Der Staat als Genossenschaft. Zum rechtshistorischen und politischen Werk Otto von Gierkes [1. ed.] 9783848761289, 9783748902195

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Der Staat als Genossenschaft. Zum rechtshistorischen und politischen Werk Otto von Gierkes [1. ed.]
 9783848761289, 9783748902195

Table of contents :
Cover
Recht und Geschichte im Staatsverständnis Otto von Gierkes – eine Einleitung
Teil I: Aspekte von Gierkes Rechtslehre
Stadt, Land, Recht – ein prosopographischer Versuch. Otto von Gierke und die „Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte“
Gierke zwischen Freiheit und Sozialität
Gierkes Hinwendung zu einem sozialen Gemeinschaftsrecht vor dem Hintergrund seiner zeitgenössischen Bezüge
Gierkes Kritik am Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich
Teil II: Gierke und die Geschichte des politischen Denkens
Das Sippen-Kapitel in Gierkes „Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft“ und seine Quellen
Volkssouveränität missverstanden: Die Althusius-Rezeption bei Otto von Gierke in der Relektüre
Pufendorf und das Naturrecht bei Gierke
„Der absolute Staat und die absolute Individualität werden die Devisen der Zeit.“ Die Begriffe „Absolutismus“ und „Aufklärung“ im Werk Otto v. Gierkes (1841–1921)
Teil III: Zur Rezeption und Wirkungsgeschichte von Gierke
Rechtstheoretische Einflüsse auf die entstehenden empirischen Sozialwissenschaften: die Rezeption Otto von Gierkes durch Ferdinand Tönnies
Stiftung, Association, Institution. Gierke und Saleilles
Autoren/Autorinnen

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Wissenschaftlicher Beirat: Klaus von Beyme, Heidelberg Horst Bredekamp, Berlin Norbert Campagna, Luxemburg Herfried Münkler, Berlin Henning Ottmann, München Walter Pauly, Jena Wolfram Pyta, Stuttgart Volker Reinhardt, Fribourg Tine Stein, Göttingen Kazuhiro Takii, Kyoto Pedro Hermilio Villas Bôas Castelo Branco, Rio de Janeiro Loïc Wacquant, Berkeley Barbara Zehnpfennig, Passau

Staatsverständnisse | Understanding the State herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 155

Peter Schröder [Hrsg.]

Der Staat als Genossenschaft Zum rechtshistorischen und politischen Werk Otto von Gierkes

© Titelbild: Korrespondenz und Korrekturen aus der Hand von Otto von Gierke.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-6128-9 (Print) ISBN 978-3-7489-0219-5 (ePDF)

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1. Auflage 2021 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2021. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Editorial

Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Verände‐ rungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die „Entgrenzung der Staatenwelt“ jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Umso interessanter sind die Theorien früherer und heutiger Staatsden‐ ker, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben. Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, wird unter dem Leitthema „Wiederaneignung der Klassiker“ immer wieder zurückzukommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsver‐ ständnisse veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den zeitge‐ nössischen Staatstheoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideolo‐ gie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer voneinander zu trennen sind. Auch die Verstrickung Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusam‐ menhang nicht verzichtet werden. Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Fragestellung nicht nur an (politische) Philosophen und Philosophinnen, sondern auch an Geistes- und Sozialwissenschaftler bzw. -wissenschaftlerinnen. In den Bei‐ trägen wird daher zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräf‐ tiger Sprache – mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen. Auf diese Weise wird der Leser/die Leserin direkt mit dem Problem konfrontiert, den Staat zu verstehen. Prof. Dr. Rüdiger Voigt

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Editorial – Understanding the State

Throughout the course of history, our understanding of the state has fundamentally changed time and again. It appears as though we are witnessing a development which will culminate in the dissolution of the territorially defined nation state as we know it, for globalisation is not only leading to changes in the economy and technol‐ ogy, but also, and above all, affects statehood. It is doubtful, however, whether the erosion of borders worldwide will lead to a global state, but what is perhaps of greater interest are the ideas of state theorists, whose models, theories and utopias offer us an insight into how different understandings of the state have emerged and changed, processes which neither began with globalisation, nor will end with it. When researchers concentrate on reappropriating traditional ideas about the state, it is inevitable that they will continuously return to those of Plato and Aristotle, upon which all reflections on the state are based. However, the works published in this series focus on more contemporary ideas about the state, whose spectrum ranges from those of the doyen Niccolò Machiavelli, who embodies the close connection between the theory and practice of the state more than any other thinker, to those of Thomas Hobbes, the creator of Leviathan, those of Karl Marx, who is without doubt the most influential modern state theorist, those of the Weimar state theorists Carl Schmitt, Hans Kelsen and Hermann Heller, and finally to those of contemporary theorists. Not only does the corruption of Marx’s ideas into a Marxist ideology intended to justify a repressive state underline the fact that state theory and practice cannot be permanently regarded as two separate entities, but so does Carl Schmitt’s in‐ volvement in the manipulation conducted by the National Socialists, which today tarnishes his image as the leading state theorist of his era. Therefore, we cannot forego analysing modern state practice. How does all this enable modern political science to develop a contemporary understanding of the state? This series of publications does not only address this question to (political) philosophers, but also, and above all, students of humanities and social sciences. The works it contains therefore acquaint the reader with the general debate, on the one hand, and present their research findings clearly and informatively, not to mention incisively and bluntly, on the other. In this way, the reader is ushered directly into the problem of understanding the state. Prof. Dr. Rüdiger Voigt

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Inhaltsverzeichnis

Peter Schröder Recht und Geschichte im Staatsverständnis Otto von Gierkes – eine Einleitung

Teil I:

9

Aspekte von Gierkes Rechtslehre

Jasper Kunstreich Stadt, Land, Recht – ein prosopographischer Versuch. Otto von Gierke und die „Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte“

35

Joachim Rückert Gierke zwischen Freiheit und Sozialität

59

Helga Spindler Gierkes Hinwendung zu einem sozialen Gemeinschaftsrecht vor dem Hintergrund seiner zeitgenössischen Bezüge

113

Tilman Repgen Gierkes Kritik am Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich

139

Teil II: Gierke und die Geschichte des politischen Denkens Jan Schröder Das Sippen-Kapitel in Gierkes „Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft“ und seine Quellen

163

Peter Nitschke Volkssouveränität missverstanden: Die Althusius-Rezeption bei Otto von Gierke in der Relektüre

181

Ben Holland Pufendorf und das Naturrecht bei Gierke

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Martin Espenhorst „Der absolute Staat und die absolute Individualität werden die Devisen der Zeit.“ Die Begriffe „Absolutismus“ und „Aufklärung“ im Werk Otto v. Gierkes (1841–1921)

231

Teil III: Zur Rezeption und Wirkungsgeschichte von Gierke Niall Bond Rechtstheoretische Einflüsse auf die entstehenden empirischen Sozialwissenschaften: die Rezeption Otto von Gierkes durch Ferdinand Tönnies

257

Céline Jouin Stiftung, Association, Institution. Gierke und Saleilles

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Autoren/Autorinnen

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Peter Schröder Recht und Geschichte im Staatsverständnis Otto von Gierkes – eine Einleitung

Der Jurist, Rechtshistoriker und Politiker Otto Friedrich von1 Gierke (*11. Januar 1841 in Stettin †10. Oktober 1921 in Berlin) gilt – neben Georg Beseler2 – vor allem als Vater des Genossenschaftsrechts und Kritiker der Entwürfe des BGB. „Gierke [ließ] es bei der Verneinung [des Entwurfes des BGB] nicht bewenden (…), sondern [verband] damit stärkste Bejahung“.3 Gierke ließ im Vorwort zu Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht in der Tat keinen Zweifel daran, worum es ihm ging, denn „der Kampf gegen diesen Entwurf ist doch auch ein Kampf für das deutsche Gesetzbuch, das wir haben wollen und haben werden!“.4 Die Kritik am BGB wandte sich zum einen gegen die abstrakte Methode des römi‐ schen Rechts.5 Zum anderen – und mit dieser Kritik verbunden – gegen die überstei‐ gerte, fast schon bindungslose Stellung des Individuums und Individualrechts, wie sie das römische Recht ausgeprägt hatte und sich nach Gierke nun auch im BGB fand.6 Dem stellte Gierke – hierin durchaus der historischen Schule der Germanisten verbunden7 – das organische und historisch gewachsene deutsche Recht entgegen, das dem Leben und den Bedürfnissen des deutschen Volkes eher entspräche. Nichts habe Gierke so bekannt gemacht, „wie dieser Kampf um ein vaterländisches, deut‐ sches bürgerliches Recht“.8

1 Die Verleihung des erblichen Adels erfolgte am 27. Januar 1911. 2 Vgl. Beseler 1843. Gierke war Schüler von Beseler und blieb ihm Zeit seines Lebens freund‐ schaftlich verbunden. Vgl. v.a. Gierke 1889c. 3 Stutz 1922, S. XXXIV. 4 Gierke 1889b, S. VI. Vgl. dazu Janssen 1974, S. 59-72. 5 Gierke 1889b, S. 23: „Was wir als ‘Romanismus‘ bekämpfen, ist in erster Linie der alle Sätze des Entwurfes, römischer wie germanischer Herkunft, durchziehende Geist einer abgestandenen Pandektenjurisprudenz. Jener Geist, der mit dem Rüstzeug gläubig hingenommener juristischer Dogmen, die man aus dem römischen Recht schöpft oder zu schöpfen vermeint, das Leben zu meistern unternimmt! Der sich vermißt, durch logische Ableitung aus abstrakten Begriffen eine lebendige und allumfassende Rechtsordnung zu gebären! Der die selbstgezimmerten ‘Prinzipi‐ en‘ über die Sache, das folgerichtige ‘System‘ über die Zusammenhänge der Wirklichkeit, die juristische Gedankenwelt über die Welt der Realitäten stellt!“. 6 Gierke 1889b, S. 574-583. Ferner kritisierte Gierke „die Stellung des Entwurfes zu der socialen Aufgabe des Privatrechtes“. Ebd. S. 23. 7 Vgl. zur historischen Rechtsschule der Germanisten Dilcher 1984 und Dilcher 2017. 8 Stutz 1922, S. XXXV. Vgl. dazu auch Gierkes weiteren Schriften zu dem Entwurf des BGB, die bei Stutz 1922, S: LIIIf. aufgeführt werden, sowie den Beitrag von Repgen in diesem Band.

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Gierke ist aber nicht nur als bedeutender Jurist bekannt, der zentrale Begriffe und Konzepte unseres modernen Rechts- und Staatsverständnisses geprägt hat.9 Er hat mit seinen kleineren politischen Schriften auch versucht, den Gang der Politik zu prägen. Seine Kommentare zur Reichsgründung 1871, zu den Kriegs- und Frie‐ denszielen während des I. Weltkriegs oder dem neuen politischen System nach der Novemberrevolution beziehen sich auf die jeweilige konkrete historische Situation, sind aber trotz ihrer Zeitgebundenheit auch von Belang für sein Staatsverständnis.10 Er erweist sich hier als politisch denkender und bewusst einflussnehmender Jurist, der aber nicht in den engen Gleisen der Jurisprudenz verhaftet blieb, sondern im weitesten Sinne kulturwissenschaftlich arbeitete. Er ist nicht nur Jurist, sondern auch Historiker, Staatsrechtler und Soziologe.11 Otto von Gierke nötigt uns Respekt ab. Nicht auf Grund einzelner politischer Meinungen, die nur im biografischen Kontext erklärbar sind und heute irritieren mögen, sondern auf Grund seines enormen Wer‐ kes, das in seiner Materialfülle, Hingabe an den Gegenstand und analytischer Strin‐ genz die Grenzen des akademischen Wissenschaftsbetriebes sprengt.12 Mit seinem Werk wandte er sich auch gegen eine zunehmend nur berufsorientierte und damit verarmende Lehre der Jurisprudenz.13 Gierkes Genossenschaftsrecht, dem ein organisches Staatsverständnis zugrunde lag, wird auch heute noch diskutiert und bildet nicht nur für Juristen einen zentralen Bezugspunkt für das Verständnis von Gierkes rechtshistorischen und politischen Positionen.14 Für ihn hingen der „gesamte systematische Aufbau des Rechts, die Form und der Gehalt der wichtigsten Rechtsbegriffe und die Entscheidung zahlreicher Einzelfragen (…) von der Konstruktion der Verbandspersönlichkeit ab. Und daran gerade bewährt sich die organische Auffas‐ sung, daß sie allein im Stande ist, hier überall das Angemessene, das unserem Rechtsbe‐ wußtsein und unseren Lebensbedürfnissen Entsprechende zu finden“.15

9 Zu Werk und Leben Gierkes vgl. Stutz 1922. 10 Vgl. die chronologische Auflistung von Gierkes Schriften in Stutz 1922, S. XLV-LXIII. 11 Vgl. auch das Urteil von Stutz 1922, S. XXXV: „Einer politischen Partei hat er nur in letzter Zeit vorübergehend angehört. Vorher hatte er wie so manche von uns, um seiner Unabhängig‐ keit willen, und weil er rein sachlich bleiben wollte, zu keiner Partei geschworen, hätte er auch in keine recht hineingepaßt. Seine ganze Entwicklung und seine historisch-juristische Denkweise führten ihn allerdings aus dem Milieu des achtundvierziger Liberalismus mehr und mehr ins konservative Lager. Aus Überzeugung und mit dem Herzen war er Anhänger der konstitutionellen Monarchie“. Siehe ferner die Beiträge von Spindler und Espenhorst in diesem Band. 12 So auch Janssen, 1974, S. 138: „Überhaupt macht es ein Wesensmoment der juristischen Me‐ thode Gierkes aus, daß logische, genetische, historische und schließlich philosophische Be‐ trachtungsweise des Rechts nicht für sich, sondern alle gemeinsam das juristische Denken aus‐ machen“. 13 Vgl. Kiesow 2010. 14 Siehe dazu Peters 2002. 15 Gierke 1954, S. 28.

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Gierke begriff den Staat als eine geschichtlich gewachsene Einheit, die nach Haupt und Gliedern verfasst und organisiert war. Gierkes Staatsverständnis war entwicklungsgeschichtlich gedacht und konstruiert. Er entwickelte sein Staatsverständnis in den Grundzügen u.a. im ersten Band seines Genossenschaftsrechts. Dadurch, dass er „den Ausgangspunkt in Herrschaft und Genossenschaft nimmt und ihr gegenseitiges Verhältnis als ein dialektisches sieht, hat er den Rahmen, um die Verfassungsverhältnisse gerade der älteren Zeit strukturgerecht zu erfassen“.16

Ausgehend von diesem organischen Staatsverständnis behauptete Gierke nicht we‐ niger als die Überlegenheit dieser Rechts- und Staatsauffassung gegenüber den konkurrierenden Rechtsschulen.17 Hugo Preuss, der heute vor allem als der Vater der Weimarer Reichsverfassung bekannt sein dürfte (er wurde im November 1918 zum Staatssekretär berufen und mit dem Entwurf einer Reichsverfassung beauftragt), fasst die durch Gierke erst zur vollen Bedeutung gelangten Beziehung von Genos‐ senschaftsrecht und Staatsrecht prägnant zusammen. Nach seinem Urteil habe „die Fortführung der Beseler‘schen Genossenschaftslehren durch die Forschungen Gier‐ ke‘s (…) die Auffassung des Staatsrechts als eines Theils des Genossenschaftsrechts mächtig gefördert“.18

Um Gierkes Staatsauffassung zu verstehen, ist es wichtig, sich dieser – soweit es uns möglich ist – vorurteilsfrei zu nähern. Es ist und muss Aufgabe insbesondere der politischen Ideengeschichte sein, die jeweiligen historischen Äußerungen in ihrem historischen Kontext einzuordnen und zu verstehen. Gierke hat das selbst treffend formuliert indem er darauf verwies, dass „wir (…) das Recht einer andern Zeit nicht mit unserem Bewusstsein messen [dürfen]; wir müssen, wollen wir anders sein Werden verstehen, in die Anschauungsweise der Zeit zurückkehren“.19

Das wird nicht immer und nie ganz gelingen. Zudem wird durch ein solches Vorge‐ hen nicht bereits zum Ausdruck gebracht, dass damit die untersuchten Positionen auch für richtig erachtet werden.

16 Böckenförde 1995, S. 162. 17 Zum weiteren Kontext vgl. Dilcher 2017, Janssen 1974 und Böckenförde 1995, S. 147: „Kern‐ punkt für Gierkes verfassungsgeschichtlichen Fragestellungen ist seine konkrete Staatslehre. Sie gipfelt in dem Gedanken der organischen Staatspersönlichkeit als der Versöhnung von Herrschaft und Genossenschaft, von Einheit und Freiheit“. Kritisch zu Gierkes Staatslehre hin‐ gegen Schmitt 2006, S. 40: „Otto von Gierkes ‚organische Staatslehre‘ und seine Theorie von der ‚realen Verbandspersönlichkeit‘ ist (…) keine konkrete Staatslehre mehr, sondern eine all‐ gemeine Assoziationstheorie“. 18 Preuss 1889, S. 209. 19 Gierke 1871, S. 1.

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„Geschichte als Wissenschaft (…) strebt nach Erkenntnissen. Zur Orientierung will sie nur insofern beitragen, als ihre Erkenntnisse sich mit derselben vereinbaren lassen. Als Wissenschaft unterwirft sie sich dem Zwang zur Bewahrheitung. Da die Regeln des Bewahrheitens universale, weil universalisierbare, sind, haben die Erkenntnisse einen universalen Anspruch. Unentwegt muss die Wissenschaft Revisionismus treiben; andern‐ falls gelingt kein Fortschritt beim Erkennen. Zwar kann es durchaus parteiliche Historie geben; denn notwendigerweise nimmt ein Historiker einen Standpunkt ein. Doch auch der parteilichste Historiker wird, wenn er sich an die methodischen Vorgaben hält, genö‐ tigt sein, vieles für falsch zu halten, von dem er wünschte, es wäre wahr. Und er wird vieles für wahr anerkennen, obwohl es ihm nicht behagt“.20

Das im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert allenthalben gängige Selbstverständnis und viele Überzeugungen der Zeit befremden uns heute schon in ihrer Begrifflich‐ keit, wie etwa die von Gierke formulierten Kriegsziele von 1917 oder sein Insistie‐ ren auf einen Germanischen Volks- und Staatsgedanken von 1919. In der Situation des Kriegs schrieb Gierke 1917: „wenn uns im gegenwärtigen (…) Kriege der Sieg zufällt, so handeln wir im Einklange mit der Geschichte, wenn wir bei dem Neubau des Staatenrechts den für unsere Daseins‐ behauptung erforderlichen Gebrauch von dem Recht des Eroberers machen“.21

Nach der dann eingetretenen deutschen Niederlage schien der in Deutschland weit‐ gehend als Diktat empfundene Frieden von Versailles22 durchaus Gierkes Auffas‐ sung umzusetzen, nur eben nicht im Interesse Deutschlands. „Auch der Besiegte muß das Urteil als Ausfluß einer höheren Gerechtigkeit hinnehmen“.23 Aber seine eigenen Worte ließ Gierke 1919 nicht mehr gelten. Stattdessen beschwor er in einem Vortrag „Der germanische Staatsgedanke“ diese Wurzeln des deutschen Rechtsle‐ bens, um den deutschen Staat neu zu gestalten und sich so auch den Ansprüchen der Siegermächte zu widersetzen.24 Dabei galt ihm, wie er das bereits im ersten

20 Flaig 2016, S. 298. 21 Gierke 1917, S. 31. 22 Am 28. Juni 1919 unterzeichnete Deutschland den Versailler Friedensvertrag unter Protest, der dann am 10. Januar 1920 in Kraft trat. Er bestimmte u.a. in § 231, das Deutsche Reich trage die alleinige Kriegsschuld. Der § 227 umfasste die Bestimmungen, den deutschen Kaiser als Kriegsverbrecher anzuklagen. Seit der frühen Neuzeit bis zu den Friedensverträgen, die den I. Weltkrieg beendeten, wurde in keinem Friedensvertrag zwischen europäischen souveränen Staaten von einer möglichen Kriegsschuld einer der Kriegsparteien gesprochen. Im Gegenteil, die Friedensverträge beschwören zumeist eine generelle Amnestie und ewiges Vergessen. Vgl. Lesaffer 2012, S. 88. Gierke sah in den sich anbahnenden Forderungen des Friedensvertrages, er hielt seinen Vortrag am 4. Mai 1919, „die Erniedrigung vor dem Feinde durch ein lügenhaf‐ tes Bekenntnis uns angedichteter eigener Schuld!“ Gierke 1919, S. 4. 23 Gierke 1917, S. 31. 24 Gierke 1919, S. 5: „Bevor wir fremde Volksgeister zu unseren Herren machen, sollten wir uns doch besinnen, ob nicht der germanische Staatsgedanke uns auch für die Zukunft höhere Werte zu bieten vermag. Das Germanentum ist es nun einmal gewesen, das nach dem Untergange der antiken Welt die mittelalterliche und moderne Welt, in der wir bis heute leben, geschaffen hat. Wir Deutschen aber sind das germanische Kernvolk“.

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Band des Genossenschaftsrechts ausgeführt hatte25, das germanische Staatsrecht als Ausdruck deutscher Wesenhaftigkeit, das die Volksfreiheit und Genossenschaft des Volkes in einem rechtlich begründeten Staatsorganismus bewahrte.26 Der „Gedanke des Rechtsstaates“ verdanke sich „dem germanischen Rechtsgedanken“.27 Die Betonung von „deutscher Freiheit und deutscher Selbstverwaltung“28 sollte hier nicht übersehen werden. Gerade weil diese Positionen und Überlegungen geeig‐ net sind, uns zu befremden und zu irritieren, ist es wichtig, die jeweiligen Texte in ihrem geschichtlichen Zusammenhang zu sehen, der für das 19. und beginnende 20. Jahrhundert nicht nur in Deutschland vor allem durch einen zunehmend aggres‐ siver werdenden Nationalismus bestimmt wurde, dem Gierke sich im historischen Vergleich eher widersetzte. Es gehörte seitjeher zum Anliegen interessierter politischer Lager, den gängigen Diskurs möglichst zu bestimmen. Das galt für Gierke wie für uns Heutige. Insbe‐ sondere gilt es für all diejenigen, die meinen es sei Aufgabe der Geschichtswis‐ senschaft die Vergangenheit auf ihre Komptabilität mit unseren eigenen Werten – deren gegebenen Konsens vorauszusetzen nicht nur gewagt, sondern bereits ein politischer Akt ist – zu überprüfen. Es ist durchaus ein legitimes Anliegen, sich nicht von der Vergangenheit bestimmen lassen zu wollen und Staat und Gesellschaft, zumeist im Namen eines emanzipatorischen Fortschritts, gestalten zu wollen. Wenn die Geschichtswissenschaft dazu in Dienst genommen wird, sollte aber zumindest transparent sein, um welche Vorgänge es sich hier handelt. Geschichtswissenschaft ist nicht allein um das Verständnis der Vergangenheit bemüht, sondern kann auch ein lebendiger Disput über die Werte der Gegenwart sein. Das historische Verständnis wird aber geradezu unmöglich, wenn geschichtliche Ereignisse und Äußerungen anhand der Werte der Gegenwart gemessen und beurteilt werden, insbesondere wenn dies in moralisierender oder gar diffamierender Absicht geschieht.29 Die politische Ideengeschichte versucht hingegen bewusst, die Texte und Äußerungen der Vergan‐ genheit in ihrer Zeitgebundenheit zu verstehen und zu bewerten.30 Gierke hatte ein ausgeprägtes Problembewusstsein für diese Fragen.31 Selbst in der extremen Situation von 1918/19 gab er nicht den allenthalben um sich grei‐ fenden radikalen Tendenzen nach. Er war ein national und patriotisch gesonnener Mann, aber kein Reaktionär.32 Für ihn war die deutsche Kultur ein selbstverständ‐ 25 Gierke 1868, S. 5. Vgl. Janssen 1974, S. 22f. 26 Gierke 1919, S. 7. Vgl. dazu auch Böckenförde 1995, S. 166: „Die ältesten politischen Verbän‐ de der Germanen sind für Gierke (…) demokratisch-genossenschaftliche Gemeinwesen“. 27 Gierke 1919, S. 9. Vgl. auch Conte 2019. 28 Gierke 1868, S. 5 (meine Hervorhebung). 29 Vgl. dazu allgemein Flaig 2016. 30 Siehe dazu die Diskussion in Schröder 2012. 31 Vgl. dazu Böckenförde 1995, S. 174-176 und Preuss 1889, S. 39. 32 Gierke 1919, S. 5: „Heute müssen wir alle vorwärts blicken. Auch wer in seinem Inneren den enthronten Ideen unserer Heldenzeit die Treue hält, wird sich nicht der Einsicht verschließen,

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licher Teil der europäischen Kultur. Das galt auch für die verschiedenen Rechts‐ traditionen, die für Gierke – trotz seiner Verve für das germanische Recht – im Idealfall in einem befruchtenden Austausch stehen sollten. Mit seiner stupenden Quellenkenntnis war er ein Meister der historischen Analyse und deren Dienstbar‐ machung für sein organisches Rechts- und Staatsverständnis. Zur Zeit Gierkes war die Interpretation der Geschichte ebenso wenig neutral, wie sie das heute ist. Hier verläuft die Grenze der Möglichkeiten historischer Interpretation, die anzuerkennen ein minimaler Grundkonsens sein sollte, ohne den die wissenschaftliche Auseinan‐ dersetzung Gefahr läuft zur Polemik zu werden. Gierkes Bedeutung als juristischer und historischer Denker wird nicht nur in der Vielfältigkeit seines Werkes greifbar. Mit Gierke begegnet uns auch ein Wissen‐ schaftler, der sich mit seiner Wirksamkeit und Einflussnahme nicht auf den engen und elitären Kreis der Fachgelehrten beschränkte. Für ihn bedeutete Gelehrsamkeit und Wissenschaft eine kulturelle und zuweilen auch eine politische Tat¸ ohne dass er sich von den kurzatmigen Tagesereignissen treiben ließ. In diesem wägenden und besonnenen Selbstverständnis von Gierke besteht vielleicht seine größte Aktualität für die heutige Zeit. Ziel dieser Einleitung ist es, im ersten Teil kurz die Struktur und Konzeption des Bandes zu erläutern. Im zweiten Teil werden sodann in ideen‐ geschichtlicher Perspektive einige zentrale Aspekte von Gierkes Staatsverständnis hervorgehoben.

I.) Zur Struktur des Bandes Der Band gliedert sich in drei systematische Teile, in denen aus den unterschied‐ lichen Fachperspektiven der Soziologie, Geschichte, Politikwissenschaft und Juris‐ prudenz Gierkes politisches und juristisches Denken analysiert wird. Im Fokus dieser verschiedenen Perspektiven steht sein Staatsverständnis, das er bewusst in unterschiedlichen Genres entwickelt hat. In diesen drei Teilen wird der Entwicklung von Gierkes spezifischen Verständnisses vom Staat, das auch für uns Heutige noch wichtig ist, dargestellt. Gierkes Einfluss auf die staatswissenschaftliche Diskussion steht im Mittelpunkt dieser Perspektive, wobei zugleich so auch deutlich wird, was sich den Ideen des Staatsdenkers Otto von Gierke für unser eigenes, zeitgemäßes Verständnis des Staates gegebenenfalls entnehmen lässt. Der erste Teil, beschäftigt sich mit den Aspekten von Gierkes Rechtslehre. In seinem vierbändigen Genossenschaftsrecht hatte Gierke seine zentralen Positionen daß bis auf weiteres nicht nur die vollendete Tatsache des gewaltsamen Umsturzes die alte Form unseres Staatslebens zerbrochen hat, sondern daß auch in der neuen Epoche unseres ge‐ schichtlichen Daseins neue geistige Gehalte berechtigter Weise nach staatlicher Verwirk‐ lichung streben“.

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entwickelt. Die ursprüngliche Motivation, mit der Gierke auf das Genossenschafts‐ recht geblickt hatte, lag darin Alternativen zum rezipierten römischen Privatrecht zu finden. Diese Idee war von dem Versuch geprägt, die romanistische Rechtsschu‐ le zu hinterfragen. Allerdings wurde schon im Kaiserreich und erst recht später diese Idee nicht weiterverfolgt und Gierke hat um 1888 die Beschäftigung mit dem Genossenschaftsrecht beendet und sich anderen Themen zugewandt. Dennoch bleiben sein Beitrag zum Genossenschaftsrecht sowie die damit von Gierke auch entwickelten staatsrechtlichen Ansichten nach wie vor bedeutungsreich. Das Genos‐ senschaftsrecht grundiert gleichsam Gierkes gesamtes Werk und Wirken, was sich auch in den einzelnen Beiträgen widerspiegelt. Eine interessante Fallstudie wird von Jasper Kunstreich vorgelegt, in der er sich der von Gierke begründeten und von ihm bis zu seinem Tod herausgegebe‐ nen Schriftenreihe „Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte“ widmet. Hier wird das faszinierende Wechselspiel zwischen Herausgeberschaft, För‐ derung des wissenschaftlichen Nachwuchses und Gierkes eigenem Forschungspro‐ gramm thematisiert. Die Untersuchung dieser Schriftenreihe gibt einen Eindruck der deutschen Rechtswissenschaft am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhun‐ derts. Auffällig sind die häufig verhandelten Themen wie etwa die mittelalterlichen Stadtrechte oder Fragen der Wirtschaftsgeschichte. Kunstreich analysiert, wer die Autoren und Autorinnen sind, denen eine Veröffentlichung in Gierkes Schriftenrei‐ he ermöglicht wird. Konkret untersucht er, welchen Anteil Qualifikationsschriften haben und woher diese kommen. Dem Bezug zu anderen juristischen Fächern oder anderen wissenschaftlichen Disziplinen wird ebenfalls nachgegangen, um Gierkes Schwerpunktsetzung in der von ihm herausgegebenen Schriftenreihe zu bestimmen. Kunstreich zeigt mit dieser Studie auch, wie Gierke seinen Körperschaftsbegriff entwickelt, der dann die Grundlage für das von ihm vertretene deutsche Staatsver‐ ständnis bildet. Indem die Stadt die Qualität einer Rechtspersönlichkeit entwickelt habe, sei in ihr die Entwicklung von Staatlichkeit möglich geworden, was dann zur Ausbildung eines deutschen Staatsbegriffes geführt habe. In einer „spätromantischen Geste“, so Kunstreich, kritisiere Gierke das Auseinanderfallen von bürokratischem Steuerstaat und individualistischer Gesellschaft in der Moderne. Gierkes Geschichts‐ entwurf des Genossenschaftsrechts lese sich vor diesem Hintergrund wie ein verlo‐ rengegangenes Ideal der Teilhabe. Andere Aspekte von Gierkes Geschichts- und Staatsverständnis, die in diesem Teil behandelt werden, befassen sich mit dem Verhältnis von individueller Freiheit und Sozialität bei Gierke. Joachim Rückert diskutiert diesen Fragenkomplex in seinem weit ausgreifenden Beitrag, dem eine fundierte Quellenanalyse zu Gierke in seinem Kontext zugrunde liegt, ausgehend von einer systematischen Untersu‐ chung von Gierkes spezifischer Art Geschichte zu strukturieren und zu interpretie‐ ren. Rückert zeigt, dass die auch heute noch entscheidenden Fragen in Gierkes

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monumentalem Werk aufgegriffen und einer historisch und rechtsphilosophisch be‐ gründeten Beantwortung zugeführt wurden. Bei Gierke findet sich eine intensive Auseinandersetzung mit dem „Dauerproblem“ Gemeinschaft und Individuum, Ein‐ heit und Freiheit zu vermitteln und auszugleichen. Rückert zeigt umfassend, wie Gierke dafür warb sich der ‘sozialen Aufgabe‘ zu stellen. Für Gierke konnte die Frage nach Freiheit und Sozialität immer nur gesellschaftlich, in Gemeinschaft, gelöst werden. Er habe diesbezüglich politische und rechtspolitische Empfehlungen formuliert. Zugleich aber auch eine beeindruckende und in Teilen problematische Kontinuitätsbildung der germanisch-deutschen Rechtsgeschichte zur Beantwortung dieser juristischen und politischen Herausforderungen entwickelt. Rückert geht der von Gierke behaupteten Kontinuität im Wandel en détail nach. Sie werde durch eine historische Dynamisierung möglich und von Gierke durch die Darstellung der konkreten Lagen als ‘Manifestationen‘ oder ‘Modifikationen‘ des Grundbegriffs, so besonders beim Staatsbegriff, Gemeindebegriff und der Eigentumsgemeinschaft im Rahmen der ‘Ausbreitung des Körperschaftsbegriffs‘ vermittelt. Rückert legt dar, wie intensiv Gierke sich mit der Rechtsphilosophie beschäftigte. Insbesondere der Einfluss von Ahrens auf den Grundgedanken Gierkes vom eigenen rechtlichen Dasein der Gesamtpersonen zugleich mit dem der Einzelnen insbesondere in Genos‐ senschaften ist hier hervorzuheben. Wie Gierke zu seinem spezifischen Verständnis von Freiheit und Gemeinschaft bzw. Staat gelangte, wird erst wirklich durch diese Kontextualisierung verständlich. In engem Zusammenhang mit dieser Thematik steht auch der Aufsatz von Hel‐ ga Spindler, die Gierkes Hinwendung zu einem sozialen Gemeinschaftsrecht vor dem Hintergrund seiner zeitgenössischen Bezüge erörtert. Sie betont zu Beginn ihrer Untersuchung, dass Gierke ein Leben lang auf der Suche nach einer sozialen Rechtsordnung gewesen sei, die eng mit dem staatlichen Ganzen verwoben war. Mit seinem Gemeinschaftsrecht, vor allem dem Dienstvertrag, Treudienstvertrag und der Betriebsgemeinschaft es ging juristisch um das personenrechtliche Gemein‐ schaftsverhältnis, die Treue- und Fürsorgepflichten. Dazu gehört auch seine Berliner Zeit, vor allem seine Aktivitäten im Verein für Sozialpolitik, seine Beziehung zu Brentano, Schmoller und anderen, sowie seine Stellungnahmen zur Kriegssozialpoli‐ tik und seine Mitarbeit bei der Deutschnationalen Volkspartei bis kurz vor seinem Tod. Spindler zeigt schlüssig, dass Gierkes Rekurs auf die germanischen Wurzeln vor allem in der Auseinandersetzung um die aktuelle Rechtsordnung auch einen Bezug auf das Soziale bedeutete. Denn das Germanische war, so Spindler, bei ihm immer auch in einer philosophisch verstandenen Weise sozial. Dies wird nicht nur in seinem Genossenschaftsrecht fassbar, sondern nachdrücklich auch in seiner Kritik am ersten Entwurf des BGB. Seine kritischen Positionen in der Diskussion zum BGB bilden damit einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt seiner juristischen Tätigkeit auf der Suche nach einer sozialen Rechtsordnung.

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Tilman Repgen setzt sich in seinem Beitrag mit Gierkes Kritik am Entwurf des BGB auseinander und diskutiert, warum gerade Gierkes Kritik besondere Aufmerk‐ samkeit erhielt. Er sieht den Grund vor allem darin, dass Gierke mit seiner Kritik eine Grundsatzfrage berührte, die politisch umstritten war und daher kontrovers dis‐ kutiert wurde. Gierke erörterte explizit die „soziale Aufgabe“ des Privatrechts. Auch die Bedeutung des Gemeinschaftsgedankens für Gierkes Kritik am BGB-Entwurf, der mit dem sozialen Aspekt verbunden war, wird von Repgen ausführlich disku‐ tiert. Das, so Repgen, bedeute allerdings nicht, dass nicht auch andere Gesichtspunk‐ te Gierkes Kritik motiviert hätten. Zugleich ist es bemerkenswert, wie wenig die Zeitgenossen auf den Gemeinschaftsgedanken bei Gierke eingingen. Umgekehrt setzten sie sich aber mit den Ergebnissen seiner Kritik auf der Ebene der Rechtsinsti‐ tute auseinander. Es sei dieser starke Widerhall gewesen, so das Ergebnis von Rep‐ gens Studie, dass Gierke im 20. Jahrhundert immer wieder zum Referenzpunkt für die Kritik am BGB wurde. Die unmittelbaren Auswirkungen von Gierkes Kritik auf die Gestaltung des BGB waren allerdings nicht besonders nachhaltig. Repgen hebt die Kohärenz von Gierkes Rechtsdenken hervor. Der Ausgangspunkt lag für Gierke in einem Menschenbild, das auf einer Doppelperspektive beruhte. Repgen zeigt, dass es für Gierke im Privatrecht um den Einzelnen und dessen Freiheit ging, aber immer zugleich in der Perspektive des Miteinander menschlicher Gemeinschaft. Der zweite Teil widmet sich Gierkes Beitrag zur Geschichte des politischen Denkens. Ausgehend von dem bekannten Dualismus von Einheit und Freiheit, der Gierkes Genossenschaftsrecht zugrunde liegt und sich in dem ständigen Mitund Gegeneinander herrschaftlicher und freiheitlich-genossenschaftlicher Verbände manifestiert, untersucht Jan Schröder anhand des Sippenkapitels im ersten Band von Gierkes „Genossenschaftsrecht“ diese Zusammenhänge detailliert. Er zeigt die Eigentümlichkeit auf, dass Gierke dort grundsätzlich eine voll ausgebildete genos‐ senschaftliche Struktur der germanischen Sippe behauptete, die Quellenzeugnisse das aber auch nach Gierkes eigenem Eingeständnis nur unzureichend belegen. Was Gierke Sicherheit für diese Behauptung gegeben haben mag, so Schröder, sei Gier‐ kes Überzeugung, das genossenschaftliche Denken sei tief im germanischen Wesen verwurzelt und reiche vor die schriftlichen Quellen zurück. Diese Überzeugung prägt das gesamte „Genossenschaftsrecht“ und damit auch Gierkes Staatsverständ‐ nis. Gerade auf die Beurteilung der Sippe musste sich diese Interpretation auswirken und so kam Gierke denn auch zu dem Schluss, die Germanen hätten „eine Gabe vor allen Völkern voraus – die Gabe der Genossenschaftsbildung”.33 Peter Nitschke diskutiert Gierkes Abhandlung über den prämodernen Denker Johannes Althusius (1563-1638). Gierkes „Genossenschaftsrecht“ bezog sich dabei viel intensiver auf Althusis‘ Politica als das bislang zur Kenntnis genommen wurde.

33 Gierke 1868, S. 3.

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Nitschke zeigt detailliert auf inwiefern diese Schrift in ihren Grundzügen, sowie auch vom normativ-logischen Verständnis für Gierke das entscheidende Paradigma für sein „Genossenschaftsrecht“ dargestellt hat. Für Gierke sei die Frage nach „dem Wesen der Verbände“ die „Kernfrage“ für die juristische Perspektive gewe‐ sen34. Gierkes Verständnis von Staatlichkeit sieht die politische Ordnung als ein organisches Gebilde. Der Staat und alle ihm untergeordneten Einheiten (Verbände) betrachtet Gierke deshalb als „soziale Organismen“.35 Gierke interpretierte Althu‐ sius im Sinne seines eigenen kooperativen Verständnisses des Staates. Althusius wird damit zu einem wichtigen Gewährsmann von Gierkes politisch-juristischem Programm, dem zum Beispiel Hobbes mit seiner individualistischen und zentralisti‐ schen Lehre staatlicher Souveränität schroff gegenüberstand. Nitschke rekonstruiert nicht nur die Bedeutung, die Althusius für Gierke hatte, sondern er erarbeitet auch den weiteren ideengeschichtlichen Kontext, in dem Gierke Althusius zuweilen fast schon im Sinne einer Hagiographie (als deutscher Rousseau) verortete. Dies führte zu verschiedenen Missdeutungen und Verzerrungen, die sich zum Beispiel gegen‐ über Rousseau oder Hobbes bei Gierke finden, deren Lehren er vor allem heranzog, um diese gegen Althusius abzugrenzen. Zugleich wird Althusius mit seiner Lehre von Gierke auch gezielt als ein Rückgriff auf die eigenen zeitgenössischen Debat‐ ten verwendet. Die daraus resultierenden methodologischen und inhaltlichen Miss‐ verständnisse diskutiert Nitschke ausführlich. Diese Perspektive erlaubt auch eine genaue Einordnung der Positionierung Gierkes gegenüber der Souveränitätsfrage, die unter anderem in der von Gierke nur bedingt gewürdigten Auseinandersetzung Althusius‘ mit Bodin zu sehen ist. Im Fazit ist Nitschke sehr kritisch mit Gierkes Aneignung von Althusius. Er sieht darin eine „Modellierung“ der Lehre des Alt‐ husius, die in einem unreflektierten geschichtsphilosophischen Fortschrittsdenken gründe. Damit habe Gierke letztlich seinen ursprünglichen Ansatz eine angemessene historische Rekonstruktion zur Genossenschaftstheorie vorzulegen, unterlaufen. Gierkes Auseinandersetzung mit der Naturrechtstradition war ebenfalls von be‐ deutendem Einfluss, der sich schon lange nicht mehr auf Deutschland beschränkt. Der Mensch wird von ihm als soziales Wesen aufgefasst, das sich in unterschied‐ lichen Strukturen zusammenschließt. Gierkes intensive Beschäftigung mit der Na‐ turrechtstradition und insbesondere mit Pufendorf und zentralen Konzepten seiner Naturrechtslehre wie etwa den Theoremen der socialitas oder der entia moralia war, wie Ben Holland das in seinem Beitrag detailliert zeigt, von nachhaltigem Einfluss auf Gierkes Rechtsverständnis. Der Staat und zivilrechtliche Gesellschaften wurden von Gierke in Weiterentwicklung von Pufendorf als moralische Person und damit als Rechtssubjekt gedeutet. Für Gierke lag, so Holland, eine besondere Bedeutung Pufendorfs darin, dass er eine neue soziale Ontologie entwickelt habe, die die 34 Gierke 1954, S. 3. 35 Ebd., S. 12.

