Das Glück, der Tod und der »Augenblick«: Realismus und Utopie im Werk Dieter Wellershoffs 9783110929867, 9783484320536

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Das Glück, der Tod und der »Augenblick«: Realismus und Utopie im Werk Dieter Wellershoffs
 9783110929867, 9783484320536

Table of contents :
I. Realismus als Utopie
II. Die Utopie des beschädigten Lebens
III. Der Zukunftstraum eines Namenlosen
IV. In den Fesseln des Wiederholungszwangs
V. Die Lockungen des Nirwana
VI. Der »Augenblick« des Poetischen
Literaturverzeichnis

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 53

Ulrich Tschierske

Das Glück, der Tod und der »Augenblick« Realismus und Utopie im Werk Dieter Wellershoffs

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1990

Für Hans Joachim Schrimpf

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Tschierske, Ulrich: Das Glück, der Tod und der »Augenblick«: Realismus und Utopie im Werk Dieter Wellershoffs / Ulrich Tschierske. - Tübingen : Niemeyer, 1990 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 53) NE: GT ISBN 3-484-32053-2

ISSN 0083-4564

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1990 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Johanna Boy, Regensburg Druck: Weiheit-Druck GmbH, Darmstadt

Inhalt

I.

Realismus als Utopie

1

II.

Die Utopie des beschädigten Lebens

14

III.

Der Zukunftstraum eines Namenlosen

30

IV.

In den Fesseln des Wiederholungszwangs

44

V.

Die Lockungen des Nirwana

63

VI.

Der »Augenblick« des Poetischen

83

Literaturverzeichnis

103

V

I. Realismus als Utopie

Mit dem Namen von Dieter Wellershoff verbindet sich für den literarisch Interessierten wie für den Literarhistoriker der »genannten »Gegenwartsliteratur« eine solche Fülle und Vielfalt der geistigen und kulturellen Aktivitäten, daß dieser Autor mit seinem inzwischen stark angeschwollenen kritischen und poetischen Werk aus der Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland eigentlich nicht mehr wegzudenken ist. Schon ein kurzer Überblick über das Leben und Schaffen Wellershoffs kann daher nur einzelne Fixpunkte und Stationen eines fortwährend weiter ausgeschrittenen Weges benennen, der von den frühen »Untersuchungen über Weltanschauung und Sprachstil Gottfried Benns«1 bis hin zu jenen zuletzt erschienenen Erzählungen reicht, die unter dem Titel »Die Körper und die Träume« 2 zu einer vorwiegend thematischen Einheit versammelt sind. Dazwischen die Fülle und Vielfalt der »Arbeit des Lebens« 3 - als Redakteur bei Zeitung und Rundfunk; als Lektor für Wissenschaft und deutsche Literatur beim renommierten Verlag Kiepenheuer & Witsch; als Verfasser der provokativen Thesen Uber den »Neuen Realismus« und einer Vielzahl von literaturkritischen Essays zu allgemeinen Grundfragen der Literaturtheorie und Ästhetik; und schließlich als Autor zahlreicher Hörspiele, Gedichte, Romane, Novellen, autobiographischer Erzählungen und sogar einer Multi-Media-Oper, welche zu öffentlicher Ehrung, zu Übersetzungen in nahezu alle europäischen Sprachen, zu anhaltendem Interesse von Kulturmarkt und Medien und endlich zu Wellershoffs bereits in den sechziger Jahren eingeleitetem und inzwischen längst abgeschlossenem Rückzug aus der Verlagsarbeit und einer Existenz als freier Schriftsteller geführt haben.4 ' Vgl. D. Wellershoff, Untersuchungen über Weltanschauung und Sprachstil Gottfried Benns, Bonn 1952. Diese Dissertation, die immer noch zu den Standardwerken der Benn-Literatur gehört, erschien neu unter dem Titel: Gottfried Benn Phänotyp dieser Stunde. Eine Studie über den Problemgehalt seines Werks, Köln 1986. 1 Vgl. D. Wellershoff, Die Körper und die Träume, Köln 1986, eine Veröffentlichung mehrerer, allesamt in den achtziger Jahren entstandener Erzählungen, welche die tragikomischen Aspekte von Sexualität und Erotik und die Problematik menschlicher Beziehungen überhaupt zum Gegenstand haben. ' So der Titel von Dieter Wellershoffs autobiographischen Schriften. Vgl. D. Wellershoff, Die Arbeit des Lebens. Autobiographische Texte, Köln 1985. 4 Einen umfassenden Überblick über die Schriften von und über Dieter Wellershoff bieten die Bände von R. Hinton Thomas (Der Schriftsteller Dieter Wel-

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Angesichts dieser Fülle und Vielfalt und mehr noch angesichts des erstaunlichen öffentlichen Erfolges dieses nicht gerade als Autor sogenannter Trivialliteratur bekannten Schriftstellers nimmt es denn allerdings nicht wenig wunder, daß Dieter Wellershoffs kritisches und poetisches Werk in allen größeren Darstellungen der Literaturgeschichte seit 1945 nur eine vergleichsweise bescheidene Position einnimmt. Seine Rolle beschränkt sich bis heute im wesentlichen auf die in der Mitte der sechziger Jahre heftig diskutierten - und für großflächige Darstellungen immerhin dankbaren Thesen zum »Neuen Realismus«, welche zum Teil immer noch als Literaturprogramm jener legendären »Kölner Schule des Neuen Realismus« mißverstanden werden, die doch kaum mehr war als eine äußerst lockere Verbindung verschiedenster Begabungen und Einzelpersönlichkeiten. 3 Rolf Dieter Brinkmann, Günter Seuren, Nicolas Born, Günter Steffens, Paul Pörtner und Günter Herburger, jene also, die im Zusammenhang mit dem »Neuen Realismus« immer wieder genannt werden, hat weder eine gemeinsame menschliche und literarische Entwicklung, noch auch ein besonderes Gruppeninteresse oder gar ein Gemeinschaftsgefühl länger miteinander

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lershoff, Köln 1975, S. 169ff.), Hans Helmreich (Dieter Wellershoff, München 1982) und Norbert Schachtsiek-Freitag (Dieter Wellershoff. In: Text-Kritik, Zeitschrift für Literatur, Heft 88, hrsg. von H. L. Arnold, München 1985, S. 102-113). Trotz dieses Hinweises, der vor allem durch die schon angesprochene Fülle der Publikaüonen notwendig wird, seien die wichtigsten der in diesem Essay immer wieder zitierten und angeführten Texte von Dieter Weilershof gleich an dieser Stelle näher bezeichnet: Literaturkritische und literaturtheoretische Texte: Der Gleichgültige. Versuche über Hemingway, Camus, Benn und Beckett, Köln 1963 (1975) - Literatur und Veränderung. Versuche zu einer Metakritik der Literatur, Köln, Berlin 1969 (im folgenden zitiert nach der 3. Auflage von 1973) - Literatur und Lustprinzip. Essays, Köln 1973 - Die Auflösung des Kunstbegriffs, Frankfurt a.M. 1976 - Das Verschwinden im Bild. Essays, Köln 1980 - Die Wahrheit der Literatur. Sieben Gespräche, München 1980.-Der Roman und die Erfahrbarkeit der Welt, Köln 1988. Fiktionale Texte: Ein schöner Tag. Roman, Köln 1966 (Taschenbuchausgabe: Frankfurt a.M. 1981) - Einladung an alle. Roman, Köln 1972 (Taschenbuchausgabe: Frankfurt a.M. 1974) - Doppelt belichtetes Seestück und andere Texte (Taschenbuchausgabe: Ein Gedicht von der Freiheit, Frankfurt a.M. 1974) - Die Schönheit des Schimpansen. Roman, Köln 1977 (Taschenbuchausgabe: Frankfurt a.M. 1982) - Die Sirene. Eine Novelle, Köln 1980 (Taschenbuchausgabe: Frankfurt a.M. 1982) - Der Sieger nimmt alles. Roman, Köln 1983 (Taschenbuchausgabe: München 1986) - Der Körper und die Träume, Köln 1986 (Taschenbuchausgabe: Frankfurt a.M. 1989) - Alle fiktionalen Texte sind, wenn nicht anders angegeben, im folgenden nach den jeweils angegebenen Taschenbuchausgaben zitiert. Vgl. hierzu insbesondere: Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart. Autoren, Werke, Tendenzen seit 1945, hrsg. v. D. Lattmann, Frankfurt a.M. 1980, Bd. I, S. 362ff. - Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Von einem Autorenkollektiv. Leitung: H.-J. Bernard. Zwölfter Band: Literatur in der BRD, Berlin (Ost) 1983, S. 391f. - K. Esselbom, Neuer Realismus. In: Hansers Sozialgeschichte der Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hrsg. v. R. Grimminger. Bd. 10: Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, hrsg. v. L. Fischer, München 1986, S. 460ff. 2

verbunden; letzteres fehlte vor allem dem gänzlich, welcher immer noch als ihr programmatisches Schuloberhaupt gilt, obwohl er dem eigenen Selbstverständnis nach sich doch gerade dafür am wenigsten eignete, ein Einzelgänger und »Gleichgültiger« im Sinn eines Menschen auf Widerruf. Er hat Erfahrungen, die er nicht zitiert, aber in seinem Verhalten voraussetzt: Er ist ein Mensch nach der Ernüchterung, nach dem Schock des Glaubensverlustes, um welche Inhalte es auch immer sich gehandelt haben mag, ein Zeuge kollektiven Wahnsinns, ein Zeuge menschlicher Gemeinheit und Bestialität, ein Überlebender von Katastrophen. Aus allem hat er eine defensive Konsequenz gezogen, >ohne michWenn ich das Wort Gemeinschaft« höre, entsichere ich meine Pistole«.' Aus diesem versteckten Selbstporträt, das einem frühen Essay von Dieter Wellershoff entnommen ist, spricht vor allem der Schock des späten Erwachens und der skeptische Widerwille der Nachkriegsgeneration gegenüber aller Gemeinschaft im Zeichen der anscheinend großen Ideen, eine geschichtliche Prägung, vor der der Begriff einer »Kölner Schule des Neuen Realismus« sich als Phantom ohne historische Entsprechung erweist, wie es denn auch Eike H. Vollmuth in einer der wenigen wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema schon schlüssig dargetan hat. 7 Hinzu kommt aber noch mehr. Dem begründeten Zweifel gegenüber dem Schulbegriff entspricht nur, daß die von Dieter Wellershoff mehr als Glosse in der hauseigenen Verlagszeitschrift von Kiepenheuer & Witsch vorgetragene Idee des »Neuen Realismus«' sich keineswegs auf eine fest in sich verfugte Methodik und Programmatik des Schreibens festzulegen gedachte, sondern vielmehr die radikale Offenheit gegenüber einer dem ständigen Wechsel ausgesetzten und daher prinzipiell unbekannten Wirklichkeit betonte, deren Erkundung keinen Darstellungsstil einseitig bevorzugen, sondern weit mehr einer Vielzahl von Darstellungstechniken Raum geben wollte, damit Wirklichkeit überhaupt wieder auf neue Weise entdeckt und sowohl sichtals auch spürbar gemacht werden könne. Was die Idee des »Neuen Rea' Vgl. D. Wellershoff, Der Gleichgültige, S. 7. - Daß es sich tatsächlich um ein verstecktes Selbstporträt handelt, was hier unter »Gleichgülügkeit« verstanden und kritisch betrachtet wird, bestätigt ein Blick in die autobiographischen Schriften ebenso wie ein - noch unveröffentlichtes - Gespräch, das ich zusammen mit einigen Teilnehmern meines Seminars über Dieter Wellershoff im Winter 1985 mit dem Autor zu führen Gelegenheit hatte. Vgl. Ulrich Tschierske (u.a.), Spiegelungen. Gespräch mit dem Kölner Schriftsteller Dieter Wellershoff, 23.1.1985, Bochum 1985, S. 56ff. (Unveröffentlichtes Typoskript). Vgl. aber auch: D. Wellershoff, Die Arbeit des Lebens, S. 100, 116f. 7 Vgl. E. H. Vollmuth, Dieter Wellershoff - Romanproduktion und anthropologische Literaturtheorie. Zu den Romanen >Ein schöner Tag< und >Die Schattengrenze«, München 1979, S. 13ff. • Vgl. D. Wellershoff, Neuer Realismus. In: Die Kiepe, 13. Jg., Nr. 1, S. 1. Vgl. hierzu aber auch: D. Wellershoff, Realistisch schreiben. In: Realismus - welcher? Sechzehn Autoren auf der Suche nach einem literarischen Begriff, hrsg. v. P. Laemmle, München 1976, S. 13-16.

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lismus« auf den Begriff zu bringen versuchte, war vor allem eine neue Richtung der inneren Aufmerksamkeit, keineswegs eine zur literarischen Norm erhobene und in sich verabsolutierte Programmatik des Schreibens: Die Arbeitshypothese, die sich ein Schriftsteller schafft, entsteht aus einem Interesse, das vorher da ist, sie ist die innere Aufmerksamkeitsrichtung noch einmal, nur jetzt bewußt geworden und formuliert. Seinen Impulsen wird so ein Rahmen geschaffen, der ihnen Konstanz und Sicherheit gibt, zugleich auch eine Instanz, die sie methodisch steigert und kontrolliert. Aber Theoriebildung ist nicht nur eine Selbstklärung, man verhält sich damit auch zu anderen Schriftsteilem und zur gesamten literarischen Situation. Gelegentlich habe ich, um die Richtung meiner Interessen ungefähr zu bezeichnen, das Wort >Neuer Realismus< gebraucht. Ich wollte damit auf Tendenzen hinweisen, die ich in den verschiedensten Formen auch bei anderen Schriftsteilem zu sehen glaubte; es war die beiläufige, improvisierende Benennung einer Perspektive, aber Gewohnheit und Widerspruch haben den Begriff dingfest gemacht.' Einen solch lockeren Umgang mit der eigenen Idee und vor allem die schon in der Betonung der Autonomie des Theoretischen deutlich werdende Differenz zwischen dem poetischen »Programm« und der eigenen literarischen Praxis hat sich die Literaturwissenschaft im Fall Dieter Wellershoffs bislang nur sehr wenig zu eigen gemacht, mit der Konsequenz, daß Wellershoffs poetische Werke, allen voran die Romane der sechziger Jahre, oft nur als pure Illustration seiner Literaturtheorie gelesen wurden, als ginge es dabei ein weiteres Mal um das zweifelhafte Vergnügen, mit dem der Gottschedins »Pietisterey im Fischbein-Rocke« als ein für die Literaturtheorie ihres Gatten typisches Werk interpretiert wird. Das abstrakte Verrechnen im Zeichen der einseitigen Option für die Theorie wird jedoch weder der Vieldeutigkeit der Literaturtheorie noch der Komplexität und Qualität der literarischen Texte gerecht, die keineswegs nur im Windschatten der eigenen literaturtheoretischen Vorgaben entstanden sind, im Gegenteil: Lange genug hat man mich angehalten, jemand Bestimmtes zu sein. Und wenn ich einem Programm von mir nahekam, konnte ich schon den Beifall der Sachverständigen hören, die mir sagten, wie nah ich bereits war und was ich noch zu tun hatte, wieviel Schwimmstöße bis zum Schulterklopfen, bis zur Beglaubigung, bis zum Ideal. Wenn du sie da vorne auf dich warten siehst, mußt du unter den Begrenzungsseilen wegtauchen, falls du noch Luft hast. Und wenn du hochkommst in einem anderen Planquadrat, gib keine Auskunft. 10

' D. Wellershoff, Wiederherstellung der Fremdheit. In: Literatur und Veränderung, S. 85 (Hervorhebungen von U. T.). Vgl. hierzu auch: D. Wellershoff, Die Auflösung des Kunstbegriffs, S. 28ff. 10 Vgl. D. Wellershoff, Ich-sagen mit und ohne Auskunft. Autobiographisches Nachwort zu: Doppelt belichtetes Seestück und andere Texte, Köln 1974, S. 290.

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Der resignativen Klage des Autors über den Wahrnehmungsverlust und das Verschwinden jeder mehrwertigen Form der Betrachtung entspricht nur, daß sein literarisches Werk in Kritik und Wissenschaft zum bloßen Demonstrationsobjekt einer als Rezeptur mißverstandenen Theorie abgesunken ist - entgegen der schon von englischen Germanisten vertretenen Auffassung, nach der nicht nur das literaturkritische, sondern auch das poetische Werk Wellershoffs »eine schriftstellerische Leistung von hervorragender Qualität und Bedeutung« darstellt,11 entgegen der Literaturtheorie selbst, nach welcher der »Neue Realismus« gerade der ewige Widerpart aller Rezeptur ist, nichts weniger als die Gegentendenz, nämlich der immer neue Versuch, etablierte Begriffe und Ordnungsgestalten aufzulösen, um neue, bisher verbannte Erfahrungen zu ermöglichen, das Gegenteil also einer Wiederholung und Bestätigung des Bekannten. Die Modelle, mythischen Muster, an die auch ihr ironisches Zitat und die Persiflage gefesselt bleiben, werden in realistischer Schreibweise entweder verlassen oder durch Konkretheit von innen her überwachsen. Neue Aufmerksamkeitsgrade und -richtungen werden entwickelt für das, was bisher unbewuBt war oder gesperrt wurde mit Tabuworten wie banal, privat, pathologisch, aber vor allem auch für das nur scheinbar Bekannte, das unter diesem Schein sich verflüchtigt hat. Denn das ist die grundsätzlich veränderte Situation: anstelle des übermächtigen Druckes einer fremden bedrohlichen Wirklichkeit, gegen die die distanzierende Kraft der Stilisierung aufgeboten wurde, ist ein Wirklichkeitsschwund getreten, ein Gefühl, alles sei bekannt, verfügbar und konsumierbar, alles zugänglich als Formel, Mode, Meinung, Information. Unter Routine und schablonenhafter Informiertheit verschwindet die Realität, wird formal und abstrakt. Realistisches Schreiben wäre die Gegenbewegung, also der Versuch, der Well die konventionelle Bekanntheit zu nehmen und etwas von ihrer ursprünglichen Fremdheit und Dichte zurückzugewinnen, den Wirklichkeitsdruck wieder zu verstärken, anstatt von ihm zu entlasten.12 Diese Idee einer realistischen Literatur, in welcher die Wirklichkeit das stets unbekannte und stets zu erkundende Objekt einer als unendlicher Prozeß begriffenen Suche ist, hat es zuletzt freilich kaum verhindern können, daß das poetische Werk Dieter Wellershoffs weitgehend hinter der von ihm selbst so hartnäckig kritisierten Bekanntheit verschwunden ist - sei es auch um den Preis seiner Verkürzung auf die Romane der sechziger Jahre, sei es auch um den Preis der gründlichen Vernachlässigung einer literarischen Entwicklung, welche auch mit den Romanen der siebziger und achtziger Jahre noch im Zeichen der fortwährenden Erkundung innerer und äußerer Realitäten steht. Im wissenschaftlichen Umgang mit dem Schriftsteller

" Vgl. R. Hinton Thomas, Einleitung zu: Der Schriftsteller Dieter Wellershoff, S. 9. 12 D. Wellershoff, Wiederherstellung der Fremdheit. In: Literatur und Veränderung (Hervorhebungen von U. T.), S. 87f.

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Dieter Wellershoff ist daher bis heute noch einiges zu bedauern, vieles wiedergutzumachen. 13 Trotz der Kritik an einem einseitig nur verrechnenden Vergleichen von poetischer Theorie und literarischer Praxis bleibt die literaturwissenschaftliche Reflexion auf das literarische Werk Dieter Wellershoffs jedoch weiterhin auf seine literaturkritische Theoriebildung verwiesen, zumal diese im Laufe der Zeit kaum größeren Veränderungen unterworfen war und als bleibender Rahmen aller poetischen Arbeiten gelten kann. Ohnehin hat die Hervorhebung der Differenz von Theorie und Praxis die eher strategische Funktion, jede nur allzu vorschnelle Verrechnung ihres Verhältnisses im Sinne der wohlfeilen Bestätigung und Kritik zu verhindern - zugunsten der Autonomie der Theoriebildung in ihrer gerade in den literaturkritischen Schriften Dieter Wellershoffs oft erstaunlichen essayistischen Schönheit, mehr aber noch zugunsten des poetischen Werks in seiner nur im Besonderen selbst aufscheinenden Schönheit und Autonomie, in dem, was der zuweilen etwas verquälte Jargon als »Poetizität« bezeichnet und vielfältig diskutiert und was sich genau dort ereignet, wo beständig geschlossene Räume ein Stillstand der Zeit im geheimnisvollen Flackern des Bewußtseins zwischen panischer Angst und ewiger Ruhe sind und wo die Heiterkeit einer offen stehenden Tür zuverlässig das hält, was sie verspricht. Solcher Schönheit weiß die Literatur des »Neuen Realismus« sich innig verbunden, auch wenn dies zunächst nicht wenig befremdlich scheint, denn nach Dieter Wellershoffs früher und immer wieder zitierter Glosse hat sie durchaus

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Diese Bemerkung soll allerdings nicht die Verdienste der wenigen, bisher zu Dieter Wellershoff und seinem Werk erschienenen wissenschaftlichen Darstellungen und Untersuchungen schmälern. Außer den schon erwähnten Bänden von R. Hinton Thomas und H. Helmreich sowie der Dissertaüon Eike H. Vollmuths sind hier vor allem noch die einführenden Darstellungen von Ε. H. Vollmuth (Dieter Wellershoff. In: Deutsche Literatur der Gegenwart in Einzeldarstellungen, hrsg. v. D. Weber, Stuttgart 1977, Bd. Π, S. 425ff.) und N. SchachtsiekFreitag (Dieter Wellershoff. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hrsg. v. H. L. Arnold, Göttingen 1978) zu nennen. Wissenschaftliche Untersuchungen im engeren Sinne liegen vor mit den Arbeiten von W. Powroslo (Erkenntnis durch Literatur. Realismus in der westdeutschen Literaturtheorie der Gegenwart, Köln 1976) und J. Hoogeveen (Dieter Wellershoff und Raymond Williams: Kunsttheoretische Überlegungen als Rahmen einer handlungsbezogenen Rezeptionstheorie. In: Neophilologus, 64. Jg., 1980, S. 87ff.). Auf einige unveröffentlichte Examensarbeiten (vgl. hierzu: H. Helmreich, Dieter Wellershoff, S. 151) ist in diesem Zusammenhang ebenso noch hinzuweisen wie auf die mehr essayistischen Reflexionen von Ch. Linder (>Der Tag der Drachentötungpromesse de bonheurDie Schattengrenze< hat als Hauptthema die Entstehung eines Verfolgungswahns, und das ist ja eine pathologische Beziehung zwischen dem einzelnen und der Gesellschaft. Die Hauptfigur ist ein Mann, der im Konkurrenzkampf gescheitert ist und nun versucht, illegal die verinnerlichten sozialen Erwartungen zu erfüllen. Dieser Mann war für mich deshalb interessant, weil in ihm Prinzipien unserer Gesellschaft pathologisch werden, also Selbstbehauptung durch Erfolg, Selbstbehauptung im Konkurrenzkampf. Bei Menschen, die wir als krank bezeichnen, werden oft Strukturen der Gesellschaft, die sonst unauffällig sind und als normal gelten, so deutlich, daß wir erkennen können, was daran krank, falsch, entfremdet ist.« Vgl. D. Wellershoff, Selbsterfahrung und Solidarität. Gespräch mit Manfred Fuhrmann, 8.9.1974. In: Die Wahrheit der Literatur, S. 33.

