in die direkte Werkrezeption und Beethoveniana aufteilen. c) Dokumentation der Rezeption der Werk-Realisationen Das Konvolut enthält Dokumente, die die unmittelbare Rezeption von Ludwig van betreffen, zum Beispiel Zuschauerbriefe, Rezensionen, Plakate, Programmhefte, Ankündigungen und Einladungskarten zu den ersten Filmvorführungen, den folgenden Konzerten und den Ausstellungen der Kulissen sowie der Requisiten in der Neuen Galerie im Alten Kurhaus (vom 3. Dezember 1970 bis zum 15. Januar 1971) und in der Hamburger Kunsthalle (ab dem 27. Oktober 1971).295 Ebenso sind Dokumente späteren Datums erhalten, – beispielsweise, um nur eine Realisation herauszugreifen – eine Ankündigung einer Aufführung von Ludwig van am 15. Januar 1976 im Goethe Institut in Montreal, allerdings in einer Bearbeitung für „Kammerensemble, Tonband und Diashow“. Sie ist als „realization of the

295

bezeichneten Dokumente „Endgültige Fassung!!, 9. Akt [bzw. Rolle]“ und, dem nachliegend, „9. Rolle 1. Version“ fallen hier in jeder Hinsicht aus dem Rahmen: Sie sind nicht chronologisch klar einzuordnen und können als Zwischenstufen zwischen der frühen Fassung und der endgültigen Filmfassung gewertet werden. Aus den beiden Dokumenten sind die Sequenzen angeordnet in der Reihenfolge: Sequenz „RI Rinnstein“, „AN Ansager und Ansagerinnen“, dann eine nicht zu identifizierende Sequenz von ca. 1:30 min. und schließlich „LA Liederabend Carlos Feller“. Im endgültigen Film sind dem Liederabend jedoch die Sequenzen „SC Prof. Schuldt“ und AN vorangestellt. — Geht man von diesen Quellen aus, so muss Kagel nach der Uraufführung am 28. Mai 1970 bei den Wiener Festwochen (23. Mai - 21. Juni 1970) und nach der Erstsendung am 1. Juni 1970 im WDR III eine Kürzung am Film vorgenommen haben. Ein Vergleich mit den Rezensionen im Hinblick auf evtl. nachträglich getilgte Sequenzen war ergebnislos. Rechtzeitig zu den Donaueschinger Musiktagen am 17. und 18. Oktober 1970 wäre dann der gekürzte Film fertig gewesen. Bemerkenswert ist hierbei der Umstand, dass der Film in diesem Zeitraum wohl nicht gezeigt wurde, aber kurz nach den Donaueschinger Musiktagen auf mehreren Dritten Kanälen lief und in München seine deutsche Erstaufführung erfuhr. Auf meine Anfrage ließ Kagel mir brieflich mitteilen, dass, soweit er sich erinnern könne, in Wien bereits die „endgültige Fassung von LUDWIG VAN“ gezeigt wurde. Die Dokumentation einer zweiten Fassung wäre u.a. durch eine neuerliche Tonmischung erklärbar. Eine zweite Fassung schließe er aber nicht aus, sie wäre an den unterschiedlichen Längen des Film zu erkennen. (Brief Sekretariat Kagels an den Verf. (Typoskript) vom 8.5.2001.) — Nach eingehender Untersuchung lässt sich diese „endgültige Fassung“ aber als echte Kürzung und – laut Kagels Skizzen – auch als „Neue Fassung“ bezeichnen. Der Film wurde von 99 Min. und 56 Sek. auf 88 Min. und 42 Sek. gekürzt. (Angaben laut Skizze 1 Bl. „Endfassung August ’70“ mit Auflistung der Längen der Rollen, in: SMK 2/8.) Geschnittenes Filmmaterial oder gar eine ursprüngliche Fassung des Films, die diese Indizien belegen könnten, lagen in der Sacher Stiftung zum Zeitpunkt der Sichtung nicht vor. Der Zufall wollte es aber, dass mir Bettina Paust von der Beuys Stiftung, anlässlich eines Vortrages zur Ausstellung „Beethovens Küche“, dankenswerterweise ein Videoband zur Einsicht schickte, das sich als die ‚verschollene‘ bzw. nicht bekannte längere Fassung erwies. Das von Frau Paust aus dem WDR-Archiv angeforderte Exemplar hat die Nr. 0140849. Dort war man sich über den Umstand der Kürzung wohl nicht bewusst, denn es gibt dort kein zweites Exemplar des Films. U.a. vormals in Mappe „Cutterberichte“, nun in: Konvolut „Programme“

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composers/performers group, devised for their European tour in 1972/73.“ deklariert.296 Ebenfalls dokumentiert ist eine Aufführung einer abgewandelten „Musik zum Beethovenfilm“ am 16. Oktober 1977 im Wiener Mozartsaal mit Gunda König (Sprecherin), Dieter Kaufmann (Synthesizer), dem Pro-Arte-Quartett und Peter Guth (Violine) als Interpreten sowie Mauricio Kagel als Dirigenten. 297 Daneben finden sich Einladungen, Programmhefte und Rezensionen von künstlerischen Fremdadaptionen der Partitur, der Schallplatte, des Films oder einfach nur der kagelschen ‚Idee‘ Ludwig van. d) Nachgehaltene Dokumente über Beethoven als kulturelles Phänomen Es sind bemerkenswert viele Dokumente erhalten, die nachweisen, dass Kagel auch nach der Realisation des Komplexes Beethoven thematisch Naheliegendes gesammelt hat, beispielsweise Zeitungsausschnitte, Einladungen zu Uraufführungen von Beethoven-Filmen anderer Künstler und Festivals sowie eine Ankündigung eines nicht näher bestimmbaren Konzerts mit dem Titel „cayc | jules v.a.n.“ (16. Juli 1975). 298 Daneben findet sich auch ein Zugfahrplan der Bundesbahn für den Zug „TEE 22 van Beethoven“ vom April 1974 und ein Prospekt der Lufthansa mit einer Abbildung einer Beethovenstatue (dat. „2/3-88“).299 Jüngste Sammlerstücke in diesem Bereich sind eine Einladung zur Vorpremiere des Films „Immortal Beloved“ von Bernard Rose (mit Gary Oldman und Isabella Rosselini in den Hauptrollen) für den 24. Februar 1995 sowie ein Artikel aus der FAZ vom 9. Februar 1995 über den Film.300 Neben diesen sehr klar nach der Produktion datierbaren Dokumenten enthält das Konvolut eine Vielzahl von Bildmaterialien über Beethoven. Sehr viele dieser Dokumente haben mutmaßlich als Inspirationsquelle gedient. e) Vorbereitendes Bildmaterial über Beethoven Vermutlich sind die unter diesem Punkt subsumierten Bilder als Vorlagen für die visuelle Konzeption des Films, insbesondere Kagels Beethovenhaus verwendet worden. Es finden sich unter anderem eine Postkarte von Beethovens Geburtshaus (Straßenansicht), eine Postkarte im Überformat mit Beethovens Geburtszimmer (Büste auf einem Sockel im 296 297

298 299 300

In: Kasten II, nun in Konvolut „Programme“. Dass Ludwig van „vor allem eine Idee“ ist, also in konzertanter Form vielgestaltig sein kann, lässt sich auch einem Brief Kagels an Walter E. Rosenberg vom Goethe Institut in Buenos Aires (31. Mai 1977) entnehmen, in dem er eine Realisation des Konzerts vorschlägt: „Ich pflege selbst LUDWIG VAN so aufzuführen, daß zwischen der gewählten Reihenfolge der Partitur alle Mitwirkenden Fotokopien aus verschiedenen Klaviersonaten (manchmal auch Geige- oder Cellosonaten) von Beethoven erhalten. Selbstverständlich die gleichen Seiten für alle Spieler. Damit wird die Aufführung in seltsamer Weise konkret (Kurkapelleninstrumentierung durch Zufall-Instrumentation) und zugleich irreal (Instrumentation der Originalfotoseiten).“ (Blauer Luftpostleichtbrief, zum Zeitpunkt der ersten Einsicht noch in: Kasten II, dort in ein Plakat gefaltet) In: SMK 8/8. In: SMK 8/8. In: SMK 8/8.

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Mittelpunkt des Raumes, davor ein Kranz mit Trockenblumen), die Reprographie eines Porträts Beethovens („nach einer Originalradierung von C. L. Dake | im Verlag von L. Dietrich & Cie. | in Brüssel“), ebenso hier einordnen lässt sich ein Anzeigenzettel über eine Bild- und Dokumentbiographie Beethovens von H.C. Robbins Landon.301 Zudem sammelte Kagel Werbeanzeigen aus deutschen und englischen Zeitschriften, besonders von Hifi-Firmen, die mit der Taubheit des Meisters kokettieren. Des Weiteren befinden sich im Konvolut Dokumente zur Schallplattenproduktion Ludwig van, unter anderem auch noch frühe Entwürfe, Skizzen, Aufnahmedokumentationen, „Aufnahmepartitur“ und Material, das beim Schnitt und der Endabmischung anfiel. 302

5.2

Intermedialität und Sammeln

Die Sammlung an Dokumenten und Quellen zum Komplex Ludwig van ist in verschiedener Weise von der dem Sammeln eigenen Heterogenität durchwirkt, welche sich zunächst in der Heterogenität der Medien, hier besonders Schrift, Notenschrift und Bild (mittelbar auch das Medium Buch) niederschlägt. So nehmen Dokumentationen von eigenen Aufführungen (Plakate, Programmhefte), Bildmaterial (Postkarten mit Motiven, Fotos), Notenmaterial (Notenblätter, Faksimiles aus Büchern) und Briefe (vom Publikum und von teilnehmenden Musikern) einen großen Raum ein. Darüber hinaus lässt sich eine Heterogenität von Stilhöhe und Authentizität innerhalb eines jeweiligen Mediums konstatieren, wobei sich die Heterogenität im Akt des Sammelns wie auch in der tatsächlichen Sammlung äußert. (Es ist sinnvoll, die beiden Eigenschaften Stilhöhe und Authentizität gerade bei dem Kontext Beethoven in einem Zusammenhang zu sehen.) Diese Heterogenität der Stilhöhe und Authentizität wird durch die sich im Konvolut vorhandenen verschiedenen Textsorten, die von wissenschaftlicher Sekundärliteratur, über populärwissenschaftliche und biographische Literatur bis hin zu Tageszeitungsartikeln über Beethoven reichen, geleistet. Das Einbinden der Objekte in den Film Ludwig van geschieht durch Prozesse der Kontextualisierung. Bemerkenswert ist dabei, dass in den meisten Fällen eine mediale Vermittlungsebene (Bild, Ton, Sprache) wegfällt oder ausgeblendet wird und der bisherige Kontext des Objekts unkenntlich gemacht wird. Zur Veranschaulichung dieses Verfahrens seien einige Dokumente des Konvoluts dargestellt, die Eingang in den Film gefunden haben.

301 302

Alle in: SMK 8/8. Z.B. das Ringbuch „Gedanken, Skizzen, Quellen“, in: SMK Archivbox „Notizen zur Schallplattenproduktion“, sowie einige Briefe Kagels mit den Musikern, ursprünglich in Mappe „Drehbuch“, dort Konv. „Produktion: Tutti frutti | Allgemeine Korrespondenz | Gedanken | Materialsammlung“, dort lose eingelegt; eingegangen wie die anderen Dokumente zur Schallplattenproduktion in: SMK 4/8.

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Eine wichtige Inspirationsquelle bei der visuellen Gestaltung des Films waren Texte von und über Beethoven. Ein Buch, das Kagel nachweislich als Materialquelle gedient hat, ist das populärwissenschaftliche Komponistenporträt Bildnis Beethovens von Richard Specht303. Aus diesem Buch lassen sich mehrere Sequenzen und Ideen ableiten; so verdanken die Sequenzen „BT Bei Tisch“ und „HÖ Beethoven, der Höhlenbewohner“ ihre Namen zwei Kapitelüberschriften dieses Buches. 304 In der Sequenz HÖ werden verschiedene Gegenstände aus Beethovens Haushalt präsentiert, ähnlich wie bei einer Auktion oder einer forensischen Untersuchung sind ihnen Zettel mit Nummern angehängt. All diese Gegenstände tauchen auch in den von Specht zitierten Memoiren des Baron de Trémont von 1809 auf.305 Kagel setzt diese Beschreibung in Bilder um, sogar die bei de Trémont erwähnte Wasserlache auf dem Fußboden wird von Kagel als Beweisstück angeführt. Der wissenschaftliche Text wird hier in assoziative Filmbilder umgesetzt, der Text jedoch fällt weg. Die bei einem solchen Medienwechsel entstehende Leerstelle wirft Rätsel auf und fasziniert und fungiert als der Bereich des ‚Unsichtbaren‘. Die Annähe rung an den Mythos Beethoven geschieht über das Sammeln von Objekten, die immer nur einen Bruchteil des ‚Unsichtbaren‘ repräsentieren. Neben diesen in den Quellen von Kagel vermerkten Verweisen lassen sich im Film auch andere Momente aus Spechts Biographie finden: Eine Metapher, die Kagel mehrfach aufgreift und bildlich und akustisch umsetzt, ist das von Specht so genannte ‚innere Orchester‘, welches er bei Beethoven zu erkennen glaubt: „Für ihn war das Klavier der ideelle Träger aller seiner Gedanken, war sein (immer als unzulänglich empfundenes) Orchester, war Menschenstimme, Geigenchor, Schlagwerk oder Horn [...]“ 306. Die Imagination der verschiedenen inneren Instrumente veräußerlicht Kagel nun beispielsweise in der Sequenz „KA Klavierabend Linda Claudius-Mann“, wo sich dem Klavierklang ein verstimmtes Bläserensemble zugesellt. Ebenso lassen sich einige Stellen bei der Sequenz „S Rheinfahrt“ von dieser Textstelle herleiten. Auch die zunehmende Taubheit Beethovens wird bei Specht angesprochen. Während eines Landspaziergangs machte Ferdinand Ries Beethoven auf eine entfernt erklingende Schalmei aufmerksam: „Nun horcht auch der Meister hinaus; aber nach ein paar Sekunden wird sein Antlitz starr und totenblaß, sein Mund verzerrt sich, in seinen Augen steht ein unsagbares Entsetzen – er hört nichts.“ 307 Kagel setzt dies um, indem er zum Ende der Sequenz „NA Nachfahren Beethovens“ den so genannten Nachfahren leise, am Rande der Hörschwelle, eine Schalmei spielen lässt. Ähnlich angestrengt wie damals Beethoven hört nun auch der Zuschauer zu, nur bleibt ihm das Entsetzen erspart.

303 304

305 306 307

Richard Specht, Bildnis Beethovens, Hellerau bei Dresden 1930. Vgl. Kagels Verweis im Drehbuch, S. 27 (Bl. 41r) zu Sequenz „BT Bei Tisch“ (teilweise realisiert). Dort lautet die Quellenangabe: „Richard Sprech [sic!], B. Bildnis S. 265“, siehe auch Specht, Bildnis Beethovens, S. 265 u. 58. Ein Exemplar des Buches ist nicht in der Sammlung Kagel. Kagels Hinweis im Drehbuch, S. 28 „(Bibliographie: Specht S 58)“, in: SMK 1/8. Specht, Bildnis Beethovens, S. 38. Ebd., S. 32. Zu dem Aspekt der Schwerhörigkeit Beethovens, die besonders in der generellen Instrumentation ihren Niederschlag findet, siehe meinen Aufsatz Kompositionsweisen, S. 76-79.

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Die Arbeitsweise der anekdotischen Verarbeitung und Andeutung findet sich aber nicht nur bei Sequenzen, die sich dem Beethovenianer erschließen, sondern auch bei denjenigen Sequenzen, die als vermeintlich ‚sinnfrei‘ erscheinen und den Kunstrichtungen Dada, Neodada oder Fluxus (oder Surrealismus) zuzurechnen wären. Gemeinsam ist den von Kagel verwendeten Texten, dass man ihnen sofort allerlei anekdotische Über treibung zusprechen kann und dass sie Anteil an der allmählichen Verfremdung und Ikonisierung der historischen Person Beethovens hatten. Kagels Auswahl dieser nicht-authentischen Texte erscheint sehr bewusst, betrachtet man im Gegensatz dazu die Textar ten, die Kagel für die Sankt-Bach-Passion (1981/85) ausgewählt hat. Dort griff er ausschließlich auf sichere Quellen wie Briefe und Traubücher zurück, die er sogar per Endnoten im Anhang seines Librettos nachweist. 308 Ein gutes Beispiel für eine solche Dekontextualisierung bis hin zur Unkenntlichkeit ist die Sequenz „ME Medizinisches Institut“, der ursprünglich eine Passage aus Theodor von Frimmels Buch Beethovens äussere Erscheinung aus dem Jahre 1905 unterlegt werden sollte.309 Diese Sequenz besteht aus einer Reihe von Einstellungen, in denen Skelette gezeigt werden. Die linksbündig angeordnete Regieanweisung für die vierte Einstellung lautet im Drehbuch, S. 46 (Bl. 49) noch: „GROSS [-Einstellung] Lupe vor der Kamera untersucht die Oberfläche der Beinknochen. Fahles Licht.“, während der aus dem Off zu erklingende Text rechts daneben angeordnet ist: „Seine Gesichtsfarbe war gesund und derb, die Haut etwas pockennarbig; sein Haar hatte die Farbe blau angelaufenen Stahles, und wenn es sich im Sturm bewegte, so hatte er wirklich etwas Ossianisch-Dämonisches.“310 Das Bild hatte also zu dem Zeitpunkt, als Kagel das Drehbuch fertigstellte, die Aufgabe, den Text zu konterkarieren. Das primäre Ziel dieser Collage ist sicherlich Komik und Ironie. All diese Texte, die zunächst offensichtlich als Sprechtexte zur jeweiligen Filmsequenz gedacht waren – sie sind schließlich im Drehbuch in dieser Form festgehalten –, wurden aber beim Endschnitt nicht übernommen. Wann genau und warum Kagel diese Idee fallen ließ, ist leider nicht dokumentiert. Indem Kagel die Texte im Laufe der Produktion tilgte, wurden diese Bilder aber nun ihrer unmittelbaren Bedeutung beraubt. Sie verweisen nicht mehr auf den Text und auf das Thema des Films, nämlich Beethoven, sondern entfalten eine weitergehende Vieldeutigkeit bzw. Polysemie. Dies unterstützend fügt Kagel diesen Sequenzen nun neue Musik hinzu, in diesem Fall Teile des zweiten Satzes der Klaviersonate op. 10,3 und des ersten Satz der sogenannten Sonate Les Adieux op. 81a, beide in Kagels Instrumentierung. Die Verbindung zu Beethovens Musik geschieht nun über die Synchronität bzw. Asynchronität von Bild und Ton, so dass der Bildinhalt – vormals narrativ-semantisch begründet – nun musikalisch-syntaktisch gebunden wird. Das Hinzufügen der Musik 308 309

310

U.a. veröffentlicht in: Klüppelholz, Kagel ..../1991, S. 388-412. Vgl. Theodor von Frimmel, Beethovens äussere Erscheinung, Seine Bildnisse, München u. Leipzig: Georg Müller 1905 (= Beethoven-Studien, Bd.1), S. 71, ebenso in: Ders., Neue Beethoveniana. Neue Ausgabe mit zwei ungedruckten Briefen Beethoven’s an Goethe, Wien: Carl Gerold’s Sohn 1890, S. 249. Ebenso dort Kagels Vermerk: „(Textquelle: Beethovens äußere Erscheinung, Th. v. Frimmel, Leipzig 1905)“

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füllt das semantische Vakuum, welches durch das Streichen der Texte erzeugt wurde. Die Musik schafft zum einen einen übergreifenden Zusammenhang zwischen den Bildern und Beethoven – allein durch die Tatsache, dass Beethovens Musik erklingt –, zum anderen aber auch durch das Verbinden der Bilder mit der Musik durch das Verfahren der Synchronität und Asynchronität, und zwar auf ähnliche Weise wie bei der an anderer Stelle analysierten Handschuhsequenz.311 Der Gegenstand wird de-kontextualisiert und durch den Prozess der künstlerischen Transzendierung und die Aufnahme in die ‚Sammlung‘ re-kontextualisiert. Als letztes Beispiel für die Aufnahme und Verfremdung fremden Materials soll die Sequenz „NA Nachfahren Beethoven“, die eine der merkwürdigsten Auswüchse des Beethovenjahres 1970 aufgreift, herangezogen werden. So mehrten sich im Vorlauf des Jubiläums Zeitungsartikel über einen Peter Köwerich, dem nachgesagt wurde, der einzige noch lebende Nachfahre Beethovens zu sein. Einer dieser Artikel, den Kagel auch verwendet hat, ist bereits erwähnter von Marion Schreiber „Geborene Keverich. Ist der Winzer aus Köwerich ein Beethoven-Nachfahr?“.312 Über dem Zeitungsartikel ist ein Foto von Peter Köwerich abgedruckt, auf dem er eine etwa 15 cm große, schwarze Beethoven-Büste neben sein Gesicht hält. Ein weiterer, ebenfalls bereits erwähnter Artikel, der für die Sequenz „NA“ Pate stand, ist derjenige von Brigitte Zander-Spahn: „War Beethoven Mischling? Das ‚schwarze Amerika‘ spannt den großen Komponisten für seine Zwecke ein.“313 Hier berichtet sie von einem Plakat der schwarzen Bürgerrechtsbewegung berichtet, das Beethoven als Farbigen darstellt. Dem Zeitungsartikel ist eine Abbildung des Plakats beigefügt. Kagel verarbeitet diese beiden Randglossen des Beethovenjahres in der Sequenz NA, die eine Interview-Situation mit einem angeblichen Nachfahren Beethovens darstellt. Der ‚Nachfahre‘, ein Bauer, der auf seinem Acker neben seinem Pferdepflug interviewt wird, hält verschiedene Beethoven-Büsten in die Kamera und behauptet, dass alle anderen, die sich für Beethovens Nachfahren ausgeben, „falsch“ seien. Die Angabe im Drehbuch, S. 31, lautet wie folgt: Statt Herrn Peter Köwerich (90 Jahre alt) wohnhaft in Köwerich bei Trier, wird ein anderer, sehr alter Mann interviewt, der mit dem Namen POLL angesprochen werden soll (Poll = Name der Großmutter Beethovens). Herr Poll steht inmitten eines Ackers neben seinem Pflug mit Pferden. Im Hintergrund die Oelraffinerie von Wesseling. [...] Herr Poll erklärt seine Verwandtschaft mit Beethoven. Er nimmt aus seiner Tasche eine Büste von Mozart (im Besitz von Kagel), und während er unaufhörlich spricht, zeigt er weitere Dokumente und Zeitungsausschnitte.

In der realisierten Version hält der Nachfahre, nachdem er eine kleine, weiße Beethovenbüste zum Vergleich seiner Ähnlichkeit in die Kamera gehalten hat, eine größere schwarze Beethovenbüste in die Kamera und erklärt:

311 312

313

Siehe mein Beitrag Kompositionsweisen. In: Zeit, Nr. 6 (7. 2. 1969), S. 13. Vgl. Drehbuch Ludwig van, S. 31: „Interview mit dem letzten Nachfahren Beethovens (siehe ‚Die Zeit‘ von 7.2.1969).“; vormals in: Kasten „Ludwig van 3“, nun in Konvolut „Rezensionen“. Vormals in: Kasten „Ludwig van 3“, nun in Konvolut „Rezensionen“.

Sammeln und Musik

145

Aber einen Beweis einer noch viel größeren Ähnlichkeit, soll Ihnen diese etwas dunkel getönte Büste liefern. Diese dunkle Tönung liegt daher [sic!], daß auch in dem Blut Ludwig van Beethovens etwas dunkles Blut geflossen ist und zwar durch einige Mulatten aus Westindien.314

Auch wenn Kagels Mozartbüste bei der realisierten Sequenz nicht in Einsatz kam, ist die Verquickung immer noch enorm: Kagel macht aus dem Mosel-Winzer einen rheinländischen Bauern, verlegt die vermeintliche Abstammung noch um eine Generation nach vorne, übernimmt aber den Direktvergleich mit der schwarzen Büste. Die Farbe der Büste ist der Konnex für die Einbindung des anderen Zeitungsartikels, so dass der Bauer von seiner schwarz-westindischen Herkunft sprechen kann. Der Nebeneffekt all dieser Deplazierungen ist natürlich ein ziemlich eigenwilliger Humor, und diejenigen Zeitgenossen, die den Beethoven-Rummel 1970 aufmerksam mitverfolgt haben, dürften sich vor Lachen gebogen haben. Versuchen wir diese Sequenz aber unter ästhetischen Gesichtspunkten zu betrachten: Das Deplazieren ist bekanntlich eine der Grundvoraussetzungen des Witzes, aber nur um einen Witz zu erzielen, erscheint die materiale Aufarbeitung und die kompositorische Selbstrechtfertigung Kagels über das Material doch zu komplex und zu ‚künstlich‘. Kagel verfährt bei diesem Witz genauso wie beim Komponieren. Zudem bleibt die Pointe aus, die Sequenz endet mit einer langsamen Wegfahrt in eine Totale und einem melancholischen Blick über die herbstliche Ackerlandschaft mit anliegendem Industriegebiet am Horizont. Dazu ertönt das leise Spiel der Schalmei, welches so nahe der Hörschwelle ist, dass man dem Eindruck erliegt, man höre mit Beethovens Ohren. Die drei Beispiele zusammenzufassend ist festzustellen, dass Kagels Sammeln sich in verschiedener Hinsicht auf das Werk auswirkt: Zunächst ergeben sich bei der Dekontex tualisierung – oder einfacher gesagt, bei dem Akt des Sammelns – einzelner Objekte zwei Prozesse: der Medienwechsel und der Wechsel von Authentizitätsgraden. Die Umwandlungsprozesse sind hierbei intermedialer Art, beispielsweise derjenige von Sprache in ein Bild, vom Zeitungsartikel in Film oder ähnliches. Die Authentizität mag hier nicht unbedingt mit dem Medium kategorisch auf einer Ebene sein, aber sie ist meines Erachtens für die kagelsche Art des Auswählens und Sammelns signifikant (siehe auch die Ausführungen zu Exotica, Kap. III.4).

314

Zit. nach der Untertitelung der DVD-Ausgabe 2006.

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6

Sammeln und Musik

Zusammenfassung über das Sammeln

In diesem Kapitel konnten lediglich grundsätzliche Fragen aufgeworfen werden: 1. die Problematik der Zeitlichkeit vom Sammeln als Akt und der Sammlung als (Re-)Präsentation, 2. die sich ergebenden Analogien zum Surrealismus und der Postmoderne, 3. das Sammeln am Beispiel eines Quellenkonvoluts hinsichtlich dessen poetischer Relevanz und 4. die Besonderheit der medialen Übergänge anhand von einzelnen Beispielen. Die Einzelergebnisse sollen hier nicht wiederholt werden, aber es ist deutlich geworden, dass Kagels Verständnis von ‚Material‘ eine neue Bedeutung erhält. Material stellt sich im Diskurs des Sammelns als etwas dar, das bereits als Objekt vormals Bedeutungen gehabt hat, und dem durch die Komposition neue Bedeutungen hinzugefügt werden. Insofern liegt das Objekthafte nicht unbedingt in der unmittelbaren Semantik, sondern ist eher in den den semantischen Prozessen zu finden, die diesen Zeichenträgern (den Semiophoren) während des Kompositionsprozesses widerfahren. Hierbei scheint es im kagelschen Kompositionsprozess unerheblich, welche mediale Beschaffenheit dieser Zeichenträger hat, ob er Musik, Bild, Schrift, gesprochenes Wort oder ähnliches ist. Wichtiger erscheint die bloße Tatsache, dass er als Zeichenträger fungieren kann, also grundsätzlich in der Lage ist, Zeichen zu tragen. In diesem Zusammenhang erscheint das Verhältnis zwischen kompositorischem Subjekt und komponiertem Objekt als ähnlich unabdingbar wie die schicksalhafte Verknüpfung des sammelnden Subjekts mit dem gesammelten Objekt. Die Systematisierungsversuche des sammelnden Subjekts geben uns hier eine erste Ahnung über die Art und Weise, welch strengen Reglements Kagels Komponieren unterworfen ist. Inwiefern weitere ästhetische Aspekte des Sammelns, also die Art und Weise der Präsen tation von Sammlung in Form und Syntax von Musik, beschreibbar sind, soll an den Einzelanalysen der folgenden Kapitel dargestellt werden. Beim Film Ludwig van bleibt aber bereits festzuhalten, dass die Eigenschaft einer Sammlung, nie abgeschlossen zu werden, sondern sich zeitlich als unabgeschlossene Serie zu gerieren, in eigentümlicher Weise auch die durchaus zu bemängelnde Formdramaturgie des Films berührt. Denn wie ließe sich eine Präsentation einer Sammlung anders verfilmen als in einer losen Reihe von Sequenzen, denen als einziges syntaktisches Mittel die unmittelbare Separiert heit der Objekte zur Verfügung steht? Kagels Rolle als Filmdramaturg wäre dann die eines Sammlers, der zusammen mit seinem Besucher langsam seine Sammlung abschreitet und Objekt für Objekt präsentiert – was mitunter dazu führen kann, dass der faszi nierte Sammler den Besucher auf Dauer überanstrengt.

V.

Die Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

Wer Musiker wird, ist dem Mathematiklehrer entlaufen; es wäre schrecklich, wenn er am Ende doch noch von ihm erwischt würde.315

In diesem Kapitel soll der Frage nachgegangen werden, wie die Kompositionsmethode der Seriellen Tonalität beschaffen ist und welche Strategien des kompositorischen Subjekts in ihr wirken. Hierbei sollen zuerst die für Kagel ausschlaggebenden musikästhetischen und kompositorischen Voraussetzungen sowie seine Reflexionen über die Frage des Subjekts diskutiert werden, um schließlich die tatsächliche Ausführung an einer Passage aus Südosten analytisch und werkgenetisch zu beobachten. Um der von Kagel erfundenen Seriellen Tonalität, und besonders ihrer seriellen Anteile, gerecht zu werden, erscheint es mir notwendig, einerseits einen mentalitätsge schichtlichen Blick auf die Darmstädter Schule zu werfen. Zum anderen soll die Serielle Tonalität in kompositionstechnischer und musikstilistischer Hinsicht an Kagels atonalen ‚Frühwerken‘ Anagrama und Sexteto de cuerdas (1953) reflektiert werden. Auf die Frage, an welchem Werk oder welcher Werkgruppe Kagel selbst rückblickend eine generelle Stilwende erkennt, antwortet er: Solange die Wandlungen sich vollzogen, war es schwer, ein System daraus abzuleiten. Dies gilt insbesondere für einzelne Werke. Gewiß waren aber Ludwig van und die Variationen ohne Fuge eine furchtlose Auseinandersetzung mit Form und Ausdruck des 19. Jahrhunderts.316

Es erscheint demnach naheliegend, die Auseinandersetzung mit der Seriellen Tonalität mit einer Reflexion über das kulturelle Erbe der Klassik und Romantik zu eröffnen. Dieser Ansatz würde aber nur auf die Oberfläche der Sache, auf die vermeintlich leicht nachvollziehbare Tonalität zielen, nicht auf die Art und Weise, wie sie sich in Kagels Werk komponiert und verarbeitet findet. Im Weiteren wird darzustellen sein, dass Kagels ‚Rückbesinnung‘ auf die Tonalität nicht etwa dem Wunsch entsprungen ist, das Komponieren und Musizieren zu vereinfachen, sondern das Resultat einer sehr bewussten Auseinandersetzung mit der Moderne und ihrer Technik und Ästhetik ist. Anhand von Kagels Selbstaussagen soll im Folgenden versucht werden, die Serielle Tonalität als eine ‚Methode‘ zu deuten, die aus einer inneren Notwendigkeit entstanden ist und ihren 315

316

Theodor W. Adorno, „Vers une musique informelle“ (Vorlesung in Kranichstein, 1961), in: AdornoGS, Bd. 16, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan Buck-Morss u. Klaus Schulz, S. 493-540, hier S. 493. Kagel/Klüppelholz, „‚Ein Lufthauch der Musikgeschichte‘. Ein Gespräch zwischen Mauricio Kagel und Werner Klüppelholz über Komponieren in der Postmoderne“, in: NZfM 149 (1989) Nr. 6, S. 47, hier S. 6 (auch unter dem Titel „Komponieren in der Postmoderne“ veröffentlicht in Kagel, Worte über Musik, S. 99-107).

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Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

Ursprung in Kagels Auseinandersetzung mit der Ästhetik der deutschen Nachkriegsmoderne hat. Die in den anderen Kapiteln aufgeworfenen Fragen bezüglich des kompositorischen Subjekts können meines Erachtens auch zum Verständnis der Seriellen Tonalität beitragen. An einem ausgesuchten Beispiel aus Südosten soll in Kapitel V.6 erarbeitet werden, wie diese Serielle Tonalität sich musikalisch ausprägen kann, und welche weiteren Kriterien erforderlich sind, um die Ausformung derselben weitergehend zu beleuchten. In diesem Teil werden auch poetologische Fragestellungen zu Werkgenese und Werkkonstitution eine entscheidende Rolle spielen. Das Oxymoron Serielle Tonalität verleitet schnell dazu, diese Kompositionsmethode auf eine – um Karl von Clausewitz zu paraphrasieren – ‚Weiterführung der Serialität mit anderen Mitteln‘ zu reduzieren. Jedoch ist zu fragen, wie Tonalität, die mit ihren Gesetzmäßigkeiten nicht nur die Harmonik und Melodik, sondern auch die formale Beschaffenheit und den Gestus einer Musik, letztlich also die gesamte musikalische Sprache bestimmt, mit der Serialität widerspruchslos zusammenzubringen ist, bildet jene doch gleichsam den Gegensatz, der sich in Atonalität, einer anderen Formsprache, einem anderen Zeitverständnis und einer kompletten Entkoppelung und Re-Etablierung aller musikalischen Parameter äußert. Dieser Widerspruch ist sicher nicht vollständig aufzulösen. Ziel der Beobachtung kann es womöglich nur sein, diese Gegensätze als solche darzustellen, und sie eventuell als eigentliche Triebkraft, vielleicht sogar als Initialkraft dieser Kompositionsmethode zu begreifen. Glauben wir Kagels Worten, ist die Kompositionsmethode der Seriellen Tonalität recht simpel gestaltet: Experimente mit dem für mich zentralen Problem einer ‚atonalen‘ Tonalität auf serieller Grundlage habe ich schon früh gemacht. Was mir vorschwebte, war der Umgang mit tonalen Akkorden jenseits von Schuld und Sühne. Dafür brauchte ich ein Konzept, das mir zugleich eine strenge und flexible Anwendung erlauben sollte. Das theoretische Gerüst ist unkompliziert: Ähnlich wie in der Zwölftontechnik werden Reihen von Dur, Moll, verminderten und übermäßigen Akkorden und die dazugehörigen Umkehrungen einer unendlich fortsetzbaren Tonreihe zugeordnet. Daher fehlt ein Mittelpunkt, der in der tonalen Musik klassischen Zuschnitts zentripetal, als Magnet dient. (Geschichtlich gesehen haben tonale Ausgangspunkte auch zentrifugal gewirkt.)317

Insofern lässt sich die Serielle Tonalität als eine Technik beschreiben, die mit Hilfe des Regelwerkes der Serialität und unter Verwendung des Klangmaterials der Tonalität eine Musik erschafft, die sich den Erwartungshaltungen, welche die Tonalität impliziert, zwar sperrt, aber zu ‚tonal‘ klingt, als dass sie die Erwartungen des Hörens herkömmlicher serieller Musik befriedigen könnte. Diese Annahme bestätigt sich auch beim Hören von seriell-tonalen Werken, ganz besonders bei An Tasten. Klavieretüde (1977), welches oben zitiertes kompositorisches Programm aufzunehmen scheint und mit seinen endlos mäandernden Klangbändern von Drei- und Vierklängen an Klaviermusik Franz Liszts erinnert. Versucht man jedoch andere Werke, wie beispielsweise Die Stücke der Windrose, nach Kriterien, die in jener Musik funktionieren, zu beschreiben, so erweisen sie sich als nicht ausreichend. Die besondere und hinsichtlich der Fragestellung nach dem Subjekt 317

Kagel/Klüppelholz, ..../1991, S. 24-25.

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

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entscheidende Problematik der Seriellen Tonalität spricht Kagel bereits an, wenn er rückblickend schreibt, dass er „nach Kompositionsprinzipien verlangte, die intelligenter als der Komponist sein sollten, Prinzipien, die zwar keine selbstständigen Entscheidungen treffen sollen, aber ‚über‘-logisch die biegsame Methodik des Komponisten kontrollieren.“318 Bemerkenswerterweise setzt Kagel den Anfangszeitpunkt seiner Suche nach neuen Kompositionstechniken jedoch nicht an das Ende der Dekade der 1960er Jahre, sondern an den Anfang, und zwar kurz nach Fertigstellung seiner bis dato technisch komplexesten Komposition, Anagrama (1957-58), also sein erstes ‚deutsches‘ Werk, das 1960 in Köln für Furore sorgte. Insofern fiele Kagels Suche nicht unbedingt mit seinem offensichtlichen Stilwechsel um 1970 zusammen, sondern wäre etwa 10 Jahre früher zu datieren. Wieland Reich greift dies in seiner ausführlichen Analyse der Sankt-Bach-Passion auf und deutet Kagels Hang zur Numerologie als Indiz einer möglichen Kontinuität: Die kabbalistische ‚mystische Logik‘ – in Kagels Terminologie ‚Supramethodik‘ – der proportionierenden Numerologie ist ein Indiz dafür, daß sich hinter der Wandlung zur Klangsprache, die mit dem Schlagwort ‚Serielle Tonalität‘ verbunden ist, offenbar eine Kontinuität von schaffenspsychologischen, methodischen und ästhetischen Prinzipien verbirgt, die äußerlich so verschiedenartige Werke wie Anagrama und die Sankt-Bach-Passion eben doch miteinander verbindet.319

Demnach gäbe es zwischen einem Werk wie Anagrama, das ein radikaler, atonaler und bruitistischer Vertreter der Moderne ist, und der etwa 25 Jahre später komponierten Passion gemeinsame Wesensmerkmale, die möglicherweise mit der Seriellen Tonalität zusammenhängen. Kompliziert wird die Gemengelage aus Serialität und Tonalität jedoch durch Kagels Anmerkung, dass er die Zahlenreihen, die er der späteren seriellen Gestaltung zugrunde legt, größtenteils mittels aleatorischer Verfahren erstellt. Den Momenten der Determination durch die Serialität und der implizierten Tonsprachlichkeit durch die Tonalität gesellt sich ein drittes hinzu, die Aleatorik: Mir schwebte eine Erweiterung der Reihentechnik durch Koppelung an einen Zufallsgenerator vor, weil mich die Idee störte, Reihen bestünden einzig und allein aus zwölf und nicht aus einer kleineren oder größeren Anzahl von Tönen.320

Der Text, in dem Kagel diese Sachverhalte und den Begriff der Seriellen Tonalität in seiner Vollständigkeit zum ersten Mal thematisiert, ist die bereits zitierte Gesprächsmit schrift von Werner Klüppelholz.321 Hier gibt Kagel nicht nur Auskunft über die technischen Grundlagen der Seriellen Tonalität, sondern vertritt auch grundlegende ästheti318 319 320 321

Kagel/Klüppelholz, ..../1991, S. 26-27. Reich, Sankt-Bach-Passion, S. 17. Kagel/Klüppelholz, ..../1991, S. 26. Reich (Sankt-Bach-Passion, S. 9) vermerkt die Interviews, in denen Kagel sich zur Seriellen Tonalität äußert, und zwar Klüppelholz’ Beitrag „Apokryphe Archäologie“, in: MusikTexte 30 (1989), S. 43-46, hier S. 45, sowie Klüppelholz/Kagel, „Komponieren in der Postmoderne“, in: Kagel, Worte über Musik, 1991, S. 101 und 107 (auch veröffentlicht unter dem Titel „Ein Lufthauch der Musikgeschichte. Ein Gespräch zwischen Mauricio Kagel und Werner Klüppelholz über Komponieren in der Postmoderne“, in: NZfM 149 (1989) Nr. 6, S. 4-7) sowie zum ersten Mal 1984 in einem Interview mit Klüppelholz, in: Werner Klüppelholz, Was ist musikalische Bildung? Werner Klüppelholz im Gespräch mit Bazon Brock u. a., Kassel u. a. 1984 (= Musikalische Zeitfragen, hg. v. Hans-Klaus Jungheinrich, Bd. 14), S. 58-65.

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Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

sche und historische Ansichten. Daher möchte ich, obwohl Wieland Reich dieses Inter view in Bezug auf die Sankt-Bach-Passion und die dort vorgefundenen Kompositionstechniken bereits ausgewertet hat, es nochmals heranziehen, um die ästhetischen und poeti schen Aspekte von Kagels Serieller Tonalität aufzuwerfen.

1

Serielle Tonalität aus ‚innerer Notwendigkeit‘?

Kagels Auseinandersetzung mit dem Serialismus, ob auf bewusster oder ‚unbewusster‘ Ebene, ist für einen heutigen Menschen, der in der Epoche der Postmoderne aufgewachsen ist, rätselhaft. Das Abarbeiten am Serialismus kommt fast – überspitzt formuliert – einer traumatisch bedingten Aufschubshandlung gleich. Mit Blick auf die Mentalitätsgeschichte der Nachkriegsmoderne in Deutschland wird jedoch deutlich, warum der Serialismus als Phänomen und vielleicht auch als poetisches Problem in Kagels Werken und Texten so lange Schatten wirft. Und es erscheint in diesem Zusammenhang sinnvoll, die immense normative Wirkungskraft der deutschen Nachkriegsmoderne darzustellen. Hierbei kann auf eine Reihe bereits bestehender Dokumentationen und Veror tungsversuche, zum Beispiel auf die von Hermann Danuser und Gianmario Borio herausgegebenen Schriften und Dokumente über die Darmstädter Ferienkurse, diverse Aufsatzbände sowie auf das Buch von Josef Häusler über Donaueschingen, zurückgegriffen werden. (Die Einzelverweise findet der Leser an den entsprechenden Stellen.) Dementsprechend sei hier – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die kompositionstechnische Entwicklung der westdeutschen Nachkriegsavantgarde bis zum Eintreffen Kagels in Deutschland am Beispiel der so genannten Darmstädter Schule kurz und in Schlaglichtern dargestellt und in Bezug auf die Fragestellung problematisiert. Die damaligen Darmstädter Ferienkurse waren durch drei Impulse geprägt. Den ersten Impuls hat René Leibovitz mit seiner Vorstellung von Schönbergs „Kompositionstechnik mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ bei den Darmstädter Ferienkursen 1948 gegeben.322 Den zweiten Impuls gab 1949 Olivier Messiaen, indem er das Verfahren der Zwölftontechnik und das Reihendenken nun nicht mehr nur auf die Tonhö hen übertrug, sondern auch auf andere musikalischen Parameter, wie zum Beispiel Tondauern, Dynamik, Artikulation, Klangfarbe und weiteres ausweitete. 323 Als die eigentliche 322

323

Hans Ulrich Engelmann, „Zur Genesis der ‚Darmstädter Schule‘ 1946... (Erinnerungen)“, in: Von Kranichstein zur Gegenwart. 50 Jahre Darmstädter Ferienkurse, Kat. zur Ausst. Von Kranichstein zur Gegenwart – 50 Jahre Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, hg. v. Rudolf Stephan u. a., Stuttgart 1996, S. 5054, hier S. 51. Zur Vorbildfunktion Schönbergs für die Darmstädter Schule siehe auch: Stefan Fricke, „Totgesagte leben trotzdem! Zur verbalen Schönberg-Rezeption europäischer Komponisten seit 1950“, in: Stil oder Gedanke? Zur Schönberg-Rezeption in Amerika und Europa, hg. v. Stefan Litwin und Klaus Velten, Saarbrücken 1995 (= Schriftenreihe der Hochschule für Musik und Theater, Bd. 3), S. 157-179. Interessanterweise verstand der unfreiwillige Initiator des Serialismus sein Werk Mode de valeurs et d’intensités, das er 1949 in Darmstadt komponierte und dessen Uraufführung solche Furore bereitete, nicht als serielle, sondern als modale Komposition. Zwar hat es mit seriellen Kompositionen die Ausweitung der Zahlenreihen auf die, im Titel bereits genannten, beiden Parameter Tondauer und

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

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Geburtsstunde des Serialismus als Technik und Ästhetik – oder nach Engelmann der „Idee des ‚totalen‘, ‚globalen‘, des ‚prädeterminierten‘ Komponierens“ 324 – kann aber 1951 die erste Aufführung des zweiten Satzes von Karel Goeyvaerts’ Sonate für zwei Klaviere (Nummer 1) und der sich daran anknüpfende Streit Adornos mit der neuen Komponistengeneration angesehen werden. 325 Der zweite Satz der Sonate wurde in einem Kompositionsseminar Adornos aufgeführt, wobei im anschließenden Disput Karlheinz Stockhausen Goeyvaerts gegen Adorno zur Seite stand. Adorno wird später mit beiden brechen, mit Goeyvaerts in seinem Beitrag „Über das Altern der Neuen Musik“, bei der Goeyvaerts’ Sonate – wenn auch ungenannt – im Mittelpunkt einer fundamentalen Kritik an der Neuen Musik steht:326

324 325 326

Lautstärke gemeinsam. Diese werden den Tonhöhen fest zugeordnet, ebenso wie die Artikulation. Stockhausen bezeichnet dieses Verfahren 1962 auch als „mehrdimensionale Modustechnik“, wogegen die Schüler Messiaens daraus die „mehrdimensionale Reihentechnik“ entwickelten. (Karlheinz Stockhausen, „Kadenzrhythmik bei Mozart“, in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik 4 (1961), S. 3872, hier S. 38-39.) Modal ist es in der Weise, dass die Zahlenreihen und deren zugeordnete Parameter nicht untereinander permutiert werden, so dass die Tonreihen in ihrer Starrheit einen Modus bilden. Ebenso spricht gegen eine serielle Kompositionsweise, dass zwar in der Oberstimme der Takte 1 bis 4 der Modus I in der im Vorwort der Partitur genannten Gestalt regelhaft durchgeführt wird, aber im weiteren musikalischen Verlauf keine parametrische Durchdringung der verschiedenen Modi untereinander stattfindet. Zudem weisen die weiteren musikalischen Gestalten dieses Modus und der anderen keine aus der Zwölftontechnik bekannten Spiegelungstechniken wie Krebs oder Umkehrung auf. Die von Pascal Arnault gefundene, ab T. 24 bis 28 in der Oberstimme vorhandene Reihung der Modus-Töne in 1, 12, 2, 11, 3, 10, 4, 9, 5, 8, 6, 7 kann eher als die Regellosigkeit bestäti gende Ausnahme gelten. (Siehe Pascal Arnault, Olivier Messiaen, Lillebronne 1999, S. 77.) Es findet sich auch keine Tropierung, d.h. eine Gliederung des Modus, die einer Systematik folgt. So stringent das Werk beginnt, so extemporiert mutet der weitere musikalische Verlauf an. Vgl. auch Paul Griffiths, Art. „Messiaen, Olivier“, in: Grove2, Bd. 16, S. 491-504, hier S. 498. Ulrich Mosch beschreibt Messiaens weiteres Komponieren mit dem Modus als „frei“. (Ders., „Boulez und Cage: Musik in der Sackgasse?“, in: Europäische Musikgeschichte, hg. v. Sabine Ehrmann-Herfort, Ludwig Finscher u. Giselher Schubert, Kassel, Stuttgart, Weimar 2002, Bd. 2, S. 1253-1316, hier S. 1273.) Engelmann, Darmstädter Schule, S. 52. In etwa zur gleichen Zeit wie Goeyvaerts und ebenfalls durch Messiaens Modusdarstellung beeinflusst arbeiteten Boulez an seinen Structures Ia und Stockhausen an seinen ersten seriellen Versuchen. Erinnert sei hier an zwei weitere Passagen aus seinem Aufsatz: „Auch im Umkreis der Neuen Musik wird das Aussprechen von Erkenntnissen sabotiert mit dem Hinweis darauf, sie kämen irgendwelchen Gegnern zugute. Insgeheim ähnelt dies Argument der in totalitären Staatswesen ausgeübten Denkkontrolle.“ Theodor W. Adorno, „Das Altern der Neuen Musik“, in: AdornoGS, Bd. 14, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan Buck-Morss u. Klaus Schulz, S. 143167, hier S. 160. — „Die brutalen Maßnahmen der totalitären Staaten beider Spielarten, welche die Musik gängeln und die Abweichung als dekadent und subversiv bedrohen, bezeugen nur sinnfällig, was minder offen auch in den nichttotalitären Ländern, ja im Innern der Kunst wie der meisten Menschen selber sich zuträgt.“ (Adorno, ebd., S. 165.) Dieser Text entstand aus einem gleichnamigen Skript, das Adorno im April 1954 aus Anlass einer „Festwoche für Neue Musik“ im Süddeutschen Rundfunk vortrug. Im Mai 1955 erschien der Vortrag, wesentlich ergänzt, in der Kulturzeitschrift Der Monat, und im Sommer 1956 nahm ihn Adorno in den Aufsatzband Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt auf. Vgl. Wulf Konold, „Adorno – Metzger. Rückblick auf eine Kontroverse“, in: Nicht versöhnt. Musikästhetik nach Adorno, hg. v. Hans-Klaus Jungheinrich, Kassel u. a. 1987, S. 91110, hier S. 91-92.

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Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

Heute vollends hätten Künstler wie Berg oder Webern kaum mehr die Möglichkeit des Überwinterns. Gäbe es ihresgleichen, so müßten sie entweder mitmachen und auf irgendeine Weise dem Prinzip sich gleichschalten oder wenigstens sich an die Spitze wahnhaft anziehender Bünde und Sekten stellen, und im Protest gegen die Kollektivierung Beute einer zweiten, kaum minder fragwürdigen werden.327

In diesem öffentlich ausgetragenen Disput erweist sich Adorno als Stellvertreter einer Generation, welche die Schrecken des Totalitarismus unmittelbar erlebt hatte, und der der grenzenlose Enthusiasmus der neuen Komponistengeneration eines Stockhausen und Goeyvaerts nur als kalter Zynismus einer neuen jeunesse dorée anmuten musste. Betrachtet man Kagels provokante und bewusst auf Joseph Goebbels Bezug nehmende Frage „Wollt Ihr das totale Theater?“ zu Anfang seines Vortrags „Neuer Raum – Neue Musik. Gedanken um Instrumentalen Theater“ 328 bei den Darmstädter Ferienkursen von 1966, so scheint der Konflikt auch innerhalb der nachfolgenden Generation zu gären. Neben Zimmermanns Aufsatz „Oper als totales Theater“ 329 greift Kagel auch Stockhausens Vorstellung einer ‚objektivierten‘ beziehungsweise ‚totalen‘ Kompositionshaltung, wie sie sich in der szenischen Komposition von Originale äußert, an.330 Kagels nachträgliche Sicht auf die modernen Werke der Darmstädter Schule ist dementsprechend von einer grundlegenden Skepsis geprägt: Die Musik der 60er Jahre durch Klonierung der Werke weiter zu reproduzieren wäre töricht, weil dies auf dem Glauben beruhte, es gäbe irgendeine Wahrheit, die man über den Höhepunkt ihrer ästhetischen Wirkung hinaus verewigen soll. Zum Beispiel: Die Diskussion über den Einfluß der Zweiten Wiener Schule sowie über ihre mittelbaren und unmittelbaren Nachfolger wird müßig, sobald man Zwölftonmethodik und Serialität mit einem Wahrheitsanspruch koppelt. Dies hat bereits in der Vergangenheit zu einer fast faschistoiden Ästhetik geführt, weil die Utopie, über alle Parameter die totale Kontrolle zu behalten, bis auf einige gültige Werke, eher den Absolutismus über die Zuhörer brachte.331 327 328

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Adorno, Das Altern der Neuen Musik, S. 166. Der Vortrag ist in aktualisierter und autorisierter Fassung vollständig veröffentlicht in: Im Zenit der Moderne. Die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt 1946-1966, hg. v. Hermann Danuser und Gianmario Borio, Freiburg im Breisgau 1997 (= Rombach Wissenschaften. Reihe Musica, hg. von Peter Andraschke, Bd. 2), Bd. 3, S. 245-254. In: Darmstädter Echo (20.8.1966). Über die Entstehung von Kagels Text „Neuer Raum – Neue Musik. Gedanken zum Instrumentalen Theater“ vgl. Pascal Decroupet u. Inge Kovács, „Erweiterungen des Materials“, in: Danuser u. Borio, Im Zenit der Moderne, Bd. 2, Kap. IX, S. 277-332, hier S. 317. Inge Kovács thematisiert die Auseinandersetzung in ihrem Aufsatz „Der Darmstädter Kongreß ‚Neue Musik – Neue Szene‘ 1966“, in: Musiktheater im Spannungsfeld zwischen Tradition und Experiment (1960 bis 1980), hg. v. Christoph-Hellmut Mahling und Kristina Pfarr, Tutzing 2002, S. 25-34. Stockhausen und Kagel haben ihre Freundschaft bereits 1961 ‚beendet‘. Vgl. Custodis, Die soziale Isolation der neuen Musik, S. 139. Bemerkenswert ist hierbei, dass Kagel den Goebbels-Vergleich 1969 in seinem Nachruf auf Alfred Feussner wiederholt, zu einem Zeitpunkt, wo dieser Begriff endgül tig mit Stockhausens Werk konnotiert ist: „Feussner verstand als einer der ersten, daß ich kein totales Theater (nicht nur wegen jenes Adjektivs, das mich an lauter kleine Theater-Goebbels erinnert), sondern vielmehr ein antitotales totales Theater. So nahm er die spezifische Mixed-media-Technik von ‚Sur Scène‘ [...] als eine Selbstverständlichkeit hin.“ (Mauricio Kagel, „Ein widerspenstiger Abschied“, in: Tamtam. Monologe und Dialoge zur Musik, hg. v. Felix Schmidt, München u. Zürich 1975, S. 71-76, hier S. 72.) Klüppelholz, Ein Lufthauch der Musikgeschichte, S. 4 (ebenfalls: Kagel/Klüppelholz, Komponieren in der

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Der Hauptunterschied zwischen der Wiener Schule und der Nachkriegsmoderne in Darmstadt ist womöglich ein grundlegend musiksprachlicher. Besonders das serielle Arbeiten mit Tondauern rührte an der bisherigen Zeitvorstellung und brachte eine komplett andere Musiksprache hervor, die interessanterweise auch das Sprechen über Musik beeinflusste: So spricht man im Darmstädter Kreis nun von „Struktur“, späterhin Stockhausen auch von der Einheit der Zeit und der Integration aller musikalischen Parameter, die sich beispielsweise als „Momentform“ äußern könne. 332 Auf die kompositorische Praxis bezogen bedeutet dies, dass das serielle Komponieren nicht unbedingt auf eine klassische Entwicklungsform hinauslaufen muss, das Paradigma „Per aspera ad astra“, das die Klassik und Romantik im Positiven wie im Negativen noch beherrscht hatte, wurde mit einem Male ausgeschaltet. Das Besondere an der Serialität in kompositorischer Hinsicht, beispielsweise an Goeyvaerts’ Sonate, ist nun, dass die Serie nicht nur das Kompositionsmaterial in all seinen Parametern determiniert, sondern auch vom Kleinen ins Große die „Struktur“ und die Form eines Werkes bestimmt. Systematisch ließe sich diese Arbeitsweise als Bottom-Up-Verfahren 333 bezeichnen, als ein Verfahren, dessen Ordnungen von der Mikroebene auf die Makroebene wirken. Insofern dehnt sich beim seriellen Komponieren, um es mit Herbert Eimert zu sagen, „die rationale Kontrolle auf alle musikalischen Elemente aus“.334 Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass dieses Verfahren, bei dem man die Serie anhand von globalen Setzungen ein fach ‚arbeiten lässt‘, durchaus Gefahr läuft, Werke zu produzieren, die sich immer ähnlicher werden. Ein in dieser Hinsicht ‚entlastendes‘ Moment – wenn es auch nicht alle durch die seriellen Techniken selbst aufgebürdeten, kompositorischen Probleme löste – brachte das allmähliche Einbinden der Aleatorik in die Kompositionen ein, die es ermöglichte, die Determination des kompositorischen Materials in verschiedener Art aufzulösen. Insofern kann John Cages Besuch bei den Darmstädter Ferienkursen im Jahr 1958 als der dritte entscheidende Impuls nach der Dodekaphonie und der Serialität gelten. 335

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Postmoderne, S. 100). Auch bei Kagel findet sich der Strukturbegriff. Bspw. bezeichnet er die Skizzen für die Genese von Tempovorzeichnungen als „Tempostruktur“. Zur Zeitvorstellung Stockhausens vgl. auch Stockhausen, Die Einheit der musikalischen Zeit, S. 211-221, die Momentform erläutert er unter anderem in seinem Aufsatz Weltmusik, S. 468-476. Diese Bezeichnung hat meines Wissens zwar keinen Niederschlag in der Literatur gefunden, wird aber von zeitgenössischen Komponisten, die sich mit computergenerierten musikalischen Abläufen beschäftigen, wie beispielsweise Robin Minard, verwendet. Herbert Eimert „Vorwort“, in: Elektronische Musik, Wien 1955 (= Die Reihe. Informationen für serielle Musik, hg. v. Herbert Eimert unter Mitarbeit von Karlheinz Stockhausen, H. 1), S. 7. Die deutsche Cage-Rezeption hat allerdings schon früher begonnen. Bereits sehr früh waren die Werke Cages als Tonbandaufnahmen im Umlauf, zur Diskussion gestellt wurde Cages Werk indirekt durch Stockhausens Klavierstücke sowie durch Boulez’ für die Darmstädter Ferienkurse verfasste Polemik „Alea“. Öffentlich diskutiert wurde die Frage der Aleatorik aber wohl erst mit Cages Erscheinen auf den Darmstädter Ferienkursen. Vgl. Pierre Boulez, „Alea“, zuerst in: La Nouvelle Revue francaise 69 (1957), kurz danach übers. von Heinz-Klaus Metzger, in: Darmstädter Beiträge zur neuen Musik (1958), S. 44-56. Ebenso in Auszügen frz. und dt. synoptisch abgedruckt in: Mosch, Boulez und Cage: Musik in der Sackgasse?, S. 1301. Dies war jedoch Cages zweites Gastspiel in Europa, sein erstes hatte er vier Jahre vorher in Donaueschingen. Dies blieb allerdings folgenlos, und sogar

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Insgesamt wird bei der Aleatorik durch die Indetermination ein offensichtlicher ‚Handlungsrahmen‘ gesteckt: Zum einen kann sie in der Entscheidungsfreiheit des Interpreten münden, bestimmte Passagen so oder anders zu spielen. Zum anderen, und dies hängt mit ersterem eng zusammen, kann sich der Zufall in der Offenheit der Form ausprägen.336 Diesen beiden Momenten der Indetermination, deren Ausformung dem Interpreten überlassen ist, gesellt sich ein weiteres Moment hinzu, das als Indetermination auf poetischer Ebene bezeichnet werden kann, als ein ‚Handlungsrahmen des Komponierens‘: Der Komponist setzt den Rahmen von kompositorischen Zufallsoperationen, indem er beispielsweise tatsächlich würfelt, Münzen wirft oder wie John Cage das chinesische Orakel I-Ging praktiziert. (Diese Art der Indetermination muss aber nicht zwangsläufig mit den beiden ersten Momenten einhergehen, ein aleatorisch komponiertes Werk kann in seinen Spielanweisungen für den Ausführenden streng determiniert erscheinen.) Eine Vermischung beider Ebenen, der kompositorischen wie der interpretatorischen, ist bei Kompositionen nachvollziehbar, die mit dialogischen Verfahren operieren, so zum Beispiel Iannis Xenakis’ Strategie, für das er Gesetzmäßigkeiten der Spieltheorie nutzt, um einen ‚Musikwettkampf‘ zwischen zwei Orchestern zu inszenieren. 337

336 337

Wolfgang Steinecke, der ihn als Festivalleiter nach Darmstadt holte, registrierte nach Josef Häuslers Aussage das Konzert ungerührt als „kindliche Sensationsmacherei“. (Josef Häusler, Spiegel der neuen Musik: Donaueschingen. Chronik, Tendenzen, Werkbesprechungen, mit Essays von Joachim-Ernst Berendt u. Hermann Naber, Kassel, Stuttgart u. Weimar 1996, S. 157-158, sowie S. 160-161.) Dies hinderte Steinecke jedoch nicht daran, Cage am 9. August 1954 brieflich mitzuteilen, dass seine Werke bei den Ferienkursen per Schallplatte rezipiert werden. (Pascal Decroupet, „Aleatorik und Indetermination – Die Ferienkurse als Forum der europäischen Cage-Rezeption“, in: Danuser u. Borio, Im Zenit der Moderne, Bd. 2, Kap. VII, S. 189-275, hier S. 202.) Nach Klaus Ebbecke (Art. „Aleatorik“, MGG2, Sachteil, Bd. 1, Sp. 435-445, hier Sp. 442) hat Cage das I-Ging (bzw. Yi Jing) zum ersten Mal 1951 angewendet, bei dem Concerto for Prepared Piano and Chamber Orchestra. Beispielhaft für Kagel sind die beiden aus fünf Teilen bestehenden Werke Anagrama (1960) und Exotica (1972), deren Anordnung den Ausführenden überlassen ist. Die Leiter der Orchester müssen jeweils entscheiden, welche Antwort sie auf den Einwurf des ‚geg nerischen‘ Orchesters geben. Durch ein Punktesystem wird ermittelt, welche Antwort ‚besser‘ oder ‚schlechter‘ ist, und am Ende des Konzerts lässt sich sogar ein Gewinner ausloben. ( Strategie wurde 1962 komponiert und 1963 in Venedig uraufgeführt. Die Partitur setzt sich aus den Spielregeln, der Spielmatrix, und sechs komponierten Teilen zusammen, aus denen im Spiel 19 Strategien pro Orchester gebildet werden. Wie auch bei Duel für Orchester (entstanden 1958/59, UA 1971 in Hilversum) wird die Form bei Strategie durch die Variabilität des momentanen Spielgeschehens bestimmt. Das 1972 entstandene und im selben Jahr in London aufgeführte Linaia-Aigon für Horn in F, Posaune und Tuba ist hingegen nur noch in einzelnen Formteilen indeterminiert. Der Bezug zum Wettkampf ist hier eher im Titel und in der Musikdramaturgie zu finden, im Heraufbeschwö ren des mythischen Sängerwettstreites zwischen Linos und Apollon. Vgl. auch Christoph Schmidt, Komposition und Spiel. Zu Iannis Xenakis, Köln 1995 (= Berliner Musik Studien. Schriftenreihe zur Musikwissenschaft an den Berliner Hochschulen und Universitäten, hg. v. Rainer Cadenbach u. a., Bd. 4), S. 63, 65 u. 145.) Kagels ironische Antwort auf diese neuartige Interpretation des ‚concertare‘-Prinzips ist das instrumentaltheatralisch angelegte Stück Match, bei dem zwei Violoncelli gegeneinander in einen gestisch-musikalischen Schlagabtausch treten und das Schlagzeug als Schiedsrichter fungiert. Allerdings ist die Aufführung der Komposition bis hin zur Mimik und den Kopfbewe gungen der Instrumentalisten komplett vorgeschrieben.