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ursprünglich germanische Idee der Einheit in der Vielheit durch neue theoretische Argumente davor bewahrt zu haben obsolet zu werden. Holland diskutiert Gierkes Interpretation von Pufendorf kritisch und zeigt damit zugleich Pufendorfs Bedeutung für Gierkes Genossenschaftstheorie und Staatsverständnis auf. Martin Espenhorst erörtert Gierkes Interpretation der Begriffe von Aufklärung und Absolutismus für die Bedeutung seines Rechts- und Staatsverständnisses. Es‐ penhorst zeigt in seiner abwägenden Interpretation, dass Gierke in seinem Genos‐ senschaftsrecht nicht nur eine beeindruckende Darstellung der Rechts- und Ideen‐ geschichte von Genossenschaften vorgelegt hat, sondern hier auch die zentralen Diskurse über die wegweisenden rechtsphilosophischen und politischen Konzepte reflektierte. Gierke habe damit der politischen Theorie mit seiner Interpretation des Genossenschaftswesens eine fruchtbare Alternative zu der üblichen Dichotomie von Kapitalismus und Sozialismus bzw. Konservativismus und Sozialismus eröff‐ net. Espenhorst untersucht damit zugleich auch, inwiefern Gierkes rechtshistorische Erörterungen in die historische Entwicklung der Zeit eingebunden waren, die insbe‐ sondere die „deutsche Frage“ angesichts der Reichsgründung von 1871 und ihrer Vorgeschichte sowie die „soziale Frage“ angesichts der „industriellen Revolution“ betrafen. Die Beiträge dieses Teils zeigen somit vor allem auf, inwiefern Gierke maßgebliche Traditionslinien des frühmodernen Staatsverständnisses aufgriff und weiterentwickelte. Der dritte Teil geht Aspekten der Rezeption und Wirkungsgeschichte Gierkes nach. Niall Bond diskutiert die rechtstheoretischen Einflüsse auf die entstehenden empirischen Sozialwissenschaften anhand einer Fallstudie zur Rezeption Otto von Gierkes durch Ferdinand Tönnies. Bond zeigt, wie Gierke das spezifische Staatsund Gemeinschaftsdenken von Tönnies prägte. Gierke führte die Unfreiheit des Obrigkeitsstaates auf den römisch-rechtlichen Einfluss zurück. Dem stellte er die freie Assoziation des germanischen Rechtsverständnisses entgegen. Bond erörtert, inwiefern Tönnies’ Geschichtsphilosophie zwar Anlehnungen bei Gierke fand, letzt‐ lich aber anders akzentuiert war. In seinen Studien zu Hobbes und Locke hatte Tönnies eine progressive Zunahme an bürgerlichen Freiheiten festgestellt. Bond verweist darauf, inwiefern die Wertbezüge von Tönnies denen von Gierkes Genos‐ senschaftstheorie ähnlich und zeittypisch waren, letztlich aber zu ganz anderen Geschichtsdeutungen führten. Tönnies‘ Geschichtstheorie sei einseitiger gewesen als das nuanciertere Geschichtsverständnis Gierkes. Der erhebliche Einfluss von Gierke auf Tönnies‘ Begründung der modernen deutschen Soziologie verdankte sich Gierkes Geschichtsverständnis des organisch entstandenen Rechtes. Tönnies‘ Lehre entstand aus denselben begrifflichen Spannungen und politischen Ereignissen, die Gierkes Denken prägten. Bond betont, Tönnies habe seine Verbundenheit gegenüber Gierke bis zu seinem Lebensende nicht vergessen.

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Gierke hat ferner einen eigentümlichen Einfluss auf die Entwicklung der französi‐ schen Diskussion über das Staatsverständnis ausgeübt. Céline Jouin zeigt in ihrem Beitrag, dass Gierke, obwohl er in Frankreich in Vergessenheit geraten ist, dennoch einen nachhaltigen Einfluss auf französische Juristen ausübte. Da die nach-revolu‐ tionäre, juristische Kultur in Frankreich durch die römische Rechtstradition geprägt war und im 19. Jahrhundert zunächst der Einfluss Savignys in Frankreich spürbar war, stand man dort den Ideen Gierkes generell feindlich gegenüber. Insbesondere anhand von Raymond Saleilles (1855-1912) wird deutlich, dass Gierkes Genossen‐ schaftsrecht als Alternative zum Contrat social diente. Denn hier wurde das Modell eines Gemeinwesens, das die Vielfalt der individuellen Rechte nicht vollständig auf‐ hob, entwickelt. Damit konnte Saleilles die Genossenschaft als das genaue Gegenteil der völligen Entfremdung („aliénation totale“) bei Rousseau hervorheben. Gierkes organisches Staatsverständnis diente Saleilles und anderen als willkommener Aus‐ gangspunkt um die Wiederherstellung sozialer Zusammenhänge einzufordern und die leblosen Abstraktionen zu überwinden, die nach Saleilles‘ Verständnis aus dem Naturrecht und den politischen Ideen der Revolution hervorgegangen waren. Wie Gierke in Deutschland bemühte Saleilles sich in Frankreich um die Überwindung dieser angeblich trockenen Abstraktionen. In seiner wichtigen Studie De la person‐ nalité juridique (1910) ging er aber über diese reformistischen Bemühungen noch hinaus. Der Begriff der Stiftung (fondation) wurde für Saleilles paradigmatisch und richtungsweisend. Von ihm aus versuchte er das gesamte Recht neu zu konzipieren. Saleilles und andere französische Juristen, wie etwa Michoud übernahmen zentrale Konzepte von Gierke. Sie waren es, die die Gierkesche Konzeption der Stiftung und der Anstalt in Frankreich einführten. Jouins Analyse beleuchtet nicht nur die Rezep‐ tion Gierkes in Frankreich, sondern sie erlaubt aus dieser Perspektive zugleich auch Gierkes Werk besser zu verstehen und zu würdigen. Diese Beiträge machen allesamt deutlich, wie nachhaltig Gierke zentrale Begrif‐ fe und Konzepte des modernen Staatsverständnisses geprägt hat. Der vorliegende Band nähert sich Gierkes Staatsverständnis in den einzelnen Kapiteln von den hier aufgezeigten Perspektiven. Im Folgenden möchte ich noch eine erste grundsätzliche Charakterisierung von Gierkes Staatsverständnis vorstellen, die freilich nicht den Anspruch erhebt, diese Frage erschöpfend zu beantworten. Meine kurze Skizze erfolgt nur in der Hoffnung damit weiter in die Thematik einzuführen und so auch zum Gewinn der Lektüre der folgenden Kapitel und ihrer jeweiligen spezifischen Fragestellung im Zusammenhang mit Gierkes Staatsverständnis beizutragen.

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II.) Gierkes Staatsverständnis Preuss, zweifellos der bekannteste Schüler von Gierke, nahm bewusst Gierkes Kon‐ zepte und Ideen einer organischen Staatstheorie auf und entwickelte diese weiter. Bereits hieran wird die Bedeutung von Gierkes Staatsverständnis deutlich, das bis in die Verfassung der Weimarer Republik nachwirkte. Mit dem Staatsverständnis steht der Souveränitätsbegriff in unmittelbarem Zusammenhang und Preuss zeigte in seiner Studie, wie sehr der Souveränitätsbegriff auch im 19. Jahrhundert in der deutschen Staatsrechtswissenschaft kontrovers diskutiert wurde.36 Insbesondere in Bezug auf den Bundesstaatsgedanken, der bis über die Reichsgründung hinaus die Reflexion und Diskussion über den Staatsbegriff in Deutschland bestimmt hatte37, musste versucht werden die Idee eines Bundesstaates mit dem ‘rigorosen‘ Souverä‐ nitätsbegriff Bodins in Einklang zu bringen.38 Preuss kommentierte diese Entwicklung lakonisch: „So war man denn nach der wissenschaftlichen Arbeit zweier Jahrhunderte wieder auf dem Standpunkte Pufendorf‘s angelangt, welcher die Voraussetzung dieser ganzen Theo‐ rie, die begriffliche Möglichkeit eines über Staaten herrschenden Staates, schlechtweg negirte. Dennoch trat in der Entwicklung der Lehre kein Stillstand ein; im Gegentheil wurde dieselbe gerade durch diese kühne Negation in so lebhaften Fluss gebracht, wie nie zuvor. Seit dem Jahre 1872 sind in ununterbrochener Reihe jene Arbeiten erschienen, welche, auf wahrhaft juristischer Methode beruhend, der Bundesstaatstheorie und der Lehre von den Staatenverbindungen überhaupt vielfach neue Seiten der Betrachtung abgewannen“.39

Preuss ging der Frage nach, auf welcher Grundlage es möglich sei, einen der verfas‐ sungsrechtlichen Situation des Deutschen Reiches angemessenen Staatsbegriff zu begründen. Obwohl Gierke sich nur am Rande mit dieser Frage beschäftigt habe40, sprach Preuss Gierkes Erörterung über die Grundbegriffe des Staatsrechts eine „moderne und überaus fruchtbare Auffassung von Staat und Recht und ihrer Wechselwirkung“

36 Vgl. Preuss 1889, S. 33: „Aus der Verbindung zweier von der älteren Staatslehre gleichmässig anerkannter Principien: der Einheit und Untheilbarkeit der Souveränität einerseits, der Identität des Staats und Souveränitätsbegriffs andererseits ergab sich die absolute Negation des Bundes‐ staatsbegriffs. Nur durch Eliminirung eines dieser Principien konnte derselbe gerettet werden. (…) Es kam also darauf an, Staats- und Souveränitätsbegriff von einander zu scheiden“. 37 Beispielhaft ist hierfür die Studie von Seydel 1872. Siehe dagegen aber auch Gierke 1917, S. 46: „Die Gründung des deutschen Reichs hat alle älteren Bundesstaatstheorien endgültig entthront“. 38 Vgl. Preuss 1889, S. 14: „Dieser exakte und scharfe Staatsbegriff, wie ihn die Souveränitäts‐ lehre Jean Bodins in die Wissenschaft eingeführt hatte, ist es, der den Ausgangspunkt und die Grundlage der Theorie Pufendorfs bildet“. 39 Preuss 1889, S. 3. 40 Vgl. Preuss 1889, S. VII und S. 38.

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zu.41 Gierke hatte in der Tat gezeigt, inwiefern das Staatsrecht in einer besonderen Beziehung zu anderen Rechtsbereichen stand. „Staatsrecht ist dasjenige Recht, welches den Staat als Allgemeinheit, alle Einzelnen aber und alle anderen Verbände als Glieder des Staates betrifft. Dieses Recht kann, da es eine rechtlich organisirte Allgemeinheit, für welche der Staat blos Besonderheit wäre, nicht gibt, von keinem Standpunkt aus als Individualrecht betrachtet werden“.42

Von dieser Auffassung des Staatsrechts war es Gierke dann aber auch möglich, die besondere Beziehung zu dem von ihm untersuchten Genossenschaftsrecht zu betonen. „Das Staatsrecht ist daher von allem sonstigen öffentlichen Verbandsrecht in ähnlicher Weise verschieden wie der Staat selbst von den übrigen Gemeinexistenzen; es muss insoweit eine besondere Ausprägung aller Begriffe und Institute aufweisen, als die speci‐ fische Natur des Staates als souveränes Gemeinwesen in Betracht kommt. Wie aber der Staat immer nur das höchste unter den menschlichen Gemeinwesen und in Bezug auf die allgemeinen Merkmale des gesellschaftlichen Organismus ihnen gleichartig bleibt, so hat auch das Staatsrecht seine Stelle zwar an der Spitze, aber innerhalb des Gesammtbaus der öffentlichen Verbandsrechte. Deshalb lassen sich alle staatsrechtlichen Grundbegriffe als die Steigerung entsprechender korporativer Begriffe betrachten, und der innere Aufbau des Staatsrechts ist dem eines jeglichen Körperschaftsrechtes analog“.43

Gierke sah den Staat, der sich ab dem 16. Jahrhundert formiert hatte, zwar als moderne Errungenschaft, er stellte der durch das moderne Naturrecht entwickelten Vertragstheorie aber sein organisches Staatsverständnis entgegen. Nach seiner Auf‐ fassung gliederte der Staat die ihm untergeordneten Körperschaften organisch, in‐ dem der „durch seine souveräne Machtvollkommenheit über alle erhöhte Staat (…) für sich selbst ein Recht höheren Ranges in Anspruch [nimmt] und (…) nur solche Gemeinschaften, die er als öffentliche Einrichtungen wertet, in gewissem Umfange an den Vorzügen des öffentlichen Rechtes Teil nehmen“

lässt.44 Gierke war durchaus auch kritisch gegenüber der Entwicklung des frühmo‐ dernen Staatsbildungsprozesses. Denn „während die aufsteigende Staatsgewalt die Rechtsordnung zum bloßen dienenden Werk‐ zeug der salus publica herabzudrücken sucht, setzt sich das Rechtsbewußtsein zur Wehr gegen die vom staatlichen Machtbedürfnis geforderten Umgestaltungen“.45

41 Preuss 1889, S. 38. Ähnlich urteilte auch Stutz, dass Gierkes Studie von 1874 bewirkt habe, „den Verfasser auf dem Hintergrunde seiner genossenschaftlichen Forschungen ein für allemal auch als Staatsrechtslehrer zu legitimieren“. Stutz 1922, S. XVIII. 42 Gierke 1874, S. 319. 43 Gierke 1874, S. 319. 44 Gierke 1954, S. 33. Vgl. auch Gierke 1919, S. 16f. 45 Gierke 1916/17, S. 221.

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In einer späteren Schrift, die in Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung unter dem Titel „Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft“ erschienen war und mit knapp hundert Seiten den Umfang eines Fachaufsatzes deutlich überschritt, hatte Gierke ähnlich festgestellt, es scheine „wirklich ein vergebliches Bemühen, einen begrifflichen Unterschied zwischen staatlichen und kommunalen Gliedern ei‐ nes Staates zu entdecken“.46 Aber bei diesem Urteil ließ Gierke es nicht bewenden.47 Vielmehr könne sich „die Jurisprudenz nicht bei einem solchen Resultate beruhigen. (…) In der Welt des Rechtsbewußtseins aber muß dem Satze, daß dieses Gebilde ein Staat ist und jenes nicht, irgend ein faßlicher Gedanke zu Grunde liegen. In irgend einer noch so unabgeklärten Form muß die Vorstellung eines Unterschiedes walten, der ein Unterschied der Art und nicht blos des Grades ist.“48

Hugo Preuss sah in diesen Überlegungen zwar keine Lösung des Problems, wie das Verhältnis zwischen staatlichen und kommunalen Gliedern eines Staates begrifflich zu bestimmen ist, wohl aber einen Hinweis auf den einzuschlagenden Weg. Gierke habe „für die endliche Lösung dieses Problems reicheres Material geliefert, als irgend ein Anderer“.49 Gierke hielt zumindest an dem Begriff der Souveränität fest, denn das „Rechtbewußtsein der modernen Völker ist davon durchdrungen, daß es eine auf dem Rechtsgebiete höchste Verbandsgewalt über allen anderen Verbandsgewalten in jedem selbständigen nationalen Lebenskreise geben muß. Es weist dieser höchsten Gewalt bestimmte Aufgaben und Befugnisse zu. Der so konstituirten Rechtssphäre legt es die Qualität des Staatlichen bei. Aus dem Merkmale der äußeren und inneren ‚Souveränetät‘ folgt ein Artunterschied dieser staatlichen Machtsphäre von jeder anderen Machtsphäre. Denn während jede andere Machtsphäre einer von ihr formell unabhängigen Rechtsord‐ nung unterworfen ist, kann die staatliche Machtsphäre nur durch eine von ihr formell abhängige Rechtsordnung beschränkt sein. Mithin kann man die Staatsgewalt der Souve‐ ränetät nicht entkleiden, ohne das Spezifische in ihr aufzuheben“.50

Preuss sah in dieser Argumentation vor allem ein Aufweichen des kategorischen Souveränitätsbegriffs Bodinscher Prägung, der der Welt des absoluten Fürstenstaates angehöre, mit dem modernen Rechts- und Verfassungsstaat aber nicht in Einklang zu bringen sei. Preuss plädierte dafür „den Souveränitätsbegriff endlich aus der Dogmatik unseres Staatsrechts zu streichen, und ihn nur noch als historischen Begriff, gleichwie das Lehnsprincip, zu betrachten“.51

46 47 48 49 50 51

Gierke 1883, S. 70. Vgl. Dilcher 1974. Gierke 1883, S. 71. Preuss 1889, S. 89. Gierke 1883, S. 72. Preuss 1889, S. 94.

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Er sah, obwohl Gierke den Begriff der Souveränität nicht aufgegeben hatte, in dessen Argumentation „einen weiteren Beweis (…), dass er [Gierke] sich im we‐ sentlichen vom Banne des Souveränitätsbegriffs befreit hat“.52 Denn der „Souveränitätsbegriff, welchen (…) Gierke u. a. m. aufstellen, ist mit dem modernen Rechtsstaat wie mit dem modernen Völkerrecht durchaus vereinbar; jedoch nur deshalb, weil er mit dem alten und eigentlichen Souveränitätsbegriff nicht das Wesen, sondern lediglich den Namen gemein hat“.53

Preuss formuliert hier eine spezifische Auffassung von Gierkes Staats- und Souverä‐ nitätsverständnis. Aber inwieweit korrespondiert diese Interpretation tatsächlich mit Gierkes Argu‐ menten? Oder hat Preuss Gierke im Interesse seiner eigenen Argumentation ver‐ zeichnet? Diese Frage lässt sich insofern recht einfach beantworten, als Preuss ein‐ räumt, Gierke halte letztlich „doch an dem staatlichen Souveränitätsbegriff fest“.54 Offen bleibt damit hinsichtlich dieser Frage lediglich, ob es zutreffend ist, wenn Preuss behauptet, „dass freilich sein [Gierkes] Souveränitätsbegriff nicht der echte und rechte ist“.55 Bekanntlich ist es Preuss nicht gelungen, den Souveränitätsbegriff, wie er beabsichtigt hatte, aus der politischen oder auch nur juristischen Diskussion über den Staat und das Staatsrecht zu verbannen. Im Gegenteil wird man sagen kön‐ nen, dass diese Diskussion auch in Deutschland insbesondere in den 1920er Jahren nicht zuletzt durch Carl Schmitt, Hans Kelsen oder auch den in diesem Zusammen‐ hang eher vernachlässigten Hermann Heller eine erneute Dynamik entfaltete und der Souveränitätsbegriff wieder einen zentralen Platz in der staatsrechtlichen Diskussion einnahm.56 Insbesondere die klassische Bestimmung des Souveräns durch Schmitt wird bis heute in der Forschung lebhaft und kontrovers diskutiert. Sie lautet: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Diese Definition kann dem Begriff der Souveränität als einem Grenzbegriff allein gerecht werden“.57

Preuss charakterisierte jedenfalls den Souveränitätsbegriff als die Wurzel allen Übels und erklärte

Preuss 1889, S. 105. Preuss 1889, S. 104. Preuss 1889, S. 111. Preuss 1889, S. 111. Diese Impulse zeigen sich dann auch noch in der Bundesrepublik, wie das zum Beispiel in dem von Schmitt beeinflussten Werk des Staatsrechtlers und Verfassungsrichters Ernst Wolfgang Böckenförde sichtbar wird. 57 Schmitt [1922] 1990, S. 11. Vgl. ferner Kelsen [1920] 2013 und Heller [1927] 1992. Siehe da‐ zu auch Hebeisen 1995 und Dyzenhaus 1997. Bedürfte es noch eines weiteren zeitgenössischen Beispiels für die nach wie vor gegebene Bedeutung des Souveränitätsbegriffs genügt es, sich die Diskussionen über den sogenannten Brexit zu vergegenwärtigen. Auch hier war das ent‐ scheidende Argument derjenigen, die die Europäische Union verlassen wollten das erklärte Ziel die Souveränität des Vereinigten Königreichs wiederzugewinnen. 52 53 54 55 56

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„dass wir, völlig auf dem Boden der organisch- sozialrechtlichen Anschauung Gierke‘s stehend, (…) Gierke selbst bekämpfen mussten, insofern er den mit seiner Lehre völ‐ lig incommensurablen Souveränitätsbegriff in den Rahmen derselben einzufügen ver‐ sucht.“58

Wie kann nun das uns hier vor allem interessierende Staats- und Souveränitätsver‐ ständnis Gierkes neben dem bereits Gesagten weiter charakterisiert werden? Gierke vertrat und entwickelte eine organische Staatslehre. Er sah den Staat als einen eigenen Organismus an, der auch in dem juristischen Bereich aus der mensch‐ lichen Natur zu erklären sei. Gierke machte sich hier sowohl philosophische als auch historische Erkenntnisse zu eigen. Ein charakteristischer Aspekt von Gierkes organischer Staatslehre war die Auffassung, dass dem als Organismus angesehenen Staat daher auch ein dem Staat eigener, realer Gesamtwillen zukam. Die Staatsper‐ son fußte bei Gierke nicht auf der juristischen Fiktion der persona moralis, wie wir sie im römischen Recht finden. Er nahm die von Hobbes und dann vor allem von Pufendorf, den er wiederholt als genialen Denker bezeichnete59, weiter entwickelte Idee „der personae morales simplices und compositae“60 auf und integrierte sie in seine organische Staatslehre.61 Für Gierke hatte der „organische Staatsbegriff“ das neuere Staatsrecht nachhaltig befruchtet. Er sah „insbesondere in der Idee der Persönlichkeit des Staates die Blüthe jener Theorie“.62 63

58 Preuss 1889, S. 175. Vgl. zur „radix malorum [Wurzel des Übels] der „Souveränitäts“-Idee“ ebd., S. 194, so auch bereits ebd. S. 98. 59 Vgl. z.B. Gierke 1981, S. 192. 60 Vgl. z.B. Gierke 1981, S. 193. 61 Siehe dazu das Kapitel von Holland in diesem Band. 62 Gierke 1874, S. 269. 63 Gierke diskutierte das ausführlich, so u.a. in Gierke 1874, S. 281f.: „Zunächst ist es von vorn‐ herein verkehrt, den naturwissenschaftlichen Begriff des Organismus und noch dazu nach der Auffassung einer bestimmten neuesten Richtung zum Massstabe eines rechtswissenschaftli‐ chen Begriffes machen zu wollen, der bei seiner Entstehung und Gestaltung nicht entfernt an den technischen Begriff einer andern Wissenschaft, geschweige denn an dessen seither verän‐ derte Formulirung angeknüpft, sondern lediglich den Inhalt einer allgemein menschlichen Vor‐ stellung von den natürlichen Lebewesen gedanklich verwerthet hat. Es ist ebenso verkehrt, einen seither selbständig fortentwickelten, mit eignem positivem Gehalt erfüllten, mehr und mehr technisch gewordenen Rechtsbegriff einzig und allein nach der Exaktheit der bildlichen Analogie beurtheilen zu wollen, die ihm zuerst das Dasein gab und jetzt vielleicht für ihn nichts mehr als ein Name ist. Haben wir denn nicht unzählige abstrakte Begriffe, die noch die Spuren ihres bildlichen Ursprungs an sich tragen, während uns heute vielleicht das ehemals richtig empfundene Bild als schief erscheint? Ist es nicht in jeder Wissenschaft etwas Alltägli‐ ches, dass für einen neu auftauchenden Gedanken der adäquate Ausdruck fehlt, dass man nach einem mehr oder minder passenden Vergleich oder Bild greift, und dass erst im Laufe der Zeit der neue wissenschaftliche Sprachgebrauch mehr und mehr das Bildliche abstreift, sich tech‐ nisch ausprägt und nunmehr sich vollkommen mit dem darunter verborgenen Gedanken deckt?“ Vgl. auch Gierke 1910, S. 274.

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Gierke entwickelte einen spezifisch rechtswissenschaftlichen Begriff des Organis‐ mus.63 Er bewies damit ein differenziertes Problembewusstsein für die Möglichkei‐ ten und die Notwendigkeit juristischer Begriffsbildungen.64 „Offenbar kann als Subjekt der in ihrer Substanz ungetheilten Staatsgewalt nur die Mehrheit der vorhandenen Staatspersonen in ihrer organischen Verbundenheit aufgefaßt werden. Der Gesammtstaat und die Einzelstaaten in ihrer Zusammengehörigkeit bilden das Subjekt, welches sonst in einer einzigen Persönlichkeit besteht. Diese organische Gemeinschaft ist nicht eine neue staatliche Person über ihren Komponenten. (…) Auch tritt ihr organischer Charakter vor Allem darin hervor, daß sie in sich gegliedert ist. Die Stellung der Theilhaber ist keine gleiche, sondern der Gesammtstaat als solcher ist das Haupt der Gemeinschaft. Darum vertritt der Gesammtstaat nach außen zugleich die Gesammtheit der Gliedstaaten und hat auch nach innen in Zweifelsfällen die letzte Entscheidung. Gerade hierdurch erst ist für die erforderliche Einheit der Mehrheit gesorgt und, trotz der Spaltung der staatlichen Rechtssubjektivität in eine vielfache Persönlich‐ keit, in letzter Instanz die Einheitlichkeit des Staatswillens verbürgt“.65

Diese organische Vorstellung der inneren Gliederung des Staates hatte aber nicht nur die staatliche Willensbildung zum Gegenstand. Hier findet sich auch die (politische) Perspektive, die über die eigentliche Gestal‐ tung und Organisation des Staates hinaus auf sozial- und gesellschaftspolitische Reformen verweist. Böckenförde charakterisiert das treffend, wenn er bemerkt, „der Organismusgedanke dient hier der betonten Absetzung von der Einebnung der loka‐ len und regionalen Gewalten durch die staatliche Zentralisation und den emanzipativen, auflösenden Wirkungen der Einrichtung der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft. Er gibt einen Legitimationsbegriff ab für die Erhaltung oder Neubildung solcher Zwischenglie‐ der oder organischen Lebenskreise und greift damit über die Staatsgestaltung hinaus in den Bereich der Gesellschaftsreform“.66

Anlässlich seiner sozialrechtlichen Kritik am BGB wurden diese Gedanken von Gierke 1889 in die juristische Fachdebatte getragen.67 Von hier aus entwickelte er seine Sozialrechtslehre.68 End- und Bezugsgrößen dieser sozialrechtlichen Über‐ legungen waren die Arbeiter, die Belegschafts- und Betriebsangehörigen, Berufsver‐ bände, aber auch Volksgruppen und das durch die Staatsangehörigkeit bestimmte deutsche Volk insgesamt, dessen Integration und Teilhabe an den sozialen und ge‐ sellschaftlichen Verhältnissen angestrebt wurde. 64 Zum Unterschied der juristischen Fiktion der juristischen Person und der Metapher des Staates als Organismus vgl. auch Münkler 2016, insbes. S. 190-196. Gierke benutz die Konzeption der Analogie und vermeidet den Begriff der Metapher. Vgl. Gierke 1874, S. 274f. sowie Gierke 1954, S. 16f. 65 Gierke 1883, S. 72f. 66 Böckenförde 1991, S. 271. 67 Vgl. Gierke 1889a sowie die ausführliche Diskussion in Repgen 2001. 68 Vgl. dazu Spindler 1982, S. 155f. sowie Eichenhofer 2012, S. 76f. und Spindler in diesem Band.

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Diesen Überlegungen korrespondierte die rechtliche Garantie der politischen Par‐ tizipation am Staatsleben. Gierke begnügte sich nicht mit dem Untertanenbegriff eines Diederich Heßling, denn „waltet die Auffassung vor, dass im Begriff der Staatsangehörigkeit nur die passive Betheiligung am Staatsganzen wesentlich enthalten sei, so entsteht der Begriff der Unterthanenschaft; wird dagegen eine aktive Mitgliedschaft im Staatskörper in dem Begriff der Staatsangehörigkeit gefunden, so steigert sie sich zum Staatsbürgerrecht. Die allgemeinen staatsbürgerlichen Pflichten und Rechte, wie sie aus der Staatsangehörigkeit fliessen, bedürfen als Grundelemente des Staatsbaus von vornherein einer principiellen Fixirung und Umgrenzung. Wenn sich dabei die Vorstellung geltend macht, dass eine bestimmte Reihe von Theilnahmerechten am Staatsleben jedem Staatsangehörigen als unantastbar garantirt werden solle, so entsteht der Begriff der sogenannten politischen oder staatsbürgerlichen Grundrechte“.69

Gierke bemüht hier die seit Rousseau in der politischen Philosophie etablierte Unter‐ scheidung zwischen sujet und citoyen.70 Bei Rousseau heißt es im Contrat Social, „die souveräne Gewalt [ist] einfach und ein Ganzes, und man kann sie nicht teilen, ohne sie zu zerstören. (...) das Wesen der politischen Körperschaft [beruht] auf dem Zusammenklang von Gehorsam und Freiheit (...) und (...) die Begriffe Untertan und Sou‐ verän [sind] identische Wechselbegriffe (...), deren Idee in dem einen Begriff des Bürgers [citoyen] vereinigt ist“.71 Trotz dieser eindeutigen Bezüge auf Rousseau hatte Gierke Johannes Althusius als den Begründer des rationalen Gesellschaftsvertrags ausgemacht. Nachdrücklich behauptete er, „dass Althusius als der Schöpfer einer eigentlichen Theorie des contrat social betrachtet werden muss“.72

In diesem Zusammenhang betonte Gierke die Bedeutung des Naturrechts für die Rechtsauffassung wie wohl kaum ein anderer Jurist seiner Zeit: „Wenn es (…) auch fernerhin ein Recht geben soll, - ein Recht, das sich nicht blos mit dem althergebrachten wohltönendem Namen schmückt, sondern der Ausdruck einer specifischen (...) und in sich werthvollen Menschheitsidee ist, - (...) dann sind in der That dem Rechtsgedanken aus dem Naturrecht unverlierbare Errungenschaften gewon‐ nen worden“.73

Dem Naturrecht verdanke sich letztlich die Idee der Menschen- und Freiheitsrechte. Es wäre also verfehlt, Gierkes Genossenschaftsrecht eine romantisierende Volkstü‐ melei zu unterstellen, denn in seinem Althusius weiß er auch das Naturrecht mit dem Genossenschaftsrecht zu verbinden.74 Gemeinhin wird das Naturrecht am ehesten 69 Gierke 1874, S. 324. 70 Vgl. dazu auch die Diskussion bei Diderot 1753, S. 489: „Hobbes ne met aucune différence entre le sujet et le citoyen“. 71 Rousseau 1977, S. 100 (III-13). Vgl. dazu auch Schröder 2013. 72 Gierke 1981, S. 99. 73 Gierke 1981, S. 318. 74 Siehe dazu auch Janssen 1974, S. 18.

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mit abstrakten Rechtsprinzipien und individuellem Vernunft- oder selbst fiktivem Vertragsrecht assoziiert, während die germanistische Rechtsschule mit mittelalterli‐ chem Recht, Stammesrecht und einem starken Hang zur Mediävistik in Verbindung gebracht wird. Insofern ist es bedeutsam, dass Gierke sich einmal mehr nicht in ein einfaches Klischee einordnen lässt, sondern dem Naturrecht eine so große Bedeu‐ tung beimisst.75 Das Naturrecht habe selbst dem im 19. Jahrhundert dominierenden Positivismus eine unverbrüchliche Wertgrundlage vermittelt, hinter die auch der Positivismus nicht zurückgehen könne. Prägnant heißt es bei Gierke, „die Idee der Gerechtigkeit [wird] jene Selbständigkeit, die ihr im Begriff des Natur‐ rechts erkämpft wurde, auch im Begriff des durchweg positiven Rechts sowohl gegen‐ über der Idee der gesellschaftlichen Nützlichkeit als gegenüber der Idee der kollektiven Macht immerdar behaupten“.76

Dieses Vorgehen Gierkes, das auf einer quellenreichen Interpretation der Geschichte des politischen Denkens und der Rechtsgeschichte beruhte, unterschied ihn von vie‐ len seiner juristischen Fachkollegen. Er erwartete allerdings vom Naturrecht keine weiteren Impulse mehr für die Gestaltung der zukünftigen Rechtsverhältnisse und hier insbesondere die Fortentwicklung des Verfassungsrechts.77 Im Urteil von Preuss war Gierke „weder Philosoph noch Historiker, und doch von beidem so viel, als nöthig ist, um wissenschaftlicher Jurist zu sein“.78 Gierkes Genossenschaftsrecht und sein Staatsverständnis beruhten auf der Idee einer organi‐ schen Gliederung, in der er die klassischen Konzepte staatlicher Souveränität zu integrieren suchte. Althusius‘ Souveränitätsverständnis war ihm hier näher als die von Pufendorf (und Hobbes) formulierten Überlegungen.79 Die nicht zuletzt von Althusius‘ Politica inspirierte „organische Auffassung der Zwischenverbände [befähige] mehr und mehr zur Ueberwin‐ dung der centralistischen wie der individualistischen Gegenströmungen“.80

75 So auch die bekannte Forderung Gierkes, „in unserem öffentlichen Recht muß ein Hauch des naturrechtlichen Freiheitstraumes wehen und unser Privatrecht muß ein Tropfen sozialistischen Oeles durchsickern“. Gierke 1889a, S. 13. 76 Gierke 1981, S. 318. 77 Gierke 1910, S. 289: „We believe no more in a natural law that should be revealed by the hu‐ man reason and would prescribe a rational constitution fit for every people in every epoch. Thus in comparing the public law of different countries we endeavor no longer to discover any absolute superiority of either of them, but we ask only whether the constitutional law of each country accords with its public feelings and wants“. 78 Preuss 1889, S. 38f. 79 Gierkes kritisches Urteil zu Hobbes und Pufendorf findet sich beispielsweise in Gierke 1981, S. 72. Siehe dagegen ebd. S. 99 die positive Würdigung von Althusius. 80 Gierke 1981, S. 263.

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Bei Althusius wurde dem körperschaftlich verfassten Volk das Souveränitätsrecht zugesprochen. Damit werden nicht die Individuen zu Rechtsträgern der Souveräni‐ tät, sondern die verschiedenen körperschaftlichen Gliederungen der „Städte, Provinzen und Regionen, die übereingekommen sind, durch wechselseitige Ver‐ bindung einen gemeinschaftlichen Körper zu bilden“.81

Allen diesen frühneuzeitlichen Denkern war jedoch in Gierkes Urteil gemeinsam, dass sie ihrer Staatslehre eine vertragsrechtliche und damit in der Konsequenz eine individualistische Konzeption zugrunde legten. Das galt für Gierke letztlich auch bei Althusius. Gierke versuchte diesen individual- und vertragsrechtlichen Begründungsmustern staatlicher Herrschaft durch seine organische Staatslehre zu begegnen.82 Er hob mit dem Organismusbegriff das schrittweise Werden des Staates hervor.83 Für ihn stand die Entwicklung des Staates im Gegensatz zu den Vertragsvorstellungen etwa von Hobbes, Pufendorf, Rousseau oder noch Kant, die meist auf einer Fiktion eines Uroder Naturzustandes und dessen Überwindung durch einen fiktiv angenommenen Vertrag fußen.84 Gierke betonte hingegen das langsame Werden von Rechtsinstitu‐ ten, damit aber auch ihre historische Kontextualität, und häufig eine deshalb ihnen eingeschriebene Dialektik. Sein spezifisches Verständnis von Recht und Staat sucht eine von den Begrün‐ dungsmustern der durch Positivismus und Naturrecht bestehenden Traditionen letzt‐ lich unabhängige Begründung aufzuzeigen. In seiner Rektoratsrede der Universität Berlin von 1902 bekräftigte er dies an prominenter Stelle erneut. Die organische Theorie, so Gierke, „zieht sich durch die Staatslehre des Altertums und die Gesellschaftslehre des Mittelal‐ ters, sie begleitete alle Versuche einer Überwindung des anatomistisch-mechanischen Schlußergebnisses innerhalb der naturrechtlichen Gedankenwelt (…). Die organische Theorie betrachtet den Staat und die anderen Verbände als soziale Organismen“.85

Die rechtliche Organisation des Staates war nach Gierkes Verständnis am besten durch eine organische Gliederung zu erreichen. Ziel und Aufgabe des Staatsrechts war es für Gierke dabei auch,

81 Althusius 2003, S. 112 (IX-5). 82 Gierke 1981, S. 98: „Denn auf die Dauer liess sich, wenn einmal das Individuum zum Schöpfer des Staates erhoben war, auch die Herleitung der Staatsgewalt aus den Individualrechten nicht abweisen“. Vgl. auch Peters 2002, S. 352: „Gierke unternimmt in seinem Althusius gewisser‐ maßen einen Generalangriff auf den Begriff des Vertrags, der ihm unzureichend erscheint, die gewachsene und gewordene Entstehung von Gesellschaften und Staaten zu erklären“. 83 Siehe dazu auch Janssen 1974, S. 24. 84 Vgl. Kersting, 1994. 85 Gierke 1954, S. 15.

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„durch einen Inbegriff von Normen, den wir als Verfassung oder Konstitution bezeich‐ nen, diese Organisation insoweit, als sie Willensordnung ist, zur Rechtsordnung auszu‐ prägen“.86

Gierke begründete das „innige Korrelatverhältnis zwischen Recht und Staat“87 da‐ mit, dass er beide Begriffe als voneinander abhängig auffasste. Denn das „Recht erlangt seine Vollendung erst durch den Staat, der als Träger der höchsten Gewalt in Erfüllung einer unabweisbaren Lebensaufgabe die Rechtsordnung formt und schirmt. Umgekehrt vollendet sich der Staat erst durch das Recht, das das gesamte Staatsleben ordnend durchdringt und den staatlichen Gewaltverhältnissen (…) durch die Erhebung zu Rechtsverhältnissen Weihe und Festigkeit verleiht. Staat und Recht sind nicht ausein‐ ander ableitbar; weder ist, wie das Naturrecht glaubte, der Staat aus dem Recht geboren, noch ist, wie die meisten Modernen meinen, das Recht ein Staatsgeschöpf“.88

In diesem auch heute noch wegweisendem Urteil kristallisiert sich gleichsam das Staatsverständnis Otto von Gierkes.

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86 Gierke 1874, S. 328. 87 Gierke 1916/17, S. 223. 88 Gierke 1916/17, S. 223f.