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ne, sondern vor allem deswegen, weil der wirtschaftliche Erfolg ihm - über das Ziel eines seinem verschwindenden Ich korrespondierenden Allmachtstraumes hinaus - auch zur Rechtfertigung seiner privaten und sexuellen Beziehungen wird, einem Bindemittel nicht unähnlich, das ihn allein noch mit dem ihm unverständlichen Ganzen zu vermitteln verspricht. Nirgendwo zeigt sich dies deutlicher als an seinem Versagen, an jenem Haß, den er in den »Anfeuerungsrufen« Hildes hört, einer Frau, mit der er in wilder Ehe zusammenlebt und die ihm eine Versagerin und eine Gescheiterte scheint wie er sich selbst; daher klingt ihm der Haß Hildes ganz so als beleidige er sie durch sein Versagen, aber so direkt sagte sie es nicht, sie kritisierte ihn gesellschaftlich, sein Benehmen, seinen Geschmack, sie bekam Wutausbriiche wegen Kleinigkeiten, weil er das Brot abbiß, bevor er es bestrich, er wußte, was es bedeutete, sie hatte falsch gesetzt, es war ein anderer aufgetaucht, der es richtig machte, jünger, erfolgreich, für den sollte sie die Beine spreizen, denn das bedeutete doch dieser Kleiderkauf, sie spreizte für Keßler die Beine, ihre zu kurzen, mageren hysterischen Beine, die er sehen konnte durch das Kleid." Gleich vielen anderen Typen aus Dieter Wellershoffs flktionalen Szenarien und Bestiarien ist auch der namenlose Held der »Schattengrenze« eine Figur, der man im realen Leben eher wohl ausweichen würde, froh darüber, ihr nicht begegnen zu müssen. Zugleich jedoch ist die Existenz dieser Gestalt nicht nur der ausbrechenden - und nur scheinbar privaten Schizophrenie geschuldet, die der Roman mit einer beinah akribischen Detailtreue nachbildet, 12 sondern weit mehr noch der in ihr sedimentierten Leistungs- und Erfolgsideologie, die selbst die intimen Bereiche von Sexualität und Erotik noch mit den Ideen von Macht und Konkurrenz durchsetzt und entstellt. 13 Diese Ideologie des wirtschaftlichen Erfolgs und des gesellschaftlichen Aufstiegs ist es, die der Roman zugleich darstellt und kritisiert, indem er sie mit dem Motiv und dem Modell der beginnenden Schizophrenie verklammert: " Vgl. D. Wellershoff, Die Schattengrenze, S. 76f. 12 Vgl. hierzu die Studien Eike H. Vollmuths zu Dieter Wellershoffs »Rezeption der klinischen Analyse von Schizophrenie-Strukturen nach K. Conrad« und ihrer literarischen Verarbeitung: Ε. H. Vollmuth, Dieter Wellershoff - Romanproduktion und anthropologische Literaturtheorie, S. 235ff. 13 Demgemäß hält Dieter Wellershoff auch dafür, »daß man in der Psychologie meiner Personen einiges erfährt über Menschen in einer Konkurrenzgesellschaft. Es ist eine Gesellschaft, in der die Menschen privatisiert werden, aber die herrschenden Leitvorstellungen - wie Erfolg, Selbstverwirklichung - verinnerlichen und dann manchmal zusammenbrechen. Dies geht ja bis in die Intimbereiche der Personen. Auch Sexualität ist Konkurrenzkampf.« Vgl. D. Wellershoff, Die Wahrheitsbedingungen der Literatur. Gespräch mit Michael Fabian, 13.12.1978. In: Die Wahrheit der Literatur, S. 142f. Vgl. hierzu auch: U. Tschierske (u.a.), Spiegelungen, Gespräch mit dem Kölner Schriftsteller Dieter Wellershoff, S. 5Iff. 34

Gerechtigkeit in der Zukunft, darauf setzte er, und so konnte er vielleicht auch herausfinden, ob es das feindliche Bündnis gab oder einen Zusammenhang aller Widerstände, die ihn immer wieder gehemmt und zurückgeworfen hatten [...] Mein Leben! Die Gerechtigkeit in der Zukunft. Du bist für mich ein Zeichen, das ich verstanden habe. Es ist eine große Wandlung, die alles ergriffen hat. Ich war wie begraben, ich hatte mir die Augen verschlossen, weil ich nicht glauben konnte, noch zu sehen, was ich erwartet hatte. Lange war ich darauf vorbereitet und noch länger schon hatte ich nicht mehr geglaubt. Das ist jetzt der Anfang, ein neues Gefühl für die Bedeutung meines Lebens. Seitenlang schrieb er immer dasselbe, ohne einhalten zu können, er mußte immer neue Worte dafür finden." Mit dem neuen Anfang jedoch, in welchcn der Protagonist sich hineinträumt und einzuschreiben sucht, wird es nichts; die Zukunft bleibt leer, ein mit immer neuen Worten gefülltes Vakuum, das zuletzt nur dieselben manisch und rituell wiederholten Formeln aufnimmt, welche die zunehmende Dissoziation seiner Persönlichkeit und Symptome auch der beginnenden Schizophrenie offenbaren, denn immer wieder »hörte er sich sprechen, die Zukunft, die Gerechtigkeit, die Pläne«, und die »Wörter hielten sich, nahmen den Platz der Gedanken ein«, 15 über welche der Protagonist nichts mehr vermag: Er suchte, als lägen die Worte vor ihm, unklar und schwer unterscheidbar, zusammengewachsen, so daß ex sie voneinander lösen mußte, um sagen zu können, was er dachte. Ich baue was Eigenes auf. Was Eigenes. Er versuchte es zu sagen. Versuchte es zu erklären. Das war anders, es verschwand. Es war immer wieder fort." In dieser motivischen Verklammerung eines überangepaßten und übersteigerten Erfolgsdenkens mit den Symptomen der schizoiden Spaltung und Sprachnot wird das Private des einzelnen Falles auf die Kritik einer pathogenen Leistungs- und Aufstiegsideologie hin überschritten und der Roman selbst zum Träger dessen, was dem Besonderen die Kraft zu jener kritischen Repräsentativität gibt, durch welche der »Neue Realismus« sich als literarische Form der Gesellschaftskritik legitimiert. Zwischen dem leer bleibenden Sinnentwurf der Figur und dem des Romantextes zeigt sich so eine Differenz, in der die Wendung vom Individuellen als »Abdruck des Allgemeinen, aber zugleich dessen Kritik« auch literarisch eingelöst wird.

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Vgl. D. Wellershoff, Die Schattengrenze, S. 58ff. Vgl. D. Wellershoff, Die Schattengrenze, S. 61. - Wendungen vom Typus »er hörte sich sprechen« sind übrigens die in den Werken von Dieter Wellershoff immer wiederkehrenden sprachlichen Zeichen von Dissoziation und schizoider Spaltung, auf welche bereits Peter Kem nachdrücklich hingewiesen hat. Vgl. P. Kem, Dieter Wellerehoff. Ein schöner Tag, S. 634ff. D. Wellershoff, Die Schattengrenze, S. 71. 35

Eine utopische Repräsentativität des Privaten indessen zeigt sich damit noch nicht, weil der namenlose Protagonist keine oppositionellen und transzendierenden Kräfte verkörpert, welche ihn und die Darstellung seiner Krankheit und Leiden schon unter das von Herbert Marcuse umrissene Modell des Utopischen fallen ließen, so daß auch der Text des Romans selbst nicht jene utopische Dimension des Noch-Nicht positiv zu gestalten und wirken zu lassen wüßte, welche der Theorie nach in ihm durchscheinen und spürbar werden soll. Was bleibt, ist die Artikulation einer Differenz, eines Gefühls der Nicht-Identität, welches sich charakteristischerweise gerade auch dort einstellt, wo der Protagonist von seinen Erfolgs- und Aufstiegsträumen spricht; denn jedesmal hierbei verschob sich etwas, es schien wahr zu sein, was er sagte, aber von ihm abgelöst, nicht zu ihm gehörig, es war ein anderes Leben neben ihm, vor ihm, während er hier war und alles schon vorbei sein konnte im nächsten Augenblick, ohne noch etwas begreifen zu können. Alles war undeutlich, die zerflossenen Frauengesichter, die roten Jacken der Musiker hinter einem Rieseln, das den Raum in wechselnder Dichte erfüllte, als sei alles noch scheinbar da, nur noch Reste, die er nicht festhalten konnte. Er mußte trinken, griff durch den schwirrenden grauen Raum nach dem Glas. Was ist? Bleibst du noch?"

Im Grunde bleibt unklar, wer da von Zukunft träumt, das Ich des Protagonisten oder sein ihm stets fremd gebliebenes alter ego, doch genau dies ist die verwirrende Strategie des Textes selbst: Der Traum einer Zukunft bleibt ganz bewußt und gewollt der Traum eines in der Verschiebung Verrückten und nicht mehr mit sich Identischen, welchem - in ätzender Parodie auf das Cartesische »cogito ergo sum« - zum Ende hin nur noch Geräusche sagen, daß er überhaupt ist: »Der Stuhl knarrte. Dann war er also hier. Hinter der geschlossenen Tür.«18 Das in verschiedenen Varianten durchgespielte Motiv der geschlossenen Fenster und Türen bildet so gleichsam den literarischen Generalbaß einer differentiellen und zugleich leeren Identität, welcher zeichenhaft sprechend mit dem vergeblichen Traum von der »Gerechtigkeit in der Zukunft« verklammert ist, der sich dem Protagonisten notwendig verschließt: Das alles war ohne ihn da, Abend für Abend, er brauchte nur die Tür aufzumachen und es war da, und hinter anderen Türen war es auch, überall, das Leben, in dem er unauffindbar verschwinden konnte mit dem Geld in der Brusttasche. Er hatte Pläne, die von selbst, ohne daß er nachdachte, in ihm entstanden, aber dann anscheinend wieder verschwunden waren. Oder immer dasselbe blieb haften, mit dem unterschlagenen Geld wollte er das Autogeschäft machen und es, wenn möglich, wieder ersetzen, so daß er nach beiden Seiten

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D. Wellershoff, Die Schattengrenze, S. 70. " Vgl. D. Wellershoff, Die Schattengrenze, S. 118.

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unabhängig wurde, er lieh sich das Geld nur aus, um etwas wiederherzustellen, das er die Gerechtigkeit in der Zukunft nannte [ . . . ] "

Dissoziation und die hinter verschlossenen Türen und Fenstern unerreichbare und leere Zukunft sind miteinander verbunden und drücken eine Fixierung aus, die bis zum Ende hin wirkt, welches den Namenlosen in einem Hotelzimmer sieht, voller Angst, daß die Häscher gleich kommen, ihn abzuholen und ihn in eine Zukunft zu reißen, die er nicht will und die er doch weiterhin mit seinen gestaltlosen Träumen besetzt; und er »betrachtet die Stühle, auf der Bettkante sitzend, mit Angst, es sind die Stühle, auf denen er immer sitzt, nachts, Patiencen legend, mit dem Blick zum Fenster oder mit dem Blick zur Tür.«20 Freie Sicht welcher Art immer gibt es nicht, erst recht keine Bewegung oder ein selbstentschiedenes, zielgerichtetes Handeln - nur die Verschiebung, welche die Gegenwart beständig entstellt und dem Namenlosen zum Zeichen einer noch unergriffenen Zukunft wird, eine unbeantwortete Frage und ein Rätsel zugleich, weil er ihr nur in der unartikulierten Form seiner eigenen Nicht-Identität zugehört. Diese Zukunft ist keine Lockung mehr, weder der Traum von Erfolg und Aufstieg noch vor allem auch das, was hinter ihm Sprache und Handlung zu werden vermöchte: Es gab keine Geräusche mehr, nichts, und es gab auch ihn nicht. Er war irgendwo geblieben in der vergangenen Zeit, wo die anderen sich wie zum Schein noch bewegten, er war da geblieben, hatte sich aufgelöst, denn er konnte das nicht sein, hier am Straßenrand, konnte niemand mehr sein, weil es nicht weiterging, die Straße setzte sich noch ein Stück durch den Nebel fort, dann verschwand sie und dort hörte auch die Zeit auf."

Mit der Verschiebung, in welche der Träumer hineingerät, wird auch die semiotische Dimension und Funktion seiner Schizophrenie verdoppelt - als Zeichen der pathogenen Erfolgsideologie ist sie zugleich auch das Zeichen einer Distanz der Figur zu dem sonst von ihr repräsentierten Leben, Zeichen einer radikalen Nicht-Identität mit dem Falschen, in dem eine andere Existenz sich ankündigen will, aber beständig an ihrem Erscheinen gehindert und in das Reich jener leeren Träume und Worte zurückgebannt wird, das sich durch Spaltung und Schizophrenie immer neu reproduziert. Nur zuweilen noch wird es hell und bestimmt, aber auch dies nur als Ahnung, die gleich wieder verschwindet und untergeht in der Angst: Er war immer noch da, er konnte mit den Fingern durch sein Gesicht wischen, das ihm steif vorkam, fremd und übertrieben geformt. Er lebte, versuchte sich damit vertraut zu machen. Aber das war nicht sein Leben, irgendein anderes,

" Vgl. D. Wellershoff, Die Schattengrenze, S. 57. Vgl. D. Wellershoff, Die Schattengrenze, S. 150. D. Wellershoff, Die Schattengrenze, S. 129 (Hervorhebungen von U. T.).

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seines kannte er gar nicht, wußte auch nicht, wo es war und wie er dahin gelangte. Er war davon abgedrängt worden, irgendwann oder immer wieder, wenn er es zu finden begann, es mußte etwas Besonderes sein, wie er manchmal geahnt hatte, etwas Besonderes, das man verhindern wollte.22

Dieses Besondere aber bleibt unbekannt und kaum zu ermessen, denn es scheint nur in der Nicht-Identität selbst auf und verbindet sich auch in keinerlei Weise mit der eigenen Existenz, weil es sich dem Begriff genauso entzieht wie der Figur und dem Text des Romans selbst - weitaus zu eng dafür ist dessen Binnenverhältnis zur Figur seines Protagonisten, nicht nur durch das mimetische Element seines Realismus, sondern vor allem auch durch die Erzählweise selbst, die jede Form auktorialer Grenzüberschreitung und Distanzierung aus kritischen und wirkungsästhetischen Gründen verwirft. 23 Wenn das Leiden nicht abfließen soll durch wohlfeile Rezepte und abstrakt bleibende Utopien, bleibt auch dem Text des Romans weitgehend nur der Horizont seiner Figuren und ihrer Leiden als Ausdruck der falschen Identität und der vermummt aus ihr sprechenden Utopie. Es ist die kritische Repräsentativität des Privaten selbst, welche der deutlichen Artikulation des Utopischen beständig den Boden entzieht. Das Beispiel der »Schattengrenze« zeigt deutlich, daß die von Herbert Marcuse nahegelegte Identität einer kritischen und utopischen Repräsentativität des Privaten für die Romanproduktion Dieter Wellershoffs nicht ohne weiteres aufgeht, wenn der Begriff der Utopie nicht weiter anwendend präzisiert wird. Nötig erscheint dies vor allem auch angesichts der vorzüglichen Studie, welche bereits Tony Phelan zum gleichen Roman vorgelegt hat, denn obwohl diese auch zu dem Schluß kommt, daß der »neue Sinn« des Utopischen notwendig unartikuliert bleibt und dem Protagonisten allein »nur im Zeichen und nicht tatsächlich erfahrbar« ist,24 so ist ihr gerade dies doch bezeichnend fur das utopische Argument des Romans: die Utopie existiert jenseits der Worte und jenseits allen Sprechens, oder sie schrumpft floskelhaft in

22 23

24

D. Wellershoff, Die Schattengrenze, S. 136. Dies bedeutet allerdings nicht, daß ein auktorialer Erzähler der »Schattengrenze« vollkommen fehlte, denn immer wieder ließen sich einzelne Stellen näher betrachten, wo seine Anwesenheit zumindest nicht sicher ausgeschlossen werden kann. Vgl. D. Wellershoff, Die Schattengrenze, S. 15, 17, 21, 35, 40f„ 5Iff., 60, 81, 100, 109, 123, um nur einige Beispiele zu nennen, die hier aus Raumgründen nicht weiter diskutiert werden können. Eine entschiedene Grenzüberschreitung des auktorialen Erzählers in Richtung auf seine alte und absolute Kompetenz als »alter deus« fehlt jedoch gänzlich, so daß der Horizont der Gestalten sich weitgehend mit dem Horizont des Erzählten und der Erzählung deckt und die Innenperspektive des Protagonisten entschieden nicht überschritten wird. Vgl. T. Phelan, Die Schattengrenze - »strukturelle Logik« und Utopie. In: Der Schriftsteller Dieter Wellershoff, S. 56.

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sich zusammen als Gerechtigkeit in der Zukunft«. Trotzdem ist Die Schattengrenze ein utopischer Roman, denn die Möglichkeit der Veränderung wird immer wieder als >Vorschein der Utopie« erblickt.25

Auch wenn das Utopische selbst unartikuliert bleibt, so ist doch für Tony Phelan die Erfahrung der Nicht-Identität bereits »Vorschein der Utopie«, welcher dem traurigen Helden »nur Angst und Psychose« bereiten kann, dem Leser jedoch, »bei gelungener Lektüre, einen Einblick in die Utopie der Differenz« zu gewähren vermag, in welcher der Text des Romans sich konstituiert.26 Dies alles ist kaum zu bestreiten, doch zu ergänzen und weiter noch zu befragen, denn mit dem Blick auf den Leser wird die Aufmerksamkeit von der Ebene der Figur abgezogen und auf die utopische Konstitution des Romantextes und seiner Erzähltechnik hingelenkt. Das utopische Plus des Romans erscheint demnach als Resultat seiner poetischen Technik, vor allem durch das, was sich durch die beständig sich bis zur Unkenntlichkeit vermischenden und miteinander verschmelzenden Stimmen der Phantasie, der indirekten Rede und des nur schwierig identifizierbaren Erzählerkommentars hindurch als jene »Grundgeste der Erzähltechnik« erweist, die Tony Phelan »als Dialektik von >Ich< und >Er< bezeichnet. Hier wird ein ganzes Spektrum der Personalpronomina entworfen, das eine vierte Stimme zur Sprache bringt, die Stimme der Schreibweise, des Texts.«27 Was der Roman als utopische Dimension thematisiert und doch selbst nicht benennt, die beständige Nicht-Identität seines Protagonisten zwischen den Zeichen der Krankheit und des Noch-Nicht, findet daher nirgendwo anders als in der Erzähltechnik selbst seinen Ausdruck und seine Entsprechung - in jenen Techniken der Verfremdung und Irritation, welche vor allem dem Nouveau roman und dem modernen Film entlehnt sind und die Welt zu jener ursprünglichen Fremdheit und jener Zeichenhaftigkeit hin freigeben, welche sie für den Leser erst wieder lesbar und deutbar macht. Die Rolle des Lesers bezieht sich demnach »ziemlich genau auf die Neurose des Protagonisten: alle beide müssen versuchen, die Welt des Romans in erzählerische Ordnung zu bringen«, indem sie die Arbeit der »differance« auf sich nehmen, wie es im Anschluß an Derrida bedeutend genug heißt.28 Der Konstruktion Phelans zufolge führt die Arbeit des Lesers so zwar in den Text, um ihn in einer Art intellektuellem

25

Vgl. T. Phelan, Die Schattengrenze Schriftsteller Dieter Wellershoff, S. Vgl. T. Phelan, Die Schattengrenze Schriftsteller Dieter Wellershoff, S. " Vgl. T. Phelan, Die Schattengrenze Schriftsteller Dieter Wellershoff, S. " Vgl. T. Phelan, Die Schattengrenze Schriftsteller Dieter Wellershoff, S. 26

- »strukturelle 53. - »strukturelle 64f. - »strukturelle 45. - »strukturelle 54, 62, 65A.