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Der aleatorisch operierende Komponist zieht sich auf die Rolle zurück, lediglich das Umfeld der musikalischen Ausformung zu umreißen, und die Klangereignisse nicht im Einzelnen zu determinieren. Damit lässt sich die Aleatorik systematisch und im Gegensatz zur Serialität als Top-Down-Verfahren bezeichnen: Die globalen Setzungen haben in mittelbarer und meistenteils auch in indeterminierter Weise Einfluss auf die musikalischen Details. Nimmt man diese Gegensätze in der Herangehensweise an, so ergeben sich daraus Fragen poetologischer Art. Während Cage teilweise die Entscheidungsfreiheit komplett an den Interpreten abgibt, haben andere Komponisten die Aleatorik für die Konzeption geschlossener, determinierter Kompositionen verwendet, zum Beispiel Pierre Boulez, der die von John Cage propagierte offene Form als einen „Zufall aus Schwäche“ bezeichnete.338 Nach Klaus Ebbecke kompensiert Boulez „die ihm erscheinenden Widersprüche zwischen frei gesetzten Rahmenbedingungen und den aus ihnen bislang ohne Kontrolle des Komponisten hervorgehenden Ebenen der musikalischen Komposition“, um den Zufall zu „absorbieren“: Der Komponist muss „dann auf jeder folgenden Stufe der Komposition, beginnend bei der Materialdisposition bis hin zur Großstruktur, wiederum Entscheidungen treffen, um so der ‚schwachen Zufälligkeit‘ eines seriellen Automatismus zu entgehen.“339 Interessanterweise bestehen in der kompositorischen Ausprägung dieser beiden Ansätze, der totalen Determination und des totalen Zufalls, gemeinsame Wesenszüge. Dieses Paradoxon äußert sich in Nattiez’ Beobachtung der gegenseitigen Beeinflussung Cages und Boulez’: Here we reach the most controversial and delicate point in this encounter. When Henry Cowell asked Cage what he owed to Boulez, he replied with the apparently surprising words, ‚Boulez influenced me with his concept of mobility.‘ Thus in a sense Boulez owed total serialism to Cage, and Cage the concept of chance to Boulez?! […] As Boulez often recognized later, the automatism of total serialism is certain to engender an anarchy, which was described by Boulez as ‚statistical‘, and might more technically be described as ‚entropic‘, one which connects with chance procedures ‚by the back door‘. However, it is uncertain whether this consequence would have influenced Cage in his development.340

Die Gemeinsamkeit beider Komponisten läge in dem Ziel, eine objektive Kunst zu schaffen, in der der Komponist nur noch als Initiator des Kompositionsprozesses erscheint. Und die bei total determinierten sowie bei total indeterminierten Werken oft zu konstatierende Wesensähnlichkeit ihres Ungeordnet-Seins, mithin ihrer Tendenz zum Sprachverlust, erhält sein Pendant in einer Poetik der Objektivität. Dies merkt bereits Adorno an: „Die totale Determination berührt insofern sich mit dem Zufall als die durchkonstruierte Musik dem Subjekt als ein so Fremdes und Inkommensurables gegenübertritt wie Zufallsereignisse.“341 338 339 340

341

Pierre Boulez, Alea, S. 48. Ebbecke, Aleatorik, Sp. 439. Jean-Jacques Nattiez, „A Chapter of Music History“, in: Pierre Boulez. John Cage. Correspondance et Documents, hg. v. Jean-Jacques Nattiez, neue u. überarb. Ausgabe v. Robert Piencikowski, Mainz u. a. 2002 (= Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 1), S. 280-306, S. 296. Theodor W. Adorno, „Zum Stand des Komponierens in Deutschland“ (1960), AdornoGS, Bd. 18, hg. v. Rolf Tiedemann und Klaus Schulz, S. 134-139, hier S. 138. Auch Ligeti sieht bereits 1958

156

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

Die Paradoxie von Determination und Indetermination, deren grundsätzlicher dramatischer Konflikt sich nicht nur auf ästhetischer Ebene, sondern im Kompositionsprozess äußert, lässt sich auch in Kagels Werk, und in besonders ausgeprägter Weise in seiner Technik der Seriellen Tonalität, beobachten. So erkennt Reich, dass bei Kagel und im Unterschied zur „sozusagen orthodoxen seriellen Technik der 50er Jahre [...] die gegen seitige Kontrolle und Korrektur von Subjekt und Objekt von vornherein ein Bestandteil des Kompositionsprogramms“ sei.342 Eine naheliegende Möglichkeit, Kagel in die oben beschriebene Debatte kompositionshistorisch einzubinden, besteht darin – wie von einigen Autoren versucht –, ihn als post modernen Künstler zu verstehen. Die Postmodernität Kagels könnte sich dabei nicht nur in seinen Werken, sondern auch in seiner offenen Kritik an der Ästhetik und der Poetik der Moderne der Darmstädter Schule äußern. Von Kagels Seite aus ist für eine solche Argumentation nicht viel Hilfe zu erwarten: Er wehrt sich gegen eine Einordnung als postmoderner Komponist und benutzt den Begriff der Postmoderne überwiegend pejorativ, zum Beispiel wenn er sich von „post moderner Beliebigkeit“ distanziert. 343 Versucht man allerdings den Begriff der Postmoderne als Beschreibungskriterium zu verwenden, so ist er überaus sinnvoll. Bereits Anagrama von 1957-58344 stellt den Typus einer Komposition dar, die ihre eigene Negation im konzeptionellen Kern in sich trägt und sich selbst und ihre eigenen vorgeschobenen

342 343 344

diese Gefahr der Ununterscheidbarkeit: „Je integraler die Vorformung serieller Beziehungen, um so größer die Entropie der resultierenden Struktur; denn konform der erwähnten Unbestimmtheitsrelation, fällt das Ergebnis der Verflechtung separat angelegter Beziehungsketten mit dem Maß ihrer Prädetermination der Automatik zum Opfer. [...] Je dichter das Netz der mit vorgeordnetem Material ausgeführten Operationen, um so höher der Nivellierungsgrad des Ergebnisses. Die totale Durchführung des seriellen Prinzips hebt das Serielle schließlich selbst auf. Grundsätzlich gibt es keinen Unterschied zwischen automatischen Ergebnissen und Zufallsprodukten: das total Determinierte wird dem total Indeterminierten gleich. Hierin ist der erwähnte Parallelismus zwischen inte gral-serieller Musik und jener vom Zufall regierten von Cage zu suchen.“ (György Ligeti, „Wandlungen der musikalischen Form“ (Nov.-Dez. 1958), in: Form und Raum, Wien 1960 (= Die Reihe, hg. v. Herbert Eimert unter der Mitarbeit von Karlheinz Stockhausen, Heft 7), S. 5-17, hier S. 9-10.) Reich, Sankt-Bach-Passion, S. 11. Kagel u. Klüppelholz, ..../1991, S. 25. Nach Schnebel, Musik. Theater. Film, S. 15, fällt die Vorbereitung des Textes und die erste Redaktion in Kagels Zeit in Buenos Aires (Zeitraum von 1955 bis 56); die eigentliche Komposition erfolgte laut seinen Angaben vom Februar 1957 bis in den November 1958. Die Uraufführung war beim IGNM-Festival in Köln in der Reihe Musik der Zeit des WDR am 11. Juni 1960 unter Kagels Leitung. Vgl. auch Darmstadt-Gespräche. Die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Wien, hg. v. Markus Grassl u. Reinhard Kapp, Wien, Köln u. Weimar 1996 (= Wiener Veröffentlichungen zur Musikgeschichte, hg. v. denselben, Bd. 1), S. 322, dort auch die Angabe, dass Kagel am 9. Juli 1960 in der Marienhöhe seinen Vortrag „Die Behandlung von Wort und Stimme“ gehalten hat. Grassl vermerkt hierzu „(m.[it] Vorführung v.[on] Kagel Anagrama)“, womit vermutlich die Wiedergabe eines Tonbandmitschnittes der Proben oder der UA gemeint ist. Der Vortrag ist bei Danuser u. Borio, Im Zenit der Moderne, Bd. 3, S. 354-367 unter dem Titel: „Behandlung von Wort und Stimme. Über ANAGRAMA für vier Sänger, Sprechchor und Kammerensemble, 1957-58 (1960)“ (Vortrag vom 9.7.1960, für den Abdruck von M.K. überarbeitet) abgedruckt. Die Partitur wurde 1965 von der Universal Edition mit der PN 13106 L.W. herausgegeben.

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ästhetischen (in diesem Falle modernistischen) Ordnungsansprüche zersetzt. Paul Attinello hat darauf hingewiesen, er setzt Kagels postmoderne Phase außerordentlich früh an. Er geht davon aus, dass Kagel sich schon in seinen frühen argentinischen Kompositionen bewusst mit der Ästhetik der Moderne auseinandergesetzt hat, wobei sich diese Auseinandersetzung im Werk, und besonders im Streichsextett, in Form von „indeterminate and transitional elements“345 ausprägt, also Elementen, die sich späterhin der Postmoderne zuschreiben lassen: It seems that Kagel was postmodernist almost from the start. The earliest works, such as the Sexteto per cuerdas, Anagrama, and Transición II, are still embedded in a modernist style and a modernist aesthetic, but one that is already being irreparably damaged. Then, by the time of its completion in 1960 – astonishingly early compared to most European trends (and even fairly early compared to Cage’s work and that of Fluxus) – the work Sur scène is already utterly postmodern, consisting only of fragments of the modern in a context that shows their emptiness. Kagel spent much of the ensuing decade mining the same conceptual vein – probably because, since so much Western culture was still mouthing, if not practicing, the ethics of modernism, it must have seemed that the rebellions went unheard.346

Bemerkenswerterweise setzt Kagel den Beginn seiner Überlegungen zu einer seriell-tonalen Kompositionsweise, nämlich über die Etablierung von Prinzipien, die „‚über‘logisch die biegsame Methodik des Komponierens kontrollieren“, bei Anagrama an.347 Insofern wäre Attinellos These zuzustimmen. Dennoch ist meines Erachtens ein Unterschied zu machen zwischen den argentinischen Werken, die noch außerhalb des direkten Einflussbereiches der europäischen Moderne und deren teleologischem Impetus ent standen sind, und denen, die sich mit Kagels Ankunft 1957 in Köln nun im europäischen Kontext diesem Darmstädter Diskurs tatsächlich auch stellen müssen. An Anagrama soll im Weiteren der Übergang aus dem argentinischen in den europäischen Kontext, oder der Übergang vom kagelschen ‚Frühwerk‘ zum ‚Meisterwerk‘, dargestellt werden. Zwar gehen die Entwürfe von Anagrama auf 1955/56 zurück, Kagels Präsentation dieses Werkes während der Darmstädter Ferienkurse im Jahre 1960 stellt es aber zweifelsfrei in den damaligen Moderne-Diskurs Westeuropas.

345

346 347

Paul Attinello, „Imploding the System: Kagel and the Deconstruction of Modernism”, in: Postmodern Music/Postmodern Thought, hg. Joseph Auner and Judy Lochhead, New York u. London 2002 (= Studies in Contemporary Music and Culture, Bd. 4), S. 263-285, hier S. 263. Ebd., S. 282. Kagel/Klüppelholz, ..../1991, S. 26-27.

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2

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

Anagrama: Kompositorischer Anspruch und musikalische Wirklichkeit

Das Werk Anagrama (UA: 11. Juni 1960) 348 setzt in mehrfacher Hinsicht Paradigmen. Kagel war als Neuankömmling in der deutschen Neue-Musik-Szene und als Pierre Boulez’ Protegé dazu gezwungen, auf sich aufmerksam zu machen, und nutzte die Marktmechanismen der Darmstädter Schule auf mehrfache Weise: Zum einen stattete er das Werk mit einem dezidiert avantgardistischen kompositorischen Anspruch aus, der allen Kriterien der Darmstädter Schule standhält, zum anderen gelang es ihm tatsächlich, von seiner Außenseiterposition aus eine fundamentale Kritik an der Musiksprachlichkeit und den kompositorischen Ansprüchen dieser Schule zu üben. Ein wesentlicher Kritikpunkt Kagels ist das Problem der kompositorischen Determination und der daraus resultierenden Musiksprachlichkeit, wie sie auch von Adorno kri tisiert wird. Um besonders diese Frage in werkgenetischer Hinsicht darzustellen, sei ein näherer Blick auf die in der Paul Sacher Stiftung befindlichen Quellen zu Anagrama geworfen. Die dem Stück inhärente und in der Sekundärliteratur immer wieder hervorgehobene kompositorische Komplexität zeichnet sich auch in den Skizzen ab. 349 Kagels Aussage, dass das Palindrom „In girum imus nocte et consumimur igni“ („Wir kreisen durch die Nacht und werden vom Feuer verzehrt“) dem Werk in kompositorischer Hinsicht zugrunde liegt, bestätigt sich in eindrucksvoller Weise. Diese Materialgrundlage scheint nicht nur in den Lauttext des Chores einzufließen, sondern in kompositorischer Hinsicht alle Parameter zu berühren und zu beeinflussen, und zwar von der Dynamik, Rhythmik, den Tempi und der Agogik bis hin zur Form der einzelnen Sätze und zur Anlage der Großform.350 Allein die Tonhöhenorganisation hat Kagel in unzähligen Reihentabellen festgehalten, und angesichts deren großer Zahl erscheint es wohl auch für die zukünftige For schung nahezu aussichtslos, daraus differenzierte analytische Erkenntnisse zu erlangen. Die musikalische Komplexität hat eine solche Steigerung erfahren, dass sie – wie bei dem Verhältnis Boulez’ und Cages angemerkt – zum Chaos, zur Kontingenz, tendiert. 348

349

350

Im Rahmen des IGNM-Festivals in Köln in der Reihe Musik der Zeit des WDR unter Kagels Leitung, dort in der endgültigen Fassung für vier Gesangsoli (SATB), Sprechchor (SATB) und Kammerensemble (Fl. (+Picc.), Klar., Bass-Klar., 3 Schlagzeuger, Celesta, 2 Harfen, 2 Klaviere). Das von der Stiftung geordnete Konvolut ist mit 18 Mappen, neben demjenigen der Filmproduk tion Ludwig van, eines der umfangreichsten. Der überwiegende Teil der Fragmente, Skizzen und Vorstudien ist nicht betitelt und datiert, so dass nicht alle Quellen identifiziert werden konnten. Im Weiteren werden nur jene Dokumente herangezogen, die ich auch eindeutig identifizieren konnte (siehe Anmerkungen zu Anagrama im Verzeichnis der Quellen). Dass das Palindrom sich auf mehrere Parameter auswirkt, schreibt auch bereits Klüppelholz in sei ner Dissertationsschrift Sprache als Musik. Studien zur Vokalkomposition seit 1956, Herrenberg 1976, S. 85-122, obgleich er vermutlich keine vollständige Quelleneinsicht gehabt hat. Hierbei sei angemerkt, dass das Palindrom nicht in der Weise auf die Tonhöhengeneration gewirkt zu haben scheint, wie Kagel es in seinem in Darmstadt vorgetragenen Aufsatz dargestellt und Klüppelholz es in seiner Dissertation ausgeführt hat. Lediglich die Eigenschaft des Palindroms als symmetrisches Gebilde hat Eingang in die dem Stück zugrundeliegende Reihe gefunden (siehe hierzu Kassel, Das Fundament, S. 12) – was aber nicht ausschließt, dass es auch Verfahren der Tonhöhengeneration gegeben hat, die auf Kagels beschriebener Vorgehensweise basieren.

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

159

Neben dieser, sich in den Skizzen niederschlagenden, dezidierten formalen und kompositorischen Integralität, die durch das Palindrom und die daraus abgeleiteten Zahlen garantiert werden soll, finden sich aber auch Verfahren, die in den späteren Kompositio nen begegnen, unter anderem Additionen von kleinen Zahlenverhältnissen, beispielsweise bei den Rhythmen und Perioden. Ebenfalls enthält das Konvolut Zahlentabellen, die auf dem Proportionsdenken von Le Corbusiers Modulor-System basieren und die unter anderem die Rhythmik und die Tonhöhen bestimmen, leider ohne nachvollzieh bare Verweise.

2.1

Montage/Collage als Synthetisierung von seriellen Parametern

Wie auch in späteren Werken Kagels sind für Anagrama Montage- und Collage-Techniken dokumentiert: So finden sich in Mappe 1/17 Schablonen zur Tongeneration und auseinander geschnittene Noten-Fragmente, die offensichtlich vormals ein durchlaufender Notentext gewesen sind (siehe auch Abb. 36). Eine Montage-Technik, die an kleiner dimensionierte Verfahren erinnert, wie sie bei Les Idées fixes (Skizzenblatt „10“ und „11“, siehe Abb. 57 und 58) anzutreffen sind, ist die der Entkoppelung der beiden Strukturen der Tondauern und der Tonhöhen. So finden sich im Konvolut großformatige rhythmi sche Skizzen beziehungsweise von Kagel so bezeichnete ‚Tempostrukturen‘ und diverse, ebenfalls von ihm so bezeichnete ‚Tonhöhenpartituren‘, die vermutlich in einem späteren Prozess aufeinander gefügt wurden. Insofern bestätigt die in vielen Fällen leider nur aus Indizien herleitbare Vielfalt an Kompositionstechniken die analytische Interpretation Paul Attinellos, dass bei Anagrama ein Missverhältnis zwischen dem scheinbaren Fehlen einer übergreifenden, sich musikalisch gebenden Form und dem scheinbaren Übermaß an inhärenter architektonischer Struktur herrscht: Larger formal structures can basically be dismissed in this piece (as is often true in Kagel’s work before 1985). The constant degradation of systems results in products that appear to have no overriding organization of any kind.351

Allerdings merkt er auch an, dass dieses Fehlen eines übergreifenden Systems eine ‚textuelle Konsistenz‘ nicht zwangsläufig verhindern muss. Als Beispiel, wie die von Attinello angenommene Konsistenz als großformatige Architektonik und als kleinformatige Textur geschaffen wird und wie sie sich äußert, sollen die so genannten Tempostrukturen und deren Ausdifferenzierungen beobachtet werden. Hierbei ist zu vermuten, dass der Eindruck einer fehlenden Musiksprache vielleicht substantiell in dieser technischen Bedingung seinen Ursprung hat: Die Verfahrensweise, Tonhöhen und zeitliche Abläufe unabhängig voneinander zu generieren und später zusammenzufügen, ist wohl sehr dazu geeignet, etwas ähnliches wie ‚punktuelle Musik‘ zu erzeugen.

351

Attinello, Imploding the System, S. 267.

160

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

Für die Generierung der Tempi und deren Relationen untereinander nutzte Kagel das Palindrom „In girum imus nocte et consumimur igni“. Er hat die Herleitung auf zwei Blättern skizziert. Auf dem ersten dieser Blätter sind in der linken Hälfte den jeweiligen Buchstaben des Palindroms die verschiedenen agogischen Veränderungen der Tempi zugewiesen, wie rallentando oder accelerando. In einem weiteren Schritt sind auf der rechten Seite diesen hier noch beispielhaft skizzierten Tempoverhältnissen genaue Metronomangaben zugeordnet worden:

Abb. 23: Kagel, Anagrama, Skizzenblatt „(2“ der Tempostruktur des 5. Satzes, in: Mappe 2/17, Konv. „Skizzen [14 S.+3 S. Makulatur mit hss. Eintrag] von Teil 5“.

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

161

Auf dem nachfolgenden Blatt skizzierte Kagel die hypothetische Tempodisposition eines Satzes:

Abb. 24: Kagel, Anagrama, Skizzenblatt „(3“ der Tempostruktur des 5. Satzes, in: Mappe 2/17, Konv. „Skizzen [14 S.+3 S. Makulatur mit hss. Eintrag] von Teil 5“.

Obwohl obige Tempostruktur in der endgültigen Fassung von Anagrama nicht nachweisbar ist, kann man davon ausgehen, dass die komplette Tempo- und Formdisposition des Werkes durch solche Verfahren determiniert ist. So enthält Mappe 4/17 Schablonen der ‚Tempostrukturen‘, die die Angaben zu den Takten, die Tondauern und Pausendauern für nahezu alle Sätze und Satzabschnitte festhalten. Beispielhaft für den weiteren Schritt hin zur Mikrostruktur ist Kagels Skizzierung des vierten Satzes. Folgende Abbildung gibt die Tempostruktur des kompletten vierten Satzes wieder. (Diese Skizze ist für die weitere Ausarbeitung auch tatsächlich verwendet worden. Im Vergleich mit der endgültigen Partitur ergeben sich nur einige marginale Abweichungen, beispielsweise in der Aufteilung und Zusammenfassung von Takten.) Festgehalten sind hier die Vortragsangaben, die Taktarten und deren Reihenfolge, die Tempi, sowie die Anzahl der Töne pro Takt und die Anzahl der Instrumente pro Takt. Am Ende eines jeden Abschnitts A, B, C usw. notiert Kagel die Summe der Töne. Fol gend ist nur der Teil A wiedergegeben:352 352

Ähnliche Skizzen finden sich auch für die anderen Teile, wenngleich jene nicht so weit ausdifferen -

162

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

Abb. 25: Kagel, Anagrama, Ausschnitt der Skizze der Tempostruktur, in: Mappe 4/17, erstes Konvolut (o. A.), 1. Bl.

Der angenommene nächste Schritt im Kompositionsprozess hat sich in einem Skizzenblatt niedergeschlagen, welches im Konvolut obiger Skizze nachgeordnet ist. Dort ist die genaue Ausführung der großformatigen Skizze für die Takte 1-10 zu identifizieren, auch hier noch ohne Tonhöhen, sondern in rhythmischer Notation. Diese Skizze ist auch in die endgültige Partitur eingegangen, und zwar in die ersten zehn Takte des vierten Sat zes. Um das Prinzip anzudeuten, sei nur ein Skizzenausschnitt der ersten Takte wiedergegeben:

Abb. 26: Kagel, Anagrama, Ausschnitt der Skizze der Tondauernstruktur, in: Mappe 4/17, erstes Konvolut (o. A.), 2. Bl.

Die generelle, von dem Palindrom ausgehende kompositorische Grundidee, von der Mikrostruktur (der Reihe) in die Makrostruktur (die Form) fortzuschreiten, ließe sich als eine Bottom-Up-Methode beschreiben, wie sie in ihrer reinsten Ausprägung in der Serialität angestrebt wurde. Den Nukleus bildet hierbei das Palindrom, das zuerst in der Reihenstruktur und dann in allen anderen Parametern ausgeformt wird. Andererseits ist Kagels weiterer Kompositionsprozess – wie sich aus der Genese der Tempostrukturen ersehen lässt – auch von der Top-Down-Methode bestimmt. 353 Die schrittweise Konse-

353

ziert sind wie obige. Bemerkenswert ist an den unvollständigen Skizzen, dass die Summen der Töne pro Abschnitt immer komplett notiert sind. Ebenso sind an den jeweiligen Stellen die Berechnungen der Verhältnisse festgehalten, aus denen sich diese Zahlen ergeben. Es ist also anzunehmen, dass diese Summen den Rahmen gesetzt haben. Die einzelnen Töne pro Takt sind daraus abgeleitet, die großen Zahlen haben also die kleinen in den Takten generiert. Matthias Kassel bezeichnet diese Arbeitsweise als eine „zentralperspektivische“ und macht dies an einem Fund im dritten Satz deutlich, wo Kagel die palindromische Reihenform (b-a-c-h-es-e-cis-d-fis-fgis-g) aus Weberns Streichquartett op. 28 in den Solostimmen verarbeitet. (Siehe Kassel, Das Fundament, S. 19-21 und das Notenbeispiel Kassels auf S. 26, welches die Grundreihe auf c und dis bzw. es transponiert zeigt. Die Zahlen unter dem Notenbeispiel geben nicht die Ordnung an, sondern die

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163

quenz, mit der der Komponist in den dargestellten Skizzen den Weg von der formalen Disposition bis in die Mikrostruktur abschreitet, lässt sich als eine fraktale oder iterative bezeichnen.354 Zuerst wird die Großanlage in fünf Sätzen und dann die Takte sowie die Tempi disponiert (per Verhältnisrechnung à la Modulor oder durch das Palindrom „In girum imus...“). Der nächste Schritt besteht in dem Festsetzen der Anzahl der Töne und der Anzahl der Instrumente im jeweiligen Takt. Daraufhin werden diese Rahmensetzun gen in weiteren rhythmischen Skizzen bis auf die Ebene der Tondauern notiert. Und schließlich werden diese rhythmischen Skizzen mit der parallel angefertigten Tonhöhendisposition verschränkt. Kagel scheint das sich in der Moderne zu dieser Zeit abzeichnende Formproblem insofern gelöst zu haben, als er es – wie viele Vertreter der Moderne um 1960 – auf die Ebene der Poetik verlagert hat. Indem die Form, hier die so genannte Tempostruktur und deren Ausdifferenzierung, komplett durch Umsetzungsverfahren aus dem Palindrom gewonnen wurde, wird sie als solche nicht mehr syntaktisch, sondern kompositorisch berechtigt, was letzten Endes bedeutet, dass die Komposition wie auch der Kompositionsprozess sich als autopoetisches System gerieren. Der Komponist entledigt sich zunächst des Zwangs, sich letztendlich für eine musikalische Syntax oder eine Form zu entscheiden, indem er die Kompositionstechnik walten lässt. 355 In dieser Komposition finden sich somit zwei Akte des Nachvollzugs: Zum einen vollzieht Kagel das Form-Dilemma der Moderne nach, zum anderen thematisiert sich in dieser Komposition das kompositorische Subjekt, indem es sich durch die Selbstgenerierung des Kompositionsprozesses fortwährend infrage stellt. Inwiefern die Musik auch im Detail beziehungsweise in den einzelnen musikalischen Gesten durch diese Determination betroffen ist, ist fraglich, aber man findet eine Vielzahl von Reihenskizzen, welche die Tonhöhen, die Dynamik, die Artikulation, die Oktavlagen und anderes determinieren. In Kombination mit der Tondauernpartitur

354

355

jeweilige Lage des Tons in der transponierten Reihe. Der fünfte Ton dis2 des Soprans ist als 9. Ton des Alt zu lesen.) Daneben befinden sich im Konvolut auch direkt von Webern abstammende Reihen, festgehalten in Zahlenquadraten, welche mit „Serie Webern“ betitelt sind (siehe Verzeichnis der Quellen, S. V-VI). Kassel schließt daraus, dass Kagel die Großform als Palindrom konzipierte, wobei der dritte Satz die Achse der Palindromform bildet. Insofern ließe sich das webernsche ‚Struktur‘-Zitat als ein zentrales des Werkes interpretieren. Diese Interpretation hat einiges für sich, da sie Kagels Vorliebe für das formale Ausrichten des Höhepunkts hin zur Mitte des Stückes auch in seinen frühen atonalen Werken nachweisen würde. In den seriell-tonalen Werken wird eine solche musikdramatisch-formale Ausrichtung auf die Mitte hin immer durch Montagetechniken erreicht (z. B. Osten, Les Idées fixes), so vermutlich auch hier. Fraktale Berechnungen beschreiben nicht nur den Weg von der Einfachheit in die Komplexion, sondern zeichnen sich durch einen iterativen Rechenweg aus, der auf Wiederholung basiert: Das kom plexe Gebilde eines Fraktals wird durch eine unendlich große Zahl von einfachen, identischen Rechenoperationen erzeugt. Eine interessante Interpretation, die mit der eröffneten Fragestellung des Sammelns zu tun hat, unterbreitet Klüppelholz (Sprache als Musik, S. 121): „Sammeln und Summieren ist in ‚Anagrama‘ die Herstellung des Textes, bruchstückhaft ist sein gesamter Zusammenhang, dem das ‚Gesetzliche‘ eines kontinuierlichen Ablaufs vollständig fehlt.“ Wenngleich er dies in Bezug auf die Textebene Anagramas formuliert, ließe sich diese Aussage ohne weiteres auf die generelle Form des Werkes übertragen und korrespondiert mit den Überlegungen zum Sammeln und den weiteren über Les Idées fixes.

164

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

wären die meisten musikalischen Parameter dadurch schon bestimmt. 356 Kagels Ziel, keinen Ton und keine Pause ohne eine kompositorische Berechtigung sein zu lassen, hat in Anagrama einen vorläufigen Höhepunkt erreicht.

2.2

Komplexität und Verunsicherung

Soweit die Werkgenese, was lässt sich von ästhetischer Seite über das Werk sagen? Das genaue Gegenteil: Die kompositorische Ordnung schlägt um in interpretatorische und musikalische Unordnung. Dies lässt sich besonders im Bereich der Tondauern beobachten. Die Differenzierung in kleinste Notenwerte ist hier so weit fortgeschritten, dass die Aufführung nur scheitern kann. So sind unter anderem Skizzen erhalten, die die Dauernverhältnisse von einer 64tel bis zum Wert einer Halben in 64tel-Schritten darstellen. Abb. 27: Kagel, Anagrama, Auflistung der möglichen Tondauern, in: Mappe 1/17, Konv. „Materialtabellen [7 S.]“, Bl. 4, Pappe, recto, linke Spalte.

Hier sind die Tondauern mit Zahlenverhältnissen gekoppelt, wobei die Halbe durch den Zahlenwert 100 repräsentiert wird und die 64tel durch 3,125. Kagel hat ähnliche Tabellen auch für eine ternäre Teilung (mit der punktierten Halben als größten Wert) als auch für eine Fünfer-Teilung (mit einer übergebundenen punktierten Viertel plus Viertel als größtem Wert) erstellt. 356

Wobei angemerkt werden muss, dass z. B. die Tonhöhenorganisation nicht unbedingt auf eine 12Ton-Reihe hinauslaufen muss. Indem Kagel die mehrmals vorhandenen Buchstaben des Palindroms zu „INGRUM SOCTE“ tilgt und diese Buchstaben in Tonhöhen überträgt, ergeben sich kürzere Tonreihen. Ebenfalls finden sich Skizzen, in denen diese durch Tilgung gewonnenen Reihen über lappt werden, so dass sie wiederum überzählige Reihen ergeben. Insofern scheint der analytische Ansatz, das Stück auf Zwölftönigkeit zu untersuchen, durch Kagels kompositorischen Ansatz schon unterminiert. Weitere Skizzen deuten auf Verfahren hin, die mit graphischen Mustern operieren. Nachvollziehbar ist auch dies bereits auf der ersten Partiturseite im Sprechchor. Schließt man die Augen ein wenig, dann lässt sich gleich am Anfang des Satzes ein rechtwinkeliges Dreieck ausmachen.

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

165

Dass die daraus resultierenden Tondauern auch in die Komposition eingegangen sein müssen, ist exemplarisch im ersten Satz in den Takten 32 bis 35 des Sprechchores zu ersehen:

Abb. 28: Kagel, Anagrama, Satz I, T. 32-35, Reprographie eines Ausschnitts des Partiturdrucks, Temposystem und Sprechchor.

Solch eine Systematisierung der Tondauern ist bereits bei Olivier Messiaens Mode de Valeurs et d’Intensités anzutreffen, jedoch mit dem Unterschied, dass sie dort noch in einfachen und nachvollziehbaren Verhältnissen zueinander in Beziehung gesetzt sind. In Anagrama hingegen sind auch sehr lange Tondauern bis hin zu 64tel-Werten ausdifferenziert. Die Notenwerte lassen sich nicht mehr rhythmisch oder metrisch in Bezug setzen, sie sind nur noch annäherungsweise ausführbar – obwohl der Chor in oben dargestelltem Beispiel ausdrücklich zur Genauigkeit aufgefordert wird. Die Exaktheit des Notentextes und die metrische und rhythmische Unbestimmtheit des tatsächlichen Satzes schlägt bei der Interpretation um in eine grundsätzliche Verunsicherung des Interpreten. Da die tatsächliche und notengetreue Wiedergabe der Musik ohnehin nicht möglich ist, ist also der kompositorische Aufwand, der für die tatsächliche Ausformung der rhythmischen Notation bis in kleinste Notenwerte betrieben wird, keiner, der sich in empirisch messbaren Zeitparametern niederschlägt, sondern in der Haltung des Interpreten zur Komposition. Eine auftaktige 64tel bezieht sich in einer Taktgebung, die ohne schwere und leichte Taktteile operiert, nur auf den nachfolgenden Taktstrich und die zu erhoffende Zählzeit. Und sie kann in diesem Zusammenhang nur als Unerwartetes, als Ereig-

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Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

nishaftes oder als Geste interpretiert werden. 357 Insofern löst sich Kagels Setzung der Taktarten in dieser atonal-seriellen Werkphase von der musikalischen Syntax, wie sie noch in der Takt- und Metrumgebundenheit sowohl der Wiener Klassik als auch der Wiener Schule zu finden ist. Kagels Taktsetzung wird nur noch auf der Ebene der musi kalischen Semantik wirksam. Mit dieser ‚Befreiung‘ vom Takt steht Kagel in der damaligen zeitgenössischen Moderne nicht alleine da, und die musikalischen Auswirkungen ließen sich ohne weiteres unter dem Sammelbegriff der punktuellen Musik oder in der so genannten postseriellen Phase unter dem Begriff der informellen Musik zusammenfassen. Was Kagel jedoch von den anderen Komponisten seiner Zeit unterscheidet, ist sein beharrliches Pochen auf die tatsächlich unmögliche Interpretation, ein Aspekt, der meines Erachtens auch entscheidend für seine Instrumentaltheaterstücke ist. So bemerkt er 1966 in Bezug auf sein Konzept des Instrumentaltheaters: „Bei Stücken dagegen, in denen zu den Noten ein Aktionsgerüst hinzugefügt worden ist, wird die Mitwirkung psychologisiert, und man erwartet vom Musiker eine vom Individuellen her geprägte Interpretation.“ 358 Einen ähnlichen Ansatz verfolgt später Brian Ferneyhough, der ebenfalls komplexe Kompositionen schreibt, die den Musiker zwingen, interpretatorische Abstriche zu machen, bis hin zur Entscheidung, einige Töne nicht zu spielen. Bei Kagels Werken stellt sich aber die Frage, ob dem Interpreten diese Freiheit bewusst wird, oder ob Kagel ihn erst in die Situation bringt, mit einem schlechten Gewissen zu spielen. Ferneyhough, in allen seinen Kompositionen, und Stockhausen, in seiner generellen Ästhetik, treiben freilich den Determinismus auf die Spitze – mit dem paradoxen Ergebnis, dass die Determination in Indetermination umschlägt, der interpretatorische Zwang in Freiheit. So beobachtet Metzger bei Stockhausens Klavierstücken ein Umschlagen von kompositorischer Genauigkeit in interpretatorische Ungenauigkeit: Im Gegensatz zu den Kontra-Punkten, sind Stockhausens Klavierstücke I-IV, obwohl sie damals subjektiv nicht so konzipiert waren, objektiv bereits weniger Resultatdefinitionen als vielmehr Aktionsvorschriften. Die rhythmischen Proportionen beispielsweise sind von einer Komplexität, die kein Spieler akkurat verwirklichen könnte; sie waren zwar als exakte Proportionen gedacht, in Wirklichkeit aber definieren sie Unsicherheitsfelder verschiedener Grade, innerhalb deren der Interpret agiert. Die entscheidenden Entdeckungen sind ja nicht immer intentionell und präkonzipiert; meist springen sie ungerufen hervor, wo eine objektiv notwendige Unstimmigkeit des Gebildes selbst fruchtbar wird und durch ihre Aufhebung eine nächsthöhere Stimmigkeit erschließt.359

357

358 359

Die erfahrene Unmittelbarkeit beim Hören könnte nach Dahlhaus auch durch das Fehlen von rhythmischen Motiven verursacht sein. Seien bei Weberns Orchestervariationen op. 30 die Rhythmen zwar seriell organisiert, aber der Rhythmus noch in motivischen Zellen belassen, so habe die neuere serielle Musik generell auch diese Motive aufgelöst. (Carl Dahlhaus, „Probleme des Rhythmus in der Neuen Musik“ (1965), DahlhausGS, Bd. 8, S. 411-424, hier S. 422-424.) Kagel, Neuer Raum – neue Musik, S. 251. Heinz-Klaus Metzger, „Das Altern der jüngsten Musik (1962)“, in: ders., Musik wozu. Literatur zu Noten, hg. v. Rainer Riehn, Frankfurt a. M. 1980, S. 113-128, hier S. 122.

167

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Vielleicht noch deutlicher als die rhythmischen Vorschriften bringt der bei Anagrama verwendete Komplex der phonetischen Zeichen die Unmöglichkeit der genauen Ausführung zum Ausdruck: Abb. 29: Kagel, Anagrama, Satz III, T. 39-40, Ausschnitt des Partiturdrucks, Bass des Sprechchores.

Ebenso wie der Interpret wird auch der Hörer fortwährend überfordert. Unter anderem sind in den Simultanklängen die Differenzierungen auf die Spitze getrieben, zum Beispiel bei den phonetischen Angaben für den Sprechchor. Abb. 30: Kagel, Anagrama, Satz II, T. 96-98, Ausschnitt des Partiturdrucks, Temposystem und Sprechchor.

Die Sprachlaute und deren unterschiedliche Formanten werden genutzt, um durch eine zusätzliche klangliche Massierung klangfarbliche Schattierungen zu erzeugen. Die Sprachlaute werden gleichsam von der Sprache entkoppelt und musikalisiert.360 Die durch Komposition etablierte Ordnung hingegen löst sich nicht in eine musikalisch geordnete Semantik auf, sie unterminiert diese.

360

Zu diesem Themenkomplex siehe auch: Klüppelholz, Sprache als Musik, S. 102-107, wo er in der Behandlung der Formanten Ähnlichkeiten mit der der Elektronischen Musik erkennt.

168

2.3

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

Die ‚webernsche‘ Frühfassung

Soviel zum ‚Meisterwerk‘ Anagrama, also zur späten Schicht im Konvolut, die Eingang in den Partiturdruck fand. Wie verhält sich aber die frühere, schließlich verworfene Fassung zum Wechselverhältnis zwischen Ordnung und Unordnung und deren Divergenz in Komposition und Ästhetik? Betrachtet man die erste, unvollständig ins Reine geschriebene Fassung361 von Anagrama, so scheint sie diesbezüglich noch viel ‚unproblematischer‘. Zwar scheint auch diese Fassung bereits von dem Palindrom in vielfacher Weise determiniert362, dennoch ist die modernistische Überkomplexität und die Überbeanspruchung des Hörers, wie sie die endgültige Fassung erzielt, hier noch nicht erreicht:

361

362

Die Partiturreinschrift in Mappe „5/17“ umfasst drei Sätze und einen abgebrochenen vierten Satz. Ebenso finden sich in dieser Mappe eine particellartige Skizze zum vierten Satz, von der Stiftung bezeichnet mit „Particell (?) von Teil 4 (?)“, und ein unvollständiger Partiturentwurf des fünften Sat zes, der in die endgültige Komposition Eingang gefunden hat. Laut der Datierung der Partiturreinschrift (am Ende des 2. Satzes „5-14-11-57“) ist sie im Zeitraum von November 1957 bis Februar 1958 in Deutschland entstanden. (Zur Abhängigkeit dieser Quellen voneinander und der Datierung siehe auch im Verzeichnis der Quellen.) Meine Identifizierung der Quellen sowie die Datierung differiert von der Matthias Kassels, Das Fundament, S. 17. Er interpretiert die particellartige Skizze des vierten Satzes als zur Partiturreinschrift zugehörig (erkenntlich an der von Kassel zitierten Datierung für diesen Satz und an seinem Vermerk einer „zweiten Fassung). Ob er womöglich den im Schreibvorgang abgebrochenen vierten Satz in der Partiturreinschrift übersehen hat oder diesen als ‚erste Fassung‘ interpretiert, bleibt aufgrund der wenigen Angaben unklar. Die Abhängigkeit stellt er so dar, dass das sog. „Particell (?)“ als Vorlage für die abgebrochene Reinschrift des Satzes IV fun gierte. Kassel übernimmt für die von ihm identifizierte frühe Fassung Anagramas, d.h. die Sätze I-III (und IV?) der frühen Fassung und das „Particell (?)“, Kagels Bezeichnung „Tonhöhenpartitur“. (Kagel bezeichnet damit auch weitere Skizzen in Mappe „3/17“, interessanterweise ist dieser Begriff bei späteren Werken nicht mehr zu finden.) Kassel schreibt dazu: „Die nahe liegende Vermutung, es handle sich bei diesem Partiturentwurf um eine frühe verworfene Fassung, wird durch Kagels Bezeichnung in Frage gestellt, was mithin eine eigens für diese, gar nur für diese Dimension angefertigte Niederschrift impliziert. Fällt dann der Blick auf jene in ihrer Faktur ähnliche, jedoch nur noch in Form einzelner, auseinander geschnittener Takte, Taktblöcke und -fragmente erhaltenen Niederschrift im Skizzenkonvolut, liegt auch der Gedanke nicht mehr fern, es habe eine weitere Übermalung unter Heranziehung weiterer Ableitungen, gar aleatorischer Verfahren stattgefunden [...].“ (Ebd., S. 17) Falls eine „Tonhöhenpartitur“ eine Partitur ist, in der nur die Tonhöhen festgelegt sind, dann ist Kagels (vermutlich nachträgliche) Bezeichnung dieser Fassung als Tonhöhenpartitur, also als reine Materialdisposition, aufgrund der sorgfältigen Ausarbeitung und Auszeichnung missverständlich: Meines Erachtens ist diese Partitur aufgrund der Sorgfalt Kagels eher als Reinschrift zu bewerten, die unvermittelt im vierten Satz abbricht. Der analytische Vergleich des sog. „Particell (?)“ und des bislang übersehenen 4. Satzes zeigt, dass Kagel wirklich ins Reine geschrieben hat. Allerdings ist diese Fassung noch auf dem stilistischen und kompositorischen Stand zu verorten, den Kagel in Argentinien erreichte (vgl. die weitere Stilanalyse). Da Kagel des Öfteren verworfene Skiz zen und Entwürfe in spätere Kompositionen (z. B. Les Idées fixes) einarbeitete, ist die Einordnung dieser Fassung als Tonhöhenpartitur natürlich richtig. Kagel hat bei Anagrama diese frühe Partitur tatsächlich als Materialdisposition verwendet, wobei er nicht nur die Tonhöhen übernahm, sondern auch Tempi, Tondauern u. ä. verwertet hat. Dieser Prozess lässt sich sehr gut an dem Partiturentwurf des fünften Satzes nachvollziehen (siehe Bewertung im Verzeichnis der Quellen). Vgl. Kassel, Das Fundament, S. 6-21.

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Abb. 31: Kagel, Anagrama, Reinschrift der frühen Fassung, Satz I, T. 1-6, oberer Ausschnitt der Seite, in: Mappe „5/17“, Konv. „Partitur (1Rs. /von Teil 1 bis 3 [sic!][33S.]“

Zu Anfang des ersten Satzes (siehe obige Abbildung) hebt sich eine kantable Melodielinie von der durch ein durchgehendes Metrum geprägten Begleitung ab. Ebenso sind die Bereiche, in denen Klangflächen und ruhige Tempi vorherrschen, in ihrer Satzweise um einiges leichter nachzuvollziehen als die Strukturen in der späteren Fassung von Anagrama.

170

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So wird am Anfang des zweiten Satzes der frühen Reinschrift (siehe untere Abbildung) in der Es-Klarinette eine ausgeprägte Melodik entwickelt. Die Dynamik unterstützt hier die musikalische Phrasierung, die Reihengestalt „RO“ (Takt 1) ist als Melodie exponiert.

Abb. 32: Kagel, Anagrama, Reinschrift der frühen Fassung, Satz II, T. 1-4, in: Mappe „5/17“, Konv. „Partitur (1Rs. /von Teil 1 bis 3 [sic!][33S.]“.

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Der weitere Satz ist von imitativen Techniken, wie den um eine 8tel verschobenen Einsätzen von Celesta und Harfe ab Takt 3, bestimmt. Ab Takt 5, zählt man die General pause als vollständigen Takt, beherrscht diese 8tel-Verschiebung den gesamten Satz, wobei die Klarinetten und die Akkordinstrumente sich jeweils paarweise imitieren.

Abb. 33: Kagel, Anagrama, Reinschrift der frühen Fassung, Satz II, T. 5, in: Mappe „5/17“, Konv. „Partitur (1Rs. /von Teil 1 bis 3 [sic!][33S.]“.

In den beiden Klarinetten führt diese Imitation zu einer kanonischen Melodieführung, in den Akkordinstrumenten hingegen zu einem Echo-Effekt, der (besonders in Takt 5 ab der achten Viertel) satztechnisch Ähnliches wiedererklingen lässt. Diese Satztechnik erinnert sehr an die paarweise Imitationstechnik von motettischen Madrigalen des 16. Jahrhunderts – mit Wahrung des Gebotes der varietas, d.h. nicht wörtlich zu wiederholen.363 Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Kagel die Satztechnik durch Weberns erste oder zweite Kantate kennengelernt hat; als Beispiel hier die Takte 8 bis 12 der I. Kantate (siehe Abbildung 34, nächste Seite). Im weiteren Verlauf des dritten Satzes von Anagrama wird mit dem Eintritt des Chores diese vergleichsweise einfache Satzstruktur zugunsten von rhythmisch komplexeren Klangfeldern aufgebrochen, und es scheint, als ob das Einbringen der Sprache in die Musik auch die Musiksprache verändert. Die kurzen Laute des Chores werden von den Instrumenten mit abgesetzten Einzelklängen beantwortet (siehe Abbildung 35, über nächste Seite).

363

Als eine frühe Anregung führt Kagel des Öfteren Hans-Ferdinand Redlich, Claudio Monteverdi. Ein formengeschichtlicher Versuch, Bd I: Das Madrigalwerk, Berlin: Adler 1932 an (u. a. in: Kagel/Klüppelholz, ..../1991, S. 50). In diesem Buch wird auf die Satztechnik von motettischen Madrigalen aber kaum eingegangen, bzw. habe ich dort keine Passage gefunden, die Kagel genutzt haben könnte.

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Abb. 34: Anton von Webern, I. Kantate, Partiturdruck UE/Philharmonia, S. 5, T. 8-12.

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Abb. 35: Kagel, Anagrama, bereinigte Umschrift der Reinschrift der frühen Fassung, Satz III, S. 16 (leere Systeme getilgt), in: Mappe „5/17“, Konv. „Partitur (1Rs. /von Teil 1 bis 3 [sic!] [33S.]“.

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Insgesamt wird in der frühen Fassung von Anagrama musikalisch und handlungsmäßig die Auflösung von Ordnung nachvollzogen: Von klaren Melodielinien führt die musikalische Entwicklung hin zu Klangfeldern, die sich erst sehr gut erkennbar aus imitatorischen Verfahren ableiten, denen aber im Laufe des Werkes dieses syntaktische Ord nungsprinzip verloren geht. Im Laufe des dritten Satzes bringt der Sprechchor die Ebene der Laute und Geräusche ein. Und schließlich scheinen im vierten (in der Quelle abgebrochenen) Satz auch die Sprechtexte auf das Nichtvorhandensein eines Sinns (oder das Vorhandensein eines Unsinns) zu verweisen. So sprechen die vier Stimmen des Chores auf Seite 20 des Entwurfs in etwa simultan: Sopran Alt Tenor Bass

IN MIR UNSINN? NEUGIERIGE MUMIE SONNE, KROETE UMSONST ERNST

Der musikalische Verlauf dieses frühen Entwurfs bringt den programmatischen Textinhalt des Palindroms, das ‚Umkreisen und Verzehren‘, in eine adäquate musikalische Ent wicklung, welche vom Zustand der Ordnung zu dem der Unordnung führt. In der frühen Fassung sind die sehr ausgeprägten rhythmisch komplexen Felder, da sie das Ziel einer musikalischen Entwicklung hin zur Auflösung bilden, noch musikalischer Topos, während in der endgültigen, revidierten Fassung diese musikalischen Gebilde bereits die Musiksprache selbst bilden. Insgesamt ist festzustellen, dass Kagel bei dieser frühen, in seinem ersten halben Jahr in Deutschland ins Reine geschriebenen und verworfenen Fassung von Anagrama noch mit einem semantischen und syntaktischen Instrumentarium arbeitet, das – obwohl seriell generiert – sich der Dodekaphonie und dem Stil der Wiener Schule verpflichtet fühlt. Strukturell und satztechnisch gibt es sehr deutliche Anlehnungen an Webern, die Melodieführung ist noch ähnlich wie bei Schönberg oder Berg. 364 Diese Stichprobe aus Kagels ‚Frühwerk‘ zeigt deutlich, dass Kagel in Argentinien noch vom dodekaphonen Komponieren der Wiener Schule durchdrungen war. Angesichts dessen wird verständlich, warum Kagel seine argentinischen Frühwerke, die er später in Deutschland aufführte, einer gründlichen Revision unterzog. Nimmt man diese Beobachtung und Interpretation an, dann ist aber die von Attinello geäußerte These, dass Kagels Werke bereits in Argentinien postmoderne Züge aufwiesen, nicht mehr haltbar. Indes wird ein anderer Aspekt dadurch erhellt, nämlich der Umstand, warum Kagel in Diskussionen um die serielle Moderne so oft auf die Wiener Schule und besonders auf Aussagen oder Werke von Schönberg und Webern verweist. Er tut dies, weil er sich in seiner argentinischen Jugendzeit nicht nur mit deren Schriften

364

Kagel beschäftigte sich sehr eingehend mit Schönbergs Pierrot Lunaire op. 21, z. B. in einer Rezension, in: Buenos Aires Literaria Nr. 8, Mai 1953, u. a. ins Deutsche übersetzt in: Lese-Welten. Mauricio Kagel und die Literatur, Kat. der gleichnamigen Wanderausst. in Düsseldorf, Köln und Gütersloh, Juni-Dezember 2002, hg. v. Joseph A. Kruse, Saarbrücken 2002, S. 64-66. Ebenso dürfen die beiden Treffen mit Boulez in Buenos Aires – das zweite 1954 – für Kagel ein Initial gewesen sein, sich eingehender mit Webern und Schönberg zu beschäftigen.

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beschäftigt hat, sondern weil er deren kompositorische Probleme analytisch und kompositorisch nachvollzogen hat.365 Bei der überarbeiteten Fassung von Anagrama handelt es sich weder um die Weiterführung einer bereits bestehenden Komposition, als welche Dieter Schnebel sie anführt, noch um eine überarbeitete oder revidierte Fassung des gleichen Werks. Es handelt sich, wenn man diese grundsätzlichen Unterschiede im Kompositionsansatz berücksichtigt, um den Entwurf eines komplett anderen Werkes. Die Grundidee der ersten Fassung sowie deren Ansatz und Material werden zwar übernommen und weitergeführt, aber die Poetik und Ästhetik dieses vorgefundenen Entwurfes sind von dem tatsächlich veröffentlichten Werk so weit entfernt, dass – wenn man nichts über Kagel und die Genese Anagramas wüsste – es Mühe machen würde, in stilistischer Hinsicht beide Werke überhaupt einem Komponisten zuzuordnen. Dieser kurze und unvollständige Einblick in die frühe, noch von Kagels Jugendzeit in Argentinien geprägte Werkphase von Anagrama zeigt, welchen tiefgreifenden Prozess dieses Werk in seiner Entstehung durchgemacht hat. 366 Das genuin serielle Moment in Kagels Komponieren, nämlich die tatsächliche Abkopplung aller musikalischen, klangli365

366

Siehe auch SKIZZE REIHE WEBER, Verzeichnis der Quellen. Matthias Kassel verdanke ich den Hinweis, dass die beiden ‚Neuankömmlinge‘ Ligeti und Kagel sich bereits sehr früh über die Werke Anton Weberns ausgetauscht haben. Festgehalten ist dies in der Korrespondenz der Sammlung György Ligeti, wo sich einige Texte und Entwürfe von Kagel finden, u. a eine Werkpräsentation von Weberns I. Kantate op. 29 (2 Bl. DIN A4 hoch, Typoskript mit spärlichen hss. Korrekturen, dat. „Mauricio Kagel | Köln, den 17.5.1958“), in der Kagel sich als ein profunder Kenner des webern schen Oeuvres ausweist und Weberns Schaffen in Phasen aufteilt; ein weiteres Indiz für die Annahme, dass Kagel Weberns Kompositionen bereits in Argentinien kennengelernt und studiert hat. Dem Inhalt nach zu urteilen war dieser zweiseitige Text für eine Präsentation mit anschließender Musikeinspielung geplant, in etwa wie Kagels Skript „Webern Nachtprogramm. Symphonie op. 21.“ (1 Bl. Typoskript, oben von Kagel vermerkt: „radiato el 12/2/59“, unten von Kagel hss. dat. „Köln, 5/2/59“), das tatsächlich im Nachtprogramm des WDR ausgestrahlt wurde (siehe auch Schnebel, Musik – Theater – Film, S. 325, dort allerdings mit einem Sendetermin im Oktober 1959 vermerkt). Es ist davon auszugehen, dass Kagel diese beiden Texte bereits sehr genau redigieren hat lassen, zu letzterem gibt es in der Sammlung Ligeti ein Typoskript Kagels auf Spanisch. Ebenso fin den sich in der Korrespondenz Skizzen aus Kagels Hand zu Webers Konzert op. 24 (3 Bl.), zur bereits genannten Symphonie op. 21. (1 Bl.), Analyseskizzen zu den Sechs Bagatellen für Streichquartett op. 9 (6 Blätter, durchlaufend paginiert, auf S 1 dat. mit „12-12-57“ und „13-12-57“) sowie 2 Skizzenblätter (Millimeterpapier, DIN A4) mit graphischen Darstellungen der ‚Tempokurven‘ der ersten beiden Sätze der Bagatellen und 1 Skizzenblatt „Drei kleine Stücke für Violoncello und Klavier op. 11, Anton Webern (1914)“ (nicht dat.) (Die Analyseskizzen zu den Bagatellen ähneln den Entwurfs- und Ausführungsskizzen der revidierten Fassung des Sexteto de cuerdas, eine weitere Untersuchung wäre sicher lohnenswert gewesen, hätte aber den Rahmen gesprengt.) Da diese Entwürfe und Texte nicht weiter bearbeitet wurden, ist davon auszugehen, dass sie für den direkten Austausch mit Ligeti entstanden sind. Kagels Ableitungen des Textes in mehrere Sprachen sind bereits in den Chorpassagen des frühen Entwurfes nachzuvollziehen, allerdings hält sich Kagel noch an die Buchstaben des lateinischen Alphabets, z. B. die Vokale a, e, i, o, u. Die Ausdifferenzierung und Systematisierung dieser Buchstaben in das ungleich komplexere, internationale phonetische System, und damit einhergehend die Umsetzung des vormals semantisch gebunden Lautes in einen diskreten und somit komponierbaren Klang, fand erst in der neuen Arbeitsphase und damit unter Einfluss der unmittelbaren kompositorischen Entwicklungen in Darmstadt und Köln statt.

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chen und sprachlichen Parameter voneinander und deren ordnungsmäßige Durchdringung und Ausdifferenzierung (bis in die Ununterscheidbarkeit) war erst nach der direkten Auseinandersetzung mit den Kompositionstechniken in Köln und Darmstadt möglich. Insofern hat Kagels Beschäftigung mit der damals aktuellen seriellen Musik in Deutschland – und besonders ihrem Anspruch und ihrer Normativität – die Klang sprachlichkeit des Stückes verkompliziert und letztendlich verschlüsselt. Die zweite Arbeitsphase an Anagrama und das tatsächliche Werk stellen eine Auseinandersetzung mit den Techniken und dem musiksprachlichen Anspruch der Moderne dar, und gehen doch über diese hinaus, indem sie diesen Anspruch zum Scheitern bringen. Falls also die ‚frühen‘ – wenngleich in Deutschland entstandenen – Entwürfe in ihrer kompositorischen Ausformung einen Einfluss auf das Werk gehabt haben sollten, dann eher als materialer Steinbruch oder als Gegenstand von Montagen. Dies ist gut aus den bereits erwähnten Notenfragmenten zu ersehen, die Kagel gewonnen hat, indem er bestehenden Notentext in kleine Teile zerschnitt. 367 Auf einigen Fragmenten finden sich mit grüner Tinte eingetragene Zahlen (in unterer Abbildung fett), die vermutlich die Neuordnung der Fragmente angeben. Zwar ist nicht mehr nachvollziehbar, ob diese Noten wirklich verarbeitet wurden – dieses Konvolut erscheint unvollständig, einige Zahlen tauchen mehrmals auf, andere gar nicht – aber an ihnen lässt sich einiges über die dama lige Stilistik Kagels herleiten. Besonders die Satztechnik eines insgesamt neunteiligen Fragments, welches ich in seiner ursprünglichen Form rekonstruieren konnte, erinnert an die Imitationstechniken des oben erwähnten frühen Entwurfs:

Abb. 36: Kagel, Anagrama, Konvolut mit Notenfragmenten, hier in rekonstruierter Anordnung, in: Mappe 1/17, Konvolut „Diverse Materialien und Materialschablonen“ (getreue Abschrift aus meiner Hand). Die Schnittkanten der neun Fragmente befinden sich jeweils an den Taktstrichen und zwischen den Akkoladen.

367

In: Mappe „1/17“ → Konvolut „Diverse Materialien und Materialschablonen“. Aus 23 Teilen dieses Konvoluts konnte ich fünf zusammenhängende Notentexte rekonstruieren.

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177

Für die Reihengestalt hat Kagel in diesem Fall auf das komplette Palindrom, welches aus 16 Buchstaben besteht, zurückgegriffen, so dass sich eine 16tönige Reihe ergibt. Im oberen System wird die Grundreihe (16tönig, mit „O“ bezeichnet) durchgeführt, und dann der Krebs der Reihe („RO“). (Das Palindrom ist nicht mit den jeweiligen Tonhöhen gekoppelt, sondern wohl der Versuch einer Textvertonung.) Im mittleren System wird die Reihe um eine 16tel versetzt als Kanon gebracht, während das untere System die Reihe in Umkehrung („inversiv“) zeigt. Der Einsatz letzterer Reihengestalt erfolgt zwar wie im oberen System, zufällig entstandene doppelte Töne sind jedoch getilgt. Der Schematismus, der sich hier im Satz äußert, ist verblüffend. Die rhythmische Struktur ist als durchgehender Puls angelegt, lediglich die Tilgung überflüssiger Töne im dritten System gibt dem musikalischen Geschehen ein rhythmisches Gepräge. 368 Neben diesen offenliegenden Schematismen, die sich auch noch in dem im September 1957 in Deutschland entstandenen Skizzenbuch äußern, ist jedoch zu bemerken, dass in der frühen und dann verworfenen Partiturreinschrift und in dem vorher entstan denen Skizzenbuch bereits die seriellen Techniken auf Dynamik, Reihenfindung und Tempi komplett angewendet sind. Daraus ist zu folgern, dass die Anwendung der Reihentechnik zu gänzlich anderen Musiksprachen führen kann: zum einen (in der frühen Partiturreinschrift) zu einer Musik à la Webern, zum anderen (in der endgültigen Fas sung) zu einer ‚punktuellen Musik‘. Wie sind diese Aspekte miteinander vereinbar? Die frühe Fassung von Anagrama geht noch von musikalischen Gestalten aus, die eine musikalische Veränderung durchlaufen, und zwar hin zur Auflösung von Gestalt. Insofern ist diese Komposition noch einer variativen Entwicklungsform verpflichtet und daher das Ergebnis eines ‚seriellen Komponierens im musikalischen Stil der Dodekaphonie‘. Dieses Komponieren ist bereits in der Revisionsphase des Sexteto de cuerdas (1953) zu finden, in der Kagel das in Argentinien erlernte dodekaphone Reihendenken mit dem in Deutschland erfahrenen seriellen Komponieren der akzidentiellen Parameter wie Artikulation, Dynamik, Agogik und ähnlichem kombiniert. (Die Skizzenphase von Anagrama beziehungsweise die Erstellung des Skizzenbuches fällt in die Phase der Fertigstellung des Streichsextetts.) Die endgültige Fassung von Anagrama scheint von dieser musiksprachlichen Prämisse nicht mehr auszugehen, und es ist zu vermuten, dass die ‚Gestaltlosigkeit‘ das musik sprachliche Resultat – oder um Adornos Worte zu bemühen ‚das technische Korrelat‘ – einer Kompositionstechnik ist, nämlich der in den Skizzen nachvollziehbaren, vollständigen Entkoppelung der beiden Parameter Zeit und Tonhöhe. Diese tiefgreifende Veränderung in Kagels Kompositionsweise mag auf sein Zusammentreffen mit John Cage und seinen Werken zurückzuführen sein. Kagels neuer Ansatz, mit dem er die Komposition dann auch wirklich beendete, ist zeitlich in etwa nach dem ersten Zusammentreffen mit Cage zu verorten. Kagel gibt selbst an, er habe Cage erstmals bei der EXPO in Brüssel im Sommer 1958 getroffen. 369 Des Weiteren vermerkt Kassel zwei weitere Gelegenheiten, bei denen sie sich getroffen haben könnten: Anfang September des gleichen Jahres in Darmstadt, wo Kagel von einem Auftritt 368 369

Im Skizzenbuch sind Studien ähnlicher Art zu finden. Siehe auch Kassel, Das Fundament, S. 14 und S. 23, wo das Faksimile der zweiten Seite des Skizzenbuches wiedergegeben ist. Kagel/Klüppelholz, ..../1991, S. 48.

178

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Cages berichtete370, und kurz darauf am 19. September die Aufführung von Cages Klavierkonzert in Köln, welches Kagel sich vermutlich nicht hat entgehen lassen.

2.4

Sexteto de cuerdas (1953) von 1953 bis 1957/58

Die oben ausgeführten Zweifel hinsichtlich der ‚Postmodernität‘ des frühen Kagel werden durch die Einsicht in die frühen Quellen des Sexteto de cuerdas (1953)371 bestätigt. In ähnlicher Weise wie Anagrama durchläuft es eine stilistische Entwicklung. In diesem Sinne sind die folgenden Ausführungen zum Streichsextett als ergänzender Zusatz zu verstehen. Zu diesem Werk gibt es zwei handschriftliche Partituren: das von Kagel so genannte „Manuskript I“ von 1953, welches sich bei näherer Durchsicht als eine Reinschrift der verworfenen Fassung erwies, und das Manuskript II, welches die Revision im Jahre 1957 dokumentiert (siehe Verzeichnis der Quellen). Im Manuskript I ist das Werk noch zweisätzig und für Flöte, Klarinette (offensichtlich in B), Bassklarinette, Violine, Viola und Violoncello konzipiert.372 An den weiteren Skizzen lässt sich nachvollziehen, dass die von Kagel so genannte Revision eine substantielle Montage der beiden Sätze zu einem einzigen ist. Der unmittelbare Eindruck des Rhapsodischen dieses Werkes rührt zum größten Teil daher, dass einzelne, aus wenigen Takten bestehende Abschnitte aus den beiden Sätzen miteinander montiert und collagiert wurden. Das revidierte und in Deutschland uraufgeführte Werk war auf dem damalig neuesten Stand der kompositorischen Technik: Dem Interpreten werden Freiheiten hinsichtlich der Dynamik und der Vortragsarten zugestanden, für ersteres entwickelte Kagel ein eigenes Zeichensystem. Es gibt polymetrische Passagen, in denen die Interpreten unabhängig voneinander spielen können. Kagels Anweisung in den Erläuterungen zur Partitur lautet:

370

371

372

Kassel, Das Fundament, S. 17. Kagels Bericht „John Cage en Darmstadt“, in: Buenos Aires Musical, Jg. 8, Nr. 214 (16. Okt. 1958), spanisch abgedruckt, in: Borio/Danuser, Zenit der Moderne, Bd. 4, S. 483484; in Auszügen übersetzt und abgedruckt bei Ulrich Mosch, Boulez und Cage: Musik in der Sackgasse?, S. 1307: „Er [Cage] hat so, mit seinem gewissermaßen ‚aperspektivischen‘ Verstand zum Sturz der seriellen Mythen beigetragen, die errichtet wurden von den Akademikern des Dodekaphonismus und denjenigen Geistern der Öffentlichkeit, die sich selbst zu ernst nehmen.“ UA am 7. September 1958 als WDR-Gastkonzert in der Reihe Musik der Zeit bei den Int. Ferienkursen für Neue Musik, Mitglieder des Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchesters unter der Leitung Mauri cio Kagels. Kagel gibt im Rückblick an, dass 1954 sein damaliger Mentor Boulez bei seinem vermutlich zweiten Treffen mit Kagel in Buenos Aires u. a. das „abgeschlossene Streichsextett“ gelesen habe. Es kann sich m. E. aber nur um den frühen, zweisätzigen Entwurf gehandelt haben, den Kagel womöglich als abgeschlossen erachtete. (Kagel im Interview mit Werner Klüppelholz, in: Kagel, Dialoge, Monologe, S. 38-39.)