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Teil I: Aspekte von Gierkes Rechtslehre

Jasper Kunstreich Stadt, Land, Recht – ein prosopographischer Versuch. Otto von Gierke und die „Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte“

I. Einleitung Als Otto von Gierke im Oktober 1921 starb, ging auch seine Herausgeberschaft der „Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte“ zu Ende. Wohlge‐ merkt noch der letzte Band, der 1921 erschien, bezeichnete Gierke als Herausgeber der Reihe. Nun ging diese Rolle an seinen Sohn Julius über.1 Wenige Reihen sind so eng mit dem Namen ihres Begründers verbunden und in Erinnerung geblieben wie diese.2 Sie ist aber auch eng an Gierkes akademische Biographie geknüpft: Er begründet sie als junger Professor, führt sie bis zu seinem Tode weiter und erweist dabei erstaunliche Produktivität. Nicht nur viele bekannte Namen der Rechtsge‐ schichte publizieren ihre Dissertationen oder Habilitationen darin – auch solche, die später vor allem als Dogmatiker des geltenden Rechts bekannt werden, Politiker und spätere Reichstagsabgeordnete, der Begründer der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft3, ein Friedensnobelpreisträger4 und nicht zu vergessen zwei der ersten promovierten Juristinnen Deutschlands.5 1 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Julius von Gierke schon sehr viel früher in die Herausge‐ berschaft miteingebunden war, seine eigenen Veröffentlichungen zur Geschichte des deutschen Deichrechts erfolgten in einem bereits verhältnismäßig umfangreichen ersten Band 1901 und sodann 1917 mit einem überlangen, 727 Seiten umfassenden zweiten Band. 2 Dilcher, 1985, S. 80 FN 30 spricht fast liebevoll von „Gierkes Untersuchungen“. 3 Friedrich Gustav Adolf Schmidt (1860-1956), führte ab 1920 den Namen Schmidt-Ott, Promoti‐ on bei Jhering 1883 in Berlin die in der Reihe Gierkes als Band 15 veröffentlicht wird, ab 1888 im preußischen Kultusministerium, 1911 mit Adolf Harnack und Emil Fischer an der Gründung der KWG beteiligt, 1920 erster Präsident der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, 1934 Rücktritt, nach dem 2. WK Ehrenpräsident der DFG, vgl. Vierhaus, 1996, S. 131 und vom Brocke, 2007, S. 165 ff. 4 Max Huber 1874-1960, veröffentlicht 1897 in Band 54 seine ihm von Gierke gestellte Seminar‐ arbeit über die Gemeinderschaften der Schweiz, Promotion ebenfalls 1897, 1902 Professor an der Universität Zürich, 1924-1927 Präsident des Ständigen Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, 1928-1944 Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, 1945 Entgegennah‐ me des Friedensnobelpreises in dieser Funktion, vgl. Kley, 2018, S. 199. 5 Den Anfang machte noch 1911 Franziska Weissenborn mit ihrer Arbeit „Mühlhausen in Thürin‐ gen und das Reich“, Band 108 der Reihe. Über Weissenborns weiteren Verbleib ist nichts in Er‐ fahrung zu bringen. 1924 erscheint eine weitere Dissertation an der Rechts- und Wirtschaftswis‐ senschaftlichen Fakultät Jena aus der Feder einer gewissen Amalie Weissenborn über das „Ar‐ menwesen von Mühlhausen in Thüringen“; Band 123 der Gierke’schen Reihe steuerte 1915

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Das Wechselspiel zwischen Herausgeberschaft, wissenschaftlichem Nachwuchs und Gierkes eigenem Forschungsprogramm begründet das Interesse an einer nähe‐ ren Betrachtung dieser Reihe anlässlich seines 100. Todestages. Die folgenden Ab‐ schnitte versuchen einen Überflug über rund 130 Bände juristischer Literatur, die zu Gierkes Zeiten erschienen, mit gelegentlichen Spotlights auf bestimmte Themen und Leitmotive. Es wird gezeigt, dass Gierkes eigenes Forschungsprogramm die Aus‐ richtung der Schriftenreihe mitbestimmte. Seine Herausgebertätigkeit war zudem eingebettet in ein größeres Netzwerk der damaligen, noch fast ausschließlich männ‐ lichen Germanisten, Staatsrechtler, Historiker und Nationalökonomen. Die Schrif‐ tenreihe eröffnet den Blick auf die deutsche Rechtswissenschaft am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie durch ein Prisma. Besonders häufige The‐ menkomplexe bilden mittelalterliche Stadtrechte, die Wirtschaftsgeschichte und das Immobiliarsachenrecht. Darauf wird im letzten Abschnitt genauer eingegangen. Ich stelle die Hypothese auf, dass diese Arbeiten und ihre Beschäftigung mit den ge‐ wählten historischen Gegenständen Teil einer semantischen Verschiebung sind, die den Begriff der Wirtschaftsverfassung mitprägen, der schließlich in den deutschen wirtschaftspolitischen Debatten des 20. Jahrhunderts eine Schlüsselrolle spielen wird – sowohl in der Weimarer Republik, der jungen Bundesrepublik als auch später im Europarecht.

II. Fragestellung und Ansatz Gleich mehrere Forschungstraditionen nehmen Otto von Gierke als Gründungsfigur oder Vorläufer für sich in Anspruch.6 Im Arbeitsrecht und Sozialrecht sind Referen‐ zen an den Germanisten ganz selbstverständlich, was freilich nicht zuletzt auch auf das Engagement von Gierkes Tochter Anna von Gierke sowie Hugo Sinzheimer zurückzuführen ist, die den eigenen Namen und das Vermächtnis des Vaters mit der neuen Arbeitsrechtswissenschaft in der Weimarer Republik verknüpften.7 Auch Margarete Berent (1887-1965) mit ihrer Arbeit über „die Zugewinngemeinschaft der Ehegat‐ ten“, zugleich Dissertation an der juristischen Fakultät Erlangen, bei. Berent war Schülerin von Martin Wolff. Da Frauen im Kaiserreich der Zugang zu Berufen der Justiz verwehrt war, legte sie erst 1919 das Referendarsexamen und 1925 das Assessorexamen ab. Emigration 1939, er‐ neutes Jurastudium in New York 1942, 1949 Zulassung zur Anwaltskammer New Yorks, vgl. Häntzschel, 1997, S. 231 ff. 6 Grundlegend zum wissenschaftssoziologischen Begriff der “Forschungstradition“ bei Laudan, 1977, S. 70 ff. 7 Stolleis, 2003, S. 11; zu Anna von Gierke vergleiche die Quellensammlung im Digitalen Deut‐ schen Frauenarchiv, Beitrag von Wegener, Hildburg, 2018: Anna von Gierke, URL: https://www .digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/anna-von-gierke (16.12.2020); Hugo Sinzhei‐ mer gilt als Schüler Gierkes und verfasste den wohl bekanntesten Nachruf vgl. Sinzheimer, Hu‐ go: Otto von Gierkes Bedeutung für das Arbeitsrecht, in: Arbeitsrecht IX (1922), S. 1 ff.; dazu Lobinger, 2013, S. 186.

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bzgl. der Genese sachenrechtlicher Vorschriften des BGB und des Urheberrechts wird regelmäßig auf Gierke verwiesen und dessen Begriff einer unkörperlichen Sa‐ che als einen „ideell begrenzte[n] Ausschnitt aus den zur rechtlichen Beherrschung geeigneten Beziehungen der äußeren Güterwelt.“8 Schließlich wird häufig auf die Nähe Gierkes wie allgemein der germanistischen Rechtsgeschichte zur historischen Schule der Nationalökonomie unter Gustav von Schmoller hingewiesen.9 Das Ver‐ knüpfen solcher Traditionslinien ist keine bloße Hagiographie, sondern mitunter auch handfeste Kritik, insbesondere da, wo diese Traditionslinien in totalitäre und antiliberale Ideologien weisen.10 Interessanterweise hat man außerhalb Deutschlands neuerdings weniger Hemmungen, generös mit der Behauptung einer etwaigen Vor‐ gängerschaft Gierkes für die eigene Forschungsagenda umzugehen, beispielsweise in der sogenannten Neueren Institutionenökonomik.11 Über die behaupteten Genealogien soll hier nicht befunden werden. Sie sind aber als solche bereits Indikatoren für Gierkes Bedeutung und Stellung im akademi‐ schen Koordinatenfeld, eine Stellung, die offenbar sowohl vielseitig anschlussfähig wie einflussreich war.12 Eine solche Stellung ergibt sich aus dem komplexen Zu‐ sammenspiel von eigenem intellektuellem Beitrag und Einsatz, der Problemlösungs‐ kompetenz von Ideen, aber eben auch der institutionellen Affiliation, organisierten Hierarchieverhältnissen und persönlichen Kooperationen. Neben seiner Tätigkeit als Rektor und Dekan mehrerer wissenschaftlicher Einrichtungen13 und seiner eigenen Forschung war Gierke immer auch Lehrer und Förderer junger Wissenschaftler14 und Herausgeber. Mit Herausgeberschaften und Institutsleitungen geht Einflusses im akademischen Feld einher.15 Gierke war in der Lage, neu-entstehende Forschungs‐ felder zu fördern oder aber genau das zu unterlassen und damit unter Umständen einen Forschungsstrang auch wieder abreißen zu lassen. Zugleich war er selbst eingebettet in das akademische Feld, in dem Reputation die offizielle Währung ist, weshalb auch Gierke nicht völlig willkürlich, sondern mit Rücksicht auf Kolle‐ gen und bestehende Forschungstraditionen agieren musste.16 Und Reputation wird 8 Rüfner, 2003, S. 311; Gierke, 1895, S. 270. 9 Pierenkemper, 2012, S. 116 ff. 10 Rückert, 1992, S. 223-294, insbes. S. 274, vergleiche auch seinen Beitrag in diesem Band; siehe außerdem Dilcher, 2017, S. 389. 11 Vgl. nur Harris, 2009, S. 606 ff., die Forschungen zu europäischen Zünften von Stephan R. Ep‐ stein – auf deutsch besprochen bei Cerman, 2010, S. 395 f – die jetzt erneut aufgegriffen wur‐ den von Ogilvie, Sheilagh: European Guilds 900-1900: An Economic Analysis, Princeton 2019. 12 Bourdieu, 1996, S. 126-130. 13 Berufung nach Breslau 1871, 1872 Mitglied des Vereins für Socialpolitik, Rektor der Universi‐ tät Breslau 1882/1883, Wechsel an die Universität Heidelberg 1884, Wechsel an die Universi‐ tät Berlin 1887, 1902/1903 Rektor der Berliner Universität, vgl. biographischen Abriss bei Schröder, 1996, S. 152. 14 Tatsächlich zunächst nur Männer. 15 Conradin-Triaca, 2014, S. 152-157. 16 Offer, 1997, 454.

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neben institutionellen Affiliationen und persönlichen Bekanntheitsnetzwerken im akademischen Feld über die Produktion und Publikation von Texten generiert.17 Darin begründet sich das Interesse an Gierkes Herausgebertätigkeit wie an der Frage nach der Position Gierkes bzgl. der Produktion akademischer Texte – insbesondere, aber nicht nur, mit Blick auf Qualifikationsschriften. Seine wohl produktivsten Herausgeberschaften betraf die Schriftenreihe „Unter‐ suchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte“. Sie wird für die folgenden Überlegungen zum Ausgangspunkt genommen und liefert gewissermaßen das Da‐ tenmaterial. Versucht wird eine Prosopographie von Gierkes Netzwerk durch das Prisma jener Schriftenreihe. Wer sind die Autoren und Autorinnen, die in dieser Schriftenreihe veröffentlichen dürfen? Welchen Anteil haben Qualifikationsschriften und wo kommen diese her? Werden Brücken zu anderen juristischen Fächern oder gar anderen wissenschaftlichen Disziplinen gebaut? Welche Themenschwerpunkte lassen sich ausmachen und mithin Rückschlüsse auf Gierkes eigene Schwerpunktset‐ zung in „seiner“ Schriftenreihe ziehen? Zu dem Bild gehört ferner, dass die Fächergrenzen an den Universitäten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts noch nicht in jener Weise hermetisch abgeriegelt waren, die heute den Ruf nach mehr Interdisziplinarität stützt.18 Prominentestes Beispiel dieser sich auch in der Karriere niederschlagenden Durchlässigkeit ist Max Weber, der sich aufs ausgiebigste mit Rechtsgeschichte befasste,19 um sich sodann der Na‐ tionalökonomie und der Soziologie zuzuwenden.20 „Produkte“ ihrer Zeit waren aber auch Georg Simmel, Werner Sombart oder später Walter Eucken.21 Der Studiengang „Staatswissenschaften“ umfasste in aller Regel Geschichte, Volkswirtschaftslehre, Jurisprudenz, Statistik, Soziologie.22 Den folgenden Ausführungen liegt eine doppelte Betrachtung der Gierke’schen Schriftenreihe zugrunde. Die eine stellt einen Überflug dar; die andere eine stich‐ probenartige Fokussierung auf einzelne Themen. Für die erstere, die Vogelperspek‐ tive, wurden 132 Bände gesichtet, die biographischen Daten der Autoren – sofern auffindbar – erfasst, ebenso wie der Umfang der Arbeiten, der Wirkungsort der 17 Dass der Publikationszwang bereits zur vorletzten Jahrhundertwende ständiger Begleiter wis‐ senschaftlicher Karrieren war, entnehmen wir der zeitlosen Betrachtung Max Webers Wissen‐ schaft als Beruf; Weber, 1919 ND 1995, S. 3-8. 18 Schmidt-Aßmann, 1995, S. 8. 19 Max Webers Promotion bei Levin Goldschmidt beschäftigte sich mit der Geschichte der Han‐ delsgesellschaften im Mittelalter, in Max Weber Gesamtausgabe (MWG) I/1 mit den Gutach‐ ten zum Promotionsverfahren von Otto Gierke und Levin Goldschmidt S. 98 ff.; in seiner Habi‐ litationsschrift, ebenfalls bei Goldschmidt und mit Otto Gierke als Zweitgutachter, behandelte er Agrarverfassung und antiken Kapitalismus, in MWG I/2. 20 Bond, 2012, S. 27-29. 21 Simmel stand in engem Austausch mit Max Weber, erhielt 1911 die Ehrendoktorwürde der staatswissenschaftlichen Fakultät in Freiburg, Werner Sombart und Walter Eucken, beide ei‐ gentlich als Figuren der Nationalökonomie bekannt, studierten beide Rechtswissenschaften. 22 Vgl. auch Schuppert, 2018, S. 136.

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Autoren, ihr Alter bei Veröffentlichung, ob es sich um Dissertationen, Habilitationen oder andere Schriften handelte; sie wurden verschlagwortet nach Rechtsgebiet und Themensetzung und ihre Vorworte und Einleitungen nach expliziten oder impliziten Hinweisen auf Betreuungsverhältnisse durchgesehen. Insbesondere die Schlagworte zeigen einen deutliche thematische Ausrichtung, der in einer fokussierten Betrach‐ tungsweise nachgegangen wird.

III. Gierkes „Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte“ Gierke gründete die Schriftenreihe und hatte die Herausgeberschaft bis zu seinem Tode – zumindest formal – inne. Zwischen 1878 und 1940, als die Reihe zum ersten Mal eingestellt wurde, erschienen 150 Bände – 132 davon allein unter Gierkes Ägide.23 Die Wiederaufnahme dieser Reihe als „Neue Folge“ schaffte es zwischen 1962 und 2007 nur auf 34 Bände.24 Ob letzterer Befund darauf zurückzuführen ist, dass die Zeiten der deutschen Staats- und Rechtsgeschichte vorbei waren, oder ob sich inzwischen schlicht andere Publikationsorgane etabliert hatten, kann dahin stehen.25 Der Name der Reihe ist nach alldem schon quantitativ untrennbar mit Gierke verbunden. Die Herausgeberschaft einer Schriftenreihe bringt Aspekte mit sich, die man mit einer Angebots- und einer Nachfrageseite beschreiben kann. Auf der Angebotsseite steht der Wunsch, eine möglichst breite Leserschaft zu gewinnen und die Reihe als Marke zu etablieren. Damit einher geht das Bemühen um Kontinuität und Qualität der veröffentlichten Beiträge. Für die Herausgeber und Herausgeberinnen wird die Schriftenreihe zu einem Reputationsgenerator: Bekanntheit und Gütesiegel der Reihe werden unweigerlich mit ihnen assoziiert. Mehr noch, die so generierte Reputation münzt sich um in akademisches Kapital, das wiederum eingesetzt wer‐ den kann, um das entsprechende Feld mitzugestalten.26 Die Herausgeberinnen und Herausgeber sind schließlich auch in der Rolle der Entscheider, die Manuskripte ablehnen oder annehmen können. Neue Verbindungen können so geknüpft oder bestehende vertieft werden. Ein hoher Bekanntheitsgrad, gerade auch mit Blick auf die zugeschriebene Qualität, verschafft Freiräume; zuviel Willkür – umgekehrt – beschädigt das Qualitätssiegel und langfristig so auch die Schriftenreihe.27

23 Zunächst im Verlag Wilhelm Koebner, ab Band 54 sodann beim Verlag M. & H. Marcus in Breslau. 24 Die Neue Folge wurde begründet von Adalbert Erler im Scientia Verlag in Aalen und heraus‐ gegeben von Wilhelm Wegener, Wolfgang Sellert, Heinz Angermeier, Elmar Wadle. 25 Zur Krise der Germanistik im Westdeutschland der Nachkriegszeit vgl. Ogorek, 1994, S. 48 f. 26 Bourdieu, 1992, S. 89. 27 Ibid., S. 149, 156.

39

Damit korreliert auf der „Nachfrageseite“ der Wunsch der Autorinnen und Au‐ toren, publiziert zu werden. Für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist das nicht erst heute immer zugleich auch ein Zwang; nur so können bestimmte Ent‐ wicklungsstufen in der Karriereleiter erklommen werden. Damit verbunden ist der der Wunsch nach Sichtbarkeit und Gütesiegel, die durch Veröffentlichung in einer distinguierten Schriftenreihe erworben werden können. Autoren und Autorinnen, die ihre Werke in einer bestimmten Schriftenreihe unterbringen, knüpfen an die Reputa‐ tion dieser Schriftenreihe an und damit indirekt auch an jene der Herausgeberinnen und Herausgeber.28 Abbildung : Kumulative Anzahl der veröffentlichen Bände in der Schriftenreihe bis zu ihrer Einstellung 1941.

Kumulative Veröffentlichungen in der Schriftenreihe 1878-1940 160

Tod Gierkes

140

Emeritierung

120 Wahl zum  Rektor

Ruf nach  Berlin

100 80

Ruf nach  60 Heidelberg 40 20

1938

1935

1932

1929

1926

1923

1920

1917

1914

1911

1908

1905

1902

1899

1896

1893

1890

1887

1884

1881

1878

0

bene Qualität, verschafft Freiräume; zuviel Willkür – umgekehrt – beschädigt das Qualitätss 28 Häufig besteht die Motivation, dadurch die eigene Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schule oder wenigstens einer losen wissenschaftlichen Gesinnungsgemeinschaft auszudrücken, vgl. Breschi and Malerba, 2005, S. 23-25.

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Was die Kontinuität angeht, beeindrucken die Eingangs referierten Zahlen der Schriftenreihe unter Gierkes Leitung. Durchschnittlich drei Bände oder 483 Druck‐ seiten pro Jahr brachte sie heraus. Die besondere Produktivität von Gierkes Heraus‐ geberschaft zeigt sich an der kumulativen Kurve der veröffentlichten Bände, die nach seinem Tod abflacht (vgl. Grafik 1); Einbrüche gibt es vorher nur um 1887, 1902 und 1914. Sie korrespondieren mit Gierkes Umzug von Heidelberg nach Berlin und der Aufnahme seiner Tätigkeit als Rektor an der Berliner Universität sowie mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs, als Gierke zudem bereits die 70 überschritten hat und seine Produktivität generell nachlässt.29 Diese Beobachtungen legen es zu‐ mindest nahe, dass Gierke nicht nur formal seinen Namen für die Schriftenreihe her‐ gab, sondern sich nach seinen Kräften in den Prozess einbrachte. Ungefähr die Hälfte aller Bände können als Qualifikationsschriften identifiziert werden, wobei dabei Dissertationen überwiegen (60%), gefolgt von Habilitations‐ schriften (35%), während Seminararbeiten nur einen kleinen Teil ausmachen (5%). Die Autoren sind ausnahmslos männlich und im Durchschnitt zum Zeitpunkt der Pu‐ blikation 30 Jahre alt, die Doktoranden unter ihnen im Schnitt 26 Jahre. Betrachtet man einzelne Dekaden getrennt, zeigt sich eine leichte Verschiebung: Die Autoren werden im Schnitt älter und die Arbeiten länger, von durchschnittlich 105 auf 161 Seiten Umfang.

IV. Themen und Netzwerke Die Reihe war nicht bloß juristischen Texten vorbehalten, wenngleich Qualifikati‐ onsarbeiten an juristischen Fakultäten eindeutig den Löwenanteil ausmachen. Dane‐ ben findet sich auch eine Reihe von Arbeiten, die allein der Mediävistik oder der Wirtschaftsgeschichte zugeordnet werden können. Versucht man die verbleibenden juristischen Arbeiten einem der gängigen Fächer zuzuordnen, ergibt sich folgende Verteilung (vgl. Tabelle): Das Privatrecht stellt die größte Gruppe der Veröffentlich‐ ungen dar, dicht gefolgt vom öffentlichen Recht. Diese halbwegs ausgeglichene Verteilung entspricht dem Bedürfnis, die Trennung zwischen öffentlichem und pri‐ vatem Recht wissenschaftlich zu überbrücken, wie es in Gierkes eigenem Werk angelegt ist.30 Die verbleibenden 18% verteilen sich auf Prozessrecht, Strafrecht und Kirchenrecht. Dieser Einteilung haftet freilich etwas Artifizielles an, denn die Fächergrenzen waren zu jener Zeit mitnichten so starr festgeschrieben, wie an heutigen Fakul‐ 29 Bader, 1964, S. 374-375. 30 So nimmt er zeitlebens zu aktuellen Fragen sowohl des Privat- wie des öffentlichen Rechts Stellung, am bekanntesten wohl seine Kritik am BGB, aber auch seine Auseinandersetzung mit Labands Auslegung der Reichsverfassung, vgl. auch bei Dilcher, 2017, S. 57.

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täten.31 Das gilt umso mehr mit Rücksicht auf den historischen Gegenstand, des‐ sen sich diese Arbeiten ausnahmslos annahmen. So kann eine Untersuchung zu mittelalterlichen Stadtrechtsurkunden in den Graubereich zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht fallen. Da ist das Beispiel Köhnes Abhandlung über das Recht der Mühlen zu nennen, das sowohl auf die privatrechtliche Eigentümerstellung, über gesellschaftsrechtliche Arrangements spricht, wie auch das mittelalterliche und frühneuzeitliche Mühlenwesen in den Begriffen der öffentlich-rechtlichen Gewerbe‐ ordnung und des allgemeinen Verwaltungsrechts diskutiert.32 Gierkes Schriftenrei‐ he war ein attraktiver Publikationsort für privatrechtliche wie öffentlich-rechtliche Arbeiten gleichermaßen. Das entspricht auch Gierkes eigenem Ansatz, der das öf‐ fentliche und private Recht methodisch und theoretisch stets zusammen dachte. Er selbst kritisierte die Scheidung, die von seinen Zeitgenossen immer stärker forciert wurde.33 Gierke steuerte denn auch zwei eigene Werke zur Schriftenreihe bei, eine privatrechtliche Abhandlung zum besonderen Schuldrecht nach älterem deutschen Recht,34 sowie sein Buch über Johannes Althusius und die Entwicklung der na‐ turrechtlichen Staatsrechtslehre, das in engem Zusammenhang mit der Entstehung seiner Bände 3 und 4 des deutschen Genossenschaftsrechts steht.35

31 Carl Köhne (1863-1932) beispielsweise, dem nie ein Ordinariat vergönnt war, publizierte zum Personenstandsrecht und zur mittelalterlichen Stadtverfassung, unterrichtete schließlich Han‐ delsrecht an der TU-Berlin, vgl. Eintrag zu Karl Köhne von Laura Landau in: The Jewish En‐ cyclopedia, New York 1906, online: http://www.jewishencyclopedia.com//articles/9433-kohne -karl (16.12.2020); Iganz Jastrow (1856-1937) veröffentlichte eine strafrechtliche Arbeit in der Schriftenreihe, machte sich später aber eher als Nationalökonom einen Namen und war Grün‐ dungsrektor der Berliner Handelshochschule, vgl. Kauder, 1974, S. 366 f. 32 Köhne, 1904, vgl. S. 18 ff. zu verschiedenen Eigentumsbegriffen und S. 31 ff. zu den Verwal‐ tungsvorschriften. 33 Z.B. in seiner Auseinandersetzung mit Laband, vgl. Dilcher, 1974-1975, S. 339-345. 34 Band 100 in der Schriftenreihe: „Schuld und Haftung im älteren deutschen Recht, insbesondere die Form der Schuld- und Handlungsgeschäfte“, 1910. 35 Band 7 der Reihe, erschienen 1880.

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Fächerverteilung und Schlagwörter in der Schriftenreihe Verteilung der Fächer

Die 10 häufigsten Schlagworte

Privatrecht

44%

1. Stadtrechte

17,40%

Öffentliches Recht

38%

2. Wirtschaftsgeschichte

12,12%

Prozessrecht

8%

3. Sachenrecht

9,84%

Strafrecht

5%

4. Erbrecht

9,10%

Kirchenrecht

4%

5. Verfassungsgeschichte

8,30%

Nicht zugeordnet

1%

6. Schuldrecht

7,60%

7. Gesellschaftsrecht

6,20%

8. Handelsrecht

6,10%

9. Familienrecht

5,30%

9. Verwaltungsrecht

5,30%

N= 132, eigene Auswertung

Eine andere Facette dieser thematischen Verteilung fördert die Verschlagwortung zu Tage.36 Die oben angeführte Tabelle führt die 10 am häufigsten genannten Schlagworte auf. Die Liste wird angeführt von den Stadtrechten und der Wirt‐ schaftsgeschichte. In dem Zeitraum zwischen 1878 und 1920 werden in Gierkes Schriftenreihe insgesamt 23 Bände veröffentlicht, die sich mit mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadtrechten befassen und zugleich häufig auch Aspekte der Wirt‐ schaftsgeschichte behandeln; unter beide Aspekte lassen sich öffentlich-rechtliche wie auch privatrechtliche Themenstellungen fassen.37 Auf Platz drei und vier folgen das Sachen- und das Erbrecht. Die Auswahl überrascht nicht, denn sie passt in das Bild, das in methodischer Hinsicht von den Germanisten gezeichnet wird, die sich eingehend mit Handelssta‐ tuten und Stadtrechten beschäftigten. Es war auch das tradierte Quellenmaterial, mit sich die Germanisten methodisch von den Romanisten absetzten.38 Aus der Fül‐ le mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Partikularrechte sollten abstrakt-generelle Prinzipien eines deutschen Privatrechts entwickelt werden.39 Im Gegensatz zu den

36 Bei der Verschlagwortung wurde in drei Schritten vorgegangen: Nach dem ersten, einer groben Zuordnung zu den übergreifenden Rechtsgebieten (zB Privat- oder Prozessrecht), wurden nach einer Durchsicht maximal zwei weitere Schlagwörter vergeben, also z.B. „Verwaltungsrecht“ und „Stadtfinanzen“; dass es sich dabei stets um eine grobe Simplifizierung handelte wurde für die kursorische Übersicht an dieser Stelle in Kauf genommen. 37 Ein Beispiel für eine öffentlich-rechtliche Arbeit ist Heinrich Macks „Die Finanzverwaltung der Stadt Braunschweig bis zum Jahre 1374“ (Bd. 32 der Schriftenreihe); ein Beispiel für einen privatrechtlichen bzw. prozessrechtlichen Beitrag über die Stadtrechte ist Friedrich Hellmanns „Das Konkursrecht der Reichsstadt Augsburg“ (Bd. 76 der Schriftenreihe). 38 Dilcher, 1984, S. 29. 39 Erneut Dilcher, 2017, S. 24.

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Institutionen und Digesten des Corpus Iuris Iustinians, die eine lange Tradition der wissenschaftlichen Aufbereitung vorweisen konnten, bedurften die Germanisten ausführlicher Urkundensammlungen, Erschließung lokaler Stadtrechte und der Su‐ che nach Zeugnissen aus einer vor-schriftlichen Rechtskultur.40 Die Quellenarbeit kreuzte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Beschäftigung mit aktuellen Rechtsproblemen.41 Hauptgebiete waren das Han‐ delsrecht, das Sachenrecht, aber auch Urheberrechte, die ihrerseits nicht in der Systematik des Pandektenrechts vorkamen.42 In einer nach 1850 von der rasant transformierenden Industrialisierungsdynamik und stetiger Urbanisierung erfassten Gesellschaft waren dies Themen von durchweg hoher Relevanz. Dem entsprach auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts die Ausbildung des Verwaltungs- und Steu‐ erstaates. So finden sich unter jenen Arbeiten zum Staats- und Verwaltungsrecht in der Schriftenreihe auch Studien zur Ausbildung der Territorialstaaten in der frühen Neuzeit, zur jüngeren Lehre vom monarchischen- und dynastischen Herrschaftsprin‐ zip, zu Zoll- und Finanzverwaltung und staatlicher Zentralisierung.43 Ein Gravitationszentrum der Arbeiten war zweifelsohne die Berliner Fakultät. Das kann den Ortszusätzen, die den Autorennamen oft beigegeben wurden, sowie den Danksagungen an akademische Lehrer, die in den Vorworten aufzutauchen pflegten, entnommen werden.44 Zu diesem Berliner Kraftzentrum müssen noch die Namen Jhering, Brunner und Schmoller genannt werden. In der nachfolgenden Abbildung sind sie in einem Quadrat zusammengefasst. Die Abbildung zeichnet das Netzwerk von Lehrer-Schüler-Verhältnissen nach, die den Widmungen und Ein‐ leitungskapiteln der untersuchten Bände in der Schriftenreihe entnommen werden konnten.45 Insbesondere Brunner bringt zwischen 1882 und 1897 insgesamt acht Schüler in der Schriftenreihe unter, darunter drei Habilitanden. Eine besondere Eigenart: sie alle gehen über eine einfache Danksagung im Vorwort hinaus; Brunners Schüler sind ihm so ergeben, dass sie ihm stets die ganze Arbeit widmen.46 Das gilt auch

Gierke, 1903, S. 8. Repgen, 2001, S. 25 ff. Dilcher, 2017, S. 383. Um nur drei Titel beispielhaft zu erwähnen: Domke, Waldemar: Die Viril-Stimmen im ReichsFürstenrath 1495-1654, Bd. 11, 1881; Wetzel, Erich: Das Zollrecht der deutschen Könige, Bd. 43, 1893; Schecker, Ulrich: Das landesfürstliche Beamtentum in Anhalt von seinen ersten Anfängen bis zum Erlaß bestimmter Verwaltungsordnungen, Bd. 86, 1906. 44 Die Unterwürfigkeit und Intimität dieser Danksagungen muten für alle Studierenden einer deutschen Universität nach 1968 befremdlich an, enthalten gleichwohl hilfreiche biographische Informationen. 45 Es kann davon ausgegangen werden, dass Widmungen und ausdrückliche Danksagungen ge‐ bräuchlich waren; hier wird dennoch ausdrücklich kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. 46 Zu Brunner siehe Liebrecht, 2014, S. 248-261. 40 41 42 43

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für Otto Opets Dissertation über „die erbrechtliche Stellung der Weiber“,47 obgleich ihr wie allen anderen von Opets rechtshistorischen Werken nur negative Beurteilun‐ gen durch seinen Lehrer Brunner widerfuhren48; die seinerzeit für einen Gelehrten jüdischen Glaubens ohnehin steinige akademische Laufbahn wurde dadurch nicht befördert.49 Abbildung : Netzwerk der Lehrer-Schüler-Verhältnisse. Eckige Umrahmung = Au‐ tor:in in der Schriftenreihe; runde Umrahmung = Lehrer; durchgezogene Linie = Schülerverhältnis; gestrichelte Linie = kollegiales Verhältnis/ Bekanntheit

Als ausdrückliche Gierke-Schüler können 13 Autoren in der Reihe angesehen wer‐ den, darunter interessanterweise auch die Verfasser zweier Seminararbeiten. Der aus Zürich stammende Ulrich Stutz beispielsweise veröffentlicht 1890 Band 34 der Rei‐ he über „Das Verwandtschaftsbild des Sachsenspiegels.“50 Dabei erwähnt er, dass die Arbeit aus einer Diskussionsrunde am von Gierke geleiteten deutschrechtlichen Seminar an der Berliner Fakultät hervorgegangen sei; er – Stutz – sei dabei von der vorherrschenden Ansicht abgewichen, woraufhin ihn Gierke ermuntert habe, diesen Ansatz zu verfolgen und ihm das Thema als Seminararbeit aufgegeben habe, 47 Opet, Otto, 1888: Die erbrechtliche Stellung der Weiber in der Zeit der Volksrechte, Bd. 25 der Schriftenreihe. 48 Hattenhauer, 1999, S. 547. 49 Cohn, 1972, S. 169 f. 50 Stutz, Ulrich, 1890: Das Verwandtschaftsbild des Sachsenspiegels und seine Bedeutung für die sächsische Erbfolgeordnung, Bd. 34 der Schriftenreihe.

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die er nun auf immerhin 84 eng bedruckten Seiten veröffentliche.51 Max Huber, sollte sieben Jahre und zwanzig Bände später ebenfalls eine Seminararbeit über „die Gemeinderschaften der Schweiz“ in derselben Reihe veröffentlichen.52 Eben‐ so außergewöhnlich ist Harold Dexter Hazeltine. Der US-Amerikaner, der bereits ein komplettes Jura-Studium an der Brown University und an der Harvard Law School absolviert hatte, veröffentlichte 1907 seine Arbeit über „die Geschichte des englischen Pfandrechts“, mit der er außerdem noch einen deutschen Doktor der Rechte erwarb.53 Die Arbeit fiel mit 305 Seiten vergleichsweise monumental aus. In Cambridge wurde Hazeltine Kollege von F. W. Maitland, der die angelsächsische Rezeption von Gierkes Werk maßgeblich prägte und dessen Nachfolger Hazeltine werden sollte.54 Gierke übte als Lehrer offensichtlich nicht nur eine Anziehungskraft aus,55 er hatte auch ein glückliches Händchen für junge Talente und ungewöhnliche Lebenswege. Neben vielen, soliden und – noch – verhältnismäßig kurzen Dissertationen oder Habilitationsschriften finden sich in der Reihe aber auch Werke von einer Gattung, die heute vom Aussterben bedroht ist: des akademischen Mittelbaus, von Oberas‐ sistenten und rechtshistorisch interessierten Praktikern. In der Regel sind dies die Wiederholungstäter dieser Reihe, die mehrere, kurze Werke oder umfangreiche Quelleneditionen in einem Zeitraum von zehn bis fünfzehn Jahren einspeisen. Aus Gierkes Breslauer Zeit ist Ernst Hermann zu nennen. Wir wissen nur wenig über ihn, außer dass er keinen Doktortitel trug, als Gerichtsassessor a.D. bezeichnet wurde56 und vier Werke in der Reihe unterbrachte, die sich auf den Sachsenspiegel, die Gerichtsverfassung und das Personenstandsrecht beziehen.57 Alfred Kühtmann

51 Ulrich Stutz (1868-1938) wechselte 1888 von Zürich an die Berliner Universität, wurde dort 1892 promoviert, übernahm bereist 1894 eine Lehrstuhlvertretung in Basel und erhielt trotz fehlender Habilitation die venia legendi für deutsche Rechtsgeschichte. Es folgten Professuren in Freiburg i/Br. (1896), Bonn (1904) und Berlin (1917); im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere tat sich Stutz insbesondere als Kirchenrechtler hervor. 52 Zu Max Hubers Biographie siehe oben Anm. 4. 53 Hazeltine, Harold Dexter, 1907: Die Geschichte des englischen Pfandrechts, Bd. 92 der Schrif‐ tenreihe. 54 Getzler, 2004, S. 239, 245; Baker, J. H.: Hazeltine, Harold Dexter (1871-1960), in: The Oxford Dictionary of National Biography, online: h t t p s : / / d o i . o r g / 1 0 . 1 0 9 3 / r e f : o d n b / 6 4 5 4 1 (16.12.2020). 55 Sinzheimer, 1922, S. 1-6. 56 Den Titel Gerichtsassessor bekam in Preußen verliehen, wer die zweite Staatsprüfung nach vierjährigem Referendariat absolviert hatte. 57 Band 9, 1880: Das Hausmeieramt ein echt germanisches Amt. Eine rechtsgeschichtliche Un‐ tersuchung betreffend die wesentlichen Functionen des Hausmeieramtes der Germanenkönige und dessen Ursprung; Band 10, 1881: Über die Entwicklung des altdeutschen Schöffenge‐ richts. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung; Band 17, 1884: Die Ständegliederung bei den alten Sachsen und Angelsachsen. Eine rechtsgeschichtliche Quellenstudie; Band 20, 1886: Die Grundelemente der altgermanischen Mobiliarvindication. Eine rechtsgeschichtliche Studie.

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beispielsweise war als Anwalt und Notar in Bremen tätig und veröffentlichte in Ne‐ bentätigkeit zwei Abhandlungen zum Bremischen Recht.58 Um die Jahrhundertwende ist überdies eine gewisse Südverschiebung zu bemer‐ ken durch der Publikation von Arbeiten, die ursprünglich aus der Wiener und der Münchener Fakultät stammten. Aus Wien kamen drei deutlich von dem Wirtschafts‐ historiker und Nationalökonomen Inama-Sternegg beeinflusste Schriften zum Im‐ mobiliarsachenrecht und Erbrecht. Zwischen 1900 und 1910 veröffentlichten gleich fünf Schüler Karl von Amiras aus München in der Reihe.

V. Stadt, Land, (Wirtschafts-)Recht 1. Gierkes eigenes Forschungsprogramm Nach diesem groben Überflug sei ein näherer Blick auf die beiden am häufigsten genannten Schlagworte geworfen: Stadtrechte und Wirtschaftsgeschichte.59 Dies geschieht zugleich vor dem Hintergrund der wirtschaftspolitischen Relevanz, die Gierkes Werken zugeschrieben wird. In dieser Hinsicht werden zumeist das Sozialund das Arbeitsrecht zuvörderst genannt.60 Dabei hatte Gierke nachgerade in seiner Konzeption des Genossenschaftsrechts auch das im Blick, was man später „gesamt‐ wirtschaftliche Ordnungsvorstellungen“ nannte.61 Die Thematik breitet Gierke eindrücklich in den ersten beiden Bänden seines Ge‐ nossenschaftsrechts von 1868 und 1873 aus – und zwar mit besonderem Fokus auf die Stadt, die für ihn den Nukleus der Entwicklung von Staatlichkeit in Deutschland darstellt. Der erste Band verfolgt eine weite geschichtsphilosophische Konzeption des Genossenschaftsbegriffs in einer Periodisierung, wobei in jeder Periode das Spannungsverhältnis zwischen Personalität und Dinglichkeit sich über die Achse von Herrschaftsverhältnissen und freier Einung unterschiedlich kalibriert.62 Alle Rechtsentwicklung ist in diesem ersten Band immer lokal und durch ständische Gliederung geprägt, mithin auch durch einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Stadt und Land. Dieser Unterschied wird auf einer abstrakt-generellen Ebene im zweiten Band aufgegriffen, ohne dabei aber die lokale und kontextbezogene Spezifi‐

58 Band 36, 1891: Die Romanisierung des Zivilprozesses in der Stadt Bremen; Band 62, 1900: Geschichte der bremischen Stadtvogtei. 59 Diese Auswahl orientiert sich nur an der Häufigkeit und stellt nicht in Abrede, dass andere Themen, insbesondere auch die Schriften zum Familien- und Erbrecht, nicht mindestens eben‐ so wichtige Bestandteile im wissenschaftlichen Programm gewesen sind. Zur Entwicklung des Familienrechts im 19. Jahrhundert übrigens ausführlich von Mayenburg, 2018, S. 639-791. 60 Isele, 1971, Sp. 1686 f. 61 Teubner, 2014, S. 522. 62 Dilcher, 1974-1975, S. 328 f.

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zität aus den Augen zu verlieren.63 Extensiv führt er den Dualismus zwischen dem Recht der Grundstücke und der Personen und der Wechselbezüglichkeit beider am Beispiel der Markverfassung, des sich daraus entwickelnden Hofrechts und der dazu im Gegensatz stehenden Allmende heraus.64 In beiden Bänden ist es die Stadt, der breiter Raum gegeben wird. Es ist bei Gierke der Ort, an dem sich öffentliches Recht und Privatrecht voneinander scheiden.65 Es ist der Ort, an dem das geteilte Eigentum sich umwandelt in Privateigentum, ohne jedoch völlig aus den Rechten und Pflichten für das gemeine Wohl entlassen zu sein66; und es ist der Ort, in dessen Mauern (bildlich gesprochen) der Körperschaftsbegriff endlich „aufgeht“67: Dieser ist gerade geprägt durch ein intrinsisches Spannungsverhältnis zwischen dem öffentlichen Wohl der Stadt und dem gemeinen Wohl des Bürgers, wobei die Stadt in ihrer Rechtsnatur zugleich staatliches Gemeinwesen und Gesamtpersönlichkeit ist.68 Dieser Körperschaftsbegriff ist bei Gierke sodann die Grundlage für das deutsche Staatsverständnis. Nur indem die Stadt Rechtspersönlichkeit entwickelte, sei in ihr die Entwicklung von Staatlichkeit möglich geworden, was zur Ausbildung eines deutschen Staatsbegriffes geführt habe. In einer spätromantischen Geste kritisiert er das Auseinanderfallen von bürokratischem Steuerstaat und individualistischer Ge‐ sellschaft in der Moderne, vor deren Folie sich sein Geschichtsentwurf des Genos‐ senschaftsrechts wie ein verlorengegangenes Ideal der Teilhabe liest.69 Teil haben bei ihm außerdem auch orale Volkskultur, Gewohnheitsrechte und lokale Statuten an der größeren Verfassungsentwicklung, deren Einfluss er in Wechselbeziehung zum gelehrten römischen Recht (insbesondere die Rezeption ihrer Korportaionslehre) und des kanonischen Rechts sieht. 70 Es geht nicht darum, eindeutige Genealogien oder kausale Wirkrichtungen nachzuweisen, sondern darum, Staatlichkeit als ein aus diesen vielfältigen Einflüssen und Beziehungen sich schrittweise entwickelndes, neues Konzept zu begreifen. Dass Gierke damit auch eine Art Sozial- und Wirtschaftslehre formuliert hat, ist bereits von Dilcher nachgezeichnet worden.71 Dilcher beschreibt, wie das Span‐ nungsverhältnis zwischen zwei Prinzipien Gierkes Werk durchdringt. Es ist dies das Prinzip der Herrschaft und damit der politischen Einheit und Organisation auf der einen Seite, auf der anderen Seite das Prinzip der Genossenschaft, der Vielheit,

63 Vergleiche unter anderem Gierke, 1873, S. 573 ff. Die Stadt wird juristisch zu einem distinkten Begriff. 64 Ibid., S. 196, 229. 65 Ibid., S. 644-649; Gierke, 1868, S. 300 ff. 66 Gierke, 1868, S. 664 ff.; Repgen, 2001, S. 51-53. 67 Gierke, 1873, S. 829. 68 Ausdrücklich keine juristische Person, vgl. Ibid. S. 826 ff. 69 Böckenförde, 1995, S. 147-176. 70 Gierke, 1881, Einleitung, S. 1-5. 71 Dilcher, 2017, S. 51.