Logik« und Utopie. In: Der Logik« und Utopie. In: Der Logik« und Utopie. In: Der Logik« und Utopie. In: Der

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Puzzle als Ordnung und Sinn zu rekonstruieren, nur um sogleich wieder aus ihm herauszuführen, denn im Text selbst läßt sich als »differance« kaum mehr als nur jenes dumpfe und allenfalls durch die Poiesis organisierte Gefühl der Nicht-Identität ermitteln, die schon dem Protagonisten nur leer bleiben konnte, während umgekehrt jede eigene Form, in welcher die Utopie der »differance« sich zu realisieren sucht, streng genommen nicht mehr dem Text angehört und vom impliziten auf den realen Leser und seine je besondere Form der Textaktualisierung verweist. Dadurch aber ist das Problem des Utopischen zuletzt nur vom Text auf den realen Leser verschoben, mithin auf eine Instanz, welche nicht ohne literaturwissenschafdiche Fragwürdigkeit ist. Durch die Konstitution des Utopischen hindurch und über sie hinweg führen die brillanten Reflexionen Phelans zur Wirkungsästhetik und zur realen Wirkungsgeschichte samt den von ihnen aufgeworfenen Fragen, welche gestellt und beantwortet sein wollen, wenn das Problem der Utopie nicht um die Frage nach der rein textuellen Konstitution des Utopischen verkürzt werden soll.29 Tony Phelans Idee einer Aktualisierung der »differance« bleibt zuletzt eine wissenschaftliche Vorentscheidung über die Angemessenheit von Rezeption, weil sie stillschweigend das Ideal eines vorwiegend intellektuellen Lesers und seines spezifischen Zugriffs auf literarische Texte voraussetzt, was der wirkungsästhetischen Grundintention Dieter Wellershoffs eigentlich widerspricht. Denn das Plädoyer dieses Autors gilt nicht dem schon an Brecht kritisierten - Prinzip der Distanz, sondern vielmehr der klassischen Identifikation und Illusion: Die imaginierten Gestalten simulieren Leben, der Leser ist dabei als Beobachter, [...], der dauernd rückgekoppelt wird mit sich selbst. Denn er sieht das Geschehen nicht neutral, nicht völlig unbeteiligt, sondern er reagiert affektiv darauf, nicht nur intellektuell oder moralisch. Wenn der Roman wirklich gut und packend ist, irgendetwas vom Leser dort formuliert wird, dann reagiert er. Insofern ist er beteiligt und muß sich selbst durcharbeiten. Es gibt doch die Möglichkeit, daß er erschüttert und erschrocken ist. Das wäre eine optimale " Die Wirkungsgeschichte von Dieter Wellershoffs Literaturtheorie und seiner literarischen Werke ist in der zeitgenössischen Rezeption näher dokumentiert und von Richard Williams (In: Der Schriftsteller Dieter Wellershoff, S. 169ff„ insbesondere S. 183ff.) sowie Norbert Schachtsiek-Freitag (In: Dieter Wellershoff, Text und Kritik, S. 102ff.) auch hinlänglich bibliographiert worden. Vor allem die Rezeptionsgeschichte zeigt deutlich, daß die zeitgenössische Wirkung den von Tony Phelan vorgetragenen Argumenten für eine utopische Lesart der »Schattengrenze« ganz offenbar nicht gefolgt ist und daher wohl einer Lektüre entsprechen müßte, welche nach Phelans eigenen Maßstäben nicht mehr als gelungen zu bezeichnen wäre. Daß davon indessen nicht ernsthaft die Rede sein kann, braucht kaum nähere Erläuterung, zumal die Frage weit wichtiger scheint, warum die Romane von Dieter Wellershoff der utopischen Dimension ganz offenbar in nur verschwindend geringem Maße entgegenkommen und dennoch utopisch konstituiert sein sollen.

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Beteiligung, es könnten ihm sogar die Tränen kommen...Und der Leser soll durchgerüttelt werden. Aber ich stelle mir doch eine sich verstärkende Wechselwirkung von Erleben und Begreifen vor. Nur, es muß etwas in Bewegung geraten, am besten die ganze Person des Lesers. Zwischendurch soll er ruhig einmal untergehen.30

Die Richtung der Aufmerksamkeit auf die erzähltechnische Konstitution der Romantexte und der von ihnen konstituierten Rolle des impliziten Lesers kommt selbst einer Verschiebung gleich, welche noch einige Zwischenschritte der Reflexion erforderlich macht. Gleichwohl kann sie sich auf die Theoriebildung des »Neuen Realismus« selbst berufen, nach welcher der für die utopische Dimension konstitutive »Bruch zwischen dem Individuum und der Gesellschaft« in den »Romanen der Krise« stets zweimal aktualisiert (wird): Einmal thematisch, indem sie von Menschen erzählen, die nicht sicher aufgehoben sind in der Gesellschaft, die an ihr leiden, in ihr scheitern oder auch sich gegen sie empören. Zum anderen aber lösen die Romane ihre Leser durch Irritation ihrer Denk- und Sehgewohnheiten aus unbewußt gewordenen gesellschaftlichen Konformitäten und öffnen ihnen so die Möglichkeit neuer, eigener kritischer Erfahrung."

Der für die utopische Dimension konstitutive Bruch zwischen Individuum und Gesellschaft ist damit so eng an die technisch-poetische Inszenierung von Irritation und Krise gebunden, daß der Utopiebegriff mit dem Prinzip der Irritation identisch scheint, ein Eindruck, welchen die Theoriebildung des »Neuen Realismus« auch darin bestätigt hatte, daß sie die Idee des Poetischen und des Schönen an das Prinzip technisch-poetisch inszenierter Irritation gebunden hatte. Angesichts der Romanproduktion jedoch melden sich Zweifel. Nicht erst der Leser, sondern in erster Linie die Protagonisten selbst sind es doch, die in den Romanen von Dieter Wellershoff einer ständigen Irritation und einer Dauerkrise ausgesetzt werden, nur mit dem bedenkenswerten Unterschied, daß diese nichts daraus lernen, wohingegen jener zu neuer Erfahrung aufbrechen und gar zum Träger einer politisch motivierten Kritik und Gesellschaftsveränderung werden soll. Es ist zweifellos ein irritierendes Faktum, daß sich die theoretisch betonte Produktivität von Irritation und Krise für die Gestalten selbst nirgendwo wirklich bewährt - weder für den Vater, Carla und Günther im falschen Familienidyll und seinem sarkastischen »happy end« (»Ein schöner Tag«), noch für den namenlosen Helden der »Schattengrenze« in seiner Kriminalität und paranoiden Schizophrenie, noch auch fiir den sozial abgesunkenen und psychisch mehr und mehr zerrütteten Klaus Jung und seine in Totschlag 30

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Vgl. D. Wellershoff, Die Wahrheitsbedingungen der Literatur. Gespräch mit Michael Fabian, 13.12.1978. In: Die Wahrheit der Literatur, S. 178ff. Vgl. auch S. 172f. D. Wellershoff, Der Roman als Krise. In: Das Verschwinden im Bild, S. 184.

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und Selbstmord ruinös endende Lebensgeschichte (»Die Schönheit des Schimpansen«), um nur einige Beispiele aus einer leicht fortzuführenden Liste von scheiternden Existenzen zu nennen. 32 Am Protagonisten der »Schattengrenze« läßt sich unschwer der Nachweis führen, daß die ununterbrochene Irritation, welcher er ausgesetzt ist, ihm keineswegs eine »erregende Lust-Angst-Tönung« und gar »ein Vorgefühl der Freiheit« ist; im Gegenteil ist er ein nahezu schon Verwahrloster, schlampig gekleidet, stets unrasiert, beinah schon so schmierig wie auch sein lehmiges Auto, ein tablettensüchtiger Trinker, der nahezu ständig müde, benommen, betäubt und abwesend durch eine so faszinierende wie irritierende Welt der veränderten Wahrnehmung geistert. Diese Figur aber gerade ist typisch, und ihr entspricht auch ein Typus erzählter Geschichte sowie eine kühle, auf nahezu jede Geste des Mitleids verzichtende Art der Erzählhaltung - vor allem aber die unerbittliche Konsequenz der Niederlagen und Katastrophen, in der selbst jede Andeutung eines glücklichen Endes von vornherein ausgespart bleibt, so daß die Szenarien der einzelnen Romanwelten schließlich zu wahren Alpträumen des Scheiterns und der Lebensverzweiflung werden, deren suggestiver Kraft sich auch der reale Leser nur schwer entziehen dürfte. Diesseits der technischen Konstitution von Mehrwertigkeit und implizitem Leser scheint für die Utopie der Irritation daher weder Raum noch Funktion zu sein, weder für die Gestalten, noch auch für den realen Leser, welcher der wirkungsästhetischen Seite der Theoriebildung nach sich durchaus mit den Gestalten identifizieren soll. Gleichwohl geht es um mehr als nur um die Konstruktion synthetischer Figuren im Sinne Erich von Kahlers, in der die konkreten Gestalten zum Anlaß und bloßen Vehikel erzähltechnischer Innovationen des Autors gemacht werden;33 nirgendwo jedenfalls handelt es sich um eine zum Selbstzweck gewordene Inszenierung von Irritation nur für den Leser, in der sich »ein Abdanken der Wahrnehmung um der Wahrnehmung willen« vollzieht, wie Gerda Zeltner-Neukomm in zu starker Betonung des Nouveau roman zu erkennen glaubt.34 Vielmehr dagegen geht es um die in

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Zu nennen wären hier etwa noch der innerlich scheiternde Pädagogik-Professor Elsheimer aus der »Sirene« und der sich in seinen eigenen Träumen von Aufstieg und Macht verfangende und schließlich tödlich zusammenbrechende Ulrich Vogtmann aus Dieter Wellershoffs großem und ambitioniertem »Wirtschaftsroman« »Der Sieger nimmt alles«. Vgl. hierzu den leider kaum noch gelesenen und zitierten Aufsatz von Erich von Kahler, Untergang und Übergang der epischen Kunstform. In: E. v. Kahler, Untergang und Übergang. Essays, München 1970, S. 7ff., insbesondere S. 41ff. Vgl. G. Zeltner-Neukomm, Ein umgekehrter Nouveau roman. Dieter Wellershoffs neue Erzählung Die Schattengrenze. In: Merkur, 23. Jg., 1969, Heft 5, S. 488.

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der veränderten Wahrnehmung anwesende Subjektivität der Figur und die aus ihr sprechende Lebensgeschichte, in der die utopische Dimension daher immer auch selbst repräsentiert sein muß und als solche aufgesucht werden will, wenn die Romane des »Neuen Realismus« mehr sein sollen als nur die Verbindung gleichgültig bleibender Geschichten mit avancierten Techniken der literarischen Darstellung. Die Idee der utopischen Repräsentativität des Privaten ist daher stets mehr als nur eine Resultante der Spannung und Mehrwertigkeit erzeugenden Funktion des Irritationsprinzips, das nur die wesentliche Vorstufe der utopischen Textkonstitution des »Neuen Realismus« ausmacht; sie erfüllt sich vielmehr erst in einer Form der Repräsentation, welche zugleich die poetische Realisation jenes Glükkes ist, das den »individuellen Augenblick« erst eigentlich auszeichnet und ihn zum Ort einer Realisation macht, in welcher die Literatur die geschichtsphilosophische Verschiebung der Utopie auf die Zukunft der Gattung zurücknimmt und sich damit auch selbst als eine konkrete, schon hier und jetzt realisierte und in sich erfüllte Anschauungsform des utopischen Denkens erweist. Es ist die Bindung des Utopiebegriffes an die emphatische Idee des Glückes als Realisation des Besonderen und Individuellen, die die Idee des Utopischen auf den »individuellen Augenblick« hin verschiebt und verdichtet und dadurch auch dazu nötigt, die nicht vollkommen hinreichende Gleichsetzung von Irritation, »Augenblick« und Utopie auf die Subjektivität der Figur und ihre besondere Lebensgeschichte hin zu durchbrechen.

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IV. In den Fesseln des Wiederholungszwangs

Wenn das utopische Moment der realistischen Literatur auf der Ebene der Romanfiguren leer und die Utopie der Irritation auf dieser Ebene ohne Funktion bleibt, so liegt dies vor allem auch an der Verflechtung der Irritation mit der besonderen Lebensgeschichte der Protagonisten, nicht etwa nur an der prinzipiellen Unsagbarkeit des Utopischen in der Sprache der Worte. Was in der Irritation der Figuren spricht, ist vor allem ihr Scheitern, das sich durch sie hindurch wiederholt und erneut realisiert und damit auch das Prinzip der Irritation zum Zeichen einer vor allem negativen Anthropologie macht. Nach innen zu ist dieses Scheitern nicht nur an dem zuweilen gänzlich zu Unrecht beklagten Mangel der Protagonisten an Reflexionsfáhigkeit erkennbar,1 sondern weit mehr an der durchgehenden und entschiedenen Handlungslähmung, von der nahezu alle Figuren erfaßt sind und von der sie sich weder befreien können noch überhaupt je auch befreien wollen. Diese grundlegende Lähmung bleibt gewiß Rätsel, weil sie das Apriori der Irritation auch als literarischer Methode ist, welche vorwiegend passive und mehr beobachtende Figuren braucht, um als Teil einer realistischen Darstellungstechnik überzeugen zu können, aber auch, weil sie wegen der mehr zeichenhaften als nur kausalen Konstitution der Romantexte nicht restlos aufgeklärt werden kann. Deswegen ist die durchgehende Handlungslähmung der Figuren doch mehr als nur ein Reflex der literarischen Technik und der Methode der Irritation; sie ist vielmehr auch das, was sich durch die Irritation hindurch als das verdrängte Geheimnis ihres beschädigten Lebens realisiert, denn das Prinzip der Irritation organisiert in einem konkreten Sinne nichts anderes als die von Dieter Wellershoff immer wieder zitierte »Wiederkehr des Verdrängten« im Sinne Freuds: Anstelle des Handlungsmotivs, das sich öffentlich nicht artikulieren darf und abgewehrt wird, tritt das neurotische Symptom, gleichsam als eine privatisierte und deformierte Sprache des verdrängten Lebens, die auch das Ich nicht mehr versteht. Aufgrund der Verdrängung bleibt der Zusammenhang der öffentlichen Sprache intakt, aber als irrationale Störung kehren die verdrängten Inhalte zurück, 1

Vgl. hierzu zum Beispiel die für einen Teil der zeitgenössischen Rezeption typische und schon erwähnte Rezension Marcel Reich-Ranickis, Feierliche Undeutlichkeiten. Dieter Wellershoffs zweiter Roman.

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bedingen Wirklichkeitsveifälschungen und abnorme Verhaltensweisen. Danach beginnt die zweite Phase der Verdrängung, der Kampf gegen das Symptom Als »Wiederkehr des Verdrängten« ist die Irritation Realisation eines Deformierten und in sich Entstellten, eine Konstellation von Signifikanten ohne Signifikat, aber dennoch verbunden mit der Erinnerung eigener Lebensgeschichte und mit dem Traum, durch den noch das »beschädigte Ich sich restituieren kann, weil es Kontakt mit seinem verdrängten Leben bekommt und es vielleicht nachholt in imaginären Wunscherfüllungen.« 3 Solch positive Möglichkeiten, welche der psychoanalytischen Theorie und mehr noch der sogenannten Anti-Psychatrie Coopers und Laings 4 nachbuchstabiert sind, sind den Romanfiguren indessen verwehrt - nicht nur, weil durch die »Wiederkehr des Verdrängten« auch das Verdrängte dem entstellenden Traumgesetz der Verschiebung unterliegt und darin zum Zeichen wird, sondern vor allem deswegen, weil das Verdrängte sich in seiner Wiederkehr gerade als jene grundlegende Lähmung entpuppt, an welcher die Protagonisten ohnehin leiden und welche auch den Funktionsverlust der Irritation als Utopie bewirkt. Der Ursprung der Lähmung, sofern er überhaupt deutlich wird, zeigt die Ur-sache, traumatische Kindheitserinnerungen, vor allem aber das immer wieder hervortretende und in seiner Bedeutung kaum zu überschätzende Erlebnis des Krieges, das den namenlosen Protagonisten der »Schattengrenze« nicht losläBt, weil seine ganze Erfahrung daran fixiert bleibt: Er sah es vor sich, den grauen Nachthimmel und die riesige mit immer kleiner werdenden Leichenhügeln bedeckte Schneefläche, die aus sich heraus zu leuchten schien, als habe sie Taglicht gespeichert, das sie in der Nacht zurückstrahlte, und wußte wieder, daß für ihn das Leuchten und der Tod dasselbe waren, derselbe gesammelte Schrecken, dessen Nachhallen er wieder spülte, auch die sommerliche Stadt war davon erfüllt, in der Vicente und seine Leute ihn jetzt schon suchten, überall, unsichtbar, war es da, im Lack der Autos, den verdreckten Fassaden, den Fenstern, Hauseingängen, den Gesichtern der Menschen, im Licht, Staub, aber auch in Olshausens Garten, wo jetzt schon die Lampions für den Abend in die Bäume gehängt wurden, wo das Fest weiterging, wo sie in Abendgarderobe bald alle wieder erscheinen würden, sich untereinander verständigend über ihn, der verschwunden war, den man noch nicht gefunden hatte.5 1

3 4

5

D. Wellershoff, Zu privat. Über eine Kategorie der Verdrängung. In: Literatur und Veränderung, S. 36f. (Hervorhebungen von U. T.). Vgl. D. Wellershoff, Nachhausekommen. In: Literatur und Veränderung, S. 153. Hervorzuheben ist hier insbesondere auch der Einfluß Ronald D. Laings, vor allem der »Phänomenologie der Erfahrung«, Frankfurt a.M. 1969. Vgl. auch: D. Wellershoff, Nachhausekommen. In: Literatur und Veränderung, S. 153ff. Vgl. weiterhin: D. Wellershoff, Modelle, Verfahren, Prozesse. Gespräch mit Christa Merkes, 13.11.1976. In: Die Wahrheit der Literatur, S. 56fT. D. Wellershoff, Die Schattengrenze, S. llOf. (Hervorhebungen von U. T.). Zum Motiv des Krieges vergleiche auch die Erinnerungen des Vaters in dem

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Aus der Perspektive des Traumes und der beginnenden Schizophrenie sind Gesellschaft und Krieg zeichenhaft miteinander verschmolzen, denn der Krieg erscheint darin als das Verdrängte dieser Gesellschaft, welches den Protagonisten an sich fixiert und ihn darum auch aus dem Garten der falschen Freuden und Feste treibt. Die noch immer als Kriegssituation erlebte gesellschaftliche Erfahrung ist es, die den namenlosen Protagonisten jedes Handeln als sinnlos und jede Zukunft als aussichtslos und im Grunde leer erscheinen läßt, und diese Handlungslähmung ist es auch, die durch das Prinzip der Irritation hindurch ausgedrückt und realisiert wird. Besonders charakteristisch für dieses Verfahren ist eine Erinnerung: Im Krieg hatte er einmal mitten in einem Panzergefecht in einem leeren Schuppen gesessen und geraucht, er war abgeschnitten worden, als er den Kompaniegefechtsstand suchte, der anscheinend verlegt worden war, und hatte sich in den Schuppen zurückgezogen als in der Nähe mehrere Τ 34 mit aufgesessener Infanterie vorbeifuhren. Es war dämmrig in dem Schuppen, das Sonnenlicht fiel in einem Streifen staubig durch die schlecht schließende Tür, und er saß in dem Staub und Modergeruch zwischen zwei Strohballen auf der steinharten Erde, langsam und mit Verstand rauchend, während rings um ihn in wechselnden Entfernungen Gefechtslärm und das Dröhnen der schweren Motoren war. Dann war es zeitweilig still geworden, und er hatte hinter sich durch die Bretterritzen in den Bauemgarten auf das Laub der Beerensträucher geblickt, überzeugt, daß nun alles unwiderruflich zu Ende war, der Krieg, sein Leben, aber zufrieden, allein zu sein und vielleicht hier noch einen Tag und eine Nacht bleiben zu können, versteckt zwischen den Strohballen seine eiserne Ration zu vertilgen und die letzten fünf Zigaretten zu rauchen. Das war es, was er gewünscht hatte, nicht mehr, er hatte unklar gedacht, sterben zu können, bevor wieder Menschen auftauchten, ohne sich den Tod vorzustellen, es war nur das Gefühl von etwas Endgültigem, das ihm als richtig einleuchtete, eine nie mehr unterbrochene Stille, die immer noch fortzudauern schien in allem, was um ihn herum war, die gekachelten Wände, die Handtücher über den Haltern, die beiden Becher mit den Zahnbürsten waren ein Bild, das ihn zwingen wollte weiterzumachen, aber er ging nicht darauf ein, und vielleicht würde es wieder nachlassen, so unglaubhaft deutlich und starr konnte es nicht bleiben. Es verbarg etwas, das andere, damals, oder er mußte zugeben, daß sein Leben um ihn herumstand, das seitdem weitergegangen war.6

Romanerstling »Ein schöner Tag«, S. 15f., 55ff., 59f. - Nach Dieter Wellershoffs eigener Stellungnahme ist der Krieg allerdings nicht »eigentlich ein Thema, denn der Krieg taucht ja nur als ein gelegentliches Motiv in meinen Büchern auf. Aber er war eine wichtige Erfahrung für mich. Ich glaube, er hat meine Skepsis gegenüber dem Kollektiv und meinen Individualismus fundiert.« Vgl. D. Wellershoff, Modelle, Verfahren, Prozesse. Gespräch mit Christa Merkes, 13.9.1976. In: Die Wahrheit der Literatur, S. 66f. - Das freilich mindert jedoch nicht schon die vor allem zeichenhaft und symbolisch gesehen zentrale Bedeutung des Krieges im Werk Dieter Wellershoffs, die der vorliegende Essay näher herauszuarbeiten sich bemüht. * D. Wellershoff, Die Schattengrenze, S. 43 (Hervorhebungen von U. T.). 46

Die längere Passage macht deutlich, wie Erinnerung und Irritation nicht nur technisch aneinander gebunden sind, sondern ständig auch ineinander übergehen und im Grunde die gleiche Handlungslähmung hervortreten lassen, welche das ganze Leben des Protagonisten traumatisch bestimmt; sie zeigt, wie im Moment der Irritation die Vergangenheil an Macht gewinnt. Man kann nicht weiter, weil etwas Unerledigtes einen daran hindert. So kann sich der Zwangskranke nicht von der Vergangenheit lösen, weil er sich mit jeder seiner Lösungsbewegungen wieder in sie verstrickt.'' Zugleich damit kann der Namenlose als Zeichen auch der Gesellschaft in ihrer Verdrängung von Krieg und Tod und ihrer gerade deswegen fortwährenden Fixierung an sie interpretiert werden, samt der latenten Gewalt, welche »die zweite Phase der Verdrängung«, der »Kampf gegen das Symptom« zeitigt, von welcher auch er in deutlichen und wenig sympathischen Zügen gezeichnet ist. Hierzu gehören vor allem die häufigen, offen gewaltsamen Phantasien, von denen der Namenlose jäh überfallen wird: Die Hand kam und wollte ihm über den Kopf streichen. Er hielt sie fest, hatte ein Pochen im Kopf bis in die Augen. Jetzt ihr die Hand nach hinten umbiegen, bis sie auf den Rücken fiel, auf den Teppich, vor seine Füße, ein Wanst, in den er das Geld gestopft hatte, Abend fur Abend, und in den er hineintrat, bis er platzte, bis das Geld zum Vorschein kam, der schreiend vor ihm durch das Zimmer rollte, der in der Ecke liegen blieb, zuckend, rot, blau und schwarz getreten.' Geldgieriger Geiz und offen gewalttätige Phantasien sind unauflöslich miteinander legiert, beides Entstellungen und Symptome der unerledigten Ohnmachtstraumen, die nicht verarbeitet werden können, wo der Erfolg von 7

Vgl. D. Wellershoff, Die Verneinung als Kategorie des Werdens. In: Literatur und Lustprinzip, S. 60 (Hervorhebungen von U.T.). • Vgl. D. Wellershoff, Die Schattengrenze, S. 78. Vgl. auch: S. 32f„ 65, 145. Das Blut gerinnt in den Adem bei der Lektüre solcher vom Terror des Geldes und der im Selbsthaß zerstörten Psyche des Protagonisten zeugenden Stellen, welche genau jenem »Kampf gegen das Symptom« zu entsprechen scheinen, der nach Dieter Wellershoffs eigener Einsicht »die zweite Phase der Verdrängung« ausmacht; denn hinter der in einzelnen Phantasien offenen Aggressivität seiner Figuren steht die berühmte »Unfähigkeit zu trauern«, von der alle Gestalten von Dieter Wellershoff durchgehend bestimmt sind, Melancholikern gleich, die an das von ihnen Verdrängte fixiert bleiben und dieses so wenig verarbeiten wie die deutsche Nachkriegsgesellschaft die nationalsozialistische Herrschaft und das Erlebnis von Krieg und Niederlage. Zum psychoanalytischen Aspekt dieses Vorgangs vergleiche nicht zuletzt auch die Arbeiten von S. Freud (Trauer und Melancholie. In: S. Freud, Studienausgabe, hrsg. v. A. Mitscherlich, A. Richards, J. Strachey und I. Gmbrich-Simitis, Frankfurt a.M. 1982, Band III, Psychologie des Unbewußten, S. 193ff.) sowie Alexander und Margarete Mitscherlich (Die Unfähigkeit zu trauern, München 1986, zuerst: 1967). Vgl. auch: Margarete Mitscherlich, Trauerarbeit. Zur Psychoanalyse der Unfähigkeit zu trauern. Frankfurt a.M. 1987.