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179

In den plurimetrischen Teilen (z. B. E), gibt der Dirigent nur den ersten Schlag mit seinem Auf takt im Tempo der vorgeschriebenen metronomischen Einheit und schlägt nicht weiter. Rhythmische Präzision des Ensembles ist nach Durchführung verschiedener Paarkombinationen erreichbar.373

Ebenso werden bei einigen Klangflächen Vierteltöne vorgeschrieben, die Kagel jedoch eher als klangfarbliche Anreicherung verstanden wissen will. All diese avancierten Spieltechniken und kompositorischen Verfahren sind aber im Manuskript I nicht vorhanden, sie finden erst in das auf das Jahr 1957 datierte Manuskript II Eingang. Ferner geht das Manuskript I über den substantiellen Notentext (Töne, Takte und Taktvorgaben) und die Phrasierungsbögen kaum hinaus. Lediglich an einigen exponierten Stellen finden sich Vortragsangaben. Ebenso besitzt der erste Satz keine Tempovorschriften374, der zweite Satz ist Molto moderato bezeichnet. (Insofern ist die mögliche Annahme, dass es sich bei der frühen Fassung lediglich um eine Tonhö henpartitur, also um eine Skizze handelt, auszuschließen. Siehe hierzu auch die Anmerkungen im Verzeichnis der Quellen.) Vergleicht man die Manuskripte I und II, so lassen sich Revisionen in vier Bereichen verorten: Zunächst finden sich 1. Montagen der Form, 2. Collagen von Satzteilen, 3. zusätzliche Parameter, die seriell gestaltet sind, und 4. Verfahren, die den Eindruck der Indetermination erzeugen. Zunächst hat Kagel aus den zwei Sätzen des Manuskripts I ein einsätziges Stück gemacht, indem er die einzelnen Abschnitte in symmetrischen Anordnungen montierte. Die Tendenz zur formalen Symmetrie ist bereits im Manuskript I zu finden: Der erste Satz ist als Brückenform angelegt, wobei die Teile 1-5 in den Abschnitten 6-10 als Krebs der Umkehrung wiederkehren. Dieses Umkehrungsprinzip wirkt bis in die Stimmen. So ist die Tonreihe der ersten Stimme aus Teil 1 in Teil 6 nun in der sechsten Stimme, und zwar in Umkehrung zu finden.375 Ebenso wird ganz am Ende der Anfang des Satzes einschließlich der rhythmischen Struktur in Umkehrungs- und Krebsform gespiegelt. Im Detail sind jedoch Abweichungen von dieser Punktsymmetrie zu finden, zum Beispiel vereinzelt in Teil 2 und 7. Kagel hat diese Anordnung in einer, vermutlich bei der Revision entstandenen, Skizze „Estructura original“ dargestellt (die senkrechten Zahlenreihen geben nur schematisch das Prinzip wieder):

373 374

375

Mauricio Kagel, „Erläuterungen“ zur Partitur Sexteto de cuerdas (1953), leicht verbesserte Plattenaufl., Wien u. London 1992, S. XI. Alle auf das Tempo bezogenen Einträge im ersten Satz des Manuskripts I sind sehr wahrscheinlich bei der Revision entstanden, im zweiten Satz ist bei der Revision ein Großteil der Einträge eingefügt worden. Die Tonreihen müssen nicht unbedingt mit der Grundreihe a-b-c-d-des-h-f-e-es-as-ges-g übereinstimmen. Kagel verwendet diese Grundreihe, ähnlich wie die Rhythmen, in der Vertikalen, z. B. auf der ersten Zählzeit, T. 1 des Manuskript I, um einen Simultanklang zu erzeugen. Angeordnet nach Instrumenten von oben nach unten ergibt dies: a2-b1-c-d2-des1-H.

180

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

Abb. 37: Kagel, Sexteto de cuerdas, Umschrift der Skizze „Estructura original“, oberes Drittel, Formdisposition des 1. Satzes, in: kleinere Mappe, 5. Konvolut, 22. Bl.

Beim zweiten Satz bildet die Umkehrung der Grundreihe das Ausgangsmaterial. Die Spiegelungen sind hier nun kleinformatiger. Auch hierzu statt eines Notenbeispiels eine Umschrift von Kagels Skizze, welche die Formdisposition des zweiten Satzes wiedergibt:

Abb. 38: Kagel, Sexteto de cuerdas, Umschrift der Skizze „Estructura original“, mittleres Drittel, Formdisposition des 2. Satzes, in: kleinere Mappe, 5. Konvolut, 22. Bl.

Zwar gibt es keine Einspielung des Werkes in seiner ersten Fassung, aber es ist anzunehmen, dass das klangliche Ergebnis auf einen Variationssatz hinausläuft, wobei die gleichen Rhythmen und das gleiche Tempo – im Manuskript I sind die Tempoänderungen noch nicht vorhanden – die Musik sicher ziemlich redundant erscheinen lassen. Da Kagel auch keine Transpositionen der Reihe verwendet und sich noch auf Krebs und Umkehrung beschränkt, wird man im Verlaufe des Werkes fortwährend die zentrale Reihe hören können. Die Teile 15 bis 21 des zweiten Satzes werden durch eine Variationsfolge bestimmt, wobei der Tonsatz zweigeteilt ist: Drei Stimmen spielen jeweils in Melodien gehaltene

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

181

längere Töne, während die anderen mit sehr kurzen Tönen begleiten. Ab Teil 19 schei nen die Variationen zu wuchern, sie werden länger und erscheinen vom Notenbild her zerrissener. Laut Kagels Skizze (siehe die Pfeile in obiger Abbildung) und auch im Notenbild des Manuskripts I nachvollziehbar, kulminiert die Reihentechnik sowie der musikalische Satz schließlich in Teil 22, in dem Grundreihe und Krebs durch die Stimmen geführt werden. Die beiden oben abgebildeten Skizzen führte Kagel bei der Revision in einer neuen zusammen. Gut zu erkennen ist der zu Anfang stetige Wechsel zwischen den Musiken des ersten und zweiten Satzes:

Abb. 39: Kagel, Sexteto de cuerdas, Umschrift der Skizze „Estructura de la revision“, in: kleinere Mappe, 5. Konvolut, 23. Bl.

Bei der Umsetzung in die Buchstabeneinteilung hat Kagel einige Nummern zusammengefasst. Zur genauen Reihenfolge siehe auch die Anmerkung zu oben genannten Skizzen sowie zu den Temposkizzen „a)“ und „b)“, im Verzeichnis der Quellen. Bei der Revision hat Kagel nicht nur Teile der Sätze montiert, sondern auch innerhalb der Sätze nacheinander folgende Satzabschnitte miteinander zu Simultanereignissen collagiert. Zum Beispiel collagierte er im zweiten Satz, Seite 14 des Manuskripts I, die beiden auf der Seite übereinander geordneten Akkoladen (jeweils ein Takt), welche nacheinander erklingen müssten, in der Weise, dass er jeweils zwei Stimmen zu einer neuen zusammengefügt hat. Zur Veranschaulichung sei hier nur die endgültige Partie des Violoncellos II in vereinfachter Form wiedergegeben, wie sie auch im Manuskript II festgehalten ist. Um diesen Part zu entwickeln, collagierte Kagel den Part der Klarinette der ersten Akkolade mit dem des einen Takt später erklingenden Violoncellos der zweiten Akkolade:

182

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

Abb. 40: Kagel, Sexteto de cuerdas, Umschrift der Klarinette und des Violoncellos aus dem Manuskript I, Satz II, S. 14 und der Partie des Violoncellos II, Partiturdruck, S. 10-11 (hier nur substantieller Notentext).

Gut zu erkennen ist, dass Kagel bei einigen Tönen auch die Lagen ändert, so dass der Ambitus größer wird. Auch dies ist ein Weg ‚Komplexität‘ zu erreichen: Aus den beiden verhältnismäßig einfach zu spielenden Partien generiert er eine virtuose. Ebenso wird durch diese Art der Collage z. B. das c (1. und 3. Ton) wiederholt. Die noch im Manuskript stupend einfache Reihentechnik wird dadurch aufgebrochen und unkenntlich gemacht. (Eine ähnliche Verfahrensweise der Simultancollage von vormals sukzessiv angeordneten Klangereignissen kann bei der Genese des Klavierparts im circa 33 Jahre später entstandenen Südosten angenommen werden, siehe Kap. V.6.) Neben diesen Montage- und Collageverfahren kamen Kagel bei der Revision offensichtlich neue musikalische Parameter in den Blick. So setzt er Vierteltöne als klangfarbliche Nuance ein und gestaltet die Artikulation, die Tempi und die Dynamik nach seriellen Prinzipien beziehungsweise, nach Kagels Worten, in übergreifende Strukturen. Auch das Tempo scheint hier, ähnlich wie bei der Werkgenese von Anagrama, erst bei der Revision eine Rolle gespielt zu haben. Es finden sich zwar Skizzen, die eine detaillierte Tempobezeichnung der älteren, zweisätzigen Version dokumentieren (in der kleinen Mappe, 4. Konvolut). Betrachtet man jedoch das Manuskript I, so finden sich dort keine Metro nomangaben sondern lediglich agogische Angaben. Zu dem Bereich der in der Revision neu eingeführten Parameter gehört sicher auch die polymetrische Struktur, welche vermutlich aus der Auseinandersetzung mit Henry Cowells Schriften herrührt.376 Kagel hat die Takte mit längeren Zählzeiten wie zum Bei376

Der Einfluss Henry Cowells auf die Darmstädter Schule und insbesondere auf Kagel ist bislang noch nicht ausführlich untersucht worden. Matthias Kassel nimmt beispielsweise an, dass Kagel Cowells Schriften bereits in Argentinien rezipiert hat und von ihm rhythmische Verfahrensweisen übernommen hat. So erkennt er (Das Fundament, S. 18-19) in den Skizzen zu Anagrama eine Über-

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

183

spiel den mit 11/8 vorgezeichneten Takt in kleinere Takte aufgeteilt. Mit der sich in der Taktaufteilung und Vorzeichnung niederschlagenden Polymetrik kommt in der Revision auch die fakultative Ungebundenheit und Indetermination der einzelnen Stimmen hinzu (siehe Kagels bereits zitierte Erläuterung). Es ist also zu konstatieren, dass all jene kompositorischen Verfahren, die Kagel in seinem Vorwort zur leicht verbesserten Plattenauflage des Streichsextetts 1992 (UE Phil harmonia Nr. 530, S. II-III) hervorhebt, erst in der Revision (laut seiner Angabe im Dezember 1957) in Deutschland zur Anwendung kamen. Und mehr noch als der frühe Entwurf zu Anagrama erinnert der Entwurf des Sextetts aus dem Jahr 1953 an eine Kompositionsstudie; die über den Sätzen jeweils angegebene Zwölftonreihe (und deren Umkehrung) tragen zu diesem Eindruck bei. Jedoch finden sich in diesem frühen Manuskript bereits einige eigenständige Ansätze Kagels, die dem kompositorischen Anspruch der europäischen Moderne schon damals ohne weiteres gerecht werden konnten, so beispielsweise die Einbindung von indischen Rhythmen 377 in den Bereich der Horizontalen, also des tatsächlichen Rhythmus’, wie auch in die Vertikale, in Form von übereinander geschichteten Klängen. Kagel schreibt dazu im Rückblick: Im ‚Streichsextett‘ bilden die Dauernwerte der Horizontale – sozusagen des melodischen Rhythmus – die Dauernwerte der Vertikale. Das war 1951-53, damals kannte ich zwar die Zwölftontheorie, aber nicht die Serialität. Ich versuchte, ein rhythmisches Gefüge zu erfinden, das eine rationale, feste Struktur besaß. Danach habe ich diese Idee zunächst nicht weiterentwickelt.378

Ähnlich wie bei der Revision Anagramas führt Kagel in der in Deutschland vorgenommenen Revision des Streichsextetts die Systematisierung und Differenzierung der kompositorischen Parameter Tempo, Vortragsart, Form und Metrum weiter und erhält dadurch eine Differenzierung in den klanglichen und agogischen Nuancen.

377

378

nahme einer Rhythmus-Skala aus Cowells Buch New Musical Resources (zuerst erschienen in London 1930, verwendetes Exemplar: Aufl. 1969 New York, mit einem Vorwort von Joscelyn Godwin). Diese Skizze ist aber sehr wahrscheinlich im Zuge der Neufassung von Anagrama und bei den Überlegungen über die Tempostruktur entstanden. Wenn Kagel eine Tabelle von Cowell übernommen hat, dann ohne Nennung. Ich habe eine ähnliche Skizze nicht finden können. Auch eine systematische und kompositorische Durchdringung der Tempi habe ich in den frühen Skizzen nicht erkennen können. Meines Erachtens hat Kagel Cowells theoretisches Werk erst in Deutschland kennengelernt, wovon seine Auseinandersetzung im Aufsatz „Ton-Cluster, Anschläge, Übergänge“, in: Berichte, Analysen, Wien u.a. 1959 (= Die Reihe. Information über serielle Musik, hg. v. Herbert Eimert, unter Mitarbeit von Karlheinz Stockhausen, H. 5), S. 23-37, zeugt. Dafür gibt es in den Skizzen der ‚argentinischen Phase‘ aber einige Verweise auf Webern. Daher ist es wahrscheinlicher, dass für die Gestaltung der polymetrisch gestalteten Passagen des Sexteto eher der letzte Satz aus Weberns Kantate II als Vorbild diente. Ersichtlich an einer rhythmischen Skizze, Blatt eingelegt in Manuskript I, mit Kagels Literaturver merk: „Garguini, Lumografia musicali“(?). Die rhythmische Notation stimmt nur in den ersten paar Takten mit dem Anfang des Sextetts überein. Kagel im Interview mit Werner Klüppelholz, in: Klüppelholz, Dialoge, Monologe, S. 37.

184

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Das klangliche Ergebnis des endgültigen Werkes ist verblüffend 379. Die Aufeinanderfolge und der Reichtum an kontrastierenden Formteilen, die zwar keiner übergreifenden for malen Stringenz zu folgen scheinen, aber als musikalische Abschnitte in sich konsistent sind, ähneln den Formabläufen seines dreißig Jahre später komponierten, seriell-tonalen III. Streichquartetts. Ebenso unterscheiden sich einige kleinere Passagen, besonders Klangflächen, nur aufgrund ihrer ‚atonalen‘ Faktur von denen seriell tonaler Werke. Etliche musikalische Parameter sind freilich durch Notenbeispiele nicht wiederzugeben, wie beispielsweise die subtilen Klangschattierungen, die Kagel durch die Verschränkungen von Dynamiken und Spieltechniken erreicht, und die die schematische Anwendung der dodekaphonen Reihentechnik in den Hintergrund der Wahrnehmung treten lassen. In den vergleichsweise hölzern erscheinenden Reihenabfolgen, die durch die subtilen Nuancen der Klangbildung ‚versöhnt‘ werden, sowie in der additiven Reihungsform, bestehen zwischen diesen frühen Entwürfen (und dem revidierten Streichsextett) und den Werken der Seriellen Tonalität frappierende Ähnlichkeiten. 380 Nach diesem kurzen Blick auf das Streichsextett soll nochmals Anagrama thematisiert werden. Wie sich an den Quellen und den daran anknüpfenden Überlegungen nachvollziehen ließ, hat das Werk zwei Phasen durchlaufen, die in stilistischer Hinsicht einen Umbruch im Komponieren Kagels dokumentieren: Die Dokumente der ersten Werkphase sind von seinem frühen argentinischen Stil geprägt. Dieses Komponieren ist der Wiener Schule und insbesondere Webern verpflichtet und lässt sich als ‚dodekaphon mit seriell determinierten Lizenzen‘ bezeichnen. Diese, vermutlich durch eigene Studien erlernten, Kompositionstechniken reichert Kagel in Deutschland – an seiner Revision des Sexteto de cuerdas besonders gut erkennbar – mit seriellen Organisationsprinzipien und Montagetechniken an. Die am Streichsextett erprobten Techniken fließen wiederum in die in Deutschland entstandenen Skizzen Anagramas ein, aber nur um deren Ergebnisse in einer weiteren grundsätzlichen Revision zu verwerfen und als materialen Steinbruch nutzbar zu machen. Das serielle Konzept der Entkopplung von musikalischen Parametern wird über das komplette Werk gelegt, um eine gänzlich andere musikalische Syntax und Semantik zu erzeugen, die mit dem Streichsextett und den frühen Skizzen zu Anagrama nichts mehr gemein hat. Wenn also die argentinische Fassung von Anagrama ein ‚Frühwerk‘ ist, ist die endgültige Fassung ein ‚Meisterwerk‘? Wenn man Komponieren als ein Handwerk begreift, so ist es sicher ein Meisterwerk, da Kagel hier seine kompositorische Meisterschaft über die damals gängigen Techniken beweist. Und der in der Revision geleistete ‚Vatermord‘ an Webern und der Wiener Schule hinsichtlich der Musiksprachlichkeit – indem Kagel die von der Nachkriegsmoderne wiederentdeckten Kompositionstechniken der Wiener Schule ins Absurde verkehrt – ist sicher ein weiteres Indiz für das Heraustreten aus der Position des Schülers. In den frühen Entwürfen zu Anagrama ist das Motto „IN GIRUM 379 380

In der Sammlung Kagel der Sacher Stiftung befindet sich ein nicht identifzierter Mitschnitt (vermutlich von der Uraufführung) unter der Signatur MK CD 1. Die später im Laufe der Revision hinzugefügten Angaben Kagels, nach der die polymetrischen Passagen von den Musikern quasi ohne gemeinsames Metrum zu spielen seien, muten hier aber wie eine Verlegenheitslösung an, als interpretatorische Lösung eines kompositorischen Problems.

185

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

IMUS NOCTE ET CONSUMIMUR IGNI“ lediglich als Text vertont, und gewinnt seinen Bedeutungsgehalt in der Formdramaturgie. In der endgültigen Komposition ist der Text Thema und Sujet des Komponierens selbst und lässt sich durchaus als ein kritischer Zustandsbericht Kagels zum Komponieren in der Moderne, namentlich der Darmstädter Schule, deuten. Die eigentliche Problematik und damit auch die Eigentümlichkeit dieses Stückes ist auf Ebene der Komposition aber nicht zu klären, und die Rätsel, die dieses Werk auf gibt, sind damit nicht gelöst. Wofür der ganze kompositorische Aufwand? Und implodiert dieses Werk nicht an dem Widerspruch seiner kompositorischen Komplexität und seiner gleichzeitigen Sprachunfähigkeit? Oder anders gefragt: Lässt sich das Nichtvorhandensein einer Musiksprachlichkeit – die in Kagels Werk ja vorher, in der dodekaphonen und nachher, in der seriell-tonalen Phase, durchaus präsent ist – als ein Kommentar auf den Technizismus der Moderne werten? Ist also das musikalische ‚Chaos‘ hier doch musiksprachlicher Topos, nur einer, der auf das ganze Werk ausgedehnt wird? Insofern wäre es im Sinne einer ‚reflexiven Moderne‘ postmodern.

2.5

Die werkabschließende Geste des Komponisten Was überall nur stimmt, stimmt überall nicht, zumal in den Proportionen; das meldet das Bedürfnis der integralen Gestalt nach dem helfenden Subjekt an. Die begabtesten und fortgeschrittensten Komponisten werden dem kaum schon ganz gerecht: unterm Bann des Serialismus beschränken sie vielfach den Eingriff des Subjekts auf die nachträgliche Korrektur, horchen die determinierte Struktur auf ihre lebendige Legitimation ab. Analog verfahren aleatorische, etwa mit kybernetischen Maschinen hergestellte Texte der Literatur. Bei ihnen stellt der Autor dann durch Eingriffe etwas wie Sinnzusammenhang oder Artikulation her. Ohne derlei Retouchen scheint es auch in der Musik nicht abzugehen. Pedantisch wäre es dagegen Einspruch zu erheben.381

Schließlich sei bei Anagrama ein Fund erwähnt, der angesichts der vorhandenen Komplexität und des hierbei angenommenen Anspruchs der totalen Integralität irritiert. Im Konvolut befinden sich die satzweise gebundenen Lichtpausen der Reinschrift 382, welche Kagel auch als Aufführungspartitur für die Uraufführung am 11. Juni 1960 nutzte und als „Handexemplare“ bezeichnete.383 Das erste, so genannte Handexemplar des 2. Satzes 381 382

383

Adorno, Vers une musique informelle, S. 527-528. Mappe o.Z. „5 Handexemplare“; zum Zeitpunkt der Einsicht (März u. später September 2005) war diese Mappe noch nicht von der Stiftung ins Register aufgenommen. Die auf DIN A0 Querformat geschnittenen Lichtpausen stammen nach Kagels Bezeichnung vom WDR. Neben der für Kagel üblichen Bezeichnung der Aufführungspartitur als „Handexemplar“ finden

186

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

weist eine den gesamten Satz umfassende Änderung Kagels auf, die den vorangestellten Thesen bezüglich einer werkübergreifenden Determination scheinbar widersprechen. Wie auch in der Reinschrift, wovon dieses Handexemplar eine Lichtpause ist, finden sich in diesem Aufführungsmaterial zwar die Chor- und Solostimmen, aber keine weiteren Instrumente! Lediglich zwei kurze Instrumentalpassagen, und zwar die Flöte ab Takt 59 (im Sopran bei „suono ques oggi“) bis Takt 67 und ein Einwurf der Celesta in Takt 81 (sehr weiter Cluster), sind dort festgehalten. Kagel hat den zweiten Satz also – bis auf die kurze Passage der Flöte und den Cluster-Einwurf der Celesta – zuerst a cappella konzipiert und die anderen Instrumentalpassagen erst später hinzugefügt (siehe beispielsweise folgende Abbildung). Kagel hat die Änderung auf Notenpapier notiert, welches mit Klebestreifen jeweils auf die obere Hälften der Lichtpause befestigt ist. Diese Überklebungen enthalten nun die bereits vorhandenen Stellen der Flöte und der Celesta sowie die neuen Partien der Instrumente, in der Form, in der sie auch in der gedruckten Partitur zu finden sind. Die Änderungen sind im Vergleich zu Kagels sonstiger Arbeitsweise sehr fahrlässig ausgeführt und scheint unter großem Zeitdruck entstanden. So sind beispielsweise in der zweiten Takthälfte von Takt 75 die Tom-Toms in das System der Rührtrommeln eingetragen.384 Anhand des Quellenvergleichs lässt sich diese großformatige Änderung in den vierwöchigen (!) Zeitraum vor der Uraufführung am 11. Juni 1960 datieren. 385

384

385

sich auch Einträge bezüglich des Dirigats und Einträge der Namen der an der Uraufführung beteiligten Instrumentalisten. Eine Partiturreinschrift, die wie bei den anderen Kompositionen als tatsächliche Vorlage für die Drucklegung fungierte, existiert in der Sammlung Kagel der Sacher Stiftung nicht. Als Vorlage für den Stich hat Kagel eine mit leeren Systemen versehene und genau spartierte, jedoch in den Blättern unvollständige Systemdisposition erstellt. Die leeren Systeme sind grafisch dargestellt und festgelegt (in: Mappe „[12/17]“). Einige hss. Anweisungen Kagels deuten darauf hin, dass dem Stecher der Notentext aus den Stimmen bzw. dem ebenfalls in der Sammlung erhaltenen Chorparticell als Stichvorlage diente. Die Aufführungspartitur enthält keinerlei Datierung. Als Aufführungspartitur zeichnet sich die Lichtpause dadurch aus, dass sich die für Aufführungen typischen Eintragungen Kagels finden lassen. Ebenso sind die Namen der drei an der UA beteiligten Schlagzeuger oft einzelnen Instrumenten zugeordnet. Es ist also anzunehmen, dass die endgültige Aufstellung des umfangreichen Schlagwerks und deren Verteilung auf die Spieler im Zuge der Proben entstanden sind. Dies widerspricht jedoch dem generell skizzenhaften und einem Particell ähnlichen Zug der Einklebungen. Sollte Kagel die UA aus einer Skizze dirigiert haben? Für eine sehr späte Datierung der Einklebungen sprechen zum einen die von Kagel handschriftlich zugefügten Tempoangaben, sie finden sich auch unter der Einklebung. Die Tempoangaben scheinen also vorher eingetragen worden zu sein. Aller dings weisen beide Ebenen, Lichtpause der Reinschrift und skizzenhafte Einklebung, gemeinsame Schreibschichten auf. Die endgültige Gewissheit brachten erst die in der Sacher Stiftung befindlichen Lichtpausen der Stimmen. Zwar sind auch diese unvollständig, aber sie enthalten für den zweiten Satz noch die alte Fassung, d.h. den kurzen Einsatz des Cembalos, die kurze Passage der Flöte sowie für die anderen Instrumente die Anweisung tacet. Eine mit dem „4.5.60“ datierte Auflistung der Stimmen pro Satz (Typoscript auf Papier, vermutl. vom WDR, welcher vermutlich auch die Lichtpausen hat anfertigen lassen), die sich auf einem ursprünglich als Makulatur verwendeten Umschlagblatt in der Mappe „[8/17]“ befindet, stellt noch die Instrumentation des zweiten Satzes vor der Änderung dar, was bedeutet, dass die Änderung frühestens vier Wochen vor der UA vorgenommen worden ist.

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

187

Die Gründe für diese umfangreiche Änderung lassen sich nur vermuten, wahrscheinlich sind sie ähnlich motiviert gewesen wie die Änderungen in den kompositorischen Spätstadien von Osten, Südosten und Les Idées fixes. Ebenso ist fraglich, welche kompositorischen Verfahren Kagel angewendet hat. In den meisten Fällen scheinen die Passagen aus den zahlreichen frühen Skizzen zu stammen, die Kagel bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht benutzt hat. Jedoch finden sich aber auch Passagen, die Kagel ‚adhoc‘ komponiert haben könnte, wie zum Beispiel die grafische Notation in den Fellinstrumenten für die Takte 50 bis 58. Um einen Einblick zu vermitteln, wie Kagel im Detail eingriffen hat, soll die Flötenpassage der Takte 59-65, welche in der Reinschrift der Partitur noch solo gesetzt ist, dar gestellt werden. In der nachträglichen, überklebten Änderung übernehmen die Klarinette (2. System), die Celesta (4. System), und die beiden Klaviere (5. und 6. System) die rhythmische Struktur der Flöte (1. System). Dies übernimmt Kagel auch in den endgültigen Druck:

Abb. 41: Anagrama, Ausschnitt des Partiturdrucks, S. 15 (2. Satz, T. 59-65, Systeme v. o. n. u.: 1. Flöte, 2. Klarinette, 3. div. Schlagwerk, 4. Celesta, 5. Klavier I, 6. Klavier II, 7. Temposystem)

Die Tonhöhendisposition der gesamten Passage ist gänzlich dodekaphon determiniert, wobei die bestehende Flötenstimme offensichtlich als Vorlage für diese Operationen diente.386 Setzt man die Tonhöhen der zuerst solistisch konzipierten Flöte in eine enge Lage, ergeben sich drei aufeinanderfolgende, chromatisch absteigende Zwölftonreihen, deren Ordnung in der letzten Reihe nur durch das doppelte h (statt e) unterbrochen wird. Die Tonhöhendisposition der anderen Instrumente ist ebenfalls in jeweils drei dodekaphone Reihen aufteilbar, welche wiederum Ableitungen der bereits vorhandenen 386

Es gibt ein paar Ausnahmen, die zum einen vermutlich auf Schreibfehler Kagels in der Aufführungspartitur bspw. T. 64, Fl.: vorletzte Note h statt e; T. 65, Klav. II: letzter Ton f statt es; und zum anderen auf Übertragungsfehler des Kopisten zurückzuführen sind, bspw. T. 59, Fl.: vorletzte Note d2 vom Stecher als e2 fehlgelesen, und T. 61, Klav. I: dort d1-es1-fes1 als des1-e1-fes1 fehlgelesen.

188

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

Flötenstimme sind.387 Ein gemeinsames Merkmal der Mehrzahl der Reihen ist die Bevorzugung von chromatischen Läufen aufwärts und abwärts, so beispielsweise in den beiden ersten Reihen der Klarinette. 388 Diese inhärente Chromatik ist in der Musik allerdings nicht mehr nachvollziehbar. Mit jedem Ton, der dieses Bauprinzip als Melodik aufdecken könnte, wird die Oktavlage geändert, so dass die Musik einen sehr expressiven Gestus erreicht.389 Aus dieser Passage und ihrer Verfahrensweise ist ganz gut zu ersehen, wie Kagel mit relativ ‚einfachen‘, das heißt in ihrem Schematismus offensichtlichen, Kompositionstechniken eine Musik erstellt, die sich erst durch die Weitung in die verschiedenen Lagen – und auch durch die Einbindung in die gesamte Textur – als musikalisch komplex geriert. Wie lässt sich dieser montierte Abschnitt und der generelle Befund dieser sehr späten umfangreichen Einfügung aus poetologischer Sicht bewerten? Angesichts des in sich schon übersteigerten kompositorischen Anspruchs, der dieses Werk in einer beispiellosen Konsequenz auszeichnet und quasi aus einer modernistischen Haltung geboren ist (und nicht unbedingt die des modernen und im affirmativ bekennenden Komponisten Kagels sein muss, sondern eher eine erzählende oder ironisierende sein kann), erscheint diese Montage als eine grundsätzliche Infragestellung nicht nur des vorgeschobenen Anspruchs, sondern auch der eigenen Kompositionsmethodik. Oder ist der Akt der Einfügung bereits die Negierung der eigenen Methodik, und weiter gefragt, entfaltet dieser Akt nicht schon bereits in diesem frühen Werk ein gutes Maß an anarchischem Potential? Wie auch in den anderen Werken hat Kagel den Abschluss des Kompositionsprozesses quasi bis zum letzten Moment aufzuschieben versucht. Diese Aufschubshandlung des Komponisten mündet zumeist in einer großformatigen Änderung (zum Beispiel bei Les Idées fixes). Bei Anagrama erscheint – angesichts dessen Übersteigerung und Hermetik – diese Änderung eher schon als Geste, als ein letztes Eingreifen in die selbstregulierenden Mechanismen der Komposition, als ob der Komponist sich durch diesen Akt versichern wollte, dass ihm das Werk immer noch zu Willen ist.

387

388

389

Der Umstand, dass es im kompletten Satz kein gleichzeitigen Tonhöhendoppelungen gibt, ist darauf zurückzuführen, dass Kagel für die Generierung der nachträglich konzipierten Reihen vermutlich Zahlenreihen eines magischen Quadrats benutzte, welches bekanntlich keine Zahlenwiederholungen in den Reihen und Spalten aufweist. Nimmt man as als Ton 1 an, so ergibt sich für die erste Reihe der Klarinette die Zahlenkonstellation 1, 2, 3, 4, 12, 11, 10, 9, 5, 6, 7, 8. Die zweite Reihe ist um einen Halbton nach oben transponiert, beginnt also mit 2, 3, 4, 5, 1, 12 usw. Die dritte Reihe weicht von dieser Ordnung ab: 3, 4, 5, 6, 1, 2, 7, 8, 9, 10, 11, 12. Ähnliche Prinzipien finden sich in Kagels seriell-tonalen Werken, nur scheint dort die melodische Chromatik oft als Erfahrbares angestrebt zu sein. Interessanterweise sind die Reihen in Gruppen zu je vier Tönen und in Symmetrien angeordnet, wie bei dem von Kassel entdeckten webernschen Struktur-Zitat in den Solistenstimmen des dritten Satzes.

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3

189

Kagels Poetik der Seriellen Tonalität

Bevor die Verfahrensweise der Seriellen Tonalität an Beispielen dargestellt wird, seien einige Vorbemerkungen vorangestellt, und zwar (1.) zum Problem der aleatorischen Anteile der Seriellen Tonalität, (2.) zu der bereits angeschnittenen Beziehung Kagels zur Wiener Schule sowie (3.) zur kagelschen Reetablierung der Konsonanz in der Musik.

3.1

Die aleatorischen Anteile der Seriellen Tonalität

Wie Kagel bereits im Interview mit Werner Klüppelholz bezüglich der Seriellen Tonalität anmerkt, wird das Zahlenmaterial, das er für die weitere serielle Behandlung der Ton höhenorganisation und aller (!) anderen Parameter benutzt, zum Teil aus aleatorischen Verfahren generiert.390 Für den nach Organisationsprinzipien suchenden Analytiker bedeutet dies, dass – wie bei jeder aleatorisch organisierten Musik – die Suche nach Merkmalen kompositorischer Organisation von vornherein zum Scheitern verurteilt ist und die Beschreibung allein auf die Ebene der Wahrnehmung beschränkt bleibt. In Reichs bereits erwähnter Analyse der St.-Bach-Passion beispielsweise scheint dieses Dilemma immer wieder durch. Aufgrund der Selbstaussagen Kagels in seinem Interview mit Klüppelholz und späterhin der Annahme Clytus Gottwalds, dass das Werk zum größten Teil auf abgeleiteten Akkordbildungen des B-A-C-H-Motivs beruhe, findet Reich aber einen analytischen Ansatz, dessen zahlreiche, fruchtbare Erkenntnisse uns im Weiteren begegnen werden. 391 Anders als Reich bin ich jedoch der Ansicht, dass auch aleatorisch gewonnenes, ‚nicht-musikalisches‘ Zahlenmaterial, auch wenn es in einem späteren Stadium durch serielle Organisation in eine musikalische Form gebracht wird, den Wesenszug des Aleatorischen weiter in sich trägt. Generalisiert man diese Überlegung, so ließe sich sagen, dass bei der Analyse von aleatorisch generierter Musik Aussagen über tatsächliche Organisationsergebnisse und deren Ausprägungen im Werk a priori nicht erkenntnisfördernd sind. Aleatorik lässt sich nur im Moment des ‚Würfelns‘ beobachten, am endgültigen Ergebnis lässt sie sich nur vermuten. Das Würfeln genügt sich selbst, hingegen muss die musikalische Sinnhaftigkeit durch den kompositorischen Eingriff in anderer Instanz geleistet werden, beispielsweise durch die ‚Setzung des Spielrahmens‘, durch den prädeterminierten und immanenten Gehalt des Materials oder durch die gezielte Steuerung und Begrenzung von aleatorischen Prozessen. Bei näherer Betrachtung von Kagels Werken lassen sich jedoch musikalische Gestalten ausmachen, die nicht auf einer rein aleatorischen Genese des dem musikalischen Material zugrunde liegenden Zahlenmaterials fußen. So finden sich, neben aleatorisch gestalteten Abschnitten, in sich geschlossenen, permutierenden Klangverläufen und ähnlichem tatsächlich auch seriell gestaltete Passagen in Form von Elf- und Zwölftonreihen und -feldern, die auf das Wirken eines ‚Reihenzwangs‘ hindeuten. Bei Anagrama sind diese noch in die 390 391

Kagel/Klüppelholz, …./1991, S. 34. Vgl. hierzu Reichs ausführliche Schilderung in: Sankt-Bach-Passion, S. 49-54.

190

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

Klangsprachlichkeit eingebunden, bei den seriell-tonalen Werken fungieren diese als ‚Kontext‘. Neben den rein technischen Aspekten des Findens und Erstellens von Zahlenreihen geht Kagel im Interview auch auf andere kompositorische Aspekte wie die allgemeine Formgebung, seine Vorstellung von ‚Rhetorik‘ und Begriffe wie das ‚Timing‘, die Montage sowie die Allusion und Illusion ein, die die seriellen und andere Verfahren des Komponierens überschatten. Diese verschiedenen Aspekte decken verschiedene ‚Stufen‘ des Komponierens ab und stammen aus verschiedenen Kontexten – zum Beispiel der Affektenlehre, dem Surrealismus und allgemeinen Auffassungen darüber, was ‚musikalisch‘ ist und was nicht – und lassen sich daher nicht in eine konsequente Systematik bringen. In der Weise, dass die Dodekaphonie und die Serialität nicht allein Techniken, sondern auch Poetiken sind, ist auch Kagels so genannte Serielle Tonalität insofern als Poetik zu verstehen, als sie sich verschiedenen ästhetischen Aspekten der Moderne sperrt und andere aufnimmt und weiterführt.

3.2

Kagels Auseinandersetzung mit der Wiener Schule

Bemerkenswert an Kagels Argumentation ist, dass er auch diejenigen Aspekte, die seine Serielle Tonalität vom Phänomen her vom Serialismus trennen, mit Hilfe des Serialismus beziehungsweise der Dodekaphonie begründet. Vermutlich lernte Kagel die Schriften Theodor W. Adornos über Heinz-Klaus Metzger kennen, der mit seinem auf Adornos Vorwurf des „Alterns einer Neuen Musik“ antwortenden Beitrag „Über das Altern der Philosophie der Neuen Musik“392 direkt zum ästhetischen Diskurs über die Moderne beigetragen hat.393 In diesem Licht betrachtet sind Kagels Beobachtungen über Schönberg problematisch, da sich in ihnen die Reflexionen über die Wiener Schule wie auch die Dodekaphonie mit jenen über die Zeitgenossen Kagels vermischt. Und es ist an manchen Stellen zu fragen, ob Kagel die ästhetischen Probleme der nachfolgenden, seriell komponierenden Generation, die Adorno kritisiert, nicht auf Schönberg überträgt. Generell ist hinsichtlich der folgenden Überlegungen anzumerken, dass Kagel die Anschauung, der Serialismus wäre in der Lage, eine autonome Kunst zu schaffen, also eine Kunst, die sich in ihrer Eigengesetzlichkeit so weit begründet, dass sie nicht von ihrer Kommunizierbarkeit abhängig ist, grundsätzlich fremd ist. Hingegen definiert Kagel seine Musik wie jede Musik als eine Form von Kommunikation. Unter dieses 392

393

Heinz-Klaus Metzger, „Das Altern der Philosophie der Neuen Musik“, zum ersten Mal erschienen in: Junge Komponisten, Wien 1958 (= Die Reihe, hg. v. Herbert Eimert unter Mitarbeit von Karlheinz Stockhausen, H. 4), S. 64-80. Wahrscheinlich pflegte Kagel persönlichen Kontakt mit Adorno. Unter anderem erwog er, ihn als Interviewpartner für seinem Film Ludwig van heranzuziehen. (Siehe frühe Skizzen zu Ludwig van, in: Kasten III. Wegen Adornos plötzlichen Todes konnte es zu dieser Zusammenarbeit aber nicht kommen.) Inwieweit Adorno umgekehrt Kagels Werke rezipiert hat, ist jedoch fraglich: Die wenigen Passagen, in denen Kagel erwähnt wird, beziehen sich auf Fragen zur sog. Neuen Oper (AdornoGS, Bd. 19, S. 556) oder auf filmische Arbeiten wie Kagels Antithese (AdornoGS, Bd. 10.1, S. 358; Bd. 19, S 563, 570).

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Paradigma der Kommunikation fällt bei ihm auch die Musik, die diesen Anspruch dezidiert nicht hat.394 So beschreibt er das Dilemma der Dodekaphonie als ein Missverständnis in ihren Prämissen: „Letzten Endes ist die Dodekaphonie das Ineinandergreifen von Kompositionsmethode und normativer Musiksprache. Sie generiert Expressionismus, auch wenn man etwas anderes sagen will.“395 Er begründet diese Beobachtung im Falle von dodekaphoner Melodik, mit der „Gleichstellung von Konsonanz und Dissonanz“, so dass „statistisch gesehen [...] die Dissonanzen die Oberhand“ gewännen, da sie mechanisch erzeugt würden. 396 Die Reihe impliziere bereits einen Affekt. Sie sei, wenn sie nach Schönbergs Vorbild geformt sei, also wenn kleinschrittige und konsonante Intervalle vermieden und Intervallsprünge und Dissonanzen bevorzugt werden, immer auch unfreiwillige Expression. 397 Die Mechanisierung des Affekts und generell der – so Kagel – „Musiksprache“ wäre dem nach hervorgerufen durch das Überhandnehmen der Dissonanz im Harmonischen wie im Melodischen. Diese Expression, ob sprachähnlich oder nicht, ist nach Adorno aber genau das, was die Wiener Schule erreichen wollte. Das Problem der Moderne ist nach Adorno aller dings, dass in der Neuen Musik sogar der expressive Anteil, in seinen Worten der ‚Aus druck‘, der Musik verloren gehe, weil sich die Aussagekraft der Dissonanz durch ihren formalisierten Gebrauch abnutze.398 Was macht aber für Adorno diese Fähigkeit der Musik zu einer „Musiksprache“ aus? Das Vorhandensein einer Musiksprache ließe sich an dem folgerichtigen Ineinanderwirken von musikalischen Abläufen nach den unausgesprochenen Regeln und Konventionen musikalischer Rhetorik, Gestik, Syntax, Struktur, Harmonik und Form erkennen. Nach Adorno ist die Musiksprache jedoch substantiell mit dem Schicksal des Subjekts und seiner Ausdrucksfähigkeit verbunden: „in der Tat ist jede Regung des Subjekts in der 394

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396 397

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Er setzt dennoch kompositorische Absicht und ästhetische Wirkung nicht gleich. So sagt er zur Moderne der 1960er Jahre: „Es wäre naiv zu behaupten, daß Musik, die sich abriegelt, kommunikativ sein will.“ (Kagel/Klüppelholz, Ein Lufthauch der Musikgeschichte, S. 6). Kagel/Klüppelholz, …./1991, S. 46. Insofern sieht Kagel die Dodekaphonie im Gefolge des Expressionismus. Vgl. hierzu auch Michael von Troschke, Der Begriff „Expressionismus“ in der Musikliteratur des 20. Jahrhunderts, Pfaffenweiler (= Musikwissenschaftliche Studien, hg. v. Hans Heinrich Eggebrecht, Bd. 5). Kagel/Klüppelholz, …./1991, S. 46. Von einer stilistischen Dogmatik ist in Schönbergs Schriften hingegen wenig zu finden: Musikalischer Ausdruck, der durch die Emanzipation der Dissonanz erzeugt wird, ergebe sich bei richtiger Anwendung der Methode der Zwölftontechnik von selbst. (Vgl. auch Abel, Die Musikästhetik der Klassischen Moderne. Thomas Mann – Theodor W. Adorno – Arnold Schönberg , München 2003, S. 107109.) Schönberg weist in seinem Aufsatz Komposition mit zwölf Tönen lediglich darauf hin, dass Oktavverdoppelungen und Tonwiederholungen vermieden und die Zwölftönigkeit der Reihe gewährleistet werden sollen und dass lediglich eine Reihe pro Werk genutzt werden soll. So beobachtet Adorno am (nicht dodekaphonen!) Streichquartett op. 5 von Anton Webern noch die volle Bewusstheit des Komponisten: „Um jede dieser Dissonanzen liegt ein Schauer. Sie werden als etwas Ungeheuerliches gefühlt und sind vom Autor nur mit Furcht und Zittern eingeführt. Bis in die Faktur kann man sie verfolgen, wie behutsam er sie anfaßt. Zögernd nur trennt er [Webern] sich von jedem solchen Klang, einen jeglichen hält er fest, bis seine Ausdrucksvaleurs ausgeschöpft sind.“ (Adorno, Das Altern der Neuen Musik, S. 148.)

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Musik zugleich eine der musikalischen Sprache“399. In dem Moment, wo eine ‚scheinbare‘ Objektivität erreicht wird, also eine Objektivität, der nicht ein Identifikationsprozess des Subjekts vorangeht, wird die Einflussnahme des Subjekts von dieser ‚falschen‘ Objektivität ausgelöscht und die Sprachfähigkeit von Musik endet. Während für Adorno der Aspekt der Sprachähnlichkeit von Musik für ihre Fähigkeit zur Kommunikation nicht unbedingt ausschlaggebend ist, ist Kagels Argumentation von einer auf der traditionellen Musikrhetorik basierenden Vorstellung der Sprachähnlichkeit von Musik geprägt. Insofern ließe sich Adornos Vorstellung von Musik als eine beschreiben, die eine von der Sprachähnlichkeit unabhängige Sprachfähigkeit von Musik sucht. Nach Adorno ist die Sprachfähigkeit von Musik an die Bedingung gebunden, dass ein künstlerisches beziehungsweise kompositorisches Subjekt vorhanden ist, das sich im Werk äußert.400 Kagel hingegen siedelt das Problem der fehlenden, oder auch nur unangemessenen, Musiksprache von Werken der Moderne nicht nur in den Kompositionen an, die auf Reihentechnik basieren oder auf ästhetischen Prämissen des Expressionismus begründet sind. Das Problem der Musiksprachlichkeit ist seines Erachtens bei aller atonalen Musik gegenwärtig.401 Neben dieser grundsätzlichen Kritik an Adornos Vorstellung, dass Musik, und damit auch deren künstlerisches oder kompositorisches Subjekt, sich äußern könne, reflektiert Kagel die eigentümliche Funktion des Subjekts in diesem Wirkungskreislauf grundsätzlich anders. Adornos Ideal einer zeitgemäßen Musik ist bekanntlich das eines ‚integralen Kunstwerks‘, in dem die ‚Ordnung‘ durch musikalische Notwendigkeit und Folgerichtigkeit zu einer immanenten Sinnhaftigkeit gebracht wird: Der Zweck, für den die technischen Elemente bemüht werden, ist nicht die reale Naturbeherrschung, sondern die integrale und durchsichtige Herstellung eines Sinnzusammenhanges. Wo solche Transparenz nichts durchscheinen läßt, wo sie nicht Medium des künstlerischen Gehalts, sondern Selbstzweck wird, verliert sie ihr Lebensrecht.402

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Ebd., S. 151. [Kursiva vom Verf.] „Sinnvolle Musik muß nicht ausdrucksvoll sein. Ausdruck, das Mimetische in der Musik, das, dem nach Eimerts Wendung die Musik ‚ähnelt‘, ist nur ein Moment ihres Sinns, gespannt gegen ein ande res, das von Konstruktion und Logizität.“ Theodor W. Adorno: „Kriterien der neuen Musik“ (ursprünglich Vorlesung in Kranichstein, 1957), in: AdornoGS, Bd. 16, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan Buck-Morss u. Klaus Schulz, S. 170-228, hier S. 188-189. Beispielsweise erkennt er die Gefahr der leeren Form auch in der scheinbar diametral entgegenge setzten Musikausübung im Free Jazz. So bemängelt er, wenn das für den Free Jazz unumgängliche, Form und Musiksprache konstituierende Moment der Wiederholung in die Musiksprache Eingang findet: „Mich stört, wenn die Wiederholung keinen sprachlichen Charakter hat, sondern einen rein rhetorischen. Das bedeutet: Wir negieren in der Sprache eine falsche Rhetorik, eine Rhetorik, die eine sehr hohe Redundanz hat, und akzeptieren das in musikalischen Formen, wo dies am ehesten verschwinden müßte.“ (Hans Kumpf, „Auftragskomposition für eine Glastrompete. Witten, Mauricio Kagel und ein Gespräch über Jazz. Uraufführung von Blue’s Blue“, in: NMZ 28 (1979), Nr. 6/7, S. 16.) Adorno, Das Altern der Neuen Musik, S. 158.

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Als diese Gedankengänge implizit weiterführend und differenzierend lässt sich Kagels folgende Anmerkung über die Formgebung von Schlüssen verstehen, in der seines Erachtens die Problematik der Folgerichtigkeit und Notwendigkeit offen zutage liegt: Tonale Musikformen haben den Nachdruck im letzten Viertel des Stückes begünstigt; bei jeder Coda winken die Hände, lange bevor der Schlußakkord ertönt. Es entstehen erkennbare Zeichen des Abschieds, weil Gestus, Musiksprache und Struktur übereinstimmen. Im atonalen Zeitalter dagegen fehlen solche dienlichen Symbole, und die Komponisten haben sich die Forderung gestellt, andere Merkmale zu entwickeln, um den Hörer die Notwendigkeit des Schlusses plausibel zu machen. [...] Es gibt zwar Modelle, um eine Form abzuschließen, sie werden jedoch nur glaubhaft als logisches Resultat eines Prozesses. Gestaltung und Notwendigkeit sind selten so voneinander abhängig wie am Schluß eines Stückes. [...] Die Gestaltung des Endes ist ein Problem der Rhetorik.403

Es ist hierbei zu beachten, dass Kagel insgeheim zwischen innermusikalischer Logik, die, (frei) nach Schönberg, werkimmanent ist, und der Plausibilität oder Überzeugungskraft, die das Ziel des Rhetors ist, unterscheidet. Während für Schönberg (und auch für Adorno) die musikalische Logik dem Werk idealiter innewohnt und dem Hörer die Aufgabe zuteil wird, diese zu erkennen und in ein Sinnhaftes zu verwandeln, steht nach Kagel der Komponist in der Schuld, glaubhaft zu sein, ob seine Musik nun in einer Weise ‚sinnvoll‘ ist oder nicht. Kagel fasst Rhetorik im antiken Sinne als Kunst der Überzeugung auf, sie hat nicht die Aufgabe, Wahrheit zu vermitteln (siehe auch Kap. II.2).404 Dem ‚rhetorisch argumentierenden‘ Komponisten steht es demnach frei, welcher musi kalischen Mittel er sich bedienen kann, er muss sich nicht auf eine Technik oder ein musikalisches Idiom beschränken. Die Auswahlmöglichkeiten werden hierbei von den Gesetzmäßigkeiten der Rhetorik bestimmt, da diese nach Eco im Allgemeinen „zwischen Redundanz und Information“ schwankt. Er beschreibt dies folgendermaßen: – Einerseits neigt die Rhetorik dazu, die Aufmerksamkeit auf eine Rede zu fixieren, die auf ungewohnte (informative) Art von etwas überzeugen will, was der Zuhörer noch nicht wußte. – Andererseits erreicht sie dies Ziel dadurch, daß sie von etwas ausgeht, was der Hörer schon weiß und will, und daß sie zu beweisen versucht, wie die Schlußfolgerungen sich ganz natürlich daraus ableiten. Aber um diese merkwürdige Schwankung zwischen Redundanz und Information zu klären, muß man zwei Bedeutungen des Wortes „Rhetorik“ unterscheiden: A) Die Rhetorik als generative Technik, d.h. als Besitz von Argumentationsmechanismen, durch die man persuasive Argumentationen erzeugen kann, die auf einer gemäßigten Dialektik zwischen Information und Redundanz beruhen. B) Die Rhetorik als Schatz von Argumentationstechniken, die schon vom Gemeinwesen erprobt und assimiliert sind. In dieser letzteren Bedeutung ist die Rhetorik eine Sammlung von codifizierten Lösungen, durch deren Gebrauch die Persuasion mit einer abschließenden Redundanz die Codes wieder bestätigt, von denen sie ausgeht.405 403 404

405

Kagel/Klüppelholz, …./1991, S. 20-21. Quintillian merkt an, dass es wünschenswert ist, wenn ein Rhetor ein ehrlicher Mann ist. Eine Grundbedingung für den Erfolg einer rhetorischen Ausbildung sei diese Ehrlichkeit jedoch nicht, „denn wenn die Rhetorik die Wissenschaft ist, gut zu reden, so ist ihr Zweck und höchstes Ziel, gut zu reden.“ Marcus Fabius Quintillian, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hg. und übers. v. Helmut Rahn, Darmstadt 1995 (= Texte zur Forschung, Bd. 2), 1. Teil, S. 243. Eco, Einführung in die Semiotik, S. 184-185. Nach Eco ist man schnell geneigt, „die Rhetorik mit der Bedeutung B gleichzusetzen. Wir bezeichnen nämlich als rhetorisch eine Argumentation, die schon

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Übertragen auf den Bereich der Musik ist ein Komponist, der in seiner Musik rhetorisch argumentiert, demnach verpflichtet, auf diese Sammlung von bereits dem Hörer bekannten „codifizierten Lösungen“ zurückzugreifen, und auf Grundlage und mit Hilfe dieser Lösungen dem Hörer „Informationen“ zu geben, also das, „was der Zuhörer noch nicht weiß“. Der Komponist kann diesen Kommunikationsprozess zwar intendieren, aber das Funktionieren dieses komplexen Vorganges ist auch vom Hörer abhängig. Kagel ist sich dieser Vorgänge bewusst, wenn er über Liturgien406 urteilt: „Die Musik dieses Stückes drückt aus, was der Hörer schon kennt oder erahnt. Täuschung und Illusion spielen sich aber heftiger in seinem Kopf ab als ausdrücklich in meiner Partitur.“ 407 Neben der unfreiwilligen Expressivität der Musiksprache und dem der Komposition innewohnenden Wahrheitsanspruch kritisiert Kagel an der Dodekaphonie den Anspruch des dodekaphon arbeitenden Komponisten, der sich unter anderem in Schönbergs Aussage findet: Die Einführung meiner Methode, mit zwölf Tönen zu komponieren, erleichtert das Komponieren nicht; im Gegenteil, sie erschwert es. [...] Die Einschränkungen, die der Zwang, nur eine Reihe in einer Komposition zu verwenden, dem Komponisten auferlegt, sind so streng, daß sie nur von einer Phantasie, die eine Vielzahl von Abenteuern bestanden hat, überwunden werden können. Diese Methode schenkt nichts; aber sie nimmt viel.408

Der dem Zwang der Reihe übergeordnete auktoriale Anspruch – und dessen inhärente Annahme von der Subjektivität des Schöpfenden – wirkt sich laut Kagel aber auch auf die Reihenfindung aus und ist zugleich deren Problem: „Klassische Zwölftonreihen wurden so konstruiert, daß gewünschte Akkordzusammensetzungen im vorhinein garantiert waren.“409 Die daraus entstehende Harmonik ist demnach nichts anderes als eine ‚abgesicherte‘ Subjektivität, der das Objektive bereits eingeschrieben ist, und die Kagel in die sem Sinne als „Standardharmonik“ bezeichnet: „Diese Standardharmonik übertrug sich später von der Dodekaphonie auf die serielle Musik. In meinem privaten Sprachgebrauch nannte ich sie ‚Präharmonik‘, weil im voraus gefertigt, also präfabriziert.“ 410 Um Ecos Überlegung aufzunehmen, wäre die Information, die Schönberg noch meinte vermitteln zu können, in den Bereich der Redundanz gefallen. Wobei die vorläufige Absprache zwischen Rhetor und Zuhörer oder deren objektive Voraussetzungen, darüber, was bekannt ist und was nicht, sich auf beide Bereiche, den der poesis und den der aisthesis, auswirkt.

406 407 408 409 410

fertige Phrasen und erworbene Meinungen, schon abgedroschene und verbrauchte Appelle ans Gefühl verwendet, die auf unbedarfte Hörer noch immer wirken. Und zwar weil eine jahrhundertealte Tradition von rhetorischen Handbüchern, immer wenn sie einen Erzeugungsmechanismus definierte (Bedeutung A), diesen anhand einer versteinerten fossilen Lösung (Bedeutung B) exemplifiziert.“ (Ebd. S. 185) Liturgien für Soli, Doppelchor und großes Orchester (1989/90) Kagel/Klüppelholz, ..../1991, S. 33. Schönberg, Komposition mit zwölf Tönen, S. 79. Kagel nutzt in seinen seriell-tonalen Werken meistens mehrere Reihen, viele davon treten – in ihrer Ausprägung als Tonreihen – nur jeweils einmal auf. Kagel/Klüppelholz, …./1991, S. 26. Ebd.

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Während Adorno das integrale Kunstwerk in den Kompositionen der Wiener Schule gegeben sah und damit in der Lage war, dessen Fehlen in der Neuen Musik der späten 1950er Jahre zu kritisieren, sieht Kagel das Ideal des integralen Kunstwerks bereits in der Wiener Schule kaum erfüllt. Ein Komponist der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, der das Projekt der Avantgarde weiterführen will, kann dieser Argumentation zufolge die Musiksprache und Kompositionstechnik der Dodekaphonie nicht ohne weiteres adaptieren, sondern muss sie reflektieren.

3.3

Zur Reetablierung der Konsonanz

Die unreflektierte Verwendung von Dissonanzen in der musikalischen Moderne mag für Kagel ein wesentlicher Impuls gewesen sein, ab den 1970ern vermehrt Werke zu schreiben, in denen er konsonante Klänge verwendet. So sagt er 1991 rückblickend: Mein Verfahren der seriellen Tonalität hat mit der Rückkehr zu einer sentimental verstandenen Tonalität oder postmodernen Beliebigkeit genausowenig zu tun wie mit der Idee, die rechtmäßigen Erben und Dauerpächter der Zukunft wären Serialität, Zufall, Improvisation, Stilcollage oder Computermusik. Es bleibt alles im Fluss, und nichts ist voraussehbar. Tatsache ist, daß die Dissonanz in den letzten zwei Jahrzehnten Federn gelassen hat. Als Pendant zum Diktum von Schönberg darf ich heute behaupten: Die Emanzipation der Konsonanz findet nun statt. Gut so.411

Zudem erkennt er die latente Intertextualität der Tonalität, die sich infolge des Wahrheitsanspruchs des atonalen Komponierens und dessen emphatischer Abgrenzungsbestrebung zwangsläufig gebildet hat: Wir [d.h. Komponisten wie Rezipienten] verfügen mittlerweile über ein solches Reservoir von musikalischen Sprachen, daß Konsonanz und Dissonanz keine wertungsfreien Größen darstellen können.412

Die Dodekaphonie habe die Dissonanz, welche in tonalitätsgebundener Musik die Aufgabe des Affekts erfüllt habe, zu einem konstituierenden Intervall gemacht, und damit einhergehend ihren Ausdruckswert nivelliert: Die Dodekaphonie baute auf der Kongruenz und Reinheit in der Anwendung des Prinzips auf: Das ist protestantischen Ursprungs. Nicht grundlos hatten Komponisten, die eine Unterlassung begangen hatten (die den elften durch den dritten Ton auswechselten, wenn der erste nicht paßte...), ein schlechtes Gewissen. Jede unerlaubte Wiederholung war Verrat am System. Hingegen ist die Tonalität mit dem Katholizismus vergleichbar: die Ausnahme – der ‚Frembdton‘ – wird als Affekt mit einbezogen und sofort verarbeitet. 413

411 412 413

Kagel/Klüppelholz, …./1991, S. 24-25. Ebd., S. 29. Ergänzungen von KH. Ebd.

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Nach Kagel löst diese Etablierung und Verwendung der Dissonanz als ‚wertfreie Größe‘ eine immanente ‚Affektiertheit‘ aus, die sich in einer unfreiwilligen oder auch leeren Rhetorik des Expressionismus äußert. Dem von Kagel konstatierten inhärenten Widerspruch der Dodekaphonie lässt sich seines Erachtens nur durch die Reetablierung der Konsonanz entgegenwirken, deren latente Intertextualität – zum einen durch ihren Verweischarakter zur Tonalität, zum anderen durch ihren vergleichsweise niedrigen Affektgehalt – es auszunutzen gilt. Das Negieren dieser historisch etablierten Gesetzmäßigkeiten der Tonalität von Seiten der seriellen Komponisten der 1950er Jahre konstatiert bereits Adorno als grundsätzliches Problem der ‚scheinbaren Objektivität‘: Die Willkür jener Gesetzlichkeit, der bloße Schein der Objektivität in einer dekretierten Systematik wird aber schon offenbar in der Unangemessenheit der Regeln an Strukturverhältnisse des musikalischen Verlaufs, die sie nicht aus der Welt zu schaffen vermögen.414

Eine Überwindung jener, nach Adorno falsch verstandenen, Objektivität liegt nach Kagel demnach im Erkennen ihrer Scheinbarkeit und in der kompositorischen Auseinandersetzung mit ihr. Wenn man sich nicht mit den ästhetischen Auswirkungen der Dodekaphonie und der Serialität auseinandersetzt, kommt dies nach Kagel der kompositorischen Beliebigkeit gleich: Gerade weil Dodekaphonie und Serialität ungewollt eine Nivellierung der harmonischen Spannungen zugunsten der Akkorddichte (oder Tonanzahl) hervorbrachten, war ein Entgegenwirken wichtig. Es wurde mir klar, daß eine Auseinandersetzung mit einer Tonalität neuen Sinnes nur möglich sein konnte, wenn man sich zugleich von Tabus befreite. Also: Ein neuer Anfang mußte auch bekanntes Material einbeziehen. Bestimmte Akkordkategorien auszuschließen, wäre ein Zeichen der Beliebigkeit unter dem Vorwand des ästhetischen Vorbehaltes.415

Insofern lässt sich Kagels kompositorischer Ansatz als eine künstlerische Weiterführung von Adornos ästhetischer Dialektik verstehen – wahrlich ein im besten Sinne heroischtragisches Unterfangen, da ihm die Unmöglichkeit, dies überhaupt zu bewerkstelligen, inhärent eingeschrieben ist. Ästhetische Vorbehalte gegenüber der Tonalität weist Kagel weit von sich, wenn er über den Begriff der Seriellen Tonalität meditiert: Ich habe Tonalität nie ausdrücklich abgelehnt oder bejaht. Das, was tonal klingt in meinen Wer ken der letzten Jahre, ist eigentlich eine Art Tonalität ohne Tonika oder wenn Sie wollen, Meta tonalität. Atonale Tonalität wäre auch eine annehmbare Definition. Was ich ununterbrochen suche und auch hier entwickelt habe, ist eine Tonalität des Zusammenhangs ohne tonikale Schwer punkte. Es ist schwer zu ermessen wo das Regressive oder das Progressive in der Verwendung tonaler Elemente liegt. Wir wissen wie relativ der Begriff Fortschritt ist und deswegen kann Regressivität ebenso relativ sein. Vor einigen Jahren habe ich von einer ‚Tonalitätsgestörten Tonalität‘ gesprochen.416

Das ästhetische Resultat dieser „Tonalität ohne Tonika“ ist eine ständige Verunsicherung des Hörers, die durch eine Klanglichkeit bewirkt wird, die in ihrer – um Kagels Formulierung aufzunehmen – „Zentrifugalkraft“ weder mit der Musik Wagners noch mit der Debussys vergleichbar ist. Eher bedient sie sich – auch durch Techniken der Montage 414 415 416

Adorno, Das Altern der Neuen Musik, S. 151. Kagel/Klüppelholz, …./1991, S. 32. Kagel u. Wolfgang Burde, „‚Aus Deutschland‘ – ein Gespräch mit Mauricio Kagel über seine Lieder-Oper“, in: NZfM 142 (1981), S. 366-369, hier S. 368.