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Individualität und Freiheit.72 In der von Industrialisierung, beschleunigter Urbanisie‐ rung, Staatsformation und sozio-ökonomischen Umbrüchen geprägten Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts fiel dieses Werk auf fruchtbaren Boden. Zumal fast zur selben Zeit der große Nationalökonom Gustav Schmoller, der Begründer des Vereins für Socialpolitik, in Straßburg mit seiner Arbeit über die Tucher- und Weberzunft auf der Folie der mittelalterlichen Stadt eine sozialpolitische geprägte Wirtschaftsge‐ schichte entwarf.73 Damit sind gewissermaßen auch die Themenschwerpunkt der Schriftenreihe von Gierke vorgezeichnet. Die Stadt wiederum als soziales und rechtliches Gebilde ist ein Phänomen, dem sich auf unterschiedliche Weisen genähert werden kann. Je nach eingenommener Perspektive verschiebt sich das Explanans: War es das städtische Wirtschaftstreiben und sein Wachstum, das eine spezifische Form von Stadtrechten hervorbrachte, oder waren es umgekehrt die rechtlichen Bedingungen, die in der Stadt vorgefunden wurden, die erst eine bestimmte Form von Markt- und Handelstä‐ tigkeit ermöglichten? Oder war es ein Drittes, eine besondere städtische Kultur – wohl in Gestalt spezifischer genossenschaftlicher Verbindungen – die beides, Recht‐ ausbildung und Wirtschaftsleben, erst bedingte? Gierke selbst tendierte ausweislich seines zweiten Bandes des Genossenschaftsrechts zu letzterer Hypothese. Ohne dass jemals derart explizit in den Raum zu stellen, war klar, dass sein chronologischer Abriss auch eine Wirkrichtung implizierte: das Genossenschaftsrecht bildete sich aus, gelangte zur Blüte in der Stadt, in der sich öffentliches und privates Recht schieden und sich erst Privateigentum ausbilden konnte.74 In der Schmoller’schen Abhandlung der Straßburger Verhältnisse ist es andersherum: Es ist die „volkswirt‐ schaftliche Revolution“ des 12. Jahrhunderts, die ein neues politisches Gemeinwe‐ sen, durchaus nicht ohne Kämpfe gegen herrische Bischöfe und alte Kasten, in den deutschen Städten erst hervorbringt, das dann in Wechselwirkung mit dieser tritt.75 In beiden Fällen ist aber die Arena, das Objekt, der Untersuchungsgegenstand und das Quellenmaterial die Stadt.

2. Thema mit Variationen in der Schriftenreihe Die Arbeiten in der Schriftenreihe sind Variationen über dieses vorgegebene Thema Es dürfte kein Zufall sein, dass gerade eine Arbeit über Straßburgs Ratsverfassung 72 Ibid., S. 378. 73 Schmollers Abhandlung über die „Strassburger Tucher- und Weberzunft” erschien 1879, nach‐ dem er deren zentrale These zuvor 1875 bereits zum Gegenstand seiner Rektoratsrede an der Universität Straßburg unter dem Titel „Strassburgs Blüte und die volkswirtschaftliche Revolution im XIII. Jahrhundert” ausgebereitet hatte. 74 Gierke, 1873, S. 644-648. 75 Schmoller, 1875, S. 31-34.

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den Anfang macht. Winter schlägt gleich im Vorwort indirekt eine Brücke zu Gus‐ tav Schmoller, wenn er schreibt, es seien im wesentlichen hofrechtliche Elemente, die durch eine große wirtschaftliche Entwicklung die späteren Stadtverfassungen hervorbrächten.76 In die Zeit der Begründung dieser Schriftenreihe fällt die Veröffentlichung des ersten Bandes von Inama-Sterneggs Wirtschaftsgeschichte, eines einflussreichen, österreichischen Nationalökonomen. Auch er wählt als Fluchtpunkt für sein Narrativ die mittelalterlichen Städte. Das Werk und seine Folgebände erfahren ein breites Echo,77 es wird sogleich in Band 4 von Gierkes Schriftenreihe aufgegriffen, wenn Baldamus dort schreibt: „(...) [Dass] die Rechtsordnung nur ein Produkt bestimmter allgemeiner Wirtschafts- und Kulturzustände ist, dass sie aber dann allerdings auch wieder (...) zur Ursache sozialer und wirtschaftlicher Zustände und Veränderungen werden kann.“78 Damit ist eigentlich bereits die heute wieder aktuelle Vorstellung von endogenem institutionellem Wandel auf den Punkt gebracht.79 Andere Arbeiten wiederum verwenden Stadtrechtsquellen, um konkrete Institute oder Aspekte von Wirtschaftsrecht im engeren Sinne zu rekonstruieren. Schmidt-Ott beispielsweise steuert eine Arbeit über die mittelalterlichen Handelsgesellschaften basierend auf Stadtrechtsquellen bei. Die Arbeit ist schmal und weniger historisch denn rechtsdogmatisch, gleichviel markiert sie einen besonderen Quellenbestand der Germanisten als Primärquelle des deutschen Gesellschaftsrechts.80 Frommer geht in seiner Arbeit zur Handelsgerichtsbarkeit am Beispiel von Königsberg (Bd. 38) ähnlich vor. Die beiden Arbeiten von Reinhold und Köhne demgegenüber erheben die Stadt als soziales Gebilde zum Akteur. Reinhold schreibt eine „Verfassungsgeschichte Wesels im Mittelalter“ in der er aus einer spezifischen Stadtverfassung heraus den städtischen Einfluss auf Recht wie Wirtschaft herleitet. Diese städtische Verfassung ist eine Einheit aus Gewohnheitsrechten, Ständegliederung, einem Austarieren von Herrschafts- und Genossenschaftsgebiet auf einem städtisch begrenzten Gebiet, das der Ausbildung von städtischem Recht (und Wirtschaft) erst vorausgeht.81 Köhne greift Inama-Sterneggs Formel der Wechselbezüglichkeit auf und stärkt die städti‐ sche Kultur gegenüber rein wirtschaftlichen Entwicklungen. Bei ihm begegnen wir einer ausführlichen Auseinandersetzung mit einer seinerzeit tobenden Kontroverse um den Ursprung des deutschen Zunftwesens. Losgetreten hatte diese Georg von Below, der 1889 mit seiner These, Zünfte entstünden als freie Einung aus einem As‐ 76 Winter, 1878, S. 1. 77 Vgl. die Besprechungen zu Bd. 2 von Ashely in: Political Science Quarterly 8 (1893), S. 758-761; Blondel in Revue Historique 51 (1893), S. 137-141. 78 Baldamus, 1879, S. 14. 79 Acemoglu, Johnson and Robinson, 2005, S. 392. 80 Schmidt-Ott, 1883, S. 35. 81 Reinhold, 1888, ibid.S. 24.

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soziationstrieb im Mittelalter, der damals herrschenden Hofrechtstheorie entgegen‐ trat.82 Nach letzterer war städtisches Handwerk aus hofrechtlichen und grundherrli‐ chen Verhältnissen hervorgegangen. Below war ein Mediävist mit starkem Fokus auf die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, der mit der Zunftdebatte auch ein anderes Staatsverständnis als der ältere Gierke vertrat und ganz freimütig vom „deutschen Staat des Mittelalters“ sprach83; einen solchen machte Gierke gerade noch nicht aus, für ihn zeigte sich Staatlichkeit im Mittelalter zunächst nur in den Städten.84 Otto Gerhard Oexle hat diesen Forschungsstreit um die Entstehung der Zünfte nachge‐ zeichnet, allerdings weist er darin Friedrich Keutgen die Rolle desjenigen zu, der 1903 die zwischen Below und der Hofrechtstheorie schließlich vermittelnde Ebene gefunden habe, der Ursprung der Zunft liege in von der städtischen Obrigkeit ver‐ fügten Einteilungen der Handwerker in Abteilungen mit öffentlich-rechtlichem Cha‐ rakter (sog. Ämtertheorie).85 Dabei war bereits zehn Jahre zuvor Carl Köhne der Be‐ low’schen These entgegengetreten, und zwar in Gierkes Schriftenreihe. Köhne be‐ kennt sich zu einem Gierke’schen Ansatz, die Stadtverfassung sei nicht auf eine ein‐ zelne Ursache oder einen Moment zurückzuführen;86 ein Übergang hofrechtlicher Ämter aus der bischöflichen Verwaltung auf andere Standesgruppen, die diese so‐ dann in städtischem Namen weiterverwalteten, könne nicht negiert werden.87 Ande‐ rerseits verteidigt er namentlich Schmoller und Inama-Sternegg, die Below als Ver‐ treter einer herrschenden Meinung ausmache, was außer jenem – so Köhne – indes nie jemand behauptet habe.88

3. Wirtschaftsverfassung Neben die Wirtschaftsgeschichte der Stadt tritt nun ein zweites Hauptthema: das Immobiliarsachenrecht insbesondere in Gestalt der Erbleihen. Ernst von Schwind bringt es mit seiner Wiener Habilitationsschrift auf 180 Seiten in die Reihe ein. Er initiiert damit auch die oben bereits angesprochene „Südverschiebung“. Inama-Ster‐ negg, dem er in seiner Einleitung für Thema und Hilfestellung dankt, hatte die Verteilung von Besitz und Eigentum an Grund und Boden bzw. deren Behandlung durch rechtliche Instrumente wie Erbleihen oder Fideikommisse zum Dreh- und An‐ gelpunkt für Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gemacht.89 1891 veröffentlichte 82 83 84 85 86 87 88 89

Below, 1889, S. 64. Vgl. Below, Der deutsche Staat des Mittelalters, Bd. 1, Leipzig 1914 (unvollendet geblieben). Gierke, 1873, S. 594, 622 ff., 705. Oexle, 1982, S. 3 sowie Keutgen, Ämter und Zünfte: Zur Entstehung des Zunftwesens, Aalen 1965 (Neudruck der Ausgabe Jena 1903). Köhne, 1890, S. 350. Ibid., S. 69, S. 303. Ibid., S. 370. Inama-Sternegg, 1883, S. 465 ff.

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Inama-Sternegg den zweiten Band seiner monumentalen Wirtschaftsgeschichte, in der er verschiedene Bewirtschaftungsregime nebeneinanderstellt, daraus synthetisie‐ rend indes den Begriff der Wirtschaftsverfassung konstruiert, die sich danach richtet, ob Boden an Einzelne oder Kollektive verliehen oder veräußert werde.90 Diesen Faden greift Schwind auf, wenn er die Entstehung freier bäuerlicher Erbleihen als weitreichendste Veränderung für die Wirtschaftsverfassung im 12.-13. Jahrhundert bezeichnet.91 Die semantische Verknüpfung aus Wirtschaftsverfassung und Erbleihe wird nun fortgeführt. Bei Wopfner erfahren wir von der Ausbreitung freier bäuerlicher Erblei‐ hen in Tirol im 13. Jahrhundert, was eine grundlegende Neuerung im dortigen Grundherrschaftssystem darstellte. Die rechtliche Betrachtung geht, wie es typisch ist für diese Schriftenreihe, immer auch mit einer wirtschafts- und sozialgeschicht‐ lichen Untersuchung einher. Aber Wopfner und nach ihm Winiarz knüpfen diese Behandlung wiederum an Stadtrechtsquellen und – wie zuvor bereits bei Köhne angedeutet92 – die Entstehung bestimmter städtischer Formen von Privatrechten. Diese strahlten auch aus ins Prozessrecht, wie die Arbeit von Hellmann zum Insol‐ venzrecht der Reichsstadt Augsburg zeigt. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges beginnt die letzte Phase, in der Gierke, inzwischen geadelt und emeritiert, die Schriftenreihe leitet. Ein begriffliches Ne‐ beneinander hat sich festgesetzt: „Wirtschaftsverfassung“ einerseits als schlichte Zustandsbeschreibung der Wirtschaft zu einem beliebig gewählten Zeitpunkt in der Historie eines Gemeinwesens und andererseits als eine distinkte Form der Verbin‐ dung von Mensch und Gemeinschaft mit Grund und Boden, die gewissen Grund‐ prinzipien folgt, die jeweils die eine von der anderen Verfassung unterscheidet. Letztere Konnotation schillert bereits hinüber in die „Systemfrage“, also ins Verfas‐ sungsrecht im engeren Sinne und das marxistische Stufenverhältnis aufeinander abfolgender Wirtschaftssysteme. Das wird hier deshalb betont, weil es in der Folge tatsächlich zu einer semantischen Verschiebung kam, die Gierke in ihrer vollen Wucht freilich nicht mehr erleben sollte. Eine nicht unerhebliche Bedeutung dürfte die Erfahrung des Kriegs selbst und des Übergangs von einer Kriegs- zu einer Friedenswirtschaft gespielt haben.93 Zahl‐ reiche Wirtschaftszweige waren während des Krieges planwirtschaftlich verwaltet worden, neue Behörden eingerichtet und Berufsverbände einbezogen worden.94 Mit‐ ten hinein in die Wirren und das Ringen um eine neue Verfassung fällt der Vortrag des fast 80-jährigen Gierke 1919 über den „germanische[n] Staatsgedanken und die Inama-Sternegg, 1891, S. 214 u. S. 278. Schwind, 1891, S. VIII. Köhne, 1890, S. 34. Unter je anderen Vorzeichen stellte sich die Aufgabe sowohl in Deutschland als auch in Groß‐ britannien, vgl.: Tien-Lung, 1998, S. 43 ff. 94 Feldman and Nocken, 1975, S. 423-429.

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deutsche Republik.“ Darin befremden jene Passagen in denen er dem Interesse des Volksganzen und einer nötigenfalls gewaltsamen Diktatur das Wort redet. Er tritt auch für einen starken Sozialstaat ein, in den er seine Hoffnung setzt gegen jene Kräfte des Individualismus und Kapitalismus, die den Volkskörper zersetzt hätten.95 Ob man in der Rezeption nun den Fokus auf die illiberalen Töne oder die Hinwendung zum Sozialstaatsprinzip legen möchte, kann hier noch dahin gestellt bleiben.96 Gierke selbst hat mit diesem Vortrag noch einmal in die Diskussion um die Wirtschaftsverfassung hineingerufen, die gerade erst entbrannte und sich in den Folgejahren vor allem an den wirtschaftspolitischen Festsetzungen der neuen Verfassung abarbeiten sollte.97

VI. Schluss Was gewinnen wir aus so einer kollektiven Betrachtung der Autoren und Werke einer ausgewählten Schriftenreihe? Zunächst einmal, dass all die hier genannten Werke eingebettet sind in einen zeithistorischen Kontext und ein Netzwerk aus Kol‐ legen und Lehrern. Alle 132 Autoren und Autorinnen dieser Schriftenreihe zusam‐ mengenommen würden es durchaus gestatten, die germanistische Rechtsgeschichte und Staatsrechtslehre wissenschaftssoziologisch zu vermessen, ohne dabei nur von jenen auszugehen, die in der Rückschau als „große Köpfe“ auf das Podest gehoben wurden. Ein gemeinsamer Nenner in diesem Kontext, dem sich keiner der Autorinnen und Autoren entziehen konnte, war Gierke selbst. Dabei begegnet uns auch ein Gierke, der vielversprechende Studenten förderte, die er offensichtlich anzog, der viele deutsch-jüdische Gelehrte und auch einige der ersten Juristinnen zu Wort kommen ließ, der fraglos ein Interesse an Vielheit in der Wissenschaft hatte. Das korreliert mit dem reichhaltigen Themenspektrum. Die vielfachen Berührungspunkte mit der historischen Schule der Nationalökonomie wurden herausgestellt, aber eben‐ so werden Arbeiten zur Philologie und Ethnologie, zur Verfassungsgeschichte, zur Diplomatik und anderen historischen Hilfswissenschaften aufgenommen. Interdiszi‐ plinär würden wir das heute nennen. Für Gierke dürfte es schlicht Ausdruck eines ganzheitlichen Wissenschaftsver‐ ständnisses gewesen sein, in dem Historiker, Juristen und Ökonomen gemeinsame 95 Die Rede ist abgedruckt in der Sammlung kleinerer Schriften: Gierke, 2001, S. 1061 ff. 96 Vgl. dazu auch die Beiträge in diesem Band von Joachim Rückert und Helga Spindler. 97 Der fünfte Abschnitt der Weimarer Reichsverfassung sollte „das Wirtschaftsleben“ regeln und enthält weitreichende Vorgaben, die sich in dieser Form beispielsweise im Grundgesetz nicht finden; zu nennen ist insbesondere Art. 165 II WRV der den im Krieg eingeführten Arbeitneh‐ mervertretungen Kontinuität verlieh ebenso wie der verfassungspolitische Auftrag an den Ge‐ setzgeber, ein einheitliches Arbeitsrecht zu schaffen.

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Sache machten, in dem Wirtschaftsgeschichte immer ein Unterfall der Kultur- und Verfassungsgeschichte war, in dem das Privatrecht nie ganz vom öffentlichen Recht geschieden wurde. Es richtete zugleich stets den Blick auf sozio-ökonomische Be‐ dingtheit von Recht, auf die kulturell-historische Gewachsenheit von Recht und die rechtliche Ermöglichung von Macht. Sowohl Isele als auch Dilcher haben dement‐ sprechend angeregt, die Fortentwicklung des Privatrechts seit dem BGB von 1900 auch in diesen Gierke’schen Kategorien bis hin zur europarechtlichen Überformung nachzuverfolgen.98 Tatsächlich ist die angedeutete Diskussion um die Wirtschaftsverfassung ja nicht 1920 zu Ende. Mit der Weimarer Reichsverfassung nahm sie überhaupt erst Fahrt auf, zumal ein aus dem Kaiserreich geerbtes korporatistisches Geflecht mit von Verfassungs wegen neu zu gründenden Arbeitnehmervertretungen und regionalen Wirtschaftsräten koexistierten sollte. Erinnert sei auch an die spätere Debatte zwi‐ schen Arndt und Böhm unmittelbar nach Ende des 2. Weltkriegs um die Frage einer Wirtschaftsdemokratie.99 Spätestens unter dem Einfluss der Ordoliberalen wurde aus dem wirtschaftshistorisch-empirischen Begriff der Wirtschaftsverfassung ein normativer Begriff: Wirtschaftsverfassung als gesamtpolitische Grundentscheidung für die Funktionsweise des Wirtschaftssystems, über das Vorhandensein bestimmter für das Wirtschaftsleben relevanter Institutionen und Organisationen, aber eben auch das Zusammenspiel zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht.100 1950, während jener westdeutschen Debatte um die Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes, erin‐ nerte denn auch Hans Dölle in einer Festrede zum 50jährigen Bestehen des BGB ausgerechnet an Gierke: Das BGB müsse „wesentlich Sozialrecht im Sinne Gierkes sein.“101 Die hier angestellte Übersicht jedenfalls dürfte Anlass sein, weiter zu fragen, inwiefern Gierke selbst und die Autorinnen und Autoren seines Umkreises jene Debatten in der Mitte des 20. Jahrhunderts, jenen normativen Begriff von Wirtschaftsverfassung vielleicht überhaupt erst ermöglicht haben.

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Joachim Rückert Gierke zwischen Freiheit und Sozialität*

I. Prämissen. Lohnt das? Fragen? Welches Öl? „Das Wichtigste ist Gemeinsamkeit“ las man vor nicht langer Zeit auf großen Plaka‐ ten an den Straßen und Ecken meines Wohnortes. Der große Gemeinschaftsdenker Gierke lebt also unvermerkt und höchst aktuell unter uns, im 100. Jahr seines Todes. Freilich inkognito. Im kulturellen Bewusstsein oder wenigstens bei einigen historisch gebildeten Juristen klingt wohl nur noch ein einziger seiner vollmundigpathetischen Sätze nach, der wohl „berühmteste“ Satz 1: „In unserem öffentlichen Recht muß ein Hauch des naturrechtlichen Freiheits‐ traumes wehen und unser Privatrecht muß ein Tropfen sozialistischen Öles durchsi‐ ckern!“ Wien 1889. Genau dieser Satz hatte auch am 5. April 1889 in der Wiener Presse besondere Aufmerksamkeit erregt2, als Gierke im Großen Festsaal der damals neuen Universität vor erlesenem und zahlreichen Publikum vortrug und mit „minutenlan‐ gem Beifall“ gefeiert wurde.3 Das „sozialistisch“ wollen viele noch immer nicht glauben, sie zitieren einfach nur „soziales“ Öl.4 Jedenfalls war das Wort in Wien nicht neu. Vielleicht fiel es sogar vor den Ohren des wirklich sozialistischen BGBKritikers Anton Menger, damals Professor für Prozessrecht in Wien.5 Er hatte expli‐ * Gewidmet Gerhard Dilcher, dem großen Gierkekenner und Gierkefreund als Zeichen alter Freundschaft. Seine Studie von 2017 hat mich auf den Weg gebracht. 1 Nach Pöggeler, Aufsätze (2001), Einleitung, S. 1, „das berühmteste Gierke-Zitat“. 2 So in dem Bericht in Neues Wiener Tagblatt, Nr. 94, vom Samstag 6. April 1889, bisher offen‐ bar unbekannt. Ich danke Lena Foljanty und ihrem Lehrstuhlteam sehr für die Klärung meines Internetfundes an den Wiener Quellen. Weitere Berichte, etwa seitens der Juristischen Gesell‐ schaft, fanden sich nicht. 3 Der Bericht erwähnt als erschienen den Justizminister, den Präsidenten des Reichsgerichts, mehrere Sektionschefs, die Professoren Jellinek (Georg), Brentano (Lujo) (damals beide Prof. in Wien), und Schrutka von Rechtenstamm (Wiener Prozeßrechtler). 4 Siehe aus der Rechtsgeschichte statt vieler nur Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1967), S. 470; Hattenhauer, Grundbegriffe (1982), S. 88; salomonisch Brauneder, Privatrechtsgeschichte (2014), S. 145: „sozialistisch (= sozial)“. 5 Er wird nicht als anwesend erwähnt. Siehe seine berühmte BGB-Kritik: Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Klassen, 1890; vorab erschienen, teilweise vor Gierkes Rede im April, im Archiv für soziale Gesetzgebung u. Statistik, 2 (1889) Heft 1, S. 1 ff. und H. 3, S. 419 ff. und 1890 H. 1. Das Archiv erschien als Vierteljahrsschrift, also Heft 1 spätestens Ende März 1889. Gierke zitiert dann Menger in der großen Buchfassung seiner BGB-Kritik vom Juli 1889 14 mal, darunter S. 122 als „sozialistisch“, weil er für Lückenfüllung nach Zweckmäßigkeit statt strenger (nur) für Analogie eintrete, und S. 130, weil er Gewohnheitsrecht als Quelle von Unge‐

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zit „Sozialismus“ und „sozialistischen Standpunkt“ zugrunde gelegt.6 Gierkes „sozi‐ al“ ist zwar längst korrigiert, aber mehr als „sozial“ traut man meist dem als konser‐ vativ rubrizierten juristischen Berliner Parade-Germanisten nicht zu. Er selbst hatte immerhin gewarnt mit der Ankündigung „Schroff ausgedrückt: …“. Ein Satz und viele Fragen. Gierkes kühner Satz führt direkt in das Thema Freiheit und Sozialität. Und er lohnt, da er reichliche Untiefen enthält: Zu wenig Freiheit im öffentlichen Recht? Zu viel Freiheit im Privatrecht? „Sozialistisch“ im April 1889 - noch im Angesicht des repressiven sogenannten Sozialistengesetzes, das erst am 30.9.1890 aufgehoben wurde? „Sozialistisch“ nicht als Staatsfeindschaft im Ge‐ triebe des Kaiserreichs, sondern als Lockerungsmittel für den Privatrechts-Boden? Warum reichte nicht „sozial“? Und das alles im Angesicht des lange erwarteten und gerade Ende 1888 veröffentlichten „Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich 1. Lesung“? War da nur Freiheit drin? „Naturrechtliche“? Gab es keine sozialistischen oder sozialen Elemente im Privatrecht des Kaiserreiches und keine „Freiheit“ im öffentlichen Recht? Sollten damit zwei Rechtsprinzipien angesprochen sein? In welchem Verhältnis hatte man sie sich dann zu denken? Oder ging es vor allem um eine politische Diskussion? Eine pragmatische Vermittlung? Und warum dort nur ein „Hauch“ und hier nur ein wenig „Öl“, ein Tropfen? Und wie verhält sich das zu Gierkes monumentalem Lebenswerk von 1860 bis 1921? Wie zu seiner übergroßen Erzählung der deutschen Rechtsgeschichte als „Herrschaft und Genossenschaft“ und „Einheit und Freiheit“ seit 1868? Wie zu seinem ebenso gewaltigen dogmatischen „Deutschen Privatrecht“ zum BGB seit 1895? Ist das nur ein politisierender Ausreißersatz? Was wäre daraus für Freiheit und Sozialität bei ihm zu lernen, nur ein wenig Wissenschaftsgeschichte? Für die fatalen Potentiale einer Kombination von Gemeinschaftsideologie mit einem dogmatischen Rechtspo‐ sitivismus? Wichtiges zu dem Dauerproblem Einheit und Freiheit, Gemeinschaft und Individuum? Oder nur ehemals breit geteilte Gedanken zu einem erledigten Problem? Oder nur ein etwas anekdotischer Blick auf vergangene Polemiken? Das sind Fragen genug, um einigen Antwortlohn erhoffen zu können. Zugleich wird klar, dass es die Aufgabe in sich hat. Welches Öl? Schon die Verwandlungen der geflügelten Öl-Metapher seit 1849 wären eine eigene Studie wert.7 So plastisch spricht aus ihnen der jeweilige Zeit‐ geist, von der heiligenden Salbung über die Würzung bis zur Schmierung. 1849 hat‐ te der politische Dichter und Tübinger Germanistikprofessor Ludwig Uhland in der Paulskirche noch an christliche Salbung und Heiligung gedacht als er sagte, es wer‐ rechtigkeiten ablehne; zu Menger aufschlussreich Ehrlich 1892, S. 31-42, und hier bes. Ramm 1975. 6 Menger 1890/ 4. Aufl. 1908, Neudruck 1968, S. 2, 4 u. öfter; auch „proletarischer Sozialismus“ (72 u.ö.) und „sozialer“ (38 und durchgehend). 7 Noch über Becker (1995), Repgen (2000) und Rückert (2006a, s. dort S. 675 f. die Nachweise der Zitate) hinaus. Hervorhebungen hinzugefügt.

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de „kein Haupt über Deutschland leuchten, das nicht mit einem vollen Tropfen de‐ mokratischen Öles gesalbt ist“. Staatskoch Bismarck wollte 1882 etwas für die Ar‐ beiter tun und riet „dem Staate ein paar Tropfen sozialen Öls im Rezepte beizusetzen, wie viel, weiß ich nicht“; die Krankenversicherungsmaschine, so 1884, müsse „mit einem Tropfen demokratischen Öles geschmiert werden, um ordentlich zu gehen“, d.h. deren Selbstverwaltung. Für den berühmten Berliner Rechtsgeschichtsprofessor und Kollegen Gierkes Heinrich Brunner sollte 1888 wenigstens das Mietrecht des werdenden BGB „mit einem Tropfen sozialpolitischen Öles gesalbt sein“, es bleibe sonst „Todtgeburt“. In Gierkes Drucktext sollte 1889 das Öl das ganze Privatrecht durchsickern, wie ein fremdes Element, lockernd, glättend, befruchtend? Ölpest war noch nicht gemeint. Der katholische Wiener Pressebericht hatte wieder christliche Salbung gehört, „ein Privatrecht, welches mit einem Tropfen sozialistischen Öles ge‐ salbt ist.“ An solche Heiligung hatte der aggressive Privatrechtskritiker Gierke kaum gedacht. Das öffentliche Recht sollte nur ein wenig träumen, das Privatrecht nur et‐ was glatter funktionieren. Eine klare juristische Aussage, d.h. deutliche Rechtsfol‐ gen, was vor Gericht gilt und nicht gilt, enthält das nicht. Gierke appelliert, wirbt, empfiehlt politisch und rechtspolitisch, er stellt seine „soziale Aufgabe“. Dennoch oder gerade deswegen wurde der Satz zum beliebtesten Gierke-Zitat. Im Kontext der Öl-Geschichten zeigen sich die Untiefen. Ganz unterschiedliche Motive, Gründe, In‐ teressen sind im Spiel, ein dichter soziokulturell-bürgerlicher und ideologischer Ne‐ bel umgibt die Frage Freiheit und Sozialität. Das zu entwirren macht alle genaueren Deutungen zu Gierke aufwendig und nicht ganz leicht.

II. Quellenlage, Forschungsstand, Probleme: kein Spaziergang Auch eine klein gehaltene Studie zu diesem gewaltigen juristischen Germanis‐ ten und Privatrechtler, Staatsrechtler, Rechtsphilosophen und politischen Professor gleicht eher einer recht schwierigen Alpintour als einem Spaziergang. Die Thematik Freiheit und Sozialität berührt den ganzen Gierke in allen erwähnten Rollen und Feldern, sei es juristisch dogmatisch, sei es privatrechtlich oder staatsrechtlich, sei es mehr philosophisch, sei es mehr politisch-ideologisch oder am Ende persönlich. Ein Überblick zu Quellenlage und Forschungsstand erscheint unumgänglich. Nur die juristische Praxis als Richter hat der Professor Gierke nicht gelebt. Diese an sich häufig gelebten Personalunionen verschwanden mit dem Ende der gerichtlichen Aktenversendungen an die Fakultäten seit der 1871 neuen Gerichtsverfassung. Zu viel und zu wenig. Die Materialien strömen einerseits überbordend, anderer‐ seits rinnsalig dünn. Überbordend viel schrieb schon Gierke allein. Ein ziemlich

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vollständiges Schriftenverzeichnis mit ca. 230 Titeln ließ Stutz 1922 erstellen.8 Es täuscht aber über den Umfang, denn in gewaltiger Fülle stehen die vier Bände und 3500 Seiten seiner „Rechtsgeschichte der Deutschen Genossenschaft“ (I-IV, 1868-1913) und die ebenfalls vier Bände und rund 3400 Seiten seines „Deutsches Privatrecht“ (I-III, 1895-1917 u. IV postum) in den Regalen. Seine Monographien zu Althusius mit rund 400 Seiten und zur Genossenschaftstheorie und deutschen Rechtsprechung mit rund 1100 Seiten kommen hinzu. Weitere rund 1100 Seiten fügt die Auswahlsammlung „Aufsätze und kleinere Monographien“ hinzu – alles zusam‐ men rund 9500 Gierke-Seiten. Zum konkreten Staatsrecht gibt es nur regelmäßige Vorlesungen.9 Zu wenig Biographie. Nur wenige Originäres haben wir dagegen zur Biographie in Familie10, Beruf und Zeit, die für eine Reihe von Bedingungen seiner Wissen‐ schaft wichtig wäre, zumal für so auch politische Aspekte wie Freiheit und Soziali‐ tät. Die Materialien zu Gierkes politischer Sozialisation sind ausgesprochen schmal. Es ist mit einigen Nachrichten über die wohletablierte Pommersche Juristenfamilie und -sippe und seine aktiven Jahre in der Heidelberger Burschenschaft Allemannia (!), drei Semester wohl11 im Sommer 1858-Sommer 1859, vorlieb zu nehmen. Diese schlagende Verbindung war gerade erst 1856 gegründet worden. Beide Milieus wa‐ ren nicht eng, ein Indiz dafür ist die damals nicht selbstverständliche Heirat Gierkes mit der jüdischen Lilly Loening, auch aus einer Juristensippe, und die Offenheit auch der Heidelberger Verbindung insoweit.12 Parteipolitisch hat sich Gierke erst ganz am Ende seines Lebens betätigt, wobei er immer noch „über den Parteien“ stehen wollte.13 Gewählter Abgeordneter war er nie, schon gar nicht für eine Oppo‐ sitionspartei wie die Linksliberalen und bisweilen auch die Nationalliberalen. Aus‐ gesprochen politische Bücher hat er nicht geschrieben oder auch nur rezensiert.14 Seine Sozialpolitik ist Honoratiorenengagement, im Verein für Sozialpolitik seit 1872, Ende 1889 im preußischen Landes-Ökonomie-Kollegium,15 im Evangelisch8 Stutz 1922, S. XLV-LXIII; auf 10.000 Seiten hatte er richtig das Werk geschätzt. 9 Eine „unergiebige“ Mitschrift benennt Stolleis 1992, S. 359 Fußnote. 10 Genauestens dargelegt sind Stammfolge und Ahnenliste bei Spruth 1968; einige lebendige Umrisse zur Familie gibt v. Zahn-Harnack 1964 in einem Nachruf 1943 auf Anna von Gier‐ ke. Ich danke Gerhard Dilcher und den Gierke-Nachfahren, die dem Frankfurter Institut für Rechtsgeschichte ca. 2005 eine Literatursammlung in Kopien zu Gierke übergeben haben u.a. mit sonst weniger bekannten Schriften. 11 Es ist nicht ganz klar, in welchem Semester Gierke wirklich begann, evtl. im Winter 1858. 12 Siehe die lange Liste bekannterer Mitglieder unter „Burschenschaft Allemannia Heidelberg“ in Wikipedia, aus den Jahrgängen Gierkes ca. 1840-1843 z.B. Edgar Loening, sein späterer Schwager, und Adolf Wach, bald auch Otto Lenel u. Otto Mayer, eine Generation später auch Max Weber. 13 Siehe nur seine Beiträge 1914e, Sp. 4; 1918a, Sp. 2; 1919c, Sp. 4. 14 Siehe die ziemlich vollständig wirkenden Angaben in seinem Schriftenverzeichnis bei Stutz 1922, mit hier ergänzten relevanten Lücken 1869, 1890, 1914, s.u. die eigene Bibliographie zu Gierke. 15 Dazu näher Hansel 2006, 129, 243, zur Beratung über Grundkredit.

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sozialen Kongress seit 1890, in der Gesellschaft für soziale Reform seit 1901.16 Erst 1914-1920 drängt ihn sein nationaler Antrieb zu mindestens vierzehn sehr dezidierten Artikeln in der Tagespresse und Publikumsreden.17 Dennoch hatte er auf eine meist sehr abstrakte Weise immer politische Präferenzen und geradezu eine politische Weltanschauung. Aber der Gang in die Archive, in die Lebensdokumente, die Korrespondenz, die Gremienprotokolle, kurz in seine Lebenswirklichkeit, hat gerade erst begonnen.18 Für die Zeit bis 1888 kann immerhin der Blick in Kerns sehr genaue und kontextreiche Schilderungen zu Gierkes Lehrer und Mentor Beseler den Blick schärfen, besonders für die politische Seite.19 Zu viel Sekundäres. So überbordend wie zugleich unbefriedigend erscheint auch die sekundäre Befassung mit Gierke.20 Sie leidet nicht an einem Zuwenig. Das Quantum lässt sich an Indizien in einem repräsentativen Nachschlagewerk messen und vergleichen. Zu Gierke liegt es sehr respektabel im oberen Drittel, nämlich bei 44 Zeilen, obwohl deutlich hinter dem Spitzenwert von Savigny (119) und dem mittleren Wert von Jhering (69).21 Die Fülle hilft aber wenig, denn man ist sich bemerkenswert uneins, im Großen wie im Kleinen.22 Im Großen irritieren die faszinierend riesigen Geschichtskontinuitäten, die Gierke beharrlich und wortgewal‐ tig aufbaute. Sie reichen bekanntlich voll ‚zurück‘ bis zu den Germanen und als deutsche Substanz über seine Zeit hinaus in die Zukunft. Überall sieht er durchge‐ hende Deutschheit, besonderen deutschen Geist, eine besondere deutsche Freiheits‐ vorstellung, die besondere Vorstellung von Rechten als stets zugleich Pflichten,23 die besondere Familienverbundenheit, auch im Erbrecht, besondere Treue im Schuldver‐ kehrsrecht, zumal im Dienstvertragsrecht, besondere Stabilität im Bodenrecht – und dies alles seit den Germanen – überall also bindende Momente. Das kulminiert 1918 mit Geibels damals bekannter Zeile vom deutschen Wesen, an dem die Welt

16 Wohl weil nur Honoratiorenengagement fehlt Gierke im Biografischen Lexikon zur Sozialpoli‐ tik, I 2010. 17 Siehe am Ende das Verzeichnis zu Gierke; Presseartikel und Publikumsreden vor 1914 bes. gegen das BGB, s. 1896a; aber auch 1874b, 1879. 18 Siehe jetzt Thiessen 2010. 19 Kern 1982, bes. S. 205-294 für Berlin 1859-1888. 20 Meine Lektüre war um möglichste Vollständigkeit bemüht, das lässt sich hier aber weder berichten und leider nur selektiv einarbeiten. 21 Als Indiz kann der Umfang der Literaturnachweise bei Kleinheyer/Schröder 2017 dienen. Weit voraus liegt Savigny mit 119 Zeilen, es folgen Jhering mit 69, Feuerbach und Lorenz v. Stein mit je ca. 60, dann eine Gruppe mit Gierke (44), Ehrlich, Mittermaier, von Liszt mit je ca. 40 und etwa Sohm mit ca. 27 u. Windscheid mit 31; vgl. zuletzt die umfassende Verortung Gierkes in der Entwicklung der juristischen Germanistik bei Schäfer 2008, dort die vielen Nwe. im Register. 22 Darüber etwa Dilcher 1975 zu Heuer, Ernst Wolf, Preuß, Höhn 1936, Krupa 1942, Böckenförde 1961, Sinzheimer, Isele, Jobs, Janssen, Böhmer, Erik Wolf, Wieacker; seitdem steht es nicht anders. 23 Gierke 1873, S. 131; mehrfach 1889e, S. 14, 15; 1895, S. 251, 254; 1896, S. 39.

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genesen werde.24 Diese Kontinuitäten wurden durchaus weitergereicht, in Weimar, der NS-Zeit (volksbetont, ja völkisch? nationalistisch? gemeinschaftlich, ja kollekti‐ vistisch?), zugleich bestritten, und so bis heute25. Unsichtbares als steter Kern. Die Probleme mit dieser Art von Kontinuitätsbil‐ dung betreffen konsequent Gierkes Methodenhaltung und methodisches Werkzeug. Dazu gehört ganz zentral seine Vorstellung von unsichtbaren und objektiven Ganz‐ heiten, von Dauersubstanzen im Wandel26 und von Entwicklungsgesetzen, kurz: seine Nähe zu organologisch-metaphysischen Denkfiguren. Er fasst die Seinsver‐ hältnisse als „Manifestationen“ oder „Emanationen“ von Werthaltungen oder wert‐ haltigen Grundideen auf. So ist nicht nur der zweite Band der „Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft“ von 1873 verblüffend begriffsstreng gegliedert. Zu‐ gespitzt: Seine Geschichtswelt ist nicht ‚aus den Quellen‘ geschrieben, sondern die Quellen in seine Begriffswelt hinein. Die Bußzahlungen in den frühmittelalterlichen Stammesrechten z.B. muss er „systematisch“ erklären, wie auch seine Zeitgenossen – das war die Methode seiner Zeit, man nennt sie sonst pandektistisch. Diese Metho‐ de befolgt auch Gierke, er verwendet sie nur für andere, deutsche und germanische und germanistische Inhalte. Die Bußzahlungen bringt er unter den modernen Sys‐ tembegriff der Haftung und macht daraus gegen andere Erklärungen die für sein Großsystem passende Erklärung: Sie sind „Pflicht“ und die Zahlung „ist nichts als eine ausgedehnte genossenschaftliche Schutzpflicht“.27 Die „Grundbegriffe des älteren deutschen Rechts“ werden zunächst ganz abstrakt definiert und dann werden diese Fächer historisch gefüllt. Die gewünschte substantielle Einheit in der Vielfalt konstruiert er wiederum mit einem modernen Systembegriff als gemeinsames Sub‐ jekt, z.B.: „Welches nun aber die Beschaffenheit und Umfang des Gesamtrechts an Grund und Boden sein mochte: darin war es sich überall gleich, dass, soweit es eben reichte, sein Subjekt die Gesammtheit der Genossen war. Und zwar war sie es als Gesammtheit schlechthin, in ihrer sinnlich-konkreten Erscheinung, ohne irgendwelche begriffliche Trennung ihrer einheitlichen und vielheitlichen Seite“ – also eigentlich begrifflich ungetrennt, ja gar nicht begrifflich benannt, aber doch in der Subjekt-Substanz „überall gleich“ und so auch in ihrer äußeren „Erscheinung“. Seine Quellenbelege reden aber nur von „communis“ und ähnlich oder von „den merkern“ bei der Mark oder Allmende.28 Das genügt ihm, um die ihm vorschweben‐ de und für seine historische wie aktuelle Konstruktion unverzichtbare Vorstellung 24 Gierke 1918b in der Überschrift, mit Emanuel Geibels Gedicht „Deutschlands Beruf“ von 1861. 25 Vgl. Erik Wolf 1939, 1964; zur NS-Zeit Dilcher 1975, S. 349, zuletzt kurz Otto 2017; zu 1945 ff. H. Mitteis 1950/1981; Kroeschell 1995; das klare Buch von Mogi 1932 liefert entge‐ gen dem Titel keinen Bericht auch zu „Political Teaching“. 26 Gierke 1917d, S. 245: „Der Wechsel der Erscheinungsformen schließt nicht die Ewigkeit der in ihnen erscheinenden Idee aus.“ 27 Gierke 1868, S. 18 mit Fn. 23 dort. 28 Alles Gierke 1873, S. 170f. mit den Quellenbelegen in den Fußnoten.