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außen versagt bleiben muß, ein zeichenhaftes Syndrom aber auch, das in der semiotischen Matrix der »Schattengrenze« auf ein erschreckendes Destruktionspotential verweist und nicht nur die psychologische Signatur des Einzelnen, sondern zugleich auch die Disposition der Nachkriegsgesellschaft in sich enthält: Die ausweglose Alternative zwischen dem Mord und dem Selbstmord. Wie der Sohn das offenbare Geheimnis des Vaters ist, so ist die Gestalt des Klaus Jung die Enthüllung des Namenlosen, Fortsetzung und Vertiefung zugleich, welche den Zirkel der Destruktion deutlich macht, der hinter nahezu allen Protagonisten von Dieter Wellershoff steht und als Zeichen weit mehr ist als Psychologie. Die Eruption der Gewalt, in der Klaus Jung eine Zufallsbekanntschaft »für eine Nacht« samt ihres schnurrenden Katers erschlägt, ist nur der logische Fluchtpunkt einer psychischen Anlage, die von Anfang an auf den eigenen Tod programmiert ist. Dahinter steht ein Bedürfnis nach Strafe und Selbstverachtung, weil er spürte, daß es ihn retten konnte, wenn er sich ergab und alle Hoffnungen, alle Ansprüche in sich zerstörte. Er wollte ein Niemand sein, ein Nichts, der letzte aller Menschen, nur so konnte es ihm gelingen, der Verzweiflung zuvorzukommen, von der er sich bedroht fühlte, und wieder einen Schutzwall aus Verachtung um sich herum aufzubauen. Er war nichts, aber er hatte recht damit, nichts zu sein, denn das Leben war nichts wert und die Welt ein Dreckhaufen, auf den er spuckte Zwar träumt auch Klaus Jung von dem Tag, an dem »die große Veränderung kam, die wunderbare Wendung, die ihn rechtfertigen würde, bis überall seine eigenen Automaten standen, ein Heer rasselnder Geldbringer, das Tag und Nacht für ihn arbeitete, überall.« 10 Doch auf diesen Erfolgstraum antwortet in ständig neuen Variationen das Spiegelbild einer beschädigten und vereinsamten Identität, »das vor ihm hing in einer gelierenden Helligkeit und ihm faxenhaft antwortete. Ich bin es, bin es nicht, ich bin es. Als er etwas deutlicher sah, spuckte er hinein.« 11 So ist es der Mangel an eigener Identität, welcher den Traum von Geld und Erfolg zum ambivalenten Spiegel von Sehnsucht und Selbsthaß macht. Ihre unauflösliche Bindung kulminiert in der Fixierung an Scheitern und Tod, welche das Grundmotiv des »Schimpansen« entscheidend bestimmt: Vor allem die Schrecken, die der Seele nach dem Tod begegnen, beschäftigten seine Phantasie, und er schrieb sie auf in seiner unruhigen, manchmal auch steifen und sperrigen Schrift:

' D. Wellershoff, Die Schönheit des Schimpansen, S. 17 (Hervorhebungen von U. T.). 10 Vgl. D. Wellershoff, Die Schönheit des Schimpansen, S. 106. 11 Vgl. D. Wellershoff, Die Schönheit des Schimpansen, S. 84. 48

>Sie kommen auf einen zu, als ob sie es um die Wette täten, welcher einen zuerst packen wird. Auch dämmern schemenhafte Trugbilder, daB man von verschiedenen schrecklichen Raubtieren verfolgt wird. Schnee, Regen, Dunkelheit, heftige Windstöße und Halluzinationen, daB man von vielen Leuten verfolgt werde: Getöse wie von Bergen, die zusammenbröckeln, und von zornig überschäumenden Meeren und Geheul von Feuer und von plötzlich auffahrenden wütenden Winden. Darauf schlingt eine der ausführenden Furien des Todesgottes ein Seil um deinen Hals und zerrt dich weg; sie schneidet deinen Kopf ab, nimmt dein Herz heraus, reißt die Eingeweide heraus, leckt dein Gehirn aus, trinkt dein Blut, ißt dein Fleisch und nagt an deinen Knochen; du aber bist unfähig zu sterben.12 Hinter diesen orkanartig schäumenden Schreckensvisionen steckt mehr als nur die masochistische Lust an der Bestätigung eigenen Ungenügens und die Manie, mit welcher Klaus Jung früh schon »Berichte und Bilder von Verbrechen, Unglücksfällen und Katastrophen« als »Vorrat an Beweismaterial« sammelt, »der ihm half, unabhängig und unangreifbar zu werden.« 13 Jungs Faszination vom Tibetanischen Totenbuch und die Schreckensvisionen, von denen er heimgesucht wird, machen vielmehr auch deutlich, daß hinter der Sehnsucht nach Stillstand und Tod, die dem Erfolgstraum hartnäckig jede Erfüllung versagt, zugleich die weit tiefere Sehnsucht nach der Gewalt steht, welche dem Schrecken des paranoiden Verfolgungstraumes als Gegenbesetzung entspricht, durch die Jung sich vom Opfer zum Täter entwickelt und letztlich doch Opfer bleibt. Das destruktive Potential der Figur drängt der Gewalttat entgegen, gleichgültig, ob diese dem Ich oder Objekten der Außenwelt gilt. Schon die von Jung aufgetürmten Zeugen des Schreckens und bitterer Niederlage erscheinen ihm als »enttäuschende Bilder, die nur die Spuren des Verbrechens« festhalten, 14 , nicht aber die Tat und den Terror der sichtbaren Zeichen an den geschundenen und verstümmelten Leibern: Waren sie nicht alle zum Tode verurteilt, früher oder später? Aber sie taten so, als wüßten sie es nicht oder als sei ihnen dieses Wissen wieder abhanden gekommen, und das war es, was sie dem Schwachsinn des Lebens auslieferte, immer wieder. Es gab nur ein Gegengift, und er versuchte es sich bei jeder Gelegenheit zu beschaffen. Er wollte den Tod, das Sterben sehen, wollte es vor Augen haben." Während Jung selbst sich in der utopisch gespeisten Hoffnung wiegt, die Bilder des Todes könnten ein »Gegengift« zur Illusion des Lebens und 12

D. Wellershoff, Die Schönheit des Schimpansen, S. 128f. " Vgl. D. Wellershoff, Die Schönheit des Schimpansen, S. 30f. 14 Vgl. D. Wellershoff, Die Schönheit des Schimpansen, S. 30. " D. Wellershoff, Die Schönheit des Schimpansen, S. 28f. (Hervorhebungen von U. T.). 49

Sterbens sein und beim Anblick des Todes zerfallen, wird er mehr und mehr Opfer seiner Fixierung an Terror und Tod, in welcher der Zwang den Damm des Bewußtseins machtvoll durchbricht. Bilder des Todes holen ihn ein und überfluten ihn in den »Szenarien dämmriger Halbträume«, aus denen der tote Vater »aus einer starr geöffneten Mundhöhle« mit ihm zu sprechen scheint, »eine unsichtbare Mutter« verklagend, die einem Toten Vorwürfe machte, der durch ihn, seinen vor Angst verkrampften Sohn, zu antworten versuchte, aber sie hatten nur einen Mund, und der war starr, braun, der Mund einer Leiche Auch die Toten lagen auf dem Rücken, aber das war falsch. Man mußte sie mit dem Gesicht auf die Erde legen, ihr aufgerissener Mund sollte sich zurück in die Erde fressen. Die braune Mundhöhle des Vaters hatte aufgestanden, als schreie er nach Luft. Doch da war noch etwas anderes, ein dunkler Rücken wie eine riesige Wolke. Das war die Mutter, die sich über den Vater beugte. Sie machte etwas mit ihm, und Jung wollte schreien, sie solle aufhören, aber er war ganz klein, und sie war nicht davon abzuhalten, sie schnitt die Fingernägel an den wehrlosen Händen des toten Vaters. Dann verschwand das alles, und sie kam auf ihn zu, und seine Nase begann zu bluten, es war ein unaufhörlicher schwarzer Blutregen [...] 17 Der Tod des Vaters und die heimliche Schuld der Mutter sind für den Sohn Rätsel und Trauma, eine Zwangsvorstellung gleich einer Tortur, die nicht enden will: »Da war es. Es war dieselbe Marter wie das Feilen und Raspeln von Fingernägeln. Es war auch das Fauchen der Brennkammern, das Zerstäuben der Materie in weißem Feuer«, das Jung noch vom Tode der Mutter her schmerzt, war doch auch diese »verraucht in den Gasflammen des Krematoriums«, gleich einer Schuldigen, die Vater und Sohn »verfolgt hatte mit ihren Vorstellungen von [...] Aufstieg und Erfolg.« 18 Identifiziert

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Vgl. D. Wellershoff, Die Schönheit des Schimpansen, S. 85 (Hervorhebungen von U. T.). D. Wellershoff, Die Schönheit des Schimpansen, S. 181. " Vgl. D. Wellershoff, Die Schönheit des Schimpansen, S. 147, 153. - Der Zukunftstraum von »Aufstieg und Erfolg« enthüllt sich als Verfolgungstraum, der zugleich Ur-sache für die verborgene Identität von Vater und Sohn ist, die über den Tod des Vaters hinaus fortbesteht und den Sohn gleichsam in einen psychoanalytischen Wiedergänger des Vaters verwandelt, welcher das Schlimmste schon hinter sich hat: »Ich bin praktisch tot, dachte er, ich kann nichts mehr erwarten. Es war gar nicht mal schlecht, das zu wissen. Das meiste lag schon hinter ihm, und für den Rest würde er noch Kraft finden, irgendwann.« (Vgl. ebenda, S. 44). Jungs Beziehung zu Frauen freilich ist so von Grund auf vergiftet und aussichtslos, auch die zu Ellen, die das Verhältnis zur Mutter nur wiederholt: »Was er auch tat, war falsch, er konnte immer nur das Falsche tun, und er konnte nicht hoffen, daß ihm das Falsche verziehen wurde, nicht von ihr, nicht von den anderen und niemals von ihr. Sie tat, als gäbe es ihn nicht, sie ging hinweg über seine Fragen, sein Verlangen zu sprechen, sie versuchte ihn auszulöschen, und eine alte, schon oft gehörte Stimme in ihm begann ihr recht zu geben: er war nichts, er hatte keinen Wert, er war lächerlich und 11

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mit dem Vater als Opfer und mit der Mutter als Täter leidet Klaus Jung an der doppelten Introversion von Ohnmacht und Schuld, durch die jede einzelne Position innerhalb dieser traumatischen Zwangsstruktur nach Vernichtung der anderen strebt. Der Tod von Vater und Mutter, der in den Bildern des Terrors und der Gewalt wiederholt wird, bildet so die traumatische Grundlage für einen Zirkel der Destruktion, der kein Entrinnen mehr kennt, nur noch die ausweglose Alternative von Mord oder Selbstmord, in der Jung sich von jeher bewegt hatte, ohne je wirklich auf ihren Ursprung zu stoßen: Was soll ich tun? Was soll ich tun? Auf einmal erinnerte er sich an einen Tobsuchtsanfall, den er als Junge gehabt hatte. Mit einem Stock oder einem Stuhlbein hatte er wie ein Verrückter auf einen gestopften Sack eingeschlagen, bis er völlig außer Atem war. Er konnte sich noch genau an seine tobende Anstrengung erinnern, an das Hüpfen des Sackes und das dumpfe Geräusch seiner Schläge, aber er wußte nicht mehr, was er für einen Grund gehabt hatte."

Mit der gleichen ohnmächtigen Wut schlägt Jung später sein Opfer gegen den Heizungskörper. Das dumpfe Stöhnen, das er dauernd hörte, sollte aufhören, sollte endlich verstummen, doch dann merkte er, daß nicht sie es war, sondern er selbst, der an ihrer Stelle jedesmal aufstöhnte, wenn ihre Stirn oder ihre Schläfe gegen das Metall schlug."

Jungs Stöhnen ist nur ein Nachhall des Schreis, den er als Kind nicht hatte ausstoßen können, weil der Mund ihm versiegelt war, seine Gewalttat nur die verzweifelte Umkehrung seines dumpfen Gefühls, er habe selbst etwas Schweres in sich, eine Last, die ihn ausfüllte und verschüttet war wie ein Sack mit Sand, der gleichgültig die Schläge und Stöße die ihn zu erschüttern suchten. Schlag auf Schlag kamen sie, doch sich nicht einmal, sein Gewicht war viel zu groß geworden, als daß was ihn noch bewegen konnte.11

hatte, er hinnahm, er rühne irgendet-

Im Augenblick, da der Überdruck dieses Gefühls explodiert und sich im Totschlag entlädt, tötet Jung sich im Grunde nur selbst, so daß die Tat als verschobener Selbstmord erscheinen könnte, wäre da nicht das Opfer, verführerisch süß und zugleich herrisch wie nur die Mutter, die ihn verfolgt.22 Jungs Objektwahl entspricht damit der Struktur seines Wiederhowiderlich, und er haßle sich selbst...Ich will sterben, dachte er.« Vgl. ebenda, S. 119f. (Hervorhebungen von U. T.). " D. Wellershoff, Die Schönheit des Schimpansen, S. 44. 20 D. Wellershoff, Die Schönheit des Schimpansen, S. 193. 21 D. Wellershoff, Die Schönheit des Schimpansen, S. 77f. 12 Der Blick auf das Opfer zeigt »eine große blonde Frau in einem braunen Pelzmantel und mit braunen Süefeln«, in »dem großen Gesicht mit dem kräftigen Mund und den grauen Augen war eine gewisse Härte...Jung sah das alles mit

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lungszwangs, so daß der Totschlag zugleich als verschobener Mord und als Versuch interpretiert werden kann, den Bann von Trauma und Wiederholung mit einem Schlag zu durchbrechen. Die Arbeit des Lebens scheint damit erfüllt und Jung entschließt sich zum Sterben, indem er sein Auto zum Mutterleib macht und sich mit den tödlichen Abgasen vergiftet, als wolle er dadurch noch einmal die Mutter verklagen. Bei den Vorbereitungen zur Inszenierung des eigenen Todes arbeitet er wie ein guter Handwerker, der seine Arbeit kennt und sich zielstrebig, doch ohne Eile bewegt, aber auch mit dem Eifer eines Kindes, das sich eine Hütte baut, einen Unterschlupf, ein Versteck, in dem niemand es entdecken wird und wo es etwas zu finden hofft, was es irgendwann verloren hat, es könnte nicht sagen, was es ist. Doch auch das war eine Täuschung. Wie alle Trugbilder hatte sie ihren Ursprung im Anfang des Lebens, wo ihm, wie den meisten Menschen, das Versprechen der Geborgenheit gegeben worden war. Was Jung fand, als er hinter dem Lenkrad saß und der Motor im Leerlauf seine Abgase in den geschlossenen Raum pumpte, war nicht Friede oder Versöhnung, sondern das Sterben als inneres Ersticken.23

Der gewaltsame Tod Klaus Jungs dementiert die Utopie einer Befreiung von Trauma und Zwang, die sich allein über den Schrecken konstituiert, solange der Zirkel der Destruktion nur die Alternative von Mord oder Selbstmord erlaubt. Der tote Jung ist erlöst, »ohne ein Zeichen von Kampf« gestorben,24 doch auf seinem Gesicht zeigt sich »die Fratze des Lebens«, die ihm als Wundmal des Realitätsprinzips und der frühen Entstellungen bleibt. Die Gestalt des Klaus Jung ist auch darin der jüngere Zwillingsbruder des Namenlosen, daß sein Terrorismus und seine Gewalttat als offene Kriegserklärungen gegenüber der Leistungs- und Erfolgsideologie der Nachkriegsgesellschaft interpretiert werden können, die in den Darstellungen Dieter Wellershoffs deutlich im Zeichen der Mütter steht und streng »vaterlos« bleibt. Als entstellter Ausdruck der »Wiederkehr des Verdrängten« gewinnt die »Kriegserklärung« gegenüber Erfolg und Leistung nur noch einem einzigen Blick, denn es war beleuchtet von dem Gedanken, daß er sie töten würde.« Vgl. D. Wellershoff, Die Schönheit des Schimpansen, S. 166. Hinter der imaginierten Frau, die mit allen Insignien der Kriegszeit ausstaffiert ist und von der eine »künstliche, verführerische Süße« ausgeht, steht die Mutterimago, »eine andere Frau, fest, zielbewußt und banal...er fühlte, sie wurde immer stärker, immer selbstgewisser und zog ihn immer mehr von sich weg, und wenn er das zuließ, würde sie ihn auslöschen, sie würde ihm die Kraft nehmen, die ihn zusammenhielt. Vor allem ihre Stimme klang herrisch und schneidend, auch wenn sie munter erzählte. Es war eine Stimme, die Bescheid wußte und durch keinen Einspruch zu erschüttern war.« Vgl. ebenda, S. 169f. " D. Wellershoff, Die Schönheit des Schimpansen, S. 200f. 24 Vgl. D. Wellershoff, Die Schönheit des Schimpansen, S. 201.

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mehr an Interesse, weil die Protagonisten des »Neuen Realismus« den Bann sozialer Verdrängung so gleichsam von innen heraus sprengen wollen und ihn mit ihrem Scheitern zugleich verklagen und perpetuieren. Die Verklammerung leerer Erfolgs- und Zukunftsträume mit den Motiven von Krankheit und Tod erweist sich damit als magisches Grundmotiv, das die Werke von Dieter Wellershoff immer neu anschlagen, als seien sie selbst Ausdruck des Wiederholungszwangs, den sie kritisch enthüllen und literarisch perpetuieren. Auch der Protagonist der »Schattengrenze« ist nur der Brennpunkt gesellschaftlicher Verdrängung, indem er in deren Zwang hineingestellt und an ihn fixiert bleibt, auch und gerade auch durch sein Versagen; denn nur, weil es der Mehrzahl gelingt, sich besser an die gesellschaftlichen Bedingungen und Anforderungen anzupassen, weil die meisten so leidlich integriert und brauchbar sind, daB sie sich ihre Beschädigungen nicht eingestehen müssen, ist der offensichtliche Versager schon als Ausnahme isoliert. Die Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle, die ihm beigebracht werden, richten seine Lebensenergie gegen ihn selbst, schleichend in Krankheit, Depression und neurotischer Zerrüttung, aggressiv im Selbstmord. Er ruiniert ein Potential, das keinen sozialen Ausdruck fand. Und indem er sich selbst verneint, entlastet er die Gesellschaft."