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und Collage – dem surrealistischen dépaysement, der ‚Entheimatung‘ und grundsätzlichen Verunsicherung von unmittelbaren Wahrnehmungen. Nun sind in den drei Vorbemerkungen über Kagels Agens zur Erfindung der Seriellen Tonalität bereits einiges gesagt, die Analysewerkzeuge für eine so beschriebene Kompositionstechnik liegen griffbereit in Händen. Unter anderem lassen sich die Reihenorganisation des tonalen Materials und das dadurch geschaffene Spannungsfeld ihrer ästhetisch sich diametral verhaltenden Wirkungen in Hinsicht auf die musikalische Rhetorik und die musikalische Immanenz untersuchen. Die Technik der Seriellen Tonalität ist jedoch ein Konglomerat von verschiedenen Techniken oder, in Kagels Worten, „ein Bündel an Kompositionstechniken“417, das unter anderem die Aleatorik und das Spiel mit Symme417

Kagel/Klüppelholz, Lufthauch der Musikgeschichte, S.4. Wieland Reich bezeichnet die Serielle Tonalität als ein übergeordnetes „Kompositionsprogramm“, aus dem sich – je nach Werk und dessen kompositorischer Problemstellung – verschiedene „Kompositionstechniken“ ableiten lassen. Kagel spricht selbst, und interessanterweise bezüglich Anagrama, von „Kompositionsmethoden“. Reich begründet seinen Begriff folgendermaßen (Sankt-Bach-Passion, S. 18): „Die Bezeichnung ‚Kompositionsprogramm‘ wurde gewählt, weil die ‚Serielle Tonalität‘ ein theoretisches Konzept für eine atonale Musik aus tonalen Elementen auf numerologischer Basis ist, das erst in einem Werk seine individuelle Ausprägung in Form einer werkspezifischen Harmonik, Melodik und Rhythmik findet. Das Repertoire der Methoden zur Erzeugung der seriell-tonalen Musik ist a priori offen, variabel und von den kompositorischen Intentionen abhängig – wofür gerade die Sankt-Bach-Passion mit ihren harmonischen B-A-C-H-Formeln sowie den numerologischen Ableitungen aus dem Namen des Protagonisten ein signifikantes Beispiel ist.“ Nach meiner Einsicht der Quellen erscheint es jedoch m. E. problematisch, dem von Kagel hervorgehobenen Arbeitsaufwand für die „harmonischen B-A-C-H-Formeln“ – d.h. den Permutationen des Akkordmaterials aus der Viertonfolge b-a-c-h – Glauben zu schenken, und ihn als einen Großteil dieses ‚Kompositionsprogramms‘ zu bewerten. Reich vollzieht in einer beispiellosen Fleißarbeit von den 6912 möglichen Bach-Formeln, die Kagel im Interview mit Klüppelholz nennt („Über ‚Sankt-Bach-Passion‘. Gespräch mit Werner Klüppelholz“, in: Mauricio Kagel, Worte über Musik, Gespräche. Aufsätze. Reden. Hörspiele, München u. Mainz 1991, S. 48-61), 576 harmonische Bach-Formeln nach. Nach einer kursorischen Durchsicht der Quellen scheinen gerade die von Wieland Reich selbstständig gefundenen und bezeichneten Techniken – und nicht unbedingt diejenigen, die Kagel in seinem Interview mit Klüppelholz hervorhebt – einen Großteil der Komposition auszumachen: Für die Genese der Akkorde findet sich lediglich eine (!) Permutationstabelle mit 264 verzeichneten Möglichkeiten, die jedoch nur unvollständig und zum Ende hin eher nachlässig ausgefüllt wurde. Zudem waren die sich in den Particellskizzen (z. B. in den Skizzen zur „Ouvertüre“, d.i. Nr. 1 und dem „Nekrolog“, Nummern 3, 5, 8, 10, 13 und 14 in durchgehenden Particellskizzen vorliegend) abzeichnenden Zwischenstadien, wie z. B. bereits entwickelte Akkordreihen, nur in wenigen Fällen zu finden. Dagegen sind die Particellskizzen zu den einzelnen Nummern eher von Techniken geprägt, wie sie in den Skizzen zu Osten, Südosten oder zu den Variationen ohne Fuge begegnen – dies gilt auch für die Tonhöhendisposition. Allein das Ausgangsmaterial scheint sich geändert zu haben: Waren es bei den Stücken der Windrose außereuropäische Musiken und bei den Variationen ohne Fuge Musik von Brahms, so sind es bei der Sankt-Bach-Passion die Musik von Bach und der Name „Bach“, die serialisiert und musikalisiert werden. Neben diesen Particellskizzen finden sich bemerkenswerterweise auch relativ viele Skizzen zu den Bereichen der Rhythmik und Periodik. — Warum funktioniert Reichs Analyse auf Basis seiner selbsterstellten Permutationstabellen dennoch? Weil er sich mit dem angenommenen Vorrat von 576 harmonischen B-A-C-H-Formeln dem Zustand der Kontingenz nähert, oder anders gesagt: die Chance, mit Hilfe dieses Vorrats an Formeln auch kompositorische Verfahren beschreiben zu können, die nicht auf diesen Permutationen beruhen, steigt mit wachsender Größe desselben. Kagel schien dieses Problem insgeheim auch

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trien und Asymmetrien beinhaltet, wobei sich besonders die Aleatorik und die Serialität zuerst diametral zueinander verhalten. Diese Dichotomie lässt sich bei Kagel schon in der Werkgenese beobachten. Von Wichtigkeit, und im Weiteren zu untersuchen, ist auch das Verhältnis zwischen der Eigengesetzlichkeit der Kompositionstechnik und der kompositorischen Entscheidung. Es wäre en detail aber auch zu untersuchen, wie und besonders wann die Instanz des Komponisten kompositorische Prozesse initiiert, sie walten lässt und wie und wann er diese Prozesse unterbindet. Insofern ist im Zusammenhang mit der Seriellen Tonalität auch Herbert Eimerts Definition der Serialität grundlegend zu problematisieren, wenn er sagt: Das aus dem Französischen übernommene Wort ‚seriell‘ vermag nur einen allgemeinen Sachverhalt zu umschreiben. Aber es dient, wenn man Wortkonventionen annimmt, im besonderen dazu, die als seriell charakterisierte Reihenmusik von der traditionellen Zwölftonmusik abzuheben. Die serielle Musik dehnt die rationale Kontrolle auf alle musikalischen Elemente aus. Das kann man als ein Zeichen dafür ansehen, daß der Klang in einer vorher noch nicht dagewesenen Weise kompositorisch verfügbar geworden ist; er hält nicht mehr grob in sich zusammen, sondern muß, da er, gleichsam auseinanderstrebend, diese Fähigkeit verloren hat, durch ein dichtes, feingewebtes Netzwerk zusammengehalten werden. Das geschieht durch die seriellen Mittel des Kompositorischen, in denen sich – zum erstenmal seit der Einführung der Zwölftontechnik – ein neuer Status des Komponierens anzeigt.418

Wer oder was übt aber diese „rationale Kontrolle“ aus? Geht sie vom Komponisten aus oder von der Eigengesetzlichkeit des kompositorischen Prozesses? Serielles Komponieren bedeutet doch, poetologisch und ausgehend vom Komponisten betrachtet, dass die rationale Kontrolle an ein System abgegeben wird, welches sich fortan selbst generiert. Folgen wir Kagels weiteren Aussagen in seinem Interview mit Klüppelholz. Dort schildert er, wie er die Ausgangsbasis für den weiteren Kompositionsprozess erstellt: Mitte der 60er Jahre begann ich, mit einem einfachen elektronischen Taschenrechner zu experimentieren. Es ging zunächst darum, Ketten der vier einfachen arithmetischen Operationen zu gewinnen: Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division. Ich war zwar an der praktischen Anwendung der Zahlenkombinationen interessiert, das jeweilige Resultat aber bedeutete konkret nichts. Mir schwebte eine Erweiterung der Reihentechnik durch Koppelung an einen Zufallsgenerator vor, weil mich die Idee störte, Reihen bestünden einzig und allein aus zwölf und nicht aus einer kleineren oder größeren Anzahl von Tönen.419

Mit Hilfe dieser auf „kontemplativen“ oder auch „aleatorischen“ Verfahren gewonnenen Zahlenreihen wird die Vorstellung der totalen rationalen Kontrolle, wie sie Eimert vor-

418 419

als kompositorisches Problem erkannt, wenn auch nicht öffentlich bekundet zu haben. Welchen kompositorischen und musikalischen Gehalt und welchen tatsächlichen Nutzen brächte ihm auch ein sich bis in die Ununterscheidbarkeit bzw. Kontingenz vergrößerter Vorrat an kompositorischem Material? Die Permutationsreihen, die Reich an vielen Stellen der Sankt-Bach-Passion gefunden hat, sind zum großen Teil eher auf verschiedenste Transpositionsverfahren zurückzuführen, die Kagel in den Particellskizzen an den jeweiligen Stellen entwickelt hat – dort jedoch nicht systematisch, son dern fallbezogen. Eimert, Vorwort, S. 7. Kagel/Klüppelholz, …./1991, S. 26.

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schwebt, schon im Ansatz aufgebrochen.420 Reich kommt im Zuge seiner Analyse bezüglich der Frage des Seriellen in der Seriellen Tonalität dann auch auf den ernüchternden Schluss, dass „strenggenommen [...] die Verwendung des Begriffs ‚seriell‘ einzig dadurch gerechtfertigt [ist], daß sämtliche Parameter des musikalischen Satzes durch Zahlenreihungen organisiert werden.“421 Es stellt sich aber die Frage, ob es sich wirklich so verhält. Rufen wir uns Kagels am Anfang des Kapitels zitierte Aussage in Erinnerung: Experimente mit dem für mich zentralen Problem einer ‚atonalen‘ Tonalität auf serieller Grundlage habe ich schon früh gemacht. Was mir vorschwebte, war der Umgang mit tonalen Akkorden jenseits von Schuld und Sühne. Dafür brauchte ich ein Konzept, das mir zugleich eine strenge und flexible Anwendung erlauben sollte. Das theoretische Gerüst ist unkompliziert: Ähnlich wie in der Zwölftontechnik werden Reihen von Dur, Moll, verminderten und übermäßigen Akkorden und die dazugehörigen Umkehrungen einer unendlich fortsetzbaren Tonreihe zugeordnet. Daher fehlt ein Mittelpunkt, der in der tonalen Musik klassischen Zuschnitts zentripetal, als Magnet dient. (Geschichtlich gesehen haben tonale Ausgangspunkte auch zentrifugal gewirkt.)422

Das Wiedereinbringen der Tonalität in Kagels Werk bewirkt aber nicht nur eine Reetablierung der Konsonanz. Mit ihr lassen sich nun auch tonale beziehungsweise modale Kompositionsweisen und Musiksprachen von außereuropäischen Kulturen in das auktorial bestimmte Gefüge der Komposition einbringen. Diese besondere Fähigkeit der Seri ellen Tonalität, nämlich ihre ‚Kompatibilität‘, ist das Moment, welches Kagels interkulturelle Arbeiten wie Die Stücke der Windrose und seine inter-historischen Werke über Brahms, Beethoven, Bach und andere nicht nur stilistisch, sondern auch kompositionstechnisch verbindet. Es ist darüber hinaus zu fragen, welche weiteren Kompositionstechniken sich unter dem Sammelbegriff der Seriellen Tonalität subsummieren ließen. Sind Montage- und die Collageverfahren substantielle Bestandteile der Seriellen Tonalität? Und wie steht es um die Intertextualität, die dieser Kompositionsstrategie innewohnt? Nach Wieland Reich wären beispielsweise Montagetechniken von dem Phänomen der Seriellen Tonalität unabhängig zu beobachten: 420

421 422

Das Zahlenmaterial ist im vorkompositorischen Akt noch nach „unmusikalischen“ Prämissen generiert. So beschreibt Kagel das Erstellen einer Zahlenserie: „Ich stelle zunächst eine Reihe von 200 bis 250 Zahlen auf, ein kontemplativer Ausgangspunkt ohne konkrete Bedeutung.“ Jedoch fügt er hinzu, dass die „thematische Grundidee“ und die Besetzung des Stückes schon vorbestimmt seien (Kagel/Klüppelholz, …./1991, S. 34). Inwieweit diese ‚kontemplativen‘ Reihen tatsächlich einen Einfluss auf das Komponieren Kagels haben, wurde im Laufe der Quelleneinsicht immer fraglicher. Ein beträchtlicher Teil der Tonhöhenorganisation findet sich z. B. bei Osten, Südosten, Variationen ohne Fuge und Les Idées fixes in den Particellskizzen abgehandelt. Skizzenblätter mit rein kontemplativen Zahlenreihen oder ähnlichem waren in den mir eingesehenen Konvoluten nicht zu finden. Dies ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass solches Skizzenmaterial bei anderen Komponisten durchaus en masse zu finden ist, z. B. bei Gérard Griseys Skizzen zu Vortex Temporum (1994) (Sammlung Grisey, Paul Sacher Stiftung): Dort besteht etwa die Hälfte(!) des vorgefundenen Skizzenmaterials aus nicht identifizierbaren Zahlenreihen. Grisey hat über diese Arbeitsweise nie ein öffentliches Wort verloren. (Für diese Hinweise sei Janine Droese herzlich gedankt.) Siehe auch Reich, Sankt-Bach-Passion, S. 16, in Bezug auf das Problem der Serialität, und zwar das Gegensatzpaar Geschlossenheit (seriell) gegen Offenheit (numerologisch, additiv). Kagel/Klüppelholz, …./1991, S. 24-25.

200

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

Dieser Eindruck von untergründiger Kontinuität wird noch untermauert durch den greifbareren zusätzlichen Befund, daß es nach wie vor das Prinzip der Montage ist, auf dem Kagels Kompositionstechnik beruht. Der musikalische Satz ist eine Montage aus Einzelelementen, die unabhängig voneinander nach ‚Zahlenproportionen‘ gestaltet werden.423

Die montierten Teile sind allerdings schon ihrerseits durch „Einschreibungen“ geprägt, und zwar durch ihre Tonalität. Durch die Collage oder Montage werden die Teile zueinander in eine Beziehung gesetzt und entwickeln so ein Netz der Intertextualität – und zwar eine, die ihre Kraft durch die jeweilige Tonalität des montierten Fragments erhält. Insofern lassen sich die Montage- und Collageverfahren nicht als kompositorische Lizenz von der Seriellen Tonalität abkoppeln, zumal diese Verfahren überhaupt auf fast allen Ebenen des kagelschen Komponierens begegnen – wobei es unabhängig ist, ob diese Werke nun inter- oder multimedial und ob mit oder ohne technische Medien kon zipiert sind. Wie am Beispiel des Films Ludwig van und an den Werkstadien Anagramas dargestellt, wird die Montage beziehungsweise die Collage als erstes und letztes Mittel der auktorialen Instanz eingerichtet, um das Kunstwerk grundlegend zu verändern. Damit ist das ‚componere‘ in poetischer Hinsicht die vielleicht einzige Handlungsfreiheit des vollbewussten Ichs.

423

Reich, Sankt-Bach-Passion, S. 18.

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

4

201

Osten: Kontextualität und musikalische Struktur

Um die Verfahrensweise der Seriellen Tonalität zu exemplifizieren, sei zunächst Osten aus Die Stücke der Windrose herangezogen. Dort soll der Frage der Kontextualität und des Wirkungsgefüges zwischen Tonalität und Serialität nachgegangen werden. 424 Abschließend soll an einer Klavierpassage aus Südosten das komplexe Wirkungsgefüge, welches sich in Osten analytisch nachweisen lässt, auch in werkgenetischer Hinsicht schrittweise rekonstruiert werden.

4.1

Serialität und Kontextualität

Bereits in den ersten Takten des Werkes Osten für Salonorchester aus dem Zyklus Die Stücke der Windrose werden die Spannungsmomente der Seriellen Tonalität entfaltet. Insgesamt vier Kontexte treffen hier aufeinander: 1. Schichtungen von Moll-Dreiklängen (Klavier, Harmonium, Violine) gegen 2. eine Bassfigur, den so genannten ummta-Bass (Viola, Violoncello, Kontrabass, unterstützt durch Tamburin und Becken). Im zweiten Takt kommen 3. die Klarinette mit einer klezmerartigen Melodie und 4. eine zusätzliche Violine, der ‚Stehgeiger‘, mit einer zuerst frei und später dodekaphon angelegten Melodie hinzu. Um die Wechselverhältnisse dieser verschiedenen Kontexte zu erörtern, soll zunächst auf die inhärente Zwölftönigkeit sowie Modalität der Reihe des ersten Kontextes, der melodieführenden Dreiklangschichtungen eingegangen werden. Die Schichtungen der Moll-Dreiklänge in Klavier, Harmonium und Violine (ab Takt 5 in Klavier und Violine) basieren auf einer 16-tönigen Reihe, in der der Hauptton a fünfmal erklingt, die restlichen elf Töne, die die Reihe zur Zwölftönigkeit vervollständigen, jeweils einmal. Die Reihe lässt sich aber auch in zwei größere, durch verschiedene Instrumentation abgesetzte Phrasen aufteilen (siehe unteres Notenbeispiel). Die Tonreihe vom ersten bis zum elften Ton bewegt sich in einem plagalen Modus, in dem d als Finalis und a als Repercussio fungieren:

424

Dieses Werk wurde bereits von Björn Heile in seiner Dissertation Transcending Quotation analysiert, dort besonders S. 133-144; ebenso in seinem gleichnamigen Beitrag und in: „Kagel, Bachtin und eine dialogische Theorie musikalischer Intertextualität“, in: Musiktheorie zwischen Historie und Systematik, hg. v. Ludwig Holtmeier u.a., Augsburg 2004, S. 62-69. Zudem ders. „Collage vs. Compositional Control: The Interdependency of Modernist and Postmodernist Approaches in the Work of Mauricio Kagel“, in: Postmodern Music/Postmodern Thought, hg. v. Joseph Auner and Judy Lochhead. New York u. London 2002 (= Studies in Contemporary Music and Culture, Bd. 4), S. 287-299, sowie weitere Aufsätze Heiles über die Stücke der Windrose. Ebenso von Werner Klüppelholz, „Cucina tipica. Die Stücke der Windrose – Zyklus für Salonorchester“ (2000), in: ders., Über Mauricio Kagel, Saarbrücken 2003, S. 48-44.

202

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Abb. 42: Kagel, Osten, Takt 1-7, zwölftönige Reihe der Grundtöne der Moll-Akkorde.

Teilt man die Reihe weiter auf, ergeben sich Ton-Zellen, die für die Klanglichkeit des gesamten Stücks insgesamt konstitutive Bedeutung haben. Die Reihe beginnt in den Takten 1 und 2 mit zwei Zellen, die erste mit a, gis, f mit Rückgang zum a, die zweite mit a, b, des, ebenfalls mit Rückgang zum a. Die erste Zelle besteht aus einem Halbtonschritt und einem übermäßigen Sekundschritt abwärts und einem abschließenden großen Terzsprung auf das a zurück. Die zweite Zelle ist die reale Umkehrung der ersten. Die Beziehung zu dem zweiten und dritten musikalischen Kontext, den klezmer-artig klingenden Melodien der Klarinette und der zusätzlichen Violine (in der Partitur als Stehgeiger bezeichnet) wird unmittelbar über die Intervalle geschaffen, den Halbtonschritt und die übermäßige Sekunde (beziehungsweise bei der zweiten Zelle enharmonisch die kleine Terz). Diese Intervalle sind im weiteren Verlauf des Stückes immer wieder anzutreffen und bilden die das ganze Werk bestimmende Charakteristik des Klezmer. In diesem Fall scheinen die charakteristischen Intervalle des Klezmer aber auch wiederum auf die Reihengestalt zu wirken. Die dritte Zelle (in der Partitur von Takt 3 bis 4, im Notenbeispiel nach der „Umkehrung“) besteht aus den Tönen a, g, fis, es, d, ihre Intervalle, große, kleine und übermäßige Sekunden, sind ebenfalls im Bereich der Klezmer-Melodik anzusiedeln. Zwei wichtige Töne sind hier das es und das d. Das es wird durch einen übermäßigen Sekundschritt erreicht und bildet den Tritonus zu a. Das d beendet die erste Phrase (Takt 43), innerhalb der Reihe ist dies der Ton, der als Grundton oder Finalis fungiert. Insgesamt erinnert die Reihe an Klezmermusik, die Linie läuft über die Reperkussionstöne a hin zu einer phrygischen Klausel es, d. Angenommen, dass Kagel das Ziel hatte, die Vollständigkeit der Dodekaphonie zu gewährleisten, mag die darauf folgende, vierte Zelle unter diesem Blickwinkel zunächst als eine Verlegenheitslösung erscheinen. Nun wird a als Grundton etabliert, erstaunlicherweise über einen Moll-Akkord a, c, e, wobei letzter Ton kurzfristig als Repercussio fungiert. Geschlossen wird die Melodie mit einer Tenorklausel h, a. Die Schlüssigkeit der gesamten Reihe als eigenständige Melodie verblüfft, ebenso die Intervallschritte der einzelnen Zellen und ihre Beziehung zu den entscheidenden klanglichen Ereignissen des gesamten Stückes. Damit ist diese tonale, aber dennoch dodekaphone Reihe ein Paradebeispiel für den doppeldeutigen Charakter der Seriellen Tonalität. Welche Rolle spielt diese Reihe jedoch in Bezug auf die musikalischen Kontexte?

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203

Zuerst ist festzuhalten, dass Kagel eine Reihe geschaffen hat, die durch ihre charakteristischen Sekundschritte ganz eindeutig an etwas erinnert, das gemeinhin mit ‚Klezmer musik‘ assoziiert wird. Zudem erhält die Reihe durch ihre Melodik und ihre Phrasierung eine tonale und formale Eigenständigkeit, wenngleich ‚Tonalität‘ in diesem Zusammenhang im weitesten Sinne als das Zusammenspiel verschiedener Wirkungskräfte (in for maler, harmonischer und melodischer Hinsicht) innerhalb von sich ‚tonal gebenden‘ musikalischen Sinngefügen verstanden werden muss. In diesem Beispiel lässt sich der Kontext ‚Tonalität‘ freilich mit ‚Modus‘ gleichsetzen, insofern, als die Reihe modal gestaltet ist, wobei der Ton a durch seine Häufigkeit als Hauptton der Reihe etabliert wird. Gleichzeitig fungiert dieser Ton in der ersten Phrase als Repercussio in einem plagalen beziehungsweise alteriert-phrygischen Modus auf d. In der letzte Zelle wird der modale Zusammenhang zu einem dorischen mit a als Finalis umgedeutet, wozu auch der Dreiklang a-c-e beiträgt.425 Der zweite Kontext, der so genannte ummta-Bass wird ebenfalls von a-Moll dominiert, der kurze Abschnitt in g-Moll (Takt 4 2-6) erscheint durch seine rhythmische Streckung eher als ‚a-Moll in Zeitlupe‘, von der Klanglichkeit ähnlich des Phänomens, das sich einstellt, wenn man einen Plattenspieler oder ein Bandlaufwerk leicht mit dem Fin ger abbremst. Die oben beschriebene Hauptstimme läuft mit dem rhythmusgebenden Hintergrund tonal anfangs noch zusammen, ihre Akkordschichtungen sind durch die fauxbourdonartige Setzung in Moll-Akkorden im weiteren Verlauf aber nur noch als Linie erfahrbar. Als mit ‚falschen‘ Tönen angereicherte und unabhängig linear verlaufende Klangfläche korrespondiert sie zum dritten und vierten Kontext, den Soloparts der Klarinette und des Stehgeigers. Die Auseinandersetzung mit Musiktraditionen geschieht hier über die Harmonik, sie ist zwar noch als Moll- und Dur-Akkordik zu erkennen, durch die Verarbeitung mittels serieller Techniken wird sie jedoch dekontextualisiert. Kagels Verfremdung des a-MollDreiklangs zu einem quasi ‚in Zeitlupe‘ gespielten g-Moll assoziiert Herangehensweisen, wie man sie aus dem Bereich der elektroakustischen Musik kennt. Dieser Zugang zum Klang lässt sich nur über Kagels Arbeit mit technischen Aufzeichnungs- und Wiedergabemedien herleiten, die Möglichkeit, einen Klang langsamer und somit auch tiefer abzuspielen (stretch und pitch), wird auch in die nicht auf technische Medien angewiesene Instrumentalmusik hineingetragen. (Vergleiche hierzu auch Kapitel III.3 und 4 zur Schallplattenproduktion Ludwig van und zu Exotica.) Das Hereinbrechen von Klangphänomenen, die nur über technische Medien hervorgerufen werden können, in die Instrumentalmusik findet sich beispielsweise auch in Helmut Lachenmanns Streichquartett Nr. 3, Grido (2000-01). Dort werden crescendierende und abrupt abbrechende Klangflächen eingesetzt, um einen Klang zu erzeugen, der an einen herkömmlichen Streicherklang erinnert, der wiederum aufgenommen und umgekehrt (invertiert) abgespielt wird. 425

Die modale Vieldeutigkeit der gesamten Reihe bzw. die Eigenständigkeit der beiden Modi äußert sich m. E. auch am Schluss von Osten, wo die beiden Finalis der Reihe, a und d – nach einem in mehrere Oktavlagen gespielten d (Takt 822) – einmal zusammen im offenen Quint-Quartklang (Takt 824) und danach im Wechsel von Oktavklängen (Takt 83 3: a, 843: d, 853: d, 863 und 892: a) erscheinen, um schließlich auf dem Zweiklang d – a zu enden. Die Finalwirkung des Schlussklangs wird durch den tiefen Basston A des Klaviers und des Kontrabasses untergraben.

204

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

Dieser auf die medientechnische Verarbeitung basierte Zugang stellt sich als ein phäno menologischer, am rein Klanglichen interessierter Ansatz dar. Der Klang wird zum Objekt, mit dem der Komponist als ‚Sammler‘ in Beziehung tritt. So wie in einer Sammlung das Objekt der Begierde nicht mehr in seinem kulturellen, zeitlichen und räumlichen Kontext steht, sondern sich innerhalb der Sammlung und in Beziehung zum Sammler neu mit Bedeutung füllt, so wird dieser Moll-Dreiklang durch die medienbasierte Herangehensweise Kagels mit neuer Bedeutung gefüllt. In diesem Sinne – und hierüber trügt die herkömmliche Notationsweise von Osten hinweg – ist diese Komposition auch als das Resultat einer Übereinanderschichtung von Klangflächen und Kontexten zu verstehen, also einer Arbeitsweise, die sich von einem auf technischen Medien basierenden Verfahren, beispielsweise einer Klangcollage, hinsichtlich der Produktion, Rezeption und Ästhetik nicht wesentlich unterscheidet. Veranschaulicht man die weiteren im Stück verwendeten Reihen, so fällt auf, dass sie größtenteils aus kleinen, großen oder übermäßigen Sekundschritten beziehungsweise kleinen Terzsprüngen bestehen, die in absteigender Linie geführt werden. Zum Beispiel bilden die Grundtöne des so genannten ummta-Basses, des zu Anfang erwähnten zwei ten Kontextes, im letzten Drittel des Werkes eine vollständige Zwölftonreihe:

Abb. 43: Kagel, Osten, Takt 56-86, Zwölftonreihe der Grundtöne der Moll-Akkorde.

Die Suche nach weiteren Reihen, die direkte Entsprechungen oder ‚Ableitungen‘ dieser oder einer anderen zentralen Reihe sein könnten, blieb jedoch ergebnislos. Es scheint eher, dass Kagel die verschiedenen musikalischen Möglichkeiten, eine zwölftönige Reihe mit oben beschriebenen Eigenschaften des Klezmer zu entwickeln, durchspielt und in das musikalische Gefüge einarbeitet. Die Reihen wirken somit über ihre melodische Eigenschaft auf die gesamte Komposition, welche generell von absteigenden Linien geprägt ist. In werkgenetischer Hinsicht bedeutet dieses Übermaß an kleinschrittig absteigenden Reihen, dass Kagel die unendlichen Möglichkeiten der seriellen Reihenfindung über ein Auswahlverfahren eingeschränkt haben muss, das zuerst auf die melodische Qualität von Reihen und weiterhin auf deren Eignung für die Einbindung in den kulturellen Kontext ‚Klezmer‘ zielte. Kagel reduzierte die Möglichkeiten der Bearbeitung der Reihe, in dem er als Intervalle nur die kleine, die große und die übermäßige Sekunde (beziehungsweise kleine Terz) nutzt, welche er vorher aus der Melodik dieser ethnischen Musik gewonnen hat. Diese Intervalle überträgt Kagel nun auf das klangliche Umfeld,

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205

das als Nicht-Klezmer bezeichnet werden kann. Ist dieses Umfeld, oder auch ‚NichtKlezmer‘, nun Kagels Personalstil? Wohl eher nicht, da die Struktur zwar seriell oder permutativ bearbeitet ist, aber auf konstitutiven Elementen der Klezmer-Musik gründet und mit deren musiksprachlichen Eigenheiten operiert. Die der ersten Reihe nachfolgenden Reihen sind hingegen nicht mit einer solchen Prägnanz versehen (kleine Sekunde – übermäßige Sekunde), so dass sie auch einfach ohne den ethnischen Kontext rezipierbar sind, als Reihen, die aus völlig ‚wertfreien‘ Sekundschritten bestehen. Dies könnte sicher auch als eine nicht reflektierte Entschei dung des Autors, also als Personalstil, gedeutet werden. Schließlich lassen sich generell in Kagels Kompositionen der 1980er und 90er Jahre viele Melodien und Phrasen finden, die mit absteigenden Sekundschritten operieren. Man ist geneigt, diese absteigenden Melodien, besonders wenn sie aus kleinen Sekundschritten bestehen, als musikalischen Topos zu deuten, quasi als kagelschen passus duriusculus.426 Vielleicht trägt dieser passus duriusculus auch zur melancholischen und ernsthaften Grundstimmung bei, die in vielen Werken Kagels zu finden ist und der den oftmals vordergründigen Humor begleitet. Bei Osten ist aber zunächst davon auszugehen, dass die seriell bearbeiteten, absteigenden Sekundschritte ein Indiz dafür sind, dass Kagel die konstitutive Kraft der Klezmer-Melodik erkannte und für die Gestaltung des Nicht-Klezmer nutzte. In Osten verwendet Kagel zum einen ‚eindeutige‘ Zitate, also Zitate, die sich eindeutig aus dem Repertoire der Klezmer-Musik herleiten lassen, und Stilzitate. Eindeutige Zitate sind beispielsweise die in den Skizzen von Kagel mit Quellenangaben versehenen Melodien wie die Melodie „Aj, du forst avek“ ab Takt 16 bis 19 (von Klavier und Harmonika jeweils rechte Hand sowie Viola), welche er von Moshe Beregovsky transkribiert hat .427 Als weitere Melodien beziehungsweise Lied- und Tanztypen, die Kagel in seiner Skizze allgemein als „Floskeln“ betitelt, finden sich in den Takten 24 bis 31 (Violinen) ein Frejlexs428 (jedoch nur die Oberstimme vom Original übernommen), in den Takten 32 bis 35 (Klavier, linke Hand sowie Viola) ein Skočne429, ab Takt 40 (Klarinette) ein weiterer Skočne sowie in Takt 49 mit Auftakt eine Phrase aus einer Dojne430. 426

427

428 429 430

Björn Heile ging in seiner Diss. davon aus, dass sich kein Personalstil bei Kagel finden lasse, der sich aus dem rein Klanglichen ergibt. So schreibt er über den Anfang Ostens: „Kagel’s authorial discourse is only perceptible in the way other idioms are represented, stylised and brought into dialogue.“ (Heile, Transcending Quotation, Diss., S. 57.) In seinem neueren Buch Music of Kagel geht er des Öfteren auf die absteigenden Linien ein. Er lokalisiert sie zum ersten Mal in Mirum für Tuba (1965), meines Erachtens ist die chromatisch Linie schon seit Anagrama konstitutiv und begründet sich aus dem Spiel mit der Dodekaphonie. Old Jewish Folk Music. The Collections and Writings of Moshe Beregovsky, hg. u. übers. v. Mark Slobin, Syracuse (NY) 2001, unveränderte Ausg. von: Philadelphia, Univ. of Pennsylvania Press 1982, dort S. 339. Auf dem Skizzenblatt „2“ hat Kagel am oberen Rand „Moshe Beregovski Old Jewish Music“ vermerkt. Im Notentext selbst finden sich folgende Hinweise, die alle mit der Vorlage übereinstimmen: „S. 339 Aj, forst avek“, „S. 459 Freylexs“, „S. 433 Skocne“, „S. 438 Nr. 86 Skočne“ sowie „S. 428 7. System“, sowie in Skizzenblatt „3“: „Nr. 98 | S. 448 [unleserlich, vermutlich: Frejlexs]“. Letz tere Melodie ist jedoch nicht verwendet worden. Oder auch Freylekhs, Frejlexs und Frejlechs, übers. „fröhlich“. Oder auch Skotshne, Tanztyp. Oder auch Doina, moldauisch-bessabarischen Ursprungs.

206

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

Da in der weiteren Erörterung auch die Passage mit dem, durch Verlangsamung (im Original Viertel = 92 M.M., nun Viertel = 66 M.M.) und Alterierung (im Original E-Dur, nun e-Moll) verfremdeten Motiv des Skočne (in der Partitur Takt 40 und 44) herangezogen wird, sei die von Kagel verwendete Originalquelle dargestellt:

Abb. 44: Moshe Beregovsky, Old Jewish Folk Music. The Collections and Writings of Moshe Beregovsky, S. 438.

Kagel verwendet aber auch Stilzitate, die nicht der Klezmermusik angehören, zum Beispiel die Begleitung der letzten Phrase des von Kagel so genannten „Freylexs“431, Takt 28 bis 31 (Diese Begleitung ist von Kagel erfunden und bereits in Particellskizze „2“ zu finden).

Abb. 45: Kagel, Osten, Takt 28-31, Oberstimme aus der Melodie des Frejlexs (Violinen) und Begleitung (Klarinette) (Umschrift aus dem Partiturdruck).

Die Begleitung erinnert durch den charakteristischen Flamencobass (Durchgang g, f, e mit Zielrichtung auf einen dominantischen Klang) eher an spanische Gitarrenmusik, die zusätzlichen Akkordtöne verweisen auf die von der spanischen Gitarrenmusik geprägte, 431

Bei Slobin, Old Jewish Folk Music, S. 459 als „Frejlexs“, dort nur die Melodie, und zwar T. 5-81

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gemäßigte klassische Moderne des 20. Jahrhunderts wie beispielsweise Heitor Villa-Lobos oder auch Emilio Pujol Vilarrubi. Das Irritationsmoment entsteht dadurch, dass die Tonart dieser Begleitung zwar auch a-Moll ist, die Akkordprogression jedoch nicht mit der Melodie übereinstimmt. Es lässt sich spekulieren, ob hier ein Kontext berührt wird, der eher auf Kagels spanisch-argentinische Herkunft verweist, und somit als autobiographische Einlassung des Autors (nicht des Erzählers) zu werten ist. Wie die Skizzen dokumentieren, ist Kagels Zugang zur Volksmusik nicht unmittelbar über den Klang bestimmt, sondern mittelbar über das Medium Buch. Die Authentizität der von Bergerovsky aufgezeichneten Melodien ist schon über die mediale Transforma tion, und zwar über die Transkription des Gehörten in die klassisch-abendländische Musiknotation, nicht gewährleistet. Kagel komplettiert diesen Vorgang des hierbei unbe absichtigten und unvermeidbaren Fehllesens, indem er die in der Literatur vorgefundenen Melodien nochmals verfremdet, zum Beispiel setzt er den bei Slobin vorgefundenen Skočne, der dort noch in E-Dur steht, beim ersten Mal, in Takt 40, in e-Moll und alteriert die letzten fünf Sechzehntel der Phrase. Bemerkenswert ist auch die überdeutlich charakteristische Klezmer-Melodie der Klarinette zu Anfang, Takte 2 bis 15, von Kagel frei erfunden, zumindest hat er sie in der Particellskizze „2“ mit der Anmerkung „Inventado por mio“ festgehalten (siehe fol gende Abbildung). Sie verweist allein durch ihre Rhythmik und ihre Phrasierung (die so genannte jambische Prime) sowie durch ihre Intervallschritte (kleine und übermäßige Sekundschritte herrschen vor) auf die Klezmermusik. Die Stimme der Klarinette erscheint vom musikalischen Umfeld abgelöst. Betrachtet man die tonalen Wirkungszusammenhänge innerhalb der Melodie, so steht die klangliche Eigenschaft der kleinen Sekunde und der übermäßigen Sekunde im Vordergrund. Deutlich wird dies auch in Kagels Skizzenblatt, wo er die Melodie in ihrer Gänze und in einem durchgehenden Schreibvorgang skizziert (hier nur der Anfang).

Abb. 46: Kagel, Osten, linkes oberes Viertel des Skizzenblattes „2“, in Blei, Seitenangabe in rotem Filzstift (hier dicker), in Druckpartitur T. 2-4.

208

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

Über der Melodie vermerkt er die Gerüsttöne der Phrasen (in der Abbildung oberes System, für die erste Phrase hier c2 und d1) sowie die jeweiligen Phrasenlängen (hier sechs Viertel) und Phrasenschlusstöne (hier zwei Viertel, Eintrag „2 1/2“ in der Skizze ver mutlich Schreibfehler). Tonhöhen und Tonlängen unterstehen jedoch keiner seriellen Gesetzmäßigkeit. Vermutlich hat Kagel die Gerüsttöne nachträglich beziehungsweise im Schreibvorgang der Melodie skizziert, um offensichtliche Ähnlichkeiten der Tonhöhen und Längen zwischen den Phrasen zu vermeiden. Teilt man die Phrasen der Takte 2 bis 15 in Viertongruppen auf, so ist in jeder Gruppe stets die kleine Sekunde zugegen. Eine Modalität, wie bei der oben beschriebenen 16tönigen Reihe und ihren Akkordfortschreitungen, scheint hier nicht angestrebt, Reperkussionstöne und Finaltöne werden nicht etabliert. Lediglich in ihrer Gesamtheit sind die Phrasen der Soloklarinette von einer gewissen Regelhaftigkeit getragen: So lassen sich die Anfangstöne der ersten vier Phrasen (c, e, a, f ) in Terzen schichten, die Endtöne der insgesamt sechs Phrasen der Klarinette d, des, g, fis, h und b bilden hingegen jeweils Paare von absteigenden kleinen Sekundschritten. Interessanterweise hat Kagel diese Konstruktion nicht skizziert, so dass anzunehmen ist, dass er sie direkt beim Schreibprozess oder vorher in einer anderen, nicht überlieferten Skizze entwickelt hat. (Für letztere Möglichkeit spricht der Umstand, dass die Töne sich nicht wiederholen.) Kagels Verschränkung und Vermischung simultaner Klangereignisse verschiedener Provinienz sind durch das Collage-Prinzip geprägt. Anders als bei anderen Werken, bei denen Collage-Techniken angewendet werden, entsteht hier jedoch ein homogener Klangeindruck, die Teile scheinen aneinander angeglichen und miteinander verknüpft zu sein. Wie sind die collagierten Teile jedoch tatsächlich miteinander verknüpft, wie wird zwischen den simultanen Ereignissen vermittelt? Im Abschnitt zu Anfang (Takt 2 und folgende) ist es die begleitende Stimme des Stehgeigers, die die verschiedenen Colla ge-Ebenen – die Klezmermelodie und den a-Moll-Hintergrund – auf verschiedene Arten verbindet. Der Stehgeiger spielt erst an die Klezmercharakteristik angelehnte Figuren und endet jeweils immer auf c, knüpft also an den a-Moll-Akkord an. Die Figuration ist dem Klezmer entlehnt, die Finalis ist an die Tonart a-Moll gebunden. Diese vermittelnde Funktion erfährt aber in Takt 6 eine Störung, da die Melodie in Sprüngen und mit einem größeren Ambitus fortfährt. Nach der ersten Phrase endet die Stimme auf es, also im Tritonus-Verhältnis zu a. Diese Figur teilt jedoch in ihrer Struktur eine Eigenschaft mit den beiden anderen Schichten der Collage, der anfänglichen 16tönigen Reihe und dem ummta-Bass, und zwar in der Weise, dass die Töne der Phrase eine dodekaphone Reihe ergeben:

Abb. 47: Kagel, Osten, Takt 6-91, Stehgeiger, Zwölftonreihe (in enger Lage, Umschrift aus dem Partiturdruck).

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

209

Bemerkenswert an dieser Reihe ist, dass sie im Gegensatz zu den anderen in diesem Werk nur einen Sekundschritt enthält. Zudem besitzt die Stimme in ihrer Expressivität schon fast Verweischarakter auf die Dodekaphonie als Stil. Der Stehgeiger hat in dreifacher Hinsicht eine vermittelnde Funktion zwischen dem Topos Klezmer, der Tonalität a-Moll und der Dodekaphonie: in gestischer Hinsicht zwischen den Figurationen des Klezmer und der Expressivität der Dodekaphonie, in tonaler Hinsicht zwischen der Atonalität der Dodekaphonie und den ‚Misstönen‘ des Klezmers, und in struktureller Hinsicht zwischen der Tonalität a-Moll und der und im Stück unterschwellig wirkenden Dodekaphonie. Die Klezmermelodie, bisher von der Klarinette solo vorgetragen, wird ab Takt 11 von der Violine in der großen Unterterz und vom Stehgeiger in der kleinen Oberterz in Parallelbewegung begleitet, so dass sich insgesamt parallel geführte Dur-Akkorde ergeben. Ab Takt 13 kommt das Violoncello hinzu. Die Parallelbewegung wird nun jeweils in Klarinette und Stehgeiger (kleiner Sextabstand) sowie Violine und Violoncello (kleiner Tredezimenabstand) weitergeführt. Die beiden Parallelbewegungen werden im Weiteren aber ineinander verschränkt, und zwar in der Weise, dass der Intervallabstand zwischen dem Stehgeiger und der Violine, um jeweils einen aufsteigenden Halbtonschritt verkleinert wird, und zwar von der Quarte über die große Terz zur kleinen Terz. Setzt man diese Klangbewegungen in eine enge Lage und verankert jeden Klang im Verhältnis zur Tonachse des Stehgeigers, hier angenommen als Liegeton c, würde sich folgendes Schema ergeben:

Abb. 48: Kagel, Osten, Takt 134-15, schematische Klangbewegung von Klar., Stehgeiger, Vl. und Vc. Das Notenbeispiel gibt nur die Intervallverhältnisse wieder, wobei das c als die IntervallAchse des Stehgeigers zu verstehen ist.

Der anfängliche große Septimenakkord (hypothetisch c-e-g-h) wird also chromatisch weitergeführt, und mündet in einem Dur-Moll-Klang (hypothetisch a-c-cis-e). Diese Ausweitung einer Melodie in die Klangfläche ist bereits in Südosten zu finden (siehe Kap. II.4).

210

4.2

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

Vorgeschobene Interkulturalität und inhärente Medienkritik

Betrachtet man die Kontextualität der musikalischen Bausteine, liegt die Frage nahe, warum Kagel in seinen Stücken der Windrose außereuropäische oder auch indigene Musiken so und nicht anders darstellt und verarbeitet. Der Hörer ist sich bei den ersten Takten von Osten sofort bewusst, dass er Musik aus dem Bereich der Klezmermusik hört, obwohl sich die musikalischen Mittel, die den Klezmer hier charakterisieren, an einer Hand abzählen lassen. Das wären: die charakteristischen Sekundschritte, die Artikulation und Phrasierung der Melodie, die Einbettung in einen Moll-klanglichen Zusammenhang und die Instrumentation (Klarinette, so genannter Stehgeiger). Allein das bloße Vorhandensein dieser Charakteristika veranlasst den Zuhörer, die Musik als Klezmer zu erkennen. Betrachtet man jedoch Kagels Verarbeitung dieser Charakteristika, dann wird bewusst, wie deutlich sie sich einer avancierten Kompositionsweise widersetzen können. Indem Kagel mit diesen bruchstückhaften Charakteristika arbeitet, zeigt er, wie wenig es braucht, um die Musik eine ganzen Volksgruppe zu vermitteln. Zugleich entlarvt er Hörgewohnheiten und Vorurteile des durch die Medien geschulten Hörers. Die Strategie, Hörgewohnheiten zu entlarven, unterscheidet das Vorgehen Kagels von anderen musikalischen Verarbeitungen von Volksmusik fundamental, beispielsweise Bartóks an Bauernmusik oder Debussys an Gamelanmusik orientierte Kompositionen. Bartók und Debussy ging es zuerst um das Ausnutzen des immensen Reichtums an Möglichkeiten, Kagel arbeitet aber mit dem fragmentarischen Vorwissen des Hörers, dass durch den täglichen Umgang mit den Massenmedien und der sich daraus eröffnenden Möglichkeit, alles von überall und dies möglichst simultan zu hören, geprägt ist. Kagel thematisiert dies, indem er das durch die Medien beeinflusste Musikhören in seiner Musik selbst bedient, um es schließlich als solches bewusst zu machen. Aus dieser Sicht ist meines Erachtens auch die zunächst naheliegende und oft gestellte Frage, ob bei den Stücken der Windrose eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Musikkulturen stattfindet, müßig. Kagel setzt sich in dem Werk mit den Erwar tungshaltungen, Hörerwartungen und Vorurteilen des mitteleuropäischen Publikums auseinander. Der interkulturelle Anspruch Kagels ist nicht in der Musik zu finden, sondern in der Darstellungsweise dieser Musik, die den Hörer letztendlich vor die Wahl stellt, ob er sich mit dem, was ihm angeboten wird, zufrieden geben will. In diesem Sinne lässt sich Kagels Zyklus auch als ein medienkritisches Werk mit einer didaktischen Grundhaltung verstehen.

4.3

Auflösungen im Korsett

Wie auch bei den Stücken der Windrose herrscht bei den meisten Werken Kagels generell der Eindruck des Rhapsodischen und Passagenhaften vor. Bei Osten entspricht dies auch Kagels Assoziationen, die er im Begleittext zur CD beschreibt: Wenn ich ein wenig großzügig mit geographischen Daten umgehen darf, dann findet das Szenario dieses Stückes irgendwo zwischen Transkarpatien und dem Finnischen Meerbusen statt: Ich

211

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

sitze in der 3. Klasse einer jener sagenhaften Züge, die zwischen Kischinjew und Iwano-Fran kowsk, Balassagyarmat und Hódmezövásarhely verkehrten. Eine Gruppe von Musikern fährt mit, die so aussieht, als wäre sie soeben aus vergilbten Fotoalben entsprungen. Sie beginnen für mich zu spielen. Das rollende Bühnenbild fordert eine zügige Aufführungspraxis; Melodiefetzen und charakteristische Rhythmen wechseln schneller als die stockend vorbeieilenden Dörfer. Gewiß: in meiner musikalischen Privatkosmologie gebe ich dem Osten stets einen Bonus.432

Die unvermittelte Aneinanderreihung von Tänzen nimmt das im Programm angedeutete Potpourri-Spielen dieses deplazierten Salonorchesters auf. 433 Durch die motivisch-thematische Verarbeitung von Themen wird jedoch eine kontinuierliche Entwicklung erreicht. Als Übersicht dargestellt ergeben die Themen und die Gesamtform von Osten folgendes Bild: Abschnitt:

A

B

C

D

E

F

Tanz

Tanz

Überleitung , dreiteilig

Tanz

Tanz

Ausklang

Thema:

a

Tempo:

Tpo I, ||: 4tel=84 ummta

Charakteristika:

b und c

d, e und f

Tpo II :||: 4tel=72 später ummta

Tpo I, dann langsamer :|| werdend, je nach Motiv 1. ummta + Schellen, 2. Liegetöne + d, 3. Liegtöne u. e

g

Tpo II ||:

a’ (höher) simultan mit f’

b’ und/ oder d’, evtl. auch neu (erst desMoll, dann g-Moll)

Tpo I

4tel = 64

:|| ummta

ummta mit Kastag- d-a-pizz., Pausen netten

genereller Hintergrund:

a-Moll

Terzen, c-Moll

d-Moll mit Tritonus, dann (2. u. 3.) Klangfelder

Akkorde auf absteigender Reihe...

...werden weitergeführt bis zum ...

... Schlussakkord desMoll.

Takte

115

16-31

32-56

57-71

72-79

80-92

Abb. 49: Kagel, Osten, Formschema: a = sog. jambische Prime bzw. „inventada por mio“; b = „Aj, du forst avek“ (fis-Moll); c = „Frejlexs“, sehr orientalisch; d = „Skočne“ als Bassfigur (dMoll); e (ähnlich b) = 2., verlangsamter „Skočne“ (e-Moll); f = Spielfigur mit geringem melodischen Gehalt; g = Dreiklangsmotiv, geringster melodischer Gehalt

Die in dem Programm beschriebene Flüchtigkeit der Eindrücke findet auch in der Musik ihre Entsprechung, besonders in der dreiteiligen Überleitung, in der sich der Satz stufenweise in ein Klangfeld auflöst. Dieses auflösende Moment wird auch auf andere Bereiche übertragen: Mit dem Übergang von Abschnitt C nach D und dem Wechsel des Motivs f, einer arabesken Spielfigur, hin zum Motiv g, einem Dreiklangmotiv, erfasst die Auflösung schließlich auch die Motive. Beide Motive, f wie g, erscheinen zwar gleichsam aus dem Satzgefüge des Klezmer entnommen und somit typisch für diese Musik, sie könnten aber auch aus anderen musikalischen Kontexten stammen. Das Motiv g ist in dieser Hinsicht das Motiv mit dem schwächsten Verweischarakter. Somit findet in dieser Überleitung auch eine Auflösung der Verweischarakteristik statt: die Klezmer-Motivik wird auf die grundlegende Eigenschaft der Moll-Tonalität zurückgeworfen und auf das Klischee reduziert, ‚irgendwie traurig‘ zu klingen. 432 433

Mauricio Kagel, Begleittext Windrose, S. 10-11. Diese Beobachtung wird auch durch Kagels durchgängigen Schreibduktus der Particellskizzen „2“ und „3“ (im Particell) gestützt. Die anfängliche Formdisposition und das Aneinanderreihen der Motive schien Kagel relativ leicht von der Hand gegangen zu sein.

212

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

Ein ähnliches Moment der Verflüchtigung findet sich auch in Südosten, das als eine musikalische Reise von Südamerika nach Afrika, „zurück zu den Wurzeln“, zu verstehen ist. Zum Ende des Stücks hin wird dort ein für die afrikanische Musik grundlegendes Motiv, eine Kette aus absteigenden Quarten und aufsteigenden Terzen, von den Instrumentalisten weitestgehend unabhängig voneinander und immer leiser werdend gespielt, so dass der Eindruck der zunehmenden Ferne und Konturlosigkeit entsteht. Das Prinzip der Auflösung der Details und der allgemeine Verlust der Konturen ist sicher auch in den anderen Stücken der Windrose zu finden. Die Auflösung zieht sich in Osten, nach einem kurzen Zwischenspiel, von Takt 44 bis 56. Dort werden dem ohnehin verlangsamten Tanzmotiv durch zunehmende Liegetöne die Impulse genommen, der Rhythmus läuft leer und rückt schließlich ganz in den Hintergrund. Bemerkenswert an dem nun entstehenden Klangfeld ist, dass ihm nur der Ton fis zur vollständigen Dodekaphonie fehlt. Es ist aber unwahrscheinlich, dass serielle Techniken angewendet wurden. Ebenso war Suche nach den konstitutiven Intervalle der kleinen, großen und übermäßigen Sekunde ergebnislos. Eher scheinen die Töne aus den Gerüst- und Endtönen der Motive f und e begründet:

Abb. 50: Kagel, Osten, Takt 44-56, Schema der Liegetöne (nicht lagengetreu): Bögen kennzeichnen die Sekundschritte und gestrichelte Linien den Einsatz der Motive. Die beiden senkrechten Striche deuten Simultanklänge an.

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

213

Als Basiston klingt ab Takt 39 fortwährend C1 in Kontrabass und Harmonium, ab Takt 44 baut sich das eigentliche Klangfeld auf, und zwar h in der Violine, gis3 im Stehgeiger und e1 in der Viola. Alle drei Töne werden aus den markanten Melodietönen des Motivs d in der Klarinette initialisiert, das Klangfeld unterstützt also die Tonart E-Dur des Motivs d. In ihrer Eigenschaft als Liegetöne gehören sie allerdings dem Klangfeld über C1 an. Weitere Liegetöne sind aus den jeweiligen Motiven motiviert, so das d1 (475) aus dem weiteren Melodieverlauf von Motiv d in der Klarinette, das a (49 mit Auftakt), as (53) und b (55) jeweils aus Motiv e (siehe obige Abbildung). Wenn ein Instrument von einem Liegeton zu einem anderen wechselt, so geschieht dies immer in kleinen und großen Sekundschritten: der Stehgeiger von gis3 über g3, f 3 zu e3, die Violine von h über c1 zu des1, die Viola von e2 nach d2 und die Klarinette von d2 nach es2. Ähnlich wie Motiv e scheint auch Motiv f, die arabeske Spielfigur, Einfluss auf die Organisation des Tonfeldes zu haben: der Stehgeiger wechselt in dem Moment nach g2, in dem das Motiv f erklingt, so dass der entstehende Klang nur skaleneigene Töne des in a-Moll stehenden Motivs f enthält. Auch hier scheint das Motiv die Klangfläche zu initialisieren (bzw. umgekehrt). Ab Takt 51 nehmen mit dem es2 (51) der Klarinette, dem f 3 (52) des Stehgeigers und dem as (53) des Violoncello die Dissonanzen sukzessive zu und die Klangfläche endet auf einem Halbtoncluster von c bis e (mit einem b als Abweichung). Die realen Tonhöhen und ihre Lagenführung in C1-b-des1-d2-es2-e3 nehmen dem Klang aber die Schärfe, die einzige wahrnehmbare Halbtonreibung erzeugen d2 und es2. Die Klangflächen werden also zum Teil von den Motiven initialisiert (vom Motiv d durch charakteristische Töne, vom Motiv e durch die Tonart), in den anderen Fällen bewegen sie sich in Sekundschritten. Zum Ende hin scheint die Dissonanzverschärfung für die Tonfortschreitungen ausschlaggebend zu sein. 434 Ein Auflösungsfeld an einer solch zentralen Stelle des Werks muss einen Einfluss auf das weitere Geschehen haben. Und in der Tat wirkt das Stück in seinem weiteren Ver lauf ‚beschädigt‘, es wird durch die folgenden Formteile zwar noch wie durch ein Korsett zusammengehalten, aber die musikalischen Details wirken klanglich getrübt und substantiell ‚angeschlagen‘.

4.4

Fazit zu Osten

Wie vermutet wurde, verknüpft die Serielle Tonalität in Osten Klänge aus dem Kontext tonaler oder modaler Musik mit seriellen Verfahrensweisen. Ebenso können sich aber auch Gesetzmäßigkeiten der tonalen und modalen Musik auf die Reihenfindung auswirken, so dass die tonale sowie die serielle Zugangsart sich gegenseitig befruchten. Des Weiteren ist zu konstatieren, dass die Motive im Laufe der Komposition dekontextualisiert werden, in dem sie auf ihre charakteristischen musikalischen Parameter reduziert 434

Angesichts der Komplexität dieses Auflösungsfeldes ist der Quellenbefund enttäuschend: Es ist keine Skizze erhalten, die diese Passage thematisiert, so dass auch hier anzunehmen ist, dass es zwi schen den erhaltenen Skizzen im Particell und der Reinschrift Zwischenstufen bei der Aufzeichnung und Skizzierung gegeben haben muss.

214

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

werden. Erstaunlicherweise geben sie jedoch durch diese Behandlung ihren Verweischarakter nicht vollständig auf. In Osten fungiert die Serielle Tonalität als eine Art ‚serieller Technik auf semantischer Ebene‘: Sie lässt sich als eine kompositorische ‚Technik‘ begreifen, die den semantischen Gehalt von Musik auf ihre musikalischen Parameter zu differenzieren und reduzieren weiß. Damit ist diese Kompositionsweise auch als Kritik an Hörgewohnheiten, als Medienkritik zu verstehen. Osten gibt aber auch einen Einblick in die bereits in den Kapiteln über die Narration und das Sammeln angeschnittenen Aspekte des kagelschen Komponierens: Das Sammeln äußert sich in der Weise, wie der Sammler versucht, die außereuropäischen (und alten) Klang-Semiophoren in eine Sammlung zu überführen. Das System der Sammlung ist hier nicht nur auf formaler Ebene in dem Präsentiert-Sein der verschiedenen Objekte zu finden. Vielmehr findet es sich auch auf kompositorischer Ebene, auf der die entkontextualisierten Objekte als Gesammeltes in die Sammlung rekontextualisiert werden. Kagels semantisierende Serialität liefert hierfür das Verfahren und ist gleichzeitig auch das ‚System‘, das das System der Sammlung konstituieren beziehungsweise in Musik abbilden kann. In erzähltheoretischer Hinsicht lässt sich die grundlegende Distanz in Kagels pro grammatischem Einführungstext erkennen. Durch die imaginäre Szenerie im Zug inszeniert er sich als distanzierter Beobachter und Erzähler. Interessant – und zunächst unvereinbar mit Kagels programmmusikalischer Assoziation – ist jedoch, dass er in Osten mit der Wiederholung von Abschnitten arbeitet. In formaler Hinsicht also scheint Kagel sich von seinem programmatischen Konzept – vorausgesetzt, dass es als programmatische Idee bereits zu Anfang existierte – innerhalb der Werkgenese zu entfer nen. Die neu hinzugekommen Wiederholungen ‚entprogrammieren‘ das Werk von der anfänglichen Handlungsidee.

5

Die Rolle des kompositorischen Subjekts

Wie in den anderen Kapiteln soll auch hier die Frage nach dem Subjekt gestellt werden. Adorno hat bereits das Dilemma des kompositorischen Subjekts im Regelwerk der Dodekaphonie beschrieben: „Die Zwölftontechnik [...] fesselt die Musik, indem sie sie befreit. Das Subjekt gebietet über die Musik durchs rationale System, um selber dem rationalen System zu erliegen.“435 Nach Eimerts Definition des Begriffs „seriell“ ließe sich das kompositorische Subjekt im Bereich der Ratio festmachen: „Die serielle Musik dehnt die rationale Kontrolle auf alle musikalischen Elemente aus.“ 436 Eimert geht insofern noch in einem – von Adornos Argumentation aus betrachtet – ‚naiven‘ Sinne von der Kontrollinstanz eines kompositorischen Ichs aus, das sich der Kompositionstechnik vollbewusst ist und uneingeschränkt über sie verfügen kann. Dieses Ich stünde seiner Ansicht nach auktorial über den Mechanismen der seriellen Musik, die in ihrer agierenden Ratio gleichsam stellver435 436

Adorno, Philosophie der neuen Musik, S. 68. Eimert, Vorwort, S. 7.

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

215

tretend für das kompositorische Ich handeln. Nach Adorno schlüge die Rationalität der kompositorischen Mechanik aber um in ein Über-Ich, das sich in seiner kritischen Dialektik dem Subjekt immer als ein Entfremdetes gegenüberstellt. Die Sichtweise Eimerts ist der Schönbergs nicht unähnlich, der für das Komponieren mit zwölf Tönen die volle Autorität und die totale Kontrolle des Komponisten beziehungsweise des kompositorischen Subjekts als erforderlich und notwendig ansieht: „Die Einführung meiner Methode, mit zwölf Tönen zu komponieren, erleichtert das Komponieren nicht; im Gegenteil, sie erschwert es.“ 437 Die Dodekaphonie lässt sich bei ihm noch als eine Technik beschreiben, über die das Subjekt oder das Ich verfügen kann. Das Ich steht dieser „Methode“ noch vollbewusst gegenüber. Adorno hingegen begreift die Dodekaphonie eher als ein ‚System‘, welches Subjekt und Objekt gleichermaßen bein haltet und in eine systemische Beziehung bringt. Kagel nutzt aber die Mechanik der seri ellen Gestaltung, um eine Kompositionsmethode zu finden, „die intelligenter ist als der Komponist“. In der Genese des musikalischen Materials entstehen Freiräume, in denen er die kompositorischen Prozesse in ihrer (natürlich von ihm festgelegten) Eigengesetzlichkeit laufen lässt, so dass sie „gegen seinen Instinkt“ arbeiten. Kagel dazu: Ich glaube, es war in Bezug auf Anagrama, daß ich nach Kompositionsprinzipien verlangte, die intelligenter als der Komponist sein sollten, Prinzipien, die zwar keine selbstständigen Entscheidungen treffen sollen, aber ‚über‘-logisch die biegsame Methodik des Komponisten kontrollieren.438

Die dem Komponieren durch ihre Regularien hervorgerufene innewohnende Instanz des Über-Ich wird somit dem Subjekt veräußerlicht und bewusst gemacht. Kommen wir wieder auf Kagels Interview mit Klüppelholz zurück und bedienen wir uns Reichs Beobachtungen: Kagel beschreibt Klüppelholz das Gewinnen von „Zahlenmaterial“439, und zwar, nachdem der Ausgangspunkt „willkürlich festgelegt“ worden ist. Des Weiteren unterscheidet sich Kagels Methode von der ‚herkömmlich‘ seriellen darin, dass diese Zahlenreihen nicht für die gesamte Organisation der Komposition konstituierend sein müssen. Reich stellt dies als erstes von drei Unterscheidungsmerkmalen gegenüber dem orthodoxen Serialismus heraus: Kagel organisiert mit diesen Zahlenreihen [neben Tonhöhen und Tondauern] zwar auch alle anderen Parameter des musikalischen Satzes. Diese werden aber nicht, wie etwa Tonhöhe und Tondauer im Serialismus, funktional miteinander verknüpft, sondern unabhängig voneinander bearbeitet.440

Kagel beschreibt dies innerhalb seines hypothetischen Beispiels als einen weiteren Arbeitsgang: Nun begann ich, bewusst mit Symmetrie und Asymmetrie zu arbeiten. Ich stellte Zahlenreihen auf, um Lautstärke und andere Parameter anders zu strukturieren, als ich es sonst gemacht hätte. Die Prozedur verselbständigte sich manchmal, und die Resultate widersprachen dann meinem Instinkt: Gerade das wollte ich ja. Nur so konnte ich erforschen, wie sich eine ‚Supramethodik‘ 437 438 439 440

Schönberg, Komposition mit zwölf Tönen, S. 79. Kagel/Klüppelholz, ..../1991, S. 26-27. Ebd., S. 27, Kursiva im Original gesperrt. Reich, Sankt-Bach-Passion, S. 11. Anm. von KH.

216

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

auf Werk und Komponisten auswirkt. Allein die Verbindung von tonalen Akkorden mit seriell konzipierten Verfahren ergab neue Aspekte, die die Ergebnisse der klassischen Funktionsharmonie relativierten. Es gab eine Einengung wie auch eine Erweiterung der Möglichkeiten, unabhängig von der Zahlenreihe. 441

Damit läge, nach Reich, „zunächst lediglich eine Reihung abstrakten numerologischen Materials ohne jegliche Bedeutung vor, das erst in einem zweiten Schritt mit musikalischem Material in Beziehung gesetzt wird.“ 442 Die durch diese ‚kontemplativen‘ Arbeitsgänge entstehenden Zahlenreihen sind nur noch schwerlich mit denen herkömmlicher serieller Generierung zu vergleichen, laut Reich sind es „vielmehr theoretisch unendlich fortsetzbare Folgen von natürlichen Zahlen, die in der Praxis aus einer variablen Menge von bis zu mehreren hundert Elementen bestehen.“, wobei er sich auf Kagels Aussage beruft, dass er bei der Sankt-Bach-Passion die „Rhythmen [...] mit Zahlen 1-300 bestimmt“ hat.443 Die Unabgeschlossenheit der Zahlenreihe – also ihre inhärente Potentialität zur Unendlichkeit, was ihre Ausdehnung belangt – wirkt sich in zweierlei Weise und auf verschiedenen Ebenen auf die Gesetzmäßigkeiten der in der Seriellen Tonalität verschränkten Bereiche der Serialität und der Tonalität aus. Auf numerologischer Basis und im Vergleich zur Serialität ist diese Unabgeschlossenheit das gravierendste Unterscheidungsmerkmal zu einer herkömmlichen, geschlossenen Reihe. Diese Potentialität zur Unendlichkeit ist aber auch auf musikalischer Ebene, im musikalischen Verlauf und in der Ausnutzung der musikalischen Gesetzmäßigkeiten der tonalen, Musik zu spüren, und zwar in der Infragestellung von sinnkonstituierenden Formprinzipien oder von harmonischen Sinnzusammenhängen. So beschreibt Wieland Reich die Auswirkungen auf die mit diesen Reihen verschränkten, aus der Tonalität übernommenen Dreiklänge: Das System Tonalität wird seiner zentripetalen Kräfte entledigt, das Serielle wird vom System zwang der numerisch fixierten, Tonwiederholungen ausschließenden Reihe entbunden. Kagel vermittelt beide durch das modale [!] Prinzip des unverbundenen Nebeneinanders von Drei klängen, die in einer Reihung angeordnet werden. Diese hat durch ihre Unabgeschlossenheit nichts mehr mit einer traditionellen Serie zu tun, nutzt aber deren (Vor-)Ordnungsfunktion. 444

Hätte Kagel damit einen Weg gefunden, der Serialität und ihrem Systemzwang dialektisch den Zahn zu ziehen? Oder ist die Aufweitung der Reihe in die Unendlichkeit nur eine Verlagerung des Subjekt-Objekt-Problems in ebendiese, also – um einen freudschen Terminus zu gebrauchen – nur eine Aufschubhandlung auf unbestimmte Zeit, die dann umso stärker zurückschlägt? Kontrolliert das kompositorische Subjekt also die Mecha441 442 443

444

Kagel/Klüppelholz, ..../1991, S. 28-29. Reich, Sankt-Bach-Passion, S. 11-12. Hierbei ist anzumerken, dass die Bereiche der Rhythmen wie der Taktangaben bzw. Taktarten die Sphären zu sein scheinen, die von diesem Reihenprinzip am unmittelbarsten betroffen sind, bzw. wo es in unverfälschter Form auftritt. Besonders letztere, die Takte, verhalten sich zum musikalischen Verlauf oft diametral. So ergab meine Untersuchung der Takte auf symmetrische Verteilungen oder Gruppierungen in der Komposition Südosten eben die von Kagel beschriebenen kontemplativen Reihen, die sich jeder weiteren analytischen Beobachtung und Erkenntnis sperren, außer der, dass sie vermutlich mit dem von Kagel beschriebenen Taschenrechner-Verfahren hergestellt wurden. Reich, Sankt-Bach-Passion, S. 10. Ergänzungen von KH.