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eines (realen) Gesamtsubjekts anzunehmen. Seine überall zentrale Vorstellung von „Genossenschaft“ als real und substanziell in mehr als einer Summe, hält historischphilologischer Überprüfung ebenso wenig stand29 wie seine abstrahierte Grundvor‐ stellung von besonderer germanischer Sippe, Herrschaft im Hause, Treue, Eigentum usw.30 oder seine „hochspekulativen Gedankengänge“ zu „Körperschaft“ und „Ob‐ rigkeit“, die so in den Quellen gar nicht vorkommen.31 Der Kern im Wandel. Die gewünschte Kontinuität im Wandel vermittelt er durch die Darstellung der konkreten Lagen als „Manifestationen“, „Anwendungen“ oder „Modifikationen“ des Grundbegriffs, so besonders beim Staats- und Gemeindebe‐ griff und der Eigentumsgemeinschaft im Rahmen der „Ausbreitung des Körper‐ schaftsbegriffs“, wo es auf eine historische Dynamisierung ankam. Diese Technik bemerkt man bei einem genaueren Blick in Gierkes wie immer fein ausgearbeite‐ te Gliederung, die nicht nur die Überschriften wiedergibt, sondern oft verschärft, während sie wenig glücklich im Text nicht eigens hervorgehoben und als Struktur verdeckt bleiben.32 Diese Technik verdiente eine systematische Überprüfung. In seiner Sprache werden zugleich die Beschreibung der Seinsverhältnisse und die Erkenntnis der Sollensinhalte durchaus bewusst vermischt oder mindestens einander sehr angenähert, und das wirft die Frage auf, welche grundlegenden Werthaltungen er so ausdrückt. Auch dazu ist die Forschung sehr kontrovers. Betont wird einerseits der eminente und selbstkritische Historiker33, andererseits die durchaus idealistischphilosophische Grundlage von Gierkes Geschichtsauffassung und -behandlung.34 Als Historiker habe er seine empirisch umfassend fundierte historische Erkenntnis zugleich bewusst durch gegenwärtige Wertsetzungen konstituiert, woraus die Ge‐ genwart lernen könne. Zugleich wird Gierkes Methode, von geschichtsmächtigen Wesenssubstanzen wie einer Gesamtpersönlichkeit von Verbänden auszugehen, zwar als heuristisch fruchtbar anerkannt, aber zugleich als erkenntnistheoretisch überholt bezeichnet. Das richtete sich gegen die organische Staatslehre Gierkes.35 Metaphysischer Glanz. Gierkes Rechtsgeschichte strahlt im Glanz einer großen Erzählung, klarer Perioden, dynamisch-dialektisch geordneter Bewegung und klarer übergreifender Substanzen, kurz: in „Weltgeschichte“: Der „erhabene Bau jener 29 Grundlegend von See 1964: Altnordische Rechtswörter. Philologische Studien zur Rechtsauf‐ fassung und Rechtsgesinnung der Germanen, hier S. 178 f., 189 f., 248 ff. 30 Dazu die Pionierstudien von Kroeschell 1960, 1968, 1969, 1977, hier nach dem Sammelband 1995. 31 Pitz 2006, S. 34f., auch 1214: mystischer Organismus Begriff, politische Metaphysik ins Mit‐ telalter gewendet, 1222 f., und im Einzelnen viel Genaues, etwa 203 ff. zu „Freie Einung“. 32 Bes. Gierke 1873, S. XLVIII- L zu § 33. Der Staatsbegriff, § 34. Der Gemeindebegriff, § 36 unter IV zur Eigentumsgemeinschaft. 33 Siehe statt aller Oexle 1988, bes. S. 217: empirisch fundiert u. seiner Wertsetzungen bewußt; 209: sozialgeschichtlich schon hoch ergiebig . 34 Dazu besonders prägnant Gurwitsch 1922; kritisch aber Janssen 1974, S. XIV und 144 f., und 2005 mit Hinweis auf Schleiermacher. 35 Max Weber 1903, MGA S. 91 Fn. 80.

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organischen Verbände“ steht fest in ihr. Denn: „Wie sich der Fortschritt der Welt‐ geschichte unwandelbar vollzieht, so erhebt sich in ununterbrochen aufsteigender Wölbung der erhabene Bau jener organischen Verbände, welche in immer größeren und umfassenderen Kreisen den Zusammenhang alles menschlichen Seins, die Ein‐ heit in seiner bunten Mannigfaltigkeit, zur äußeren Erscheinung und Wirksamkeit bringen.“ Und: „Mit gleicher Gewalt und gleicher Notwendigkeit bricht sich der entgegengesetzte Gedanke Bahn, der Gedanke der in jeder zusammenfassenden Ein‐ heit fortbestehenden Vielheit, der in der Allgemeinheit fortlebenden Besonderheit, – der Gedanke des Rechts und der Selbstständigkeit aller in der höheren Einheit zusammenströmenden geringeren Einheiten bis herab zum einzelnen Individuum – der Gedanke der Freiheit.“36 In diesen Sätzen ist die metaphysisch gedachte Struk‐ tur der Wirklichkeit historisch dynamisiert.37 Nur so kann von „Weltgeschichte“ und „ununterbrochen“, von Einheit in „bunter Mannigfaltigkeit“, innerer Einheit und „äußerer Erscheinung“, Gleichzeitigkeit von Gegensätzen wie Einheit und Frei‐ heit, von „höherer Einheit“ und „geringerer Einheit“ die Rede sein. Auch diese seine grundsätzliche Art Geschichte zu strukturieren, wurde, wenn ich recht sehe, bisher nicht systematisch untersucht. Diese Aufgabe besteht ganz ähnlich wie für Rudolf von Jhering, dessen „Geist des römischen Rechts auf den Stufen seiner Entwicklung“ verblüffende Parallelen zu Gierkes „Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft“ aufweist, vor allem eine ganz ähnlich dynamisierte metaphysische Struktur, ein dialektischer Aufbau in der Darstellung, aber nicht in den Inhalten.38 „Kleine“ Fragen. Kritisch diskutiert werden außerdem viele Einzelergebnisse und konkrete Linienführungen von Gierkes riesiger Geschichtsdarstellung zur Deut‐ schen Genossenschaft im Verhältnis zur römisch- und kirchenrechtlichen universitas und societas einschließlich Althusius und Naturrecht und zu „Herrschaft und Ge‐ nossenschaft“ als Geschichtsmotoren und -prinzipien überhaupt. Schließlich spielen wohl mehr als sonst, etwa bei Savigny, Jhering oder Windscheid, politische Haltun‐ gen und aktuelle Bezüge bei Gierke und seinen Interpreten eine Rolle, immer wieder zwischen freiheitlich und sozial/gemeinschaftlich changierend. Brüchiger Boden. Die Grundlagen erscheinen durchaus brüchig, kein Spazier‐ gang. Quellenlage und Forschungsstand bieten keine schlanke Lösung auf gut durch‐ forschten Fundamenten. Das Thema kann auch nicht als bloß spezieller Aspekt bei Gierke erleichtert werden. Für die Durchführung bietet es sich daher an, sich nur auf die im Titel angekündigten beiden Hauptpunkte zu konzentrieren, d. h. auf 36 Gierke 1868, S. 1, 2. und 3. Absatz. 37 Näher dazu vor allem Gurwitsch 1922, der bei Gierke „das rechtsphilosophische Vermächtnis des nachkantischen deutschen klassischen Idealismus“ (S. 87) findet und betont, also das Ver‐ mächtnis des objektiven Idealismus beim späten Fichte, bei Schelling und Hegel, was viel Richtiges trifft, hier aber nicht genauer zu diskutieren ist. 38 Ein Versuch zu Jhering und zu seiner frühen Abhängigkeit von dem Hegelianer Eduard Gans bei Rückert 2019.

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Freiheit und Sozialität. Freilich ist klar, dass es außerdem sehr darauf ankommt, und vielleicht sogar normativ entscheidend ist, in welches Verhältnis diese beiden nor‐ mativen Prinzipien von Gierke gestellt werden. Hierarchie, Vorrang, Bereichstren‐ nung, Spannung, dialektische Bewegung, unbefangene Vermischung? Schließlich wird sich erweisen, dass bei alledem Gierkes Wertgerüst eine kontinuierlich maß‐ gebliche Rolle spielt.39

III. Freiheit – Liberalismus – Sozialität? Konstellationen damals. In welche Konstellationen wurde Gierke hineingeboren, in welchen hatte er sich zu positionieren? Was bot sich ihm in Sachen Freiheit und Sozialität? Die Formation des Problems läuft bekanntlich intensiv ‚seit 1789‘. In Deutschlands Revolution des Geistes wird sie theoretisch ausgebaut von und mit Kant und dem Kantianismus bis in die 1840er Jahre. Ihre universale Freiheits‐ botschaft gerät etwa nach 1840 unter emanzipatorischen und sozioökonomischen Druck der ‚Bürger‘ und des vierten Standes. Das Versprechen des „bonheur des tous“, der Wohlfahrt und Gleichheit für Jeden (ohnehin nicht Alle) durch Freiheit, beginnt illusionär zu erscheinen. Der Satz von der Vertragsfreiheit der Arbeit, seit 1808, 1811 und 1845 in Preußen und 1869/71 im Bund und Reich ausdrücklich zugesichert,40 wirkt wie ein Hohn, wie die Freiheit des Fuchses im Hühnerstall. Das Verhältnis von Freiheit und Sozialität wird kritisch als die „soziale Frage“, wie es bald heißt,41 und so bis heute. 1857 schrieb der glänzend europäisch informierte reformkonservative V.A. Huber, es mache sich „die „soziale Frage und Aufgabe … mehr und mehr als eine der dringendsten von allen Zeitfragen geltend.“42. Gut

39 So auch Dilcher 1975, S. 326. 40 Prß. Edikt v. 9. Okt.1807, § 12: nun „nur freie Leute“, Verbindlichkeiten nur „vermöge eines besonderen Vertrages“; Gesindeordnung vom 8. Nov. 1810, § 1: Verhältnis „gründet sich auf einem Vertrag“, Gewerbeordnung v. 17. Jan. 1845, § 134 „Verhältnisse Gegenstand freier Übereinkunft“; ebenso GewO v. 21.6. 1869 § 105, dto. im Reich v. 10.11.1871, gilt bis heute. 41 Etwa schon 1848 in dem anonymen Titel: „Die soziale Frage im Vordergrunde! Oder die drei Hauptforderungen der Arbeiter an den Staat: Arbeit für jeden Müßigen, Brodt für jeden Invali‐ den, freyer Unterricht für jedes Arbeiter-Kind, in ihrer Ausführbarkeit nachgewiesen von einem Tuchfabrikanten, im September 1848, Grünberg“, s. google.books/April 2021; Geck 1963, S. 35, 39 nennt in seiner Belegflut zu „sozial“ Verwendungen bei Heine für 1843 und Engels 1845, aber auch noch den unspezifischen Plural „soziale Fragen“ (in den Fußnoten S. 36, 41); das Historische Wörterbuch der Philosophie V 1995, betont den Bezug auf soziale Not als „Systemfrage“. 42 Huber, unter Bezug auf seinen Art. „Arbeitende Klassen“ im Art. „Assoziationswesen“ 1857 gleich eingangs, S. 456; analog gut begründet Schiera 1992, 191; letzteren Art. von Huber er‐ oberte sich 1869 in der gekürzten Neuausgabe des Staatswörterbuchs der junge Gierke unter seinem Lemma „Genossenschaftswesen“ – eine signifikante Verschiebung, s. dazu Spindler, S. 57 Fn. (aber nicht erst 1875).

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zehn Jahre später verdrängte Gierke gerade hier Huber als Lexikonautor. Der junge Gierke nach 1850 ist Erbe dieser Positionierungen. Nur zwei Freiheiten? „Freiheit“ dient als Oberbegriff für die philosophischen, rechtlichen, politischen, ökonomischen und sozialen Spezifizierungen des Problems in den verschiedenen normativen Welten. Eine gewisse Übersicht und Ordnung lässt sich nur gewinnen, wenn man relativ radikal unterscheidet zwischen nur zwei prin‐ zipiellen Strömungen. Das ist nicht unhistorisch.43 Es ist auch deswegen passend, weil das 19. Jahrhundert einschließlich der Gierke-Zeit sehr prinzipiell gestimmt ist. Man unterscheidet und streitet gern weitgreifend systematisch. Von Systemen gemäß Kants Anspruch, als nach Prinzipien geordneten Ganzheiten, versprach man sich normativ höhere Sicherheit in der Regelanwendung im Rechtsstaat. Dies gilt zumal zum normativen Freiheitsverständnis. Daneben und dazwischen verlaufen dann zahl‐ reiche Variationen und Vermittlungen. Ohne einen einigermaßen deutlichen Begriff von der Hauptunterscheidung gehen alle Bestimmungen ins Leere. Man muss sich dazu nicht in das Chaos der philosophischen Freiheitsbegriffskämpfe begeben,44 die zudem meist auch aktuell an Gewährsleuten für ihre „Freiheiten“ interessiert sind. Die Hauptunterscheidung findet sich überall, nur unterschiedlich betont und akzen‐ tuiert.45 Die Terminologien gehen weit auseinander, zum Beispiel mit „altliberal“46, die Abgrenzungskriterien bleiben oft vage und unbestimmt. Solange man gemein‐ sam auf den Oppositionsbänken sitzt, bleiben die Unterschiede verwischt, wie zum 43 Siehe vor allem die quellennahen Ordnungsversuche zu „Liberalismus“ in Geschichtliche Grundbegriffe III 1982, bes. S. 784 ff. und zu „Freiheit“ ebda. II 1975, bes. S. 488 ff. u. 528 f, zur Spaltung 1848/49, sowie Historisches Wörterbuch der Philosophie V 1980 und II 1972 (aber zu wenig zur Praktischen Philosophie und Politischen Theorie). 44 HistWb 1972, ebda., zieht sich zurück auf das metaphysische Determinismus- und Willenspro‐ blem; die sehr weit gespannte Begriffs- und Problemgeschichte zu Freiheit in der Enzyklopädie Philosophie 1999, I S. 400-405, bleibt für nach 1850 zu allgemein mit der bloßen Unterschei‐ dung nach negativer und positiver Freiheit; daher für nach ca. 1850 immer noch hilfreich der § 36 bei Berolzheimer 1905, S. 249-273: Die letzten rechtsphilosophischen Systeme (Stahl. Trendelenburg. Krause-Ahrens. Herbart-Geyer. Dahn. Lasson). 45 Die reiche Literatur zum politischen Liberalismus bleibt meist sehr abstrakt oder umgekehrt sehr kleinteilig; die Staatslehre klärt vor allem Stolleis 1992, 156 ff.: aufklärerisch-vernunft‐ rechtlich versus organisch-romantisch oder historisch-organisch; aber konkret 176 f. u.ö. wie‐ der relativierend; eine gute zeitgenössische Übersicht bei Holtzendorff 1876; später Herkner 1894/1922, S. 127-189: Liberale Richtungen: kapitalistisch - sozial. Hilfreich für Gierke sind die konkreten Abgrenzungen von Brandt 1968 zum Vormärz, von Siemann 1976a und Kühne 1985 zu 1848/49, von Faber 1979 für bis 1851; allgemeiner wieder Ottmann 2008, 93 ff.; für die Parteien gut konzentriert Ritter 1985, S. 65 ff.; auch Sheehan 1978/1983, 48 ff.: gespaltene Vorstelllungen über Liberalismus und Staat, 120f.: Differenzierung und Gespaltenheit bes. nach 1866; vgl. Bermbach in Handbuch IV 1986, S. 350 ff.; erstaunlich unergiebig Nipperdey 1990. 46 S. z.B. kritisch Siemann 1976a, S. 479 verwirrend; positiv Kern 1982, S. 98 nicht konservativ; GGB-Liberalismus III, S. 775 bei Radowitz für 1848; wichtig die Beobachtung von Siemann 1979, S. 226: die historisch-constitutionelle, reformkonservative Bewegung habe sich nach 1850 als „liberal“ getauft, d.h. „altliberal“. So verwendet es in der Tat Gierke 1889d, S. 18 zu Beseler und 1921, S. 121; analog rechnet er 1903, S. 26 die Germanisten einfach „zu den Libe‐ ralen“; zeitgenössisch wird diese Projektion schon 1852 bemerkt, s. GGB III, S. 778.

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Beispiel in dem vormärzlichen Bündnis zwischen Rotteck und Welcker. In juristisch relevanten Fragen werden sie aber schärfer. Denn es kommt hier mehr auf sie an, da immer der scharfe Rechtszwang oder doch der „Staat“ droht. Mit den verbreiteten Vagheiten landet man in vielen Deutungssackgassen, aus denen man nur mit viel Kontextaufwand herauskommt. So bleibt Wesentliches ganz unentschieden, wenn gerne zitiert wird, dass Gierke 1889 einen „mächtigen Gesammtvorgang“ und eine neue „Aufgabe der Rechtsordnung“ feiert, konkreter die „Zurückverlegung des Staa‐ tes in das Volk“ dank einem „Wiederaufgang des Volkstums fordert und das Wieder‐ erwachen des Gemeinschaftsgeistes im Einzelnen … , den korporativen Gedanken“, kurz: die „Renaissance des deutschen Rechts“, ein sich mit „Gemeinschaftsgeist erfüllen“ und so „ Staat und Recht, Sitte und Wirtschaft sozial zu gestalten“.47 Die Bilder von Sonnenaufgang, Erwachen, Zurückverlegen, benennen Richtungen und bleiben normativ sehr unbestimmt. „Sozial“ ist nur Gegen- und Richtungsbegriff. Der Höchstwert dieser Gemeinschaftsrichtung versteht sich, als Begründung genügt Geschichte, d.h. die vage Erinnerung an ein recht fernes Idyll, an „germanischen Rechtsgeist“.48 Ohne eine klärende Übersicht zu den relevanten Denkmodellen um 1889, in denen sich Gierke damit bewegt, ist es gewissermaßen hoffnungslos, ihn normativ genauer zu verorten. Also ein Versuch: Prinzipiell zwei Freiheiten! Grundsätzlich wird die Freiheitsfrage entweder auto‐ nom und „subjektiv“ von den Individuen her, oder heteronom von einer „objektiven“ Größe her gelöst. Diese Unterscheidung durchzieht das ganze Jahrhundert. Man spricht von rationaler, allgemeiner, vernünftiger, gleicher Freiheit gegenüber histo‐ rischer, gegliederter, sinnvoll differenzierter, kurz: organischer Freiheit. Die Polemik ist farbiger, gegen bloß abstrakte, gleiche(macherische), mechanische, atomistische, zersetzende, selbstsüchtige, mammonistische usw. Freiheit. „Organisch“ wird nach 1850 häufiger und gewinnt rechtsphilosophisch wesentliche Bedeutung etwa bei Krause, seinem Schüler Ahrens und F. Walter.49 Gierke bemerkt 1874, das Wort Organismus für Staat sei „zuerst von Fichte und Schelling gebraucht“, „während für den zugrunde liegenden Gedanken ihre Theorien gar nicht epochemachend sind."50 Heute denkt man meist an die neuere Prägung,51 die seit Böckenförde 1961 besonders in der Verfassungsgeschichte und politischen Geschichte dominant

47 Gierke 1889e, 10 f. und öfter, bes. 1868, S. 655; 1871/1886, S. 82; zitiert etwa bei Dilcher 1975, S. 339, Kühne 1984, S. 561, Moos 2005, 57 mit Hinweis auf Münkler/Bluhm 2001. 48 Gierke 1889e, 12. 49 Zu Ahrens sogleich; für Walter sein Lehrbuch der Rechtsphilosophie unter dem Titel: Natur‐ recht und Politik im Lichte der Gegenwart, Bonn 1863, 2. Aufl. 1871. 50 Gierke 1874a, S. 60 des Sonderdrucks/S. 110 der Zs-Fassung bei Pöggeler. 51 Siehe GGB IV 1978: Organ (Böckenförde). „organisch“ findet sich nach 1853, 1855, 1857, 1864, 1868 (S. 591-593, 595, 596), nur vereinzelt 1810, 1839 (S. 596, 586), „organisch-liberal“ offenbar nicht. Aber die Rechtsphilosophie nach 1850 mit Ahrens, Trendelenburg, Geyer, Wal‐ ter ist hier nicht beachtet.

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wurde.52 Organisch trifft in der Tat die zentrale, auch philosophische Vorstellung natürlich-gegebener harmonischer Gemeinschaften und Bindungen, die die Einzel‐ freiheit relativieren und erst als lebbar und wertvoll anerkennen.53 Freiheit neu: objektiv-wissenschaftlich? Das philosophische Freiheitsproblem birgt allerdings eine Komplikation, die weit ausstrahlt. Es verschwindet sozusagen im späten 19. Jahrhundert mit dem Niedergang der kantianischen praktischen Philo‐ sophie, den auch der Neukantianismus nicht aufhält. Die kantische Problemstellung von der Gesinnung, dem Willen und dem Individuum her interessiert die Hauptströ‐ mungen nicht mehr. Man will auch die Freiheit wissenschaftlich ‚objektiv‘ verstehen und erklären. Erhalten bleibt das nun empirisch angepasste normative Freiheitspro‐ blem in der aufkommenden Psychologie,54 in der Soziologie als Gesellschaftstheorie und in der Provinz der Rechtsphilosophie, so bis heute. In der allgemeinen Philoso‐ phie führen die betont wissenschaftlich-objektiven Zugriffe zu neuer Ethik und den neuen „Wertphilosophien“.55 Zur Zeit des jungen Gierke ist freilich die Auseinan‐ dersetzung mit Kants subjektiv-liberal verstandener praktischer Philosophie noch nicht beendet. In sie stellte sich Gierke bemerkenswert hinein. Im 2. Band seines Genossenschaftsrechts liest man 1873 unter der Überschrift „Die Grundbegriffe des älteren deutschen Rechts. I. Die Rechtssubjektivität. § 3 Der deutsche Personenbe‐ griff im Allgemeinen“ den so erstaunlichen wie lapidaren Satz, es sei, „daß an sich nur der einzelne Mensch Person sei, rechtsphilosophisch unbegründet, indem viel‐ mehr, wie sich später ergeben wird, die Persönlichkeit menschlicher Vereinigungen im Rechtsgedanken selbst gegeben ist.“56

52 Böckenförde 1961, prägte S. 96 ganz bewusst: „Der Kern dieses ‚organischen‘ Liberalismus, um ihn im Unterschied zum Liberalismus der Aufklärung zu benennen, liegt vielmehr darin, dass er in einem nicht von der Gegenwart, sondern nur von der Geschichte bestimmten Ver‐ hältnis zur eigenen Wirklichkeit stand“ und damit am „entscheidenden Verfassungsproblem des Jahrhunderts, der Trennung und dem Dualismus von Staat und Gesellschaft vorbei“ gese‐ hen habe – offensichtlich kritisch auch für diesen Liberalismus gemeint. „organisch“ stammt hier vermutlich aus den intensiven Kontakten Böckenfördes mit Carl Schmitt, s. dessen: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, zuerst 1923, 10. Aufl. 2017, Kap. II, S. 58 (der Liberalismus vermittle so die politische Einbeziehung der Fürsten), 60 (dies in einem „spezifisch deutschen ‚organischen‘ Denken“); Ich danke Reinhard Mehring sehr für diesen Hinweis. 53 Zustimmend mit längerem Zitat insbes. Stolleis 1992, S. 157. 54 Für die Rechtsphilosophie ist hier an August Geyer 1863 (Geschichte und System der Rechts‐ philosophie in Grundzügen), für die praktische Philosophie an Herbart seit 1825 (Psychologie als Wissenschaft) und besonders an Friedrich Jodl seit 1882 (Geschichte der Ethik) und 1897 (Lehrbuch der Psychologie) zu denken. 55 Hilfreich die Übersicht von Schnädelbach 1983/2007, S. 197 ff, bes. 200, mit S. 11 f.; soweit ich sehe nach W. Windelbands „Lehrbuch der Geschichte der deutschen Philosophie“, 15. Aufl. 1957 und Neudrucke, immer noch die einzige neuere, gut historische Darstellung der Philosophieprobleme seit 1831-1933. Aber die Rechtsphilosophie kommt als zu speziell gar nicht vor. 56 Gierke 1873, S. 25, Hervorhebung im Original.

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Gierkes Lösung. Die explizite Begründung, die „sich später ergeben“ sollte, blieb mir bei Gierke unauffindbar. Sie kann daher nur in einer kleinen Umschau in der zeitgenössischen Rechtsphilosophie etwas erschlossen werden – wofür wiederum ein neuerer Wegweiser fehlt.57 Dennoch: In Frage kommen vor allem Trendelen‐ burg und Dilthey, zuerst Trendelenburg. Bei ihm in Berlin hat Gierke studiert, das Hauptwerk zum Naturrecht erschien 1860. Zur Freiheitsfrage bietet es vor allem Kant-Ablehnung.58 Positiv ruht die Freiheit in der Anerkennung der Einzelnen als Personen gemäß ihrer sittlichen Bestimmung und immer im Zusammenhang mit einem größeren und höheren organischen Ganzen.59 Das passt zu Gierkes steter Ver‐ bindung von Recht und Sitte und zu seiner Organologie. Die textlichen Berührungen bleiben jedoch relativ abstrakt ‑ vorbehaltlich umfassenderer Prüfung. Die recht enge Berührung mit Dilthey in Breslau seit 1872 betraf wohl vor allem erkenntnis‐ theoretische Fragen. Diese betont Gierke jedenfalls 1884 in seiner Rezension zu Dil‐ theys „Einleitung in die Geisteswissenschaften“, und sie wurden bereits gründlich untersucht.60 Diltheys Vorlesungen zu einem „System der Ethik“ begannen erst 1890 und wurden zu Lebzeiten nicht gedruckt.61 Auch dieser Bezug muss hier vorbehal‐ ten bleiben. Bemerkenswert scheint mir dabei, dass Gierke 1873 im 2. Band seines Genossenschaftsrechts in der Einleitung seine Aufgabe wesentlich philosophischer ausführt als 1868 im ersten Band. Gierkes philosophischer Helfer? Von größerem Interesse erscheinen die bisher unbeachteten Parallelen zu Heinrich Ahrens. Gerade in Gierkes jugendlicher For‐ mationsphase hatten Ahrens‘ nun deutsche Schriften zum Naturrecht „weite Ver‐ breitung gefunden“,62 d.h. dessen „Die Rechtsphilosophie oder das Naturrecht auf philosophisch-anthropologischer Grundlage“, 1852, und „Juristische Encyclopädie oder organische Darstellung der Rechts- und Staatswissenschaft auf Grundlage einer ethischen Rechtsphilosophie“. 1860 war Ahrens auf den bedeutenden Lehrstuhl in Leipzig berufen worden. 1870 konnte er in der repräsentativen „Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung“ von Holtzendorff den Einlei‐

57 Siehe daher Berolzheimer 1905 (zu Stahl. Trendelenburg. Krause-Ahrens. Herbart-Geyer. Dahn. Lasson). 58 Vgl. Weiss 1960, S. 110 f.; das einschlägige Hauptwerk war sein „Naturrecht auf dem Grunde der Ethik“ von 1860, 2.A. 1868. 59 Vgl. Weiss, ebda; Berolzheimer 254 f. 60 Der Verbindung zu Dilthey widmet sich mit vielen einleuchtenden Bezügen Janssen 1974. 61 Siehe die Edition in Dilthey, Gesammelte Werke, Bd. 10, durch Hermann Nohl 1958 und dort die Vorrede. 62 So Berolzheimer, S. 259; s. auch die durchgehende Beachtung bei Walter 1863.

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tungsartikel zur Rechtsphilosophie übernehmen.63 Gierke zitiert ihn zwar nicht,64 aber ein Griff zu Ahrens lag gewiss nicht fern. Dessen „Encyclopädie“ von 1855 enthält im 1. Buch „Die rechtsphilosophischen Grundlagen.“ Ahrens fasst den Rechtsbegriff sofort primär „objektiv“ und definiert zusammenfassend: „Aus diesen Merkmalen des Rechtsbegriffs, wie er sich in unserem Bewusstsein vorfindet, ergibt sich schon die wichtige Folgerung, daß dieser Begriff sich auf sachliche, s.g. objekti‐ ve Verhältnisse bezieht und dass der Wille, oder näher bestimmt die Freiheit zwar das subjektive Vermögen ist, wodurch das Recht verwirklicht wird, sich aber nach diesen Verhältnissen richten und durch dieselben bestimmen lassen muss. Nicht also der bloße Wille oder die Freiheit schafft das Recht, sondern dieses hat selbst seinen Grund in den Verhältnissen des menschlichen Lebens welche zuvor richtig erforscht werden müssen …“. Damit scheint mir eine ziemlich heiße Spur sichtbar. Bei der Freiheit wird nicht mehr zuerst universal vom gleichen Menschen ausgegangen, sondern von den „Lebensverhältnissen“ selbst.65 Dazu zählt Ahrens auch die „gesellschaftlichen Ver‐ bände“ und darunter die „Genossenschaften“.66 Der darin „lebendige Vergesellschaf‐ tungstrieb“ erklärt sich für Ahrens „aus dem Wesen des deutschen Charakters“.67 In Genossenschaften und ähnlichen Vereinigungen als „bleibenden gesellschaftlichen Verbänden“ müsse sich „die einzelne Persönlichkeit … ergänzen“. Und er resümiert gegen Kant, „so zeigt sich, dem abgeleiteten und entwickelten Begriffe gemäß, das Recht in einem höhern Licht nach seinem wahrhaft menschlichen Charakter und ethischen Zwecke. Es besteht nicht, wie die Kant‘sche Schule in einseitiger und dürftiger Auffassung behauptete, in der Beschränkung der Freiheit Aller zum Zwe‐ cke des Zusammenbestehens, auch nicht wie Stahl will, in der Ziehung der äußersten Grenzen für die sittliche Freiheit … Es gibt für alle menschlichen Handlungen und Bestrebungen nur einen Hauptzweck, welchen daher auch alle praktischen Wissen‐ schaften, eine jede in ihrer Weise, fördern müssen, und welchen auch das Recht vor Allem in positiver Weise anstrebt; es ist der Zweck der möglichsten Vollendung des menschlichen Lebens durch die gegenseitig sich ergänzende Thätigkeit aller.“68

63 Zu Ahrens vor allem, auch biografisch grundlegend, die Dissertation von Klüver 1967: Sozial‐ kritik und Sozialreform bei Heinrich Ahrens; von Gurwitsch 1992, Wolf 1939/1964, Janssen 1974 wird Ahrens nicht einbezogen; von Herzer 1993 zu Ahrens nicht Gierke (vgl. S. 53-59 zu Geselligkeit und Assoziation). 64 Es gibt auch zu Trendelenburg offenbar nur einen Beleg von 1895 in Gierkes Deutsches Privat‐ recht, S. 112 (dazu Janssen, S. 174, Fn. 1) zum Rechtsbegriff im Rahmen einer bloßen Litera‐ turübersicht. Diese geht nicht vor 1865 zurück. A. Weiss 1960 zu Trendelenburg ist hier uner‐ giebig. 65 Ahrens 1855, S. 15 f. 66 Ahrens 1855, S. 31. 67 Ahrens 1855, S. 527, im Abschnitt Rechtsgeschichte. 68 Ahrens 1855, S. 32, Hervorhebungen im Original.

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Freiheit ist daher für ihn gegen Kant „nur ein Handlungsvermögen für vernünftige, sittlich-gute Zwecke“ und kein Selbstzweck.69 Organismen und Gesamtpersönlichkeiten. Im Umkreis der Rechtsphilosophen kommt jedenfalls Ahrens mit diesen Sätzen als philosophischer Kronzeuge für Gierke sehr in Frage, wie vielleicht auch dessen Lehrer Krause.70 Die für Gierke so wichtige Erhebung der Vereinigungen selbst zur „realen“ Persönlichkeit scheint bei Ahrens aber nicht deutlich. Er fasst zwar den Staat und andere Vereinigungen als „Rechtsorganismus“, aber nicht auch als eigene Persönlichkeit, freilich doch die „Nation als Gesamtpersönlichkeit“.71 Im Privatrecht kennt er aber „Gesammt-Perso‐ nen“ und schreibt diesen gegen die romanistische Tradition der Fiktionen und das geltende Recht generell und „überhaupt das Recht des Daseins und der Wirksamkeit nach bestimmten Richtungen“ zu.72 Zudem behauptet er eine besondere Art der juristischen Person, „wo sowohl dieselbe als ideelle Einheit als auch die einzelnen Mitglieder zugleich nach verschiedenen Richtungen berechtigt sind und das Vermö‐ gensverhältnis nach dem germanischen Begriff des Gesamteigentums geregelt ist.“ Diese Art von juristischen Personen werde „von Mehren(!) vorzugsweise Genossen‐ schaft genannt“, Begriff und Bezeichnung seien aber „noch schwankend.“73 Der Gierkesche Grundgedanke vom eigenen rechtlichen Dasein der Gesamtpersonen zugleich mit dem der Einzelnen insbesondere in Genossenschaften wurde also ange‐ sprochen. Ahrens nennt in der Fußnote als weitere Zeugen zur deutschrechtlichen Genossenschaft Beseler, Bluntschli, Schüler, Weiske und andere. Dem allen kann hier nicht weiter nachgegangen werden. Auf philosophischer Seite ist jedenfalls das Freiheitsproblem bei Ahrens auf eine neue und andere Weise angefasst, die vielen dann als philosophisches Alternativmodell dienen, und so auch ganz selbstverständ‐ lich und lapidar, wie bei Gierke 1873, in Anspruch genommen werden konnte. Eine äußere Beziehung zu Ahrens könnte immerhin über Gierkes Mentor und Lehrer Beseler bestanden haben. Denn Beseler saß neben Ahrens in der Paulskir‐ chenversammlung und vor allem auch im engeren Kreis des Verfassungsausschus‐ ses.74 Ahrens gehörte zur linken Mitte, der „Linken im Frack“.75 Er war in Berlin kaum ein Unbekannter, zumal er seit 1860 im nahen Leipzig wirkte. Sein weiter als im korporationsskeptischen frühen Liberalismus reichender, umfassender Korpo‐ rationsbegriff soll sogar schon Beseler 1843 beeinflusst haben.76 Gierke kennt ihn 69 Ahrens 1855, S. 70, im Abschnitt zur Geschichte der Rechtsphilosophie. 70 Vgl. Berolzheimer 1905, S. 255-259. 71 Vgl. Ahrens 1855, S. 98 ff., und Gesamtpersönlichkeit in seiner „Organische Staatslehre“, 1850, S. 169, hier nach Klüver 1967, S. 121. 72 Ahrens 1855, S. 658. 73 Ahrens 1855, S. 660. 74 Siemann 1976a, S. 256, 306. 75 Siehe Klüver 1967, 16. 76 So Landau 1986, S. 161 ff., 165. Er geht aber nicht weiter zu Gierke und benutzt auch nicht Klüver.

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mindestens über van Krieken.77 Wie dem auch sei, die Umrisse des, wie man sagen sollte, organischen Freiheitsmodells als Alternative zum als atomistisch bekämpften individualfreiheitlichen Modell sind erkennbar. Gierkes Savigny, eine Fehldeutung als Stütze. Gierkes erwähnte, temperamentvol‐ le rechtsphilosophische Abrechnung war freilich nicht ganz korrekt. Das führt auf eine weitere grundsätzliche Spur. Seine Abrechnung galt keinem Geringeren als Savigny. Gierkes Absatz begann mit einem freien Savigny-Zitat: „Seit Savigny ist es Sitte geworden, die Lehre von den Personen etwa folgendermaßen zu beginnen. Ursprünglich und für die natürliche Anschauung falle der Begriff des Rechtssubjekts zusammen mit dem Begriff des Menschen. Jeder einzelne Mensch und nur der einzelne Mensch sei rechtsfähig.“78 Fast so steht es in Savignys System, Bd. 2, 1840 Seite 2. Nur, von „natürlicher Anschauung“ steht bei Savigny nichts. Gierke macht aus einer normativen Annahme Savignys für den Rechts- und Menschen-Begriff eine Frage einer empirisch verstandenen „natürlichen Anschauung“ und wendet dann ein, ursprünglich und für die natürliche Anschauung „gibt es überhaupt keine Personen“. Es „existiert also zunächst nur die geschichtliche Tatsache, daß bestimm‐ te Willensverkörperungen Rechte haben.“ Darum geht es Savigny aber nicht. Es ist Gierkes eigene philosophische Fragestellung, die aus Tatsachen Normen erwei‐ sen will.79 Ebenso wichtig ist, dass Gierke Savignys Begründung weglässt. Denn unmittelbar zuvor hatte Savigny geschrieben „Alles Recht ist vorhanden um der sittlichen, jedem einzelnen Menschen innewohnenden Freiheit willen, darum muss der ursprüngliche Begriff der Person oder des Rechtssubjekts zusammenfallen mit dem Begriff des Menschen …“. Savigny setzt also eine normative Annahme und begründet die menschliche Freiheit daraus, dass erst sie menschliche Sittlichkeit ermögliche. Das passte freilich nicht auf „menschliche Vereinigungen“, die Gierke zur Persönlichkeit machen wollte. Sittlichkeit konnte so als kollektives Phänomen gedacht werden, eine durchaus dramatische Konsequenz. Es gab dann „eine durch das sittliche Gemeinbewusstsein begrenzte Geltung des einzelnen Volksgenossen“, für Gierke war das die „germanische Freiheit“ statt der bekämpften absoluten.80 Das kollidierte mit dem nicht nur christlich an sich trotz Erbsünde notwendigen Ursprung der Sittlichkeit aus individueller Autonomie vor Gott. Diese beiden Pro‐ bleme, den Schluss aus Tatsachen und die Funktion der Sittlichkeit, übergeht Gierke ohne eigene Begründung ganz selbstbewusst. Soziale Freiheit? Bleibt die Frage, wo und wie das soziale Element hier eine Rol‐ le spielt. Das freiheitsautonome Modell beginnt sehr prinzipiell bei Kant und bleibt 77 Ahrens ist mit Sympathie genannt in 1874a, S. 64 bzw. 113 f., aber S. 81 zugleich kritisch weil ohne juristische Einzelausführung. 78 Gierke 1873, S. 25; s. zur „Abrechnung“ das Zitat oben bei Fn. 56.. 79 Dazu gut Janssen 1974 durchweg, als erkenntnistheoretische Prägung von Dilthey her, s. noch unten im Text bei Fn. 197 ff. 80 Gierke 1873, S. 130.