Wo die Gesellschaft feiert und über die eigene Gewalt und Schuld hinweg zur Tagesordnung übergeht, bleibt der Namenlose notwendig abseits, weil er die triumphalen Illusionen ihrer Zukunft und Utopien, von denen er selbst so beständig spricht, im Grunde nicht teilt, ein Skeptiker wider willen, aber vom Wesen auf an, ein Feind der Utopie und kein Träger einer futurisch gefaßten Form der utopischen Repräsentativität. Was der namenlose Held der »Schattengrenze« gegenüber der Gesellschaft und gegenüber der Utopie in exemplarischer Form repräsentiert, ist die »vollendete Negativität des vereitelten Werdens 26 - wo Verdrängung und falsche Illusionen regieren, eilt er beständig zurück in das Dunkel des fortwährenden Krieges und seiner Krankheit, in jenen gesammelten Schrecken, welcher die Irritation stumpf und die Utopie leer werden läßt, ein Opfer des Wiederholungszwangs, welcher nach der Erkenntnis des späten Freud mit dem Todestrieb verbunden ist,27 aber doch auch ein Unerledigtes und noch " D. Wellershoff, Zu privat. Über eine Kategorie der Verdrängung. In: Literatur und Veränderung, S. 41f. (Hervorhebungen von U. T.). " Vgl. hierzu insbesondere: D. Wellershoff, Die Verneinung als Kategorie des Werdens. In: Literatur und Lustprinzip. S. 55ff., 62. 21 Es ist in diesem Zusammenhang charakterisüsch und sprechend, daß es ausgerechnet die nach dem Ersten Weltkrieg zahlreich aufgetretenen traumatischen Kriegsneurosen waren, welche die psychoanalytische Theoriebildung zur Entdeckung des Wiederholungszwangs und zur spekulativen Hypothese des Todestriebes geführt haben, der auch den Namenlosen der »Schattengrenze« nachhaltig bestimmt. Vgl. hierzu: S. Freud, Jenseits des Lustprinzips. In: S. Freud,

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Ungefaßtes in sich verbirgt, welches die Utopie blockiert und darum gerade auch so gewaltig anzieht und lockt. Ein besonders anschauliches und prägnantes Beispiel dafür ist der vergleichsweise späte Roman »Der Sieger nimmt alles«. So träumt noch der Aufsteiger Ulrich Vogtmann von einer erfolgreichen Zukunft im Zeichen von Geld und Besitz: Geld war ein anderes Wort für Leben, für den Rausch des Lebens, denn fast alles, was begehrens- und wünschenswert war, war auch käuflich. Oder es hing an den Dingen, die käuflich waren, man bekam es gratis dazu: Freiheit und Muße zum Beispiel, und alles, was dadurch möglich wurde, sich entwickelte und zeigte, und Macht und die Bewunderung der anderen und wahrscheinlich auch Liebe, wenn man sie überhaupt noch brauchte, wenn man nicht viel zu glücklich dazu war. Glück war ein starkes, berauschendes Gefühl, mitten im Leben zu sein, darin unterzutauchen und immer wieder hochgeworfen zu werden auf den Kamm der Welle, unsinkbar zu sein, unbesiegbar. Ja, und je mehr Geld man hatte, um so größer wurde der Platz, den man in der Welt einnahm. Man konnte eine Villa mit großem Parie bewohnen und, wenn man Lust dazu hatte, auch in einer primitiven Hütte hausen. Auch das Leben der Armen war ein Spaß, wenn man reich war. Ja, so mußte man es sehen, ohne saure Moral und sentimentale Gefühle. Weil der Sieger alles gewann und der Verlierer nichts, deshalb, gerade deshalb lohnte es sich, zu leben und seine Chancen zu ergreifen." Mit geradezu peinlicher Deutlichkeit legt der ambitionierte »Wirtschaftsroman« seinem Protagonisten damit eine Ideologie in den Mund, die dem »Wirtschaftswunder« der fünfziger Jahre entspricht und den Traum von Macht und Besitz unauflöslich mit einer emphatischen Idee des Lebens verknüpft, die den Roman zu einem mentalitätsgeschichtlichen Dokument von Rang werden läßt. 29 Indem das Leben als herausfordernde Lockung

Studienausgabe, Band III, S. 213ff. " D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 158f. (Hervorhebungen von U. T.). 29 Ob man den »Sieger« nun als Wirtschaftsroman oder als eine »Familiensaga mit ökonomischen Einsprengseln« interpretiert (vgl. P. Gillies, Kein Erbarmen mit Unternehmern. In: Die Welt, 17.9.1983) - vor dem mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund, den der Roman durch die symbolische Verknüpfung des Besonderen und Allgemeinen zu einem Gesamtbild der Nachkriegsgesellschaft verdichtet, bleiben Deutungsansätze dieser Art letztlich ebenso einseitig wie eine allein nur an Maßstäben der literarischen Qualität orientierte Kritik, die den »Sieger« als bloße »Computermixtur« zwischen »Wirklichkeit und Kolportage« oszillieren sieht (vgl. L. Schwartz, Tod im Wirtschaftsleben. Dieter Wellershoffs neuer Roman. In: Der Tagesspiegel, 1.10.1983) oder ihn schließlich rundum verworfen hat. Vgl. hierzu z.B. die - für einen Großteil der Kritik exemplarische - Rezension von Heinrich Vormweg, Der Schreiber als Rechner. Dieter Wellershoff hat den trivialen Roman eines verkorksten Mannes konstruiert. In: Süddeutsche Zeitung, 3./4.9.1983. Näher am Text und seinen Intentionen ist eine Rezension Martin Ebels: »Wellershoff hat ... keinen Wirtschaftsroman geschrieben, er ist sich und seinen Lieblingsthemen - Krise des Individuums und Realitätsverlust - treu geblieben ... wir sehen den aussichtslosen

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und »Rausch« erlebt wird, zeigt der Erfolgstraum des Protagonisten noch in seiner drastischen Ideologie entstellte Spuren der Utopie, die sich dem halbgebildeten Vogtmann früh schon erschließen. An einem »Einführungsvortrag einer längeren Vorlesungsreihe über das Geld, ein Thema, dem er in seiner Armut nur höhnische Skepsis entgegenbrachte«, gefällt dem ziellosen jungen Studenten, daß der Vortragende das Geld »nicht als etwas Totes« darstellte, nicht als ein rationales System abstrakter Größen, sondern als den Lebensstoff der Phantasie. Geld löste alles, was fest schien, in Bewegung auf. Selbst nichts Bestimmtes, ermöglichte es den Austausch und die Verknüpfung aller Dinge und Tätigkeiten. Es war die universelle Maschine, die alle anderen Maschinen in Bewegung setzte. Es war der Stoffwechsel der Gesellschaft, ihr Nervensystem. Es war die glitzernde Brücke, die die Vergangenheit mit der Zukunft verband, der Zauberstab, der aus dem bloß Möglichen das Wirkliche schlug, das Spiegelkabinett der unendlichen Wechselwirkung. Fast alles, was Menschen sich wünschten, sich ausdachten, zu tun versuchten, war ausdrückbar und erreichbar durch Geld. Es war das höchste Allgemeine, die alles umschließende Einheit aller Elemente der beweglichen, veränderbaren Welt. Flüchtig, allmächtig, wandelbar, glich es ganz dem gestaltenmischenden Traum. Es war die genialste Hervorbringung des menschlichen Geistes. Mit ihm erst entfaltete er sich selbst, löste sich aus der Bindung an die konkreten Dinge, entwand sich dem Hier und Jetzt, dem Reich des immergleichen Notwendigen und wurde freie Schöpfung und Spekulation. Vogtmann war aus dieser Vorlesung herausgekommen wie jemand, der in das geheime Zentrum der Well geblickt hatte." Poetische Qualitäten geradezu sind es, die das Geld in den dilettierenden Reflexionen des jungen Vogtmann gewinnt und sein Bild vom »big business« prägen: Geschäftsleute wie Otter waren in Wirklichkeit Künstler, die durch ihre Inspiration, ihren Einfallsreichtum, ihren Wagemut die gefeierten Koryphäen der Kunstszene völlig in den Schatten stellten, nicht nur, weil sie kühner und wei-

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Wettstreit eines Familienbetriebs mit Großkonzemen - der wahre Grund für Vogtmanns Untergang liegt anderswo; in dem, was Wellershoff mit einem glücklichen Ausdruck >Niemandsgefühl< nennt.« Vgl. M. Ebel, Zahlen und Träume. (K)ein Wirtschaftsroman von Dieter Wellershoff. In: Badische Zeitung, 29./ 30.10.1983. Auch Dieter Wellershoff sieht im »Sieger« ausdrücklich kein »Lehrbuch über Wirtschaft, sondern einen Roman, der von den Antrieben, den Phantasien, den Methoden, Gewohnheiten, den Zwängen und Illusionen von Menschen handelt, die Geschäfte machen oder Unternehmungen führen. Aber auch von solchen, die davon betroffen werden, die in den Sog des Geschehens hineingeraten. Für mich ist die Wirtschaft ein Bereich von großer menschlicher Faszination, weil dort die Menschen besonders heftig aufeinanderstoßen. Und weil Kräfte, Mechanismen in das Geschehen eingreifen, die keiner ganz in der Hand hat.« Vgl. D. Wellershoff, Das Leben als Überlebenskampf. Dieter Wellershoff über seinen neuen Roman »Der Sieger nimmt alles«. In: Badische Zeitung, 19.8.1983 (Gespräch mit W. Ch. Schmitt). D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 12f. (Hervorhebungen von U. T.).

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ter reichend kombinierten, sondern weil sie einen Einsatz wagten und mit wirklichen Verhältnissen und mit lebenden Menschen spielten, weil sie Lebenskunstwerke zustande brachten, nicht diesen infantilen akademischen Schwachsinn, bei dem es um nichts ging, außer allerdings auch um Geld.31 Hinter der rein materiellen Dimension des Geldes tritt die romantische Idee eines »Lebenskunstwerkes« hervor, dessen Voraussetzung die Bejahung des Konkurrenzkampfes ist, weil dieser den Einsatz der ganzen Person und jeweils das volle Risiko fordert, das seinen Reiz begründet und ausmacht. Entsprechend will Ulrich Vogtmann alles, nur bloß »kein schäbiges und kein dumpfes Leben führen«, 32 so daß die Figur weitaus dynamischer scheint als die Protagonisten der frühen Romane, die nahezu unheilbar an der Krankheit der Handlungslähmung gelitten hatten. Vogtmanns Lebensvision dagegen ist reflektiert und ekstatisch, und dies begründet die Differenz: Überall wartete ja schon das Neue, das andere, die Welt war unerschöpflich. Man brauchte nie einsam zu sein, man brauchte nur zuzugreifen. Es war wunderbar, das zu wissen. Und er fühlte sich fähig dazu, fühlte sich frei." Er fuhr auf der richtigen Fahrbahn. Er wurde nicht aufgehalten. Iiier, Lech, Isar, Inn, fließen all zur Donau hin, sang er. Was eigentlich hatte er sich als Kind unter der Donau vorgestellt, wenn nicht das große, unbekannte Leben, das er später immer gesucht hatte, mit immer neuen Anstrengungen und Enttäuschungen? Das Leben. Alle hauen es, bis sie starben. Aber das meinte er nicht. Sondern etwas anderes, das weit darüber hinausreichte, eine Welt, in die man sich hineinstürzte und in der man aufleuchtete. Vielleicht hatte seine Mutter das in den Romanheften gesucht, die sie pausenlos las, als sie krank wurde, und sein Vater hatte es im Krieg gesucht, in dem er verschollen war. Vielleicht hatten sie ihm beide etwas von ihren Sehnsüchten und ihren Träumen mitgegeben. Aber in vielen Menschen war nichts davon zu spüren, kaum ein Funke. Die meisten waren nur trübe Lichter, die es darauf anlegten, auch das Licht anderer zu trüben, Moralisten, Spießer, Neider, vor denen man sich in acht nehmen mußte, bis man oben war und sie einfach ignorieren konnte. Dann wurden sie sofort still. Vor dem Erfolg kuschten sie. Er war bald so weit. Er stand dicht davor. Das Traumbild hatte Gestalt angenommen. Er konnte es benennen. Es war diese große prunkende Stadt München, in der er seit vier Wochen Eigentümer und Chef eines aufsteigenden Unternehmens war.54 Kindheitserinnerungen und Kindheitsveimutungen sind es, die den Erfolgstraum Vogtmanns von innen her anleuchten und ihn zum Handeln beflügeln, ein Zeichen für jenes utopische »Potential, das keinen sozialen Ausdruck« findet und den utopischen Mehrwert scheiternder Existenzen noch in der entstellenden Form falscher Zukunftsträume verwahrt. Trotz aller 31 32 33 34

D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 236f. (Hervorhebungen von U. T.). Vgl. D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 63. D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 173. D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 216f. (Hervorhebungen von U. T.).

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Entstellung und durch sie hindurch ist es der Traum, der Ulrich Vogtmann die Kraft gibt, den Kampf mit dem Leben aufzunehmen. Nichts daran ändert sein Scheitern. Die Niederlage des »Siegers« hat indessen nicht nur soziale Gründe, als sei es dem Autor lediglich darum gegangen, die tödlichen Folgen der Konkurrenzgesellschaft - und mit ihr die kritische Repräsentativst des Privaten - noch einmal in epischer Breite zu demonstrieren. Vor allem in Vogtmann selbst ist der Grund seines Scheiterns zu finden, denn trotz seines ausgeprägten Erfolgstraumes und seiner hartnäckigen Resistenz gegen die Niederlage bleibt sein Ich doch zu schwach, um dem Idealbild des Siegers zu gleichen, das er sich von seiner Zukunft erträumt; und eigentlich war dies keine Zukunft, sondern die leere Stelle einer Erwartung, die nicht wieder eine Geschichte hervorbringen wollte, sondern nur Gegenwart, einen Ausstieg aus der Zeit, soweit Zeit eine Konstruktion des Gehirns war, das Pläne, Ziele, Absichten, Versprechungen und Verträge erzeugte und nicht einfach nur der Herzschlag war, die gemeinsamen Atemzüge, Mund an Mund."

Unstet und ziellos, ist Ulrich Vogtmann eher ein Aufsteiger wider Willen, im Grunde ein passiver Mensch, der seine Zukunft nicht plant noch forciert und von Elisabeth Pattberg geheiratet wird, um in eine Karriere hineinzustolpern, die der Text des Romans weder darstellt noch innerlich motiviert - denn nach einem Zeitsprung von vielen Jahren erst sieht man Ulrich als einen entschlossenen Mann, »der niemals verlieren wollte, für den das Leben ein Kampf war, den man gewinnen mußte, und der nur auf seine Kraft, seinen Willen, seine Intelligenz vertraute.«36 Aus der liebenden Perspektive Elisabeths suggeriert der Roman damit eine innere Wandlung der Hauptfigur, die sich an entscheidenden Punkten der Handlung als Illusion erweist. Denn aus Mangel an Selbstbewußtsein und Urteilskraft wird Vogtmann schließlich sehr bald schon zur hilflosen Marionette seiner Geschäftspartner, indem er zögert und zaudert und sich blindlings zu waghalsigen Investitionen hinreißen läßt, die ihn mit unerbittlicher Logik in den Ruin treiben. Zufällig ist dieser Untergang nicht. Zugrunde liegt mehr als die psychologische Signatur des Aufsteigers, der die eigenen Unsicherheiten nur halbwegs geschickt überspielt. Quelle des fehlenden Selbstgefühls sind vielmehr frühe Verletzungen des Zehnjährigen, der später selten von sich erzählt, von seinem Vater, der im Krieg als vermißt gemeldet wurde und für immer verschwunden blieb, seiner Mutter, die im dritten Kriegsjahr starb, der Tante, die ihn in das Internat brachte und ihn dort allmählich vergaß. Sein Widerwille gegen diese Erinnerungen war wieder so hefüg gewor-

" D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 19 (Hervorhebungen von U. T.). " Vgl. D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 82.

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den, daß sich seine Stimme belegte, und er kaum mehr zustande brachte als eine Aufzählung der Fakten, den dürren Beleg der Tatsache, daß er seit damals allein war und [...] bindungslos lebte ..." Herausgestoßen aus den Bindungen der Familie, ohne Elternliebe und Freundschaft, erlebt der junge Vogtmann das Internat als »Hunger- und Prügelbude«, 38 von der er bis in die Physis hinein gezeichnet bleibt: Ein Jahr lief er in zu engen Schuhen herum, bis er verkrümmte Zehen hatte und nur noch humpeln konnte. Er hatte sich geschämt, daß er so komisch ging, und seine Schmerzen zu verleugnen versucht. Um neue Schuhe zu bitten, wagte er nicht. Er glaubte, er habe kein Recht dazu. Es war ja Krieg. Seine Mutter war gestorben und sein Vater vermißt, was bedeutete, daß keine Hilfe zu erwarten war. Für ihn stand niemand ein. Er war ein unnützer Rest. Die Tante hatte ihn hierin abgeschoben, und es wurde ihm empfohlen, dankbar zu sein. Das hing an ihm wie ein Angstgeruch, der die anderen reizte. Er war von vornherein schuldig, sie waren immer schon im Recht. Mittags kamen die Gabeln seiner Tischnachbarn und spießten ihm das Fleisch vom Teller. Als erstes lernte er zu schlingen, um notdürftig satt zu werden. Er schwor sich durchzuhalten. Warum, wußte er nicht. Es gab keine Möglichkeit, hier wegzukommen. Niemandsgefühl beim brodelnden Stimmenlärm des Speisesaals, beim Anblick seines maschinengeschriebenen Namenszettels auf der Spindtür, beim Postempfang, wenn sein Name übergangen wurde, und nachts, wenn er aus einem Angsttraum erwachte und wußte, er lag in dem saalartigen Raum mit den sechs Betten, in dem, unsichtbar in der Dunkelheit, die anderen schliefen, seine Verfolger Der körperlichen Verkriippelung entspricht die seelische, die Erfahrung der Ohnmacht und das mit ihr verbundene Niemandsgefühl, mit dem er sich später identifiziert, das aber auch wiederkehrt in der Angst, »in einem falschen Leben zu stecken«: 40 Er kannte dieses Gefühl und haßte es. Als Kind war er ihm oft ausgesetzt gewesen, im Internat vor allem, wenn er einer Aufgabe nicht gewachsen war [...] Später hatte er begriffen, daß dies eine Erbschaft war, die er von seiner Mutter übernommen hatte, wie sie wahrscheinlich wieder von ihren Eltern und so fort. Und all diese Generationen vor ihm hatten das als Demut und Geduld empfunden, als Gehorsam und Bescheidenheit, und er erst hatte begriffen, daß es nicht Tugenden waren, sondern Fesseln. Und von da an hatte er versucht, sich davon zu befreien. Du kannst es schaffen, hatte er sich gesagt, sobald er eine Ahnung der alten Ohnmacht in sich aufkommen spürte, und wahrscheinlich war alles, was er getan hatte, nur eine einzige lange Beweisführung gegen die Ohnmacht, die er als Kind so oft in den Augen seiner Mutter gesehen hatte [...] 41 " D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 18f. (Hervorhebungen von U. T.). Vgl. D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 122. " D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 30f. (Hervorhebungen von U. T.). 40 Vgl. D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 249. 41 D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 140f. (Hervorhebungen von U. T.). 31

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Doch die Angst, »es sei nicht möglich zu gewinnen«,42 bleibt wie sein Mangel an Phantasie43 und seine heimliche »Neigung zur Kapitulation, dieses Gefühl der Aussichtslosigkeit, das er immer empfunden hatte.«44 Sie ist es auch, die seine berufliche Unsicherheit begründet, die unzureichende Vorbereitung seiner geschäftlichen Transaktionen, das zittrige Timing mit seinen Schwankungen zwischen retardierendem Zögern und den überhasteten Aktionen der Hit-and-Run-Geschäfte, welche ihn schließlich zu Fall bringen. Der wirtschaftliche und existenzielle Ruin Ulrich Vogtmanns wiederholt nur eine längst schon erlittene Niederlage. Es sind die Schatten der unbewältigten Vergangenheit, die Ulrich Vogtmann einholen und ihn in den Untergang treiben. Ulrich Vogtmanns Schicksal erfüllt sich nicht weniger im Zeichen von Krankheit und Wiederholungszwang als das Schicksal des Namenlosen, welches gleichfalls vom Krieg her gezeichnet und determiniert ist. Beide Protagonisten wirken wie Brüder, nur auf verschiedenen Stufen der Reflexion und mit dem Unterschied, daß der eine in den »gesammelten Schrekken« des Krieges zurücktaucht und in dieser Erinnerungsarbeit auch ein Stück seiner Identität sucht, wohingegen der andere all seine Energien auf den vergeblichen Versuch konzentriert, jede Erinnerung zu vermeiden und die eigene Lebensgeschichte so gleichsam auszulöschen. Der Wiederholungszwang hört deswegen nicht auf, nur wirkt er bei Vogtmann stärker als Zwang, der die Instanzen der Abwehr durchbricht und das Ich mit Impulsen der Angst überschwemmt - womit zugleich unterstrichen wird, in welch hohem Maße die Ich-Instanz Ulrich Vogtmanns sich in der Verdrängungsarbeit konstituiert und darin auch eine neue Identität sucht. Doch auch dieses Ich bleibt gespalten, indem es nicht aufgehört hat, das Leben als Krieg zu erleben, der sich scheinbar selbst dann noch gewinnen läßt, wenn das Unglück schon laut an die Tür gepocht hat: Und wer hatte eigentlich gesagt, im Krieg sei es besser, eine falsche Entscheidung zu treffen als überhaupt keine? Guter Spruch fürs Leben, weil das Leben auch ein Krieg war. Sein Krieg hatte angefangen, als der andere zu Ende ging. Gut, er hatte eine falsche Entscheidung getroffen und doch recht gehabt. Oder er würde recht behalten, er würde seine Schlacht schlagen und gewinnen. Der Sieger bestimmte, was in den Geschichtsbüchern stand, und der Verlierer konnte nicht widersprechen. Dem Verlierer wurde der Mund gestopft. Er biß ins Gras, er mußte Erde fressen. Hatte den ganzen Mund voll Blut! Verdammte Scheiße, wie war er jetzt darauf gekommen? Er hatte doch nicht mehr daran denken wollen

4i

Vgl. D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 140. " Vgl. D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 141. " Vgl. D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 261. " D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 307 (Hervorhebungen von U. T.).