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

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nismen der Komposition? Folgt man Kagels Argumentation, lässt sich diese Frage leicht beantworten: Nicht die Zahlen diktieren hier einen automatischen Fortgang der Entscheidungen, sondern ich übertrage auf den gewählten Reihenabschnitt die jeweilige Bedeutung und zugleich eine koordinierende Funktion.445

Und auch Reich geht davon aus, dass das auktoriale Subjekt und das Objekt sich noch nicht entfremdet sind: ‚Serielle Musik mit tonalen Elementen zu schreiben, die dennoch nicht tonale Musik ergeben‘, impliziert [...] ein ausgeprägtes Materialdenken, das die Tonalität primär als ein Reservoir von akkordischem und melodischem Material betrachtet sowie die prinzipielle Gleichberechtigung der Parameter [anerkennt, und zwar] dahingehend, daß zumindest alle der rationalen Kontrolle unterliegen.446

Dass ich mich dieser Meinung nicht anschließe, ist im Laufe der Untersuchung sicher bereits deutlich geworden. Ebenso sei folgendem Passus Reichs widersprochen: Das Projekt einer seriellen Musik mit tonalen Elementen setzt also dreierlei voraus: 1. Eine rationale Kompositionstechnik, um die Selbststeuerungsmechanismen des Materials auszuschalten, woraus – 2. – folgt, daß die Grundprinzipien dieser Technik unabhängig von der Beschaffenheit des Materials sein müssen. 3. Die Technik muß frei von axiomatisch gesetzten Rigoris men sein, um nicht ihrerseits Selbststeuerungsmechanismen hervorzubringen.447

Reichs erster Punkt ist daraufhin zu befragen, ob Kagel gerade das Ausschalten dieser Selbststeuerungsmechanismen beabsichtigt. Betrachtet man die vielen musikalischen Regeln und Prinzipien, denen das eingebundene Material als bereits ‚funktionierende‘ Musik unterliegt, erscheint dies fraglich. Die Ratio, die Reich hier in den kompositori schen Regularien erkennt, ist nicht die des ‚wollenden‘ Subjekts, sondern eine musikalische Logik, die den verwendeten Kontexten bereits inhärent ist. Insofern lassen sich diese kompositorischen Regulative, da sie dem kompositorischen Ich nicht eigen sind, als historisch oder kulturell gesetzte Materialität beschreiben, welche dem kompositorischen Ich als manifestiertes Über-Ich gegenübertritt. Da Kagel diesen Diskurs in seiner Musik zulässt, ist anzunehmen, dass er selbst nicht mehr an die Ratio des Serialismus glaubt. Ebenso ist Reichs zweitem Punkt hinzuzufügen, dass gerade in den seriell-tonalen Werken Kagels die Einflussnahme keine einseitige ist, sondern die Technik und das Material sich gegenseitig beeinflussen können. Unabhängig von Kagels Selbstaussagen ist gerade in den Particellskizzen zu beobachten, dass viele von Kagel angewandte Ordnungsprinzipien eher als situative Lösungen fungieren. Ebenso scheint das Finden von Zahlenrei hen, seien sie nun auf die Metrik oder auf Tonhöhen bezogen, immer mindestens einen Bezugspunkt zu der Norm oder der Gestalt der unmittelbar umgebenden Musik zu haben. Die Art dieses Bezugspunktes kann satztechnischer, tonaler oder anderer Art sein – das Bemerkenswerte ist hierbei, dass Kagel die jeweiligen Bezugspunkte, ob pragmatischer, semantischer, syntaktischer oder formaler Art, immer als solche zu differenzieren weiß. Versteht man Serialität als Abkopplung aller musikalischen Parameter von445 446 447

Kagel/Klüppelholz, ..../1991, S. 34. Reich, Sankt-Bach-Passion, S. 9-10. Ergänzungen von KH. Ebd., S. 9.

218

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

einander und deren erneute Synthetisierung, lässt sich Kagels Herangehensweise an musikalische Kontexte als eine serielle beschreiben, jedoch ist diese Serialität nicht mehr am einzelnen Ton interessiert, sondern an der Differenzierung der Parametrie von Kontexten. Mit den aus diesen Kontexten erzeugten Steuerungsmechanismen generiert Kagel schließlich kurzzeitig jene „axiomatisch festgesetzten Rigorismen“, die immer wieder den auktorialen Eingriff des Komponisten nötig machen. Das Spiel mit den Steuerungs- und Wirkungsmechanismen von Kontexten sowie die imaginäre Dialogizität mit dem schöpferischen Subjekt und das Ausloten von Wirkungsmacht auf dasselbe ist ein Aspekt, der die seriell-tonalen Werke Kagels in die Nähe der Postmoderne bringt. So erachtet Kaehler für die Kunst der Postmoderne nicht die ‚Kontextualität‘ als bloße Pluralität entscheidend, sondern deren Möglichkeit zur Selbstbezüglichkeit des Subjekts: Und so hätte der gute Postmodernist – der eine „achtbare Postmoderne“ vertritt, wie etwa Wolfgang Welsch es mit Lyotard immer wieder betont – als Gegenmittel gegen die tendenziell drohende Gefahr der Beliebigkeit das Prinzip Kontextualität einzusetzen, das ja im Grunde nur eine positivere Formulierung des Prinzips Pluralität darstellt. So wenig der bloße Rückzug auf die bereichsinternen Rationalitäten der Subsysteme bereits Beliebigkeit im gewünschten Sinne – nämlich über die Aporien der Moderne hinaus – überwinden könnte, so wichtig würde diese Spezifikation von Rationalität, wenn ihr zugleich die Selbstüberschreitung eingeschrieben werden könnte – wichtig nämlich als intern stabilisierende Struktur, ohne die Selbstüberschreitung auf Kontextualität hin tatsächlich nichts anderes als bloße Regression, weil Nivellierung und Verlust bedeuten müßte. Und umgekehrt würde auch Kontextualität kollabieren, wenn die aufeinander bezogenen Bereiche, Stile, Sprachen usw. nicht schon Eigenbestimmtheit und Spezifität von sich aus mit ins Spiel brächten. Kontextualität differenziert sich aber damit ins Unabsehbare bzw. eröffnet einen Möglichkeitsspielraum neuer Sinngebungen, die die auf Autonomisierung und damit auf Ausgrenzung bedachte Moderne längst nicht mehr zu leisten vermag. 448

Versucht man, diese Kriterien auf Kagels Komponieren zu übertragen, so lassen sich Kaehlers Begriffe der Subsysteme und des Aufeinanderbeziehens – beide hervorgerufen durch Rationalität, welche erstens innerhalb der Subsysteme, wie auch zweitens in den Beziehungen zwischen diesen Subsystemen zu finden ist – nutzen. Als Subsysteme lassen sich die von Heile genannten Kontexte bezeichnen, das Aufeinanderbeziehen geschähe durch Komposition, die dafür notwendige, immanente Rationalität wäre durch die Eigengesetzmäßigkeiten der Subsysteme beziehungsweise Kontexte gegeben. Kontextualität lässt sich demnach als das gelungene Aufeinanderbeziehen der Subsysteme durch Rationalität verstehen, wobei die Frage offenbleibt, wessen Rationalität wirksam ist, die des Subjekts oder die des Objekts. Nimmt man diese Beschreibungskriterien einer, wie Kaehler ausdrücklich betont, „achtbaren Postmoderne“ an, sowie deren Möglichkeit der Übertragung auf Kagels Komponieren, ließen sich Kagels seriell tonale Werke durchaus als postmodern bezeich nen. Die generellen Wirkungsmechanismen postmoderner Kunst waren bei Osten bereits analytisch nachzuvollziehen. Im Folgenden soll eine Passage aus Südosten beobachtet werden, um sie auch im Zusammenhang der Werkgenese zu beschreiben.

448

Kaehler, Philosophische Ästhetik im Zeichen der Postmoderne, S. 46-47.

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6

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Genese von Serieller Tonalität: Südosten, Klavierpart, Takte 108 bis 119

Als Beispiel dafür, in welch komplexem Maße sich die Serielle Tonalität im Kompositionsprozess ausprägen kann, sei der Part des Klaviers aus Südosten, Takte 108 bis 119, dargestellt. Er ist in der so genannten Particellskizze „5“ zu Südosten entwurfshaft dokumentiert. Anders als die anderen Notate dieser Skizze ist die Passage in diese r Form auch in die Komposition eingegangen.

Abb. 51: Kagel, Südosten, Skizze „5“, oberer linker Ausschnitt. Hier ist die Passage noch im 4/4Takt geschrieben, während in der Partiturreinschrift und dem Partiturdruck 3/4 vorgezeichnet ist. Ebenso ist die später mit der Klarinette instrumentierte Solostimme abgeändert worden.

Diese Passage stellt innerhalb des musikalischen Verlaufs des Werkes insofern etwas Neues dar, als sie in rhythmischer Hinsicht die Sechzehntel-Bewegungen für das Motiv der absteigenden Terzketten einführt, welches wenig später in Takt 109 in der Klarinette erscheint und zum Ende des Stückes die komplette musikalische Faktur bestimmen wird. Der Rhythmus der oben abgebildeten Klavierpassage ist aber auch schon im ersten Motiv des Werkes zu finden, die Klavierpassage vermittelt also in rhythmischer Hinsicht zwischen den beiden zentralen Motiven des Stückes. Die Rhythmik wird hier aber durch die offene Phrasierung, in der im späteren Verlauf die absteigenden Terzketten gehalten sind, unterminiert. Des Weiteren bilden die in der Klavierpassage enthaltenen abwärts gehenden Tonskalen das musikalische Material des in Takt 109 einsetzenden Stehgeigers und der Violine. Die Klavierpassage erfüllt auch in dieser Hinsicht die Funktion der Initialisierung der folgenden Motivik – wobei die absteigende Tonskala wiederum als Gerüsttonsatz des absteigenden Terzmotivs interpretiert werden kann. Diese Passage ist also Ausgangs- und Anknüpfungspunkt für musikalische Ereignisse, sie bildet einen Angelpunkt in der motivisch-thematischen Entwicklung. Zudem tritt das Klavier hier zum ersten Male aus seiner Begleitfunktion heraus.

220

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

1-4 [16tel] 4 3 2 1 3 2 4 1 2 1 3 4 1 4 3 2

5-8 [16tel mit Haltebogen] 6 (10) 5 (8) 7 (9) 8 (9) 7 6 8 5 8 7 6 5 6 7 8 5

Für die Generierung der Notenwerte dieser Passage hat Kagel eine Tabelle angefertigt, die in der Skizze „5“ am linken oberen Rand in einer Tabelle festgehalten ist (siehe Umschrift). Abb. 52: Kagel, Südosten, Skizze „5“, bereinigte Umschrift des linken oberen Randes.

Kagel wählt die Zahlen 1 bis 4 für die 16tel-Werte der Akkordrepetitionen sowie die Zahlen 5 bis 8 für die 16tel der Haltetöne. Zwar ist die Anordnung der Zahlen in gewisser Weise durch die Gesetze der Permutation festgelegt – es gibt keine Wiederholung einer Zahl innerhalb einer Gruppe –, aber die Setzung der Zahlen in die musikalische Gestalt und die musikalische Anwendung dieses kombinatorischen Verfahrens ist von Kagel vorentschieden. Ebenso sind die Kombinationsmöglichkeiten von Kagel in der Skizze oben am Rand angemerkt: „1x4 Periode | Kombination kurz lang wiederholen | sich nicht“. Wie aus den in Klammern gesetzten Summen der Zahlenpaare in der rechten Spalte zu erkennen ist, schien ihm auch die unterschiedliche Länge der Akkord-Phrasen wichtig gewesen zu sein. Die „vorkompositorische“ Belegung der Passage mit Zahlenwerten wird in erster Linie dazu genutzt, rhythmische Gestalten zu generieren. Dabei wird die Permutation nur eingeschränkt angewandt, und zwar auf die Notenwerte beziehungsweise die Tonre petitionen. Dadurch wird der allgemeine Eindruck der Asymmetrie der Phrasen gewährleistet, durch die Einschränkungen des vordefinierten kombinatorischen Modells wird die Gefahr der Beliebigkeit in Rhythmus und Phrasen verhindert. Die Zahlenfindung steht hier ganz im Dienste einer vormals gefassten musikalischen Idee. Die Summe aller Möglichkeiten der Zahlenkombinationen (in diesem Falle je Zahlengruppe: 4! = 4 x 3 x 2 x 1 = 24), wird aber nicht in ihrer Gänze ausgeschöpft. Die Auswahl der vier Zahlengruppen (1 bis 4) aus den gegebenen Möglichkeiten von 24 und deren Kombination mit vier weiteren Zahlengruppen (5 bis 8) sind bewusste Entschei dungen des Komponisten. Die Idee der Kombinatorik wird hier als Konstruktionsprinzip nicht konsequent durchgeführt, anders als beispielsweise in Werken wie Rrrrrrr... und Exotica449. Dort erstreckt sich die Permutation über ein ganzes Werk beziehungsweise über Formabschnitte und erhält so formale und integrative Kraft. Die bewusste Entscheidung gegen alle Kombinationen ließe sich als Inkonsequenz bewerten, positiv formuliert wäre dieses Verfahren aber genau das, was Kagel – wie bereits erwähnt – beabsichtigt, nämlich Kompositionsprinzipien zu finden, „die intelligenter als der Komponist sein sollten, Prinzipien, die zwar keine selbständigen Entscheidungen treffen sollen, aber ‚über‘-logisch die biegsame Methodik des Komponisten kon449

Vgl. Werner Keil, Mauricio Kagels kompositorischer Umgang mit Elementen populärer Musik, bes. S. 320-325, sowie Claus Raab, Zum Problem authentischer Musik, besonders S. 297-302, wo Raab dieses Verfahren als von Messiaen geprägte Modalrhythmik bezeichnet.

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221

trollieren.“450 Zudem findet sich hier Kagels folgende Aussage bestätigt: „Nicht die Zahlen diktieren [...] einen automatischen Fortgang der Entscheidungen, sondern ich übertrage auf den gewählten Reihenabschnitt die jeweilige Bedeutung und zugleich eine koordinierende Funktion.“451 Die Entscheidung Kagels ist hier eher auf einen anderen Ebene zu verzeichnen, und zwar auf Ebene der grafischen Symmetrie. Die Zahlenfolgen sind in identischen Gruppen angeordnet, und zwar jeweils in den Schritten -1, -1, -1 (Gruppe in Reihe 1, linke Spalte sowie Reihe 3, rechte Spalte); -1, +2, +1 (Reihe 1, rechts und Reihe 3, links) und -1, +2, -3 (Reihe 2, links und Reihe 2, rechts). Lediglich die beiden Zellen in Reihe 4, links und rechts sind invers zueinander gesetzt (+3, -1, -1 und +1, +1, -3). Die Auswahl und Anordnung ist keinem aleatorischen Moment unterworfen, sondern richtet sich nach gestalthaften Symmetrien – sowohl innerhalb der Zellen als auch in ihrer Anordnung innerhalb der Tabelle. Indem jedoch der Rhythmus durch die gestalthafte Anordnung der Zahlen ‚berichtigt‘ wird, enthebt Kagel sich dem allgemeinen Rechtfertigungszwang der musikalischen Logik. Zudem wird dem modernistischen Verbot der Wiederholung durch die von Kagel eingebrachte Kontrolle der Phrasenlängen Genüge geleistet. Dass dieser Rechtfertigungszwang jedoch nicht zu einem ‚zwanghaften Komponieren‘ führt, wird an dem an allen Stellen der Genese eingreifenden Ich deutlich, und nicht zuletzt an dem grundsätzlichen Bestreben, die musikalische Gestalt in die bereits dargestellte motivisch-thematische Entwicklungsform der Komposition einzubinden. Hier kommt hinzu, dass das Zahlenmaterial schließlich doch eine musikalische Qualität, wenn auch nur auf Ebene der Notenschrift, aufweist. So ergibt die Summe der Zahlen eins bis acht 36; auf die Notenwerte übertragen ergeben sich 36 Sechzehntel beziehungsweise neun Viertel, die sich wiederum in je drei 3/4-Takte fassen lassen. Kagel scheint diese Koinzidenz zu dem Zeitpunkt der Skizzenanfertigung noch nicht erkannt zu haben, dort ist die Passage noch im 4/4-Takt gesetzt. Erst in der Partiturrein schrift beziehungsweise im Druck wird diese von den Zahlengruppen koordinierte Periodizität zum Ausdruck gebracht, und zwar belegt jede Periode, zu 36 x 16tel = 9 Viertel, eine Druckseite. Inwieweit diese Gruppierungen auch einen musikalischen Ausdruck findet, ist fraglich, sperrt sich die Periodik der Gruppierungen doch der Periodik der absteigenden Skalengänge. Ebenso weisen die anderen Stimmen keine Periodisierung in Gruppen von jeweils drei Takten auf. Jedoch wird hier erkenntlich, dass Kagel von Anfang an bestrebt ist, musikalischen Sinn zu stiften, der sich auf alle Parameter der musikalischen Faktur – bis hin zur Taktvorzeichnung – erstreckt. Ebenso scheint sich hier die Genese der Taktarten, die bei Kagels Werken ein grundsätzliches analytisches Problem bilden, in der poetologischen Beobachtung aufzulösen. Die den musikalischen Verlauf regulierende Zahlenordnung, die wir zuerst nur auf die Klavierpassage angewendet finden, wird in einem weiteren Kompositionsschritt zur Grundlage für die Genese des gesamten Satzes und schlägt sich bis in die Taktvorzeichnung nieder. Bei Kagel sind diese Sinnstiftungen durch Konventionen, ob Schreibkonventionen, wie hier beispielsweise der Taktvorzeichnung, oder solchen der Kompositionstechnik, wie zum 450 451

Kagel/Klüppelholz, ..../1991, S. 26-27. Kagel/Klüppelholz, ..../1991, S. 34

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Beispiel der Kombinatorik, immer so offensichtlich, dass sie als ein weiteres Indiz für das Orientieren an bestehenden Normen oder dem Regulativ des Über-Ich gelten können. Die Organisation der Rhythmik und Taktgruppen lässt sich in den Quellen nachweisen und, wie eben getan, auch an diesen darstellen. Dagegen sind die Verfahren, die die sen vorangegangen sind, nur per Analyse zu rekonstruieren. Die Tonhöhenorganisation in dieser Passage scheint hingegen anderen Prinzipien zu gehorchen:

Abb. 53: Kagel, Südosten, Tonhöhen der Takte 108-119 im Klavier in unrhythmisierter Form, die Taktstriche geben die Akkordwechsel an.

Den Klängen ist jeweils ein oberer, repetierender Ton zugeordnet (rechte Hand: immer c2, linke Hand: in Folge c1, ces1, h, b, h), von dem sich entweder ein oder zwei Töne absteigend und zumeist schrittweise entfernen. Folgende Abbildung stellt die Bewegungsrichtungen der Klangverläufe dar. Die einzelnen Grafiken deuten jeweils einen Klangverlauf aus fünf bis sechs Klängen an (in obiger Abbildung verklammert), die Zahlen geben die Intervalle der sich paarweise bewegenden Klänge an:

223

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität Rechte Hand a

b

c

a

c

b

b

b

c

b

b

a

Linke Hand

Abb. 54: Kagel, Südosten, Bewegungsrichtungen im Klavier, Takte 108-119.

Versieht man die Pfeilkonstellationen, wie oben geschehen, mit Buchstaben, ergibt sich ein, vermutlich ebenfalls kombinatorisch hergestelltes Muster. Interessant ist hier, dass Kagel die vierte mögliche Kombination der repetierenden Terz ausgelassen hat, vermutlich klang sie ihm in diesem Zusammenhang zu ‚gewöhnlich‘. Ebenso lassen sich die Vorzeichen den Abschnitten zuordnen: rH lH

a (ohne) b (#)

b (ohne) b (b)

c (ohne) c (ohne)

a (b) b (b)

c (b) b (b)

b (#) a (# + b)

Ob die Tonhöhenorganisation auf einem seriellen Verfahren beruht, ist fraglich, aber nicht auszuschließen. Die eigentümliche Disposition der Vorzeichen wird erhellt, wenn man die simultan erklingende rechte und die linke Hand des Klaviers hintereinander setzt. (Die nahezu identischen Skalengänge der letzten Gruppe in der rechten Hand und der ersten Gruppe in der linken Hand legen dies nahe.): rH ohne

ohne

ohne

b

b

#

lH #

b

ohne

b

b

#+b

Zu Anfang wird in der rechten Hand die vorzeichenlose Tonalität der in den Akkorden enthaltenen absteigenden Skalen aufgegriffen, welche auch für die beiden zentralen Motive, das erste Motiv der Rhythmusbegleitung und die absteigenden Terzenketten (siehe Kap. II.4, Abb. 8 und 9), konstitutiv sind. Die Skalen bewegen sich in den Bereich der B-Tonarten, um dann in den Bereich der Kreuztonarten überzuschlagen. Die Skala der sechsten Gruppe der rechten Hand ist mit der der fünften Gruppe identisch, allerdings enharmonisch verwechselt. Nachdem also über den vorzeichenlosen Bereich und den der b’s ‚moduliert‘ wurde, mischen sich die Vorzeichen im letzten Abschnitt dieser hypothetischen Reihung. Diese stufenweise Sukzession findet sich auch in den repetier ten Spitzentönen: nach einer langen Etablierung auf c wird auch dieser Ton in HalbtonSchritten ab- und aufsteigend weitergeführt. Indem Kagel diese – hier angenommene, und in dieser Darstellung als durchgehend erscheinende – prozesshafte ‚Modulation‘ jedoch per Schnitt in der Mitte teilt und die Teile übereinander legt, werfen sich neue Beziehungen auf, welche sich auch im klangli-

224

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

chen Resultat nachvollziehen lassen. Angenommen, ein Hörer lässt sich von den Klängen in der rechten Hand zur Annahme verleiten, er höre eine tonale Passage in C-Dur, so wird er im Abschnitt der dritten Gruppe (beide Hände) eine Festigung der versprochenen Tonalität C-Dur erkennen können. Hingegen mündet der simultane Endklang in einen chromatischen Cluster. Die Eigenschaft der hier angenommenen Collage ist letzt endlich auch klangliches Resultat und ästhetischer Reiz dieser Passage, und in ihr zeigt sich ein wichtiger Wesenszug der Seriellen Tonalität: Ähnlich wie die Collage (und im Gegensatz zur Montage) bewahrt sie die Irritation. Versuchen wir dem tatsächlichen und klanglich erfahrbaren Resultat dieser Collage vertraute Namen zu geben, und erlauben wir uns außerdem, die Repetitionen außer acht zu lassen und nur die absteigenden Skalengänge in ihrer simultanen Erscheinung zu beobachten. Zudem nehmen wir einmal an, dass sich des Komponisten letzter und end gültiger Wille in diesen Klängen äußert, und dass sein Streben von Anfang darauf zielte, genau diese Klangereignisse herzustellen: Gruppen

rechte Hand

linke Hand

1

C-ionisch/a-aeolisch



dis-dorisch (verkürzt)/ Fis-ionisch (altereriert)

2

C-ionisch/a-aeolisch



d-aeolisch / F-ionisch

3

C-ionisch/a-aeolisch



C-ionisch/a-aeolisch

4

c-aeolisch/Es-ionisch



F-‚melodisch Dur‘, c-lokrisch (alter.)

5

des-ionisch/b-aeolisch



c-lokrisch (alter.)

6

Fis-ionisch (verkürzt)/ dis-dorisch (verkürzt)



Chromatik von c bis f

Abb. 55: Kagel, Südosten, Skalen im Klavier, Takte 108-119.

Gut zu erkennen ist die tonale Zusammenhangslosigkeit der anfänglichen Skalen in Gruppe 1. Die beiden ersten Skalen lassen sich jeweils als weiße und schwarze Tasten auf dem Klavier visualisieren. Bis auf die bereits erwähnte harmonische Korrespondenz in der dritten Gruppe verhalten sich die Skalen der beiden Hände disparat zueinander. Die Technik des Collagierens schlägt sich hier auch wahrnehmbar als Collage nieder, jedoch nicht in der Form, dass ein genereller Zustand der Zusammenhangslosigkeit erreicht wird, sondern in der Weise, dass ein bereits in sich Zusammenhängendes mit einem anderen in sich Zusammenhängendem (oder auch Kontext) durch die Collage in einen Bezug gesetzt wird. Durch diese eigentümliche Faktur wirkt die Zusammenhangslosigkeit der Collage ‚an sich‘ integrativ. Insofern erscheint die Collage hier nicht nur als Technik, sondern auch in ihrem ästhetischen Moment – als Wahrnehmungsweise – und in ihrem poetischem Moment – als Erschaffen dieser Wahrnehmungsweise.

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

225

In diesem Fall lässt sich Kagels Aussage über die Montage auch für die Collage heranziehen: „Mich interessiert die Logik der Montage, die künstliche Zusammenfügung von scheinbar disparaten Elementen. Das bedingt eine streng organische Machart mit Mate rialien, die sich zueinander anorganisch verhalten.“452 Also wird bei diesem Beispiel der Seriellen Tonalität nicht nur die latente Kontextualität der Tonalität disponiert, sondern auch – in einem übergreifenden Sinne – die Intermedialität dieser Kontexte als Klangliches und Ideelles thematisiert. Allerdings hat Kagel es bei der Collage allein nicht gelassen, und er hat die Regelhaftigkeit der Collage am Ende der Passage zugunsten von – innerhalb der prozessualen Modulation – irregulär erscheinenden Tonbewegungen in der letzten Gruppe der linken Hand des Klaviers verändert. Die Bewegung in Terzen wird aufgegeben, um als Schlusston c-des und insgesamt einen chromatischen Cluster zu erzeugen. Damit überschneiden sich zwei Momente: Hypothetischer Ausgangspunkt für Kagels war die vorzeichenlose Skala, welche er auf die Reihung der rechten und linken Hand angewendet hat. Der formale Endpunkt dieser Collage in die linke und rechte Hand des Klaviers ist aber der chromatische Cluster des gesamten Klaviers. 453 Die Ebene der Kompositionstechnik ist von einer Rhetorik der Auflösung geprägt, die auf Ebene der musikalischen Gestalt eine Geste der Auflösung bewirkt. Die angenommenen Kompositionsschritte sind im Folgenden in ihrer Chronologie dargestellt, wobei die angenommenen kompositorischen Schritte Kagels kursiv gesetzt sind, während in Klammern die analytischen Verfahren angeführt sind, die zu diesen Annahmen führen. a) Kompositorische Vorüberlegung (Analytischer Befund und Hypothese) 1. Gestaltfindung: Die musikalische Gestalt (die Bewegungsrichtung der Skalen und die repetierenden Töne) wird erstellt. b) Tonhöhenorganisation (Analytischer Befund) 2. Das tonale Paradigma wird als Ausgangspunkt gesetzt: Die Tonhöhen der Skalen werden so organisiert, dass sie prozessual modulieren. Ausgangspunkt ist hierbei die vorzeichenlose Tonart C-Dur. 3. Das resultierende Klangband wird geteilt, die Teile werden der linken und rechten Hand des Klaviers zugeordnet und damit simultan verschränkt. 4. Das Ergebnis der Collage wird korrigiert, um die anfängliche Tonalität C-Dur in die simultane Chromatik aufzulösen. 452 453

Kagel/Klüppelholz, ..../1991, S. 49. Bis auf die Zunahme der b’s und das anschließende enharmonische Umkippen in die Kreuztonarten lassen sich keine Gesetzmäßigkeiten feststellen. Es ist zu vermuten, dass die Genese der Intervallik (nicht der realen Tonhöhen) auf seriellen Verfahren beruht. Hierbei ergeben sich Wesensähnlichkeiten mit einem Verfahren, das bei dem Kompositionsprogramm Max/MSP als DrunkenStep bezeichnet wird. Dieses Verfahren geht von einem festen Wert aus und generiert zufällige Schritte um 1 oder –1. Wendet man dies bspw. auf die Tonhöhe an, ergeben sich zufällig auf- oder absteigende Linien. In ähnlicher Weise, vielleicht durch Münzenwerfen, könnte Kagel diese kleinen Tonschritte generiert haben.

226

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

c) Rhythmisierung und Phrasierung (Beobachtung auf Basis der Skizzen) 5. Das Zahlenmaterial wird mit eingeschränkt permutativen Techniken erstellt und durch Symmetriebildung gerechtfertigt. 6. Diese Zahlen werden einer musikalische Gestalt, die zudem in die musikalischmotivische Entwicklung und die Entwicklung der Großform eingebunden ist, zugeordnet. 7. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird das Resultat nochmals kontrolliert und korrigiert. 8. Erst nach diesen Schritten scheint Kagel überlegt zu haben (in Skizze „5“ festgehalten), wie die musikalische Umgebung gestaltet werden soll (und vermutlich auch, wie dieser Klangverlauf in die großformatige Entwicklung der Komposition eingebunden werden kann). d) Kontrolle (Vergleich von Skizze und Partitur) 9. Bei der Übertragung in die Partitur wird die neue Taktvorschreibung gewählt und in die Skizze „5“ nachgetragen, offensichtlich um bezüglich der Periodik und der neuen Seitenzählung Sinn zu stiften. e) Ausweitung des Parameters ‚Takt‘ 10. Die Taktvorzeichung wir auf alle Instrumente übertragen. In (fast) allen Schritten gestaltet Kagel Freiräume, in denen sich die regulierende Eigen gesetzlichkeit der für den jeweiligen Schritt gewählten Kompositionstechnik in das Material schreibt. Aber auch fast bei jedem Schritt sind Kontrollinstanzen etabliert, die diese Eigenmechanik zugunsten einer ‚Musikalisierung‘, wie immer diese auch geartet sei, regulieren. Ebenso ist zu bemerken, dass die Überlegungen zur Form und Entwicklung erst in einem sehr späten Stadium der Genese zu verorten sind. (Dies ist in ähnli cher Ausprägung bei der Konzeption des Films Ludwig van zu beobachten.)454 Die Gestalt der absteigenden Melodielinien begegnet in Kagels Werk sehr oft und ist eher ein für ihn typischer musikalischer Topos als ein individuelles Charakteristikum gerade dieser Passage. Ebenso ist die harmonische Auflösung von C-Dur in die simultane Chromatik wohl als kagelscher Topos oder ‚Geste‘ der Auflösung zu bezeichnen, der beispielsweise auch die zentrale C-Dur-Passage von Les Idées fixes (siehe Kap. VI.6) beherrscht. Demnach kann sie innerhalb dieser Komposition nicht als individuelle Lösung eines Formproblems gelten. Die Topoi erscheinen eher als gesammelte Objekte, 454

Heiles These, dass es zwischen den Particellskizzen, den „sketch sheets“, und der Reinschrift, dem „manuscript“, keine Stufe mehr gäbe, bzw. nur die „execution sketches“ (womit er wohl kleinere Skizzen wie z.B. Formskizzen meint), kann aufgrund dieses Befundes wohl falsifiziert werden. Wenn Kagel simultan an den überlieferten Skizzen und der Partitur geschrieben hätte (vgl. Heile, Diss. Transcending Quotation, S. 30), dann müsste angesichts der kompositorischen Komplexität von Passagen wie der oben beschriebenen die Partiturreinschrift viel ‚unreiner‘ aussehen, d.h. mehr Schreibschichten aufweisen. Es ist daher anzunehmen, dass Kagel im Prozess der Übertragung von den Particellskizzen in die Partiturreinschrift noch einige Skizzierungen vorgenommen hat. Diese Skizzen sind aber nicht erhalten.

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also Gegenstände, in dem Sinne, dass sie dem Subjekt (sowohl dem kompositorischen als auch dem ästhetischen) gegenüberstehen, und ihre Daseinsberechtigung in jedem Werk neu unter Beweis stellen müssen. Kagels kompositorische Entscheidungen bezüglich der musikalischen Gestalt sind also verschiedener Art: Es wird ‚Gestalt‘ mit Hilfe kombinatorischer Verfahren generiert, um die Phrasen dem Motiv der absteigenden Terzenkette anzugleichen. Die Größe der Zahlen, die diese Phrasen bestimmen, wurde so gewählt, dass die Phrasen im musikalischformalen Kontext an dieser Stelle noch indifferent erscheinen, und quasi den noch nicht konsistenten Nukleus der weiteren motivischen Verarbeitung hin zu einer ‚Gestalt‘ bilden. Insofern ließe sich diese Passage hinsichtlich einer musikalischen Entwicklung als ein Übergang oder eine Überleitung beschreiben. Innerhalb der Bezugsräume der Passage verhalten sich die Zahlen jedoch scheinbar willkürlich beziehungsweise aleatorisch generiert. Es finden sich aber auch eine gestaltauflösende Entwicklung in dieser Passage, und zwar wird die in der rechten Hand des Klaviers klanglich exponierte Tonalität CDur zum chromatischen Cluster in beiden Händen aufgelöst. Es bleibt zu fragen, inwiefern dieses Verfahren und das klangliche Ergebnis noch mit dem seriellen Moment der Seriellen Tonalität zu tun haben. Das Verfahren ist schließlich nichts anderes als ein kombinatorisches. Kann man also kombinatorische Verfahren als seriell bezeichnen? Dies ließe sich mit der Gegenfrage beantworten: Ist Serialität im Grunde genommen nichts anderes als eine spezielle Art der Kombinatorik? Das tatsäch lich Neue und genuin Kagelsche an dieser Seriellen Tonalität ist sicher die Tatsache, dass nicht alle musikalischen Parameter von einer Serie determiniert sind. Stattdessen findet die Musik im Laufe der Genese und durch verschiedene, voneinander unabhängige, aber serielle Techniken zu einer musikalischen Gestalt. Die Determination des Materials wird durch zwei entgegengesetzte Bestrebungen infrage gestellt: zum einen durch das beständige Loslassen in die Eigengesetzlichkeit der technischen Verfahren und zum anderen durch den regelnden, auktorialen Eingriff des Komponisten, dem Ich. Insofern lässt sich ein scheinbares Gegensatzpaar der Moderne und der ‚Vormoderne‘, nämlich die Begriffe der technisch generierten Prozessualität und der motivisch-thematischen Ent wicklung, in Kagels Fall zusammenführen in die Beobachtung, dass Prozessualität bei Kagel im Dienst einer Entwicklung von musikalischer Gestalt (oder deren Gegenteil, der systematischen Auflösung einer musikalischen Gestalt) steht. Schließlich sei, um auf einen früheren Themenkomplex zu rekurrieren, die Frage aufgeworfen, was all dies mit dem Sammeln zu tun hat. Oder anders gefragt: Inwiefern lässt sich diese Passage als Gesammeltes zu bezeichnen, die Komposition als Sammlung und der Komponist Kagel als Sammler? Da ist zunächst die dezidierte Objekthaftigkeit der Passage: Obwohl sie formal und musikalisch eingebunden ist und als Initial für den weiteren Verlauf fungiert, ist sie in ihrer tatsächlichen Gestalt ein Versatzstück. Mehr noch: sie stellt, wie bereits erwähnt, einen musikalischen Topos Kagels dar. Diese Passage tritt also aufgrund ihrer Ähnlichkeit in einen Zusammenhang zu anderen Passagen in Kagels Werken, so wie eine Semiophore in einen Dialog mit der Sammlung tritt, in die sie aufgenommen wurde.

228

Geschichte(n) der Seriellen Tonalität

Ähnlich verhält es sich mit dem tonalen Moment der Seriellen Tonalität. Auch sie fun giert in Kagels Kompositionen als eine Semiophore, da der Kontext ‚Tonalität‘ als ‚Unsichtbares‘ immer zugegen ist, auch wenn dessen Gesetzmäßigkeiten nicht greifen. Das ausschlaggebende Kriterium für die Anwendung der Vorstellung des Sammelns auf die Komposition ist aber, dass den ‚Objekten‘ Kagels immer eine immense Potentialität innewohnt. Potentialität meint hier das Potential einer musikalischen Gestalt, so zu sein oder auch anders. Diese Potentialität zum So-Sein oder Anders-Sein ist bereits in der Werkgenese angelegt. So ist beispielsweise zu beobachten, dass im Prozess der Werkkonstitution die musikalische und formale Einbindung einer Gestalt möglichst lange vom Komponisten ‚aufgeschoben‘ wird. Die ausschlaggebende Technik, mit der dieser ‚Aufschub‘ gewährleistet und poetologisch gerechtfertigt wird, ist die Collage- und Montagetechnik. Dieses Potential zum So-Sein oder Anders-Sein bewahrt sich dann auch bis zum Schluss, und ist im tatsächlichen Werk als ästhetisches Kriterium festzustellen. 455 So reiht Kagel Formteile in einer Weise so aneinander, dass sie den Charakter des scheinbar Will kürlichen oder tatsächlich Gesammelten auch nach ihrer Einarbeitung beibehalten. Kagel wird dies meistens als eine Schwäche ausgelegt, als eine Marotte, die er trotz seiner Meisterschaft Zeit seines Lebens nicht abzulegen gewillt ist. Und diese generelle Eigenschaft des Gesammelten berührt in ihrer Ausprägung in die Zeitlichkeit, der die Musik als Zeitkunst ohnehin unterworfen ist, das – bereits des öfteren thematisierte – grundlegende Formproblem in Kagels Werk. Aber ist es nicht vielmehr so, dass die analytische Erkenntnis der Großform als der einer Entwicklungsform nur als Normsetzung einer Musikanalyse erscheint, die mit ihren Mitteln nur noch in der Lage ist, die Oberflächen abzutasten? Deren Streben nach Erkenntniszuwachs muss in dem Moment ins Leere laufen, wenn ihr eine Potentialität entgegentritt, die normbrechend wirkt. Versuchen wir trotzdem im nächsten Kapitel dieser zuerst unendlich erscheinenden Potentialität am Beispiel von Les Idées fixes nachzugehen und ihr doch einige ‚Normierungen‘ abzugewinnen.

455

Diese Potentialität muss nicht unbedingt inhaltsästhetisch als kunstimmanenter ‚Bedeutungsüberschuss‘ interpretiert werden. Sie ist bereits in der Anlage des Werks zu finden und ist eher mit Ecos Vorstellung einer ‚offenen Form‘, eines strukturellen bzw. poetischen Agens, der Wahrnehmungen lenkt, vergleichbar.

VI.

Les Idées fixes

Im folgenden Kapitel sollen an Les Idées fixes. Rondo für Orchester 456 die verschiedenen Aspekte des kagelschen Komponierens, die Narration, die Intermedialität und das Sammeln sowie die mit diesen Aspekten verwobene Verfahrensweise der Seriellen Tonalität exemplifiziert werden. Die Entscheidung, gerade ein Orchesterwerk als Gegenstand der abschließenden Analyse zu wählen, hat unter anderem einen sehr naheliegenden Grund: Es existiert – mit Ausnahme von Wieland Reichs Analyse der Sankt-Bach-Passion, die ihren Schwerpunkt in der Satztechnik hat – bislang keine erwähnenswerte Literatur über das orchestrale Werk Kagels. Aber auch einige für die Fragestellung der Arbeit relevante Aspekte lassen sich an einem Orchesterwerk besonders gut nachzeichnen, beispielsweise das im Zusammenhang mit der Intermedialität angesprochene künstlerische Nachvollziehen eines maschinenhaften Automatismus, der in den Kapiteln VI.2 und VI.3 an zwei Passagen aus Les Idées fixes untersucht wird. Es ist meines Erachtens nicht zufällig, dass gerade in der zweiten Passage die Collage als Wahrnehmungsweise eine entscheidende Rolle spielt, bietet sich Musik mit orchestraler Besetzung doch besonders für Collageverfahren an. Mit dem ästhetischen Moment der Automatisierung von Musik geht auch das poetische Moment der Automatisierung von Kompositionsverfahren einher, das ebenfalls bei den orchestralen Werken Kagels und besonders an den Skizzen von Les Idées fixes beobachtbar ist. Diese sich in ihrer Eigengesetzlichkeit als autopoetisch gerierenden Kompositionsmechanismen sind zu einem entscheidenden Teil durch die ordnungs- und sinnstiftende Kraft der Seriellen Tonalität bestimmt, wie im Kapitel VI.6 zu zeigen sein wird. Les Idées fixes bietet sich für die Analyse im Besonderen an, weil an ihm, ähnlich wie beispielsweise am Komplex Ludwig van, das bereits erwähnte kagelsche Formproblem hervortritt. Im Kapitel VI.4 wird dies auf ästhetischer Ebene an der impliziten Rondoform und in VI.6 in werkgenetischer Hinsicht problematisiert. Ein Teilergebnis dieser Untersuchung wird sein, dass die Rondoform des Werkes auch als Montage von verschiedenen Formteilen gedeutet werden kann. Die diesem Werk zugrundeliegende Idée fixe und ihre Verarbeitung wird sich dar über hinaus als eine Ausformung der kagelschen Musiksprache darstellen lassen, und zwar als ein Prozess, der die Auflösung von musikalischer Gestalt zum Ziel hat (Kap. VI.5 und 6). Dabei sollen die dem Werk unterlegten programmmusikalischen Assoziationen auf die Möglichkeit geprüft werden, ob sie für die Annahme einer Narration ausreichen und inwiefern der programmmusikalische Gehalt des Werkes Auskunft über den Erzähler Kagel gibt. Ebenso wird die Beschaffenheit der Idée fixe sowie deren weitere Behandlung Einblick in deren Objekthaftigkeit als Gesammeltes geben. 456

UA am 4. Dezember 1989 in der Opéra Comique, Paris, Ltg. Mauricio Kagel. Die Varianten in der Groß- und Kleinschreibung des Titels sind alle gebräuchlich und von Kagel autorisiert, u. a. „Les Idées Fixes“ (Partitur), „Les idées fixes“ (autorisierte CD-Einspielungen) und „Les Idées fixes“ (in einem Großteil der Manuskripte Kagels). Im Folgenden benutze ich letztere Variante.

230

Les Idées fixes

Insofern ist folgende Analyse von den drei übergreifenden Aspekten durchwirkt: 1. vom Erzählen angesichts der inhärenten programmmusikalischen Konnotationen, 2. von der Intermedialität hinsichtlich der Automatisierungsprozesse auf ästhetischer und poetischer Ebene beziehungsweise der Montage und Collage als Techniken und Wahrnehmungsweisen, und 3. vom Sammeln bezüglich der Idée fixe, der Form und der Auflö sung von musikalischer Gestalt. Die Verfahrensweise der Seriellen Tonalität wird hinsichtlich dieser Aspekte als eine Technik darzustellen sein, die diesen dreien zu ihrer Wirkungskraft verhilft und womöglich die kompositionstechnische Voraussetzung bildet, damit diese entstehen können. Insofern trägt die Serielle Tonalität – in ähnlicher Weise wie das Erzählen, die Intermedialität und das Sammeln – dazu bei, den Anschein des Fehlens eines kompositorischen oder künstlerischen Subjekts zu erzeugen.

1

Serielle Tonalität und ‚orchestrales Spätwerk‘ Ein alter Traum von Komponisten ist der Glaube an die Notwendigkeit der von ihnen gefundenen Töne. Diese Sachlage ist jedoch komplizierter, als man meint, weil Komponisten fest davon überzeugt sind, daß alle ihre Tonkombinationen unerläßlich sind. Wenn man so will ein musiktheoretisches Postulat der Unfehlbarkeit.457

Bevor die Orchestermusik Kagels am Beispiel von Les Idées fixes beleuchtet wird, soll zunächst die Technik der Seriellen Tonalität diesbezüglich hinterfragt werden. Wie bereits erwähnt, besann Kagel sich Anfang der 1970er Jahre verstärkt – und nun auch für den musikalischen Laien deutlich hörbar – auf die Musiktradition des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Werke dieser bis zu seinem Tode andauernden Phase, besonders die der späten 1980er Jahre, zeichnen sich durch eine Klangsprache aus, die unter anderem in ihrer Motivik und Periodik an die Musik der beiden letzten Jahrhunderte erinnert. Sind Kagels Werke generell durch eine prägnante Motivik bestimmt, so wird diese in den Werken der ‚neuen‘ Phase der späten 1980er in einen musiksprachlichen Kontext gebracht, der Vergleiche mit historisch gesetzten, ästhetischen und kompositorischen Kategorien zulässt, wie beispielsweise der motivisch-thematischen Arbeit der Klassik, der Motivfortspinnung des Barock oder der Synthese beider, der variativen Entwicklung eines Brahms oder Schönberg. Befragt man die Musikgeschichte nach dem stilistischen Ursprung dieser neuen Kompositionsweise, drängen sich Vergleiche mit den Werken der Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts auf (wie Igor Stravinsky und Béla Bartók) und dem französischen Impressionismus (wie Claude Debussy). Bemerkenswert an dieser neuen Phase ist aber nicht allein die Tatsache, dass Kagel an Traditionsaufnahmen und -neugründungen des frühen 20. Jahrhunderts anknüpft, sondern in welcher Anhäufung diese musikalischen Phänomene in Kagels Werken Verwendung finden. Zudem ist die große Zahl der Kompositionen, die Kagel nun in kürzester Zeit vollendete, bemer457

Kagel, in: Kagel/Klüppelholz, Über Komponieren in der Postmoderne, S. 101-102.

Les Idées fixes

231

kenswert. Der Produktionsschub in dieser Zeit fällt zusammen mit den ersten Werken für die große spätromantische Orchesterbesetzung. Sicher ist Kagels Hinwendung zur Tonalität als Teil einer generellen kompositori schen Strömung zu verstehen, die Anfang der 1970er Jahre begann und deren Klanglichkeit Leo Samana „auf fast allen Fronten der zeitgenössischen Musik [als] erkennbarer, emotional direkter“458 erfährt. Diese äußere sich nicht nur in einer Abkehr oder neuartigen Umformung von seriellen und aleatorischen Techniken, so „daß sie Bedeutungen und Inhalte erhalten haben, welche oft den eigentlichen generativen Kräften, die zu ihrem Entstehen geführt haben, vollkommen entgegengesetzt sind.“ Auch sei auf herkömmliche Gattungen und deren Formen zurückgegriffen worden, zum Beispiel dem „romantischen Symphonieorchester“, dem „‚althergebrachten‘ Streichquartett oder dem ‚einfachen‘ Kunstlied, um eine für das 19. Jahrhundert typische Sehnsucht, eine wohllautende, melodische Musik, oft sogar eine auffallend tonale Harmonik auszudrücken.“ 459 Betrachtet man aber die große Anzahl an Kompositionen für größere Besetzungen jener Zeit, so scheint es, als habe Kagel gleichsam mit einem Schlag den Gordischen Knoten gelöst, der seine schöpferischen Energien vormals gebunden hielt. Ein Schlüsselbegriff, der zum Verständnis von Kagels Produktionsschubs jener Zeit beiträgt, ist – wie bereits mehrmals erwähnt – der der Seriellen Tonalität. Diese ‚Technik‘ ermöglicht es Kagel, seinem Anspruch als Komponist, jeden Ton zu legitimieren, gerecht zu werden. Ein ähnliches Diktum findet man im Extremfall schon bei Anton von Webern erfüllt, allerdings dort einhergehend mit der Infragestellung einer der wichtigsten, der Musik als Kunstform spezifischen Eigenschaften, nämlich der Ausdehnung in die Zeit. Kagel geht hingegen den entgegengesetzten Weg, in dem er das Diktum der Daseinsberechtigung der Töne auf größere musikalische Formabschnitte anlegt, und die Töne in harmonische und satztechnische Zusammenhänge bringt, welche jeweils vom Komponisten nicht mehr in Frage gestellt werden müssen. Das für Kagel spezifische Problem der ‚Notwendigkeit der gefundenen Töne‘, um den Wortlaut des obigen Zitats aufzunehmen, wird durch die Bildung von Kontexten gelöst. Die ‚Selbstzensur‘ des Komponisten wird hierbei freilich ausgeweitet, aber nicht aufgegeben. Jeder Ton innerhalb des einzelnen musikalischen Kontextes wird durch denselben berechtigt. Dies wirkt sich zweifellos auf die Ökonomie des Komponierens aus, es können – vereinfacht gesagt – größere Mengen an Tönen verarbeitet werden, indem sie in übergreifende musikalische Zusammenhänge, wie formale Einheiten und Sinnabschnitte, gebracht werden. Diese Ausweitung der selbstkontrollierenden Instanzen erlaubt es dem Komponisten, formal und instrumental größer dimensionierte Werke zu entwerfen. Bemerkenswerterweise finden sich in dieser Phase erstmals auch größer dimensionierte rein ‚absolute‘ Musiken – also musikalische Werke, die nicht unbedingt auf außer musikalische Assoziationen oder Aktionen angewiesen oder von ihnen durchzogen sind. Die größere Dimensionierung der Form, ist bezüglich der generellen Formproblematik bei Kagels Werken von besonderer Wichtigkeit, da Kagel dieses Problem fortwährend in seinen Kompositionen reflektiert. 458 459

Samana, Neoromantik in der Musik, S. 451. Ebd.

232

Les Idées fixes

Ein in dieser Hinsicht bedeutendes Werk sind Kagels Variationen ohne Fuge für großes Orchester 1971/72 über „VARIATIONEN UND FUGE“ über ein Thema von Händel für Klavier op. 24 von Johannes Brahms 1861/62, in denen die Serielle Tonalität mit ihren Möglichkeiten erstmals vollständig ausgeschöpft wird. 460 Die Anklänge an die Tonalität weisen hier jedoch noch Referenzcharakter auf, die multitonalen Stellen in diesem Werk erscheinen als Gesamtes noch atonal. Ein weiteres Werk, das sich mit der Musiktradition, nun vom Anspruch her einer ganzen musikalischen Gattung, dem romantischen Kunstlied, auseinandersetzt, ist das 1977 begonnene und 1980 abgeschlossene Werk Aus Deutschland. Eine Liederoper, in dem Kagel Klänge und musikalische Strukturen aus den Kompositionen Schuberts und Schumanns verarbeitet. Als Initial für diese seriell-tonale Kompositionsweise fungiert in mittelbarer Weise der zentrale Werkkomplex Ludwig van von 1969/70. Vorher waren die musikalischen Anleihen an die Tonalität noch auf Werke kleinerer Besetzung und in dieser Hinsicht nur auf die Verwendung von Akkorden in Terzschichtung beschränkt, wie in Tremens. Szenische Montage eines Tests für zwei Darsteller und elektrische Instrumente, welches er 1963 bis 1965 komponierte und am 6. Mai 1966 in Bremen uraufführte. Dort begründen sich die Terzschichtungen noch aus den Möglichkeiten des Instrumentariums, beispielsweise der Akkordklaviatur der Hammond-Orgel, oder dem praktischen Musizieren mit dem Instrument, also im weitesten Sinne aus dem Instrumentaltheatralischen. Ebenso ergeht es dem Werkzyklus Programm (1972) mit den Stücken Musi für Zupforchester und Unguis incarnatus est „für Klavier und...“. In der Phase vor Ludwig van war die Tonalität also noch einer offenen Kritik ausgesetzt. 461 Mit Ludwig van scheint sich die ästhetische Grundhaltung geändert zu haben, der kompositorische Diskurs mit der Tradition sowie der mit ihr verbundenen Tonalität erhält nun ein positives Vorzeichen. In seiner weiteren Auseinandersetzung mit der Seriellen Tonalität erscheint die Ausweitung auf den großen Orchesterapparat nur als logische Fortführung.462

460

461 462

Mithilfe der Entwurfs- und Ausführungsskizzen zu den Variationen ohne Fuge, die ich ebenfalls ausgewertet habe, lässt sich freilich ein weiteres Kapitel füllen. Hier sei nur soviel angemerkt: Kagel verwendet für die Variationen verschiedenste avancierte Techniken, wie Permutationen, Klang- und Intervallspreizungen, den genuin kagelschen „Faux-Faux-Bourdon“. Vgl. hierzu bspw. Werner Klüppelholz, „‚Ohne das Wesentliche der Ideen unkenntlich zu machen‘. Zu Kagels ‚Variationen ohne Fuge...‘“, in: Die neue Musik und die Tradition. Sieben Kongreßbeiträge und eine analytische Studie, hg. v. Reinhold Brinkmann, Mainz u.a. 1978 (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung, Bd. 19), S. 114-129, hier S. 121. Die von Wieland Reich bei der Sankt-Bach-Passion beschriebenen satztechnischen Verfahren lassen sich größtenteils auch schon in diesem Werk finden und als solche bezeichnen (vgl. Reich, Sankt-Bach-Passion, die Auflistung der Kompositionstechniken im Inhaltsverzeichnis, S. 5-6). Im Vergleich zu späteren, seriell-tonalen Werken sind diese aber noch jeweils einzeln in den Variationen abgearbeitet, sie werden kaum miteinander kombiniert. Insofern erinnern die Variationen eher an Kompositionsstudien, in denen das Finden und Ausprobieren dieser ‚neuen‘ Techniken der Seriellen Tonalität im Vordergrund stehen. Erinnert sei hier an die ‚nervenden‘ Akkordrepetitionen der Gitarre in Tactil (1970). Die Werke Etudes I, II und III für Orchester (1995/96) bilden hierbei eher die Ausnahme. Sie zeigen die Unvereinbarkeit des großen Orchesterapparates mit dem intimen Etüdenspielen.

Les Idées fixes

233

Bei Les Idées fixes ist die Ausdehnung des Klangkorpus auf die Größe eines romantischen Orchesters463 jedoch mit Vorbehalten zu betrachten, wird hier der gesamte Orchesterapparat doch nur bei sehr exponierten Passagen eingesetzt. Zusätzlich lassen die abrupten Wechsel der Orchestration und die Zusammenstellung der Klangfarben vermuten, dass Kagel sich nicht an die große spätromantische Orchestertradition Mahlers oder Bruckners anlehnt oder diese zitiert. In einem frühen Stadium war das Werk zunächst für Kammerorchester konzipiert gewesen. 464 Auf einem frühen Skizzenblatt zu Les Idées fixes, Bl. 1/24, vermerkt er sogar: „Soll so klingen wie Orchestrion.“ 465 Diese beiden Ideen scheinen sich im Gesamtergebnis niedergeschlagen zu haben: Gerade bei dem stetigen Wechsel der kompletten Instrumentierung am Anfang des Werkes, und der Diffe renzierung der Instrumentengruppen bis hin zu den ersten und zweiten Instrumenten der Bläsergruppen, liegt der Gedanke nahe, dass Kagels sich eher von der Vorstellung leiten ließ, ‚mehrere Kammerorchester in einem großen Orchester‘ zu vereinigen und gleichzeitig zu exponieren.466 In den Instrumentationstabellen bzw. Formskizzen Bl. 13/3 ist dieses Denken in separaten Einheiten von völlig unterschiedlichen Klangkörpern nachzuvollziehen:

463 464

465 466

2 Fl. (1. auch Picc., 2. auch Picc. u. Alt.), 1 Ob., 1 E-Hr., 2 Klar. (in B), 1 Baß-Klar., 2 Fg., 2 Hr., 2 Trp. (in C), 2 Pos., 1 Tb., 3 Schlgzg., 1 Harf., 1 Celesta, 1 Klav., 16 Vl., 10 Va., 8 Vc., 6 Cb. Ursprünglich sollte der Untertitel Rondo für Kammerorchester heißen, z.B. in den frühen Skizzen und auch noch in der auf den 14. Juli 1989 datierten Reinschrift der Partitur. In Kagels „1. Handexem plar“, also der Dirigierpartitur, ist das „Kammerorchester“ von ihm in „Orchester“ korrigiert worden. Vermutlich lag diese Änderung an der größeren Besetzung bei den Aufführungen in Stuttgart und Den Haag, bei denen laut Kagels handschriftlichem Vermerk bei den Besetzungsangaben 16 Violinen, 10 Violen, 8 Violoncelli und 6 Kontrabässe verwendet wurden. Bei der Streicherbesetzung ist noch der Passus abgedruckt: „Diese Komposition kann aufgrund der Zusammenlegung der Geigen mit einer reduzierten Streicherbesetzung aufgeführt werden. Zum Beispiel: 10, 6, 4, 2. In diesem Fall soll der Untertitel des Werkes geändert werden: Rondo für Kammerorchester“. Kagel änderte dies, indem er zuerst über das „kann“ ein „soll“ schrieb, dieses dann aber wiederum ausstrich. Zudem änderte er die Zahlen der Violoncelli und Kontrabässe in 5 und 3 und tilgte den kompletten letzten Satz der oben zitierten Anmerkung. Diese Änderungen wurden in die veröffentlichte Partitur aufgenommen. Die Idee des Orchestrionklanges wird er 1995/96 in Orchestrion~Straat für Kammerensemble weiter thematisieren. Das Werk ist offensichtlich in zwei Phasen entstanden, und zwar nach Kagels Angaben „bis 6.4.88“ und „ab 2.4.89“ (nach Skizze, Bl. 16/24). Die Particellskizze „9“ ist jedoch auf den „1.11.88“ datiert. Das erste datierte Skizzenmaterial innerhalb des Konvoluts setzt sich hauptsächlich mit rhythmischen Permutationsmöglichkeiten auseinander (z.B. Skizze, Bl. 5/24, dat. mit „30.11.86 | Paris“). Obwohl in den für den 6. April 1988 datierten Formskizzen Bl. 1-3/3 die diversen Rondoabschnitte bereits als solche skizziert waren, hat Kagel dem Konzertveranstalter offenbar erst ein knappes Jahr später, am 29. März 1989, den Entschluss mitgeteilt, dass das Werk den Untertitel „Rondo für Kammerorchester“ tragen soll. Siehe den durchgestrichenen Hinweis „Josephine! | Rondo statt Konzert“ und den nachträglichen, datierten Vermerk „Habe Josephine Bescheid gegeben.“ in Skizze, Bl. 18/24.

234

Les Idées fixes

Abb. 56: Kagel, Les Idées fixes, Formentwurf „Rondo 1“, Bl. 2/3, in Blei und rotem Filzstift.

Neben der generellen Einteilung in Abschnitte und der Zuordnung der Instrumente zu den verschiedenen Abschnitten (x = Begleitung, x mit Kreis = Hauptstimme mit der Idée fixe) hat Kagel im unteren Bereich der Skizze weitere vorläufige Parameter bezüglich der Periodik und Harmonik festgehalten.

Les Idées fixes

2

235

Automatisierung von Musik und Komposition

Eine solche Ökonomie der Kompositionstechnik, wie sie an oben dargestellter Formskizze abzulesen ist, hat zweifellos Auswirkungen auf das musikalische Ergebnis. So erkennt beispielsweise Reinhard Schulz bei Kagel „eine offenkundige Vorliebe für das Mechanische, für die wissenschaftlich-systematisierende Ordnung“, wobei sich „gerade aus dem Wunsch nach gesichertem Ablauf im abzählenden Erfassen oder im surrend-maschinellen Getriebe (von der Himmelsmechanik über das Zwei-Mann-Orchester bis zum Fleischwolf Gottes aus der Erschöpfung der Welt) [...] das Absurde“ erwachse.467 Dieses Maschinelle ist nicht nur in der Musik Kagels zu finden, sondern auch in der Kompositionsweise beziehungsweise deren Automatisierung. Beispielhaft hierfür sind die Skizzen zu den Takten 350 bis 377 von Les Idées fixes. Auf dem Skizzenblatt „10“ umreißt Kagel die gesamte Organisation der Passage 310 bis 373:

Abb. 57: Kagel, Les Idées fixes, Skizzenblatt „10“, in schwarzer Tinte, mit nachträglichen Einträgen in roter Tinte, rechter, unterer Ausschnitt.

467

Schulz, Die Gesetze des Alltäglichen, S. 259.

236

Les Idées fixes

In der oberen Hälfte des Skizzenausschnittes ist die Periodik der Takte 310 bis 373 festgehalten, in der unteren Hälfte das Akkordmaterial und dessen Verarbeitungsmöglichkeiten in Hinblick auf die Periodik und die melodische Kontur. Im Laufe der Werkge nese wurde dieses Konzept allerdings verändert, die Skizze ist tatsächlich nur für den Verlauf bis Takt 332 genutzt worden. Die Schlusssteigerung der Takte 350 bis 377 hat Kagel auf Skizzenblatt „11“ verso festgehalten.468 Der skizzenhafte Abriss enthält drei Akkoladen zu je zwei Systemen in rhythmischer Notation, wobei das erste System den von Kagel so genannten „Haupt rhythmus“ wiedergibt, das zweite die „Begleitung“, das ist in diesem Falle die charakteristische Begleitung des Basses. (Die zugehörigen Akkorde fügt Kagel in der Reinschrift als Nachschläge hinzu.) Zur Veranschaulichung sei hier nur der Anfang der Skizze wiedergegeben:

Abb. 58: Kagel, Les Idées fixes, Skizzenblatt „11“ verso, linker, oberer Ausschnitt. Leere Systeme und „Begleitung“ in blauer Tinte, „Hauptrhythmus“ in Blei und Seitenangaben und Taktzahlen in roter Tinte.

Die Generierung des oben abgebildeten „Hauptrhythmus“ ist – wie in anderen Skizzen auch – am linken, oberen Rand eingezeichnet. Und auch wie in den anderen Fällen setzt er sich aus Gruppen zu 8teln und 16tel-Triolen zusammen, deren Anordnung und Häufigkeit durch Zahlenreihen organisiert sind: [8tel] 1-6 (2x) [16tel-Triole] 1-12 (1x)

3

2 3

5 4

6 8

1 2

→ 4 10

← 4 7

1 9

6 1

5 11

2 6

3 12

5

Abb. 59: Kagel, Les Idées fixes, Skizzenblatt „11“ verso, bereinigte Umschrift des linken, oberen Seitenrands. Vgl. auch die Übernahme dieser Zahlen in den „Hauptrhythmus“ der vorigen Abbildung. 468

Vermutlich folgten dieser Particellskizze noch einige Ausführungsskizzen. Man findet zwar bei den Zahlenreihen die typischen Häkchen, mit denen Kagel üblicherweise die bereits verwendeten Zahlen versieht, aber es ist unwahrscheinlich, dass Kagel die Tonhöhendisposition direkt in die Reinschrift umgesetzt hat. Ein Indiz dafür sind die hier noch fehlenden Angaben zur Instrumentation: Nach Kagels Arbeitsweise zu urteilen, ist zu vermuten, dass er auch für diese Passage eine Instrumentati onstabelle angefertigt hat.

237

Les Idées fixes

Die Zahlenreihe von 1 bis 6 für die Achtel-Werte ist zweifach wiedergegeben und als Palindrom angelegt, die Zahlenreihe für die 16tel-Werte beinhaltet alle Zahlen von 1 bis 12. Dies ist auch vielfach an anderen Stellen zu beobachten und nicht außergewöhnlich. Dafür ist die Tonhöhenorganisation umso interessanter, die am rechten, oberen Rand des Skizzenblattes in einer Tabelle festgehalten ist. Die erste Tabellenreihe gibt die Peri odik an, die zweite die Klangdichte, die dritte die genauen Tonhöhen (1=c...12=h) und die vierte, obwohl mit „Systeme“ bezeichnet, die Anzahl der Instrumente. Der Übersicht halber sei nur der Anfang der Tabelle in bereinigter Umschrift abgebildet: (2-6 8tel) Anzahl Einheiten mit gleichem Tonvorrat Anzahl Töne (2-12) Töne 1-12 / 1-12 ...

4

2

5

6

[...]

2

8

3

9

[...]

6 10

8 9 6

Anzahl Systeme 1 (2) 3-14

1

12 4 1 7 3 11 5 2 4

2 4 3 7

8

5 10 4 7 1 12

[...] [...]

Abb. 60: Kagel, Les Idées fixes, Skizzenblatt „11“ verso, oberer Rand, bereinigte Umschrift des Tabellenanfangs.