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bestehen im politisch-liberalen Kantianismus, der von den Individuen ausgeht als Anfang und Ende der praktischen Philosophie und Politik. Auf der gesellschaftli‐ chen, rechtlichen und staatlichen Ebene kommt es hier nicht etwa auf eine Art Ro‐ binson-Freiheit an, wie es die polemischen Angriffe oft darstellen, sondern auf die Herstellung gemeinsamer gleicher Freiheit. In gemeinsam und gleich ruht schon die soziale Frage. Die gleiche Freiheit ist Ziel und Zweck. Das war provokativ genug und nicht nur entschärfend formal, wie seit Hegel 1802/0381 behauptet wird. Deut‐ lich zeigen das die freiheitliche politische Philosophie und ihre konkretisierten Ver‐ fassungssätze. Denn inhaltlich ziehen hier eine Untergrenze die Unveräußerlichkeit der Freiheit selbst (inaliénable et sacré, Präambel 1789), die ja lange ‚verkauft’ wor‐ den war, und die Einforderung ihrer wesentlichen Realbedingungen, also persönli‐ che Existenz und volle Entfaltungschance: „La liberté consiste à pouvoir faire tut ce qui ne nuit pas à autrui: aussi l’exercice des droits naturels de chaque homme n’a de bornes que celles, qui assurent aux autres membres de la société la jouissance de ces mêmes droits. Ces bornes ne peuvent être déterminées que par la loi.“ (Art. 4, 1789)82 – volle Freiheit, für jeden Menschen, ohne Schädigungsrecht bzw. ohne Ver‐ letzung gleicher Freiheiten Anderer, konkretisiert durch das allgemeine (demokrati‐ sche) Gesetz. Diese Regel soll dem Glück eines Jeden, dem „bonheur de tous“ (1789 Präambel a.E.) dienen. Das war Freiheit als Inhalt und Glück, als sozialer Inhalt und nicht nur als leere Formel. Es wurde auch im 19. Jahrhundert lange so verstanden und erkämpft bis sich Hegels Kritik durchsetzte. Anfänge bei Savigny. Die wesentlichen Fundamente und konkreten Rechte wur‐ den in der Tat 1789 formuliert, politisch wie rechtlich. Kants Koexistenzformel in der „Rechtslehre“ von 1797 (Einleitung § C) hält genau das sehr abstrakt fest. Aber Problem sind sofort die persönlichen und güterbedingten Ungleichheiten, die ungleiche Seite der Freiheiten. Die Ausstattungen durch Geburtstalente, Erziehung, Eigentum und Erbe differieren bekanntlich stark. Dennoch ist die Sozialität entge‐ gen vielen Kritiken im Freiheitsziel impliziert.83 Sie erscheint zuerst als rechtliche Gleichheit in der gleichen Rechtsfähigkeit, egalitär, dann als Gleichheit vor dem Gesetz und dann positiv „brüderlich“ helfend als Fraternité hinsichtlich der Grund‐ bedingungen und der persönlich ohne Schuld Leistungsunfähigen – auch wenn das Karl Marx gegenüber den Klasseninteressen als bloß „gemütliche Abstraktion“ erscheint.84 Juristisch wurde daraus klar und konkret, „die Hülfe ... entspringt auf 81 Siehe den sog. Naturrechtsaufsatz „Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Natur‐ rechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechts‐ wissenschaften“, in: Critisches Journal der Philosophie, Bd. 2 (1802/03), S. 1-88; s. Rückert 1990a: Formalismus. 82 Dies war nach 1776 die erste Formulierung einer allgemeinen Handlungsfreiheit als Recht für alle, die auch sofort das Grenzproblem stellte und freiheitlich löste, näher dazu Rückert 1999; Schreibweise wie 1789. 83 Dazu genauer Rückert 2006b, S. 17-20. 84 Ebda. 18, mit Nwn.

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dem Boden … des öffentlichen Rechts“ (Savigny 1840)85. Die Hilfe war nicht mehr nur eine Frage der Religion und der Moral. So müsse z.B. das freiheitsgefährdete Dienstboten-, sprich Gesinderecht, nicht bloß als einzelne Obligation und reiner Vertrag, sondern als Personenrecht gefasst werden, da die ganze Person betroffen sei.86 Wie das zu konkretisieren sei, ob mehr staatlich direkt oder emanzipatorisch helfend indirekt, sagte er nicht. Das war dennoch ein Anfang. Vielfach sozial. Gierke war prominenter Zeitgenosse und Teilnehmer aller weite‐ ren Entwicklungen dazu. Wie sich schnell zeigte, kamen sehr verschiedene Lösun‐ gen für das Verhältnis von Freiheit und Sozialität in Betracht: liberale, d.h. sozial emanzipierende mit speziellen Rechten (BGB mit Gewerbeordnungen und Gewerk‐ schaften usw., Brentano, Baron Sohm), patriarchalisch schützende mit besonderen Pflichten und strenger zu den Gewerkschaften (Gierke), (staats-)sozialistische mit Schutz konkret gefährdeter Rechtsgüter (von rechts Bismarck, von links Menger), punktuell und konkret schützende (humane Pragmatiker verschiedener Richtun‐ gen).87 Sie lassen sich wieder grundsätzlich unterscheiden. Gierke hat mit seiner „personenrechtlichen“ Auffassung an Savigny, und zwar mit besonderen Pflichten, angeknüpft, nicht an der Freiheitsermöglichung zuerst. Energischer begannen ande‐ re, den Staat als emanzipierende „Freiheitserwerbungsanstalt“ zu denken.88 Wieder andere erhofften die Emanzipation von der freigesetzten Gesellschaft selbst, strikt ohne Staat, etwa in Form von freien, wirtschaftlichen Genossenschaften (SchulzeDelitzsch).89 Ein nächster Schritt mit erneuter Debatte waren die Arbeiterschutzbe‐ stimmungen der Gewerbeordnungen und anderer Spezialregeln seit 1869, die hin‐ sichtlich Leben, Körper und Arbeitszeit, aber auch im Verbraucherrecht (Abzah‐ lungsgesetz 1894) ein Minimum sicherten und im Betrieb eine gewisse Teilhabe durch Arbeiterausschüsse (1890 ff). Die Sozialversicherungen nach 1881 und hier die heiß erkämpfte liberale Sicherung einer noch so kleinen Rente als individueller Anspruch sowie die Beteiligung in möglichster Selbstverwaltung schlossen sich an.90 In den Debatten wurden immer wieder die Grundsatzargumente hervorgeholt, teils mehr philosophisch aus dem Wesen des Menschen (Ahrens), teils mehr histori‐ sierend aus der Spezifik der deutschen, ja germanischen Geschichte (Beseler, Gier‐ 85 Savigny 1840, I S. 371. 86 Savigny 1840, I S. 366f.: wie im ALR 1794 „auf ganz richtige Weise das Dienstbotenrecht nicht unter die Contracte, sondern in das Personenrecht aufgenommen worden“, also noch ständisch geprägt. Alles Nähere lässt er freilich offen; zur Problematik bei und seit Savigny ausf. Rückert 2006b. 87 Zum Dienstvertragsrecht des BGB wurde das heftig durchdacht, ausf. Rückert 2013, S. 853-859 ff., zu Gierke 855 f., 858f. 88 So der einst radikale Demokrat Julius Fröbel 1861, näher Rückert 2006b, 670, 692 f.; allg. zu Fröbel etwa Bermbach 1986, S. 361 f.; später votiert der bekannte Jurist Sohm 1898, S. 17: für „Arbeitsfreiheitsgesetzgebung“. 89 Er war mit Gierke als Freund von dessen Vater verknüpft, das ist hier aber nicht genau zu klären. 90 Siehe Rückert 1990b: Renten.

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ke), teils mehr politisch zum ständisch, berufsständischen oder allgemeinen und gleichen Wahlrecht, teils mehr ökonomisch wie in der Freihandels- und Schutzzoll‐ debatte und zum Steuerrecht, teils mehr sozialpolitisch zum Arbeiterversicherungs‐ recht als staatliche Gnade oder sozialer Anspruch. Ohne diese Unterscheidungen bleibt Gierkes Ort in seiner Zeit unspezifisch allgemein. Sozial, aber was konkret? Was aber nun jeweils konkret als Existenzminimum, Entfaltungsmöglichkeit, soziale Hilfe und soziales Recht zuerkannt wurde, stand nicht fest und konnte nicht feststehen. Denn es hing (und hängt) vom jeweiligen Stand der Ökonomie und Verteilungsbereitschaft ab. Also muss es gemeinsam aus‐ gehandelt werden. Das Verfahren wurde wesentlich. Und das hieß, in gleicher Frei‐ heit, also letztlich demokratisch. Eine normative Generalformel dafür geriet daher immer nur sehr allgemein, wie etwa 1941 in der folgenreichen Atlantik-Charta mit der Garantie von „social security … in the economic field“ (Ziff. 5) und „lives in li‐ berty and free from fear and distress“ (Ziff. 6) als „common principles“, oder wie die Wahrung der „Menschenwürde“ im Grundgesetz (Art. 1). In alledem ist jedenfalls das sozioökonomische Problem im Freiheitsziel von Anfang an mitbedacht oder eben auf heteronome Weise gelöst.91 Der Gesellschaftsvertrag als Lösung. Wichtig und juristisch interessant wurde da‐ her zuletzt der genauere Lösungsweg, den auch Gierke immer wieder kritisch disku‐ tiert. Soweit Berührungen unvermeidlich und gegenläufig sind, muss man sich hier auf der Basis gleicher Freiheit durch Verträge einigen oder eben vertragslos bekrie‐ gen. Vertragserklärungen müssen „frei, ernstlich und gewiss, oder zuverlässig“ sein, wie das Allgemeine Landrecht schon klar formulierte (1794, I 4, § 4). Vertraglich gewonnenes Recht als allgemeine und gleiche Regel ist im Privatrechtsmodell das vornehmste Mittel. Das Recht koordiniert so die Freiheiten privatrechtlich und öf‐ fentlich-rechtlich und schützt sie strafrechtlich und prozessual und inzwischen auch grundrechtlich durch Teilhabe und nicht mehr nur Abwehr. Zum konkreteren Stich‐ wort und Systembegriff werden allgemeine gleiche Rechts- und Handlungsfähigkeit, Rechtssicherheit, Rechtsstaat, gleiche Menschenrechte, individueller Rechtsschutz. In der politischen Theorie und Philosophie mündet dies in den Gesellschaftsvertrag als Grundfigur. Er kann liberal-konstitutionell oder liberal-parlamentarisch oder re‐ publikanisch-demokratisch gefasst sein. Vor 1914 in Deutschland kamen weder die parlamentarische noch die demokratische Lösung in Theorie oder gar politischer Praxis zu einiger Geltung. Gierke hat die Vertragslösung stets mit grundsätzlicher Schärfe abgelehnt.92 Immer wieder gilt dies Hobbes, der in „radikaler Kühnheit“ und „scharfer Folgerichtigkeit“, seine Theorie „selbst übergipfelnd … alles wahre Staats‐

91 Näher dazu Rückert 2006a, S. 15 ff. 92 Bes. Gierke 1913, S. 276 ff.; ganz wie Individualismus überhaupt, s. noch bei Fn. 112 ff.

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recht in die Luft zu sprengen drohte.“93 Die verwerfliche Annahme eines ursprüngli‐ chen Sozialvertrages sei zum naturrechtlichen Dogma geworden, von Hobbes und besonders Rousseau bis zu Kant und Fichte94, und diese „gesamte individualistische Gesellschaftslehre des Naturrechts“ sei erst „von der geschichtlich-organischen Be‐ trachtungsweise … des lebendigen Gemeinwesens“ her „überwunden“ worden.95 Nur Freiheit als Grenze. Umso mehr kam es darauf an, wie die Grenzen der libe‐ ral-gleichen Freiheiten bestimmt wurden. Wurde dabei die Freiheit festgehalten? Oder wurde sie heteronom geöffnet? Im autonomen Ansatz darf die Freiheit nur durch die gleichen Freiheit(en) der Anderen begrenzt werden.96 Einschränkungen durch Rechtszwang dürfen nur um der gemeinsamen Freiheiten willen geschehen. Es gibt keine objektive Heteronomie wie Gott, Kirche, Staat oder Gemeinwohl, son‐ dern nur individuelle Religion und Kirchenmitgliedschaft, den Staat machen die Staatsbürger, das Gemeinwohl ist ihr gemeinsam beschlossenes Wohl. Das Monopol legaler Gewalt ist von ihnen verliehene Gewalt und steht unter der Bedingung frei‐ heitsgerechter Ausübung, Mit dem Staat und durch ihn sollen die gemeinsamen glei‐ chen Freiheiten gesichert werden. Besonders prägnant und repräsentativ formulierte diese Philosophie und Politik 1840 der württembergische Liberale Paul Pfizer im Rotteck/Welckerschen Staatslexikon, dieser Bibel des vormärzlichen Liberalismus. Im Artikel „Liberalismus“97 – „eine scharfsichtige Deduktion in der Linie des späten Naturrechts und ein strategisch-liberales Papier zugleich“ und damit „das herausra‐ gende literarische Ereignis vielleicht des ganzen 12-bändigen Werks“ (H. Brandt) – präzisierte er das Thema in einer lange gültigen Form98 zu folgenden acht Punkten: 1. „Aufklärung des Volkes über seine Rechte und Interessen“, 2. Erreichen des Staatszwecks „mit möglichst geringer und möglichst gleicher Beschränkung der Freiheit Aller“, 3. Teilnahme des Volks an der Staatsgewalt, womöglich „bis zur de‐ mokratischen Selbstregierung“, 4. Letztentscheidungen durch „Majorität, als dem natürlichen Organe der Gesellschaft“, 5. „Anerkennung der ursprünglichen Gleich‐ heit aller Menschen“, 6. Kampf gegen „allgemeine sittliche Bevormundung der Staatsbürger“ durch Staat oder Kirche, 7. „Sicherstellung der verfassungsmäßigen Freiheit“, 8. gleiches Recht und gleiche Freiheit aller, nicht „äußerliche und materi‐ elle“, sondern durch Schaffung der Voraussetzungen dazu, nämlich „Freiheit des 93 Ebd. 281, auch 310 f., 328 ff. zum Leviathan, 355 ff. zur Vertragstheorie, 360 extrem individua‐ listisch, 385 Gemeinschaft aus Vernunft, 396 f. zum Sozialvertrag und Rousseau. 94 Bes. Gierke 1913, S. 276 ff., 281; zu wenig kritisch zu Kants Individualismus findet er Lands‐ bergs große Geschichte der Rechtswissenschaft, Teil 3.1, 1898, s. seine Rez. 1899, S. 258. 95 1913, S. 483. 96 Dazu jetzt grundlegende Klärungen bei Hofer 2001 und auch Repgen 2001; zusammenfassend Rückert 2006a, 39 ff. 97 Pfizer, Liberalismus, in: Staatslexikon Bd. 9, 1840, S. 713-730; siehe auch die gute Zusam‐ menfassung mit Kontext bei Siem̶ann 1976a, S. 481. 98 Brandt 1990, S. 22; ders. 1968, 268-270: „von allen hier behandelten Autoren diejenige, der am optimalsten für ein Repräsentativsystem eintritt, das ständische und plebiszitäre Modifika‐ tionen im gleichen Maße verwirft.".

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Verkehrs, des Eigentums und der Verträge“. An diesem klaren Maßstab von Libera‐ lismus sieht man sofort, dass Gierke jedenfalls nicht in diesem Sinne liberal war. Philosophischer Abschied und politische Spaltungen. Damit erscheint nun alles ziemlich klar und relativ leicht abgrenzbar. Aber: Im Hintergrund begannen die praktische Philosophie und Rechtsphilosophie zu zerfallen, wie erwähnt. In der politischen Welt und Theorie der Freiheit formte sich zugleich schon die erste große ideelle und politische Spaltung oder Desintegration oder auch Differenzierung – of‐ fensichtlich wertende Großbegriffe, die wiederum zur Vorsicht gegenüber Apologien und Kritikfronten mahnen.99 Das wird wichtig nicht nur für Gierke. Denn im Positi‐ ven spaltete sich nun die Mitte selbst. Die Abgrenzungen wurden schwieriger, weil immer konkreter. 1848/49 brachte die erste in einer langen Reihe von späteren Spal‐ tungen und Sezessionen, in denen der anfänglich klare grundsätzlich autonome Kern immer mehr von Kompromissen überlagert wurde (1849 Streit um Erbkaisertum und Recht auf Arbeit, 1866 Budgetstreit, 1880 Schutzzollstreit, 1890 Militärdienststreit usw.).100 Es war einfacher, gegen die paternalistischen Monarchien einig zu sein, als nun positiv die gleichen Rechte und zumal die Teilhaben zu gestalten, wenn die Aussicht bestand, konkret mitzugestalten und gar mitzuregieren. Abstrakter: Die negative Freiheit als Abwesenheit von Zwang war einfacher zu fassen als die positiven Gestaltungen gleicher Freiheit, die sofort Verteilungsprobleme aufwerfen. Die „Mitte“ begann sich über „positiven“ Kompromissen zu spalten. Erster Ort dafür wurden die ungemein konkreten Debatten in der Paulskirchenversammlung 1848/49. Gierkes späterer Berliner Mentor gut 10 Jahre später, Georg Beseler, war dort ein führender Kopf und Redner, als Jurist, als juristischer Germanist, als promi‐ nenter Verteidiger der Göttinger Sieben 1837, als Berichterstatter für den zentralen Verfassungsausschuss. Er grenzte sich nun ab gegen einen „falschen Liberalismus“, wie schon die Göttinger Jacob Grimm 1832, Dahlmann und Albrecht 1837 gegen „französischen“ oder „gemeinen“ Liberalismus und Savigny gegen „gewöhnlichen sog. Liberalismus“,101 konkreter in doppelter Front gegen die „Schäden, die der atomisierende Eifer der Staatsallmacht und der ebenso zersetzende des falschen Li‐ beralismus … über Deutschland gebracht“ habe.102 Liberalismus war also noch ganz „Spaltung“ (etwa Siemann, Faber) überwiegt und erzählt unmerklich eine kritische Liberalis‐ musgeschichte über einen Verlierer. „Desintegration“ betont etwas neutraler strukturelle Fak‐ toren (Wehler 1995, S. 868 ff. für nach 1877). „Differenzierung“ (Sheehan ) wäre noch neutra‐ ler. Die Verortungen Gierkes werten diesen dann parallel. 100 Mit Faber 1979, S. 65, 172 f., 179, lässt sich von politischer (Ab-)Spaltung schon nach 1830 (Julirevolution, mehr demokratisch) und wiederum nach 1840 (Rheinkrise, mehr national) sprechen, mit Stolleis II 1992, S. 157, 159 auch schon seit 1819. Das betrifft aber Gierke noch kaum. 101 Nach den reichen Belegen bei Siemann 1976a, S. 279 f. mit 477, und 92 mit 397. 102 Beseler zitiert bei Siemann 1976a, S. 280, auch Kern 1982, S. 96, Kühne 1985, mit Zitaten S. 172 mit 166 Fn. 56, und 166 mit Fn. 70, gemeint sind der französische und der vernunft‐ rechtliche Liberalismus eines Rotteck, und S. 172: erneut Ende 1849 im prß. Abgeordneten‐ haus. 99

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für französische, einstmals revolutionäre Verfassungsvorstellungen besetzt, seine Koryphäe war Karl von Rotteck. All dies war sofort mit und nach Kant umfassend ausgearbeitet worden in der Rechtstheorie und politischen Theorie.103 Klassische Form fand es in dem verbreiteten kantisch-liberalen „Lehrbuch der philosophischen Rechtswissenschaft oder des Naturrechts“ von Karl Heinrich von Gros, 6. und letzte Auflage 1841.104 Wandel der Kontexte, Wandel der Grundsatzpositionen? Die Erbschaften in Sa‐ chen Freiheit, denen sich Gierke gegenüber sah, sind damit einigermaßen vorge‐ stellt. Gierke, geboren 1841 rund vier Generationen nach Kant 1724, war Erbe dieser gedanklichen und politischen Arbeit und musste sich darin verorten. Seine Orientierung begann in den 1850er Jahren nach der ersten Spaltung des Liberalismus und hatte die späteren Spaltungen jeweils zu verarbeiten. Man kann davon ausgehen, dass er weder den konsequenten, demokratischem Liberalismus zu seiner Überzeu‐ gung machte, noch einen umgekehrt extremen, reformunwilligen, streng ständischen Konservativismus. Mit der Feststellung einer Mittelposition ist freilich wenig ge‐ wonnen. Denn die politische Trennung zwischen aufklärerisch Liberalen im Sinne Rottecks und Späterer und gemäßigten Liberalen im Sinne Welckers, Dahlmanns, Beselers und Späterer ging immer wieder genau durch die politische Mitte selbst. Deswegen sind „gemäßigt Liberale“, wie sich auch Gierke spät einmal nennt105 und Reformkonservative schwer zu unterscheiden. Es kommt hinzu, dass sich der Ort und die Redeweise der politischen Mitte während Gierkes Lebenszeit mehrfach deutlich verschoben, je nachdem, welche Kräfte links und rechts von ihr an Stärke gewannen und es dann mehr um Opposition oder Mitgestaltung ging. Der Kontext ist also ebenso komplex wie wichtig. So schob die Stärkung der Linken durch die seit 1890 stetig stärker werdende Sozialdemokratie die Mitte gewissermaßen nach rechts, näher an die Regierung. Ähnlich wirkten die stete Kräftigung des religiös-so‐ zialen katholischen Zentrums und der Gewerkschaften. Die SPD hatte seit 1890 immer den höchsten Stimmenanteil bei den Reichstagswahlen, die Gewerkschaften verdoppelten sich 1899-1904 und erneut bis 1910 auf zwei Millionen.106 Exempel für die Verschiebung ist die nationalliberale Partei, ihr Mandatanteil halbierte sich 1890 und stabilisierte sich erst 1913 bei nur noch 13% der Stimmen.107 Prägnant wurde geschrieben, der prinzipielle Kurswechsel seit Februar 1878 zu einer neu‐ en „konservativ-katholischen Allianz … markierte die größte innere Umwälzung 103 Es gibt dazu soweit ich sehe keine monographische Übersicht, vgl. immerhin für die philo‐ sophische Seite Rückert 1991: Kant Rezeption, und für die mehr juristisch-politische Seite Rückert 2016: Liberalismus. 104 Zu Aufstieg, Niedergang und Ablösung des Kantianismus näher Rückert 1991. 105 Gierke 1918a, Sp. 10. 106 Siehe Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch 1975, S. 173-175 zu den Wahlen und Parteien: füh‐ rend nach Stimmanteilen 1871-77 und 1887 die NL, schon 1884 aber das Zentrum, 1890-1912 die SPD, 1912 auch nach Mandaten; s. 135 f. zu den Gewerkschaften. 107 Prägnant dazu Wehler 1995, S. 866-873.

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neudeutscher Reichsgeschichte“.108 Umgekehrt hatte zuvor die politische Repressi‐ onszeit bis zur neuen Ära in Preußen 1858 die Mitte gewissermaßen nach links geschoben. Die Generationskohorte Gierkes sah sich gezwungen, sich in der Mitte ihrer Leben neu zu orientieren, und das hieß auch, das liberale und das soziale Element neu zu justieren. Es ist also relativ sinnlos, Gierke schlicht als konservativ oder liberal einzustufen. Man muss in der Mitte selbst unterscheiden und zwar liberale Reformer und konservative Reformer. Dafür kommt es darauf an, für welche Zeit und anhand welcher konkreten Stellungnahmen das geklärt werden soll. Daraus erst lässt sich ein verlässliches Bild gewinnen. Zwei ungleiche Helfer. Soweit es um die Sozialpolitik und insbesondere ihren zeitgenössischen Kern in den Arbeits- und Arbeiterverhältnissen geht, kommt ein fast nie bedachtes, aber wesentliches analytisches Problem hinzu. Solange nämlich, aus heutiger Sicht „nur“, über existenzielle Maßnahmen diskutiert wird, lassen sich die freiheitlich-soziale und die heteronom-soziale Position kaum unterscheiden. Es gibt zwei ungleiche Helfer, aus zwei ganz verschiedenen Positionen heraus. Wenn und soweit die freiheitliche Position wie gezeigt grundlegende soziale Voraussetzun‐ gen der Freiheitsentfaltung durch emanzipierende Hilfe gewährleisten will, sind alle existenziellen Hilfen umfasst. Sie gehören zum Freiheitskonzept selbst, ob sie nun öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich konkretisiert werden. Existenziell waren nun damals fast alle seinerzeit diskutierten Hilfen. Also zum Beispiel der gesamte frühe Arbeiterschutz für Leben, Körper und Arbeitszeit (seit 1869), aber etwa nicht Freizeit- und Urlaubsrechte; weiter der Versicherungsschutz für Unfälle an Leben und Körper (seit 1871, 1881), auch für ein Existenzminimum trotz Krankheit, Inva‐ lidität und Alter (seit 1881), auch für ersten Verbraucherschutz im ausbeuterischen Abzahlungsrecht (1894); aber noch nicht die gemeinsame Hilfe gegen Arbeitslosig‐ keit, die 1926 nicht zuletzt aus den erstmals so existenziellen Erfahrungen damit erwuchs; außerdem die Selbsthilfe durch staatsfreie Genossenschaften und die freie Vereinigung in Gewerkschaften bis hin zum erlaubten Vertragsbruch ohne Schadens‐ ersatz durch Streik als einzigem effektiven Mittel (seit 1869), wenn auch in den Grenzlinien hart umkämpft,109 daneben nicht selten auch die Fabrikaufsicht und die Gewerbegerichte. In diesem Sinne konnten sich die beiden Grundsatzpositionen über existentielle Sozialpostulate völlig einig sein. Wenn Gierke 1868 eindrucksvoll „sozial“-empathisch beklagt, die Arbeit sei „rechtlos“ – was rechtlich gerade nicht zutraf110, konnte das ein freiheitlich-liberales Hilfspostulat sein, das konsequent auf Arbeiterrechte, unbehinderte Gewerkschaften und gerichtliche Möglichkeiten wie dann 1890 die Gewerbegerichte zielte, aber es konnte auch ein patriarchalisch-kon‐ 108 Wehler 1995, S. 871. 109 Nicht nur rechtshistorisch grundlegend dazu R. Schröder 1988; viel zu einseitig verallgemei‐ nernd U. Wilhelm 2010, nur vom repressiven Strafrecht her. 110 Gierke 1868, S. 1037; siehe jetzt die gründlichen Pionierarbeiten von Pierson 2016 zum Ge‐ sinderecht und Keiser 2013 zum Arbeitsrecht überhaupt.

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servatives Postulat sein, das mit kleinen Reformschritten mitging. Ob dies oder je‐ nes, lässt sich nur anhand konkreterer Anhaltspunkte für die Ausgestaltung entschei‐ den. Ein sehr fruchtbares generelles Indiz kann dabei sein, ob das Postulat mehr von einer grundsätzlichen Reformbereitschaft in Richtung gleicher Freiheit gegen be‐ wahrende Gegenkräfte in Gesellschaft, Kirche und Staat getragen ist, oder ob die Reformbereitschaft einem aktuellen Druck auf eine an sich bewahrende Grundhal‐ tung entspringt und dieser gewissermaßen abgerungen wird.

IV. Und Gierke? Konkrete Stellungnahmen Gierkes muss man aus relativ verstreuten Äußerungen und sehr verschiedenen Zeiten zusammensuchen.111 Seine oft recht abstrakten, temperamentvoll pathetischen Äußerungen genügen dafür nicht. Das treibt jede Untersuchung in die Untiefen seiner 10.000 Seiten hinein. Ich habe mich jedenfalls bemüht, für durchgehende Probleme auch möglichst durchgehende Belege zu geben. Wenigstens auf den ersten Blick erscheint es daher gangbarer, irgendwie aus Gierkes „Gesamthaltung“ eine Aussage zu Freiheit, Liberalismus und Konservati‐ vismus zu gewinnen. Lässt sich eine solche Gesamthaltung zum Thema finden? Es dürfte unstreitig sein, dass Gierke der Freiheit des einzelnen Menschen und Individuums keinen Vorrang einräumte vor den Belangen einer Gruppe als Ganze, der Familie, dem Dorf, der Stadt, dem Staat. Er vertritt aber auch keinen Nachrang, sondern immer ein Zugleich, zugleich als Person und Glied, in Ausgleich, Gleichge‐ wicht, Versöhnung, kurz: Harmonie. Individualistisch - nein! Überaus entschieden nimmt Gierke Stellung gegen je‐ den, sog. abstrakten Individualismus und Liberalismus und die damit verbundene Freiheitsvorstellung vom Individuum als gesellschaftlichem Anfang und Endzweck. Von seinen ersten bis in seine letzten Texte zieht sich eine lange Reihe recht heftiger, ja bisweilen aggressiver Ablehnung. Seine großen Zeitungsartikel nach 1914 bieten dazu viel Zusammenfassung und Verdichtung,112 aber auch schon seine ausführlich kritische Darstellung des Naturrechts von 1913113: keine „Priorität des Individuums vor dem Verbande“, alles gegen „streng individualistisch“, keine „indi‐ vidualistische Auffassung aller Gemeinschaftszwecke“, die „gesamte individualisti‐

111 Die Pionierarbeit von Spindler 1982 ist diesen Weg gegangen, sie interessiert sich vornehm‐ lich für Kontinuität oder Bruch in Gierkes politisch-ideologischer Position und begründet eine starke Verschiebung von demokratischen Idealen (S. 80) zu kapitalistisch-konservativer Anpassung (S. 86); ähnlich verfolgt Janssen 1974 Gierkes philosophisch-erkenntnistheoreti‐ sche Position. 112 Sie werden sonst vernachlässigt. Ich zitiere sie nach den leicht zählbaren Spalten, nicht nach den unübersichtlichen Zeitungsseiten. 113 1913, S. 276-541.

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sche Gesellschaftslehre des Naturrechts“ sei zu überwinden,“114 beim Staatsbegriff wie bei der Theorie der engeren Verbände, der allgemeinen Verbandstheorie, dem natürlichen Staatsrecht und der Politik und der Korporationstheorie – so die Haupt‐ abschnitte seiner großen Darstellung. „Streng individualistisch“115 sei ein „lügenhaftes Schema“,116 weil bloß ab‐ strakt,117 absolut118, gleich (gleichmacherisch)119, mechanisch,120 atomistisch,121 zer‐ setzend,122 selbstsüchtig,123 mammonistisch,124 ökonomisch kapitalistisch,125 allge‐ mein materialistisch.126 Alle diese Stichworte sind zeitgenössisch weitverbreitete konservative Rhetorik. Die Beispiele bei den Belegen zeigen diese Terminologie bis hinein in konkrete Rechtsfragen zum BGB. Die zentrale, freiheitliche Rechtsfigur des Vertrages anerkennt er z.B. gerade nicht als rechtserzeugend.127 Reformkonservativ oder reformliberal? Ob Gierke nun zu den gemäßigten oder historisch-organischen Liberalen zu stellen ist oder zu den Reformkonservativen, blieb umstritten. Ein genauer Gruppenvergleich würde hier zu weit führen.128 Sein Ort muss sich an dem bereits erwähnten Kriterium seiner Begründungen für Reform erweisen. Allein aus seiner unstreitig humanen und sozialen Zuwendung zu den „be‐ sitzlosen Klassen“, wie er sie schon 1868 in Genossenschaftsrecht I und 1869 in der

114 1913, S. 379, 385, 405, 483; ganz ähnlich 1883 durchweg; 1874a, S. 26 im Staat nicht abge‐ schlossene Individualexistenzen, sondern Glieder einer Gesamtexistenz, 27 Gemeinwesen das oberste Subjekt. 115 Gegen individualistisch, ebda. und 1874a, S. 85, 89 ff.; ebenso mehrfach scharf 1889a, S. 190 bes. scharf zum Schuldrecht; 1889e, S. 9 f.; 1895, S. 25; auch 1896, S. 31 zum Familienrecht; 1896, S. 39 generell zum BGB; 1913, 379, 385, 401, 405, 483 und öfter zum Naturrecht; 1917, S. 839 zum Arbeitsrecht; 1920, Sp. 2 allgemein. 116 Lügenhaft 1889e, S. 31 zum streng individualistischen Vertragsrecht. 117 Abstrakt z.B. 1889e, S. 8; 1918a, S. 3. 118 Absolut z.B. 1868, S. 647 u.ö., 662. 119 Gleich(macherisch) z.B. 1869, S. 776; 1883, S. 29 nivellierte Masse freier und gleicher Indi‐ viduen; 1918a, Sp. 3 f., 1920, Sp. 2. 120 Mechanisch/Mechanisierung z.B. 1868, S. 651; 1873, S. 8; 1874a, S. 92; 1881, S. 546; 1889e, S. 9; 1896. S. 29; 1910b, S. 274 in Harvard; 1913, 332 zu Hobbes; 1918a, Sp.6; 1919c, Sp. 8, 13;1920, Sp. 2. 121 Atomistisch/atomisiert z.B. 1868, S. 646, 651, 883, 952, 1036, 1049; 1869, S. 776, 784, 785, 790, 810; 1873, S. 8; 1874, S. 92; 1877a, S. 17; 1881, S. 546; 1883, S. 29; 1889e, S. 21 f.; 1896, S. 22; 1913, 495; 1917b, S. 828; 1918a, Sp. 3f.; 1919c, 1. Übrigens eine schon seit He‐ gel und dem Vormärz durchgehend beliebte Kritik, s. nur Siemann 1976a, 266, 281, 390, 405. 122 Zersetzend z.B. 1868, S. 952 Auflösung; 1918a, Sp.10, 20; 1919b, S. 26, 1920, 2. 123 Selbstsüchtig z.B. 1868, S. 1035 egoistisch; 1889e, S. 23 rücksichtslos; 1918b, Sp.1. 124 Mammonistisch z.B. 1919c, Sp.12. 125 Kapitalistisch z.B. 1868, S. 1035; 1869, S. 786,789 f.; 1895, S. 25; 1896, S. 26, 39; 1919b, S. 26. 126 Materialistisch z.B. 1869, S. 788; 1874, 22, 92; 1883, S. 11 f.; 1896, S. 22; 1913, S. 332 zu Hobbes. 127 1895, S. 119. 128 Siehe die Gruppenbildung „Reformkonservative“ bei Puhle 1986, S. 275 f. und Ottmann 2008, S. 43 f. für V. A. Huber, R. Meyer, H. Wagener, A. Wagner und Robertus, freilich alle etwas älter als Gierke.

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brillanten Fassung im Staatswörterbuch nennt,129 folgt noch nichts, da wie gezeigt, für die konkreten existenziell-humanitären Forderungen man sich auf beiden Seiten lange einig ist. Im Sinne welcher Vision hat sich also Gierke engagiert? Eine Ant‐ wort liegt bereits in seiner Polemik gegen den individualistischen Liberalismus und dessen Freiheitslehre. Hier ging es bei jeder Reform um einen Schritt in die Vision von der allgemeinen gleichen Freiheit. Bei Gierke dagegen geht es vor allem um Be‐ wahrung, Ausgleich, Versöhnung, Harmonie.130 Seine Reformforderungen wirken besonders anfangs durchaus entschieden. Sie sind aber begrenzt auf die ökonomi‐ sche Sphäre und stemmen sich stets gegen politische Verallgemeinerung. Es geht ihm um ein „wirtschaftliches Bürgerrecht“, um ein „Bürgerrecht in der Volkswirt‐ schaft“.131 Noch 1918, kurz vor der Revolution, schlägt er unter dem Druck der poli‐ tischen Entwicklung ein (berufs-)ständisches begrenztes Wahlrecht vor und fiel da‐ mit also über das allgemeine Reichstagswahlrecht von 1871 (und schon 1869) zu‐ rück.132 Seine Forderungen zielen mehr auf die Handwerker und den unteren Mittel‐ stand als die Arbeiterschaft133. Das entsprach übrigens ganz der Gestaltung des Ge‐ nossenschaftsgesetzes von 1863-1868.134 Unter den einzelnen Punkten seiner BGBKritik, wie er sie 1889 besonders übersichtlich und knapp in seinem Wiener Vortrag in den Anmerkungen der Originalfassung zusammenstellt, befindet sich keiner, der gerade die Industrie- und Lohnarbeiterschaft berühren würde.135 In dem von ihm ge‐ feierten Fürsorgeparagrafen zu den „häuslichen Gemeinschaften“136, noch heute §§ 617-619 BGB, geht es im wesentlichen um die Hausgemeinschaften in Verbin‐ dung mit den Handwerksbetrieben. Gierke spricht auch immer patriarchalisch von Fürsorgepflicht, statt wie das BGB selbst von einem Anspruch auf Krankenfürsorge, Schutzmaßnahmen und Schadensersatz. Das sind kleine, aber fundamentale Unter‐

129 Gierke 1868, S. 1030, 1036, 1038; 1869, S. 787. 130 Z.B. Gierke 1868, S. 3, 14; 1873, S. 11, 129; 1895, S. 10 f., 1919c, Sp. 15; s. noch bei Fn. 147 ff. 131 So jedenfalls programmatisch 1869, S. 790 und 810; 1868, 1038: ökonomisches Bürgerrecht, 1048. 132 Siehe Gierke 1918a, mit umständlichen Absicherungen gegen links; und dazu Malowitz 2015, S. 69. 133 Vgl. 1869, S. 810; etwas offener für Arbeit und Besitzlose allgemein 1868, S. 1036 f.; 1919c, Sp. 11 f. zu sozial, d.h. gegen die „ sozialistische“ SPD, und gegen „einseitige Berücksichti‐ gung der Interessen der arbeitenden Klassen“, Sp. 4 umwirbt er als Parteiloser immerhin auch die „unorganisierten“ Angestellten und Arbeiter; ebenso 1920, Sp. 5 die „Arbeiter, die wieder zu nationalem Empfinden erwacht sind.“ 134 Dazu gut Schubert 1988. 135 Siehe dort Anm. 20: Zinsschutz, Konventionalstrafe, Anfechtung wegen Ungleichgewicht im Vertrag/laesio enormis, Fruchtverkauf, Pachtnachlass wegen Missbrauchs, Abstufung der Schadensersatzpflicht nach Verschulden, gesetzliches Pfandrecht des Vermieters und Ver‐ pächters, Mietwucher, Viehleihe, Abzahlungsgeschäfte, besitzloses Pfandrecht; Anm. 25: zu wenig Gefährdungshaftungen; Anm. 31: keine Hausgemeinschaft, Anm. 33: Gesellschaft nicht als Gesamthand; dazu schon deutlich Repgen 2001, S. 222, . 136 Gierke 1896, S. 46: wesentlicher Fortschritt in sozialem Geist.

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schiede in den normativen Sprachen.137 Jedenfalls passt dies alles zu reformkonser‐ vativ als Gierkes Ort. Frei, aber gebunden. Dieser Zuordnung widerspricht es nicht, dass Gierke mehr‐ fach mit Wärme für Freiheit eintritt, für „freie Individualität“ als „die größte Errun‐ genschaft der modernen Welt“138, gegen den „Sozialismus … und die Verschlingung durch die Masse“, für eine „unantastbare eigene Rechtssphäre“ der „Einzelpersön‐ lichkeit.139. Nach der Revolution 1918/19 findet er im germanischen Staatsgedanken einen „unantastbaren Freiheitsbereich“ des Individuums140 und erwärmt sich auch für verfassungsmäßige Grundrechte. Aber diese Freiheiten sind „nur“ zeitgemäß grundrechtlich und gerade nicht universal-vorstaatlich-menschenrechtlich gedacht. „Die Ausartung der Grundrechte in Menschenrechte“ verhütet zu haben, lobt er an Beseler.141 Die Grundrechte bestehen für ihn immer schon in den gegebenen Bin‐ dungen eines höheren Ganzen, insbesondere des Staates. Die Polemik bleibt: „Ihre extremen Auswüchse bieten nur pathologisches Interesse“ setzt er dem Satz über die Errungenschaft Freiheit hinzu. Und er fügt schon 1869 zustimmend an, „jede Organisation beschränkt den Individualismus“, niemand mehr setze auf „politischem Gebiet … das Wesen der Freiheit in die subjektive Willkür“.142 Die Freiheiten sind nicht parlamentarisch oder demokratisch abgesichert, nicht im Wahlrecht, nicht in parlamentarischer Staatsorganisation, nicht durch volle justizielle Kontrolle.143 Erst nach der Revolution bekennt er sich 1919 unter dem Stichwort „Rechtsstaat“ zu „unantastbaren Grundrechten der Individuen“, was wiederum nicht menschenrecht‐ lich vorstaatlich gemeint ist, zu Minderheitenschutz und einem Reichsverwaltungs‐ gericht als „oberstem Hüter der öffentlichen Rechte und Pflichten aller Reichsange‐ hörigen“, aber nicht deutlich zu einem richterlichen Prüfungsrecht und ohne Erwä‐ gung einer Verfassungsbeschwerde.144 Diese stärkere Grundrechtsbetonung war nun schon defensiv gegen links gerichtet. Überhaupt ist ihm die Weimarer Verfassung nur „eine immerhin erträgliche Reichstagsverfassung, die unsere höchsten nationa‐ len Güter aus der furchtbaren Katastrophe in eine bessere Zukunft hinüber zu retten ermöglicht.“145 Gemeinsame gleiche Freiheit hatte nach wie vor nicht Vorrang. 137 Einigermaßen grotesk ist es daher, wenn heutige BGB-Ausgaben in der nun amtlichen Über‐ schrift nur von Pflichten reden. 138 Gierke, 1869, S. 791; schon 1868, S. 1040; auch 1889e, S. 10. 139 1889e, S. 10 „Heilighaltung der unantastbaren Sphäre des Individuums“; 1919a, Sp. 14. 140 1919b, S. 11. 141 1921, S. 119. 142 Gierke 1869, S. 791. Um bloße Willkür ging es aber nicht. 143 Ein Prüfungsrecht am Maßstab der Verfassung gibt er nur eng, siehe 1895, S. 136-139, i.w. nur formell für Verfahren und Kompetenz. 144 Alles 1919b, S. 27 f.; er hatte aber in Harvard 1910b, S. 284 im Vergleich mit den USA be‐ tont, es sei ein fundamentaler Fehler des deutschen öffentlichen Rechts, dass kein Schutz für Verfassungsprinzipien durch ein unabhängiges Gericht bestehe, freilich ohne die Reichweite zu präzisieren, etwa hinsichtlich einer Verfassungsbeschwerde. 145 1920, Sp. 1 (23.10. 1920).