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Nicht nur sein Erleben, sondern die ganze Erfolgs- und Aufstiegsideologie Ulrich Vogtmanns steht damit im Zeichen des Wiederholungszwangs, der die Erinnerung selbst zwar vermeidet, ihr Material jedoch auf die Gegenwart und eine imaginäre Zukunft projiziert, in welcher die militärischen Rollen von Siegern und Besiegten nur anders besetzt werden.46 Ideologiekritisch gesehen ist die Erfolgs- und Aufstiegsideologie des »Siegers« daher kaum anderes als eine Form der Kriegsideologie, die durch die Darstellung ihres unvermeidlichen Scheiterns hindurch kritisiert wird. Analytisch gesehen entspricht sie der Wiederholung, die für Volkmann nicht allein Zwang, sondern auch Gegenstand seiner Sehnsucht ist, weil sie die Kriegs- und Internatssituation unter neuen Rahmenbedingungen wieder erlebbar macht. In Vogtmanns Zukunftstraum spricht so eigentlich eine Sehnsucht nach seiner unbewältigten Vergangenheit, der unbewußte Wunsch nach einer Katharsis, hinter der eine neue Identität zu erscheinen vermöchte, welche sich aber nicht zeigt.'*7 Für die liebenden Augen Elisabeths und ihren intuitiven Verstand hat er daher etwas von einem Schachspieler und von einem Sportler, war aber etwas tes dazwischen, das sie nicht definieren konnte. Einmal, in einem Museum, sie vor einem Bild plötzlich gedacht, daß er wie ein kriegerischer Engel sah, so emst und unzugänglich, ein bißchen entrückt. Aber sie hatte das und den Maler vergessen und konnte es nicht mehr überprüfen.·"

Drithatte ausBild

Noch der scheinbar nach vorn auf die Zukunft gerichtete Wiederholungszwang zeigt damit utopische Züge, indem er sich zum poetischen Bilde verdichtet, das sogleich wieder verfliegt, weil die Flügel des Engels gebrochen sind. Als Zufluchtsort des Utopischen bleibt so nur eine gestaltlose Nicht-Identität mit dem Falschen, der Selbstzweifel, in dem Vogtmann sich fragt, " Entsprechend identifiziert sich der von Krieg und Internat gezeichnete Vogtmann mit den ehemaligen Verfolgern, besonders mit Wollweber, der ihm die Bissen vom Teller stahl und ihn mit Schuhputzerarbeiten demütigte, bis er »zum Schluß sein Freund und sein Vorbild« wurde. Vgl. D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 359, 429. Das ist auch der tiefere Grund, warum Ulrich Vogtmann seinen Sohn Christoph ins Internat schicken will, obgleich doch der oberflächlichen Logik nach alles in ihm dagegen rebellieren müßte. In der Logik des Wiederholungszwangs freilich wird der Sohn für den Vater zur Stellvertreterfigur, welche die früheren Erfahrungen unter veränderten Ausgangsbedingungen wiederholen soll eine Logik, in die auch Elisabeth einwilligt, die Christoph »in einer großen Gemeinschaft« wähnt, in der ihre Erziehungsprobleme sich lösen sollen. Vgl. D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 376. - Die Antwort darauf wird der Sohn später mit gToßen Lettern ans Internatsgebäude sprühen: »No future. Große, rote Buchstaben. Am Tage würde man die Schrift weithin sehen können. No future. Er hatte es geschafft. Heute früh, wenn die Lehrer und die externen Schüler zur ersten Stunde kamen, würden sie alle seine Botschaft lesen.« Vgl. ebenda, S. 381. " D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 85 (Hervorhebungen von U. T.).

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ob es nicht richtiger sei, alles zu verkaufen und günstig anzulegen, anstatt weiter die Ochsentour eines mittels tändischen Unternehmers zu gehen, der immer mühsamer gegen die Konkurrenz der großen Firmen ankämpfte. Denn eigentlich war er kein Unternehmer, es bedeutete ihm gar nichts, einen Betrieb mit vielen Menschen zu führen. Er hatte sich das nur eingebildet. Inzwischen wußte er, daß er das alles schmerzlos verlassen konnte, wenn es etwas anderes gab. Etwas anderes - was? Es mußte ßr ihn noch ein anderes Leben geben, aber er konnte es sich nicht vorstellen." Was hatte sich eigentlich verändert? Warum hatte er kein Glück mehr? Seit Wochen wich alles, was er erreichen wollte, vor ihm zurück, und es schien besser zu sein, nichts mehr zu tun, anstatt weiterzukämpfen. Die Augen schließen und alles laufen lassen: Das war es vielleicht. Er mußte aufhören zu kämpfen und einfach leben, etwas, das er nie gekonnt hatte. Leben.50

Doch der Selbstzweifel verbleibt im Puppenstadium von Ahnungen, die sich nur zu der folgenlosen Erkenntnis verdichten, »daß er das Leben eines Schlafwandlers führte, der bereit war zu erwachen, aber nicht wußte, wie es geschehen konnte und was es bedeutete, wach zu sein.«31 Die Zwänge der Wiederholung und nicht zuletzt auch der gänzliche Mangel an Phantasie, den er als unentrinnbare Erbschaft der Intematszeit mit sich herumschleppt, sorgen dafür, daß Ulrich Vogtmann den einmal eingeschlagenen Weg des Erfolgs bis zur bitteren Neige zuende zu gehen hat, gefangen im Trauma der Kriegszeit und ohne Alternative, wie er selbst sehr wohl weiß: Er trank und hob Lothar sein Glas entgegen. >Auf die Zukunft! weshalb wir immer nach vome wollen, immer weiter. Die einzige Antwort ist: Wir können nicht anders."

Die Ich-Entleerung und der psychosoziale Immobilismus, den Ulrich Vogtmann mit vielen anderen Helden aus dem Romanpersonal Dieter Wellershoffs teilt, bilden so eine charakterologische Konstante, die sich auf alle Zeitdimensionen erstreckt und genau jenen Symptomen entspricht, die Alexander und Margarete Mitscherlich als typische Reaktionsformen auf die berühmte »Unfähigkeit zu trauern« beschrieben haben - als »eine Krankheit mit schweren Lähmungserscheinungen«, die »jene Hemmung, jene Blockierung der sozialen Ph?ntasie, jenen fühlbaren Mangel an sozialer Gestaltungskraft« ausmachen, an denen die Protagonisten von Dieter Wellershoff ausweglos leiden.53 Der Preis dieser - bis heute noch exemplarischen - Alternativlosigkeit ist der vollendete Sieg des Krieges über das unartikulierbare Gefühl der " D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 305 (Hervorhebungen von U. T.). 50 D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 390 (Hervorhebungen von U. T.). 51 Vgl. D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 11. " D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 191. " Vgl. Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, vor

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Nicht-Identität und die gestaltlose Sehnsucht nach einem anderen Leben jenseits von Sieg und Niederlage, in welchem die Utopie vergeblich auf ihre Erlösung wartet. An einem »Ort spurlosen Verschwindens« stirbt Ulrich Vogtmann, in einem gestalt- und gesichtslosen Messehotel, wo »am Montagmorgen die meisten Gäste abgereist und die neuen noch nicht angekommen sind« und auf den Fluren [...} die abgezogene Bettwäsche in faltigen Haufen wie schmutzige Reste zusammengefegten alten Schnees [liegt] [...] Das Heulen eines unsichtbaren großen Staubsaugers in einem Zimmer am Ende des Ganges klingt heiser und besessen wie festgehakte Wut, und wenn man näher kommt, hört man die kurzen klackenden Stöße der Saugdüse gegen Fußbodenleisten, Möbelbeine und Schränke, als zucke in dem Geheul ein kleines, blindes, hartköpfiges Wesen herum, das überall an Wände prallt.54

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allem S. 20ff., 38, 40, 82. Vgl. auch: Margarete Mitscherlich, Erinnerungsarbeit. - Den Zusammenhang der dargestellten Charakterbilder mit der Autobiographie Dieter Wellershoffs zu erläutern, bleibt eine reizvolle Aufgabe, auf die an dieser Stelle nur zu verweisen ist. Im übrigen gilt wohl noch immer die Feststellung der Mitscherlichs, nach der es eine allgemeine Untersuchung wohl wert sei, »wie sich die verschiedenen Wertvorstellungen der Kriegs- und Nachkriegszeit auf die Identifikationen der Jugendlichen auswirkten, welche Spuren sie im Charakter hinterließen. Das wird die Einstellungen betreffen, die mit politischen oder geistigen Vorbildern zu tun haben.« Vgl. A. und M. Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S. 250. D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 7. (Hervorhebungen von U. T.).

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V. Die Lockungen des Nirwana

Durch den an den Romanfiguren selbst deutlich spürbaren Verlust der utopischen Dimension ist vor allem die »Schattengrenze« für Peter W. Jansen ein ausgesprochen »terroristisches Buch, ein Horror-Roman der Realitäten«, der »durch den radikalen Einsatz der Existenz« wie »ein Befreiungsschlag des Autors Wellershoff gegen den Theoretiker Wellershoff« wirkt. 1 Gleichwohl ist der an der Spannung von kritischer und utopischer Repräsentation festgemachte Bruch zwischen Theorie und literarischer Praxis nicht absolut. Schon für den Theoretiker Dieter Wellershoff entspricht die »Negativtypik des Romanpersonals« nur der zentralen »Funktion der Literatur in dieser Zeit, die Schrecken wahrzumachen und die Abwehr zu durchbrechen«, in welcher das Leben sich gegen sich selbst sicherzustellen wähnt. 2 Einen notwendigen Widerspruch zur utopischen Funktion von Literatur bedeutet dies nicht, geht diese doch primär in »Sehnsüchten und Wünschen« auf, an denen sich zeigt, »daß jede Figur wie einen Schatten ihr Gegenteil mit sich trägt.« 3 In diesem Sinne kann schon das vieldiskutierte »Vergnügen an tragischen Gegenständem [...] nur mit der Entlastung vom Überlebenskampf erklärt werden. Die Fikuon, ein Ort ohne den wirklichen Tod, ist der Ort, wo wir alle Beschränkungen abstreifen, die wir im Interesse der Lebenserhaltung unwillig auf uns genommen haben. Sie ist der Ort einer unmöglichen Freiheit, wo wir vorübergehend den kulturellen Kompromiß kündigen, zur Vermeidung des Todes auf Leben zu verzichten. Gerade die zerstörerischen Erfahrungen, in die wir die Pilotfiguren unserer Phantasie schicken, erneuern in ihrer Rücksichtslosigkeit das alte Lustprinzip der Psyche, das Vernunft und Vorsicht nicht kennt, und aus dem aller Elan des Lebens stammt. ' Das kulturell unterdrückte Lustprinzip und das Bewußtsein des Todes sind demnach durchaus miteinander verbunden, nicht nur, weil der Tod stets 1 2 3 4

Vgl. P.W. Jansen, Mehr als Theorie: Dieter Wellershoffs zweiter Roman »Die Schattengrenze«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.3.1969. Vgl. D. Wellershoff, Die Wahrheitsbedingungen der Literatur. Gespräch mit Michael Fabian, 13.12.1978. In: Die Wahrheit der Literatur, S. 158. Vgl. D. Wellershoff, Die Wahrheitsbedingungen der Literatur. Gespräch mit Michael Fabian, 13.12.1978. In: Die Wahrheit der Literatur, S. 150. D. Wellershoff, Die Verneinung als Kategorie des Werdens. In: Literatur und Lustprinzip, S. 65f. (Hervorhebungen von U. T.).

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als äußerster Fluchtpunkt des repressiven Realitätsprinzips gilt, sondern vor allem auch, weil die gesellschaftliche Verdrängung des Todes nur einer Fixierung an ihn entspricht, deren latente Gewalt sich gegen das Leben selbst richtet und so gerade das Todesbewußtsein zum Zeichen des Lebens und seiner noch unergriffenen Möglichkeiten macht. »Todesgewißheit und Individuation gehören zusammen, das eine ist des anderen Bedingung und Stimulans und natürlich auch Gefahr«, heißt es entsprechend in Dieter Wellershoffs großem Essay über »Zukunft und Tod«, 5 welcher zugleich eine zentrale Thematik auch seines literarischen Werkes thematisiert: Der Tod, verstanden als das Ende aller Hoffnungen, gibt dem Unglück erst sein volles unerträgliches Gewicht und macht es zur Vorgestalt seines Schreckens. Wenn es nicht mehr zu erwarten gibt als das einmalige begrenzte, zufällige Leben, dann verkürzen sich alle Hoffnungen auf diese Spanne und werden konkret enttäuschbar. Es entsteht ein neuer realistischer Emst, eine größere Empfindlichkeit und Ungeduld. Alle Widersprüche zwischen Individuum und Gesellschaft verschärfen sich, alle Beeinträchtigungen und Verstümmelungen des Lebens treten provozierend hervor [...]'

Auch die Funktion der realistischen Literatur besteht so in der Darstellung der mit dem Tode verbundenen Schrecken, weil gerade das Todesbewußtsein ein unverzichtbarer und zentraler Ort ihres kritischen Widerspruchs und ihrer gesellschaftlichen Funktion ist. Gleichwohl ist die Rolle von Schrecken und Tod nicht auf die wirkungsästhetische Funktion der Kritik beschränkt, weil auch die Augenblicke der Todeserfahrung zuweilen noch »Glücksmomente« in sich enthalten können, die über die bloße Ambivalenz von Stimulans und Gefahr hinausweisen und noch dem Tod den »Charakter einer Befreiung« zu geben vermöchten. Gerade der Außenseiter steht dafür ein, wenn er auch scheitert. Denn wo immer ein Mensch aus seinen Konventionen und Bindungen herausgerissen wird, dann ist er zwar gefährdet, aber er hat auch eine Erkenntnis -, eine Entwicklungschance. Diese Momente, die sicher auch eine Todeserfahrung enthalten - denn von der Gesellschaft getrennt zu werden ist ein lebensbedrohendes Erlebnis - diese Momente haben auch den Charakter einer Befreiung und können Glücksmomente sein. Deshalb haben Außenseiter manchmal für die Angepaßten etwas ungeheuer Verführerisches. Die Angepaßten ahnen, daß der Außenseiter etwas in seinem Leben verwirklicht hat, was sie sich selbst nicht zugetraut haben, was sie angstvoll verdrängt haben.1

In diesem Sinne ist auch das kritische Motiv des Kriegs in der »Schattengrenze« stets doppelt zu interpretieren. Die beklemmende Fixierung des na5 6 7

Vgl. D. Wellershoff, Zukunft und Tod. In: Das Verschwinden im Bild, S. 37. D. Wellershoff, Zukunft und Tod. In: Das Verschwinden im Bild, S. 34. Vgl. D. Wellershoff, Selbsterfahrung und Solidarität. Gespräch mit Manfred Fuhrmann, 8.9.1974. In: Die Wahrheit der Literatur, S. 42 (Hervorhebungen von U. T.).

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mcnlosen Protagonisten an das Erlebnis von Krieg und Tod ist stets mehr als nur die katastrophale Arbeit an »einer Beweisführung, die hinauslief auf seine Niederlage«;' sie ist vielmehr auch eine Erinnerungsarbeit, in welcher sich das traumatische Erlebnis des Krieges dem Protagonisten zu jener Erkenntnis verdichtet, »daß für ihn das Leuchten und der Tod dasselbe waren«, eine »nie mehr unterbrochene Stille, die immer noch fortzudauern schien in allem, was um ihn herum war« und sein Leben als Zwang, aber auch als sein geheimstes Ziel schon immer bestimmt und geleitet hatte. Was durch die Medien des Wiederholungszwanges und der traumatischen Fixierung an Krieg und Tod hindurchscheint, ist jene Lokkung des Todes, welche zugleich Utopie ist und welche ihr Urbild für Dieter Wellershoff nirgendwo anders hat als im Mythos vom Gesang der Sirenen als eines Sinnbildes der Poesie selbst: Die Seefahrer, die sich von der Sicherheit der Küsten, vom festen, verbürgten Boden gelöst haben und das weite, anhaltslose Meer befahren, beginnen die Stimmen des eigenen Inneren zu hören wie beschwörende Einflüsterungen, die die Lüste der Regression, der Entgrenzung und des Ichverlustes versprechen, deren noch unsichtbarer Fluchtpunkt der Tod ist. Tod, noch ungeschieden von Heimkehr, Erfüllung, Wiedergeburt, bis er diese Bilder ablegt als täuschende Masken

Selbst der Tod hat ein Heimatrecht in jenem Lande, das nirgendwo liegt und sich dem Blicke entzieht, aber darum nur desto hörbarer und fühlbarer ist. Selbst der Tod ist »individueller Augenblick« und Utopie, wenn auch im Sinne des rätselhaft bleibenden und virtuell täuschenden Bildes, das aber darum gerade so lockend ist. Für die traurigen Gestalten der fiktionalen Szenarien ist der Tod die einzige Sehnsucht und der allein noch für sie wesentliche Wunsch, der ihre verborgene Lust speist, wie immer verwahrlost und hoffnungslos ihr sonstiges Leben auch ist. Die im Tode wirksamen Kräfte werden von nahezu allen Protagonisten aus den Romanen von Dieter Wellershoff nicht unähnlich jener utopischen Todesdarstellung erfahren, die schon Herbert Marcuse eindrucksvoll formuliert hatte - denn auch in dieser Prosa wird selbst der Tod nicht als Zerstörung, sondern als Friede begriffen, nicht als Schrecken, sondern als Schönheit. Es genügt, die hierher gehörenden Urbilder aufzuzählen,

• Vgl. D. Wellershoff, Die Schattengrenze, S. 109. Vgl. auch S. 44, 58. ' D. Wellershoff, Erkenntnisglück und Egotrip. Über die Erfahrung des Schreibens. In: Das Verschwinden im Bild, S. 206 (Hervorhebungen von U. T.). Vgl. hierzu auch den für Dieter Wellershoff in diesem Zusammenhang wichtigen Text von Maurice Blanchot, Der Gesang der Sirenen, Essays zur modernen Literatur, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1982 (zuerst: München 1962), insbesondere S. 11 ff.

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um die Dimension zu umschreiben, der sie verhaftet sind: die Erlösung, die Lust, der Stillstand der Zeit, das Ende des Todes, Stille, Schlaf, Nacht, Paradies - das Nirwanaprinzip nicht als Tod, sondern als Leben.10 Auch die Todeserfahrung von Wellershoffs Protagonisten entspricht Tiefenschichten der Kritischen Theorie. Es war der große - und in seiner Art einzig gebliebene - Entwurf Herbert Marcuses, den in der Metapsychologie Freuds weitgehend spekulativ gebliebenen Todestrieb nicht psychoanalytisch oder gesellschaftskritisch zu eskamotieren, sondern ihn auf sein utopisches Potential hin zu durchleuchten, ohne dem Phänomen des Todes die existenzielle Schärfe zu nehmen. Nach dem utopischen Entwurf Herbert Marcuses könnten Eros und Thanatos, die scheinbar äußersten Gegenspieler, durchaus miteinander versöhnt werden, denn der Todestrieb wirkt unter dem Nirwanaprimip: er strebt nach jenem Zustand dauernder Befriedigung', wo keine Spannung mehr besteht - nach einem Zustand ohne allen Mangel. Diese Triebtendenz bedeutet gleichzeitig, daß die destruktiven Manifestationen mit der Annäherung an den erstrebten Zustand abnehmen. Ist das Ziel des Todestriebes nicht die Beendigung des Lebens, sondern das Ende des Leides - das Fehlen von Spannung - dann ist, paradoxerweise, im Sinne des Triebs der Konflikt zwischen Leben und Tod um so geringer, je mehr sich das Leben dem Zustand der Befriedigung nähert. Gleichzeitig würde Eros, befreit von der zusätzlichen Unterdrückung, erstarken und als solcher die Ziele des Todestriebes absorbieren. Der Triebweit des Todes wäre ein anderer geworden . . . " 10

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H. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S. 163. (Hervorhebungen von U. T.). H. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S. 231 (Hervorhebungen z.T. von U. T.). Der Ursprung dieser Utopie - und mehr noch der Prozeß ihrer Realisierung - hatte freilich den real schon bestehenden Überfluß und den Glauben an eine zu unendlicher Produktivität fähige industrielle Gesellschaft zu seiner Voraussetzung, ein Glaube, der für den immerhin stark mit den Ideen Herbert Marcuses sympathisierenden Dieter Wellershoff indessen nicht ohne innere Fragwürdigkeit war, »wenn sich zeigen sollte, daß die Distanzierung von den Frustrationen der Kultur historisch gesehen nur ein kurzes Zwischenspiel war, weil statt des erhofften Reiches der Freiheit ein neues Reich des Mangels und der Notwendigkeit beginnt.« Vgl. D. Wellershoff, Die Auflösung des Kunstbegriffs, S. 127f. - Mit den inzwischen nur allzu deutlichen »Grenzen des Wachstums« ist dieses neue »Reich des Mangels und der Notwendigkeit« indessen längst schon historische Wirklichkeit, die es gestattet, die Utopien der »Großen Weigerung« und ihr soziales Schicksal als Ausdruck einer historisch gewordenen Wohlstandsgesellschaft zu sehen. Ohne lässig zynischen Unterton geht es dabei nicht ab: »Herben Marcuses These, daß das Wachstum der Produktivkräfte den gesellschaftlichen Zwang überflüssig mache, war die optimistische Grundannahme, die den Protest integrierbar erscheinen ließ in die allgemeine Aufwärtsbewegung. Warum sollte es nach der Eß-, Kleidungs-, Wohnungs-, Motorisierungs- und Reisewelle, durch die die Bundesbürger ihren ökonomischen Aufstieg markiert hatten, nicht auch noch eine Emanzipationswelle geben? Warum sollte man nach harter Arbeit nicht ein Feierabendhippie werden? Es war gut, locker zu sein, man mußte seine Sensibilität, seine Sexualität, seine Ausdrucksfähigkeit, sein Verbalisierungsvermögen entwickeln. Es war eine fäl-

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Der im »Augenblick« des Todes erfahrene Wunsch nach Erlösung und Ruhe, welcher dem namenlosen Protagonisten der »Schattengrenze« durch seine eigene Erinnerung des Krieges hindurch aufleuchtet und im Grunde sein ganzes Leben bestimmt, zeigt deutlich, daß die von Herbert Marcuse beschworene Utopie, welche den Todestrieb in sich aufnimmt und Eros und Thanatos, Orpheus und Narziß als Urbilder der Befreiung miteinander zu versöhnen sucht, 12 einer Tendenz entspricht, die in der authentischen Wunscherfahrung der literarischen Figuren von Dieter Wellershoff als Tendenz bereits eingelöst und realisiert ist, obgleich durch den Schrecken hindurch, welcher der Preis auch der Ruhe zu sein scheint. Daher das ständige Dunkel, in welchem der Namenlose sich bewegt - ein Zeichen für seine Not wie für seine geheimsten Wünsche und das Begehren auch seines Textes. Zugleich wird damit eine Tendenz erkennbar, die auch in anderen Romantexten Dieter Wellershoffs ihre Fortsetzung findet, wenn diese die irritierende Ambivalenz des Todes zwischen Auslöschung und Utopie immer wieder in den initial wirkenden Schneelandschaften zu inszenieren suchen, die mit der Lockung der Selbstaufgabe verbunden sind und der die Figuren mit einer spürbaren Kühle auch in der Erzählhaltung ausgesetzt werden. Besonders typisch dafür ist eine Stelle aus der »Sirene«, einer Novelle, wo der von einer Unbekannten am Telefon, mehr aber noch von etwas Unbekanntem in seinem eigenen Unbewußten angelockte und zu einem verzweifelten Kampf mit der doppelt imaginären Stimme aufgerufene Pädagogik-Professor Elsheimer bis an den Rand der Selbstaufgabe geführt wird: Es war wärmer geworden. Wieder fiel Schnee, der in der Ebene wohl als Regen niederging. Die Flocken fielen wirbelig durch die unruhige Luft und löschten überall die Spuren auf den Wanderpfaden und Forstwegen durch die Wälder, als sei niemand hier gewesen. Elsheimer war allein zum Stausee gegangen und dort, in der atemlosen Stille des Talkessels, umschlossen von der Reglosigkeit der weißen Fichtenhänge, hatte er einen Anfall würgender Angst. Er blickte hoch, und da kam der Schnee über ihn als eine Auflösung des Him-

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lige Neuanpassung ans inzwischen Erreichte, als zöge man in eine größere, bessere Wohnung um und leiste sich darin mehr Selbstentfaltung und Diskussion.« Vgl. D. Wellershoff, Die Arbeit des Lebens, S. 122f. - Eine Relativierung der Utopie freilich bedeutet dies nicht, im Gegenteil; denn in dem Maße, in dem erneut Mangel und Notwendigkeit das soziale Schicksal des Individuums bestimmen, bleibt auch die Sehnsucht nach der erlösten Ruhe des Todes im Einzelnen virulent, als Teil jener Utopie, in welcher die Einheit von Leben und Tod sich erfüllen soll, jene Versöhnung von Eros und Thanatos, die in der Prosa von Dieter Wellershoff gerade auch vor dem Hintergrund der sozialen Notwendigkeit und der inneren Not deutlich und mehrwertig zugleich zum Vorschein kommt. Vgl. H. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S. 158ff.