Die Zahlenwerte der ersten Zeile sind daraufhin in der rhythmischen Partitur (siehe Abb. 58, oberhalb des Systems „Hauptrhythmus“) auf den Grundrhythmus gelegt worden, so dass sie – mit dem Wechsel der Klangfarben und den verschiedenen Tonvorräten – die gesamte Periodik beeinflussen. Die Tonhöhendisposition ist hier klar dodekaphon strukturiert, am Anfang ist sogar noch ein Bestreben zur Vollständigkeit der Reihe erkennbar: Liest man die Zahlen für die Tonhöhen von der Zahl 6 in den folgenden drei Kästchen bis zur nächsten 6 durch, so ergeben die Zahlen die komplette Zwölftönigkeit. Im weiteren Verlauf der Tabelle folgen die Zahlen jedoch offenbar keiner nachvollziehbaren Gesetzmäßigkeit. Das mag zum Teil an der steigenden Anzahl der Töne pro Periode liegen. Diese allmähliche Verlängerung der Perioden, und zwar durch die Zahlen 2, 8, 3, 9, 4, 10, 5, 6, 12 und 7 ist hingegen wieder nach einem additiven – beziehungsweise im rein mathematischen Sinne ‚seriellen‘ – Prinzip aufgebaut, und zwar durch die Operationen: +6, -5, +6, -5 etc. Dies findet auch in der endgültigen Partitur ihre Entsprechung, jedoch in der Weise, dass Kagel seinen Anweisungen des Skizzenblattes „10“ folgt, die besagen, dass die Töne der Akkorde chromatisch verschoben werden können. In der ersten Periode, Takte 350-3511, werden zum Beispiel die Töne 6 und 10 (bzw. f und a) der Flöten nach diesen Anweisungen chromatisch verschoben, so dass der Simultanklang in eine Wechselbewegung führt. In der nächsten Periode (Takt 351) erhalten die Tonhöhen h und e (Flöten) Wechseltöne nach unten, die Tonhöhen cis, ais (Klarinetten) sowie fis und c (Hörner) nach oben, die Töne d und e im Klavier werden durch dis und cis zu einer chromatisch absteigenden Linie vervollständigt. Kagel verschränkt diesen Periodenbau mit einer Zahlenreihe, die die Anzahl der Instrumente pro Periode definiert, so dass die klangliche Differenzierung der verschiedenen Perioden gewährleistet ist:

238

Les Idées fixes

Abb. 61: Mauricio Kagel, Les Idées fixes, T. 350-351, die den „Hauptrhythmus“ ausführenden Instrumente, Umschrift des substantiellen Notentextes des Partiturdrucks.

Die wechseltönigen, zum Teil gegenläufigen Bewegungen, zuerst in kleinen, später auch in großen Sekunden, verleihen diesem Abschnitt, verbunden mit der Rhythmik und der Periodik, die explizite musikalische Gestik, die zwischen orchestralem Timbre und quasi im Unisono geführten Bewegungen changiert. 469 Der an den Anfang des Werks erinnernde „ummta“-Bass, der hier zugefügt ist, tritt mit der zunehmenden Klangballung in den Hintergrund. Dies schien auch Kagels Klangvorstellung gewesen zu sein, wenn er auf Skizzenblatt „11“ verso (links unten) zur Begleitung vermerkt: mit Beginn von Takt 350 startet die Reprise von der textuelle [sic!] Begleitung Takte 5-21 Uminstrumentiert.

Der anfängliche Begleitrhythmus des „ummta“-Basses (im oberen Notenbeispiel nicht abgebildet) erhält den Charakter einer ‚Textur‘, da seine Perioden und Phrasen ordnende Charakteristik hier durch die unregelmäßigeren Phrasen der Hauptstimme fortwährend auf die Probe gestellt wird. Der dynamische Verlauf dieser Schlusssteigerung tut sein Übriges dazu, den „ummta“-Bass auch in klanglicher Hinsicht allmählich abzudecken und in den Hintergrund treten zu lassen. Die letzten Takte 373-377 lassen den durch diese Collage erreichten Konflikt zwischen der begleitenden Textur und der Periodik der Hauptstimme schließlich in einen musikalisch-gestischen Abschluss münden: Die hier nur noch rudimentär zu erkennenden und unregelmäßig einsetzenden Nachschläge der Begleitung in Klarinetten, Trompeten, Marimba, Xylophon und Klavier werden mit einer auf einzelne Töne reduzierten Periodik konfrontiert.

469

Reich beschreibt an der Sankt-Bach-Passion in seinem Kapitel „Intervallpendel und Akkordpendel“ identische und ähnliche Verfahren (ders., Sankt-Bach-Passion, S. 260-264).

Les Idées fixes

239

Abb. 62: Kagel, Les Idées fixes, Reprographie des Partiturdrucks, kompletter Satz, PN 31775, T. 372-377.

Das unmittelbar wahrnehmbare Maschinenartige dieser Musik ist zu einem großen Teil durch die Arbeitsweise Kagels bestimmt, und zwar durch das Setzen und Collagieren der musikalischen Parameter Rhythmik und Periodik. Das prozessuale Variieren aller Parameter ist dabei aber das Ausschlaggebende, ihr ist – bei aller offensichtlichen und hörba -

240

Les Idées fixes

ren Kompositionsmechanik – auch die musikalische Komplexität zu verdanken. Hätte Kagel es allein den unregelmäßigen Tonrepetitionen und den einfachen Bewegungsabläufen überlassen, das Maschinenhafte auszudrücken, dann wäre möglicherweise lediglich eine Musik entstanden, die das Maschinenhafte selbst zum Thema hat, wie beispielsweise die stampfende Akkordrepetition in Bernd Alois Zimmermanns Paraphrase von Stockhausens Klavierstück IX im sogenannten ‚Enthirnungsmarsch‘ seiner Musique pour les soupers du Roi Ubu. Ballet noir en sept parties et une entrée (1966).470 Die fortwährende Permutation der Zahlen konstituiert bei Kagel aber einen Wahrnehmungsbereich, der die Kompositionstechnik nachvollziehen lässt, ohne sie komplett aufzudecken. Das macht vielleicht die große Faszination des maschinellen Getriebes aus.

3

Montage als Wahrnehmungsweise

Eine weitere Passage, in der diese Automatismen musikalisch in ähnlicher Weise ausgeformt werden, findet sich in den Takten 217 bis 225, in denen das Orchestertutti aus zwei übereinander gelagerten Satzstrukturen erzeugt ist (siehe folgende Abbildungen). Die eine Satzstruktur besteht aus asynchron fortschreitenden Zweiklängen in den Blechbläsern, wobei die Zweiklänge je Notensystem den Instrumentenpaaren zugeordnet sind, und zwar den zwei Hörnern im Quartabstand, zwei Trompeten, welche meistens im Kleinterzabstand geführt sind, und den zwei Posaunen im Großterzabstand. Die Fortschreitung dieser Zweiklänge ist durch die Intervalle der kleinen und großen Sekunde geprägt. Die Melodielinie der Tuba bewegt sich überwiegend chromatisch abwärts. Diese melodisch linear geprägte Satzstruktur wird vom restlichen Tutti durch Arpeg gien kontrastiert (bis auf die zweite linke Hand im Klavier á 4 mains). Die Arpeggien bestehen aus Moll- und Dur-Akkorden, wobei die Holzbläser, die Streicher und die Har monieinstrumente die Arpeggien in unterschiedlichen Proportionen (8tel und 16tel) und mit unterschiedlicher Phrasierung ausführen.471 Zur besseren Übersicht seien die Seiten 46 bis 48 des Partiturdrucks im Folgenden komplett wiedergegeben: 470

471

Bernd Alois Zimmermann, Musique pour les soupers du Roi Ubu. Ballet noir en sept parties et une entrée (1966), Nr. VII: „Marche du décervellage“, Partitur, Kassel u.a.: Bärenreiter 1980, BA 4180, S. 3846. Unter anderem wird diese Passage in formaler Hinsicht dadurch eingebunden, dass bereits in den Episoden des 2. Rondos ab Takt 105 (Skizzenblatt „4“) Arpeggien verschiedener Tonalität miteinander verschränkt werden. — Das Klavier nimmt in dieser Passage eine Sonderstellung ein, indem es einerseits die lineare Struktur des Blechbläsersatzes in melodischer Hinsicht und hinsichtlich des kompletten Tonvorrats übernimmt, und andererseits einen ostinaten Achtel-Puls mit Sechzehntel-Nachschlag hält. Da die Töne des Klaviers im Vergleich zu den Blechbläsern immer ein wenig später erklingen, erscheint das Klavier im Satz nachgeordnet. Aus den Skizzen ist jedoch erkennbar, dass Kagel diese Passage vom Klaviersatz aus konstruiert hat. Im Skizzenblatt „8“ findet sich der Klavierpart jener Takte, wobei dieser vermutlich auch als Particell fungierte. Zwischenstadien zwischen dieser Skizze und der Reinschrift sind nicht erhalten, aber es ist bei der Komplexität der Stelle davon auszugehen, dass Kagel noch eine Ausführungsskizze angelegt hat.

Les Idées fixes

Abb. 63: Kagel, Les Idées fixes, Reprographie des Partiturdrucks, kompletter Satz, T. 217-219.

Abb. 64: Kagel, Les Idées fixes, Reprographie des Partiturdrucks, kompletter Satz, T. 220-222.

241

242

Les Idées fixes

Abb. 65: Kagel, Les Idées fixes, Reprographie des Partiturdrucks, kompletter Satz, T. 223-226.

Betrachtet man die von Instrument zu Instrument untereinander differierende Vorzei chendisposition dieser aus Arpeggien bestehenden zweiten Satzstruktur, so fällt die dezidierte und dennoch in ihrer Zusammenballung trügerisch erscheinende Tonalität der jeweiligen Akkorde auf.472 Einmal angestoßen, läuft dieser Mechanismus von Takt 217 bis zum Ende der Passage in Takt 225 1. Lediglich die differenzierte Dynamik und die Artikulation vermag diesem offensichtlichen Mechanismus eine musikalische Kontur zu geben.473 Vermutet man beim ersten Blick auf die Partiturseiten ein heilloses Durcheinander, so ist der klangliche Eindruck ein anderer. Die Dreiklangsbrechung in den einzelnen Stimmen erschaffen ein dichtes Gewebe, das die Klangmasse strukturiert und in eine musikalische Stringenz bringt. Die dafür erforderliche Rezeptionshaltung ähnelt dabei derjenigen, die Heinz Hostnig für die Collage formulierte: Merken wir uns Benjamins Worte ‚gelassen‘. Es ist nicht erforderlich, daß wir in gespannter Konzentration die ursprünglichen Zusammenhänge rekonstruieren, denen die vorgeführten Details entnommen sind. Es liegt im Wesen der Collage, daß dem Hörer keine Zeit gelassen

472

473

Die Arpeggien in den Flöten sind in f-Moll, Oboe und Englischhorn spielen D-Dur, die drei Klari netten b-Moll, das Fagott fis-Moll, Violine es-Moll, Viola d-Moll, Violoncello ges-Moll, und der Kontrabass einen verminderten Dreiklang über h (oder G7 ohne Grundton). Bei den arpeggierenden Harmonie-Instrumenten ist dieser strikte Mechanismus nicht eingehalten, so spielt das Vibraphon zuerst F-Dur und schließlich fis-Moll, die Harfe wechselt zwischen C-Dur und Fis-Dur und in der linken Hand des zweiten Klavierparts erklingt F-Dur und gis-Moll.

Les Idées fixes

243

wird, über Details nachzudenken, sonst verliert er den Anschluss. Das Tempo der Schnittfolge verbürgt die Autonomie des Details. Ihre beiläufige Wahrnehmung genügt. 474

Diesen Mangel an ‚Konzentrationsfähigkeit‘ begreift Kagel als Chance für das Komponieren: Wir sind kaum fähig, über lange Strecken kontinuierlich zuzuhören. Das soll uns nicht mit Gewissensbissen belasten, ein natürlicher Filter nimmt fortlaufend eine Selektion vor, um uns vor Überinformation zu schützen. Würden wir alles, was uns akustisch erreicht, tatsächlich wahrnehmen, wäre dies eine unerträgliche Belastung. Als Komponist interessiert mich gerade dieses Hin und Her des Partizipierens oder Abwesend-seins. Wie findet diese Wellenbewegung statt? Und letztlich: in welchem Rhythmus?475

Die „Überinformation“, der der Hörer in dieser Passage ausgeliefert ist, wird durch das partizipierende Moment der Dreiklangsharmonik abgemildert. In ähnlicher Form, wenn auch hinsichtlich des musikalischen Resultats in umgekehrter Weise, funktioniert in dieser Passage der Satz in den Blechbläsern: Die Linienführung in kleinen und großen Sekunden tritt als konstitutive und wahrnehmbare melodische Kontur hervor. Diese Passage stellt das selektive Hören auf die Probe, ein Hören, das vom Komponisten in geregelte Bahnen der Wahrnehmung gelenkt wird. Insofern bestimmt die Collage die Weise der Wahrnehmung. In kompositorischer Hinsicht wird diese Passage, wie viele andere Musiken Kagels auch, durch die Intervalle Quart, Terz und Sekunde und deren Ausdehnung in Raum (Simultanklang) und Zeit (sukzessive Aufeinanderfolge von Tönen) konstituiert.476

4

Rondoform als Montiertes

Bereits während der Entwurfsphase, in der der Werktitel noch „Konzert“ lautete, legte Kagel die Rondoform als Formmodell zugrunde. Einige Skizzen beschreiben das Werk als „Rondo“ oder auch „Rondeau“477 und die einzelnen Formteile als „Strophen“. 474 475 476

477

Hostnig, Hörspiel – Neues Hörspiel – Radiospiel, S. 208. Kagel, Fortsetzung folgt, S. 202. Die Intervalle im melodischen Part der Blechbläser und in den begleitenden Arpeggien der anderen Stimmen, d.h. Terzen und Quarten, ‚rechtfertigen‘ sich gegenseitig dadurch, dass sie die gesamte intervallische Struktur des Satzes bilden. Das Intervall des Sekunde, das im Satz keine solche kom positorische Rechtfertigung findet, ist hingegen durch seine Eigenschaft als Konstitut der ‚Melodie‘ vielleicht das eigentliche musikalische, weil unmittelbar als Kontur wahrnehmbare, Material dieser Passage. — Mein Versuch, an den Akkorden eine dodekaphone oder anders geartete Logik abzulesen, schlug fehl. Weder eine übergeordnete Gesetzmäßigkeit noch eine Beziehung der Akkorde zum linearen Satz der Blechbläser – z.B. in Form einer Initialisierung oder Ergänzung – war herzustellen. Ebenso gibt die diese Passage betreffende Particellskizze „-8-“ keine Auskunft über die Tonhöhenorganisation. Dort ist lediglich der substanzielle Notentext des Klavierparts zu 4 Händen (T. 2172361) komplett skizziert. Es ist also anzunehmen, dass die Tonhöhenorganisation der Blechbläser von den Tonhöhen des Klaviers abgeleitet wurde. Vgl. bereits erwähntes Skizzenblatt 18/24 „L’idée fixe | Rondeau für Kammerorchester | oder ? | Rondo“, in dem Kagel diese Frage thematisiert.

244

Les Idées fixes

Der Eindruck des formlos Fragmentarischen – durch Kagels Aussage genährt, dass er beim Komponieren aus einer Fülle von vorfabrizierten Skizzen-Fragmenten schöpfen konnte – wird auch beim ersten Hören bestärkt. Das dem Rondo genuine Kennzeichen der auf Addition basierenden Reihungsform scheint nur noch das einzige formbildende Element zu sein, das bei diesem Werk die Bezeichnung Rondo rechtfertigt. Die refrain artige Wiederholung von musikalischen Abschnitten und Verläufen, die für ein Rondo eigentlich formkonstituierend ist, wird hier eher zurückgenommen und zusätzlich durch Einschübe rhapsodischer Art durchbrochen. Zwar gibt es Abschnitte, die wörtlich wiederholt werden, aber dieses Verfahren zeichnet Kagels Arbeitsweise generell aus, wie beispielsweise in den Stücken der Windrose, dort im besonderen in Osten. In Kagels Skizzen ist die Rondoform, die aus einer Aneinanderreihung verschiedener Rondos, hingegen eindeutig erkennbar. So lassen sich in den Skizzen insgesamt drei Teile finden, die Kagel mit „Rondo I“, „II“ und „III“ bezeichnet. Das erste Rondo unterteilt er in neun „Strophen“, die beiden weiteren in die Aufeinanderfolge von jeweils neun „Strophen“ und „Episoden“.478 Der sich durch die Entwurfs- und Ausführungsskizzen ergebende Formaufbau sei nochmals in seiner Lückenhaftigkeit rekonstruiert: – Takt 1-94: „Rondo I“, bestehend aus 9 Strophen (ohne Episoden) – Takt 95-164: „Rondo II“ bestehend aus 9 Strophen und Episoden – Takt 165-187(?): „Rondo III“, bestehend aus 9 Abschnitten479 – Takte 188-350: in formaler Hinsicht nicht gekennzeichnet – Takt 350ff.: „Reprise“ – Takt 373-377: „Coda“

In einer später entstandenen Auflistung der Teile (Umschrift siehe unten), in denen Kagel die Dauer der jeweiligen Teile zur Kontrolle – vermutlich für die Werkanmeldung bei der GEMA (siehe Zitat unten) oder für die Zeitangabe im endgültigen Druck – festgehalten hat, geht er von fünf Teilen aus, wobei die ersten beiden Teile sich mit den, in den oben genannten Skizzen vorgefundenen Bezeichnungen der Rondos I bis II decken, während der dritte Teil bis Takt 268 reicht, und der fünfte Teil ab Takt 333 bis Ende die so bezeichneten „Reprise“ und „Coda“ abmisst. 480

478

479

Diese Angaben sind in den Skizzenblättern dokumentiert, so in den Formskizzen Bl. 1-2/3: „Rondo I“; Formskizze Bl. 3/3: „Rondo II“; in der Particellskizze „1“ recto und verso: insg. neun „Stro phen“ (ohne Episoden, bis auf den Abschnitt „9. Strophe“, T. 152-160, generell keine Taktangaben auf dem Skizzenblatt); Particellskizze „2“: T. 145: „8. Strophe, 8. Motiv“; Particellskizze „2bis“: T. 165: „Rondo III“; Particellskizze „3“: T. 138: „Strophe 7. Motiv“, T. 143: „7. Episode“; Particellskizze „4“: T. 95: „1. Strophe“, T. 105: „1. Episode“, T. 106: „2. Strophe“, T. 109: „2. Episode“; Particellskizze „5“: T. 110: „3. Strophe“, T. 118: „3. Episode“, T. 120: „4. Rondo“, T. 124: „4. Epi sode“; im kleinen Skizzenblatt „Rondo III“, dort: „ab S. 35, T. 165“; im Particellskizze „8“: bei Taktende 187 Vermerk: „Ende 1-9, 3. Rondo“; Particellskizze „11“ verso: bei T. 350 Vermerk „Reprise von der textuelle Begleitung“ und bei T. 373-Ende mit „‚Coda‘“ vermerkt. Damit wäre das Rondo III sehr kurz geraten, in der letztendlichen Fünfteilung Kagels (in Bl. 20/24) subsummiert er unter den dritten Teil auch die zentrale C-Dur-Passage und die darauf folgenden Passagen.

245

Les Idées fixes Seite

Takte

Teildauer

Gesamtdauer

1-18 19-25 35-58 58-74 74-83

1-90 91-164 165-268 269-332 333- Ende

4’20’’ 3’ 3’40’’ 1’40’’ 1’50’’

4’20’’ 7’20’’ 11’ 12’40’’ 14’30’’

Abb. 66: Kagel, Les Idées fixes, Umschrift der Skizze Bl. 20/24 „Les Idees fixes | Dauer“, die Seitenzählung bezieht sich auf die Partiturreinschrift.

Hierbei ist anzumerken, dass das Werk zu diesem Zeitpunkt bereits zwar die C-Dur-Passage und die mit ihr verschränkten Teile enthält (siehe Kap. VI.6), aber zunächst gänz lich ohne Wiederholungsteile, wie sie im Partiturdruck zu finden sind, konzipiert war. Die Wiederholungen – und zwar der Teilabschnitte aus den Rondos I und III, Takte 1 bis 68 und 165 bis 187 – sind erst in Kagels Dirigierpartitur eingetragen (siehe hierzu die Bewertung der jeweiligen Quellen im Verzeichnis der Quellen). Den Grund für diese Änderung gibt Kagel in einem auf den 27. März 1990 datierten Brief an Karl Rarichs vom C.F. Peters-Verlag an: PS: Bereits während der Proben in Paris habe ich aufgrund einer besseren | formalen Propor tion zwei Abschnitte des Werkes notengetreu wiederholt. | Das war nämlich wichtig. Nun ist das Stück jetzt ca. 21 Minuten lang | geworden. Erfordert dies eine Korrektur der Werkanmeldung bei der GEMA? | Auch von diesem Stück sind bis Sommer 91 ca. 10 Aufführungen schon geplant. Bitte die Herstellung der Reinschrift [d.h. vermutlich des Partiturdrucks, Anm. KH] möglichst bald disponieren!481

In dieser großformatigen Änderung zeigt sich ein Grundzug von Kagels Arbeitsweise und hier scheint sein Motto „Pragmatik erlaubt eine höhere Poetik“ 482 wirklich zu greifen. So kommen bei Osten sämtliche Wiederholungen erst zu einem späten Zeitpunkt 480

481 482

Thomas Becker entwirft (vermutlich unter der Mithilfe Kagels) eine andere Form: Er unterteilt das Werk in fünf Rondos, die durch die Tempobezeichnungen Allegretto – Moderato – Allegretto – Vivace – Andantino charakterisiert seien. (Die drei Bezeichnungen Moderato, Vivace und Andantino entsprechen nicht den Angaben Kagels in der Partitur.) Diese Aufteilung mag in etwa mit der Fünfteiligkeit korrespondieren, die Kagel in Bl. 20 entwirft, ist aber problematisch, da einige sehr markante Stellen allein in Hinsicht auf das Tempo nicht berücksichtigt werden, wie der C-Dur-Teil und die Schlusssteigerung nach der Wiederkehr des 1. Motivs ab T. 333. (Vgl. Thomas Becker, Begleittext zur CD Les Idées fixes. Rondo für Orchester. Musik für Tasteninstrumente und Orchester. Opus 1.991. Konzertstück für Orchester, RSO Saarbrücken, Ltg.: Mauricio Kagel; Klaviere: Kristi Becker, Christoph Delz, Wilhelm Neuhaus und Peter Dicke, col legno Aurophon AU 31826, 1991. Dort auch Danksagung an Kagel für die Mithilfe bei der Erstellung der Texte. In der Wiederauflage bei col legno WWE 20502 aus dem Jahr 2000 sind die Texte gekürzt und ohne Angabe des Autors abgedruckt.) In: SMK: Mappe „[4/5]“, Konvolut „Korrekturen (teilw. Fotokop. mit hss. Eintrag) [23 S. + 21 S. Briefe]“ (siehe Verzeichnis der Quellen). Kagel im Interview, in: Im Profil: Mauricio Kagel. Michael Struck-Schloen berichtet vom Kagel-Tag im Deutschen Pavillon auf der EXPO 2000, Radiofeature mit Interview, Erstsendung am 20. Oktober 2000, WDR 3.

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Les Idées fixes

der Werkgenese hinzu, in Südosten hingegen wird die Wiederholung des Abschnittes von Takt 41 bis 52 getilgt. Alle diese Änderungen fanden erst im Laufe der ersten Proben Eingang in das Werk. Ähnlich verfährt Kagel auch bei der Schallplattenaufnahme Ludwig van. Obwohl sein anfängliches Formkonzept zu dieser Komposition sehr differenziert ausgearbeitet gewesen sein muss, kürzte er in der Endproduktion die bereits abgemischten und geschnittenen Master-Bänder um ein beträchtliches Maß. 483 Angesichts der in den Quellen dokumentierten, beträchtlichen Kürzungen Kagels – quasi ‚allerletzter Hand‘ – stellt sich die Frage, ob ein solches Verfahren als kompositorische Inkonsequenz oder als eine nachträgliche Abwertung der eigenen, vormals mit großer Mühe erstellten Kompositionsmittel angesehen werden kann. Um sich aber dem Problem der gesamten Rondoform von Les Idées fixes zu nähern, sei zuerst der ursprüngliche Formaufbau als Grundlage der Untersuchung genommen. Die Frage der nachträglich eingefügten Wiederholungen wird später gesondert thematisiert. Betrachtet man die Abschnitte des Werkes, die Kagel als Rondo bezeichnet, so scheint der Vergleich mit dem klassischen Rondo, das die Sonatenform und das additive Verfahren von gegeneinander kontrastierendem Couplets und Refrain zusammenführt, nicht praktikabel. Sinnvoller ist hier der Vergleich mit mittelalterlichen Rondeaux beziehungsweise Rundgesängen, deren Wiederholungen unregelmäßig durch Refrains komplettiert werden. Kagel war sich dieser Frage bewusst: Auf dem Skizzenblatt 18/24 „L’idée fixe | Rondeau für Kammerorchester | oder ? | Rondo“ stellt er sich die Frage, ob das Werk Rondo oder Rondeau heißen soll, und fügt den Vermerk an, dass der erste Musikgelehrte, der den Begriff Rondeau bezeugte, Franco von Köln sei.484 Studiert man Kagels Angaben in den Skizzen, so scheint die Form eindeutig, und besonders zu Anfang des ersten Rondos bzw. der ersten Idée fixe noch leicht nachvollziehbar. Das rein additive Verfahren, welches keiner festen Anzahl von Refrains und Couplets verpflichtet ist, erinnert dabei eher an Rondoformen des Spätmittelalters. Die Kontrastwirkung zwischen Refrain und Couplet, wie sie im klassischen Rondo zu finden ist, wird hier nicht erreicht. Im zweiten und dritten Rondo sowie im angenommenen, aber nicht in den Quellen dokumentierten, vierten Rondo treten die formalen Konturen in den Hintergrund. Hier scheint das Augenmerk nicht auf einer thematischen Anknüp fung oder gar motivischen Arbeit zu liegen, eher auf der Kontrastwirkung der einzelnen 483

484

In einer frühen Skizze zur Schallplattenaufnahme (Ringbuch „Gedanken, Skizzen, Quellen“ zur Schallplatte, Bl.1r, in: Mappe „Cutterberichte“) stellt Kagel die Beziehung zu Beethoven auch über das Kompositorische her, und zwar in der Weise, dass der LP-Aufnahme Beethovens Diabelli-Variationen zugrunde lägen, so dass die beethovenschen Veränderungen transformiert würden und somit eine Potenzierung der beethovenschen Techniken bewirkten. Es entstünde nach Kagels Worten eine Collage von Kompositionstechniken. Thorsten Möller teilte er in einem Telefonat mit, dass er die Dauer der für ihn ‚wichtigen‘ Variationen auf die von ihm verwendeten Fragmente übertragen habe. „Darüber hinaus entwarf er einen ‚strengen Kontrapunkt‘ von Dauern und Tempi, so dass letztendlich ein Form-Gerüst resultierte, das – nach Kagel – seine objektive Strenge auf das Ganze proji zierte“ (Möller, Ewig jung ist in Ruinen..., S. 85.) Kagel gibt in dieser Skizze als Quelle „ed Cserba, S. 252“ an bzw. den Tractatus de musica. Hieronymus de Moravia, hg. u. mit einer Einführung versehen v. Simon M. Cserba, Regensburg: Friedrich Pustet 1935 (= Freiburger Studien zur Musikwissenschaft, H. 2), S. 252. Allerdings finden sich bei Hieronymus lediglich Auszüge des Frankonischen Traktats, die sich mit Problemen der Stimmführung befassen. Es ist also zu vermuten, dass Kagel diesem Literaturhinweis nicht weiter nachgegangen ist.

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Passagen hinsichtlich ihres Klangs und ihrer Gestik. Als weiteres Irritationsmoment fun giert die im dritten Rondo eingefügte und aufgrund ihrer zurückgenommenen Dynamik, ihrer ruhigen Klangflächen und ihrer zuerst eindeutigen Tonalität formdramaturgisch zentral erscheinende C-Dur-Passage mit ihrer deutlichen A-B-A’-Form (siehe hierzu Kap. VI.6). Ebenso sind Refrain und Couplet in sich als auch untereinander periodisch unregelmäßig gesetzt, welches auf Kagels in den Skizzen festgehaltene Permutationsverfahren zurückzuführen ist. Gattungsgeschichtlich lässt sich dies auch auf eine mögliche Auseinandersetzung Kagels mit den unregelmäßig geformten Rondos des Barock wie zum Beispiel denen Jean-Baptiste Lullys oder François Couperins zurückführen. Ein Grund für die Schwierigkeit, die Rondos II und III und die folgenden Abschnitte formal als solche zu erkennen, liegt aber auch darin begründet, dass Kagel mit dem Begriff „Episode“ generell Couplets bezeichnet, die nur wenige Takte dauern und besonders ab Takt 105 ihre Qualität als separate Formteile verlieren. Zum anderen wird die für das Rondo wichtige Eigenschaft der Ähnlichkeit und Prägnanz der „Stro phen“ beziehungsweise den Refrains geschmälert. Das Formprinzip des Rondos, wie es in der Musik des 18. und 19. Jahrhunderts gültig war, scheint hier nicht in jeder Hinsicht zu wirken. Vielmehr scheint es von dem programmmusikalischen Prinzip der Idée fixe durchdrungen.

5

Zur Konzeption der Idée fixe

Die erste offensichtliche Idée fixe ist die in der ersten Klarinette (Takt 2 bis 8) erklingende zweiteilige Melodie:

Abb. 67: Kagel, Les Idées fixes, Part der 1. Klarinette, T. 2-8, Umschrift des Partiturdrucks.

Diese Phrase wird im weiteren Verlauf durch die Stimmen geführt. Ähnlich wie das anfängliche Thema in Südosten erfährt die Phrase eine kontinuierliche gestaltliche Transformation durch Veränderungen in Tonhöhen und Klangfarben. Letzteres wird durch die unterschiedliche Instrumentierung erreicht. Damit einher geht eine Ausweitung der Phrase auf mehrere Stimmen, wobei ein ähnliches Verfahren angewendet wird wie bei

248

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Südosten.485 Folgende Tabelle deutet die instrumentale Ausweitung im ersten Wiederholungsabschnitt von Les Idées fixes, Takte 1 bis 68, an: Takte: Hauptphrase: vertreten durch: alterierte Nebenphrase in: eigenständige auf- u. absteigende Linien:

1-8 1 Klar. 1

10-16 2 E. Hr.

17-22 3 Fg. 1

22-31 4 Vl.

Bassklar., Tr. 1

Pos. 1

Klar. 1, Klav. lH, Cb. (neu!) Klav. rH

31-33

Cel., Klav., Vl, Cb.

33-42 5 Hr. 1+2, Xyloph. Vc.

42-48 6 Tb.

50-53

Pos. Ob., Tr.1, Hf, später Hr.

Vl, Vc (A-Dur)

53-59 7 Vibraph.

62-68 8 Hf.

Picc.-Fl.

(neu!) Ob., E. Hr.

wie vor

Abb. 68: Kagel, Les Idées fixes, Formschema, T. 1-68.

Begleitet werden diese Phrasen von der für Kagels spätere Werke charakteristischen und in Les Idées fixes vermutlich zum ersten Mal verwendeten Bassfigur, der so genannten „ummta“-Begleitung (siehe auch Kagels Verweis der Particellskizze „Osten -1-“). Die Zweiteiligkeit der Phrasen wird darüber hinaus durch den halbphrasigen Wechsel der begleitenden Orchestration verdeutlicht (nicht in der Tabelle dargestellt). 486 Im weiteren musikalischen Verlauf erscheint die Zielrichtung der Phrase wichtiger, sie endet meistens in einer statischen Klangfläche des Orchesters. Ebenso wird die Idée fixe durch Gegenphrasen im Satz gleichsam nivelliert. Beispielhaft hierfür ist die erste Hälfte der Idée fixe in der Tuba (Takte 42 bis 47) mit ihren Nebenstimmen (hier ohne die charakteristische „ummta“-Begleitung dargestellt), in der die klangliche Auflösung der Motivkontur – zum Teil auch durch die indifferente Klangfarbe der extrem hohen Lage der Tuba – besonders deutlich ist. Gut zu erkennen sind hier in Oboe und Trompete auch die als melodische Gegenbewegung angelegten, fortschreitenden Terzen, die schließlich immer mehr den Satz dominieren.487

485

486

487

Ebenso wie für Südosten und für die Sequenz des „Musikzimmers“ in Ludwig van hat Kagel auch hier Instrumentationstabellen angelegt, um die formale Aufteilung zu koordinieren und den Formüberblick zu wahren (im Verzeichnis der Quellen, S. 355, unter Formentwürfen Bl. 1-3/3; zu diesem Skizzentyp vgl. auch meinen Beitrag, Kompositionsweisen, S. 88-92). Da die Skizzen erheblich von der Endfassung abweichen, ist eine nähere Darstellung nicht sinnvoll. Erwähnenswert ist aber, dass Kagel bereits in diesen Blättern auch schon die Einteilung in „Strophen“ für Rondo 1 bzw. „Stro phen“ und „Episoden“ für Rondo 3 vornimmt. In der Particellskizze „1“ sind die Haupt- und Nebenstimmen der Strophen 1 bis 6 („1“ recto) sowie 8 und 9 („1“ verso) bereits in der endgültigen Instrumentation skizziert. Am oberen Rand des Blattes 1r steht: „1. Melodie stets fast gleich aber anders instrumentieren | 2. Kontrapunkt immer anders strophenweise | 3. Ruhepunkte a + b Anzahl [der Notenwerte] variieren“. Diese Ruhepunkte sind die oben genannten Klangflächen. Sie sind durch die großzügige Spartierung des Skizzenblattes sehr gut hervorgehoben. Die Posaune übernimmt die 16tel-Impulse der Tuba, ist aber mit Hilfe eines eigenen, additiven Verfahrens gewonnen (erst drei 16tel, dann vier, fünf und sechs). Diese Stimmen des Satzes münden in den Klang Gis-ais-c1-es2. Mit dem Fundament des „ummta“-Basses Fis zusammen gebracht, enharmonisch umgedeutet und in enge Lage gesetzt, ergäbe dies: gis-his-dis-fis-ais, also Gis9.

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Abb. 69: Kagel, Les Idées fixes, Particellskizze „1“recto, T. 42-47, letzte Akkolade, 1. Hälfte, Skizze in Blei. Die in der Druckpartitur hinzukommende Harfe ist mit der Oboenstimme unisono gekoppelt.

Insgesamt verliert die Idée fixe durch das Verändern des klanglichen Umfeldes – von der Ablösung der rhythmisch prägnanten „ummta“-Begleitung durch eine flächige Konzeption bis hin zu stehenden Klangflächen – ihre von vornherein gegebene Prägnanz. Die Gewichtung ihrer musikalischen Gestalt verlagert sich im Laufe des Werkes vom Rhythmischen zum Melodischen und vom Beginn der Phrase hin zu ihrem Ende. Hinzu kommt, dass die allmählich in Anzahl, Klangfarbe und Dynamik stärker in den Vordergrund tretenden Begleitstimmen die motivische Kontur der Phrase klanglich überdecken und damit verschleiern. Die Linearität der Phrase wird in eine Flächigkeit oder Räumlichkeit des Klangs übertragen. Dies geschieht jedoch nicht gegen die ‚Natur‘ der Idée fixe, denn die Instabilität ist in ihr schon angelegt: Melodische Grundtöne werden vermieden, ebenso wie eine eindeutige Tonalität. Besonders bei den Phrasenschlüssen bewirken die chromatischen Tonalterationen den Eindruck von Leittönigkeit und damit Offenheit. Dies wird auch durch die generelle Abwärtsbewegung vom Anfangston zum Phrasenendton bestärkt; der Endton ist immer eine Quarte tiefer und erhält dadurch den Charakter einer Repercussio beziehungsweise eines Halbschlusses. Die offene, metrische Gestalt trägt ihr Übriges dazu bei, dem Motiv den Charakter der Unabgeschlossenheit und die Tendenz zur Auflösung zu geben. In den weiteren Abschnitten des Werkes taucht das erste Motiv als melodische Gestalt kaum auf. Man kann allerdings viele rhythmische Strukturen auf das metrischrhythmische Moment der Phrase in einigen Tutti-Stellen zurückführen. 488 Die besondere Rolle des Rhythmus ist auch in den Skizzen nachvollziehbar, beispielsweise in den Blättern 3-13/24, in denen Kagel zu einem sehr frühen Zeitpunkt rhythmische Fragen behandelt: Dort schien für Kagel die besondere Eigenschaft der Idée fixe eher in der rhythmischen Gestalt zu liegen. Es ist anzunehmen, dass das verbindende Element der verschiedenen Formteile dann auch nicht auf melodischer oder harmonischer Ebene zu 488

Diese Annahme deckt sich mit der späteren, auf den Quellen basierenden Beobachtung, dass Kagels Konzept der Idée fixe anfangs noch sehr offen war. Natürlich weckt der Titel Assoziationen mit dem Konzept der Idée fixe von Berlioz, jedoch bezeichnet Kagel in einem frühen Skizzenblatt „2/24“ eine Vorstufe der Idée fixe als „unendliche Melodie“ und stellt damit einen eindeutigen Bezug zu Wagners Ästhetik her. (Ebenso findet sich dieser Begriff in der später entstandenen Particellskizze „2bis“.) Auf dem kleinen Skizzenblatt 19/24 vermerkt er unter „OPUS IDÉE FIXE“ den Zusatz „Leitmotiv“.

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finden ist, sondern auf Ebene des Rhythmus. 489 In dem von Kagel als vorläufig skizzierten Anfang des 2. Rondos wird die Gewichtung des Rhythmus deutlich. Und zwar hat er in der Particellskizze „4“ einen nicht verwendeten Part aus seinem Werk Fragende Ode skizziert:

Abb. 70: Kagel, Les Idées fixes, Particellskizze „4“, erste Akkolade, linke Hälfte. Skizze in Blei, zusätzliche Einträge in rotem dickerem Filzstift. Die Zahleneinträge über den Systemen geben die 16tel-Werte an, aus denen sich die Rhythmen generieren.

Unterhalb dieses Parts skizzierte er den Entwurf der Takte 95 bis 109 im Particell, wobei er von dem verworfenen Part das Satzgefüge und die markanten Tonrepetitionen im permutierenden Sechzehntel-Rhythmus übernimmt. Dabei bilden die Melodien den Kontrast zu den Tonrepetitionen. Sie sind sogar soweit umgeformt, dass sie an die Melodieführung der ersten Idée fixe erinnern:

489

Die Idee des Rhythmus führt Kagel in der Skizze Bl. 10/24 (paginiert mit „6“) zudem systematisch aus. So definiert er „Rhythmus“ als „(jede) (beliebige) (motivische) Reihenfolge von Dauernwerten“, mit dem Zusatz, dass jedoch manche Rhythmen motivisch wiederholt werden müssten, „um als solche verstanden zu werden.“ Und einem weiteren Zusatz: „zu lange Rhythmen [...] werden als solche bei der Wiederholung wahrgenommen“. Kagel unterscheidet des Weiteren zwischen 4 Arten des Rhythmus: 1. „Klangfarbenrhythmus“ bezüglich von Instrumentationen, 2. „Lautstärkerhythmus“ z.B. „f p ppp | f p ppp|“, 3. „Temporhythmus“ z.B. „Allegro | Adagio | Allegro“ und 4. „Tonhöhenrhythmus“ wie z.B. Wiederholungen von kleinen Motivzellen. Bemerkenswert ist hierbei, dass diesen Kategorien anscheinend ein serielles Denken zugrunde liegt. Des Weiteren ist Kagels Anmer kung hervorzuheben, dass ein Rhythmus als Motivzelle behandelt werden müsse, damit er verstan den werden kann. Ob diese Systematisierung im weiteren Kompositionsprozess von Les Idées fixes eine entscheidende Rolle gespielt hat, ist jedoch zweifelhaft, da er sie in den weiteren Skizzen nicht wieder aufnimmt.

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Abb. 71: Kagel, Les Idées fixes, Particellskizze „4“, Anfang der zweiten Akkolade, T. 95-98 (vgl. auch Partiturdruck). Skizze in Blei, zusätzliche Einträge in rotem und grünem Filzstift (hier dicker). Die Zahleneinträge über den Systemen geben die 16tel-Werte an, aus denen sich die Rhythmen generieren.

Kagel vermerkt über diesen Abschnitt des Particells: „Abwandlung des Motivs zur idée fixe“, wobei er mit „Motiv“ die Sechzehntel-Repetitionen bezeichnet. Inwiefern der per mutierende Rhythmus in Sechzehntel als eine eigenständige Idée fixe verstanden werden kann, ist fraglich, sind doch in dieser Stelle gleich mehrere Referenzen zur ersten Idée fixe zu finden, beispielsweise die Melodieführung der Nebenstimmen (von Kagel hier als „Melodie“ bezeichnet) und das Vorhandensein eines Sechzehntel-Rhythmus, der durch die Permutationen, die in ihm angelegt sind, den Charakter des Nichtabgeschlossenen und des metrisch Indifferenten haben. Diese beiden Referenzpunkte lassen die Stelle als eine Verarbeitung der ersten Idée fixe erscheinen, und zwar als eine, in der 1. die beiden Parameter Tonhöhe und Rhythmus voneinander entkoppelt werden, 2. diese zudem auf ihre jeweils zentralen Eigenschaften reduziert werden – der Rhythmus wird auf der Tonhöhe a ausgeformt, die Melodie hingegen ist so weit augmentiert, dass sie rhythmisch und periodisch nicht mehr differenzierbar ist – und 3. auch in ihrer Satzstruktur nicht mehr aufeinander bezogen werden können. 490 Wie der Plural im Werktitel bereits suggeriert, müssten in diesem Werk neben der ersten Idée fixe noch weitere sein. Kagel hat sich mit dieser Frage während des Entwurfsphase und der Skizzierung offenbar auch beschäftigt. Auf dem Skizzenblatt Bl. 19/24, von Kagel auf den 29. März 1989 datiert, hielt er die verschiedenen Möglichkeiten fest: 1. 490

In den endgültigen Partiturdruck ist diese Stelle in abgeänderter Form eingegangen. Ihr ist ein ¾Takt vorgezeichnet und bis auf die Tonrepetition auf a und den anfänglichen Dreiton-Aufstieg c, d, e bzw. c, d, es ist der weitere Verlauf der Melodien durch versetzte Einsätze und durch halbtönige Alterationen geändert. Die liegenden Quintklänge d-a des nicht verwendeten Parts hingegen wurden in der fertigen Partitur in ähnlicher Funktion als Quintklänge a-e umgesetzt. In der Reinschrift bzw. dem Partiturdruck gesellt sich noch ein anderes, wichtiges Moment hinzu, und zwar die zwölftönig gestaltete Melodie in der rechten Hand des Klaviers ab Takt 91.

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„Idée fixe“, 2. „Les Idées fixes“ und 3. „L’idée fixe“. Vom letztgenannten Titel ging Kagel von Anfang an aus, und auch die Particellskizzen „1“ bis „5“ sind noch mit dem Singular betitelt. Betrachtet man die endgültige Gestalt des Werkes, so lassen sich zwei Idées fixes ohne weiteres festmachen, einerseits die erste Idée fixe zu Anfang des Stückes und andererseits das – zwar aus einem anderen Werkkontext stammende, aber der ersten Idée fixe ähnelnde – rein rhythmische Motiv des zweiten Rondos. Ersteres erhält seine Bestätigung nicht nur als Motiv, sondern gewinnt durch seine Wiederholungen und die harmonische und klangliche Verarbeitung sowohl innerhalb des ersten Rondos als auch im abschließenden Teil des Werkes, den Kagel als „Reprise“ bezeichnet, thematische Gestalt. Das rein rhythmische und tonrepetierende Motiv hingegen erhält seine thematische Berechtigung durch seine häufige Wiederkehr und seine Ähnlichkeit mit anderen Teilen des Werkes, die durch den Sechzehntel-Puls und die unregelmäßige Gestaltbildung geprägt sind. Insofern ist gerade in den letzten Teilen – wo die Charakte ristik eines Refrains zu fehlen scheint und die Differenzierung zwischen Refrain und Couplet mitunter nur noch auf klangfarblicher Ebene festzumachen ist – die offensichtliche ‚Undeutlichkeit‘ der Rondoform offensichtlich als solche konzipiert. Zumindest ist die gegebene Unkenntlichkeit die Konsequenz eines Komponierens, das mit extrem kleinen Übergängen arbeitet – durchaus auch mit der Gefahr, dass die Übergänge zu eben dieser Unkenntlichkeit führen. Betrachten wir nochmals die erste Idée fixe: Sie erscheint in ihrer melodischen Gestalt erst kurz vor dem Ende wieder, in Takt 341 bis 345, und zwar quasi als Reminis zenz oder als Erinnerungsmotiv seiner selbst. Dort findet sie in formaler Hinsicht auch wirklich zum Ende, indem sie mit einer Klausel auf der Finalis d abgeschlossen wird. Die beiden Rahmenstimmen der Violine und des Kontrabasses spielen hierbei die Idée fixe auf d, das Violoncello gibt sie real transponiert in Quinten gekoppelt wieder. Die Viola bereichert mit ihrer zum Teil gegenläufigen Stimmführung den Simultanklang mit Dissonanzschärfen.491 Kagel hat dies in der Particellskizze „11“ recto festgehalten:

Abb. 72: Kagel, Les Idées fixes, Particellskizze „11“ recto, dritte Akkolade, T. 341-345 (vgl. auch Partiturdruck). Skizze in Blei, zusätzliche Einträge in rotem dickerem Filzstift. Zu den Zahlen über dem System siehe Kagels Anmerkung links.

491

In dieser Passage erklingt der C-Dur-Kontext auch in den Flöten quasi als Spiegelachse zwischen den Hörnern und Posaunen, jedoch nicht in realer Umkehrung.

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Die erste Idée fixe des 1. Rondos wird nicht einfach reprisenartig wiederholt, sondern erfährt nachhaltige Veränderungen. Sie bleibt durch die einheitliche Phrasierung zwar kompakt, durch das verhaltene Tempo und die zurückgenommene Dynamik verliert sie aber ihre Konturen und erscheint in einem eigentümlichen Licht der Entfernung oder Vergangenheit. Dadurch, dass auch die Begleitung schon Erklungenes aufnimmt – in den Sekundklängen der Flöten erklingt der Kontext C-Dur der zweiten zentralen Stelle und in den Hörnern und Posaunen werden die ‚falschen‘ Hornrufe der Takte 110 bis 117 in Simultanklänge aufgefächert – erhält diese Passage nach all dem dramatischen Geschehen, das vorher erklang, das Gepräge des Entfernten, Erinnerten. Die Musik scheint hier in der Lage zu sein, den Anschein von Vergangenheit hervorzurufen, so als würde sie im erzählerischen Sinne im Präteritum sprechen. Anders als in einer Entwicklungsform stellt diese Passage nicht die logische Schlussfolgerung einer fortwährenden motivischen oder thematischen Verarbeitung dar. Ebenso lässt sie sich nicht als Refrain im Sinne eines Rondos deuten, also als Rückkehr zum Vertrauten, Sicheren. Vielmehr ist hier der Konnex zu einer programmmusikalischen Konzeption der Idée fixe, wie Hector Berlioz sie in seiner Symphonie fantastique etabliert, zu erkennen, und zwar in dem Sinne, dass eine musikalische Handlung die Idée fixe verändern kann, auch wenn sie in der musikalischen Handlung nicht durchgehend präsent ist.

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C-Dur

Nachdem auf die Serielle Tonalität bereits eingegangen wurde, soll unter diesem Aspekt nun eine weitere Passage aus Les Idées fixes betrachtet werden, die meines Erachtens eine Schlüsselstelle ist, wenn nicht sogar möglicherweise konzeptioneller Ausgangspunkt des Werkes. Bei Les Idées fixes lässt sich ein Phänomen beobachten, das in formaler wie klanglicher Hinsicht mit Osten aus den Stücken der Windrose korrespondiert. Es ist die Passage von Takt 188 bis 209, wo eine an die Idée fixe erinnernde Melodie im ruhigen Metrum und Tempo (anfänglich 4/4-Takt) in den harmonischen Kontext C-Dur eingebettet und von zwei Nebenstimmen begleitet wird. Gerade durch ihre Zurücknahme in der Dynamik, die Einfachheit von Melodik und Satztechnik sowie ihre explizite Tonalität stellt diese Passage einen Kontrast zum übrigen musikalischen Verlauf dar und wirft mehrere Fragen hinsichtlich der Formdisposition, der Tonalität und der musikalischen Dramaturgie auf. Die explizite Tonalität dieser Passage wird nicht wie in Osten formdramaturgisch gerechtfertigt – dort wird das im vorigen Elftonfeld fehlende c gleich als ganzer harmonischer Kontext C-Dur nachgereicht –, sondern das C-Dur erscheint hinsichtlich des kompositorischen und musikdramaturgischen Prozesses unmotiviert. Zudem erhält es durch seinen Reichtum an Konsonanzen ein verstörendes Moment der ‚läuternden Klarheit‘, das etwa mit dem C-Dur des Lichts in Haydns Schöpfung vergleichbar ist. Natürlich hinkt dieser Vergleich, aber die Verwendung eines reinen C-Dur-Klangs im Werk eines Komponisten wie Kagel, dessen Anspruch es erklärtermaßen ist, keine Note ungerechtfertigt zu lassen, wirft Fragen verschiedener Art auf. Zum Beispiel: Bildet diese Stelle in

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motivisch-thematischer Hinsicht den Mittelpunkt und Ausgangspunkt des Werkes, begegnet hier die Idée fixe also in ihrer Reinform? Oder reiht sich diese Stelle nur als weiterer Variationsabschnitt in den Reigen der Variationen, sozusagen als ‚Variation in C-Dur‘? Lässt sich diese Stelle vielleicht auch als formaler Höhepunkt des Werkes verstehen? Letztere Frage ist angesichts Kagels Vorliebe für die formale Gewichtung hin zur Mitte eines Werkes durchaus sinnvoll und soll im Weiteren auch thematisiert werden. Ebenso soll gefragt werden, auf welchem musikalischen Kontext die explizite Tonalität dieser Passage gründet und inwiefern sie als Kontext, Allusion oder ähnliches zu deuten ist. Zum einen lässt sich die C-Dur-Passage als Rekurs auf musikalische Stilistiken deuten, beispielsweise als direkte Anspielung auf Werke der Minimal Music (z.B. Terry Rileys Orchesterwerk In C), als Spiel mit der Ästhetik der Unmittelbarkeit einer Neuen Einfachheit oder als klanglicher Verweis auf die Tradition vor der Moderne des 20. Jahrhunderts, wozu zum Beispiel bereits erwähnter Haydn gehört. Zum anderen könnte das C-Dur Ausdruck einer Postmoderne sein, deren genauer Bezug noch geklärt werden müsste. Die C-Dur-Passage bietet sich für die abschließende Betrachtung der Seriellen Tonalität auch insofern an, da in den ersten acht Takten der Passage der Konflikt innerhalb der kagelschen Technik der Seriellen Tonalität, jener zwischen Tonalität und Serialität, besonders deutlich zutage tritt. Die Kompositionstechniken erscheinen gleichsam durch den Filter C-Dur transformiert, wobei Kagel der Tendenz des Tonmaterials, sich in tonale Wirkungsgefüge einzufinden, dadurch entgegenwirkt, dass er die tonale Einbindung auf mehrfache Weise löst, einerseits durch die Melodie- und Phrasenführung, andererseits, durch Häufung von tonleitereigenen Tönen mittels Verfahren, die von der Stochastik beeinflusst sind. Die C-Dur-Passage beschreibt insgesamt (von Takt 188 bis 209) eine A-B-A’-Form, was auch durch die Seitenaufteilung des Partiturdrucks, S. 42 bis 44, deutlich wird.492 Um die Frage hinsichtlich der eigentümlichen Tonalität, der Form und der Melodik zu klären, sind die Quellen, in diesem Falle die Particellskizze „9“, nicht unmittelbar hilfreich. Entgegen anderen Stellen ist die gesamte Passage in der Form A-B-A-(B), also die Takte 188 bis 216 und hier im Particell mit „Chor | Bläser“ bezeichnet, sehr sauber aufgezeichnet. Es finden sich weder Anmerkungen zur Tonhöhendisposition noch zur Rhythmik. Angesichts der kompositorischen Komplexität, die im Folgenden darzustellen sein wird, müssen die kompositorischen Entscheidungen zum größten Teil vorher in anderen Schritten der Skizzierung vonstatten gegangen sein. Lediglich die zu Anfang konzipierte Vierteiligkeit, die der gesamten Dreiteiligkeit scheinbar zuwiderläuft, ist hier dokumentiert. Zunächst sei der Teil A von Takt 188 bis 195 betrachtet: Die an den Melodien beteiligten Instrumente sind in drei Stimmenpaare gekoppelt. Die Hauptstimme, die in aug mentierter Form die Idée fixe nachzeichnet, wird von den unisono geführten Violinen und dem ersten Fagott in Oktavkopplung vorgetragen, die erste Nebenstimme wird uni492

Die genaue Teilung der Seiten nach diesen A-B-Teilen findet sich nicht in der Reinschrift, sondern erst im Partiturdruck.

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sono von der Bassklarinette und den Violoncelli, die zweite vom zweiten Fagott und den Violen in Oktavkopplung gespielt. Die restlichen Stimmen beschränken sich auf das Fundieren der Tonalität C-Dur. 493 Die Hauptstimme sticht bereits durch die Instrumentierung (Violine, Fagott 1) lagenmäßig hervor (in unterer Abbildung die Oberstimme). Sie ist viertaktig angeordnet, wobei die zweite Hälfte der achttaktigen Periode in den Hintergrund tritt:

Abb. 73: Kagel, Les Idées fixes, T. 188-195, melodieführende Instrumente (Baßklar., Fg. I+II, Vl., Va., Vc.) in Particell (substantieller Notentext, nicht lagengetreu).

Ein Blick auf die Anfangs- und Endtöne der jeweiligen viertaktigen Phrasen bestätigt den allgemeinen Eindruck der harmonischen Indifferenz: So erklingen im ersten Takt (im Werk Takt 188) die Anfangstöne c und d zusammen, im vierten Takt die Endtöne d-g-a, die achttaktige Periode wird von den Melodiestimmen mit d-e-f abgeschlossen. Auf C-Dur bezogen werden also die diese Melodietöne implizierenden Funktionseigenschaften gegeneinander gesetzt und in ihrer Aussagekraft nivelliert, zuerst tonikal gegen subdominantisch, dann subdominantisch gegen dominantisch und schließlich alle drei Funktionseigenschaften gegeneinander. Die Nivellierung der funktionalen Aussagekraft der Töne findet sich auch in den unterlegten Harmonien wieder. So bilden die jeweils ganztaktigen Klänge, berücksichtigt man alle Stimmen, Cluster auf Basis der Heptatonik C-Dur. Die achttaktige Periode ist mit Sechston- und Fünfton-Clustern unterlegt, also mit den tonleitereigenen Tönen von C-Dur, wobei jeweils ein Ton oder zwei Töne fehlen.

493

Die Tuba, der Kontrabass und die Harmonie-Instrumente spielen den Grundton C, während Vibraphon und Harfe die Harmonien beisteuern, wobei die Harfe neben dem allgegenwärtigen Ton c die Gerüst- und Durchgangstöne der Melodien verarbeitet (siehe Particellskizze „4“). Allein das Vibraphon folgt innerhalb des gegebenen tonalen Kontextes von C-Dur anscheinend eigenständigen Gesetzmäßigkeiten.

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Abb. 74: Kagel, Les Idées fixes, T. 188-195: Tonhöhen aller Instrumente pro Takt (lagengetreu, leere Noten = Liegetöne und 1. Zählzeit, volle Noten = Melodietöne, Buchstaben = fehlende Töne der Heptatonik).

Für die weitere Betrachtung möchte ich mich auf die ersten vier Takte beschränken. In den Harmonien fehlen zur Volltönigkeit der C-Dur-Reihe im ersten Takt das e, im darauffolgenden das h, im dritten das e und im vierten das e und das f. Was lässt sich daraus folgern? Überlegen wir uns, welche tonleitereigenen Töne für den Eindruck eines C-Dur konstituierend sind. Die Eigenschaft der Dur-Tonleiter zeichnet sich im allgemeinen durch die Melodietöne auf der großen Terz, hier e, und auf der großen Sexte, hier a, aus.494 Ferner kann man den Tönen der Tonleiter verschiedene Funktionseigenschaften zuschreiben; so gehören c und a der tonikalen, d und f der subdominantischen und g und h der dominantischen Sphäre an. Der Ton der Dur-Terz, e, ist zwar durch seine Doppeleigenschaft als Grundton der Dominantparallele und des Tonikagegenklanges der dominantischen Sphäre zugehörig, in seiner Funktion als konstituierende Tonstufe innerhalb der Tonleiter ist er aber der Tonika zuzurechnen. (Bezeichnenderweise ist das e in den begleitenden Harmonien nur halb so häufig anzutreffen wie die anderen Töne, und zwar insgesamt siebenmal, gegen 16 mal d , 14 mal f, 13 mal g, 16 mal a und 14 mal h.) Nimmt man diese funktionsharmonische Interpretation an, stellt sich weiter die Frage, welche Funktion die Fünfton- und Sechston-Cluster innerhalb einer sich ‚als funktionsharmonisch gerierenden‘ Musik erfüllen können? Oder anders gefragt: Welche Funktion kann ein solcher Mehrklang in diesem Kontext durch einen fehlenden Ton weniger erfüllen? Allein auf die Tonvorräte in den Volltakten übertragen, ergäbe sich folgendes Bild: Durch das fehlende e im ersten Takt lässt sich der Akkord als tonikal-indifferent betrachten, das fehlende h im Folgetakt wiederum verlagert das Gewicht auf die Subdominantebene, die folgenden Takte sind wie der erste tonikal-indifferent. Werden die phrasenkonstituierenden Töne der Melodiebildung mit in die Betrachtung einbezogen, ergibt sich ein anderes Bild: So erscheint der erste Takt durch die klauselartige Bewegung zum Spitzenton c nun klar tonikal, im zweiten Takt wird der subdominantische Eindruck durch das a im Zusammenklang mit dem d und f verstärkt. Die beiden folgenden Takte bekommen durch die halbschlüssige Klausel c, a, h, g eine domi494

Der Leitton h ist für Dur und Moll gleich wirksam. Die Stufe der großen Sexte, hier der Ton a, ist als der Tonart Dur zugehörig bezeichnet, da die kleine Sexte, as, in Konflikt mit der Dur-Terz käme und in melodischer Hinsicht meistens zur Quinte aufgelöst wird. Alle anderen Stufen der Heptatonik verhalten sich zu Dur und Moll äquivalent.

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nantische Prägung. Die anschließenden vier Takte verfahren in dieser Hinsicht nach dem gleichen Prinzip, bis auf den letzten Takt: Dort sind alle sieben Töne der Tonleiter – nun auch in den begleitenden Harmonien – vertreten. Diese Eigenschaften verleihen der Musik eine frappierende Wirkung. Die Tonalität C-Dur ist klar erkennbar, aber durch die Vollklanglichkeit der Harmonien scheint eine funktionale Einbindung dieser nur über die Abwesenheit von konstituierenden Tönen sinnvoll. Obwohl das kompositorische Ergebnis relativ konventionell klingt und an Klänge aus der Minimal Music erinnert, ist das angenommene Verfahren, das zu einer solchen dezidierten Indifferenz führt, eher als eine subtraktive Klangsynthese, wie sie vom Prinzip her in der Elektroakustischen Musik angewandt wird, zu bezeichnen. Eine ähnliche Funktion übernimmt hier der tonale Zusammenhang C-Dur: Er bildet im Vergleich zur vollen Dodekaphonie den im Vorhinein ausgewählten Klangfilter, für die weitere Subtraktion ist er jedoch das zu filternde Klangband. Die weitere Subtraktion bezieht sich auf die einzelnen Töne von C-Dur, um ihnen den Anschein einer Funktionalität abzugewinnen. Aus Sicht der Funktionsharmonik schafft Kagel ‚Zwischenstufen der Funktionseigenschaften‘. Anders als in der Funktionsharmonik äußert sich dieses Denken nicht mehr in scharf abgegrenzten ‚Aggregatzuständen‘, sondern in Übergängen, deren letzte und kleinste Differenzierung der einzelne Ton ist. Die Melodiebildung trägt dazu bei, diesen Eindruck der allgemeinen Auflösung der Spannungsebenen hin zu einer Indifferenz zu verstärken. Wenn funktional konstituierende Töne erklingen, werden ihnen durch die anderen Stimmen Töne hinzugesetzt, die eine andere Funktion konstituieren. Das klangliche Ergebnis ist keines, dass harmonische Spannung nivelliert. Eher ist hier ein simultanes Zusammen- und Gegenwirken von funktionalen Spannungszuständen zu hören. Diese Kräfte werden jedoch durch die Ausgewogenheit der kompositorischen Behandlung in Kontrolle gehalten. Wie werden die Töne im Einzelnen generiert? Als Beispiel sei dafür die Stimmführung des Vibraphons herangezogen. Insgesamt betrachtet zeichnen sich die Vierklänge durch stufenweise Änderungen in Sekundschritten aus. Neben der Horizontalen definiert die Sekunde auch die Vertikale. So besteht der anfängliche Vierklang aus zwei großen Sekundschichtungen im Quintabstand, f-g-c1-d1. Letztere fungiert über vier Takte als Achse der Veränderung, die durch aufsteigende Sekundschritte bestimmt wird. Zum Übergang nach Takt 192 kehrt sich die Bewegungsrichtung um: Nach einem gemeinsamen Abstieg fungiert ab Takt 193 das untere Tonpaar als Achse, bis das Klangband schließlich in einen Vierklang von Sekundpaaren im Terzabstand beziehungsweise einen viertönigen Ganzton-Cluster f-g-a-h mündet.

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Abb. 75: Kagel, Les Idées fixes, T. 188-195, Vibraphon, stufenweise Änderung in schematischer Darstellung. Zur Verdeutlichung sind die simultanen Vierklänge in jeweils zwei Zweiklängen wiedergegeben.

Das durch das harmonische Paradigma von C-Dur vermittelte Klangband ist zum einen durch das Sekundintervall in der Horizontalen wie in der Vertikalen determiniert, zum anderen durch die übergreifende Auf- und Abwärtsbewegung. Der gesetzte Rahmen dieser Klangbewegung, das sind der erste und der letzte Vierklang, bilden zusammen einen F-Dur und einen G-Dur-Dreiklang. Im nächsten Abschnitt B (von Takt 196 bis 202) ändert sich nun, bis auf die Tuba und das ausklingende Vibraphon, die komplette Instrumentation. 495 Der plötzliche Wechsel der Klangfarbe wird durch das tiefe Register, in denen sich alle Instrumente bewegen, durch die weitere Klangverfremdung in der 2. Klarinette (durch multiphonics), der Altflöte und der Blechbläser (durch Flatterzunge) sowie durch die neue Tonalität auf der Basis von G verstärkt. Die sich im ersten Abschnitt entfaltenden Melodien werden hier nur noch unvollständig paraphrasiert, die Bewegung der Hauptmelodie ist lediglich in Form einer klauselartigen Phrase der Altflöte vorhanden, und zwar als h, a, h, c. Diese schließende Phrase wird in der Altflöte mit teilweise augmentierten Notenwerten wiederholt. Durch den zusammengesetzten 5/8-Takt und die geringfügige Temposteigerung von 8tel=60-64 auf 66-72 M.M. ergibt sich auf metrischer Ebene der Eindruck des Stockens und Verlangsamens.

Abb. 76: Kagel, Les Idées fixes, T. 196-200, Partie der Altflöte, Umschrift der Druckpartitur.

Den Klängen über den Fundamentalton G haften wie denen des vorhergehenden Abschnittes die Eigenschaft des Tonalen und Funktionalen an. Sie erfahren jedoch einige ‚Unschärfen‘. Der anfängliche Liegeklang g-h-e-f (Takt 196) lässt sich noch von CDur aus als Dominantseptimakkord mit Sexte interpretieren, erfährt jedoch durch das es, das in der Posaune durch einen abwärtsgehenden Sekundschritt und in Flöte und erstem 495

Die Holzbläser werden von der Flöte, der Altflöte und den Klarinetten abgelöst, die Tuba wird durch die Hörner und Posaunen verstärkt, hinzu kommt das Schlagwerk in Form von drei Gongs und den Röhrenglocken. Zudem werden die Streicher vom Klavier zu vier Händen abgelöst.