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Gierke fordert einen zum sozial-gemeinschaftlichen Element „gleichwertigen“ Indi‐ vidualismus und in diesem unbestimmten Sinne schon kurz vor der Revolution die klassischen „Eigenrechte des Individuums“, für Person, Eigentum und Erbe, Wissen‐ schaft, Kunst und Religion.146 „Gleichwertig“ öffnet aber die konkreten Ergebnisse fragwürdig, wie noch zeigen ist (u. VI). Gierkes Vision: harmonische Genossenschaft. Immer wieder benennt Gierke sei‐ ne Vision: glückliche Versöhnung wie in England, und für Deutschland durch die „genossenschaftsbildende Kraft“.147 Versöhnung, Ausgleich, Gleichgewicht, Harmo‐ nie schweben ihm schon 1868 vor148. Und auch gegenüber dem BGB 1889 geht es ihm am Ende um Freiheit und Sozialität in Harmonie, wie eingangs zitiert, um die Einheit von öffentlichem Recht und Privatrecht in einem harmonischen Sozialrecht, für Einheit und Freiheit usw. für die jeweiligen Gegensätze, die für ihn die geschichtliche Bewegung vorantreiben. In diesem optimistisch ausgleichenden Sinne verkündete er stets als rettende Devise ‚Genossenschaft überall‘, zumal in der Wirtschaft, als der „Wurzel“ der sozialen Frage.149 „Freie Association“ oder „Genossenschaft“ sei die „Kraft, welche gewaltig genug ist, solche Gefahren zu beschwören“ und die besitzlosen Klassen zu retten150. „Nur die freie Association schafft Gemeinheiten, in welchen die wirtschaftliche Freiheit fortbesteht. Denn nur die aus der Initiative und Gestaltgebung ihrer Glieder hervorgehenden Organismen erhöhen zugleich mit dem neubegründeten Gemeinleben das Individualleben der Glieder.“151 Das gilt generell: „Auf wirtschaftlichem Gebiet so wenig wie auf einem anderen läßt sich die Selbstständigkeit als Geschenk verleihen.“ Den „germani‐ schen Nationen“ sieht er von der Geschichte „die Gestaltung freier Genossenschaf‐ ten“ zugefallen.152 Auf dem „schöpferischen“ und „unerschöpflichen germanischen Associationsgeist“153, dem „deutschen Assoziationsgeist“ ruhen, wie schon 1849 und 1843 für seinen Mentor Beseler,154 alle seine Hoffnungen. Das gilt für ihn überhistorisch, philosophisch: „Was der Mensch ist, verdankt er der Vereinigung von Mensch und Mensch. Die Möglichkeit, Associationen hervorzubringen … gab uns die Möglichkeit der Entwicklung der Geschichte“ – so der grandiose Auftakt im ersten Satz seiner Genossenschaftsgeschichte.155 Diese volltönenden Sätze der 146 Alles 1919a, Sp. 14. 147 Deutlich 1869, S. 784 f.; s. auch oben Fn. 130. 148 1868, S. 3, 4; 1873, S. 11 Versöhnung generell, 129 letztes Ziel Versöhnung von Gesetz und Freiheit; 1916/17, S. 260; 1919c, Sp. 14. 149 Gierke 1869, S. 788, 810; ganz ähnlich 1868, S. 1036 zum „kapitalistischen Großbetrieb“. 150 1868, S. 1038. 151 1868, S. 1040; Hervorhebung im Original. 152 1868, S. 1039 und ebenso eingangs 3. 153 1868, S. 3, 4 schöpferisch. 154 Beseler 1849 in seiner großen Frankfurter Rede gegen ein Recht auf Arbeit, aber sehr für Ver‐ einigungsfreiheit und Assoziation; bes. dazu näher mit Zitat und Belegen Rückert 2019, S. 517; Beseler 1843 in: Volksrecht und Juristenrecht, S. 176. 155 1868, S. 1.

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Einleitung hat der junge Gierke erst der Druckfassung seiner Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft 1868 hinzugefügt. „Entgegen seiner ursprünglichen Absicht“ und anders „als im ersten Plan“ sei der Band nun „ein für sich bestehendes geschlossenes Ganze geworden.“ Denn er enthalte (nun) das „ausgeführtere Bild von der Gegenwart“, das „unbedingt forderte, dass die moderne Assoziationsbewegung in allen ihren Verzweigungen als eine lebendige Woge in dem ununterbrochenen Strome geschichtlichen Werdens zu voller Anschauung komme“.156 – „unbedingt“. Damit hatte er sehr engagiert und bewusst den geschichtlichen Kreis mit einem Gegenwartsbild geschlossen,157 das heute wegen der scharfen Sätze zur Lage der besitzlosen, arbeitenden Klassen noch besonderes Interesse findet.158 Das klingt wie eine große Freiheitsepistel. Aber Genossenschaft war immer schon höhere Ganzheit, Organismus, Zusammengehen als Personen, nicht bloßer Vertrag, immer schon Bin‐ dung der bloß individuellen Freiheit, mit zugeteilten internen Rechten, mit Gliedstel‐ lung je nach Ausgestaltung, eben „zugleich einig und frei“159. Grundsätzlich und philosophisch ist ihm die Stellung der Menschen als Individuum und Glied zugleich eine „Doppeleigenschaft“, eine „natürlich gegebene Thatsache“, das „Wesen des Menschen“ und ein „begriffliches Merkmal“ des Menschen. Der Mensch könne kein Selbstbewusstsein haben, „ohne sich gleichzeitig als Besonderheit und als Theil einer Allgemeinheit zu wissen.“ „Die Aufgabe der Menschheit“ bestehe daher in der „Herstellung der Harmonie zwischen den einander ergänzenden Faktoren des Besonderen und des Allgemeinen.“160 – freundlich und sympathisch harmonisiert er in beschreibendem Stil. Unbestimmt bleibt, wieviel von jedem Element jeweils gelten soll. Das ist die normative Achilles-Ferse. Versöhnung und Harmonie sind das höhere Ideal. Am Ende preist er in großem Plädoyer von allem etwas: National über alle Parteiziele hinweg, Christlich-Germanisch wie seit mehr als 1000 Jahren, Geschichtlich für Reform gegen Revolution, Sozial „weil wir auch in den Fragen des Wirtschaftslebens geschichtlich-organisch denken“, freiheitlich gegen die Verschlin‐ gung durch die Masse. 161 Das war 1919 keineswegs nur Parteiwerbung, sondern ent‐ sprach ganz seinem konstanten Wertgerüst organisch-frei und organisch-gebunden in unbestimmtem Zugleich. Am Ende nur noch national? Verschoben und getrübt wird das Bild durch seinen uns aus schlechten Erfahrungen verdächtig gewordenen, intensiven und nicht selten aggressiven Nationalismus. Gierkes Kampf gegen das BGB wurde damit zu einem 156 1868, S. VIII. 157 Alles 1868, S. VII. Das Gesamtbild betont er noch deutlicher in der Lexikonfassung 1869. Er stützt sich dabei erheblich auf die mehr empirischen Analysen von V.A. Huber 1869 in dessen Artikel Arbeitende Klassen im gleichen Lexikon. 158 Heute denkt man dabei an Marx’ (Kapital I 1867), wie Spindler 1982, S. 55, damals eher an V.A. Huber 1869 u.ö., s. Gierkes Hinweis 1868, S. 1038, Fn. 1. 159 1868, S. 3. 1919c, Sp. 1 ff. enthält ein Plädoyer für alles zugleich. 160 Alles 1874, S. 93. 161 Alles in eigenen Absätzen in 1919c.

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äußerst heftigen nationalen Kampf um deutsche gegen römische Prinzipien, hinter dem sogar das soziale Anliegen rhetorisch zurücktrat. „Deutsches Recht ist soziales Recht“ schleuderte er 1896 dem Reichstag entgegen, eine scharf antiliberale, an sich erstaunliche Gleichsetzung gegenüber der längst laufenden, beachtlichen Sozialpoli‐ tik des Reichstages, die die Nationalliberalen meist mitgetragen hatten. Und er er‐ weitert den Kampf wieder sofort, wie er es unbeirrt seit 1868 getan hatte: „Weil der erste Entwurf römisch war, darum war er zugleich individualistisch und kapitalis‐ tisch. Deutsches Recht ist Gemeinschaftsrecht.“ Er setzt nun sogar alles auf die na‐ tionale Karte und droht geradezu im letzten Absatz: „Bald werden mit der Einbrin‐ gung der endgültigen Vorlage beim Reichstage die Wogen der nationalen Erregung wiederum hoch gehen. Möge der Geist ernster Besonnenheit siegen!“ – gemeint war wohl eine nationale Besonnenheit. In dieser Weise überlagerten bei Gierke die im‐ mer nationaleren und im Krieg noch angeheizten Töne das freiheitliche Element in seinen Texten. Es verschwindet aber nicht ganz. Die Überlagerung ist vor allem eine Reaktion auf den kriegerischen Kontext, die nicht als pars pro toto genommen wer‐ den sollte. Die Gierkesche Mittelposition blieb, sie reagierte auf den neuen Kontext stark rechts, aber sie verleugnete den alten Rahmen nicht, wie besonders seine letz‐ ten Beiträge 1918 und 1919 zu Politik und Verfassung zeigen. Auch nach 1914 blieb die andere, die organologische Seite seines Wertgerüsts bestehen. Das kann hier aber dahinstehen, denn dazu bestehen kaum Verständnisprobleme. Organologie war ein‐ fach das prinzipielle Gegenmodell zu individueller Vereinzelung, zur Trennung von Rechten und Pflichten, zum privatrechtlichen Vertragsmodell usw., kurz: für alle im‐ mer schon ontologisch-natürlich verbundenen Elemente seines organischen Modells.

V. Der „soziale“ Gierke Was meint „sozial“ eigentlich? Nicht ganz so verworren und vernebelt wie bei „freiheitlich“ und „liberal“ zeigt sich die Lage in Sachen „sozial“. Ähnlich wie frei‐ heitlich und liberal war „sozial““ nicht nur ein juristisches oder politisches, sondern auch ein Stichwort für Ökonomen, Philosophen und Theologen. Welche Orientierun‐ gen boten sich hier für Gierke? Noch auffallender ist hier die Neigung groß, heu‐ tigen Sprachgebrauch einzumischen. Jedenfalls meint „sozial“ im 19. Jahrhundert keineswegs sofort eine sozioökonomische Benachteiligungsproblematik. Lange hieß „social“ einfach „gesellschaftlich“ oder „gesellig“. Zum, oder besser gegen das BGB verwendet es Gierke ohne weiteres normativ. In seinem eingangs aufgenommenen Vortrag von 1889 kommt das Wort 28 mal auf gut 30 bzw. gut 40 Seiten162 vor. „Sozial“ nennt man Gierke gerne, meist aber nur dank der großen Bekanntheit seiner 162 Der Vortrag hat 32 Seiten in der meist benutzten Fassung von Wolf und 46 Seiten in Gierkes Originaldruck.

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BGB Kritik unter diesem freilich meist missverstandenen Stichwort. Das alles ist auch gar nicht zu bestreiten, die Frage ist nur, in welchem Sinne Gierke „sozial“ ge‐ nannt werden kann. „Sozial“ ist jedenfalls damals ein vieldeutiges Ergänzungswort, zu christlich-, zu freiheitlich-, zu konservativ-, zu staatlich-, usw. Für sich allein sagt es noch nicht viel bzw. zu pauschal viel. Andererseits dramatisiert Stammler, der 1896 schrieb, „überall gibt es in unserer Zeit kaum ein zweites Wort, das so unzählige Male wiederkehrt, so unendlich oft hin- und herfliegt, als das ‚sozial‘“.163 „social““ damals? Eine kurze Umschau ergibt: Wenig relevant scheinen für Gierke Stammlers rechtsphilosophisch verengte164 drei Bedeutungen von „sozial“, nämlich als äußerlich geregelt, d.h. überhaupt rechtlich, als gesetzmäßig äußerlich geregelt, d.h. nach der letzten Gesetzmäßigkeit des gesellschaftlichen Daseins der Menschen, und schließlich als planmäßige, eingreifende Regelung. Das hängt zu‐ sammen mit Stammlers neukantianischer Prägung, die Gierke ohnehin nicht teilt. Ein Blick in die Belegflut zum „Eindringen des Wortes sozial in die deutsche Spra‐ che“ bei Geck 1963 macht zunächst ratlos. Immerhin unterscheidet er am Ende nur fünf Verwendungen, eine allgemeinste Bedeutung als Zusammensein/gesellig sein und ähnlich; spezieller dann vier Bedeutungen, nämlich zunächst als mehrere betref‐ fend (kollektiv); dann zwischenmenschlich (soziale Beziehung); dann die persönli‐ che oder materielle Lage betreffend; und schließlich die Gesellschaft liebend/Rück‐ sicht nehmend/dies zuweilen normativ und ethisch gemeint. Alle diese Bedeutungen findet man wieder in der Bestandsaufnahme im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ 1995 und selbständiger 1984 in den „Geschichtliche Grundbegriffe“ durch W. Schieder. Dieser arbeitet besonders die Unterscheidung sozial-sozialistisch heraus. Anders als bei freiheitlich und liberal ordnen diese Angebote den Befund für sozial nur wenig. Vor allem der damals normale Bezug zu Gemeinschaft wird meist nur gestreift statt wie ersichtlich nötig betont. Erst bei konkreterem und mehr norma‐ tivem Zugriff wird fruchtbarer zwischen „sozial“ als Richtung auf Gemeinschaft, auf Schutz oder auf Freiheitsermöglichung unterschieden165 oder schon wie bei Planck 1889 nach schlicht „dem Volksleben entsprechend“ oder, wie meist, bestimmten Interessenrichtungen dienend.166 Genauere Klärung tut auch hier not. Vergleiche? Sehr reizvoll wären nun genauere Vergleiche mit den parallelen Beiträgen von Julius Baron Ende 1889 über „Das römische Vermögensrecht und die soziale Aufgabe“, von Planck 1889 „Zur Kritik des ersten Entwurfes“ (i.w. zu 163 Stammler 1896, S. 118. 164 Stammler 1896 in seinem Hauptwerk „Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Ge‐ schichtsauffassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung“, hier S. 120-122. Er beklagt die immer größere Masse der Literatur, den Charakter als bloßes Flickwort und leere Formeln wie bei „sozialer Gesichtspunkt“ (118 f.). Max Webers bekannte Kritik bezieht sich auf Stammlers Methode, nicht auf die Frage sozial. 165 Repgen 2000, S. 423; ausf. ders. 2001, S. 490-509 mit wertvollen juristischen Konkretisierun‐ gen. 166 Planck 1889, S. 407 f.

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Gierke), 1899 über „Die soziale Tendenz des Bürgerlichen Gesetzbuchs“ und 1909 über „Das bürgerliche Recht und die arbeitenden Klassen“, von Ehrlich 1892 über „Die soziale Frage im Privatrecht“ und von Sohm 1898 über „Die sozialen Aufga‐ ben des modernen Staates“. Sie wurden alle vier lange kaum wiedergelesen – im Zeichen der wertenden Vorlieben, die die Historie auf das gegenwärtig Bevorzugte zuschneiden.167 Dieses Interesse steht hier nicht im Vordergrund. Als konzentrierter Weg lohnt sich der umgekehrte Blick direkt von Gierke her. Wie füllt er eigentlich 1889 das Wort „social“ konkret in seinen so häufigen Verwendungen? Wie konnte er für das 16. Jahrhundert von „socialistischen Institutionen dieser Arbeitsgenossen‐ schaften [das hieß Zünfte], in denen der lebendige Gemeinsinn lebte“, sprechen?168 "Socialistisch“ wäre also einfach gemeinschaftlich, mit Gemeinsinn? Die Antwort gibt eine bewusst schlichte Zusammenstellung seiner Worte, wie sie Gierke in dem relativ kurzen Text von 1889 gewählt hat: Gierkes „sozial“. Sozial heißt für Gierke gesellschaftlich, in Gemeinschaft (6)169, aus Gemeinschaftsgeist sozial gestalten (9), sonst seien im „sozialistischen“ System die Menschen nur Glied, das Privatrecht staatlich verwaltet (9), dann ist sozial wie‐ der der Gedanke der Gemeinschaft (10), so Aufgabe des Privatrechts und sozialer Zug (12), das Recht soll sozial volkstümlich gefärbt sein (13), soziale Pflichten will er auch beim Eigentum (14), schrankenloses Recht widerspreche jedem sozialen Rechtsbegriff (15), das Grundeigentum habe eine große soziale Funktion, die Ver‐ knüpfung mit der Scholle und dem sozialen Beruf, die Stetigkeit des Grundbesitzes zu wahren (18); die adeligen Familienfideikommisse haben wichtige nationale und soziale Funktionen (19), allgemein heiße soziale Ziele verfolgen, die Rechte an fremder Sache nicht zurückzusetzen (20); soziale Aufgabe sei es, die Rechte der Pächter und Mieter zu stärken (21), Schranken seien zu errichten gegen soziales Chaos (22); sozialer Beruf sei es, gegen den Druck wirtschaftlicher Übermacht zu schützen (23), soziale Bedenken bestünden besonders bei dauernden Schuldver‐ hältnisse (24), die soziale Aufgabe werde ohne objektive Haftungen verkannt, die Haftung für eigene Leute sei ein Postulat sozialer Gerechtigkeit, das in sorgfältig erwogenen und abgemessenen Grenzen zu erfüllen sei (26), generell stehe römischindividualistisch gegen germanisch in sozialer Ordnung (27), im Familienrecht sei die soziale Aufgabe Erhaltung und Festigung der Grundeinheit des gesellschaftli‐ chen Körpers (27), im Erbrecht sei die gesetzliche Erbfolge seine so unvergleichlich wertvolle soziale Funktion (29); sozialpolitisch seien Unternehmen eine Form perso‐ 167 Historisch „gerechter“ und umfassend Repgen 2001 und ebenso Hofer, 2001, s. jeweils das Personenregister; bezeichnend etwa ein führender Germanist wie Mitteis 1950, Kap. 11, S. 41, und ebenso in den späteren Auflagen, mit seinem großem Gierkelob: „Die Lehre von den menschlichen Verbänden ist der wichtigste Teil der deutschen Rechtslehre“ und das hieß ihm, im Sinne Gierkes. 168 1869, S. 782. 169 Die Seitenzahlen aus Gierke 1889e in diesem und dem folgenden Absatz so im Text.

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nenrechtlicher Verbindung, nicht streng individualistisch zu denken (31), Stiftungen und Körperschaften seien soziale Willenseinheiten und Wesen höherer Ordnung (32), der soziale Wert der Assoziationen sei besonders hoch, die sog. Fiktionstheorie ein Gespenst (33), organisierte Gemeinschaften, kollektives und genossenschaftli‐ ches Gesamtvermögen dienten unmittelbar der sozialen Idee (34), Privatrecht werde sozial sein oder nicht sein (34), soziale Wirkungen des Privatrechts erfolgten freilich langsam (34). Gemeinschaft zuerst! Gierke trifft also zuerst allgemeine Aussagen, nennt dann einige Konkretisierungen zu bestimmten Rechtsfragen und färbt das mit einigen farblosen Wendungen. Seine zentralen, allgemeinen Aussagen benennen für „sozial“ Gemeinschaft, Gemeinschaftsgeist und Assoziation (6, 9, 10, 34, 33) sowie für das Erfordernis von Rechtspflichten („kein Recht ohne Pflicht“, 14), Rechtsschran‐ ken und Ordnung (14, 15, 22, 27). Schutz für ökonomisch Schwache wird nur einmal allgemein angesprochen (23); für Pächter und Mieter, Unternehmen, dauern‐ de Schuldverhältnisse und objektive Haftungen passt es nicht so allgemein (21, 31, 24, 25/26). Sie sind nicht alle ökonomisch schwach. Vor allem deutlich ist also die Richtung auf Gemeinschaft und gemeinschaftliche Aufgaben und damit eine gewisse Einbindung der Individuen. Man soll hier immer in einem Boot sitzen und im Verbund fahren. Das war noch kein „Sozialismus“ als politisches Programm und Weltanschauung.170 Sozialer Schutz gegen wirtschaftliche Übermacht und soziale Benachteiligung, wie wir sozial im Recht meist verstehen, kommt vor, aber sehr pauschal und nicht zentral. Denn sozial sein soll hier auch den kleinen und großen Grundbesitz, die Familie, die Geschlechtererbfolge, Stiftungen und Korperationen begünstigen, auch die sog. Heimstätten171 ‑ und damit wieder eine Reihe von Ge‐ meinschaften fördern. Auch Gierkes besondere Aufmerksamkeit für die wirtschaftli‐ chen Unternehmen als Herrschaftsverbände hängt damit zusammen. Es sind für ihn die in seiner Zeit wesentlichen wirtschaftlichen Gemeinschaften „angesichts der un‐ bestreitbaren Thatsache, daß heute die eigentlichen Träger der ökonomischen Bewe‐ gung nicht für sich stehende Einzelne, sondern wirtschaftliche Herrschaftsverbände sind“.172 Oder ganz lapidar generell: „Deutsches Recht ist Gemeinschaftsrecht.“ Es nimmt auch im Privatrecht das Individuum nicht aus dem gesellschaftlichen Zusam‐ menhang heraus, sondern „misst alle Rechte, die es dem Einzelnen zutheilt an ihrer Funktion im Leben des Ganzen.“ Rechte werden vom Ganzen her gemessen und zu‐ geteilt. Gemeinschaft, so lässt sich festhalten, ist die grundlegende Richtung.173 Man 170 Die ganz weite Fassung für Sozialismus von Dilcher 1975, S. 325 als „Alternative zu Libera‐ lismus, Individualismus und rechtlichem Begriffspositivismus“ ergibt natürlich andere Ab‐ grenzungen. 171 Gierke 1898. 172 Gierke, 1889a, S. 190; das Folgezitat aus Gierke 1896, S. 39. 173 Betont auch von Repgen 2001, S. 495: Kerngedanke der Kritik Otto Gierkes am ersten Ent‐ wurf; allg. treffend Würtenberger 1965.

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darf auch nicht verschweigen, wohin das führte: dass „alle Völker … willig oder unwillig begreifen, daß deutsche Kultur die echteste, wurzelstärkste, keimhaltigste Kultur und das unentbehrlichste Glied der Weltkultur ist.“174 Sozial – nationale Gemeinschaft! Das dominierende Interesse am Blühen der Gemeinschaft ist zugleich nationales Interesse. Auch Gierkes humane Zuwendung zu den besitzlosen Klassen ist weniger ein Interesse an deren letztlich individuel‐ ler Selbstständigkeit, als ein Interesse, gesellschaftliche Bedrohungen aufzufangen: Denn wären „nur die Einzelnen von diesen Gefahren bedroht, so träte an das Volk nur die Frage der sittlichen Pflicht gegen seine Glieder heran. In Wahrheit aber ist es die Volksexistenz selbst, deren Fundament untergraben wird … Das wäre aber entweder der Vorabend der oft prophezeiten sozialen Revolution oder der Anfang vom Ende im Leben des Volks.“175 Diese Bedrohung erfordert über das Sitt‐ liche hinaus rechtliche Maßnahmen. Diese dürfen aber nicht sozialistisch planvoll, eingreifend, das Privatrecht auflösend und zu Vermassung führend sein, sondern eben sozial, gemeinschaftsfördernd, je nach den Bedrohungen für die Gemeinschaft. Auch Gierkes noble Bereitschaft zu spenden, fügt sich in diesen Zusammenhang, wenn er etwa Anfang 1905 als Mitglied des Aktionskomitees die im Vergleich ansehnliche Summe von 40 Reichsmark zu einer gemeinsamen Spende des Evange‐ lisch-sozialen Kongresses beiträgt, um die „Not“ der umfassend streikenden Bergar‐ beiter „lindern zu helfen“. Die Begründung des damit verbundenen Aufrufs nennt das „nationale Unglück“ und die damit verbundene „Herausforderung nicht nur des Arbeiterstandes, sondern des gesamten deutschen Volkes“.176 Natürlich ging es auch um individuelle Not, schon als alte Honoratiorenaufgabe, aber zur Spende führt erst das nationale Unglück. Mit dem Sozialreform-Minister von Berlepsch forderte der Aufruf auch „Gleichberechtigung der Arbeiter“ in ihrem „Emanzipationskampf als Lohnarbeiter“,177 d.h. als Gruppe und Stand, und das war wieder eine Forderung, die Reformkonservative und Reformliberale teilen konnten. In der Tat versagt nicht nur hier die einfache Antithese liberal oder sozial.178 Der Gleichberechtigung halber tra‐ ten z.B. der liberale Planck,179 erst recht der bekanntlich besonders engagierte Lujo Brentano, ebenfalls für Koalitionsfreiheit ein; die wichtigen Differenzen liegen aber im Detail und Kontext. Gierkes Position war enger,180 für Strafdrohung gegen sog. 174 Gierke 1914 f., Sp. 170; ebenso 1918b, Sp. 1: Deutschtum höchstes Eigengut und Gut der Menschheit, 2: aus deutschem Wesen schöpft die Welt den Heiltrunk; 1920, Sp. 4: es soll „zum geistigen Führer der Menschheit in ihrer modernen Lebensepoche“ werden. 175 So 1868, S. 1038. 176 Quellensammlung 1982, S. 138 mit Spenderliste. Eine digitale Durchsicht ergab in der ganzen Sammlung zur Sozialpolitik von 1890-1904, die meist Regierung, Verwaltung und Gesetz enthält, so gut wie keine Wissenschaft, lediglich 3 Belege. 177 Ebda. 139. 178 Repgen 2001, 499. 179 Planck 1909, S. 26. 180 Vgl. Spindler 1982, S. 82 ff., 99 f.; eng Gierke 1890; scharf ablehnend rezensiert Gierke 1891 Th. Loewenfelds Kritik an den Strafen für Vertragsbruch und dessen „ rein individualistische“

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Vertragszwang, für Strafe gegen Vertragsbruch, also Streik, für Schadenshaftung bei Streikschäden, und kein Wort gegen das repressive Vereinsrecht. Noch nach der Revolution will er 1919 zwar „Fühlung mit der industriellen und ländlichen Arbeiterschaft“ suchen, Arbeiterschutz und Arbeiterversicherung ausbauen, auch mit Arbeiterausschüssen und Gewerkschaften, was alles seit längerem, 1890, geltendes Recht war. Aber es sollen „staatlich anerkannte Gewerkschaften“181 sein. Friedlich koalieren blieb seine leitende Vorstellung182. Entschiedene Sozialdemokraten und Gewerkschafter konnten sehr schnell scharf verurteilter „Staatsfeind“ werden, wie Kaiser Wilhelm II. persönlich sofort 1889 gegen die Bergarbeiter drohte und Bis‐ marck schon 1878 gegen die SPD.183 Bei Gierke kulminierte das im August 1914 wieder in dem Vorwurf, die SPD predige „den Klassenkampf und sucht die Fun‐ damente unseres Staates zu erschüttern“184 und noch 1919 in seinem Schlusssatz. „Das oberste Gebot der Stunde ist, die Verhinderung einer sozialdemokratischen Versammlungsmehrheit“185 in der Nationalversammlung. Daneben war Gierke auch ein „staatsfeindlicher Individualismus“ vorstellbar.186 Das war wieder seine durch‐ gehende doppelte Front. In dieser Linie steht auch seine normative Erhöhung der Gemeinschaften und Genossenschaften zu unwiderstehlichen realen Gesamtpersön‐ lichkeiten in Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Für „sozial“ und „sozialistisch“ bei Gierke ergibt sich damit primär ein Bezug auf Gemeinschaft und nicht auf das freiheitliche Ziel voller individueller und gleicher Teilhabe wie etwa bei Lassalle, Fröbel, Lotmar.187 Wenn man ihm öfter Pluralismus in einem modernen Sinne zuschreibt, wird zu wenig beachtet, dass es höchstens um einen Pluralismus der Gruppen und Gemeinschaften gehen kann.188

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privatrechtliche Auffassung des Arbeitsvertrags, die Strafen und öffentlich-rechtlichen Ein‐ schränkungen entgegensteht, „schlimme Einseitigkeit“; zum Kontext in Preußen nach 1860 aufschlussreich Volkmann 1968, S. 164 ff. Alles 1919c, Sp. 13. Vgl. Spindler 1982, S. 83. Wilhelm, s. Reden 1966, S. 44 f.: „Denn für mich ist jeder Sozialdemokrat gleichbedeutend mit Reichs- und Vaterlandsfeind“, 5. Mai 1889; am 23.11. 1891erneut so vor den Rekruten in Potsdam, 56; am 5.3. 1890 beim Festmahl des Brandenburgischen Provinziallandtages droht er ganz allgemein: „… welche sich mir bei dieser Arbeit entgegenstellen, zerschmettere Ich.“ (50); für Bismarck s. Schiera 1992, S. 179, auch mit Blick auf die Pariser Kommune 1871. Gierke 1914e , Sp. 2. Gierke 1919c, Sp. 15. 1869, S. 792. Dazu näher Rückert 1997: Legitimation. Siehe etwa Dilcher 1975, S. 538 pluralistischer Liberalismus; vgl. schon Mogi 1932, S. 9, 222 ff., prägnant 223: his aim is unity in plurality, not plurality in unity.

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VI. Das Verhältnis von frei und sozial, allgemein und juristisch Die Elemente Freiheit und Sozialität ließen sich zunächst je für sich fassen. Gierkes Freiheit ist gewissermaßen eine mittlere Freiheit als freies Glied in der Gemeinschaft und Gruppe. Sozialität verlangt sehr allgemein vor allem Gemeinschaftlichkeit, aber wiederum nur eine mittlere, ohne Gemeineigentum z.B.. Gierke will auf diese Weise beidem gerecht werden. Einheit über alles. Rhetorisch, rechtspolitisch, philosophisch ließ sich das leicht und effektvoll bewerkstelligen und war eine Devise der Zeit. Juristisch kam es aber auf die Frage an, wie dann das Verhältnis von Freiheit und Sozialität jeweils bestimmt werden sollte, eingangs als entscheidende Frage bezeichnet. Gierke hatte unmittelbar vor dem Eingangszitat vom sozialistischen Öl und naturrechtlichen Frei‐ heitstraum den Gegensatz von Individualismus und Sozialismus als unverlierbar betont und zugleich gefordert, man müsse „die Einheit über dem Gegensatz mit aller Kraft suchen und verwirklichen“, für ihn ein „großer germanischer Gedanke.“189 Germanisch oder nicht, jedenfalls will Gierke ein einheitliches Recht mit zwei gegenläufigen Bereichen. Allgemein reizvoll – juristisch Leerformel. Darin liegt aber ein schwerwiegendes juristisches Problem. Denn füllt man so das eine einheitliche Recht mit zwei gegen‐ läufigen Zwecken und das gar so prinzipiell wie Gierke, so wird für die juristische Koexistenz der Prinzipien in konkreten Regeln, nicht als bloßes Rezept im Sinne Bismarcks oder rituelle Salbung im Sinne Uhlands,190 entscheidend, wann der eine und wann der andere Zweck rechtlich greifen soll. Wann Hauch und wieviel, wann Tropfen und wieviel wird die Frage. Gierke lässt diesen Dualismus optimistisch stehen. Er delegiert damit die juristische Lösung, das Recht, das am Ende gilt, an die Justiz oder den Gesetzgeber oder die Politik oder irgendwie alle zusammen. Seine Lösung wirkt elegant und reizvoll und inhaltlich sympathisch. Wer wollte nicht Freiheit und Sozialität. Aber das juristisch klärende, übergreifende Prinzip opfert Gierke seinem Harmoniebedürfnis. Juristisch gibt das Steine statt Brot – die Lösung ist normativ gegenläufig. Das macht sie als Regel inkonsistent, konkret inhaltlich leer sowie technisch ungenügend, weil nicht hinreichend bestimmt. Heute würde sie wegen Unbestimmtheit als rechtsstaatlich unzureichend verworfen. Indem Gierke dann konsequent die Freiheit und die Sozialität mit sog. immanenten Schranken denkt,191 verlängert er das Problem in die Begriffe und deren Anwendung selbst. Seine Lösung enthält also eine prinzipienunklare Vermischung ohne übergreifendes Rechtskonzept. Darin liegt konsequent und rechtstheoretisch wesentlich eine grund‐

189 Gierke 1889, S. 10. 190 Siehe dazu oben bei Fn. 7. 191 Dazu gut Hofer 2001, S. 141 ff., 280 f.

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sätzliche Vermischung von Politik, Moral, Sitte, Ethik und Recht, die Gierke stets als höhere Devise gegenüber dem bloß positiven Recht festhält.192 Wer bleibt Akteur? Im realen Ergebnis vertröstet das die Rechtsuchenden von der Regel auf ihren Einzelfall und ihren Richter – und hier konnte sich Gierke einer jedenfalls nicht radikalen Tendenz sicher sein. Im Strafrecht war die Tendenz strenger repressiv,193 im Zivilrecht freundlicher freiheitlich.194 Wie man dann den Gesamtbeitrag der Justiz im Kaiserreich zu diesen Problemen einschätzen sollte, ist offensichtlich nicht leicht zu sagen. Wie soll man die strafrechtlichen und die zivilrechtlichen Bedingungen und Folgen in einer Gesamtbilanz verrechnen? Das war offenbar nicht Gierkes Problem. Aber sein Scheitern lag schon in seinem Plan einer Rechtsgeschichte und Dogmatik der deutschen Genossenschaft und ließ ihn 1913 unvollendet abbrechen – eine nicht zufällige Parallele zu Jherings Geist- und Zweck-Buch. Denn Dogmatik oder Theorie des geltenden Rechts war ja lange beider erklärtes Ziel gerade auch für die großen Geschichtswerke. Gierke scheint jedenfalls 1910 die Verbindung zerbrochen zu sein. Als er in einer großen Festre‐ de „Begriff und Aufgaben der staatswissenschaftlichen Fortbildung“ umreißt, als Mitglied dieser Vereinigung, sagt er, die Staatslehre habe frei von Hass und Liebe „die Tatsachen der Wirklichkeit festzustellen, ihren Zusammenhang zu begreifen und das Verhältnis von Ursache und Wirkung in den komplexen Erscheinungen aufzudecken“ – er bleibt ganz trocken empirisch. Das Sollensproblem ist ihm nun ein Problem „praktischer Wissenschaft“. Diese bringe an ihren Stoff Zielvorstellun‐ gen heran, übe Kritik und fälle Werturteile. Damit werde sie „über die Erkenntnis des Seienden hinaus zur Formulierung des Seinsollenden gedrängt“ und gehe in Klugheitslehre über.195 In diesen Sätzen leuchtet weder verbindende Organologie, noch werden Geschichte und Gegenwart, Sein und Sollen vermischt. Das führt auf einige Bemerkungen zu Gierkes Methode.

VII. Methodisches Rechtsgeschichte und Rechtsdogma. Es geht zunächst vor allem um das seit wenig‐ stens Savigny vieldiskutierte Problem des Verhältnisses von Geschichte und Dogma‐ tik, das auch Gierke beschäftigt. Einheit oder Getrenntheit? Vergangenes Recht nur als historischer Grund auch für Geltendes? Oder auch als maßgebend für die Gestalt des Geltenden? Sei es aus „innerer Notwendigkeit“ wie bei Savigny und meist 192 Siehe seine energische Ablehnung der Trennung im Naturrecht des Hobbes, Thomasius und Kant usw. in Gierke 1913, und die ausdrückliche Verbindung etwa in Gierke 1883 und 1917d, auch in 1913 jeweils als bessere Gegenpositionen. 193 Dazu ausführlich U. Wilhelm 2010. 194 Nicht nur dazu R. Schröder 1988 und 2000. 195 Gierke 1910c, Sp. 488f.

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in der historischen Schule? Oder aus der Annahme durchgehender volkstümlicher, nationaler oder sonstiger Substanzen im Geschichtsverlauf. Das soll hier natürlich nicht ausgebreitet werden.196 Ein zweiter Aspekt sind die methodischen Instrumente, die Denkformen, wie er sagt,197 die Gierke für seine Lösungen aufbietet. Die Gegenwart – einfach „letztes Glied“. Gierke ist jedenfalls überzeugt, „der gegenwärtige Rechtszustand“ könne „nur aus einer umfassenden historischen Dar‐ legung vollkommen begriffen und umgekehrt die Geschichte der deutschen Genos‐ senschaft nur, wenn die heutige Bewegung als ihr letztes uns bekanntes Glied betrachtet wird, annähernd verstanden werden.“198 Im geschichtlichen Teil erscheine „der gegenwärtige Zustand als letzte Phase einer großen historischen Entwicklung“, im dogmatischen Teil „die historische Entwicklung als Bildungsstätte der heute geltenden Rechtsbegriffe.“199 Das war vorsichtig formuliert, doch sollte also die Geschichte irgendwie das dogmatische Ende überzeitlich aufzeigen und irgendwie zugleich legitimieren. Deutlicher wurde er zum Beispiel 1917 zu Recht und Sittlich‐ keit: „Aus der in der Rechtsentwicklung sich entfaltenden immanenten Idee der Gerechtigkeit schöpfen wir das Werturteil über die geltenden Rechtsnormen.“200 Geschichte und Dogmatik, Sein und Sollen, waren unlöslich verknüpft, ohne wei‐ tere Erklärung und Begründung. Am Ende folgte alles dem „Volksbewußtsein“, dem „Rechtsbewusstsein des Volkes“, dem „Volksgeist“, der „sich offenbart“ in „geweihter Stunde“201 und der gerne angerufenen Substanz in der „deutschen Seele im deutschen Recht“.202 Für das Recht eines Volkes sei „in jeder neuen Lage das Gesamtrechtsbewusstsein des Volkes die entscheidende letzte Instanz.“203 1873 im 196 Siehe zuletzt die Artikel von Stolleis „Methode der Rechtsgeschichte“ im Hwb. zur dt. Rechtsgeschichte III 2016, Sp. 1475-1483, und Rückert, „Rechtsgeschichte“ sowie „Rechts‐ wissenschaft“, im Staatslexikon IV 2020, Sp. 1186-1196 und Sp. 1257-1271. 197 Z.B. 1873, S. 1, 7. 198 Gierke 1868, S. 3f.; in Bd. 2 1873 hält er das Anliegen Geschichte und geltendes Recht fest, verschiebt es aber vorläufig, Vorwort, S. V. 199 1868, S. 6. 200 Gierke 1917d., S. 246. 201 „Volksbewußtsein“/“Rechtsbewußtsein“ u.ä., s. sogleich und ganz allg. 1868 an zentralen Stellen wie 2 , 6 Bildungsgang, 222 , 652, 820, 1111; dann 1873, S. 1 einheitlich und kontinu‐ ierlich, 2 mit seinen Entwicklungsstufen sich adaequat wandelnd, 3 Urquell, 6, 7, 12 Bil‐ dungsgang, u.ö.; 1895, 160 Gewohnheitsrecht; aktuell z.B. 1909a, Sp. 17, 22; 1918b, Sp. 1; auch 1868, S. 4, 9, 865 u.ö.; dt. Geist 1873, S. 1-3, 6, 7, 9 usw.; für „Volksgeist“ 1868, S. 819; 914; 1873, S. 7, 9; 1895, S. 24; 1902, S. 22 „geweihte Stunde“; 1914f, Sp. 1 „erschien in sichtbarer Gestalt“; 1918b, Sp. 1 hat „sich sichtbar offenbart“, 7; ähnlich1920, Sp. 2; „Volks‐ seele“ 1895, S. 14. 202 Deutsche Seele: 1903, 27 mit H. Brunner 1869: mit Pandektenkur getötet, unerbittlich ebenso 1895, S. 92; Seele ist durchgehend zentral z.B. 1868, S. 641; 1873, S. 7, 9, 17, 23, 33 usw.; 1879, S. 17, 20; 1910b, S. 274 in Harvard; 1910c, S. 502; 1914e, Sp. 6; erst recht im Krieg 1914i., S. 166 von Zorn und Ekel gegen England erfasst; 1918b, Sp. 1, 5; 1920, Sp. 1, 5 stete Fühlungnahme mit der Volksseele notwendig; dann aber die andere Seite im Sprachspiel: Sp. 11 (Wieder) Eroberung der Volksseele“ zu erhoffen, sie war sich also entfremdet oder „entar‐ tet“ (vgl. 1918b, 7) durch Krieg und Revolution. 203 Gierke 1917d, S. 259.