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mels. Grau, grau, millionenfach - wie konnte man dem standhalten, dieser Verschüttung der Welt, dieser pockenarlig niederfallenden Dämmerung, ihrer lautlosen, gleichgültigen Unaufhaltsamkeit, die ihn einhüllte und einschloß und alle Richtungen verwischte. Bleib hier, sagte der Schnee, hier in der Stille, in der Sanftheit, und wenn dir schwindelig wird vom Hochschauen, leg dich auf den Rücken, laß dich zudecken, das willst du doch. Niemand kommt, niemand sieht es, du kannst es einfach tun.' 1

Wovon der Schnee spricht, ist nicht mehr nur der Tod, sondern die Stille, welche den Tod zum Versprechen macht, zu einer »promesse de bonheur«, die die imago des Mütterlichen und jener Ruhe zeigt, in welcher der Kampf des Lebens sich zu erfüllen und auch die Utopie sich zu realisieren scheint, obgleich Elsheimer selbst sich schließlich auch ihr zu entziehen sucht; denn nachdem er die Stimme am Telefon durch ein »Potpourri aus Vivaldi, Bach und Händel, den großen Meistern der prunkvollen Lebensfreude« zuletzt so stilvoll wie grausam ersäuft hat, sitzt er zuletzt nur noch mutlos an seinem Schreibtisch: Eine fade Mißstimmung breitete sich in ihm aus. In einer Stunde gab es Mittagessen, nachmittags war eine Sitzung am Institut. Und morgen? Ging es weiter. Der Alltag begann. Oder wie sollte er es nennen? Das endliche Erwachsenwerden, das beginnende Alter, die Vernunft? Dieser Tisch da voller Papiere, darauf mußte er sich einstellen. Bücher mit eingesteckten Lesezeichen, die die wichtigen Textstellen markierten. Die wichtigen Textstellen, großer Gott! Warum haue sie alles an sich gezogen, alles mit fortgerissen in ihr Dunkel, ihre Unerkennbarkeit? Warum fühlte er sich so leer?14

Elsheimers schwer errungener Sieg über die Sirene und ihre zu geheimer Lust, Entgrenzung und Ichverlust lockende Stimme, dessen positives Moment Christian Linder als Weg von einer unbewußten zu einer bewußten und gleichsam integrierten Leere zu fassen versucht hat, 15 ist und bleibt damit ein Pyrrhus-Sieg, welcher den Sieger besiegt zurückläßt. Die bewußte Leere läßt Unbewußtes zurück, nicht integriert, sondern weiterhin abgespalten, wartend auf einen nächsten Anruf und Aufruf, bestehend auf seinem Recht, das ihm vom fortdauernden Realitätsprinzip und seiner Repression selbst zuwächst, dem auch der bewußte Professor sich wieder beugen muß. Auch die bewußte Leere ist nicht die Leere des Schnees, nicht jene Stille, in welcher das mütterliche Versprechen dem Kinde den Schutz eines behüteten Schlafs verspricht, erst recht kein Nirwana, in welchem die unheilvolle Dynamik der Triebe und allen Lebens sich zum erfüllten Stillstand der Zeit und zur Ewigkeit hin entspannt, sondern zuletzt nur ein

13 14 15

D. Wellershoff, Die Sirene, S. 117 (Hervorhebungen von U. T.). Vgl. D. Wellershoff, Die Sirene, S. 141. Vgl. Ch. Linder, Was die Lust ausmacht beim Leben. Dieter Wellershoffs Novelle »Die Sirene«. In: Süddeutsche Zeitung, 79. Jg., 1980.

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nicht mehr gelebtes und darum totes Leben, ein schleichender Tod ohne inneres Leuchten und ohne verborgenen Glanz. Elsheimers später - und ohnehin mehr zur Provokation des realen Lesers inszenierter16 - Sieg über die Sirene und über die in ihm selbst lockenden Stimmen von Lust und Tod scheint daher eher die traurigen Helden der frühen Romane zu bestätigen, welche den Weg der Lockung und ihres gänzlichen Scheitems zu Ende gehen und darin ihre Bestimmung erfüllen. Die Chiffre des Todes behält ihr Recht und ihre lockende Macht, und damit auch bleibt der Tod Utopie des Lebens in dem Maße, in welchem das Realitätsprinzip seinen ihm eigenen Fluchtpunkt im Tode hat. Am Beispiel Elsheimers wird zugleich aber auch deutlich, daß selbst der utopisch angeleuchtete Wunsch nach der erlösten Ruhe des Todes im Zeichen der Krankheit steht und damit zweideutig bleibt. Wie der Namenlose der »Schattengrenze« an Kriegsneurose und Wiederholungszwang, so leidet Elsheimer insgeheim an einer im Grunde sado-masochistischen Triebstruktur, in der das Nirwana-Motiv tiefer fundiert ist. Von Beginn an ist die Beziehung zwischen Elsheimer und der Sirene ein »Machtkampf«, 17 auf den Elsheimer sich bis an den Rand schizoider Spaltungsvorgänge einIäßt, weil es die Unterwerfung ist, die ihm Lust bereitet, kaum die erotische Lockung. Die äußerste Grenze seines Gehorsams und seiner Selbstaufgabe ist daher erreicht, wo der Machtkampf die Sphäre des Sexuellen berührt. Nachdem die Stimme am Telefon ihn ins Bordell schicken will, wo er »stellvertretend« für ihren Leib mit einer Hure schlafen soll, wußte er, daß er etwas Wichtiges über sie erfuhr, etwas, das er nur noch nicht begriffen hatte, das aber sein Verhältnis zu ihr veränderte. >Gut, ich werde es tun,< sagte er. Er wunderte sich darüber und auch über den Schwall von Liebesbeteuerungen, den er damit auslöste."

Erst an späterer Stelle gibt der Text der Novelle Elsheimers scheinbare »Schlüsselerkenntnis« preis, die ihm zeigt, wer sie war: eine Neurotikerin, geplagt von Wiederholungszwängen. Sie hatte Angst vor dem Sex, aber in der Phantasie war sie eine Hure. Vielleicht war ihre Mutter eine Hure gewesen, hatte sie in einem Heim abgegeben. Und dort

" Daß der Schluß der »Sirene« lange Zeit auch für den Autor nur als tödliche Katastrophe des Helden denkbar war, dann aber doch zu jener seltsamen Indifferenz dem dargestellten Problem gegenüber umgestaltet worden ist, mit der die gedruckte Fassung beschlossen wird - darin sieht übrigens auch Dieter Wellershoff selbst das eigentlich Provozierende seiner Novelle und einen Grund seiner Umarbeitung, wie der Autor in dem schon erwähnten Kölner Gespräch mit Seminarteilnehmern und mir im Winter 1985 erläutert hat. Vgl. hierzu auch: U. Tschierske (u.a.), Spiegelungen, Gespräch mit dem Kölner Schriftsteller Dieter Wellershoff, S. 22f. 17 Vgl. D. Wellershoff, Die Sirene, S. 27f. " D. Wellershoff, Die Sirene, S. 108f.

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hatte sie angefangen zu träumen von Liebe oder Rache. Sie war nie aus diesen Träumen aufgewacht. Ja das war es, er sah es jetzt, es war eine Krankheit. Ein Grund, sich zu schütteln, es von sich wegzustoßen. Donnerstag. Der Tag der Heilung und der Drachentötung.19

Doch auch Elsheimer wacht aus seinen Träumen und seiner verborgenen Krankheit nicht auf, denn ihm entgeht trotz aller scheinbaren Bewußtheit, daß seine Erkenntnis im Grunde nicht der Sirene, sondern weit mehr den verdrängten und abgespaltenen Ich-Anteilen des eigenen Selbst entspricht, die nur in der schützenden Hülle der täuschenden Projektion an die Oberfläche des Bewußtseins treten können. Elsheimers Handlungen nach dem Befehl zum Bordellbesuch verraten mehr von seiner psychischen Disposition als die äußerlich flache »Schlüsselerkenntnis«, die dem psychologisch geschulten Pädagogik-Professor gewiß nicht die Offenbarung sein kann, zu der er sie stilisiert, weil er selbst auf dem Spiele steht. Zum ersten Mal seit dem Beginn der Anrufe fühlt er deutlich sein »Abgegrenztsein« und dreht den Spieß gleichsam um, indem er den Befehl zum Bordellbesuch und zum stellvertretenden Beischlaf nicht unmittelbar befolgt und stattdessen ins Rothaargebirge flieht, wo er sich aufrüstet für »Kampf« und »Drachentötung«.20 Zugleich ist damit auch der entscheidende Wendepunkt der Novelle erreicht: Elsheimer, unerreichbar versteckt wie sein Widerpart, reißt zunehmend die Initiative des Handelns an sich, die zugleich die Bedingung des eigenen Überlebens ist. Aber das geschieht weniger durch Erkenntnis. Entscheidend für seine Machtergreifung und für den Wendepunkt der Novelle ist vielmehr die Neuorganisation seiner psychischen Energien, die dem Hurenhaß des konventionellen Bewußtseins folgen und sich zunehmend von masochistischen auf sadistische Triebregungen hin verschieben. In der Matrix der sado-masochistischen Triebstruktur wird damit die Opferrolle mit der des Täters vertauscht und eine aktive Demütigung der Sirene eingeübt, die ihren Fluchtpunkt in der festlich inszenierten »Drachentötung« am Schluß der Novelle hat.

" D. Wellershoff, Die Sirene, S. 138 (Hervorhebungen von U. T.). Auch charakterologisch gesehen geht es nur vordergründig um erotische Lockung und Lust, »denn Elsheimers psychologische Selbstbeobachtung lässt letztlich nur >reflektierte< Verführung zu, einen doch noch kontrollierten Sinnlichkeitsrausch, der den Rückzug offenhält. Dieser Eindruck wird auch durch den Stil der Erzählung gefördert, die trotz ihrer personalen Erzählperspektive auch in den Szenen sexueller >Selbstvergessenheit< und sich auslebender Wunschphantasie ihren durchkomponierten Duktus beibehält. Sprachlich teilt sich dem Leser mehr Elsheimers Analyse seiner Verfallenheit mit als die sinnliche Unmittelbarkeit des Erlebens.« H. Gnüg, Die Geschichte einer »utopistischen Neurose«. Dieter Wellershoff: »Die Sirene«. In: Neue Zürcher Zeitung, 23.4.1980. 20 Vgl. D. Wellershoff, Die Sirene, S. 109, 138.

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Was die »Sirene« thematisiert und als literarischer Text leistet, ist eine Darstellung des kulturellen Todes, »den der Liebeswunsch erleidet unter der Herrschaft einer triebverneinenden Moral«.21 Die Struktur des psychischen Konfliktes ist allerdings weit komplexer als das binäre Konfliktmodell einer Opposition zwischen Es und Über-Ich im Sinne des frühen Freud. Zwar leidet auch Elsheimer unter der klassischen Spannung von Lust und Gewissen, doch verrät die Struktur seiner Lust ihre Herkunft aus seiner masochistischen Triebanlage, in der das Objekt des Liebeswunsches zurücktritt und aus den narzißtischen Spannungen rund um die Ich-Identität zum imaginären Subjekt einer obszönen Liebesbeziehung mit deutlich sadistischen Zügen wird. Was die Novelle bis zu ihrem Wendepunkt hin erzählt, ist eine lustvolle Delegation von Macht an die Stimme am Telefon, deren Quelle vor allem das scheinbar lustfeindliche Über-Ich ist. Entsprechend erscheint das Über-Ich im Text der Novelle nicht nur als normenkonforme Vernunft und als schlechtes Gewissen, nicht nur als die Instanz, die sich gegen die Einflüsterungen der Sirene zur Wehr setzt, sondern zugleich als Instanz, die mit der masochistischen Lust an der Unterwerfung paktiert: Das ist meine Wohnung, dachte er, oder sagte es sich gleichsam vor, und sah sich selbst im Schlafanzug mit dem Telefon auf dem Boden liegen, ein wenig gekrümmt und seitlich aufgestützt, in der üppigen Haltung eines Flußgottes oder Tritons, doch von oben aus gesehen, aus einer unbestimmten Höhe über sich, wohin ein abgespaltener, widerspenstiger Rest seiner Person geflohen zu sein schien und in höhnischer Zustimmung auf ihn herabblickte22

Unschwer deutet die topologische Bestimmung »von oben aus gesehen« auf das kritische Über-Ich im Instanzenmodell Freuds, auf das Gewissen hin, das die allmähliche Auflösung der vernünftigen Ich-Identität »mit höhnischer Zustimmung« unterstützt und daran auch seine eigene Lust und Befriedigung hat. Voraussetzung dieser Zustimmung und dieser besonderen Form der Lust ist das Fehlen jeder Objektlibido, und so entsteht auf der Grundlage der klassischen Spaltung von Lust und Vernunft eine zweite Spaltung innerhalb des psychischen »Apparats«: Die Spaltung verschiedener Anteile innerhalb nur einer einzigen psychischen Instanz, des ÜberIch. Auf der Ebene des Textes bilden das Über-Ich und die ihm scheinbar entgegengesetzte Libido so eine Einheit, die sich als masochistischer Zirkel beschreiben läßt: Er fing an, von seiner Zerstörung zu leben. Je mehr er der Versuchung erlag, um so mehr verachtete er sich und um so ausschweifender bestrafte er sich täglich mit neuen Niederlagen und Unterwerfungen." 21

22 23

Vgl. D. Wellershoff, Der Gesang der Sirenen. In: Literatur und Lustprinzip, S. 149. D. Wellershoff, Die Sirene, S. 33 (Hervorhebungen von U. T.). D. Wellershoff, Die Sirene, S. 101 (Hervorhebungen von U. T.).

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Die sadomasochistische Triebdynamik treibt daher nicht nur zur masochistischen Lust an der Unterwerfung, sondern weit radikaler zur Lust an der Aufgabe des eigenen Ich, zum Untergang der Ich-Identität schlechthin. Die Gestalt Elsheimers bestätigt damit die Erkenntnis des späten Freud, nach welcher man im Sadismus eine [...] trieb vor dung der die sonst

besonders starke Legierung des Liebesstrebens mit dem Destruktionssich [hat], wie in seinem Widerpart, im Masochismus, eine Verbinnach innen gerichteten Destruktion mit der Sexualität, durch welche unwahmehmbare Strebung [...] auffällig und fühlbar wird. 24

Sowohl die Lust an der Demütigung als auch die Lust an der Unterwerfung, die sich beständig aneinander hervorbringen, münden stets in die Lust an der Ich-Aufgabe, deren Ausdruck sie sind, zumal die zirkuläre Eigendynamik der sado-masochistischen Triebstruktur selbst dafür sorgt, daß keine Instanz der Psyche sich mehr der Lust an der Selbstvemichtung zu widersetzen vermag. Auch die Gestalt Elsheimers untersteht daher nicht weniger als der Namenlose der »Schattengrenze« der unheilvollen Dynamik des Wiederholungszwangs, ihr - novellistisch unerfüllt bleibendes Triebziel und ihre verborgene Liebe ist nicht das Leben, sondern der Tod, der zwischen der Härte des sadistischen Wunsches nach Selbstvernichtung und einer zarten Sehnsucht nach dem Nirwana-Prinzip oszilliert, das die Novelle vor allem im Kontext des Schnee-Motivs realisiert. In diesem Flakkern seiner Bedeutung erscheint der Tod zweideutig, ein ambivalentes Zeichen wie auch der zwiespältige Schluß der Novelle, dem er sich mitgeteilt hat: Die »fade Mißstimmung« und die Leere, welche Elsheimer bleiben, sind auch Gestalten der Ruhe, matte Nachbilder jenes Nirwana, zu dem seine Triebe sich morgen schon wieder aufmachen können, weil sich tief unten nur wenig geändert hat. Wie zu Beginn könnte es schneien, jetzt, wo Elsheimer wieder an seinem Schreibtisch sitzt, eine neue Geschichte könnte beginnen, denn von dem internen Konflikt der sado-masochistischen Triebstruktur ist jene Form der Neurose geblieben, die Freud als »Ausgang des Kampfes zwischen dem Interesse der Selbstbewahrung und den Anforderungen der Libido« beschrieben hat, nach psychoanalytischer Erkenntnis »ein Kampf, in dem das Ich gesiegt« hat, »aber um den Preis schwerer Leiden und Verzichte.«25 Was bleibt, ist die utopische Sehnsucht nach dem Nirwana im Zeichen von Krankheit und Tod. Die exemplarische Analyse vor allem des Todesmotivs zeigt, daß der Tod in der Prosa von Dieter Wellershoff als hochkomplexes und mehrwertiges Zeichen zu sehen ist, das als Paradigma auch der utopischen 24

25

Vgl. S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur. In: S. Freud, Gesammelte Werke IX, S. 245. Vgl. S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, S. 245.

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Dimension einer sich realistisch verstehenden Literatur gelten kann. Indem er auf nichts außerhalb der besonderen Lebensgeschichte der einreinen Romanfiguren und ihren sozialen Kontext bezogen ist und vor allem auch keinerlei metaphysische Verweisungen mehr in sich enthält, 26 ist der Tod ein gleichsam in sich kreisendes und in sich selbst bedeutendes Zeichen, ein »Realsymbol« und eine Chiffre in jenem schon früh von Ernst Bloch bezeichnetem Sinn, wonach die Bedeutung der Chiffre an das »Dunkel des gelebten Augenblicks« gebunden bleibt und daher kein Außerhalb meint, sondern das, was »letzte Zukunft, endlich echte Gegenwart ist, sich in Existenz befindliches Selbstproblem, noch unbekannte, unfertige Utopie.« 2 7 Als »Realsymbol« verweist die »Realchiffre« nicht auf die idealisierten Perspektiven einer utopischen Zukunft, sondern auf das noch unerlöste Ding selbst, genauer auf das, »wonach

das Ding

dieses ist, was noch nicht ist, das im actualiter zen der Objekte

an sich selber Dunklen,

Blauen,

allenthalben im Her-

treibt.«2*

Worin der »Geist der Utopie« damit gründet, ist eine Metaphysik des Noch-Nicht, aus der eine »Ästhetik des Vorscheins« entwickelt wird, in der Bloch den Sinn der »Real-Chiffre« darauf zurückführt, daß der Weltprozeß selber eine utopische Funktion ist, mit der Materie ais objektiv Möglicher als Substanz [...] Die gesellschaftlich bedingte jeweilige Richtungslinie aufs Zentrale hat in der - lange Strecken durch Religion führenden - Geschichte des Symbols differiert, nicht differiert aber hat der jeweils immer wieder gemeinte Grundbezug des Symbol-Gleichnisses auf ein >Unun, Verum, Bonum< der Essenz. Indem jedoch gerade diese Essenz nur im andeutungsweise realisiert Möglichen liegt und noch nirgends anders liegen kann, ist das Symbolische - was nun entscheidend wichtig - nicht nur in seinem Ausdruck, sondern, bei allen echten Symbolen, ebenso in seinem Inhalt selber noch verhüllt. Denn der echte symbolische Inhalt selber ist noch im Abstand von seiner vollen Erscheinung, er ist darum auch objektiv-real eine Chiffer."