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Horn durch chromatische Abwärtsbewegung erreicht wird, einen ersten leiterfremden Ton. Die Asynchronität, in der das es erreicht wird, und die daraus resultierenden, simultan erklingenden kleinen Sekundreibungen, schlagen sich in den Klängen des Klaviers nieder, wo in Takt 197 und 198 es und e, in den Folgetakten mit dem ähnlichen Verfahren jeweils d und es, dann c, des und d sowie schließlich f, ges, as, a und b gegeneinander klingen. (Hierbei übernimmt das Klavier eine ähnliche Funktion wie eine Partiturseite zuvor die Harfe.) Ein allgemeines Zunehmen der Klangdichte ist jedoch nicht zu beobachten, eher eine Entwicklung von der vorzeichenlosen Tonleiter C-Dur zum chromati schen Cluster. Dies wird einerseits durch chromatische Abwärtsbewegungen erreicht, zum Beispiel in Flöte und erstem Horn, andererseits durch chromatische Alteration der Phrase, wie in der ersten Posaune:

Abb. 77: Kagel, Les Idées fixes, T. 196-201, Partie der 1. Posaune, Umschrift der Druckpartitur.

Für die Tonhöhenorganisation ergibt sich insgesamt folgendes Bild: Takte:

196

197

Tonhöhen:

mixolydisch auf g

+ es

198

199

200

201

+ des

+ ges, as, b

202

In Hinblick auf die Phrasenbildung erscheinen die in den letzten beiden Takten hinzu kommenden Töne unmotiviert. Betrachtet man jedoch den gesamten Tonvorrat der Par titurseite, also die Tonreihe von G 7, und addiert die durch die Melodieführung erzeugten Alterationen es und des, so stellt sich heraus, dass es gerade diese drei Töne in Takt 201 sind, die zur vollständigen Dodekaphonie gefehlt haben. Sie finden insofern als Tonhöhen ihre Rechtfertigung, als durch sie dem Zwang zur ‚Vollständigkeit der Dodekaphonie‘ innerhalb dieses auf einer Partiturseite abgemessenen Tonfeldes Genüge geleistet wird.496

496

Catherine Losada hat ähnliche Strukturkriterien in George Rochbergs Music for the Magic Theater, im drittem Satz von Luciano Berios Sinfonia und in Bernd Alois Zimmermanns ‚Enthirnungsmarsch‘ von Musique pour les Soupers du Roi Ubu festgestellt. Dort sind es aber tonale und sich zueinander disparat verhaltende Kontexte, die mit den fehlenden Reihentönen zu einer vollständigen Chromatik aufgefüllt werden. Das in der Kompositionsgeschichte ‚jüngere‘ oder ‚postmoderne‘ Verfahren der Collage wird auch durch das ‚ältere‘ oder ‚moderne‘ Verfahren der Dodekaphonie gerechtfertigt. (Catherine Losada, „Between Modernism and Postmodernism: A Strand of Continuity“, Vortrag gehalten am 27. August 2005 auf der Fourth Biennial International Conference on Twentieth-century Music London, vorliegend als Skript.) Bei diesen Komponisten kann sicher nicht von einem ‚Zwang zur Dodekaphonie‘ gesprochen werden, aber Losadas Analyse zeigt auf, dass der Versuch, komponistenübergreifende Kompositionstechniken der Postmoderne zu formulieren, durchaus zu Ergebnissen führen kann.

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Der B-Teil wird sowohl durch formale und funktionsharmonische Gesetzmäßigkeiten der Tonalität – er verhält sich zum ersten A-Teil in C-Dur dominantisch –, als auch durch die Dodekaphonie und ihre immanenten Dogmen gerechtfertigt und untermauert die zeitliche Linearität und Folgerichtigkeit der Melodieführung mit dem hier von Kagel ironisch eingebrachten Anspruch der Vollchromatik. Zudem wirken an dieser Stelle mehrere Faktoren, die die Entwicklung einer allgemeinen Auflösung suggerieren: Einerseits werden in klangfarblicher Hinsicht durch Neben- und Zusatztöne, sowie durch die Zunahme an Geräuschanteilen (unter anderem durch Summen, multiphonics, Flatterzunge) die Klangcharakteristika der jeweiligen Instrumente verwischt. Andererseits wird in tonaler Hinsicht die Heptatonik von C-Dur durch tonleiterfremde Klänge verschärft und chromatisiert. Der dritte Teil A’ von Takt 203 bis 209 greift schließlich die Melodik des ersten Abschnittes wieder auf. Zwar werden die drei melodietragenden Parts des ersten A-Teils nochmals in den gleichen Proportionen wiedergegeben – der vorgezeichnete 5/8-Takt hat darauf keinen Einfluss –, jedoch ist die Lage insgesamt höher. Zudem wird diesem Part in C-Dur durch die Harfe und die Streicher eine weitere tonale Schicht in D-Dur zugefügt, wobei die Streicher wiederum den Melodiepart als Flageoletts spielen, und die Harfe ihre Klänge auf ähnliche Weise aufnimmt wie im ersten A-Teil. Der Gesamteindruck ist der einer Bitonalität C-Dur gegen D-Dur. 497 Der melodische Satz dieser D-Dur-Schicht wird durch den metrischen ‚Filter‘ des 5/8-Taktes verändert, indem in den Phrasen der Einzelstimmen additive Verfahren der Tondauernaugmentation angewendet werden. Dies sei am Beispiel der zweiten Neben stimme gezeigt – das Englischhorn gibt die Phrase in ihrer ursprünglichen Periodik wieder, in der Viola werden Achtel hinzu addiert:

Abb. 78: Kagel, Les Idées fixes, T. 203-209, Vergleich der Passagen von EHr. und Va. (substantieller Notentext).

Diese Addition von Achtelwerten ist nur im eingeschränkten Sinne als mathematische Spielerei zu verstehen. Im sich in D-Dur neu ergebenden Satz der Streicher ist zu erken 497

Dies erinnert sehr an Béla Bartóks sog. Hanswurst-Motiv am Ende des Schlusssatzes seines 5. Streichquartetts. Die Tonalität ist dort anfänglich in T. 699-710 mit A-Dur in der Melodie und Begleitung (wobei das Violoncello den Orgelpunkt e entgegenhält) gegeben. Der zweite Teil dieser zweiteiligen Liedform ist aber bitonal. Die Melodie wiederholt sich um nur eine kleine None höher. Dafür unterstützt das Violoncello nun auch das A-Dur der Begleitung.

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nen, dass die Addition unter Gesichtspunkten der musikalischen Phrasierung vorgenommen wurde. So kommen die Einsätze aller drei Stimmen in Takt 206 wieder synchron zusammen. Ebenso in Takt 209, dort treffen sich die beiden Nebenstimmen mit dem an dieser Stelle genau proportionierten Liegeton der Hauptstimme.

Abb. 79: Kagel, Les Idées fixes, T. 203-209, Vergleich der Passagen von Vl., Va. und Vc. (substantieller Notentext, Flageoletts klingend aufgelöst).

Die vermittelnden Stimmen zwischen den Tonalitäten bilden die beiden Fagotte mit den Liegetönen C und d und die Röhrenglocken mit den Tönen c, e, cis und dem abschließenden Zweiklang Fis-gis.498 Auch in der Instrumentation werden klangliche Aspekte der beiden Teile A und B aufgenommen und weitergeführt. Das Klangspektrum weitet sich durch die Streicher-Flageoletts und den obertonreichen Klang des Schlagwerks (hier Röhrenglocken und Gongs wie auch im B-Teil) aus. Dafür wird das Fundament zurückgenommen (C nur im 2. Fagott). Die Trompeten und die Bassklarinette verleihen dem Satz durch ihren instrumentenspezifischen Klang eine größere Deutlichkeit. Hinsichtlich der Tonhöhenorganisation lassen sich in dieser Passage drei verschiedene Verfahrensweisen unterscheiden. Zuerst wird im Teil A die Tonalität C-Dur als Filter der Tonhöhenfindung benutzt, wobei die Töne subtrahiert werden. Im folgenden Teil B wird die Tonalität g-mixolydisch durch melodische Alteration hin zur Vollchromatik beziehungsweise Dodekaphonie ausgeweitet. Und schließlich wird in Teil A’ die Tonalität C-Dur mit der von D-Dur gekoppelt, wobei die Bitonalität eine klangfarbliche Bereicherung erzeugt, die durch die Ausweitung der Lage unterstützt wird. 499 498

499

Das gis über dem Fis der Röhrenglocken (T. 208) könnte auch ein Fehler sein. Es ist bereits in der Reinschrift der Partitur zu finden. In den Skizzen ist der Part der Röhrenglocken noch nicht festgehalten. Allen drei Teilen gemeinsam ist die Dissonanzreibung durch die kleine und große Sekunde. Wird sie im ersten Teil durch die Cluster aus tonleitereigenen Tönen erzeugt und erscheint sie noch im Gewand der Funktionsharmonik, so wird sie im zweiten Teil durch die Dissonanzreibung mit ton-

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Insgesamt durchläuft die Musik innerhalb der A-B-A-Form bezüglich der Klangfarben und der Melodik eine musikalische Entwicklung, die hin zur Auflösung von motivischer Gestalt führt: Im zweiten Teil werden die herkömmlichen Instrumentalklänge durch verfremdende Spieltechniken und durch obertonreiches Schlagwerk bereichert; im dritten Teil durch die gleichzeitige Ausweitung des höheren Klangspektrums mittels zusätzlicher Flageoletts und durch den Verlust an Bass-Fundament. Die Melodik wird in ihrer Periodik und ihrer Kontur aufgelöst, indem im zweiten Teil die Motivik nur noch fragmentarisch aufgenommenen wird. Im dritten Teil werden die Melodien zwar vollständig wiederholt, verlieren durch die additive Tonlängenorganisation im Streichersatz jedoch an Kontur und periodischer Geschlossenheit. Das Auflösen im Allgemeinen und der Motivkonturen im Besonderen konnte auch bei anderen Werken wie beispielsweise Osten beobachtet werden, so dass naheliegt, dieses Auflösen als einen wichtigen Aspekt in Kagels Formkonzept, vielleicht sogar in seinem Konzept von Musiksprache, zu verstehen. Zudem ist zu fragen, ob die Motive in Kagels Werken nicht mehr einer Motivverarbeitung, sondern einer Motivauflösung unterworfen sind. Die Motive sind bei ihrem ersten Einsetzen periodisch, formal und tonal so klar definiert, dass an ihnen nur noch die systematische Auflösung oder auch ‚Zerarbeitung‘ vollzogen werden kann. Zudem ist bemerkenswert, wie Kagel in jedem Formteil musikalische Parameter in sich abgeschlossen, kategorisch und systematisch verarbeitet, ebenso wie auch die bloße Aufeinanderfolge von nicht unbedingt miteinander vereinbaren Techniken wie der Bitonalität, der Dodekaphonie oder der Tonalität in ihrer reinsten Form C-Dur. Die drei kompositorischen Kontexte werden genutzt, um das Moment der Auflösung mit ihren je eigenen Mitteln durchzuführen, wobei die durch die Zusammenfügung dieser zunächst unabhängigen kompositorischen Kontexte erzeugte musikalischen Stringenz doch erstaunt. Und es ist mit Kaehler zu fragen, ob man bei diesen Kontexten auch von „Sektoren“ sprechen kann, wenn er ein Moment der Postmoderne darzustellen versucht: Die intern, zur Konstitution eines jeden Bereichs, Systems, perspektivischen Zentrums usf. notwendige eigentümliche Gesetzmäßigkeit oder Logik wird postmodern relativiert als bloß sektoriell bedingt und gültig. [...] Die prinzipielle Wendung von moderner zu postmoderner Einstellung deckt eigentlich nur auf, was gerade schon diesseits der modernistischen Überhöhung und Überbeanspruchung zu finden ist, nämlich die Faktizität des Mannigfaltigen als solchem – nicht nur der Bereiche, sondern auch ihrer alternativ möglichen Gestaltungen wie ihrer faktisch doch immer schon vollzogenen, weil unumgänglichen Verflechtungen mit den je anderen Bereichen als ihre eigene Kontextualität.500

Die „Faktizität des Mannigfaltigen“ ist bei Kagel in eingeschränktem Maße in den oben beschriebenen Kompositionskontexten wiederzufinden. Deren sektoriell geltende Logik ist durch das Moment der Auflösung, das Kagel in dieser dreiteiligen Liedform etabliert, in eine musikalisch sinnvolle Form gebracht. Insofern legt Kagel mit dieser „alternativ möglichen Gestaltung“ von musikalischen Kontexten ihre „faktisch doch immer schon

500

leiterfremden, halbtönig organisierten Simultanklängen erzeugt. Im dritten Teil verlieren die Dissonanzen durch die Umsetzung in die weite Lage ihre Schärfe und erzeugen eher ein Timbre. Kaehler, Philosophische Ästhetik im Zeichen der Postmoderne, S. 47-48.

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vollzogenen, weil unumgänglichen Verflechtungen mit den je anderen Bereichen als ihre eigene Kontextualität“ offen. Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass meine Einteilung dieser Passage in eine dreiteilige Liedform dem Quellenbefund zunächst widerspricht: In Kagels Particellskizze „9“ ist die gesamte Passage noch als eine vierteilige A-B-A-B-Form festgehalten, in dieser Weise bezeichnet Kagel sie auch in der Skizze. Der zweite B-Teil der C-Dur-Passage (Takte 210-216), wie er bereits in Kagels Skizzen zu finden ist, fand in der vorigen Analyse keine Erwähnung. Was erlaubt es, den letzten B-Teil formal auszuschließen? Diese Frage bringt uns zurück zur generellen Frage der formalen Anlage. Es ist Kagels Arbeitsweise des Montierens, die sich auch in der generellen Konstitution der Skizzen niedergeschlagen hat: Die betreffenden Teile, die im Folgenden zur Diskussion stehen, finden sich in den Par ticellskizzen „8“ und „9“, wobei in der Skizze „8“ mit Unterbrechungen die Takte 181 bis 223 skizziert sind und in Skizze „9“, ebenfalls mit Unterbrechungen, die Takte 188 bis 244. (An den Bruchstellen innerhalb der skizzierten musikalischen Verläufe finden sich Kagels Verweise auf die jeweils andere Particellskizze.) Der chronologische Verlauf der Takte sei hier tabellarisch dargestellt: Skizze „8“ 181-187

Skizze „9“ 188-210

210-211 212-216 217-225 225-244

Teile Ende Rondo III A-B-A’ vom Satz her ähnlich wie Rondo III zweiter B-Teil Klangcollage (s.o.) unregelmäßig, episodisch

Abb. 80: Kagel, Les Idées fixes, musikalischer Verlauf der Takte 181-244.

Erstaunlich an Kagels Arbeitsweise ist, dass er die musikalischen Verläufe innerhalb eines Skizzenblattes jeweils in sich konsistent komponiert hat, so dass die verschiedenen Teile eines Skizzenblattes von ihrer Kompositionsweise ähnlich sind. Zudem weisen sie in gewisser Weise schon als Skizze eine musikalisch-formale Stringenz auf: Die Particellskizze „9“ beinhaltet das Ende des ‚sehr kurzen‘ dritten Rondos (bis Takt 187), worauf ein Teil folgt, der in der Satzart (und vermutlich auch vom Material her) dem verarbeiteten Rondo ähnelt. Schließlich wird im letzten Abschnitt neues Akkordmaterial eingebracht, die Satzstruktur wird (zumindest in der Skizze) beibehalten. 501 Die Particellskizze „8“ thematisiert die C-Dur-Passage, hier allerdings noch in der offensichtlichen Vierteiligkeit A-B-A-B, wobei der zweite B-Teil mit einer ganztaktigen Pause vom vorhergehenden Verlauf deutlich getrennt ist.502 501

502

Als neues variatives Moment kommen die Arpeggien der linken Hand des zweiten (unteren) Klaviers in F-Dur hinzu, die in der endgültigen Orchestrierung den dortigen gesamten Klavierpart bestimmen. Der darauf folgende, sich durch unregelmäßige Gesten auszeichnende Abschnitt ab Takt 225 ist hier lediglich rhythmisch notiert. Generell schließt Kagel in den Skizzen solche Abschnitte mit

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Es ist davon auszugehen, dass er die beiden Blätter unabhängig voneinander erstellt hat und den musikalischen Ablauf schließlich per Verweissystem montiert hat. Die Datierung legt dies nahe: Die Particellskizze „9“ ist auf den 1. November 1988 datiert, während die beiden zueinander gehörenden, und in einem Prozess durchgeschriebenen Par ticellskizzen „7“ und „8“ auf Skizze „7“ auf den 3. April 1989 beziehungsweise den 4. Mai 1989 datiert sind. Die Skizzierung der A-B-A-B-Stelle ist also etwa ein halbes Jahr früher als die Überlegungen bezüglich ihrer formalen Einbindung in das Werk entstan den. Bereits deswegen ist die Gültigkeit der in den Skizzen angedeuteten Vierteiligkeit der C-Dur-Passage hinsichtlich der endgültigen Fassung in Frage zu stellen, zumal in letzterer durch die eingeschobene zweitaktige Reminiszenz (Takte 210 und 211) an das dritte Rondo die musikalische Faktur der A-B-A-Form abgeschlossen wird. Und die Schlussphrase des zweiten B-Teils erscheint durch seinen tonalen Bezug zur zweitakti gen Wiederkehr des dritten Rondos (Takte 210 und 210) wie durch dessen Vorzeichen ‚kontaminiert‘. Die klangliche Reibung mit der noch aus dem bitonalen Kontext des A’Teils kommenden Streicher-Klangfläche entstellt die Kontur der Melodie um ein Weiteres. Insofern ist der zweite B-Teil in der endgültigen Fassung eher als eine allgemeine Auflösung mit kurzem Rückbezug auf das dritte Rondo zu bewerten. In motivischer Hinsicht erscheint die Auflösung bereits zu weit fortgeschritten, als dass die von Kagel anfangs skizzierte Vierteiligkeit hier noch formale Wirkung entfaltet. Die nachträgliche Montage der Skizzenblätter kommt hierbei einer Neuformierung und Umwertung von Formabschnitten gleich. Ist also der zweite B-Teil der C-Dur-Passage (das sind in der Partitur die Takt 212 bis 216) in der Particellskizze „8“ nur ein anderer Weg hin zur Auf lösung der Tonalität gewesen, wird dieser in der endgültigen Form durch die zweitaktige Wiederaufnahme des dritten Rondo (Takte 210 und 211) in den tonalen und gestischen Zusammenhang gerade jenes dritten Rondos gesetzt und von diesem beeinflusst. Der formale Abschluss wird auch dem dritten Rondo letztendlich verwehrt, da es im weiteren Verlauf mit den arpeggierten Akkorden der darauffolgenden, bereits dargestellten Collage-Passage konfrontiert wird (siehe Kap. VI.3). Insofern ist auch die formdramaturgische Funktion der C-Dur-Passage hinsichtlich der gesamten Form ambivalent: Sie ist mit dem generellen Rondo-Formplan, so wie Kagel ihn aufgestellt hat, zwar nicht zu vereinen, hat aber dennoch als ‚Geste‘ innerhalb der Formdramaturgie eine für den anschließenden musikalischen Verlauf prägende Wirkung. Sie deutet innerhalb der Formdramaturgie eine zentrale Position an, an der die additive Form des Rondos beliebig zu werden droht. In ihrer Unmittelbarkeit ist diese Passage aber auch ein weiteres Objekt in der losen, formalen Serie des Werkes und verweist sowohl auf Kontexte außerhalb dieser Sammlung als auch in ihrem Dasein als Objekt auf sich selbst.

einem Doppelstrich ab. Nach diesem Doppelstrich ist dann ein wenig Raum für Anmerkungen freigelassen, oder es ist eine Generalpause eingefügt.

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Fazit zu Les Idées fixes

Während der Analyse haben sich vier große Momente von Kagels Komponieren herausgestellt, die miteinander verwoben sind: Zunächst sind 1. Montage und Collage als Wahrnehmungsweisen und 2. Rondoform als das Ergebnis von Formmontage sowie als Geste des Aufschubs zu konstatieren. Des Weiteren lassen sich als wichtige Momente die Etablierung von 3. Gestalt und 4. von Harmonik und ihre jeweilige Auflösung fest halten. Die ersten beiden Punkte zur Montage/Collage greifen die Frage nach der Inter medialität Kagels in rein instrumentaler beziehungsweise nicht von technischen Medien abhängiger Musik auf, während die beiden letzteren Punkte, die die Auflösung benennen, als Facette eines Personalstils Kagels verstanden werden könnten. Les Idées fixes ist damit von Eingriffen und Techniken durchwirkt, die im Bereich der Montage oder Collage anzusiedeln sind. Das Verfahren der Montage/Collage kann sich, erstens, in der Faktur einer Passage niederschlagen, und – wie im Fall der Collage in den Takten 217 bis 225 dargestellt – als eine unmittelbare Wahrnehmungsweise konstituieren. Neben dieser unmittelbar erfahrbaren Collage- beziehungsweise Montageverfahren finden sich aber auch Montageverfahren, die auf die Großform wirken und sich im Falle von Les Idées fixes durch die Rückbindung an die Formtradition des Rondos begründen lassen, aber auch generelle Formkonstituenten des kagelschen Komponierens berühren. Kagel scheint die Rondoform generell zu bevorzugen. Bereits im Sexteto de cuerdas ist sie anzutreffen, bereits auch dort begegnet sie im Zusammenhang mit Montagetechniken. Dass es dabei nicht um Verlegenheitslösungen handelt, ist an Kagels gedanklicher Auseinandersetzung mit dem Problem der Wiederholung und des Kontrasts zu ersehen. So schreibt er 1960 – des Zusammenhangs halber sei ein längerer Abschnitt wiedergegeben: Die klassische Methode, in der Musik die Vergangenheit zurückzugewinnen, ist die Reprise. Auch wenn diese variiert auftaucht, fällt es nicht schwer, eine Assoziation mit der vorher gehörten Musik anzuknüpfen. Andere Mittel, die Vergangenheit in der Musik unterzubringen, ohne dafür die Wiederholung zu benutzen, sind nicht möglich, da ein „Erlebnis der Vergangenheit“ vor allem darin besteht, Ereignisse, Gebilde, Klänge (organisierte oder nicht), die man früher schon wahrgenommen hat, wieder zu beleben oder in Erinnerung zu bringen. Auch wenn die Wiederholung kein Element der musikalischen Syntax ist, das (vor allem wegen seiner ästhetischen Prägnanz) schwer mit der heutigen musikalischen Sprache zu vereinbaren ist, scheint eine Aufwertung möglich. Die Stärke des Wiedererlebten hängt vom Variationsgrad der Reprise, von dem neuen Gebilde, in dem es wieder auftritt und vom Gedächtnis des Hörers ab. [...] Reprise ist in der Form eine besondere Betonung, da sogar eine „quasi-Wiederholung“ eines Teiles auf das Konto der „Formgliederung“ gesetzt werden muß; hier verrichtet das Gehör von sich aus eine dichterische Leistung: das Reimen. (Vielleicht ist deshalb das Rondeau die beliebteste Form in der Musikerziehung: beim Musizieren wird gleich für den Sprachunterricht geübt.) [...] Eine Reprise von A muß nicht unbedingt (sowohl beim Komponisten wie beim Hörer) einen automatischen Sinn für formale Organisation durch Assoziation mit dem vorangegangenen A erwecken. Durch eine gleichzeitige Gegenüberstellung dieses A mit einem neuen Ereignis

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B wird die Intensität der Wahrnehmung des schon Gehörten von der strukturellen Bedeutung von B und der Dauern-Beziehung zwischen dem einen und dem anderen Teil abhängig sein. 503

Insofern lässt sich das Verfahren der Formmontage als eine von Kagel bereits in den späten 1950er Jahren entwickelte Methode definieren, die ihren Ausgangspunkt in der musiksprachlichen Krise der seriellen Moderne hatte und deren Ausdifferenzierung sich bis in die seriell-tonalen Werke Kagels fortsetzt. Hierbei ist bemerkenswert, dass sich mit oben zitiertem Passus viele der frühen atonalen wie auch die meisten der späteren seriell-tonalen Werke beschreiben lassen.504 Neben dieser Rückkopplung der Formgenese an die Formtradition früherer Musik, welche mittels Techniken geschafft wird, die sich als Montageverfahren bezeichnen lassen können, gibt es auch sehr ‚handfeste‘ Montageverfahren, beispielsweise die Montage der zwei Skizzenblätter „8“ und „9“ und das nachträgliche Einfügen des A-B-A-Teils in die gleichsam ‚formloser werdende‘, auf Addition basierende Gliederkette der Rondoform. Den Charakter des Montierten erhalten diese Stellen durch ihre Genese: die nach träglich an den Werkkorpus angelegte Montagetechnik bedeutet in poetischer Hinsicht letztendlich die finale poetische Lizenz; sie ist der Befreiungsschlag, mit dem der Kom ponist in seinem selbstauferlegten Regelwerk ausbrechen kann. Vielleicht macht Kagels auf den ersten Blick inkonsequent erscheinende Arbeitsweise, die bereits erstellte Komposition noch großformatig zu kürzen, zu verlängern oder umzustellen, so misstrauisch, weil in ihr eine Geste des Anarchischen liegt, die sich, wie in Anagrama, über die vormals aufgebürdeten Kreationsmechanismen hinweghebt. Die abschließende, großformatige Umstellung mag aber auch – wie bereits dargestellt – ganz andere Gründe als das ‚Eta blieren des eingreifenden Genies‘ haben. Begründet sind die Umstellungen und Einfügungen bei Les Idées fixes durch die dem Werk innewohnenden fundamentalen Formprobleme, die Kagel durch die Montage der Form gelöst hat. Demnach ist das von Appel bei vielen musikalischen Textprozessen angenommene „pragmatische Patchwork aus einer Vielzahl montierter Bruchstücke“ 505 hier nicht wie bei vielen anderen Komponisten lediglich als solche zu konstatieren, sondern als dem kagelschen Komponieren zueigen zu verstehen. 503

504

505

Mauricio Kagel, „Translation – Rotation“, in: Form – Raum, Wien u.a. 1960 (= Die Reihe. Information über serielle Musik, hg. v. Herbert Eimert, unter Mitarbeit von Karlheinz Stockhausen), S. 3161, hier S. 60 (fett im Original). Diesem Formprinzip folgt, in erstaunlicher Ähnlichkeit zur C-Dur-Passage in Les Idées fixes, der Anfang des III. Streichquartetts, eine dreiteilige Passage, Takte 1-31, die auch als A-B-A’-Form aufzufassen ist. Ähnlich wie in der C-Dur-Passage sind die Teile untereinander klanglich abgeschieden, im dritten Teil, A’, erfolgt aber eine klangliche Synthese, die die melodische Kontur auflösen lässt. Der erste A-Teil bringt in gemäßigtem Tempo eine sehr einfache Melodie in C-Dur mit holpernder Tanz-Begleitung, dem folgt ein kontrastierender B-Teil (sehr bewegt, Streicher in hoher Lage). Im dritten Teil, ab Takt 21, wird die Melodie des A-Teiles wiederholt, jedoch mit klangfarblichen Anteilen des B-Teils. Der Eindruck des ‚ohnehin Beschädigten‘ des anfänglichen Themas wird hier durch die disharmonischen, in Quinten geführten Violine und Viola verstärkt, die Metrik ist in der Reprise nun gänzlich aus den Fugen geraten. Diese komplette Passage fungiert aber allein dadurch, dass sie sofort am Anfang steht, eher als Exposition in thematischer und vielleicht auch klangfarblicher Art. Sie benennt das Programm des weiteren Stücks, die virtuose Durchformung und Variation dieses einfachen Themas. Appel, Sechs Thesen, S. 120.

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Das Formproblem wie auch Kagels Lösung desselben bieten Analogien zum Sammeln: So ähnelt das Formmoment der unabgeschlossenen Serie, wie Baudrillard es bei der Sammlung konstatiert, der Rondoform, wie Kagel sie bei Les Idées fixes anlegt, in ästhetischer und poetischer Hinsicht. Das Sammeln als Formkonstituierendes kann hier beobachtet werden in der Zufälligkeit der formalen Reihenfolge. Ebenso wirkt sich diese Zufälligkeit der Form auf das Objekt selber aus, es bewahrt sich dadurch eine Ambiguität, und zwar die Möglichkeit ‚so zu sein oder auch anders‘. Die Logik, mit der diese Objekte aneinander gereiht werden, wäre dann nicht musikalischen oder rationalen Ursprungs, sondern hätte ihre Wurzel in der Irrationalität des Sammelns. Des Weiteren wirken, wie bereits ausgeführt, in Les Idées fixes poetische und musikalische Momente der systematischen Gestaltauflösung. An dieser Systematik der Gestaltauflösung ist in analytischer Hinsicht ein Punkt besonders interessant, nämlich der inhä rente Widerspruch der seriell-systematischen Art und Weise, eine Musik (Klang, Ton oder auch Motiv) in seine musikalischen Parameter zu spalten. Dies ist nicht besonders neu, haben das doch viele serielle Komponisten praktiziert. Das Eigentümliche an Kagels Arbeitsweise ist aber, das Aufteilen und Auflösen von Klanggestalten immer am bereits exponierten Objekt nachzuvollziehen und nicht jene Aufspaltungsverfahren zu nutzen, um Gestalt und damit vielleicht auch musikalischen Sinn zu erzeugen. Ist diese Technik also nicht Dekonstruktion, sondern lediglich Destruktion? Das musikalische Objekt wird bei Les Idées fixes wie auch bei den meisten Stücken der Windrose, immerhin als bereits Fertiges exponiert. Insofern ähnelt Kagels Zurschaustellung dieser Objekte denen des Sammlers, der seine Objekt der Leidenschaften zwar präsentiert, aber auch nur um diese Leidenschaften letztendlich gegen das Objekt zu wenden. Ein ähnlich destruktives Moment ist auch im Bereich der Harmonik zu erkennen. Die beobachteten Auflösungsfelder gehen immer von funktional aufgeladenen Tonalitäten aus, deren Existenzberechtigung lediglich in ihrer Objekthaftigkeit zu liegen scheint. Man mag diese harmonischen Kontexte und deren Verweise auf etwas, das ‚außerhalb des Kunstwerks‘ existiert, auch als ‚Kontext‘ und deren ‚Repräsentation‘ deuten, aber was wäre mit diesen Begriffen darüber hinaus über sie gesagt? Der Kontext wird immer eine Frage der Interpretation bleiben, er ist nie bereits dem Werk als in irgendeiner Weise Objektiviertes einkomponiert. Ob die programmmusikalischen Aspekte von Les Idées fixes, seien sie nun expliziter oder impliziter Art, mit dem Aspekt des Erzählens in Einklang gebracht werden können, ist hingegen fraglich. Ohne die bereits aufgeworfenen Aspekte noch einmal zu rekurrieren, seien einige Fragen an dem Werk nachvollzogen: Angenommen, ein Thema oder ein Motiv könne die Eigenschaften einer Figur oder eines Charakters einer erzählten Handlung übernehmen, so beinhaltet die erste Idée fixe bereits in ihrer anfänglichen Gestalt das gesamte Konfliktpotential, welches nötig ist, um eine Handlung zu suggerieren. Einerseits garantiert die ausgeprägte Periodik und die motivische Kontur ihre Erkennbarkeit als Thema, andererseits liegt gerade diesen musikalischen Eigenschaften das Potential zur musikalischen Auflösung und damit zum handlungsmäßigen Konflikt schon inne. Dieses thematische Potential wird aber nicht für eine stringente musikalische Entwicklung genutzt, sondern für eine episodenhafte, variative und kontrastreiche Rei-

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Les Idées fixes

hung von musikalischen Szenen, die nur mittelbar auf das Thema, die Idée fixe, Einfluss zu haben scheinen. Damit wirkt die generelle Formdisposition und die Verarbeitung der Idée fixe insofern ‚romanhaft‘, als die handlungsmäßige Entwicklung fortwährend von Einschüben, Reflexionen und Exkursen bestimmt wird. Des Weiteren ist zu fragen, ob diesem Handlungsmoment hin zu einer Auflösung nicht auch ein novellistisches Prinzip zugrunde liegt. Besonders in der Reminiszenz zum Ende des Stückes klingt das Thema als vollends zerstört oder nur noch als fahler Abglanz seiner selbst. Ob man dieser handlungsmäßigen Interpretation folgen möchte, sei dem Leser überlassen. Schließlich leidet jede handlungsmäßige Interpretation von Programmmusik unter diesem Problem. Aber es erscheint mir unter einem historischen Gesichtspunkt bemerkenswert, dass im 19. Jahrhundert gerade bei der Musik, die nicht mehr widerspruchslos in das interpretatorische Korsett der Sonatenform passt, aus Gründen eines Legitimationszwangs die Ästhetik der Programmmusik entwickelt wurde, die eben mit diesen nichtlinearen Brüchen und romanhaften Formanlagen arbeitet. 506 Ungeachtet der Diskussion um das Vorhandenseins einer Handlung bei Les Idées fixes bedeutet dessen Annahme oder Nichtannahme jedoch nicht, dass der Akt des Erzählens gänzlich nicht angenommen werden kann, sondern ist eher ein Indiz für den kontinuierlichen Eingriff des Erzählers Kagels, die sich durch seine distanzierte Haltung zum Erzählten ausdrückt und die musikalische Handlung, welche die Idée fixe allmählich zerstört, mit ironischer Distanz zur Kenntnis nimmt.

506

Der hier gemeinte ‚Legitimationszwang‘ des Komponisten bedeutet nicht im engeren Sinne, dass dieser sich genötigt sieht, sein musikalisches Werk durch ein womöglich vorgeschobenes Programm zu legitimieren. Inwiefern die ‚poetische Idee‘ und dessen Ausformung auf einer literarischen Grundlage basiert oder rein musikalisch begründet ist, ist zunächst irrelevant. Der Legitimations zwang drückt sich in der generellen Tatsache aus, dass der Künstler sich genötigt sieht, sein als eigenständiges Opus konzipiertes Werk mit einem, im Sinne Genettes gemeinten Paratext, also dem Programm, zu versehen. (Es wäre weiter zu fragen, ob auch bei den Werken, welche kein dezidiertes Programm haben, jedoch allgemein der Programmmusik zugerechnet werden, allein der Kontext ‚Programmmusik‘ die Funktion eines solchen Paratextes übernimmt.) Zu diesem Komplex vgl. auch Albrecht von Massow, Art. „Programmusik“, in: Handbuch der musikalischen Terminologie, 21. Aufl., Sommer 1993.

VII. Zum Schluss

Zu Beginn der Arbeit wurde das Fehlen des Subjekts in Kagels Werk konstatiert, welches sich besonders im Fehlen einer affirmativen Wirkung ausdrückt. Durch einen erzähltheoretischen Zugang konnte diese Leerstelle positiv durch die mittelnde Instanz des Erzäh lers geschlossen werden (siehe Kap. II). Garant für das Erzählen in Musik, als Akt sowie als System, ist die Mittelbarkeit zwischen dem Subjekt und dem Werk. Diese ist einerseits durch die Verwendung von Ironie herstellbar, andererseits aber auch, indem der Künstler Paratexte erzeugt, die sich als musikalische Programme geben, oder distinkt kulturelle Kontexte einbringt, wie beispielsweise in Südosten (siehe dazu Kap. II.4). Ferner kann Musik auch dann erzählerischen Charakter annehmen, wenn die von der Musiknarratologie konstatierten Prämissen für das Erzählen in Musik nicht eingehalten werden (siehe Kap. II.3). Als Voraussetzungen für den erzählerischen Charakter von Musik wurden die Mittelbarkeit zwischen dem künstlerischen Subjekt und dem Werk (mit den darin enthaltenen Objekten) sowie das daraus resultierende Fehlen von Identifikationsmöglichkeiten, die das Werk dem Rezipienten bietet, herausgearbeitet. Infolge dessen lässt sich das Erzählen bei Kagel nur im Grad der Distanz, welche der Komponist zum Werk einnimmt, oder in einem angenommenen, nicht weiter bestimmbaren Bereich der Fiktionalität verorten – also letztendlich in einem nicht dezidiert formulierten Einverständnis zwischen dem Rezipienten und dem Komponisten (siehe dazu auch die kommunikativen Voraussetzungen für Ironie, Kap. II.2). Aber gerade in der Distanzierung des Komponisten vom Werk wird einem ästhetischen Paradigma der Romantik und der Moderne nicht Folge geleistet, nämlich der grundsätzlichen Annahme, der Komponist verhalte sich zu seinem Kunstwerk affirmativ oder identifikatorisch. Inwiefern man diese distanzierende Haltung zum Werk und zum Werkschaffen bereits als postmodern bezeichnen kann, ist fraglich, jedenfalls aber steht die angenommene Differenz zwischen dem künstlerischen Subjekt und dem von ihm geschaffenen Objekt der Musikästhetik der Moderne (wie bei Adorno) diametral entgegen. Diese Beobachtungen bildeten die Grundlage für die weiteren Ansätze der Untersuchung. In einem zweiten Interpretationsansatz wurde Kagel als Arrangeur von Medien dargestellt, wobei deutlich wurde, dass für ihn unter anderem die Art, in der unterschiedliche Medien beziehungsweise die damit vermittelten Inhalte wahrgenommen werden, von großer Bedeutung ist. Auch hier konnte eine Distanz zwischen Subjekt und Objekt festgestellt werden, wobei diese auf unterschiedliche, die spezifischen Möglichkeiten der Medien und deren Wahrnehmung betreffende Weise hergestellt zu sein schien. Zum einen wurde das künstlerische Subjekt hier als ein mit medial bedingten Wahrnehmungsweisen operierendes gedeutet, wobei der aktive kompositorische Umgang des Subjekts mit diesen Wahrnehmungsweisen immer auch das vorherige Ausgesetztsein des Subjekts mit diesen Medien thematisiert. Dies wird beispielsweise an Ludwig van (Kap. IV.5) oder Exotica (Kap. III.4) deutlich, wo Kagel – durchaus auch ironisch – mit der den Medien innewohnenden Problematik von Authentizität und Mittelbarkeit spielt. Interessanterweise

270

Zum Schluss

wird an letztgenanntem Werk auch die Wichtigkeit von medienästhetischen Fragestellungen für die Analyse von instrumentaler Musik deutlich, da die analysierte Passage aus Exotica gerade nicht mit technischen Medien generiert wurde. Dem von Passivität bestimmten Moment des ‚Erleidenmüssens‘, welches das Subjekt in der Konfrontation mit den Medien und deren Technik erfährt, begegnet Kagel mit dem musikalischen Topos des aktiven ‚Ausschaltens‘ und hebt damit das Sich-selbst-Vergewissern und Selbstthematisieren des Subjekts auf eine musikalische Ebene. In diesem Zusammenhang stellte sich die Frage, ob die Art, auf die Medien wahrgenommen werden, auch an Medien gekoppelt sein muss beziehungsweise ob sie von diesen losgelöst kompositorisch nutzbar gemacht werden kann. Der Vergleich Exoticas mit Stockhausens Kontakten schloss mit der eigentümlichen Erkenntnis, dass ‚mediales Komponieren‘ auch ohne technische Medien möglich ist, wohingegen die Verwendung von technischen Medien in einer Komposition nicht unbedingt zu einem (im medienästhetischen Sinne) Komponieren mit Medien führen muss. Diese Problematik hat die Musikästhetik des 20. Jahrhunderts bislang nicht berücksichtigt. Gerade hier allerdings bieten sich für die medienästhetische Sicht auf die Musik der Moderne, beispielsweise der Ligetis oder der französischen Spektralisten, noch viele Anknüpfungspunkte. Der dritte Ansatz, der das künstlerische Subjekt als Sammler deutet, geht bereits von einer Differenz zwischen dem Subjekt und dem Objekt aus. Er lässt sich als eine begriffliche Weiterführung und Ausdifferenzierung der beiden vorigen Ansätze hinsichtlich der Frage nach dem Subjekt begreifen. In diesem Kapitel konnte gezeigt werden, dass das Sammeln sich in zweierlei Hinsicht in Kagels Werk äußert, zum einen in der Werkgenese, die das Sammeln als Kulturtechnik handelnd nachvollzieht (wie bei Ludwig van, Kap. IV.5.1), zum anderen in kompositorischen Verfahren wie der Montage und Collage von Formteilen und Abschnitten, die Musik in formaler und syntaktischer Hinsicht als Gesammeltes und das Werk als Sammlung erscheinen lassen. Analytisch exemplifiziert wurde dies an zwei Passagen aus Südosten (u.a. Kap. V.6) und an Les Idées fixes (siehe Kap. VI.7). Ein schwer zu fassender Aspekt des Sammelns ist die Leidenschaft des Sammlers, die sich unter anderem auch in destruktiver Weise gegen das einzelne gesammelte Objekt und die Sammlung selbst wenden kann. In Kagels Werken begegnet diese in der Untersuchung als ‚motivische Zerarbeitung‘ bezeichnete Destruktion gegen das vormals exponierte Objekt fortwährend (siehe Les Idées fixes, Kap. VI.5, und generell in den Stücken der Windrose). Sie lässt sich, wie auch die in der Werkgenese von Anagrama konstatierte ‚werkabschließende Geste des Komponisten‘ (siehe Kap. V.2.5), als ein Akt der Selbstbehauptung und Selbstvergewisserung des Subjekts gegen das Objekt und die Sammlung deuten. (Hierbei sei nochmals darauf hingewiesen, dass diese Deutung nicht als eine biographische oder psychologische Wertung von Kagels Person verstanden sein will. Diese Akte des Zerstörens finden sich in zu vielen Kunstströmungen, gerade des 20. Jahrhunderts (beispielsweise im Surrealismus und dessen objektorientierten Nachfolgern), als dass man aus ihnen einen dezidiert biographischen Interpretationsansatz gewinnen könnte, dessen Erkenntnisgewinn über das Konstatieren von privaten Befindlichkeiten hinausreicht.)

Zum Schluss

271

Diesen drei Kompositionsstrategien, dem Erzählen, dem Arrangieren von Medien und dem Sammeln in Kagels Schaffen ist gemeinsam, dass man durch sie Musik nicht mehr als subjektiven Ausdruck des Künstlers begreifen kann, sondern ‚nur noch‘ als ein von einem Subjekt thematisiertes Objekt. Der Objektcharakter von Musik lässt sich in verschiedenen sich überlagernden Systemen wiederfinden, die diese Subjekt-Objekt-Beziehung erst zu konstituieren in der Lage sind, und zwar dem Erzählsystem, dem System der Behandlung verschiedener Medien und dem System des Sammelns. Neben dem Erkennen dieses Verhältnisses auf ästhetischer Ebene (zum Beispiel in Form von musikalischen Topoi und Formdispositionen) erscheint mir diese Erkenntnis aber auch auf poetologischer Ebene wichtig, da sich dort die eigentlichen Konflikte des kagelschen Komponierens erst vollständig ausprägen. Die Einbindung des Subjekts und des Objekts in ein System mittels der Komposition findet sich dann auch in den tatsächlich analysierbaren werkgenetischen und ästhetischen Eigenschaften von Kagels Kompositionstechniken wieder. Als Beispiel ist hier unter anderem die Serielle Tonalität zu nennen. Diese bildet die ‚technischen‘ Voraussetzung für die oben beschriebenen Mechanismen zwischen Subjekt und Objekt. In kompositorischer Hinsicht bietet sie die Möglichkeit, andere Techniken, wie beispielsweise die Serialität und die Aleatorik, sowie die diesen Techniken innewohnenden musikästhetischen Diskurse als solche zu thematisieren und zu objektivieren. Zudem ist sie als ein (sehr komponistenspezifischer) Lösungsversuch des in der Moderne virulenten Problems der Musiksprachlichkeit zu verstehen. Und nicht zuletzt bietet sie durch die Verwendung von tonalen ‚Objekten‘ auch in ästhetischer Hinsicht die nötigen Identifikationsmöglichkeiten für den Hörer. Dieses Identifikationspotential kann der Komponist jedoch auch nutzen, um eine Identifikation letztendlich zu hintertreiben. Dass gerade der erstgenannte Aspekt, die Anbindung an seinerzeit aktuelle musikästhetische und musikphilosophische Diskurse, für Kagel als Komponist von besonderer Wichtigkeit war, ist in Kapitel V, das sich mit der Seriellen Tonalität auseinandersetzt, dargestellt worden. Neben der Möglichkeit, kompositorische Techniken zu objektivieren und als solche sogar musikdramaturgisch einsetzen zu können, bietet die Serielle Tonalität als ‚Bündel an Kompositionstechniken‘ dem kompositorischen Subjekt die Möglichkeit, sich innerhalb des kompositorischen Prozesses zwischen den objektiven Eigengesetzlichkeiten der Techniken und deren Potential zur Selbstgenerierung oder dem selbstbestimmten subjektiven Handeln zu entscheiden. Insofern ist die Serielle Tonalität nicht nur als eine Kompositionstechnik (oder ein Konglomerat an Techniken), sondern als eine sich in kleinen Schritten entwickelnde Kompositionsstrategie zu verstehen, die ähnlich wie die drei oben genannten Systeme ein Spannungsverhältnis zwischen Subjekt und Objekt erzeugt und, was mir wichtiger erscheint, in der Lage ist, dieses fortwährend auf recht zu erhalten. An einer Klavierpassage aus Südosten konnte dieses iterative oder prozessuale Denken Kagels auch in werkgenetischer Hinsicht nachvollzogen werden (siehe Kap. V.6). Inwiefern die Montage- und Collage-Verfahren, die in allen bei dieser Untersuchung thematisierten Werken, sowohl den musikalischen wie Les Idées fixes als auch bei dem Film Ludwig van, nachvollzogen werden konnten, als Bestandteil der Seriellen Tonalität gewertet werden können, ist fraglich. Sie bestimmen bereits die Frühwerke wie das Sexteto de cuerdas und Anagrama (siehe Kap. V.2) in solch grundsätzlicher Weise, dass sie eher

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Zum Schluss

als Voraussetzung für die Serielle Tonalität zu verstehen sind. In werkgenetischer Hinsicht ermöglichen die Verfahren der Montage und Collage (zum Terminus siehe Kap. III.2) die Genese von musikalischen Formprinzipien, die denen traditioneller Formen ähneln (vergleiche hierzu Kap. VI). Innerhalb der Werkgenese werden die Montage und die Collage aber auch als Mittel genutzt, um den automatisierten Kompositionsprozess zu regulieren und die Genese des Werks radikal zu verändern. Gerade in einem sehr späten Stadium der Werkgenese werden beide Verfahren häufig als letztes, quasi auktoriales Mittel eingesetzt, mit deren Hilfe das Subjekt in die Lage versetzt wird, sich das Werk wieder ‚anzueignen‘ (beispielsweise in Anagrama, Kap. V.2.5). Das Subjekt in Kagels Werk lässt sich damit nicht nur auf der Ebene des musikalischen Ausdrucks verorten, sondern auch im kompositorischen Prozess, durch den es fortwährend thematisiert wird. Hier stellt es sich als von der objektivierten Kompositionstechnik differenziert und zugleich durch dieselbe definiert dar. Damit ist jedoch das Objekt noch nicht weiter bestimmt. In Bezug auf die Frage nach der Narrativität und dem Sammeln kann es ein Motiv, ein Thema oder ein ganzer musikalischer Abschnitt sein, hinsichtlich der Intermedialität ein Klangobjekt oder ein musikalischer Topos, der mit einem anderen medialen Kontext assoziiert wird. Hinsichtlich der Seriellen Tonalität können sogar ganze kompositorische Regelwerke und im weitesten Sinne ‚Musiksprachen‘ zum Gegenstand der Objektivierung werden. Eine übergreifende Stringenz ist also nicht auszumachen. Vielleicht ist eine solche allerdings auch gar nicht erstrebenswert, äußert sich das Subjektive in Kagels Werk ja auch eher in Kagels Systematisierung des musikalischen ‚Schaffens‘, also auch in den künstlerischen Entscheidungen, durch die diese Techniken erst genutzt werden können, als in der bloßen Anwendung von Kompositionstechniken. Dies lässt sich als eine grundsätzlich andere Herangehensweise an Komposition verstehen, als sie in der Moderne gepflegt wurde. Und es wäre zu fragen, inwiefern dem Selbstthematisieren des Subjekts auf der Ebene des Schaffensprozesses mittels der gezeigten Kompositionsstrategien eine neue, postmoderne Haltung zugrunde liegt. Hinsichtlich der Frage nach der Postmodernität Kagels ist noch folgendes anzumerken: Wie bereits erwähnt war Kagel diese Debatte eher lästig (vergleiche auch Kap. V.1), und es scheint, als sei es ihm mit der endgültigen Ausformung seiner Seriellen Tonalität gelungen, die weitere Auseinandersetzung mit dieser Frage für sich als irrelevant zu erklären. Ebenso erwies sich für diese Untersuchung die Frage nach der Postmodernität Kagels ab dem Moment als weder sinnvoll noch notwendig, als seine Auseinandersetzung mit der Moderne einen Abschluss fand, und Kagel sich den ‚eigenen‘ kompositorischen Problemen zuwendet, die ihm das System der Seriellen Tonalität auferlegt. Für das zentrale Frühwerk Anagrama konnte hingegen dargestellt werden, dass die Auseinandersetzung mit der Poetik und Ästhetik der Moderne für Kagel und sein Komponieren in den Jahren um 1960 noch akut und notwendig war. Im Zuge einer vollständigen Systematisierung der Seriellen Tonalität zu hermeneutischen und zugleich – bei all ihrer Offenheit – im besten Sinne hermetischen Kompositionsstrategien, verloren diese Fragen für ihn offenbar an Bedeutung.

I.

Verzeichnis der Quellen

Generelle Anmerkungen Die Sammlung Kagel in der Paul Sacher Stiftung befand sich zum Zeitpunkt der letzten Einsicht (Februar-März und August-September 2005) noch in der Erfassung. Kagel lieferte die Materialien zum jeweiligen Werk überwiegend in mehreren, von ihm beschrifteten Mappen. Die Ordnung dieser Mappen ist von der Paul Sacher Stiftung bei der Erfas sung zum größten Teil beibehalten worden, des Weiteren wurden Kagels Mappen-, Konvolut- und Quellenbezeichnungen zum größten Teil übernommen, signifikante Abweichungen in der Betitelung, welche sachliche Missverständnisse auslösen können, habe ich gesondert vermerkt. Die Konvolute sind durch Makulaturen getrennt: Kagel benutzte für die Aufteilung der Konvolute verschiedene Mappensysteme und Makulaturblätter, die er mit Filzstift beschriftete. Die Paul Sacher Stiftung hat diese Aufteilung zum größten Teil übernom men und verwendet Makulaturen in einheitlichem Papier, auf denen sich in Bleistift die von der Stiftung gegebenen Konvolutbezeichnungen befinden. Da sich die Paul Sacher Stiftung in der Bezeichnung der Quellen einerseits an die mitunter ungenauen und in einzelnen Fällen auch fehlerhaften Vorgaben Kagels gehalten hat und andererseits nicht stringent zwischen Medium (wie Lichtpause, Xerokopie) und Quellentyp (wie Partiturreinschrift, Particell) unterscheidet, sind die relevanten Quellen, an denen diese Bezeichnungen zu Ungenauigkeiten in der Nachvollziehbarkeit führen, von mir kategorisiert beziehungsweise mit Arbeitstiteln gekennzeichnet worden. Wenn nicht anders vermerkt, richten sich die Bezeichnungen und Anordnungen nach denjenigen Kagels oder, wenn das Material bereits geordnet ist, nach denen der Paul Sacher Stiftung. Eckige Klammern sind bei diesen Angaben als solche übernommen und kein Zusatz meinerseits. Fehlerhafte Angaben sind im Einzelfall als solche nach dem Zitat vermerkt. Das nachfolgende Verzeichnis der Quellen gibt einen Überblick über die Konvolute bzw. zumindest über die Mengenangaben der Mappen in ihrer Vollständigkeit. Kategorische Ausnahmen bilden hier Anagrama und Ludwig van, deren detaillierte Bestandsauflistungen den Rahmen der Arbeit sprengen würden. 507 Wenn nicht anders vermerkt, handelt es sich bei den einzelnen Mappen und Konvoluten um eine unvollständige, nach 507

Den Bestand zu Ludwig van habe ich bereits vollständig in meiner Magisterarbeit aufgeführt und besonders hinsichtlich der für Filmproduktionen spezifischen Problematik der Datierung diskutiert. Im Verzeichnis der Quellen wird das Konvolut überblicksartig dargestellt, Ort und Art der einzelnen Dokumente sind in den Anmerkungen des Fließtextes beschrieben. Der Bestand von Anagrama ist aufgrund seiner durch die Genese bedingten Fülle an Material sowie aufgrund der fehlenden Datierungen und Bezeichnungen des einzelnen Dokumente größtenteils nicht identifizierbar und datierbar.

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Verzeichnis

Relevanz für die Untersuchung selektiv aufgenommene Auflistung des Bestands. Die Zusammengehörigkeit von einzelnen Skizzen wurde durch eine durchgehende Nummerierung (zum Beispiel: Bl. 5/24) oder Verweise (zum Beispiel: siehe Skizze „3“) anzudeuten versucht. (Die meisten Quellen sind nicht datiert, so dass nur dort, wo Datierungen vorgefunden wurden, diese auch im Verzeichnis genannt werden.) Es wurde versucht, die Quellen in der Chronologie der Entstehung zu ordnen, ohne die, von Kagel in seiner Zusammenstellung angedeutete Zusammengehörigkeit von Skizzenkonvoluten zu zerstören. Insofern stellt die Reihenfolge der Auflistung bereits eine Interpretation der Quellen dar, wobei die Einzelbewertungen versuchen, diese übergeordnete Interpretation der Werkgenese zu stützen. Zwar sind durch diese Darstellungsform die philologischen Vorgehensweisen der Beschreibung und Bewertung, die idealiter nacheinander geschehen sollten, miteinander vermischt, eine ausführlichere Differenzierung hätte allerdings zu einer Komplexität der Beziehungen zwischen den Quellen (gerade auch bei Anagrama) geführt, deren lückenlose Darstellung einen unverhältnismäßig großen Aufwand erfordert hätte. Das Verzeichnis der Quellen ist daher als von vornherein interpretierend zu verstehen, und wurde so angelegt, dass anhand der Reihenfolge und der Bewertung der einzelnen Quellen weitestgehend die Genese eines Werkes nachvollzogen werden kann. Es ist generell möglich, dass nach dem Zeitpunkt meiner Einsicht noch Material zu den bereits bestehenden Konvoluten geliefert wurde beziehungsweise wird. Insofern ist die folgende Auflistung des Bestandes als vorläufig zu betrachten. Da Kagel in seiner privaten Sammlung die Korpora bereits geordnet hat, sind noch zu erwartende Neuzugänge aber womöglich eher marginaler Art. Eine glückliche Ausnahme bildet in dieser Hinsicht das Drehbuch zum Film Antithese, welches in der Sammlung Kagel gänzlich fehlt, jedoch durch den Nachlass Alfred Feussners in die Paul Sacher Stiftung gekommen ist. Normalerweise skizzierte Kagel in Bleistift, lediglich bei frühen Konzepten und Blättern mit generellen Ideen verwendete er, was gerade zur Hand war; für Ludwig van beispielsweise benutzte er Filzstifte in mehreren Farben und für Anagrama roten Kugelschreiber. Ebenso verwendete er für nachträgliche Markierungen in Particellentwürfen, beispielsweise bei den Stücken der Windrose oder Les Idées fixes, roten oder schwarzen Filzstift oder auch rote Tinte. Wenn nicht anders angegeben, sind die untersuchten Quellen in Bleistift geschrieben. Die Partiturreinschriften hat Kagel generell in schwarzer Tinte ausgeführt, Ausnahmen sind die in Blei gezogenen Anagrama und Sexteto de cuerdas. Falls nicht anders vermerkt, sind die Papiere einseitig beschrieben. Skizzen auf Rückseiten, die mit dem Werk nicht in Zusammenhang stehen, sind nicht gesondert ver merkt. Ebenso sind die Rückseiten von bereits verwendeten Papieren nur in dem Falle genannt, wenn sie zur Datierung oder zum Verständnis der Quellen beitragen.

Verzeichnis

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Die Einzelangaben zur Quelle sind folgendermaßen angeordnet: [KURZTITEL = Art der Quelle], [eigene oder vorhandene Blattzählung (letztere als Zitat)]: [signifikante Überschrift (als Zitat)] ORT: [Bezeichnung der Mappe >> Konvolut >> Teilkonvolut usw.] BESCHREIBUNG: [zur Identifikation dienliche Beschreibung der Quelle] BEWERTUNG: [Interpretation zur werkgenetischen Einordnung, zur Leseweise und zu Besonderheiten der Quelle] [gegebenenfalls auch] ABBILDUNG: [Nummer in der Untersuchung]

Zur Bezeichnung von Reproduktionen Es wird im Verzeichnis der Quellen in der Beschreibung zwischen so genannten Lichtpausen (Papierkopien, oft größer als DIN A4, die auf lichtempfindlichen Fotopapier gemacht wurden) und Xerokopien (Papierkopien auf Basis von Trockentoner, bis DIN A4) unterschieden. Zudem gibt es natürlich mit Druckverfahren hergestellte Drucke, die im Weiteren, und nur in diesen Fällen, als solche bezeichnet werden.508 Zwar lassen sich noch andere frühe Reproduktionsverfahren für Blätter bis DIN A4 nachweisen, wie beispielsweise Kopien, die durch ein Verfahren hergestellt wurden, bei der eine Belichtungsfolie an das Trägerpapier ‚abgeklatscht‘ wird. Aufgrund der Tatsache, dass sich die Folienkopien von herkömmlichen Xerokopien kaum unterscheiden lassen, werden sie nicht gesondert genannt. Weitere Reproduktionsverfahren konnten in den vorhandenen Quellen nicht nachgewiesen werden. Die von Kagel verwendete Bezeichnung „Fotokopie“, die er auch für Lichtpausen verwendet, sowie die Bezeichnung „reprographischer Nachdruck“ seitens der Paul Sacher Stiftung wird in diesem sachbezogenen Sinne ohne weiteren Kommentar angeglichen. Daneben gibt es besonders im Bereich der Korrespondenz Schreibmaschinendurchschläge auf dünnem Papier, im Folgenden als Durchschlagpapier bezeichnet.

Die Begriffe Skizze, Entwurf, Reinschrift und Particell In der folgenden Auflistung sowie in der gesamten Arbeit sind die handschriftlichen Quellen bis auf die Reinschriften durchgehend zunächst als Skizzen bezeichnet. Die Bezeichnung Entwurf wird nur als bewertendes Kriterium angewandt. 509 Zwar gibt es in der neueren Skizzenforschung ein Bewusstsein für die unzureichende Terminologie, 508

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Die Mehrzahl der Lichtpausen und frühen Xerokopien unterliegen Alterungs- und Zersetzungsprozessen (Essiggeruch) sind zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr farbecht und werden in absehbarer Zeit nicht mehr lesbar sein. Vgl. hierzu auch Friedemann Sallis „Coming to Terms with the Composer’s Working Manuscripts“, in: A Handbook to Twentieth-Century Musical Sketches, S. 43-58, der eine grobe Klassifikation von Quellen in Stadien des kompositorischen Prozesses vorschlägt, und zwar in Skizze, Entwurf und Reinschrift, wobei er sich bewusst ist, dass diese zwangsläufig zu kategorialen Problemen hinsichtlich der Beschreibung und Bewertung führt.

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aber es würde substanziellere Herangehensweisen erfordern als die bisher zum Beispiel in dem von Patricia Hall und Friedemann Sallis herausgegebenen Handbook to TwentiethCentury Musical Sketches (Cambridge 2004) angedeuteten. Lediglich in den Fällen, wo in einer Skizze größere musikalische Sinnzusammenhänge bis hin zur formalen Anlage eines Teiles oder ganzen Werkes thematisiert werden, ist diese als Entwurf bewertet, beispielsweise bei den Formtabellen, die Kagel für Les Idées fixes oder teilweise für die Stücke der Windrose erstellt hat.510 Die generelle Problematik findet sich in Einzelfällen in Beschreibungen wie „skizzenhafter Entwurf“ und „Entwurfsskizze“ wieder, aber ich hoffe, dass diese Beschreibungen und Bewertungen im Einzelfall zum besseren Verständnis des jeweiligen Dokuments beitragen. 511 Der Begriff Particell bezieht sich auf den Inhalt der Niederschrift: Alle musikalischen Zusammenhänge, die noch nicht in Partitur ausgezogen, jedoch in mehr als einem System festgehalten sind, sind im Folgenden mit diesem Terminus bewertet. Das bedeutet, dass auch die Niederschrift einer in einem System festgehaltenen Melodie und eine in rhythmischer Kurzschrift darunter gesetzte Begleitung, eventuell auch mit Angaben von Grundtönen in Buchstaben, unter diesen Begriff fällt.

Abkürzungen und Begriffe verso, recto bzw. v und r = Vorder- und Rückseite Konv., Teilkonv. = Konvolut, Teilkonvolut x >> y = Teilkonvolut y liegt in Konvolut x. | = Zeilenwechsel im Zitat ( „Konv. Materialtabellen [7 S.]“ BESCHREIBUNG: Pappstreifen (36,0 x 12,2 cm, quer, blank), beidseitig mit Bleistift beschrieben, recto mit magischen Zahlenquadraten, deren Grundlage die Ordnungszahlen der Reihe sind (d.h. as = 1, es = 2 usw.); verso mit verschiedenen Permutationen des Palindroms, undat. BEWERTUNG: Recto: Diese aus zwei magischen Quadraten (12 x 12 Felder) bestehende Reihentafel hat vermutlich als ‚Schablone‘ den Kompositionsprozess von Anfang an begleitet. Die Zahlen in den Quadraten sind alle als Ordnungszahlen (!) und nicht als Tonhöhen zu lesen. Im linken magischen Quadrat findet sich die Grundreihe (deswegen in der Ordnung 1 = as, 2 = es, 3 = d, 4 = f usw.). Die weiteren Reihen unter dieser Grundreihe geben die Transpositionen ab dem jeweiligen Ton an (also in zweiter Zeile 2 = es, 9 = b, 10 = a usw.). Die erste Zahlenreihe des rechten Zahlenquadrats bilden die Ordnungszahlen der Umkehrung der Reihe ab. Die weiteren Zahlenreihen werden nach dem gleichen Prinzip behandelt wie im linken Quadrat. ABBILDUNG: hier nur der Anfang: 1

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Abb. 81: Kagel, Anagrama, Ausschnitt aus „Ingrumsocte“.

ZAHLENQUADRATE „SERIE WEBERN“ ORT: Mappe „2/17“ >> Konv. „Skizzen [19 S.]“ BESCHREIBUNG: Blatt (19,0 x 11,9 cm, hoch, blank) einseitig mit Bleistift beschrieben, undat., beinhaltet zwei Zahlenquadrate. Das obere bildet die Reihe b, a, c, h, es, e, cis, d, fis, f, gis, g aus Anton Weberns Streichquartett op. 28 sowie deren Transpositionen ab, wobei die Reihenzahlen 11, 10, 1, 12 usw. die erste Reihe wie auch die erste Spalte bilden. Die Transpositionen in den weiteren Reihen gehen also – wie im obigen Beispiel – nicht stu-

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fenweise chromatisch auf- oder abwärts, sondern haben den jeweiligen Reihenton als Ausgangspunkt. Das untere Quadrat bildet auf die gleiche Weise die Umkehrung der Reihe ab. BEWERTUNG: Die Reihe ist, wie bereits Kassel (Das Fundament, S. 19 u. 25-26) darstellt, in die Chorpassage der Takte 41 bis 47 des dritten Satzes eingegangen. PARTITURREINSCHRIFT DER VERWORFENEN FRÜHEN FASSUNG: „ANAGRAMA | I. II. III.“ ORT: Mappe „5/17“ >> Konv. „Partitur (1Rs.) von Teil 1 bis 3 [sic!][33S.]“ BESCHREIBUNG: Handschriftliche Partitur mit Bleistift beschrieben, zur Dat. s.u., besteht aus zwölf ineinander gelegten Bögen Notenpapier (36,1 x27,0 cm, hoch, 18 Systeme), zuerst zwei Lagen Umschlag, danach drei Lagen, welche aus jeweils fünf, einem und vier ineinandergelegten Bögen bestehen (U: 1. Konv. „[11 S.]“ BESCHREIBUNG: 1 Blatt (68,5 x 11,0 cm, quer, blank), beidseitig mit Bleistift beschrieben, recto: „A | Moderato“, undat., beinhaltet die Tondauern- und Tempostruktur vom kompletten 4. Satz. Allerdings gibt es einige Abweichungen zum endgültigen Partiturdruck. BEWERTUNG: siehe nachfolgend. ABBILDUNG: siehe Abb. 25. TONDAUERNSTRUKTUR 4. SATZ, T. 1-10 ORT: Mappe „4/17 | Schablonen der Tempostrukturen“ >> Konv. „[11 S.]“ BESCHREIBUNG: 1 Blatt (68,5 x 11,0 cm, quer, blank), einseitig mit Bleistift beschrieben, undat. Dieses Blatt beinhaltet recto bzw. „1“ in detaillierter Ausführung die Noten- und Pausenwerte der Passage T. 1-10 des 4. Satzes (ohne Sprechchor). Die rhythmische Notation ist ohne Instrumentenangabe in vier Systemen geschrieben. Annähernd alle rhythmischen Figuren finden sich an den jeweiligen Stellen auch in dem Partiturdruck wieder, allerdings in der Form, dass die Instrumente ihre Notenwerte aus verschiedenen Systemen erhalten, bzw. die Instrumente die Systeme wechseln. BEWERTUNG: Diese Skizze der Tempostruktur des 4. Satzes (s.o.), die den gesamten 4. Satz umfasst, hatte offensichtlich Einfluss auf diese kleinere der Tondauernstruktur. So sind in der Skizze des gesamten Satzes pro Takt Zahlen angegeben, die die Häufigkeit der Töne und der beteiligten Stimmen angibt. (Die im Konvolut folgenden Blätter 3-7 scheinen sich zwar auch aus der umfassenden Satzskizze herzuleiten, sie sind in dieser Form aber nicht in der endgültigen Partitur zu finden.) ABBILDUNG: siehe Abb. 26. VERWORFENE SKIZZE DER TEMPOSTRUKTUR DES 1. SATZES ORT: Mappe „4/17 | Schablonen der Tempostrukturen“ >> Konv. „[5 S.]“ BESCHREIBUNG: Zweites und drittes Blatt (beide 61,2 x 10,9 cm, quer, blank), beidseitig mit Bleistift beschrieben, undat. Auf den Blättern ist die komplette Tempostruktur des 1. Satzes skizziert, bzw. das, was sich als Temposystem im Partiturdruck wiederfindet. Beide Blätter sind vermutlich in etwa simultan beschreiben worden, Kagel hat jeweils zwei Temposysteme auf je einer Seite notiert. Das erste Blatt beginnt recto mit 1-2, dann folgt Reihe 3-4 auf dem zweiten Blatt recto, dort umseitig findet sich 5-6 und zurück zum ersten Blatt umseitig finden sich 7 und 8. (Kagel hat dies jeweils unten

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rechts mit rotem Korrekturstift vermerkt.) Diese eigentümliche Reihung lässt sich ein fach erklären: Wenn man das 1. und 2. Blatt untereinander legt, erhält man die Reihen 1 bis 4, wenn man beide um die Horizontalachse wendet, und das untere Blatt nach oben legt, erhält man durchgehend die Reihen 5 bis 8. BEWERTUNG: Die Tempi sind hier noch sehr genau bis in die zweite Stelle nach dem Komma ausgeschrieben, in der Partitur sie in „poco meno“ oder „poco piú“ vereinfacht. (In der ersten Reihe des Manuskripts hat Kagel dies auch angedeutet.) Ebenso sind einige Tempi auf die Einerstellen auf oder abgerundet. Ansonsten sind die Angaben der Takte und der Tempi mit denen des Partiturdrucks identisch (!). Sogar die Reihenaufteilung entspricht genau der Seitenaufteilung des Partiturdrucks, d.h. Reihe 1 = Seite 1 usw. Während in der Tempostruktur des gesamten 4. Satzes (s.o.) auch die Instrumentation und weiteres festgelegt ist, sind hier nur die Taktarten und Tempi festgehalten. DIRIGIERPARTITUR ANAGRAMA „1. HANDEXEMPLAR“ ORT: Mappe (o.N., DIN A0) „5 Handexemplare“ BESCHREIBUNG: Lichtpausen der Partiturreinschrift (58,8 x 41 cm, quer), satzweise in blaue Pappe per Fadenheftung gebunden, undat. Die Seitenaufteilung des Notentextes (jeweils recto) ist identisch mit der des Partiturdrucks, die Seitenzählung beginnt pro Satz neu (also 8, 10, 7, 8, 5 = insg. 38 Bl.). Die Besetzung differiert von der Druckpartitur nur in den Schlaginstrumenten. Von Kagel sind die Sätze nach dem Schema „Anagrama ([jeweiliger Satz]) | 1. Handexemplar | (Kopie WDR)“ bezeichnet. Notentext (recto) mit vielen Änderungen und Einträgen Kagels, ebenso leere Seiten (verso) mit Kommentaren versehen. Die Bezeichnung Kagels „Kopie WDR“ lässt darauf schließen, dass sie vom WDR reproduziert wurden. Im zweiten Satz finden Überklebungen aus Kagels Hand, die den gesamten Satz umfassen. Da die Papierstreifen nur an den Seiten befestigt sind, ist der darunter liegende Notentext lesbar. BEWERTUNG: Wie auch in der Reinschrift, wovon dieses Handexemplar eine Lichtpause ist, finden sich im zweiten Satz der Chor und die Solisten. Bis auf die schon vorhandene Flötenpassage T. 59-67 und einen Cluster der Celesta in T. 81 sind jedoch keine weiteren Instrumentalpassagen eingetragen. Über die Lichtpause ist jeweils über die obere Hälfte mit Klebestreifen ein Streifen Notenpapier angebracht, auf den die neuen Parts der Instrumente festgehalten sind. Kagels Schrift auf diesem überklebten Notenpapier ist nicht so sauber, wie man es von einer Reinschrift erwartet. Und es ist auch eher wie eine Skizze angelegt, z.B. in T. 75: Dort sind die Trommeln 1-3 noch nicht differenziert. Ebenso sind mehrere Instrumente in einem System, wie z.B. das Tom-Tom, das erst in etwa in der 2. Takthälfte in das System der Rührtrommel notiert sind (Bez. „Tom-Tom“ über das System geschrieben). (Zur Datierung dieser Einlage siehe Kap. V.2.5.) Neben zahlreichen Tilgungen und Änderungen (z.B. 3. Satz, T. 28-31: Tam-Tam getilgt; T. 37-38: Peitschen getilgt, Triangel auf Glockenspiel hinzugefügt; T. 39-40: Peitschen getilgt; T. 51-52: Schlagwerk (Piatti und blocs chinois) getilgt) gibt es auch Zusätze (z.B. 5. Satz, T. 1-13: Passagen der Gesangssolisten Alt, Bariton, mit Anschluss an den beste-

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henden Notentext in T. 11, und Bass per Bleistift in die Lichtpause hinzugefügt; T. 42-46 Bass mit Blei skizzenartig hinzugefügt 512). Dass diese gebundenen Exemplare als Proben- und Dirigierpartitur genutzt wurden, lässt sich u. a. an Kagels Einträgen der Namen der Schlagzeuger absehen (z.B. im 3. Satz, Seite 2: T. 11 und 12: „Tam-Tam >> ROEDER“ und „PIATTO >> HEDLER“; T. 19: „Vogler“). Auch im 4. Satz finden sich, vermutlich aufgrund der komplexen Partitur, die Namen der Schlagzeuger eingetragen. Die gesamte Partitur enthält zudem für das Dirigieren typische Verdeutlichungen und Hervorhebungen der Taktarten und Zählzeiten in rotem und blauem Buntstift. UMSCHLAGBESCHRIFTUNG DER STIMMENAUSZÜGE „UE 13107LW KAGEL: ANAGRAMA, Material“ ORT: Mappe „8/17“ BESCHREIBUNG: Den Stimmenauszügen beigeordnet (Tusche, vermutlich aus fremder Hand) befindet sich ein Umschlag (orange Pappe, 38,2 x 27,6 cm, hat vormals als Makulatur für die „Transparente der Spielstimmen“ gedient), auf dem ein Zettel aufgeklebt ist (unregelmäßig geschnitten und gerissen, ca. 12,5 x 21,5 cm, Typoskript in schwarz und rot). Die Überschrift lautet: „UE 13107LW KAGEL: ANAGRAMA, Material | Von Hr. Kagel am 4.5.60 folgende Lichtpausen erhalten:“ Desweiteren folgende Tabelle („Buch“=Satz; Zahlen geben die Seitenzahlen der Stim men pro Satz an): Flöte Klarin. Bassklar. Piano I Piano II Harfe I Harfe II Celesta Schlagzeug

Buch I

1-2 1-2 1-2 1-3 1-3 1-3 1-3 1-3 1-6

Buch II

1 0 0 0 0 0 0 letzter Teil von S.3 0

Buch III

0 0 0 0 0 0 0 0

Buch IV

1-4

1-2 1-2 1-2 1-3 1-3 1-3 1-3 1-2 1-5

Buch V

1-2 1-2 1-2 1-2 1-3 1-3 1-3 1-2 1-3

Abb. 82: Kagel, Anagrama, Umschlagbeschriftung der Stimmenauszüge.

BEWERTUNG: Es ist unsicher, ob die Liste die Instrumentierung in den Originalen oder den Lichtpausen wiedergibt. Ebenso ist unklar, ob diese Auflistung von Kagel (zur eigenen Dokumentation) oder vom WDR (für die Akten) angefertigt wurde. Da im zweiten Satz bis auf die Flöte keine Instrumentalstimmen verzeichnet sind, lassen sich Kagels Überklebungen im zweiten Satz des sog. „1. Handexemplars“ nach dem Zeitraum der Datierung, d.h. nach dem 4. Mai 1960, einordnen. Dies angenommen, blieb Kagel bis zur UA am 11. Juni ein Monat Zeit, den zweiten Satz zu ändern. 512

In der Lichtpause noch T. 57-61. Durch die Zusammenführung von kleineren Takten entstanden im fünften Satz zwischen Partiturdruck und Partiturreinschrift Unterschiede in der Taktzählung. Dies hatte jedoch keine Auswirkung auf die Spartierung.

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Die in Mappe 9/17 im Konvolut „Stimmen (Rs.: Fotokopien mit Aufführungseintrag...) [61 S.]“ mit einem Vermerk Kagels versehenen „Spielstimmen der Uraufführung“ bestä tigen diesen Verdacht. Zwar sind die Lichtpausen der Stimmen unvollständig, aber es ist u.a. in den Stimmen der Flöte und der Celesta für den 2. Satz noch der spärliche Notentext vor der großen Änderung zu finden. Hingegen sind die Anmerkungen „Buch II tacet“ (u.a. bei der Harfe I und der Klarinette) jeweils am Ende des ersten Satzes mit Blei durchgestrichen. Es ist also zu vermuten, dass Kagel für die im zweiten Satz neu hinzugekommenen Instrumente wie Harfe I, Klarinette, wie auch für die bereits beste hende Stimmen der Celesta und der Flöte, Stimmenmaterial nachgeschrieben hat. Dieses ist aber nicht in der Sammlung enthalten.

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Exotica

Dieses Werkkonvolut besteht aus insgesamt sieben, von der Paul Sacher Stiftung geordneten Mappen (Stand: September 2005). Hier soll hier lediglich Mappe „[5/7]“, welche die Skizzen beinhaltet, thematisiert werden. SYNCHRONISATIONSPLAN ORT: Mappe „[5/7]“ >> Konvolut „[2]“ [sic!] BESCHREIBUNG: 6 Bl. (DIN A4 quer, 5mm kariert, einseitig mit Bleistift beschrieben) undat., je Schallplattenseite von 1 bis 3 paginiert. BEWERTUNG: In diesem Synchronisationsplan ist die Planung und Dokumentation des Endschnitts der Schallplattenaufnahme festgehalten. Die in Kästchen gefassten Buchstaben A bis E geben die Takes (d.h. die Einzelaufnahmen) und gleichzeitig auch die Formteile des Werkes wieder, wie sie im Partiturdruck zu finden sind. Kagels Ausführung die ses Dokuments ähnelt sehr der Arbeitsweise bei der Schallplattenaufnahme zu Ludwig van, die dort ebenfalls in einem Synchronisationsplan festgehalten sind. AUFNAHME-ARBEITSBLÄTTER ORT: Mappe „[5/7]“ >> Konvolut „[2]“ [sic!], obigem Synchronisationsplan nachgeordnet BESCHREIBUNG: 14 Bl. (DIN A4, hoch, Formulardruck mit der Bezeichnung „AufnahmeArbeitsblatt Nr.“) mit Einträgen Kagels (Blei, blauer Kugelschreiber und schwarzer Filzstift); Bl. 1-4 mit „3“ bis „6“ in schwarzem Filzstift paginiert, Bl. 4-14 in rotem Buntstift mit „1“ bis „11“ paginiert. Bl. 1 ist betitelt mit „Teil- und Gesamtdauern“ (Inhalt siehe unten), Bl. 2: „Aufteilung nach Bänder“ (s. u.), Bl. 3: „Schallplattenseite 1“ (bzw. Synchronisationsplan der 1. Schallplattenseite), Bl. 4: „Exotica“ (von dort bis Bl. 14 durchlaufende Auflistung der einzelnen Takes). Die vorgefundenen Datierungen lauten: Bl. 4: „22.3.72 | 1400-2200“, Bl. 5: „23.3.72 | 1000-1400“, Bl. 6: „23.3.72 | 1800-“, Bl. 8: „24.3.72 | 1800“, Bl. 11: „25.3./ 10.00“. Die Daten geben Zeitpunkt und Dauer der Aufnahmesitzungen an. BEWERTUNG: Hierbei handelt es sich um die Dokumentation der Aufnahmen und Konzeption des endgültigen Schnitts. Das Konvolut ist also vermutlich nachträglich zusammengestellt worden, bei dieser Neuordnung ist offensichtlich auch die Paginierung mit schwarzem Filzstift durchgeführt worden. Kagel hat die Takes eines Formteiles, die jeweils schon Zusammenschnitte von mehreren Aufnahmen gewesen sind, auf je ein Band kopieren lassen, so dass die fünf Teile auf fünf Bändern vorhanden waren (Bl. 1 u. 2/14, betitelt mit „Teil- und Gesamtdauern“ und „Aufteilung nach Bänder“). Zum „Teil A“ gab es 108 Aufnahmen, die in das „Take A“ gefasst wurden (in Bl. 5-9/14, in rotem Buntstift paginiert mit „2“ bis „6“). Hierbei ging Kagel abschnittsweise und kleinschrittig vor, die in die Aufnahmearbeitsblätter eingetragenen Taktzahlen dienten als Orientierungshilfe, ihnen beigeordnet waren die verschiedenen Aufnahmen. Von den

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anderen Teilen bzw. Takes, die Solos enthalten oder aufgrund der geringeren Komplexität nicht so viele Einspielungen erforderten, hat Kagel mehrere Versionen aufnehmen lassen. Die Teile B beinhalten nur fremde Aufnahmen von außereuropäischer Musik, die Teile D sind nach den Soli der beteiligten Musiker geordnet (1. Portal, 2. Globokar, 3. Caskel, 4. Bruck, 5. Ross, 6. Palm), wobei Kagel aus dem Tonbandmaterial verschiedene kurze Abschnitte verwendet hat. Die Spuren von Teil E dokumentieren vermutlich den Zusammenschnitt von Tonbandwiedergaben authentischer außereuropäischen Musik sowie der Versuche der Musiker, diese Musik nachzuahmen. Bl. 3/14 dokumentiert außerdem eine Änderung des Zusammenschnitts der ersten Schallplattenseite, ver mutlich ist diese aber nochmals abgeändert worden.

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Les Idées fixes

Das Werkkonvolut zu Les Idées fixes besteht aus insgesamt fünf von der Paul Sacher Stiftung bereits geordneten, nummerierten und bezeichneten Mappen. Mappe „1/5“ hat die Bezeichnung „SMK | Kagel, Mauricio | Les Idées fixes (Orch; 1986-1989) [1/5] | Skizzen [39 S.] | - Partitur (Rs.) [87 S.]“. Diese Mappe beinhaltet 2 Konvolute (Konvolut „Skizzen [39 S.]“ und die Partiturreinschrift), wobei das erste Konvolut wiederum in 2 Teilkonvolute namens „Skizzen“ aufgeteilt ist. Mappe „2/5“ mit der Bezeichnung „SMK | Kagel, Mauricio [2/5] | Les Idées fixes (1986-1989) | - Partitur (Rs.; Fotokop. mit hss. Kor.) [87 S.] | - “ (Faksimiledruck mit hss. Kor. und anderen Eintragungen) [88 S.]“ ist insofern von Bedeutung, als sie Informationen über die Namensfindung des Werkes gibt und sich in ihr die fehlzugeordneten Formtabellen befinden. Des Weiteren sind auch Kagels Korrekturfahnen des Erstdrucks aus Mappe „3“ und ein Brief Kagels aus Mappe „4“ aufgenommen. (Mappe 5 beinhaltet die Stimmen.) SKIZZE BL. 1/24: „TITEL: APRES“ ORT: Mappe „1/5“ >> 1. Konvolut, betitelt mit „Skizzen [39 S.]“ >> 1. Teilkonvolut „Skizzen“ mit Formaten bis DIN A4, folgende Blätter 2-24/24 sind nachfolgend angeordnet. BESCHREIBUNG: 1 Blatt (14,5 x 10,5 cm hoch, kariert 5 mm), undat. BEWERTUNG: Diese und nachfolgende Skizzen sind beispielhaft für Kagels Arbeitsweise: Neben großformatigen Notenskizzen legt er oft auch eine Sammlung an kleineren Skizzen an, im Falle von Ludwig van füllen Skizzen dieser Art ein ganzes Ringbuch. Ein solches, in den meisten Fällen nachträglich zusammengefasstes Konvolut wird im Laufe der Komposition mit weiteren Dokumenten gefüllt, z.B. hier mit Skizzen für Werner Klüppelholz (Bl. 5-15/24), die offensichtlich (laut Datierung) nach Abschluss der Komposition entstanden sind. SKIZZE BL. 2/24: „PARIS 2.4.88“ ORT: s.o., nachliegend BESCHREIBUNG: 1 Blatt (26 x 18,4 cm, hoch, blank), dat. mit „Paris 2.4.88“ BEWERTUNG: Skizze, enthält Entwürfe der Idée fixe in rhythmischer Notation mit unbestimmten Tonhöhen. SKIZZE BL. 3/24: „EIC | DEZEMBER ’89“ ORT: s.o., nachliegend BESCHREIBUNG: 1 Blatt (DIN A4, hoch, blank), undat. BEWERTUNG: Skizze, das Datum bezieht sich auf die geplante UA, enthält Möglichkeiten der Instrumentation und Melodieführung: „alle Instrumente spielen die gleiche Melodie | aber in verschiedenem Rhythmus (Talea?)“. Dem nachfolgend sind verschiedene rhythmische Möglichkeiten exemplifiziert.

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SKIZZE BL. 4/24: „MUSICA ‚EN VERSO‘“ ORT: s.o., nachliegend BESCHREIBUNG: 1 Blatt (DIN A4, hoch, blank), dat. „22.9.87“ BEWERTUNG: Skizze von verschiedenen Rhythmusanordnungen. Die Rhythmen sind als Rondo angeordnet, und zwar in der Form A-B-C-B-D-E-F-B-G. FORMENTWURF „1. RONDO (PARTITURSEITEN 1-“), BL. 1/3 ORT: Mappe „[4/5]“ >> Konvolut „Korrekturen u. Korrekturliste [sic!] [15 S.]“ BESCHREIBUNG: 1 Blatt (DIN A4, quer (!), Xerokopie), mit hss. Einträgen, Datierung „6.4.88“ mit Bleistift von Kagels Hand. Das Blatt ist die Kopie einer von Kagel erstell ten leeren Tabelle. BEWERTUNG: Dieses wie auch die beiden weiteren Blätter sind als „Korrekturlisten“ fehlzugeordnete Formentwürfe (!). Das Blatt stellt vermutlich ein Vorstadium zum nachfolgenden Blatt dar (allerdings ohne Oboe und E-Hr.). Die leere Tabelle, die als Kopiervorlage diente, befindet sich im Konvolut weiter vorne. Obwohl dieses wie die nachfolgenden beiden Blätter in die Mappe mit den Korrekturen eingeordnet sind, gehören diese Blätter 1 bis 3 nicht in die Korrekturphase, sondern sind Entwürfe zur Formdisposition (vgl. Kagels ähnliche Skizzierung bei Osten). Bei einem Vergleich der ersten beiden Skizzenblätter, die das 1. Rondo abbilden, mit der endgültigen Instrumentation zeigt sich, dass Kagel sich nur anfänglich an die skizzierte Systematik gehalten hat. FORMENTWURF „1. RONDO (PARTITURSEITEN 1-“), BL. 2/3 ORT: dem Formentwurf „Bl. 1/3“ nachfolgend angeordnet BESCHREIBUNG: 1 Blatt (DIN A4, hoch, Xerokopie) mit hss. Einträgen, Datierung „6.4.88“ von „Bl. 1/3“ mitkopiert. BEWERTUNG: Kagel hat vermutlich den Formentwurf „Bl. 1/3“ (mit Datum,jedoch mit leerer Tabelle) als Vorlage für diesen Entwurf kopiert. ABBILDUNG: siehe Abb. 56. FORMENTWURF „2. RONDO [...] AB SKIZZENSEITE -3-“, BL. 3/3 ORT: dem Formentwurf „Bl. 2/3“ nachfolgend angeordnet BESCHREIBUNG: 1 Blatt (DIN A4, hoch, Xerokopie) mit hss. Einträgen, Datierung „6.4.88“ von „Bl. 1/3“ mitkopiert. BEWERTUNG: wie Formentwurf „Bl. 2/3“. DIV.

SKIZZEN BL. 5-15/24 ORT: siehe Bl. 1/24 BESCHREIBUNG: 11 Blätter (DIN A4, hoch, blank), von Kagel durchlaufend paginiert, 1. Seite dat. „30.11.86 | Paris“, auf Seite „-10-“: dat.: „12.10.91“ und mit Vermerk „an Werner Klüppelholz für Programmbuch WDR“. BEWERTUNG: Diese Skizzen sind – bis auf die letzten beiden Blätter – vermutlich aus einem relativ frühen Stadium (vgl. abweichende Datierung auf Bl. 16/24). Die Seiten 18 beinhalten Skizzen der Rhythmik auf Basis von Fibonacci-Reihen, Seite 9 und 11 ent halten modellhafte Skizzen der Idée fixe. Die Datierung dieser Blätter ist durch die unterschiedlichen Datierungen problematisch, vermutlich hat Kagel aber nur den datier-

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ten Vermerk auf Seite 10 sehr spät angefertigt. Die Nummerierung erscheint in einem Schreibvorgang durchgeführt, vermutlich nachdem Kagel diese Blätter geordnet und das vorletzte Blatt mit obigem Vermerk zugefügt hat. SKIZZE BL. 16/24 „L’IDÉE FIXE“ ORT: s.o., nachliegend BESCHREIBUNG: 1 Blatt (DIN A4, hoch, blank), undat. BEWERTUNG: Dokumentation, Eintrag „S. 1-16 bis 6.4.88 | S. 17 – ab 2.4.89“ bezieht sich auf die Entstehungsdaten der Blätter 1 bis 24/24. Siehe jedoch Bl. 18/24, welches sich früher datieren lässt. SKIZZE BL. 18/24 „L’IDÉE FIXE | RONDEAU FÜR KAMMERORCHESTER | ODER ? | RONDO“ ORT: s.o., nachliegend BESCHREIBUNG: 1 Blatt (DIN A4, hoch, blank), undat. BEWERTUNG: enthält Überlegungen zur Titelgebung des Werkes „L’idée fixe | Rondeau oder? Rondo für Kammerorchester“, den Nachweis „Franco da Colonia (ed Cserba, S. 252) | altester Theoretiker, die den | Rondeau bezeugen“ [sic!], sowie den Vermerk vom 29.3.89, „Josephine“ über die Titeländerung (Rondo statt Konzert) informiert zu haben. SKIZZE BL. 19/24 „OPUS IDÉE FIXE“ ORT: s.o., nachliegend BESCHREIBUNG: 1 Blatt (DIN A4, hoch, blank), undat. BEWERTUNG: enthält Überlegungen zur Titelgebung: „OPUS IDÉE FIXE“ sowie mehrere Möglichkeiten „IDÉE FIXE | LES IDÉES FIXES“ und „L’IDÉE FIXE“ SKIZZE BL. 20/24 „LES IDEES FIXES | DAUER“ ORT: s.o., nachliegend BESCHREIBUNG: 1 Blatt (DIN A4, hoch, blank), dat. „Montigliari | 29.7.89“ BEWERTUNG: Dokumentations- und Entwurfsskizze, enthält die Auflistung der Dauern der fünf Teile und den Vermerk bezüglich der vorläufigen Gesamtzeit von 14’30’’: „abrunden auf 15’“ und: „Wahrscheinlich schnelle|tempi zu schnell“. ABBILDUNG: siehe Abb. 66. PARTICELLSKIZZE „L’IDÉE FIXE -1-“RECTO ORT: Mappe „[1/5]“ >> 1. Konvolut „Skizzen“ [39 S.]“ BESCHREIBUNG: 1 Blatt (34,0 x 27,0 cm, hoch, 26 Systeme), dat. „Paris 1989“, recto und verso mit Bleistift beschrieben. Die Skizze enthält recto die formale Disposition der Wiederholungsteile des 1. Motivs, aufgeteilt in von Kagel so genannte „Strophen“, teilweise in Particell. BEWERTUNG: Die Datierung bezeichnet vermutlich den Ort und Termin der UA. Zur Datierung und weitere Anmerkungen siehe generelle Bewertung unten. ABBILDUNG: siehe Abb. 69.

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PARTICELLSKIZZE „L’IDÉE FIXE -1-“VERSO ORT: s.o. BESCHREIBUNG: verso von „1“, Papier wie recto, beinhaltet die Skizzen zu den Takten 152 bis 160 in Particell (wie auch in den anderen Entwürfen in Particell hat Kagel die Takt zahlen nachträglich eingetragen). Oben links ist ein Abschnitt ab T. 69 in Particell skizziert, oder in Kagels Worten „Ende Strophe 8“. BEWERTUNG: siehe generelle Bewertung unten. PARTICELLSKIZZE „L’IDÉE FIXE -2-“ ORT: s.o., nachliegend BESCHREIBUNG: Notenpapier (29,6 x 41,8 cm, quer, 18 Systeme), dat. „4.1.88“, enthält: T. 145-150 = „8. Strophe, 8. Motiv“ in Particell (mit den Instrumentenangaben: EH, Ob, Bassklar, Fg 1, Trp 2, Pos 2, „Geige“) und oben links einen mit „Ausgangspunkt“ betitelten Skizzenteil mit der anfänglichen Melodie in Particell. BEWERTUNG: siehe generelle Bewertung unten. PARTICELLSKIZZE „L’IDÉE FIXE -2BIS-“ ORT: s.o., nachliegend BESCHREIBUNG: Format und Papier siehe Skizze „2“, undat., enthält T. 145-168, d.h. die „unendliche Melodie“, in Particell; mit Angabe ab T. 165 „Rondo III (Klavier 4 Hände)“. BEWERTUNG: siehe generelle Bewertung unten. PARTICELLSKIZZE „L’IDÉE FIXE -3-“ ORT: s.o., nachliegend BESCHREIBUNG: Format und Papier siehe Skizze „2“, dat. mit dem Vermerk „Ursprünglich aus Deutschland | 27.II.80“, enthält: T. 85-91 und T. 138-144 (Instr.: Klar 1+2, Horn 1, Schlgzg 1, Harfe, Kb; ab T. 143: EH, Fag 2, Trp 1, Pos 1, Celesta, Vl, Vc), Angaben bei T. 138: „Strophe 7. Motiv“ und ab T. 143: „7. Episode“, alle in Particell. BEWERTUNG: Dieses Skizzenblatt war ursprünglich für Aus Deutschland skizziert (siehe auch Bleistifteintrag von Kagel), wobei vermutlich nur das erste System entstanden ist. Kagel tilgte die Stimmenbezeichnungen des bestehenden Satzes, fügte neue Bezeichnungen hinzu und arbeitete die Passage in die Partitur zu Les Idées fixes ein (zu ersehen an den Taktzahlen). (Ob Kagel diese Skizze auch für Aus Deutschland verwendet hat, konnte ich nach gründlichem Studium des in der Paul Sacher Stiftung befindlichen Aufführungsmaterials von Aus Deutschland nicht bestätigen. Es handelt sich demnach offensichtlich um eine verworfene Skizze.) Kagel nimmt dieses System aber auch als Ausgangspunkt für die auf dem selben Blatt befindliche Skizzierung die 7. Strophe und die 7. Episode (siehe Beschreibung oben). Diese beiden anderen Skizzen sind vermutlich neueren Datums (zu ersehen an dem durchgehenden Schreibduktus und den der Metrik zugrunde liegenden anderen Zahlenverhältnissen), weitere Anmerkungen siehe generelle Bewertung unten.

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PARTICELLSKIZZE „L’IDÉE FIXE -4-“ ORT: s.o., nachliegend BESCHREIBUNG: Format und Papier siehe Skizze „2“, zur Dat. siehe unten, enthält: T. 95 bis 110 in Particell. Angaben bei T. 95: „1. Strophe“, bei T. 105: „1. Episode“, bei T. 106: „2. Strophe”, bei T. 109: „2. Episode“. Ebenso generelle Angabe „2. Rondo“(!). Hinter der obersten Akkolade (Vorlage für die Takte 95ff.) ist vermerkt: „nicht verwendet ursprünglich: FRAGENDE ODE | 11.1.89“. BEWERTUNG: Ebenso wie Particellskizze „-3-“ handelt es sich hier um eine Skizze, die Kagel für ein anderes Werk, hier die Fragende Ode für Doppelchor, Bläser und Schlagzeug (1988/89), erstellt und weitergeführt hat, weitere Anmerkungen siehe generelle Bewertung unten. ABBILDUNG: siehe Abb. 70 und 71. PARTICELLSKIZZE „L’IDÉE FIXE -5-“ ORT: s.o., nachliegend BESCHREIBUNG: Format und Papier siehe Particellskizze „2“, undat., enthält: T. 110-124 (teilweise in Particell: ab T. 110 eine Stimme; Instr. ab T. 118: Kl 1, Fg 1, Pos 2, Celesta, Klav, Va, Vc; ab T. 120: Basskl, Trp 1, Tuba, Schlgzg 3, Vc; ab T. 124: Fl 2, EH, Fg 2, Hr 1+2, Harfe, Kb); sowie T. 135-137 (Instr.: Fl 1, Ob, Basskl, Fg 2, Trp 2, Pos 2, Tuba, Schlgzg 3). Angaben bei T. 110: „3. Strophe“, bei T. 118: „3. Episode“, bei T. 120: „4. Rondo“, bei T. 124: „4. Episode 1 Takt“. BEWERTUNG: siehe generelle Bewertung unten. PARTICELLSKIZZE „LES IDÉES FIXES -6-“ ORT: s.o., nachliegend BESCHREIBUNG: Format und Papier siehe Particellskizze „2“, undat., enthält Skizzen zu den Takten 125-134 in Particell (Instr. ab 125: Fl 1+2, EH, Fg 2, Hr 2, Trp 1+2, Pos 1+2, Schlgzg 1, Harfe, Va, Vc; ab T. 130: Oboe, Klar 1+2, Basskl., Fag 1+2, Hr. 1, Tuba, Schlgzg 2+3, Celesta, Klavier, Vc, Kb; ab T. 131: Fg 1, Pos 1, Schlgzg 2, Celesta, Va; ab T. 133: Fl 1, Ob, Basskl, Fg 2, Trp 2, Pos 2, Tuba, Schlgzg 3). Angaben bei T. 125: „5. Motiv“, bei T. 130: „5. Episode“, bei T. 131: „6. Motiv“, bei T. 133: „6. Episode“, nach T. 134: „Fortsetzung Skizzenseite -5-!“. Ebenso enthält die Skizze den Takt 151 als Leertakt mit dem Vermerk „siehe Partitur“ und der Angabe „8. Episode“ BEWERTUNG: siehe generelle Bewertung unten. PARTICELLSKIZZE „LES IDÉES FIXES -7-“ ORT: s.o., nachliegend BESCHREIBUNG: Format und Papier siehe Particellskizze „2“, dat. mit dem Vermerk „3.4.89 (Idee) | 4.5.89 (...)“, enthält: T. 165-180 (lediglich für „Klavier a 4 mains“), ab T. 178 ist verzeichnet: „12 Tonreihe = Melodie“ BEWERTUNG: siehe generelle Bewertung unten.

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FORMENTWURF „RONDO III LES IDÉES FIXES“ ORT: s.o., nachliegend BESCHREIBUNG: 1 Blatt (27,9 x 21,6 cm hoch, kariert), undat., enthält in Form einer sche matischen Auflistung Angaben zur Particellskizze „7“ hinsichtlich der Taktarten und der Taktaufteilung. BEWERTUNG: siehe generelle Bewertung unten. PARTICELLSKIZZE „LES IDÉES FIXES -8-“ ORT: s.o., nachliegend BESCHREIBUNG: Format und Papier siehe Particellskizze „2“, undat., enthält: T. 181-187 und T. 210-211 und T. 217-225 (lediglich Klavier a 4 mains). Angaben zwischen T. 187 und 210: „Skizzenseite -9- |188-209“, ebenso zwischen T. 211 und 217: „212-216“. BEWERTUNG: Es könnte sich hierbei um ein Skizzenblatt handeln, das Kagel ursprünglich für Aus Deutschland oder die Sankt-Bach-Passion erstellt hat. Interessant ist, dass Kagel die Tonhöhendisposition für die nachschlagenden Akkorde in dieser Skizze, wie auch in Particellskizze „Les idées fixes -7-“, nicht festgehalten hat. (Dort finden sich lediglich die Intervallabstände für die Ober- und Unterstimme.) Aber an den Zahlen ab T. 217 ist zu erkennen, dass den Akkorden ein System zugrunde liegt. Siehe auch generelle Bewertung unten. PARTICELLSKIZZE „LES IDÉES FIXES -9-“ ORT: s.o., nachliegend BESCHREIBUNG: Format und Papier siehe Particellskizze „2“, dat. „1.11.88“, enthält mit Unterbrechungen und Verweisen die Takte 188 bis ca. 244 in Particell, Kagels offensichtlich falscher Vermerk „siehe Skizze S. 9“ bei T. 210 führt zur Stelle T. 210-211 auf die Particellskizze „8“. BEWERTUNG: siehe generelle Bewertung unten. PARTICELLSKIZZE „LES IDÉES FIXES -10-“ ORT: s.o., nachliegend BESCHREIBUNG: Format und Papier siehe Particellskizze „2“, undat., enthält für T. 244-260 Streicher in Particell und für T. 277-309 und T. 310-373 skizzenhafte Entwürfe (oder eher Leitlinien für die Komposition). BEWERTUNG: siehe generelle Bewertung unten. ABBILDUNG: siehe Abb. 57. PARTICELLSKIZZE „LES IDÉES FIXES -11-“RECTO ORT: s.o., nachliegend BESCHREIBUNG: Format und Papier siehe Particellskizze „2“, dat.: „5.4.89“, enthält: T. 269-ca. 276 und T. 280-303 (hier noch Klavier a 4 mains) und T. 341-348 (Streicher in Particell). BEWERTUNG: Für die Takte 280-303 ist die Taktzählung nicht eindeutig. Vermutlich ist dieser Part in der Skizze in einem Schreibvorgang komponiert worden und wurde dann für Einschübe benutzt. Weitere Anmerkungen siehe generelle Bewertung unten. ABBILDUNG: siehe Abb. 72.

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PARTICELLSKIZZE „LES IDÉES FIXES -11-“ VERSO ORT: s.o., nachliegend BESCHREIBUNG: verso blank, undat., enthält skizzenhaft die rhythmische Notation von T. 350-377 (aufgeteilt in „Hauptrhythmus“ und „Begleitung“), weiterhin einen Vermerk zum System der Begleitung: „*Begleitung: mit Beginn von Takt 350 startet die Reprise von der [sic!] textuelle Begleitung | Takt 5-21 | Uminstrumentiert.“ sowie bei T. 373: „Coda“. BEWERTUNG: siehe generelle Bewertung unten. ABBILDUNG: siehe Abb. 58, 59 und 60.

Generelle Bewertung der Particellskizzen „1“ bis „11“ Wie auch in anderen Ausführungsskizzen beziehungsweise in Particell ausgeführten Entwürfen Kagels finden sich mehrere Schreibschichten, unter anderem die vermutlich bei der Zusammenstellung und Übertragung in die Partiturreinschrift nachgetragenen Takt- und Seitenangaben in rotem Filzstift. Die von Kagel nachgetragenen Seitenangaben beziehen sich auf die Seitenzählung der Partiturreinschrift, sie differiert also von der gedruckten Partitur. Dafür sind hingegen die Taktangaben komplett mit der Druckpartitur identisch, so dass anzunehmen ist, dass es keine substantiellen Änderungen von der Reinschrift zum Druck gab. Soweit Datierungen vorhanden sind, und insofern sie nicht offensichtlich nachträglich hinzugefügt wurden, lässt sich nachvollziehen, dass die Skizzen zum größten Teil zwischen dem 4. Januar 1988 (Particellskizze „2“) und dem 5. April 1989 (Particellskizze „11“) entstanden sind. Die Particellskizze „3“ fällt aus diesem Zeitraum freilich mit der Datierung „27.II.80“ heraus, da sie ursprünglich für Aus Deutschland konzipiert worden ist. Wie auch bei den anderen Werken und deren Quellen ist nicht davon auszugehen, dass diese Entwürfe in Particell und Ausführungsskizzen die erste Niederschrift innerhalb des tatsächlichen Kompositionsprozesses sind. Fragen der Tonhöhendisposition werden in diesen Skizzen in vielen Fällen nicht mehr angesprochen. Was in diesen Skizzen ebenfalls nicht thematisiert wird, sind allgemeine Fragen der Artikulation, wie die Bogenführung und die Akzente, und nicht zuletzt die Dynamik. Insofern ist anzunehmen, dass auch diesen Skizzen andere folgten, die diese Parameter in Angriff nahmen. (Diese Annahme deckt sich nicht vollends mit der oben angestellten Interpretation, dass Kagel die Skizzen direkt in die Reinschrift übertrug. Es bleibt zu vermuten, ob Kagel diese Parameter direkt in die Reinschrift übertragen hat, oder ob er eine Art Entwurfspartitur erstellt hat, die schließlich Eingang in die Reinschrift gefunden hat. Falls dem so wäre, ist diese ‚Entwurfspartitur‘ nicht erhalten. Ob man von weiteren Skizzen oder der Existenz einer Entwurfspartitur ausgeht, ist letztlich einerlei. Es ist jedoch zwingend anzuneh men, dass es zwischen den Skizzen und der Reinschrift noch Zwischenstadien gab, die eine Dokumentation erforderten, deren Existenz ist aber nicht nachweisbar.) In besonderem Maße ist in diesen Skizzen – neben der generellen formalen Disposition – die rhythmische Organisation und die der Instrumente präsent.

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In den verschiedenen Skizzen befinden sich zwischen den Takten Einfügungen mit Verweisen auf andere Skizzen. Diese ‚Sprünge‘ zwischen den Quellen und deren skizzierten Abschnitten lassen sich dadurch erklären, dass das Werk insgesamt – und im herkömmlichen Sinne eines Rondos – mit sich kontrastierenden Teilen und Wiederholungen arbeitet, dem Werk also eine additive Form zugrunde liegt, in der sich notwendigerweise Abschnitte wiederholen. Es ist in diesem Sinne nur zweckdienlich, bestimmte Abschnitte, die sich ähneln sollen (wie z.B. diejenigen, in denen verschiedene Idées fixes verarbeitet werden), auch auf einem Skizzenblatt zu entwerfen und festzuhalten. In diesem Fall kommt jedoch hinzu, dass Kagel bereits in sich konsistente musikalische Sinnabschnitte teilt, und an diesen Stellen auf andere Abschnitte verweist. Sehr anschaulich ist das an den Entwürfen „8“ und „9“ zu beobachten. In diesen Skizzen ist der musikalische Formteil wiedergegeben, in den später die C-Dur-Passage (siehe Kap. VI.6) montiert ist. In Particellskizze „8“ ist ein bereits in sich fester und stringenter Bereich komponiert (aufgeteilt in die Takte 181-186, 210-211 und 217-224 der Partitur). Bei der eintaktigen Generalpause findet sich der Verweis auf die, in Particellskizze „9“ enthaltene C-Dur-Passage. Weiterhin ist bemerkenswert, dass der erste Abschnitt des Werkes, und zwar die in der Particellskizze „1“ ausgeführten ersten 80 Takte, in den weiteren Quellen nicht the matisiert werden. Es ist zu vermuten, dass Kagel den Anfang der Komposition relativ ‚unproblematisch‘ komponiert hat, erst im weiteren Verlauf des Werks nahmen die kompositorischen Probleme und damit deren Skizzierung und Dokumentation zu. Das Ende scheint er allerdings wieder relativ schnell gefunden zu haben. (Die Skizzierung der rhythmischen Organisation des kompletten Finales hat Kagel in Particellskizze „11“ verso abgehandelt, seine globalen Anweisungen zum Tonhöhenverlauf finden sich auf Particellskizze „10“.) PARTITURREINSCHRIFT ORT: Mappe „[1/5]“>> Konvolut „Partitur (Rs.) [87 S.]“ BESCHREIBUNG: 22 Bögen (je 2 Blatt a 2 Seiten, hintereinander liegend, 34,0 x 27,0 cm, hoch, 26 Systeme), dat. „Montagliari, 14. VII. 1989“ (am Ende der Partitur), ab zweitem Bogen paginiert bis vorletzte Seite des letzten Bogens (d.i. S. 83); beiliegend Zettel (16,0 x 8,8 cm, quer) mit aufgeklebtem Papierstreifen, mit Probelayout des Titels „LES IDÉES FIXES, Rondo für Kammerorchester“ BEWERTUNG: laut Kagels Bezeichnung auf den beigelegten Mappen sog. „Originalmanuskript | S. 1-83“. Partiturreinschrift mit Einklebungen und Korrekturen, komplett von Kagels Hand. Die Seiteneinteilung differiert von derjenigen im Partiturdrucks. Die Trompeten sind hier noch beide als B-Trompeten gesetzt mit dem Vermerk „(1. auch Trp. in D; 2. auch Trp. in C)“. XEROKOPIE DER PARTITURREINSCHRIFT ORT: Mappe „[2/5]“ BESCHREIBUNG: Xerokopie der Partiturreinschrift (33,8 x 27,1 cm, hoch) mit spärlichen Anmerkungen Kagels, bis auf per Kopie übernommene Datierung der Partiturreinschrift keine weitere Datierung

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BEWERTUNG: Es handelt sich vermutlich um eine Korrekturfahne, die Änderungen und Korrekturen dieser Fotokopie scheinen aber nur bedingt in die Dirigierpartitur eingegangen zu sein. Besetzungsliste und Titel wie bei der Partiturreinschrift. DIRIGIERPARTITUR KAGELS ORT: Mappe „[2/5]“ BESCHREIBUNG: Lichtpause der Partiturreinschrift (33,3 x 27,2 cm, hoch) in Fadenbindung (nach Paul Sacher Stiftung sog. „Faksimiledruck“), bis auf per Kopie übernommene Datierung der Partiturreinschrift keine weitere Datierung, bezeichnet mit „Aufführungsmaterial“ von C.F. Peters. BEWERTUNG: Kagel hat auf dem Deckblatt vermerkt: „Kagel | 1. Handexemplar“, Notentext mit hss. Korrekturen und aufführungspraktischen Anmerkungen Kagels, teils auch als Einklebungen, versehen. Auf dem Titelblatt nach dem Umschlag (bzw. Bl. 1r) ist das „Kammer“ von „Kammerorchester“ durchgestrichen und das „o“ groß geschrieben. Vermutlich liegt dies an der ohnehin größeren Besetzung bei den Aufführungen in Stuttgart und Den Haag (16 Violinen, 10 Bratschen, 8 Celli, 6 Kontrabässe), Kagel merkt dies auf der neu eingeklebten Besetzungsseite (Bl. 2r), auf der bei den Streichern keine Besetzungszahlen vorgegeben sind, an. Hier sind zum ersten Mal die Wiederholungszeichen gesetzt (vor T. 1 und nach T. 68), sowie die abweichenden Anweisungen für die Wiederholung (vor T. 165 und nach T. 187). Insgesamt änderte Kagel die Tempi alle in langsamere um. (Siehe hierzu Kagels niedergeschriebene Überlegung bezüglich der Länge im bereits aufgeführten Bl. 20/24 „Les Idees fixes | Dauer“.) Es finden sich im Vergleich zu anderen Dirigierpartituren Kagels relativ wenige Anweisungen bezüglich des Dirigats, lediglich visuelle Verdeutlichungen. BRIEF KAGEL AN KARL RARICHS, C.F. PETERS-VERLAG ORT: Mappe „[4/5]“ >> Konvolut „Korrekturen (teilw. Fotokop. mit hss. Eintrag) [23 S. + 21 S. Briefe]“ BESCHREIBUNG: Xerokopie des Briefs, 1 Bl. (DIN A4 hoch), dat. „Köln, den 27.3.1990“ BEWERTUNG: Vermutlich Archivexemplar Kagels, Kagel thematisiert in diesem Brief das Aufführungsmaterial für die italienische UA von Les Idées fixes am geplanten „8., 9. oder 10. Juni“ 1990. 2 KORREKTURFAHNEN ORT: Mappe „3/5“ BESCHREIBUNG: Lichtpausen der Partiturdrucks (beide 36,6 x 26,0 cm hoch) mit hss. Einträgen, die Wiederholungszeichen sind in die Korrekturfahne bereits eingearbeitet. Laut Mappenbezeichnung der Paul Sacher Stiftung (ansonsten nicht dokumentiert) handelt es sich hier um die „Korrektur vom 17. August 1991“ und „Korr. vom 31. Januar 1992“. BEWERTUNG: Korrekturfahnen für die Drucklegung.

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Ludwig van

Da im Kapitel über das Sammeln bereits eine Übersicht zu finden ist, seien hier nur einige Punkte angesprochen: Das Konvolut habe ich im April 2001 vollständig und systematisch aufgenommen. Seitdem sind einige Dokumente marginaler Art hinzugekommen, die für die Argumentation nicht relevant sind und auf deren Nennung deshalb ver zichtet werden soll. Ebenso hat die Paul Sacher Stiftung bereits einige von Kagels Hand beschriebene Makulaturen erneuert und/oder Dokumente zu eigenen Konvoluten separiert. Alle Dokumente haben, sofern nicht anders angegeben, DIN A4-Format und sind, soweit nicht zusätzlich bezeichnet, einseitig beschrieben. Bis auf die mit „(Typoskript)“ vermerkten Skizzen sind alle Skizzen Kagels handschriftlich. Alle die Produktion betreffenden Briefe, also vom WDR, der IFAGE oder von Victor Staub, die nicht direkt an Kagel adressiert waren, sind ihm als Durchschlag oder als Kopie weitergeleitet worden. Da das Konvolut in seiner ursprünglichen Form Auskunft über Kagels Sammeln gibt, sei es hier in aller Kürze beschrieben. (In der Untersuchung wird nur in Einzelfällen auf die ursprünglich Ordnung verwiesen.) Die beiden wichtigsten Mappen, zwei graue Archiv-Mappen aus Kagels Besitz, in folgender Auflistung mit Mappe 1 und Mappe 2 bezeichnet, haben DIN A3-Überformat. Die Dokumente innerhalb der Mappen waren in weitere Stapel und kleinere Mappen oder Konvolute unterteilt, die Kagel zum größten Teil beschriftet hat. Die folgende Darstellung dient lediglich der Veranschaulichung, einzelne Dokumente sind hier nicht vermerkt. Die mit „=“ versehenen Angaben in Klammern verweisen auf die Mappen in der jetzigen Ordnung, die Matthias Kassel und Michelle Noirjean dankenswerterweise während meines Aufenthalts (2005) vorgenommen haben. Die neue Ordnung findet sich in acht durchnummerierten Mappen und einigen überformatigen Mappen ohne Nummer, sowie zwei Archivboxen. Die unten erwähnten ungeordneten Kästen I, II und 3 [sic!] wurden zum größten Teil in die sepa raten Konvolute „Programme“ und „Rezensionen“ eingearbeitet (auch Zeitungsartikel, die Kagel als Material nutzte!). Die Einarbeitung des Konvoluts war bis zu meiner Abreise noch nicht vollständig abgeschlossen, die Mappeneinteilung ist aber als verbind lich anzusehen. Alle Korrespondenz ist von der Paul Sacher Stiftung in ein eigenes Kon volut „Korrespondenz“ separiert worden, wobei die Briefe kopiert und im ursprünglichen Konvolut belassen wurden (in diesem Fall gelten meine Verweise für die Kopie).

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Ursprüngliche Ordnung von Kagels Hand Mappe 1 mit der Bezeichnung „KAGEL | LUDWIG VAN | film (=Fernsehfassung WDR III) | * Mischbericht 1. Fassung | * Mischbericht 2. Fassung (endgültig) | * Vormischungsbericht | * Drehbuch, Original, Typoscript | * Dispositionsplan | * Drehbuch (Kopie Typoscript, lose Seiten) | * 8. Adolf-Grimme-Preis: Brief und Urkunde | * Tutti frutti | * Texte von Schuldt“. [Kurztitel in der Untersuchung lautet: Mappe „Drehbuch“] Diese Mappe enthält: 1.1 Drehbuch (Original und Kopie) [=SMK 1/8] 1.2 Konv. „Texte von Schuldt [...] Reserveansagen“ [=SMK 8/8] 1.3 Konv. „Zuschauerbrief [...] Rezensionen“ [Texte von Bazon Brock separat in SMK 8/8] 1.4 Dispositionsplan [=SMK 3/8] 1.5 Konv. „Ludwig van Film | Tuttifrutti“ (in Klarsichtfolie) [=SMK 8/8] sowie die Mischberichte [=SMK 2/8] Mappe 2 mit der Bezeichnung „KAGEL | LUDWIG VAN | Film | * Fotos Bilder des „Musikzimmers“ (Beethovenhaus) | * Produktion: Tuttifrutti | * Allgemeine Korrespondenz | * Gedanken/Materialsammlung | * Diverse Programme (auch Urauff Wien)“. [Kurztitel: „Cutterberichte“]. Neben losen Dokumente, die in SMK 8/8 Eingang gefunden haben, ließen sich folgende Konvolute finden. 2.1 Konv. „Produktion: Tutti frutti | Allgemeine Korrespondenz | Gedanken / Materialsammlung“ (mit blauem Umschlag, DIN A4) [=SMK 4/8] 2.1.1 Teilkonv. „Gedanken / Materialsammlung“ [=SMK 4/8, frühes Exposé separiert in SMK 1/8] 2.1.2 Teilkonv. „Produktion tutti frutti“ [=SMK 4/8, sowie in SMK 2/8] 2.1.3 Teilkonv. „Allgemeine Korrespondenz“ [=SMK 4/8] 2.2 Ringordner (schwarz, DIN A4) „LUDWIG VAN (film) | CUTTER-BERICHTE“ [=SMK Ringordner in Archivbox „Cutterberichte“, die zugehörigen Beilagen in SMK 5/8] 2.3 Ringbuch (grün, DIN A5) „Gedanken, Skizzen, Quellen“, in Blattzählung, mit den Notizen zur Schallplattenproduktion [=SMK Archivbox „Notizen zur Schallplattenproduktion“] Daneben finden sich zwei weitere Mappen im DIN A3-Überformat [=jeweils SMK Mappe, ohne Titel, im Großformat], die eine enthält u.a. 4 Exemplare der Schallplatten aufnahme, davon 3 Vorausexemplare und eine LP, die Kagel bei den Wiener Festwochen überreicht wurde. Die andere enthält Fotos und Fotonegative von den Drehorten und von den Dreharbeiten. Des Weiteren gibt es drei Kästen mit den Titeln „LUDWIG VAN I“, „LUDWIG VAN II“ und „LUDWIG VAN 3“ [sic!], alle jeweils ungeordnet. In „LUDWIG VAN I“ befinden sich u.a. auch sehr frühe Skizzen zur Filmproduktion, eingegangen in SMK 4/8, sowie andere Dokumente aus „Ludwig van I“ [=SMK Mappe „Texte anderer Autoren“].

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Osten

Dieses Konvolut war von der Paul Sacher Stiftung zum Zeitpunkt der Einsichtnahme (September 2005) noch nicht aufgenommen. Die Mappen sind aus Kagels Besitz, deren Bezeichnung ist von Kagels Hand. Insgesamt enthält das Konvolut zwei große Mappen (beide graue Pappe, 45 x 32,3 cm, hoch, erstere betitelt mit „Kagel | OSTEN | Skizzen + Unterlagen | * 5 Skizzenblätter (DIN A3) | * Korrespondenz | * Checklisten | * Melange“ (entgegen der Angabe Kagels enthält die Mappe nur vier Skizzenblätter und in einer DIN A4-Sammelfolie den restlichen Inhalt der Mappe), letztere betitelt mit „Kagel | OSTEN | Korrekturvorgänge | * Druckvorlage (G) | * 1. Korrekt. | * 2. Korrekt. | * Korrekturabzug unmittelbar vor dem Druck“. Des Weiteren gibt es eine kleinere, mit gelbem Plastik beschichtete Mappe (35 x 28 cm hoch), betitelt mit „Kagel“ | OSTEN | für Salonorchester | Originalmanuskriptseiten 1-22 (Ende) | (vollständig)“, welche die Partiturreinschrift Kagels enthält. Ferner liegt dem Konvolut eine gebundene Lichtpause der Partiturreinschrift (36,6 x 28 cm) mit hss. Einträgen Kagels bei: „Kagel | mit Kor rekturen | (1. Handexemplar)“. PARTICELLSKIZZE „OSTEN -0-“ ORT: Mappe „Kagel | OSTEN | Skizzen + Unterlagen | * 5 Skizzenblätter (DIN A3) | * Korrespondenz | * Checklisten | * Melange“ BESCHREIBUNG: 1 Bl. (41,8 x 29,7 cm, quer, einseitig mit 18 Systemen bedruckt), dat. „4.XII.88“ BEWERTUNG: diese Particellskizze ist nicht verwendet worden. PARTICELLSKIZZE „OSTEN -1-“ ORT: wie Particellskizze „0“, dieser nachfolgend BESCHREIBUNG: Format wie Particellskizze Osten „-0-“, dat. „5. 12. 88“, weiterer Eintrag u.a. „Begleitung etwa wie Stück für EIC / Festival d’Automne“, enthält die Bassbegleitung (den sog. „ummta“-Bass) der Takte 1-14, der weitere Notentext ist vermutlich nicht übernommen. BEWERTUNG: Der hss. Verweis auf das „Stück für EIC“, also Les Idées fixes (!), zeigt an, dass er die Idee der hier festgehaltenen Rhythmusfigur des Basses aus dem in gleicher Zeit entstandenen Les Idées fixes übernommen hat. PARTICELLSKIZZE „OSTEN -2-“ ORT: s.o., nachliegend BESCHREIBUNG: wie „Osten 1“, dat. „4.XII.88“, weiterer Eintrag u.a. „Floskeln [...] Moshe Beregovski: Old Jewish Music“, Skizze der Takte 1 bis 49 im Particell. BEWERTUNG: Betrachtet man diese und die folgende Particellskizze „Osten -3-“, so scheint Kagel das Stück relativ schnell in einem Durchgang komponiert zu haben. Die Formdisposition erscheint durch die Reihenfolge der Motive bestimmt. Jedoch sind, wie

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auch im Falle von Les Idées fixes, diesen Skizzen vermutlich andere vorausgegangen und gefolgt. Am oberen Rand ist vermerkt: „Moshe Beregovski Old Jewish Music“, im Notentext sind folgende Hinweise „S. 339 Aj, forst avek“, „S. 459 Freylexs“, „S. 433 Skocne“, „S. 438 Nr. 86 Skočne“ sowie „S. 428 7. System“. ABBILDUNG: siehe Abb. 46. PARTICELLSKIZZE „OSTEN -3-“ ORT: s.o., nachliegend BESCHREIBUNG: wie „Osten 1“, dat. „31.XII.88“, Skizze der Takte 50-82 im Particell. BEWERTUNG: Obwohl die beiden Entwürfe „Osten -2-“ und „-3-“ aufgrund der durchgehenden Schrift und des nahtlosen musikalischen Anschlusses wie in einem Schreibvorgang entstanden scheinen, liegen sie nach der Datierung fast einen Monat auseinander. Das in der Skizze mit „Nr. 98 | S. 448“ vermerkte Zitat aus den Transkriptionen Beregovskys hat Kagel nicht verwendet. Die Unvollständigkeit dieses Zitats zum Ende des Skizzenblattes lässt vermuten, dass Kagel für den Abschluss der Werkes eine weitere, vierte Skizze erstellt hat, die ich im Konvolut jedoch nicht vorfand. PARTITURREINSCHRIFT ORT: Mappe „Kagel“ | OSTEN | für Salonorchester | Originalmanuskriptseiten 1-22 (Ende) | (vollständig)“ BESCHREIBUNG: 5 Bögen mit jeweils 1 Blatt oben und unten (33,9 x 27,1 cm, hoch, 26 Systeme), Seitenzählung ab Bl. 2r. Die Partiturreinschrift (in schwarzer Tinte) enthält einige spärliche Überklebungen und Korrekturen mit Tipp-Ex. Die Wiederholungsanweisungen, wie sie sich in den weiteren Korrekturabzügen und dem Partiturdruck finden lassen, sind hier noch nicht eingetragen. Datum noch fälschlich „6. I. ’69“ (s. u.). BEWERTUNG: Aufgrund der spärlichen Einträge Kagels ist davon auszugehen, dass diese Partiturreinschrift nicht für die Probenarbeit genutzt wurde. DIRIGIERPARTITUR KAGELS ORT: gesondert im Konvolut BESCHREIBUNG: 12 Bl. gebundene Lichtpause der Partiturreinschrift (36,6 x 28,0 cm, hoch), mit Heftklammer gebundener grüner Umschlag mit Etikett von C.F. Peters, wel ches das Exemplar als „Aufführungsmaterial“ deklariert. Kagels Bezeichnung: „Kagel | mit Korrekturen | (1. Handexemplar)“. Die Korrekturen und Veränderungen hat Kagel meistenteils in roter Tinte geschrieben. BEWERTUNG: In Takt 15 hat Kagel die ursprüngliche Taktvorzeichnung 4/4 in 3/4 umgeändert und nach der dritten Zählzeit ein Wiederholungszeichen gesetzt (im Partiturdruck ist dies umgeändert). Ebenso ist in Takt 1 ein Wiederholungszeichen gesetzt, so dass die Takte 1 bis 15 einschließlich nun also wiederholt werden. Ein weiterer Teil, den Kagel zu wiederholen anweist, sind die folgenden Takte 16 bis 30, ebenso die Takte 57 bis 71. Somit sind alle Teile, die im tatsächlich erschienenen Druck wiederholt werden, erst im 1. Handexemplar als Wiederholungsteile vermerkt. Weiterhin sind viele Tempo angaben verändert und einige neu eingetragen worden. Das Datum „6.I.’69“ am Ende ist mit „6.I.’89“ korrigiert. Aufgrund von Kagels Bezeichnung „1. Handexemplar“ und den vielfältigen Änderungen bezüglich Form und einiger weniger bezüglich der Artikula-

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tion ist diese Partitur vermutlich die Dirigierpartitur Kagels für die Proben gewesen – obgleich sich keine Anmerkungen zum Dirigat finden lassen. Ähnlich wie bei Les Idées fixes und bei Südosten hat Kagel den groben Formaufbau erst nach den Probenarbeiten mit dem Ensemble verändert. Eine Verwendung als Druckvorlage kann wegen des nächsten Exemplars (s. u.) ausgeschlossen werden. DRUCKVORLAGE DER PARTITUR ORT: Mappe „Kagel | OSTEN | Korrekturvorgänge | * Druckvorlage (G) | * 1. Korrekt. | * 2. Korrekt. | * Korrekturabzug unmittelbar vor dem Druck“ BESCHREIBUNG: 12 Bl. gebundene Lichtpause der Partiturreinschrift (33,6 x 27,0 cm, hoch), grüner Umschlag mit Etikett von Peters „Aufführungsmaterial“, von Kagel korri giert mit dem Vermerk: „DRUCKVORLAGE | Nicht ausleihen! | 13.6.89 | MK“ BEWERTUNG: Die Lichtpause ist zwar identisch mit dem „1. Handexemplar“ Kagels. In ihr sind aber alle Änderungen aus der Dirigierpartitur (Wiederholungen, Tempi usw.) nochmals von Kagel handschriftlich eingetragen. Ebenso finden sich Anmerkungen zum Layout. Insgesamt sind alle Einträge sehr sauber geschrieben, was vermutlich auch dem Umstand geschuldet ist, dass Peters die Partitur in Ungarn stechen ließ (es gibt mehrere hss. Vermerke zum Layout in ungarischer Sprache). Auf dem Umschlag ist verso ein Vermerk vom Verlag bezüglich des Stichs. Ebenso enthält das Konvolut noch zwei Korrekturfahnen Kagels bzw. Lichtpausen des Partiturdrucks mit hss. Einträgen (laut Kagels Angabe: 1. Korrektur vom 1. Oktober 1989, 2. Korrektur vom 12. Januar 1990), sowie einen „Korrekturabzug unmittelbar vor dem Druck“ (in Metall-Ringbindung, mit hss. spärlichen Einträgen Kagels, von ihm dat. auf den 10. September 1990).513

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Dieses Exemplar ist die letzte Korrekturfassung unmittelbar vor dem Druck. Es handelt sich um einen sog. Probedruck und unterscheidet sich insofern von den gepausten Korrekturfahnen, als das mit ihm die Tauglichkeit der Druckvorlage für die Druckmaschine getestet wurde. Mit Abzeichnung dieses Probedrucks von Seiten des Autors ist die Druckerei aus der Verantwortung entlassen. Insofern ist es ungewöhnlich – und für den Verlag war es sicher auch unerfreulich –, dass Kagel diesen Probedruck für letzte Korrekturen verwendete.

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Sexteto de cuerdas (1953)

Das Werkkonvolut besteht aus insgesamt drei nicht nummerierten Mappen der Paul Sacher Stiftung mit identischem Titel: „SMK | Kagel | Sexteto de cuerdas“. Eine der zwei größeren Mappen enthält die Manuskripte I und II und drei Blätter mit rhythmischen Skizzen, die andere größere Mappe zwei Lichtpausen der Partiturreinschrift (ein mal von der Universal Edition, die andere eine Eigenkopie) sowie das Stimmenmaterial. Die kleinere Mappe enthält diverse Übersetzungen, Skizzen usw. MANUSKRIPT I ORT: erste größere Mappe BESCHREIBUNG: Kagels Bezeichnung: „Bleistiftmanuskript I“ (31,0 x 21,2 cm, hoch, Stempel „Marca CLAVE No 3115 Ind. Arg.“, 16 Systeme). Dies ist die erste, noch zweisätzige Partiturreinschrift (mit Bleistift), von Kagel auf Bl. 2r in grüner Tinte mit „1953 | Abril – Septiembre“ datiert, darunter jedoch auch mit „Revisado Dicembre 1957, Köln“ (mit Bleistift, andere Schreibschicht als Notentext). Mit einigen Nachträgen Kagels, vermutlich in der Revision. Die Instrumentierung sieht noch gemischtes Ensemble vor, die Akkoladen sind durchgängig in zwei Trios aufgeteilt, und zwar nach dem Vorsatz der beiden Sätze in der Reihenfolge Flöte („fl.“), Klarinette („cl.“) Bassklarinette („clB.“), Violine („vl.“), Viola („vla“) und Violoncello („vllo“). Die Abschnitte sind hier arabisch durchnummeriert: im 1. Satz von 1-15, im 2. Satz von 1-22 (anders als in Manuskript II, dort sind die montierten Formteile mit Buchstaben gekennzeichnet). Lagenordnung: zwei Bögen ineinander (