26

Das Beispiel des Todes zeigt sehr deutlich, daß es sich in den poetischen Werken von Dieter Wellershoff keinesfalls um »eine umgekehrte Metaphysik, das heißt existenzielle Antwort ohne sinnbildliche Endbilder« handelt, wie es bei Karl-Heinz Bohrer ohne zwingend plausiblen Grund heißt. Vgl. K.-H. Bohrer, Was bleibt der Phantasie? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 64, 1967 (Es handelt sich um eine eingehende Rezension von Dieter Wellershoffs »Neuem Realismus« im Zusammenhang mit seinem Roman »Ein schöner Tag«). Eine metaphysische Dimension wird in dieser Prosa nirgendwo eröffnet oder gestiftet, auch nicht in jenem ominösen Zustand der »Umkehrung«, bei der man sich ohnehin fragt, was sie bedeuten mag. 27 Vgl. hierzu vor allem schon: E. Bloch, Geist der Utopie. Frankfurt a.M. 1973, S. 237ff., 25 Iff., 256. Vgl. hierzu auch die in diesem Zusammenhang wichtige Unterscheidung von Allegorie und »Realchiffer«: E. Bloch, Ästhetik des Vorscheins I, hrsg. v. G. Ueding, Frankfurt a.M. 1974, S. 42, 299ff. " Vgl. E. Bloch, Geist der Utopie, S. 253. 29 Vgl. E. Bloch, Ästhetik des Vor-Scheins I, S. 301, 42. - In diesem Sinn ist

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Obgleich der Sinn der Realchiffre notwendig verhüllt bleiben muß - als erfüllte Ruhe bleibt auch der Tod Zeichen der Utopie, ein »individueller Augenblick« als Realisation eines letzten Glücks der Gestalten durch die anhaltende Not und Angst ihrer Existenz hindurch. Zugleich damit ist die Chiffre des Todes zum Repräsentanten einer utopischen Repräsentativität des beschädigten Lebens geworden, welche stets kritisch ist und kritisch bleibt, zum Paradigma jenes ominösen und schwer nur faßbaren Zugleich, in welchem Kritik und Utopie sich wechselseitig konstituieren und sich durchdringen, ohne sich je zu einer dialektischen Einheit runden zu können, durch welche die kritische Konstitution des Utopischen im zweideutig bleibenden Zeichen von Krankheit und Todestrieb hartnäckig hintertrieben würde. Die Utopie des Todes bleibt ambivalent. Auch die hinter der

auch Dieter Wellershoff gegen »Allegorien, aber nicht gegen Realsymbole, die in der Realität wirklich vorkommen« und im Zusammenhang mit der besonderen Lebensgeschichte der literarischen Figuren zuweilen auch einen Sinn gewinnen, der der »Ästhetik des Vor-Scheins« entspricht. Vgl. D. Wellershoff, Die Wahrheitsbedingungen der Literatur. Gespräch mit Michael Fabian, 13.12.1978. In: Die Wahrheit der Literatur, S. 151. - Gleichwohl wird auch Blochs Ästhetik des Vorscheins, auf die Dieter Wellershoff sich so häufig beruft, mit Kritik nicht verschont, denn Blochs »Exempel sind die großen Meisterwerke der Vergangenheit - die gotische Kathedrale, die klassische Musik von Bach bis Beethoven, Goethe, die große europäische Landschaftsmalerei, also die Werke, die, marxistisch gesehen, der bürgerlichen Aufstiegsperiode angehören und deshalb noch als progressiv gelten. In ihnen entdeckt Bloch utopische >Überholungsbilderkleines Geschlecht < die Szene beherrscht, so daß die längst überfälligen historischen Latenzen nicht in Erscheinung treten können. Das sind Argumentationswege einer mythisierenden Geschichtsbetrachtung, die ihre Vorlieben gegen die Erfahrung abdichtet und so gegen ganze Epochen recht behält.« Vgl. D. Wellershoff, Die Auflösung des Kunstbegriffs, S. 82f. - Diese Kritik bleibt unverständlich, weil schon das Bild eines gegen jede neue Erfahrung abgedichteten und in der Kunst der Moderne nur Verfall erkennenden Geschmacks eher den späteren Lukács zu porträtieren scheint denn Emst Bloch, dessen von traditionalistischen Zügen gewiß zwar nicht freies Kunstverständnis immerhin doch so offen blieb, um den Sinn für den modernen Expressionismus und für das Werk Bertolt Brechts ständig zu kultivieren und gegen Kritiker zu verteidigen. Noch unverständlicher wird die Kriük dadurch, daß sie den Vorschein der Utopie als »nur symbolisch, nur zeichenhaft, nie konkret kenntlich« kritisiert - denn in Dieter Wellershoffs Prosa und seinem Verständnis von Literatur ist es kaum anders, wenn die utopische Dimension seiner Romane notwendig »unausgesprochen« bleibt und an den utopischen Bildern je etwas aufgeht, »das in den Bildem zugleich enthalten und verborgen ist«, zugewandt einer »Sehnsucht, die leer bleibt, ein unbestimmtes Drängen zu etwas hin, das sich entzieht, wenn man es fassen will...« Vgl. D. Wellershoff, Der Gesang der Sirenen. In: Literatur und Lustprinzip, S. 150. Vgl. auch: Literatur und Veränderung, S. 43, 141.

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Chiffre des Todes aufleuchtende Idee der Befreiung und ihr im Moment realisiertes Glück sind Teil dieser umfassenden Zweideutigkeit, denn schon theoretisch versagen sie sich jeder bruchlosen Bejahung - nicht nur, weil der »Augenblick« sich nicht festhalten läßt und in der Sehnsucht nach eigenem Scheitern und Tod zugleich seinem eigenen Untergang entgegenzutreiben bestimmt ist, sondern vor allem, weil jede Fixierung des »Augenblicks« gegen jenes grundlegende Gesetz des Imaginären verstößt, das das im Moment Realisierte als schon Verschobenes und in sich Entstelltes enthüllt, welches den ursprünglichen Mangel nie völlig ersetzen kann, vor allem nicht in der Gestalt des Wiederholungszwanges und seiner Fixierung an Krieg und Tod. Jede Bejahung des Todes oder gar seine Verherrlichung und Verklärung entspricht daher einer Fixierung des »Augenblicks«, welche sowohl seinem Wesen als auch dem Geist seiner aufs Werden und auf Veränderung drängenden Utopie entgegen ist, indem das Organ des Imaginären, das kontrafaktische Vermögen der Phantasie, sich mit seiner Fixierung der Sehnsucht im Tode auch selbst fixiert und an seiner eigenen Verabsolutierung schließlich zugrundegeht. Auch die kontrafaktische Phantasie, das Organ aller Produktivität sui generis, »kann, weil er unüberwindlich ist, den Widerstand der Realität leugnen und illusionär oder wahnhaft werden, also auf das Niveau des kindlichen Allmachtstraums zurückfallen«, wo jedes Wissen und Werden in Schall und Rauch aufgeht.30 Ist schon der »Ursprung der Phantasie ... die Leugnung einer unerträglichen und übermächtigen Wirklichkeit«,31 so entsteht umgekehrt wirkliches Wissen für Dieter Wellershoff glaubhaft nur dort, wo das Leben auf Widerstand stößt, es wird hervorgerufen durch Versagungen, die dem Menschen seine Endlichkeit bewufit machen. Insofern sind alle Widerstandserfahrungen Vorspiele des Todes. Doch am Widerstand zeigt sich das Leben auch als eine vorwärtsdrängende Kraft, die nicht aufgeben will, die Umwege und Auswege sucht, und, wo sie sich nicht unmittelbar praktisch entfalten kann, überspringt in die virtuelle Praxis der Phantasie

Nur in der anhaltenden Resistenz der Wirklichkeit gibt es demnach eine Erfahrung von ihr, weil nur am Widerstand des Realen sich auch jene

" Vgl. hierzu: D. Wellershoff, Zukunft und Tod. In: Das Verschwinden im Bild, S. 47. - Daß der Umschlag von Phantasie in bloßen Wahn auch in scheinbar harmlosen Prozessen jederzeit möglich ist, hat Dieter Wellershoff übrigens auch sehr anschaulich am Beispiel des Blödeins demonstriert. Vgl. D. Wellershoff, Infantilismus als Revolte. Zur Theorie des Blödeins. In: Das Verschwinden im Bild, ebenda, S. 59ff. 11 Vgl. D. Wellershoff, Zukunft und Tod. In: Das Verschwinden im Bild, S. 46. Vgl. auch: Die Verneinung als Kategorie des Werdens. In: Literatur und Lustprinzip, S. 63f. " D. Wellershoff, Zukunft und Tod. In: Das Verschwinden im Bild, S. 46 (Hervortiebungen von U. T.).

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produktive Kraft der kontrafaktischen Phantasie zu entzünden vermag, welche auf seine Veränderung drängt. Der Fluchtpunkt der kontrafaktischen Phantasie und doch das Gegenteil ihrer imaginären Dynamik und Produktivität ist die wahnhafte Leugnung der Realität, die sich gerade auch in der Phantastik in sich verabsolutierter Utopien zeigt. In der Leugnung der Realität entspricht die fixierte und in sich erstarrte Phantasie der Verdrängung des Todes wie ihrem scheinbaren Gegenteil, der an den Romanfiguren selbst deutlichen und weit von jeder Romantik entfernten Sehnsucht nach jener Stille des Todes, der das utopische Plus des Nirwana zu eigen ist, im Horizont der Gestalten aber zu einer dem »individuellen Augenblick« wieder enthobenen und in der Zeit fixierten Utopie des Todes wird, aus der endlich nur noch die ambivalent bleibenden »Lüste der Regression« sprechen. An den Gestalten der fiktionalen Szenarien wird deutlich, daß die fixierte Sehnsucht nach der Stille des Todes jede Erfahrung von Realität schemenhaft werden und sich verzerren läßt; dies übrigens ist auch der tiefere Grund dafür, daß die aus der Innenperspektive der Protagonisten erzählten Romane Dieter Wellershoffs von der sozialen Realität ihrer Figuren oft nur ein schemenhaftes und wenig präzis scheinendes Bild zeichnen. Zugleich aber zeigt sich noch mehr. All diese Figuren leiden gleich Kranken an derselben Grundstörung. Sie können ihr Ich nicht von der Außenwelt oder ihren inneren Zuständen oder aus Situationsschablonen lösen. Sie sind unfähig, das faktisch Gegebene zu verneinen, um abweichende Möglichkeiten zu entdecken oder sich vorzustellen. Sie haben überhaupt keine Phantasie."

Dem Mangel an Phantasie und der Unfähigkeit zur Verneinung entspricht nur die groteske Phantastik einer dem »individuellen Augenblick« enthobenen und von der Chiffre zum Lebensprogramm abgesunkenen Utopie des Todes, zu welcher die Protagonisten sich stets schon verstiegen haben, unwissend darüber, daß das Imaginäre nur in seinem Entzug jenen ihm eigenen Widerstandscharakter hat, welcher das Glück des »individuellen Augenblicks« und mit ihm den vielfachen Reichtum des Poetischen selbst erst eigentlich ermöglicht und ausmacht. Doch während die Protagonisten sich in der haltlosen Utopie des Todes und des auch imaginären Scheiterns verfangen, markiert der Romantext sehr deutlich die kritische Differenz zwischen sich und seiner Figur, indem er die Utopie des Todes mehrfach relativiert und sie nur für den »individuellen Augenblick« selbst zu retten sucht. Selbst der »individuelle Augenblick« bleibt hierbei jedoch keineswegs frei von Spuren der kritischen Differenz, in welcher die Utopie des Todes sich konstituiert und zu" Vgl. D. Wellershoff, Die Verneinung als Kategorie des Werdens. In: Literatur und Lustprinzip, S. 63 (Hervorhebungen von U. T.).

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gleich gebrochen wird. So sucht der namenlose Protagonist der »Schattengrenze« im wiederholten Erlebnis von Krieg und Tod zwar eine Verarbeitung des Verdrängten auf sein in ihm als Rätsel sprechendes Unerledigtes hin, aber doch so, daß die damit verbundenen »Bilder der Todesnähe und der Einsamkeit« sich ihm vor allem als Schutz darstellen »gegen die Forderungen der Gesellschaft, sich den Positivitäten ihres Realitätsprinzips zu fügen«. 34 Daher das Wohlgefiihl, welches den Namenlosen in der Einsamkeit der winterlichen Nacht, zwischen »Staub und Modergeruch« und mit dem Blick auf die Beerensträucher des nahen Bauemgartens davon überzeugt, daß nun alles unwiderruflich zu Ende war, der Krieg, sein Leben, aber zufrieden, allein zu sein und vielleicht hier noch einen Tag und eine Nacht bleiben zu können, versteckt zwischen den Strohballen seine eiserne Ration zu vertilgen und die letzten fünf Zigaretten zu rauchen. Das war es, was er gewünscht hatte, nicht mehr [...]" Die Erinnerung selbst zeigt nicht nur, daB der Schutz dem Namenlosen nur als Versteck dient, in welchem er vor dem Realitätsprinzip und vor den Anforderungen des Lebens überhaupt sich verkriecht; sie zeigt darüber hinaus, daß der Prozeß der wiederholten Erinnerung im Grunde auch selbst keine andere Funktion hat als die der verneinenden Lebensvermeidung, welche es immer wieder verhindert, daß eine Verarbeitung des Erlebten und mit ihr auch eine neue Form der eigenen Lebensgestaltung wirklich zustandekommt. Die erinnernde Wiederholung und mit ihr die verdeckte Lust, die von den Chiffren des Todes ausgeht, sind daher auch selbst ein Versteck, das unter die sprechenden Zeichen von »Staub und Modergeruch« fällt und die durchgehende Strategie der Differenzierung zwischen Figur und Text verdeutlicht, in welcher die Utopie des Todes sich noch in ihrer an den »individuellen Augenblick« gebundenen Gestalt relativiert und kritisch gebrochen wird. Noch der Gesang der Sirenen, welcher doch mit dem »individuellen Augenblick« der erlösenden Todesverheißung verknüpft ist, bleibt daher mit der Textstrategie einer kritischen Relativierung des Todes verkettet. Das zeigt radikaler noch als dte »Schattengrenze« die vergleichsweise späte Novelle. Obgleich er doch kurz zuvor noch »das ganze Tal zu seinem Versteck« gemacht hat, in dem er die eigene Unangreifbarkeit zu genießen sucht, entpuppt der Gesang der Sirenen, der Elsheimer dann »in der atemlosen Stille des Talkessels« ergreift, sich ihm doch nur als eine

34 35

Vgl. D. Wellershoff, Der Gesang der Sirenen. In: Literatur und Lustprinzip, S. 154. Vgl. hierzu noch einmal: D. Wellershoff, Die Schattengrenze, S. 43 (Hervorhebungen von U. T.). 77

würgende Angst, welche den unaufhaltsamen Schneefall zu einer »pockenartig niederfallenden Dämmerung« werden läßt, die ihn wie eine Krankheit und Seuche in ihren Klauen hält, bis er »gewaltsam« davon sich löst.36 Ist der dem Gesang der Sirenen folgende Elsheimer ein Opfer jener Regression, die sich als »Krankheit zum Tode« erweist, so ist auch der Sieger Elsheimer zuletzt doch kaum mehr als ein Besiegter, indem auch er schließlich dem unterliegt, was Dieter Wellershoff mit Nietzsche als »Maskenspiel des falschen Selbst« bezeichnet hat: Auch Elsheimers inneres Leben »willigt ein in die konformistische Heuchelei, so zu sein und sich selbst so zu verstehen, wie die anderen es erwarten, bleibt aber in der Tiefe unsozial, weil es den Konflikt zwischen sich selbst und der Umwelt nicht durchgearbeitet, sondern nur verdeckt hat.«37 Der Gesang der Sirenen ist daher kaum anderes als die Kehrseite des Realitätsprinzips und seiner heimlichen Faszination von Terror und Tod, zumal dann, wenn die Sehnsucht nach der erlösten Ruhe des Todes nur das Versteck des Lebens und der Inbegriff seiner Vermeidung ist. Auch der Text der »Sirene« zeigt daher wie schon die frühen Romane - aber auch mit einer weit mehr provozierenden Radikalität -,daß ein Versteck vor Leben und Tod nicht wirklich zu finden ist und im Grunde nur einer notwendigen und darum humanen Illusion gleichkommt, die in der anhaltenden Not und Mühsal des menschlichen Daseins selbst ersteht und an deren Fortdauer gebunden bleibt. Viele der unheldischen Helden in Dieter Wellershoffs Werken zeichnen sich vor allem dadurch aus, daß sie sich vor dem Leben verstecken und gerade dadurch an ihm zugrundegehen. Die Neigung zum Versteck und das Scheitern entsprechen sich hierbei mit einer Konsequenz der Psychologie, die besonders prägnant an der Gestalt Ulrich Vogtmanns hervortritt. Wenn er auch unter der dumpfen Qual der Vereinsamung leidet, so sucht Ulrich Vogtmann doch immer wieder Situationen der Einsamkeit auf, weil sie ihm als ein Schutz vor den Anforderungen des Lebens erscheinen: Seit er in Reichenbachs Wohnung hauste und tagsüber zwischen den Maschinen bei seiner einsamen Arbeit saß, hatte er kaum noch gesprochen. Das war ihm zunächst nicht bewußt geworden, außer als ein angenehmes Gefühl von Ungestörtheit und innerer Ruhe, in dem er sich, wenn er von der Arbeit heimgekehrt war, geschätzt fühlte?*

Das Motiv ist konstant. Vor allem auf seinen zahlreichen Zug- und Autofahrten genießt Vogtmann das Gefühl einer nahezu weltlosen Autonomie, 34

Vgl. D. Wellershoff, Die Sirene, S. 115f. Vgl. D. Wellershoff, Erkenntnisgliick und Egotrip. Über die Erfahrung des Schreibens. In: Das Verschwinden im Bild, S. 192f. " D. Wellershoff, Der Sieger nimmt alles, S. 31 (Hervorhebungen von U. T.). 37

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die als »Übergang« und Symbol der »Veränderung« eine »unbestimmte Zuversicht« ausstrahlt:39 Fahrend, ohne das Gefühl von Widerstand, läßt sich auch denken, daB alles noch zu ändern ist und alles noch bevorsteht. Das Beste wird noch geschehen. Dieser Gedanke, so weit, so tröstlich, ist ein Übergang zur Leere. Man ist aufgehoben in ihm wie in einem großen schützenden Raum und schrumpft zusammen auf Kopf und Hände, den Fuß auf dem Gaspedal, die Müdigkeit im Nakken. Fahren, fast ohne etwas tun zu müssen, als würde man getragen, als flöge man.40

Bis hin zur symbiotischen Einheit von Mensch und Maschine reicht die Empfindung, welche die Zukunftsträume des Protagonisten zu tragen scheint,41 während der Text des Romans gleichzeitig deutlich macht, daß die zuweilen ekstatisch erlebten Höhepunkte nur ein »Übergang zur Leere« sind, Illusionen eines Benommenen und Geblendeten, hinter denen die kritisch-symbolische Bedeutung des bloßen »Verstecks« steht, nach dem niemand mehr sucht. Das Resultat ist zunehmende Vereinsamung, die keinen Ausweg mehr kennt. Elisabeth: >Ich verstehe bloß nicht, daß du dich so abrackerst.< >Es geht nicht anders:« >Redest du dir das nicht ein?< >Nein< >Doch, doch, du ziehst dich in deine Arbeit zurück. Du versteckst dich dahinter. Auch vor dir selber.eine reinere Luft< einatmet, die er früher schon einmal geatmet hat, >jene reinere Luft, von der die Dichter vergebens behaupten, sie herrsche im Paradies, wo sie uns aber dieses tiefe Gefühl der Erneuerung auch nur darum geben könnte, wenn sie schon einmal eingeatmet wäre, denn die wahren Paradiese sind Paradiese, die man verloren hat.Schein< des noch Unwirklichen gerettet wird als der >Widerschein dessen, was sein könnteDer Tag der DrachentötungDie Träume der Wunschmaschine*. Essays übe1 H.M. Enzensberger, M. Frisch, A. Kluge, P. Weiss und D. Wellershoff, Reinbek 1981, S. 146-205. - , Was die Lust ausmacht beim Leben. Dieter Wellershoffs Novelle »Die Sirene«. In: Süddeutsche Zeitung, 79. Jg., 1980. E. von Kahler, Untergang und Übergang der epischen Kunstform. In: E. von Kahler, Untergang und Übergang. Essays, München 1970, S. 7ff. P. Kem, Dieter Wellershoff. Ein schöner Tag. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, 67. Jg., 1968, 4. Heft, S. 631-642. M. Kesting, Verteidigung der Subjektivität. Dieter Wellershoffs neuer Essayband. In: Die Zeit, 10.10.1969. R. Lachmann, Die »Verfremdung« und das »Neue Sehen« bei Victor Sklovskij. In: Poetica 3, 1970, S. 226-249. Th. Mann, Der Zauberberg, Stockholmer Ausgabe, 1959. H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, 18. Aufl., Dannstadt, Neuwied 182 (zuerst: 1967). - , Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Versuch über Sigmund Freud, Frankfurt a.M. 1970 (zuerst: 1955). - , Konterrevolution und Revolte, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1973 (zuerst: 1972). - , Repressive Toleranz. In: R.P. Wolff, Β. Moore, Η. Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, 6. Aufl., Frankfurt a.M. 1968 (zuerst: 1965), S. 91ff. O. Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1982. F. N. Mennemeier, Literatur und Wirklichkeit. Zu Heinrich Voimwegs literaturkritischen Aufsätzen und Dieter Wellershoffs neuem Roman. In: Neues Rheinland, Nr. 67, 1969, S. 28f. Κ. M. Michel, Ein Kranz für die Literatur. Fünf Variationen über eine These. In: Kursbuch, 15, 1968, S. 169-186. H. Neumann, Nebensächliches in Nahaufnahme. »Ein schöner Tag«. Dieter Wellershoffs erster Roman. In: Kölnische Rundschau, 30.9.1966. T. Phelan, Die Schattengrenze - »strukturelle Logik« und Utopie. In: Der Schriftsteller Dieter Wellershoff. Interpretationen und Analysen, hrsg. von R. Hinton Thomas, Köln 1975, S. 41-65. W. Powroslo, Erkenntnis durch Literatur. Realismus in der westdeutschen Literaturtheorie der Gegenwart, Köln 1976. M. Reich-Ranicki, Feierliche Undeutlichkeiten. Dieter Wellershoffs zweiter Roman. In: Die Zeit, Nr. 19, 1969. M. Routschky, >ErfahrungshungerEin schöner Tag< und >Die Schattengrenze