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zweiten Band schiebt Gierke im Vorwort einen Absatz zum methodischen Problem der Geschichte eines Begriffes nach. Er hofft auf „Resultate von relativ hoher Ge‐ wißheit … für das Vorhandensein eigenthümlicher Begriffe und Anschauungsreihen in dem Rechtsbewußtsein eines bestimmten Volkes und einer bestimmten Zeit“. „Feststellen“ will er sie „auf rein objektiver Basis durch die Kombination dedukti‐ ver und induktiver Schlüsse.“204 In der Tat führte ihn diese Untersuchung „weit hinaus über den ihren Mittelpunkt bildenden einzelnen Rechtsbegriff“, d.h. den der deutschen Genossenschaft. Deduktion und Induktion. Wie Deduktion und Induktion zusammenkommen soll‐ ten, erklärt er nicht und auch nicht, wie daraus eine Klärung der normativen Begriffe der Gegenwart werden sollte. 1881 im dritten Band nimmt er die Methodenfrage nicht mehr auf. 1913 im vierten und letzten Band kam er nicht umhin, sich „zu meinem Schmerz zu sagen, daß ich endgültig die Hoffnung begraben muß, das Ziel zu erreichen.“205 Seit ca. 1893206 und schon 1889 hatte sich Gierke erst gegen und dann seit 1895 im großangelegten „Deutschen Privatrecht“ mit dem neuen BGB dem geltenden Privatrecht zugewandt, in dem für die Geschichte in der Sache fast nur noch eine erläuternde, keine „innerlich notwendige“ Rolle behauptet wurde. Zum Dienstvertrag, d.h. aus dessen „Wurzeln“, und zu den dauernden Schuldver‐ hältnissen versuchte er 1914 eine engere Verbindung von Geschichte und Gegen‐ wart. Immanenz schuf Kontinuität: „dem deutschrechtlichen Dienstvertrag blieb die Schaffung eines Treubandes zwischen ‚Herren‘ und ‚Diener‘ begrifflich immanent“, das gilt freilich als historisch misslungen, ist aber weniger ein Quellen-, als ein Methodenproblem.207 Die Deutung als Immanenz lässt sich empirisch-historisch gar nicht widerlegen. Der historische Reichtum, und das war Gierke trotz Reserven klar,208 ergab bei aller Belehrung noch keine dogmatische Geltung. Den Glauben daran verlor er jedoch nicht. Die kritischen Hegelianer hatten gegen Savignys ähnlich metaphysisches Geschichtsverständnis eingewendet, das Prinzip lasse sich nicht ergraben.209 Max Weber benannte am Beispiel von Gierkes Schrift über das „Wesen der Verbände“ von 1902 erkenntnistheoretische Hürden. Die Überhöhung der Verbände zu Gesamtwesen sei metaphysischen Charakters und erkenntnistheo‐ retisch unhaltbar.210 Man wird sagen können, dass die Überhöhung der deutschen Rechtsgeschichte zu einer Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft ebenfalls 204 Alles 1873, S. VIf. 205 1913, S. VII. 206 „Vor ungefähr zwei Jahrzehnten“ habe er die Arbeit am 4. Band des Genossenschaftsrechts abgebrochen, 1913, S. VIII. 207 Vgl. Gierke 1914 u. 1917, S. 590-600, hier 596; Ebel 1936 zum Arbeitsvertrag, näher und zum Kontext Rückert 2013, S. 967-970, zu § 611 BGB Rz. 231-235. 208 Dazu besonders seine Dilthey-Rezension 1884. 209 So im Sinne der linkshegelianischen Kritik A. Ruge 1845, S. 77 in Art. Historische Rechts‐ schule, in: Conversationslexikon der Gegenwart, Bd. 2, Leipzig. 210 Weber 1903, in seiner Fn. 90. Ich danke G. Dilcher für diesen Hinweis.

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metaphysischen Charakter hatte,211 so sehr darin, wiederum mit Weber, Gierkes analytisch-deduktive, antithetische Begriffe Herrschaft und Genossenschaft, Einheit und Freiheit usw. die „heuristisch … allerbedeutendsten Dienste“ geleistet haben. Aber daneben stellte er eine unkontrollierbare Immanenz, die immer schon in der Sache liegen sollte. „Triebe“ und „Kräfte“ als Motor dialektischer Bewegung. Gierke war jedenfalls weniger an empirischen, kausalistischen Verknüpfungen, deren Beschreibung und vergleichender Ermittlung, interessiert wie etwa Max Weber vor allem. Ihm war die Geschichte und pars pro toto die Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft ein „Kampf“ der Ideen und Prinzipien im Bewusstsein des jeweiligen Volkes, besonders der Römer und der Germanen und später der Romanen und Germanen einschließlich Englands und der USA. Das war nicht weiter ableitbar. „Kampf“ ist hier Struktur.212 Motor der historischen Bewegung sind „Triebe“ und „Kräfte“.213 Sie können auch „entarten“ oder „umschlagen“.214 Der Bewegungsrhythmus entsteht durch den Kampf der Prinzipien Herrschaft und Genossenschaft oder Einheit und Freiheit. Das wirkt dialektisch. Aber es handelt sich nicht um eine philosophische Dialektik der Begriffe wie bei Hegel215 und auch nicht um eine ökonomische der Produktivkräfte wie bei Marx. Gemeinsam sind nur die Darstellungsform und das Bewegungsprinzip. Beides unterscheidet Gierkes Darstellung bezeichnend von ge‐ netischen oder kausalistischen. Freilich nähert er sich genetischen Darstellungen mit seinen ausführlichen Begriffs- und Dogmengeschichten und besonders zu Althu‐ sius.216 Aber es ist für ihn organische Entwicklung, nicht bloß offener Verlauf. Uralte Konstanz in allem Wandel. Diese bewegenden Kräfte können kraft ihrer „inneren Substanz“217 und Immanenz konstant sein, „überdauernden Bestand ha‐ ben“, so „die Möglichkeit der Entwicklung der Geschichte“218 eröffnen und sogar „wiedergeboren“219 werden. Sie sind unhintergehbar, sie liegen immer schon vor 211 So außer Weber etwa Pitz 2006, 1214, 1222. 212 Z.B. Gierke 1868, S. 2 der Kampf dieser beiden großen Prinzipien [Einheit und Freiheit] be‐ stimmt eine der wichtigsten Bewegungen in der Geschichte, 8 Prinzipien, 638 herrschendes Prinzip, das aber umschlägt, 651f. Prinzipien, Kräfte, 672 Kampf. 213 Nicht die nur „momentanen“, 1877a, S. 17; sonst bes. 1868, S. 2 fast alle Geschichte ein Kampf, 3 Kräfte, 657 treibende Ideen, 638 gewaltige umbildende und neuschaffende Kraft, 671 gestaltende Kraft; 1873, S. 4: Gesetz der Wechselwirkung, die Erscheinungen sind stets zugleich Treibendes und Getriebenes; auch 1879, Kraft S. 17, 21, 27, Trieb S. 28; 1917d, S. 244 Urkraft. 214 Z. B. Gierke 1868, S. 637, 638, 641; 1877a, S. 5 „ungeheure Entartung“; 1895, S. 7 „Beson‐ derungstrieb“; 1918b, Sp. 7 innere Entartung. 215 Klärend immer noch Troeltsch 1922, S. 509f. keine eigentliche Dialektik; Dilcher 1975, S. 350 „Denkschema“, das G. „jedoch mit eigenen Inhalten füllt.“ 216 Zu Althusius ausdrücklich „genetisch“, siehe Vorwort der 1. Aufl. 1880, auch in Gierke 1902 und den Nachdrucken. 217 Z.B. 1873, S. 6; ähnlich 15 inneres Wesen. 218 Z.B. 1868, S. 1. 219 Z.B. 1868, S. 11.

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und ringen im Verlauf der Geschichte,220 mit verteilten Gewinnen und Verlusten oder auch einmal in tröstlich glücklicher Vereinigung, zum Beispiel im deutschen Städtewesen. „Wunderbar fast … war der Aufschwung des deutschen Städtewesens im 13. und 14. Jahrhundert“, dank der „stillwirkenden, rechtserzeugenden Kraft der deutschen Bürgerschaften“221 und in der Folge, dass in „den letzten 20 Jahren die uralte deutsche Assoziationskraft zu fast wunderbarem Leben erwachte“.222 Diese bewegenden Kräfte bleiben konstant, substantiell und prinzipiell. Ihre dialektische Bewegung betrachtet Gierke als ein unhintergehbares, biologisch natürliches Gesetz. Das lässt an Darwin denken und in der Tat liest man 1873, „das unerbittliche Gesetz des Kampfes um das Dasein vergönnt von zahllosen Keimen auch hier nur weni‐ gen, sich zu erschließen, weniger noch, sich auszuleben“. Das gelte für die Völker und „ihren Organismus“ und ebenso für „das Geistesleben der Völker“.223 Dieses Entwicklungsgesetz und seine geschichtlich-rechtsgeschichtlichen Grundkräfte und -begriffe begründet er nicht weiter. Sie werden angenommen, sie sind einfach natio‐ nal gegeben. Nebenbei heißt es einmal, „die Frage nach dem letzten Grunde“ sei aus dem „historischen in das philosophische Gebiet“ zu verweisen.224 An allen mög‐ lichen konkreten Erscheinungen der Rechtsgeschichte werden ihnen Realisierungen oder besser Manifestationen subtil erwiesen.225 So soll in einem Majoritätsbeschluss in der Mehrheit nur die Einheit „zur Erscheinung“ kommen und die „Organe“ sind nicht privatrechtliche Vertreter, sondern „Werkzeuge“.226 Die Rechtsgeschichte wird so zu einer Art großartigem Herbarium der Manifestationen der Grundbegriffe. Nicht zuletzt mit diesem methodischen Zugriff gelang Gierke auch eine bis heute faszinierende große Erzählung.227 Das verbindet ihn wieder mit Jhering. Es ist kaum zu gewagt, Gierke den germanistischen Jhering zu nennen. Der „Geist“ wirkt bei beiden im Zentrum, hier der des römischen Rechts, dort der des deutschen Rechts.

220 Z.B. 1873, S. 11: Individualismus und Gemeinsinn, und hundert ähnliche Gegensätze ließen sich herausgreifen, welche die Grundlagen zwiespältiger und im Ringkampf sich feindlich ge‐ genüberstehender Kulturgestaltungen bildeten. 221 1868, S. 300. 222 1868, S. 656. 223 Alles 1873, S. 9, ohne Darwin-Beleg bei Gierke, aber gewiss eine damals allgemein bekannte Formel. Die erste deutsche Übersetzung zu Darwin stammte von 1860; Pseudodarwinismus findet Kroeschell 1983/1995, S. 364 bei Brunner und Gierke. Mir scheint es mehr und mehr als bei Jhering. 224 1873, S. 4. 225 Siehe schon oben bei Fußnote 27. 226 Gierke 1915a, S. 578. 227 Gierke 1873, S. 3 bewußt „vor allem die großen Züge der volksthümlichen Rechtsidee in ihrer Reinheit herzustellen“.

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Beide lassen ihn als Substanz auf seinen historischen Entwicklungsstufen228 wirken. Freilich verwirft Gierke die späteren, utilitären Aspekte bei Jhering.229 Deduktion und Induktion? Aber wie kommen Deduktion und Induktion zueinan‐ der? Gierke erklärt das nicht. Man darf wohl vermuten, dass er seine stabilen Grund‐ begriffe (Doppelnatur des Menschen als Einzelwesen und als Gattungswesen,230 Volksgeist, Volksseele, Herrschaft, Genossenschaft, Einheitsprinzip, Freiheitsprin‐ zip, Kampfprinzip, Organismus usw.) als deduktive Ausgangspunkte ansieht, denen die historische Bewegung folgt. In Gierkes „deutschem“ Eigentumsbegriff fand man eine „nicht weiter ableitbare rechtspolitische Grundüberzeugung“.231 Troeltsch bemerkt, Halt fand man im Germanentum.232 Vielleicht darf man hierher auch Gier‐ kes schroff-apodiktische Ablehnung des Genossenschaftsbegriffs des „berühmten Rechtslehrers“ Paul Roth rechnen.233 Induktiv werden dann zu den Grundbegriffen oder einem bestimmten Institut die „Thatsachen gesammelt“ und daraus „stufenweis … auf einen gemeinsamen Gedanken geschlossen“,234 d.h. die Belege gefunden und zu Zusammenhängen vereinigt. Insofern erscheint es als bezeichnend, dass er stets alle Belege in den Fußnoten versammelt und die Inhalte nicht im Text aus den Quellen selbst entwickelt. In den Fußnoten stehen sie eindrucksvoll massenhaft. Die Technik ist die gleiche wie in den dogmatischen Pandektensystemen, die die Corpus Juris-Belegstellen zu dieser Zeit auch nur noch in den Fußnoten mitführen. Es ist vielleicht nicht überflüssig auszusprechen, dass Gierkes metaphysische Denk‐ formen und Strukturen hier nicht als solche kritisiert werden. Inhaltlich waren diese Denkformen bekanntlich ohnehin ambivalent, wie die Geschichte des mal revolutio‐ nären mal apologetischen Naturrechts zeigt. Wichtig erschien mir nur und jedenfalls, Gierkes Differenz zu anderen methodischen Zugriffen zu klären und in einigen Auswirkungen zu zeigen.

228 Bei Jhering schon im Titel: Geist des römischen Recht auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 1852 ff.; bei Gierke in der Sache, s. 1868, S. 5 Entwicklung und die heutige Ge‐ staltung der Rechtsidee der deutschen Genossenschaft zeigen, 7 verschiedene Lebensepochen der Völker mit gewissen typischen Unterschieden des Denkens, 8 Unterschied der Altersstu‐ fen im Volksleben, 11 im Gesamtcharakter des Entwicklungsganges der modernen Völker langsamer Fortschritt, 12 zum Bildungsgang des deutschen Rechtsbewußtseins sei zunächst festzustellen auf welcher Stufe es jeweils stand; 1879: drei Altersstufen des Volkslebens; ähn‐ lich 1917 für Recht-Sittlichkeit. 229 Gierke 1917d, S. 231, 243 f., 247. 230 Prägnant 1917d, 260. 231 Kroeschell 1977/1995, S. 240. 232 Troeltsch 1922, S. 511. 233 Siehe Gierke 1877, S. 98 und bes. 99 die Abwehr. Roth (1820-1892) in München war sein wohl schärfster Konkurrent als Germanist, 1874 in die BGB-Kommission berufen und 1887 vor Gierke nach Berlin, was er aber ablehnte. 234 1873, S. 3.

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VIII. Ergebnis Als Ergebnis möchte ich einfach nur die Fragen zu beantworten versuchen, die ich eingangs zu Gierkes Paradezitat vom Freiheitstraum und sozialistischen Öl gestellt hatte. Also: •











Zu wenig Freiheit im öffentlichen Recht? Zu viel Freiheit im Privatrecht? Ja beides, mehr persönliche Freiheit im öffentlichen Recht und mehr Gemeinschaft‐ lichkeit im Privatrecht, Genaueres ergibt sich nur Punkt für Punkt. „Sozialistisch“ im April 1889 - noch im Angesicht des repressiven sog. Sozia‐ listengesetzes, das erst am 30.9.1890 aufgehoben wurde? Ja durchaus, denn „sozialistisch“ musste damals nicht wie für uns Sozialismus bedeuten, zumal nicht vor den Ohren eines ganz bürgerlichen Juristenpublikums und aus eben‐ solchem Munde. Es konnte einfach „gemeinschaftlich“ bedeuten, sozusagen ge‐ meinschaftsförderndes Öl im Rechte-Boden des Privatrechts. „Sozialistisch“ nicht als Staatsfeindschaft im Getriebe des Kaiserreichs, sondern als Lockerungsmittel für den Privatrechts-Boden? Ja. Warum reichte nicht „so‐ zial“? Weil sozialistisch noch nicht den großen weltanschaulichen Gegensatz meinen musste, sondern einfach nur gemeinschaftsfördernd. Und das alles im Angesicht des lange erwarteten und gerade Ende 1888 veröf‐ fentlichten „Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich 1. Lesung“? War da nur Freiheit drin? Ja und nein – der Entwurf war auf individuelle Freiheit als Prinzip gebaut, dieses Prinzip hielt Gierke für verfehlt, weil zu wenig gemeinschaftsfreundlich. Nur weil es ihm derart ums Prinzip ging, wurde seine Kritik so unbeugsam und aggressiv. „Naturrechtliche“ Freiheit? Diese Freiheit war für Gierke die des bloßen Indivi‐ duums. Ein Hauch nur davon sollte im öffentlichen Recht gelten, mit Grundrech‐ ten wie 1848, aber keinen Menschenrechten. Gab es keine sozialistischen oder sozialen Elemente im Privatrecht des Kaiser‐ reiches und keine „Freiheit“ im öffentlichen Recht? Ja und nein – es gab solche Elemente, aber nicht als Prinzip im BGB, dagegen sehr wohl als zur Freiheit emanzipierendes Recht im sozialpolitischen Spezialrecht. Das streifte Gierke je‐ doch nur mit einem herablassenden Seitenblick.235 Die sozialpolitische Gesetz‐ gebung des Kaiserreichs von den Gewerbeordnungen und Gewerbegerichten bis zum Abzahlungsgesetz, der Reichsversicherungsordnung und dem Hausarbeits‐ gesetz 1912, nahm er wie die meisten Privat- und Arbeitsrechtler noch heute nicht in den Blick. Sie gehörten aber zum Konzept. Konsequent enthielten sie wesentliche privatrechtliche Bestimmungen über Arbeitszeit und Arbeitsschutz

235 Gierke 1896, S. 46 kurz zur Gewerbeordnung

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für die Privatrechtssubjekte Arbeitgeber und Arbeitnehmer untereinander, insbe‐ sondere in den Gewerbeordnungen (1869 ff. §§ 105 ff.) Sollten bei Gierke zwei Rechtsprinzipien angesprochen sein? Ja. Und in wel‐ chem Verhältnis hatte man sie sich dann zu denken? Das bleibt bei Gierke spannungsvoll offen. Es war je nach den Verhältnissen auszugleichen. Oder ging es vor allem um eine politische Diskussion? Ja, aber genauer um Rechtspolitik als Unterfall. Als pragmatische Vermittlung? Nicht für Gierke, ihm ging es um Prinzipien, d. h. eine Direktive für das gesamte Recht, öffentliches wie privates. Und warum dort nur ein „Hauch“ und hier nur ein wenig „Öl“, ein Tropfen? Im öffentlichen Recht sollte nicht zu viel Freiheit herrschen und im Privatrecht nicht zu viel Gemeinschaft, Genaueres blieb in offener Spannung. Wie verhält sich das zu Gierkes monumentalem Lebenswerk von 1860 bis 1921? Er betreibt diese Prinzipienfragen in allen seinen Werken, historisch, dogmatisch und rechtsphilosophisch. Wie zu seiner übergroßen Erzählung der deutschen Rechtsgeschichte als Kampf um „Herrschaft und Genossenschaft“ und „Einheit und Freiheit“ seit 1868? Seine Rechtsgeschichte diente der historischen Bekräftigung seiner Prinzipiensicht. Die ganze Rechtsgeschichte war ihm dabei aber organische Entwicklung getrieben von leitenden Sinnideen, nicht bloßer Verlauf ohne Ziel. Wie zu seinem ebenso gewaltigen dogmatischen „Deutschen Privatrecht“ zum BGB seit 1895? Dieses dogmatische Hauptwerk stellte das seit 1900 geltende Privatrecht des BGB dar und baute ihm möglichst viel im Sinne seines gegenläu‐ figen Sozialprinzips ein. Ansatzpunkte dazu gab es genug. Durch Mobilisierung dieser gegenläufigen Prinzipienidee konnte das Privatrecht im einzelnen durch‐ aus umgepolt werden. Gründlich geschah das bekanntlich nach 1933. Ist der Satz von 1889 bei Gierke nur ein politisierender Ausreißer? Nein, es ist der energische Versuch einer grundlegenden Umorientierung. Was wäre daraus für Freiheit und Sozialität bei ihm zu lernen, nur ein wenig Wissenschaftsgeschichte? Gewiss einige wichtige Wissenschaftsgeschichte und von noch heutigem Interesse. Die fatalen Potentiale einer Kombination von Gemeinschaftsideologie mit einem dogmatischen Rechtspositivismus? Eine schwierige und umstrittene Frage. Sie spielt an auf eine verbreitete Ansicht über die Gründe für die Lage nach 1933. NS-Ideologie plus rechtsblinder Positivismus hätten das ‚Unglück‘ verursacht. Diese Behauptung ist nach heute fast durchgehender Meinung historisch unzu‐ treffend. Die NS-Jurisprudenz war für ihr eigenes Recht extrem gesetzesorien‐ tiert, schon weil sie unter scharfer Beobachtung stand. Noch geltendes, gegenläu‐ figes Recht wurde durch unbegrenzte Auslegung und Umbau der Justiz aus dem Weg geräumt. Damit hat Gierke nichts zu tun. Seine Vorliebe für Gemeinschaft

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wollte den unantastbaren persönlichen Freiheitsraum in dieser nicht beseitigen. Aber die Art, wie er aggressiv und unerbittlich prinzipiell gegen das Freiheits‐ prinzip des positiven Privatrechts wie das bloße Individuum im Verfassungsrecht im Namen eines angeblich urdeutschen Gemeinschaftsprinzips kämpfte, kann doch auch eine Ahnung davon vermitteln, dass und wie politische Ideen das werdende und das geltende Recht verändern können. Hinterlässt uns Gierke Wichtiges zu dem Dauerproblem Einheit und Freiheit, Gemeinschaft und Individuum? Durchaus Ja – juristisch lehrreich daran er‐ scheint aber vor allem der rechtliche Leerlauf von Gierkes an sich sympathischer Sowohl-als auch-Lösung. Andererseits hält er den Blick für die politische und ökonomische Funktion von Recht heilsam offen. Oder liest man bei Gierke nur ehemals breit geteilte Gedanken zu einem erle‐ digten Problem? Erledigt ist davon gewiss nichts. Oder bleibt nur ein etwas anekdotischer Blick auf vergangene „deutsche“ Polemiken? Ein wenig Anekdote kann hier auch nicht schaden.

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1914b: Dauernde Schuldverhältnisse. In: Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bür‐ gerlichen Rechts, 2. F., Bd. 28 (Bd. 64 von „Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts") 1914, S. 355-411 (erneut bei Pöggeler). 1914c: Erster geistiger Waffenplatz Deutschlands. In: Der Tagesspiegel, v. 4. 6.1914, S. 21. 1914d: An England Gedicht. In: Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung von Mittwoch, dem 12. August 1914, Nr. 376 Morgenausgabe. 1914e: Volksgeist. In: Der (rote) Tag Nr. 203, 204 vom 30. Aug. u. 1. Sept., Sp. 1-10. 1914f: Krieg und Kultur. Rede am 18. Sept. 1914 gehalten. Deutsche Reden in schwerer Zeit. 2. Heft, Berlin. 1914g: Noch einmal an England. Gedicht. In: Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung von Dienstag, dem 6. Oktober 1914, Nr. 478 Beilage zur Morgenausgabe. 1914h: Die Parteien während des Krieges. In: Das neue Deutschland. Jg. 3, 1914/15, Nr. 1/3 vom 28. Okt. 1914. S. 6 -9. 1914i: Deutsches Recht und deutsche Kraft. In: Internationale Monatsschrift, Jahrg. 9, Heft 3 vom 1. Nov. 1914, Sp. 162-170 (geschr. 2. Sept. 1914). 1915a: Über die Geschichte des Majoritätsprinzips. (Rede, gehalten auf dem Intern. Histo‐ rikerkongreß zu London im April 1913). In: (Schmollers) Jb. 39, S. 565-587 (erneut bei Pöggeler) und als Sonderdruck 1915. 1915b: Heinrich Brunner†. Ein Gedenkblatt. In: Dt. Juristenzeitung 20, Nr. 17/18 vom 1. Sept., Sp. 833 -837. 1915c: Das Recht und der Krieg. In: (Gruchots) Beiträge zur Erläuterung des Deutschen Rechts 59, S. 3-27 (erneut bei Pöggeler). 1915d: Der deutsche Volksgeist im Kriege. Der deutsche Krieg, H. 46. Stuttgart und Berlin (erneut bei Pöggeler). 1917a: Deutsches Privatrecht. Bd. 3: Schuldrecht. München und Leipzig. 1917b: Die Zukunft des Tarifvertragsrechts. (Besprechung von: Hugo Sinzheimer, Ein Ar‐ beitstarifgesetz, 1916 u. Roman Boos, Der Gesamtarbeitsvertrag nach schweizerischem Recht, 1916). In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 42, Heft 3, Mai 1917, S. 815-841. 1917c: Gedächtnisrede für Heinrich Brunner, gehalten in der Sitzung der Berliner Juristi‐ schen Gesellschaft am 8. Januar 1916. In: 58. Jahresbericht der Berliner Jur. Ges. 1916. Berlin, S. 19-38. 1917d: Recht und Sittlichkeit. In: Logos 6, H.3, S. 211-264 (erneut bei Pöggeler). 1917e: Unsere Friedensziele. Berlin. 1918a: Wahlrecht nach Berufsgruppen. In: Der (rote) Tag, vom 2. u.8.Okt. 1918, Sp. 1-21. 1918b: Und es mag am deutschem Wesen Einmal noch die Welt genesen". In: Der (rote) Tag 1918 Nr. 259, 260 vom 3. und 5. Nov. 1918, Sp. 1-9. 1919a: Haftung für Plünderungsschäden. In: Dt. Juristen-Zeitung 24 (1919) Nr. 1/2 vom 1. Jan., Sp. 8-15 (Gutachten). 1919b: Der germanische Staatsgedanke. Staat, Recht und Volk. 5. Heft, Berlin (erneut bei Pöggeler). 1919c: Parteilose Wähler. In: Der (rote) Tag 1919, Nr. 2, 3 vom 3. 4. Jan., Sp. 1-15.

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1920: Einige Wünsche an die Deutschnationale Partei. In: Der (rote) Tag 1920, Nr. 234, 235 vom 23., 24. Okt., Sp. 1-11. Erweitert als Manuskript gedruckt 20. Okt. 1920. 1921: Georg Beseler, in: 100 Jahre Deutsche Burschenschaft …, hg. von H. Haupt und P. Wentzcke, S. 111-125. 2001: Aufsätze und kleinere Monographien, hg. von Wolfgang Pöggeler, 2 Bände, Hildes‐ heim u.a. (eine Auswahl).

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Helga Spindler Gierkes Hinwendung zu einem sozialen Gemeinschaftsrecht vor dem Hintergrund seiner zeitgenössischen Bezüge

1.) Auf der Suche nach Alternativen Gierke war ein Leben lang auf der Suche nach einer sozialen Rechtsordnung, die eng verwoben ist mit dem staatlichen Ganzen. Otto Friedrich Gierke (1841- 1921), wie er während des Großteiles seiner Schaffensperiode hieß. Der erbliche Adelstitel, unter dem wir ihn heute kennen, wurde ihm erst zum 70. Geburtstag 1911 verliehen. Diese Suche sprach auch mich an, die ich nach sozialen Wurzeln nicht nur im Arbeitsrecht sondern auch im Privatrecht suchte und mich von seiner Kritik am Recht des seelenlosen Warentauschs und an der Behandlung der Ware Arbeitskraft angezogen fühlte. Und wo anders als in der Rechtsgeschichte war greifbarer, wie sich Recht mit der Gesellschaft entwickeln und verändern kann und ihre Struktur widerspiegeln und prägen kann. Je mehr ich mich jedoch mit ihm beschäftigte, desto mehr standen mir bald viele Gierkes gegenüber: Der junge, liberale Genossen‐ schafts- Gierke, der betont deutsch-germanische BGB- kritische Gierke, der interdis‐ ziplinäre Kathedersozialist Gierke, der Treudienstvertrags- Gierke, und daneben gab es noch einige Gierkes, mit denen ich nicht mehr vertraut wurde, weil seine Arbeit viel mehr Bereiche umfasste als meine. Kein Wunder: sein erster Band des Genos‐ senschaftsrechts erschien 1868, eine letzte Abhandlung im Oktober 1920, alles in allem zuzüglich der Vorarbeiten bis zur Habilitation im Jahr 1867 das Ergebnis von fast 60 Jahren rechtswissenschaftlichen Arbeitens. Ich konnte ihn nicht als den kontinuierlich sich entwickelnden, gar widerspruchs‐ freien Gierke abhandeln. Schließlich ergab sich für meine Untersuchung sogar die Notwendigkeit einen wichtigen Bruch zwischen dem Genossenschafts- und dem Treudienstvertrags- Gierke herauszuarbeiten, der mir bis dahin in der Literatur zu kurz kam. Man konnte nicht einfach Zitate aus dem gesamten Lebenswerk mitein‐ ander verbinden; die gleichen oder ähnlichen Wendungen bekamen im zeitlichen Verlauf seiner Arbeiten unterschiedliche Bedeutung.1 Aber eines blieb immer gleich, der historische Bezug zum deutschen Recht, wie er es erkannt zu haben glaubte. Ich möchte insoweit auf die weniger oft zitierten Würdigungen von Wilhelm Ebel und von Ulrich Stutz zurückgreifen, die ihm und 1 Spindler 1982, S. 77 f.,125,126, 139 f., 166 f.

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seiner Gedankenwelt zeitlich noch sehr nah standen. Das beinhaltet auch immer, dass sie als Jüngere auch im dritten Reich ihrer Arbeit nachgegangen sind. Wenig belastet scheint mir Ulrich Stutz, der Gierke noch in die Deutschnationale Volks‐ partei folgte, umfassend politisch aktiv war der später wieder rasch entnazifizierte Wilhelm Ebel, der auch noch in der Bundesrepublik gewirkt hat Gierke habe einen Teil seiner Lebensarbeit der Erforschung des älteren deutschen Rechts gewidmet, der Aufgabe, den unverlierbaren deutschen Rechtsgedanken zu erforschen, sein Fortleben im geltenden Recht zu erkennen und sein Wiedererstar‐ ken zu fördern, schreibt Ebel2 und erinnert an das 1888 erschienene Vorwort zur Kritik des ersten Entwurfs des BGB: „Nicht freie Wahl, sondern unentrinnbarer Gewissenszwang hat mir die Feder in die Hand gedrückt. Ich bin in den Kampf ein‐ getreten, weil mir ein hohes Gut unseres Volkes bedroht zu sein scheint- ein Gut in dessen Pflege mein Leben dahin fließt und zu dessen Verteidigung wissenschaftliche Überzeugung und amtliche Pflicht mich aufruft: Unser deutsches Recht !“3 Ebel weist daraufhin, dass dies auch der Grund war, nach seiner Berufung nach Berlin im Sommer 1887 seine bis dahin schon beeindruckende Arbeit am Genossen‐ schaftsrecht vorerst zurückzustellen und „seine gewaltige Arbeitskraft dem Privat‐ recht zuzuwenden“, wo er die größte Gefahr im romanistischen Pandektenrecht, im Atomismus der Rechtsobjekte ebenso wie im Individualismus der Rechtssubjekte sah. In schlichten Worten bestätigt Gierke das, was er als Lebensaufgabe empfand, in einer englisch vorgetragenen Rede als 68 - jähriger in Harvard 1909: „I am Germanist and my life task is to study and to teach the Teutonic Elements of German law“.4 Ebel räumt auch ein, Gierke sei kein Rechtshistoriker im eigentlichen Sinne gewesen. Es sei ihm nicht darum gegangen, was einst in der Vergangenheit gelebt hatte, sondern um das, was von der Vergangenheit noch lebte. Gierke bestätigt dies als seine Vorgehensweise z.B. in seinem Genossenschaftsrecht: „Das Recht der deutschen Genossenschaft soll… vollständig und daher ebenso als ein werdendes wie als gewordenes behandelt werden. Der gegenwärtige Rechtszustand kann nur aus seiner umfassenden historischen Darlegung vollständig begriffen und umgekehrt die Geschichte der deutschen Genossenschaft nur, wenn die heutige Bewegung als ihr letztes und bekanntes Glied betrachtet wird, annähernd verstanden werden.“5 Ebel fährt fort, Gierke sei vielmehr Rechtspolitiker und ein historischer Systematiker gewesen und habe an seine Mission geglaubt. Und es stimmt wohl, leitend war für Gierke mit seiner historischen Unterfütterung immer der Wille in die aktuelle Staats-

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Ebel 1965, S. 82. hier zitiert nach Wolf 1939, S. 576. Thiessen 2010, S. 343. Gierke 1868, S. 5,6.

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und Rechtsentwicklung auch mit der Wahl der Themen einzugreifen, Alternativen aufzuzeigen und sie wenn möglich mitzugestalten. Der wechselnde Bezug auf die historische Entwicklung ist oft kritisiert worden, und ist, vor allem für die Periode nach dem Genossenschaftsrecht, verwirrend und widersprüchlich. Ebel meint, dass Gierkes historische Bemühungen „leicht etwas dogmatisch Gewaltsames an sich“ gehabt hätten und sein stetes Lob des germanisch deutschen Rechts, seine hohe Bewertung von Sitte und Treue „etwas doktrinär Ro‐ mantisches“. Hier bezieht er sich auf Stutz, der dies etwas diplomatischer formuliert hat, aber auch bestätigt: „Dass das Recht das Produkt des Volksgeistes sei, war für ihn ein Glaubenssatz“6. Wieacker spricht von dem in seinen Quellen nicht immer offen gelegten romantischen und geschichtsphilosophischen Erbe, von gedanklichen Widersprüchen und Leerformeln und nicht zuletzt der Heranziehung fragwürdiger historischer Forschungsergebnisse. Man müsse, um ihn als wohl zukunftsreichsten und tiefsten Kritiker des Privatrechts seiner Zeit zu erkennen, die nationalistischen und romantischen Überlagerungen, die juristische Bildersprache und auch die positi‐ vistischen Vorurteile seiner Gesellschaftstheorie entfernen.7 Aber, abgesehen davon, dass all das in der späten historischen Rechtsschule nichts Ungewöhnliches war, eignet sich sein Werk gerade dadurch als Projektions‐ fläche für unterschiedliche Interpretationen und Intentionen. So wie er auf der Suche nach einer sinnvollen Rechtsordnung war, die zumindest germanische mit römischen Einflüssen verband und soziale Spaltung abmildern sollte, waren das auch Arbeits‐ rechtler wie Sinzheimer und Potthoff, waren das auch Wissenschaftler, die Gierkes Arbeit aus unterschiedlichen fachlichen Gründen kritisierten, wie der Arbeitsrecht‐ ler Lotmar und der Rechtshistoriker Ebel. Es waren auch mehrere während des Nationalsozialismus publizierende Wissenschaftler, die Wolf 1939 zitierte 8 und in späteren Auflagen wieder entfernte. Dazu gehörte etwa auch der Jurist Walter Merk, der aus zahlreichen Werken Gierkes ganze Passagen übernommen haben soll und meint, die Neugestaltung des deutschen bürgerlichen Rechts werde an den meisten Punkten an die Gedankengänge Otto v. Gierkes anzuknüpfen haben.9 Angesprochen fühlten sich offenbar auch Wissenschaftler aus dem Ausland, wie in der Festschrift zu seinem 70. Geburtstag zum Ausdruck kommt. Dort gibt es Beiträge aus England, Italien und Frankreich10. Und er hielt - jeweils in der Landes‐ sprache - Vorträge zu seinen Themen beim internationalen Kongress für historische

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Stutz 1922, S. XXXI. Wieacker 1967, S. 453; und Wieacker 1952, S. 14. Wolf 1939, dort nur in der 1. Aufl. S. 563,564. Merk, Walter 1935, Vom Wesen und Werden des deutschen Rechts 3. Aufl. S. 40. Zum ganzen auch Stolleis , Michael, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, München 1973 S. 18, der sich der Arbeitsweise und Instrumentalisierung rechtshistorischer Forschung von Merk ausführlich widmet, allerdings den Einfluss von Gierke nicht weiter verfolgt. 10 Wolf 1939, S. 579 Anm. 7.

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Wissenschaften 1903 in Rom, 1909 an der Universität in Harvard und 1913 bei einem historischen Kongress in London (Über die Geschichte des Majoritätsprin‐ zips), und schon im Jahr 1900 hat Frederic W. Maitland einen Auszug aus dem dritten Band des Genossenschaftsrechts mit einer eigenen Einleitung ins Englische übersetzt, worauf später auch eine französische Übersetzung basierte.11 Er regte einfach viele an, die Alternativen suchten und natürlich auch viele, die in der erdrückenden Wucht seines Werkes (Stutz S. VIII) einen roten Faden suchten. Was mich aber zusätzlich interessiert hat, - ohne dem Anspruch zu genügen, das systematisch zusammenzutragen - waren seine zeitgenössischen Bezüge und Kon‐ texte, auch über das hinaus, was er im Genossenschaftsrecht und später verarbeitet hat. Welche gesellschaftlichen Bewegungen, Vereinigungen und Personen hat er wahrgenommen, mit welchen Menschen, hat er zusammengearbeitet oder sich ge‐ troffen, mit welchen Entwicklungen, hat er sich auseinandergesetzt und evtl. sympa‐ thisiert. Wie ist er von seinen Zeitgenossen wahrgenommen worden. Und weil er so vielfältig aktiv und engagiert war, gab es da auch vieles zu entdecken. Das war da‐ mals schon sehr viel und ich muss mich entschuldigen, dass ich die seit meiner Ar‐ beit weiter vorangeschrittene rechtsgeschichtliche Forschung nicht mehr nacharbei‐ ten konnte. Dazu gehört neben dem enzyklopädischen Historisch - Kritischen Kom‐ mentar zu § 611 BGB von Rückert etwa die materialreiche Monographie von Rep‐ gen, der sich mit der konkreten Wirkung einzelner sozialer Topoi im gesamten Pro‐ zess der BGB- Kodifikation auseinandergesetzt hat und damit auch sehr viel zur ge‐ naueren Einordnung Gierkes geleistet hat.12 So sehr man sich mit den historiographischen Bildern konfrontiert sieht und sich mit Gierkes Methoden auseinandersetzen muss, mir war wichtig, welche Kon‐ sequenzen und Forderungen er daraus gewonnen hat und das unter den Bedingungen des deutschen, teilweise von Bismarck geprägten Reiches, das er über den gesam‐ ten Zeitraum hinweg getragen von tiefer Zustimmung zur Monarchie konstruktiv kritisch begleitet hat. Gerade wenn man sich der Vollständigkeit halber auch mit der gesamten historischen Rechtsschule befasst, gewinnt man den Eindruck, dass ohne Bezug zur damals noch breiter aufgestellten Geschichtswissenschaft, der juristische „Experte“ in dieser Zeit kaum die Möglichkeit gehabt hätte, bei den Regierenden Gehör zu finden. Diese gemeinsame Suche angetrieben von einem redlichen rechts- und sozialpoli‐ tischen Anliegen verbindet, auch wenn nicht jede historische Herleitung überzeugte. Wichtig war mir dann aber auch, das Ganze nicht zu verschweigen oder als roman‐ tische Folklore nationalistischen Überschwangs des vorletzten Jahrhunderts zu ver‐ niedlichen. Nein, die konkrete gesellschaftspolitische Einbettung, die Gierke seinem Werk gegeben hat, hilft mehr zu erkennen: Es genügt nicht die erstrebenswerten 11 Wolf 1963, S. 707; Stutz 1922, S.XX. 12 Repgen 2001.

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Seiten einer sozialen, organischen Gemeinschaftsidee herauszustellen, denn sie birgt auch Abgründe und Fehlentwicklungen, denen man ebenfalls nachgehen muss. Genauso wie der Bezug zu den germanischen Wurzeln vor allem in der Auseinan‐ dersetzung um die aktuelle Rechtsordnung auch immer etwas Instrumentalisierendes hatte, war es auch der Bezug auf das Soziale, der nicht nur bereits im Genossen‐ schaftsrecht auftaucht, sondern besonders die Kritik am ersten Entwurf des BGB durchzieht. Denn das Germanische war bei ihm immer auch in einer philosophisch verstandenen Weise sozial. 13 Es findet sich auch einmal eine knappe Erkenntnis, die sich allerdings nicht zur Selbsterkenntnis erweiterte: 1902 beim 13. evangelisch sozialen Kongress, äußerte er in einer längeren Stellungnahme zu einem Vortrag von von Harnack zur sittlichen und sozialen Bedeutung des modernen Bildungsstrebens: „Was heißt denn sozial? Man versteht oft das allerverschiedenste darunter. Es nennt eigentlich jeder das sozi‐ al, was ihm in dem Augenblick als erwünscht erscheint…“ Aber was bedeutete das für die rechts- und sozialpolitische Ausgestaltung des Bildungswesens, die er selbst wünschte? Das habe ich bei ihm nicht reflektiert gefunden. Im Gegenteil, er beginnt sofort - hier nicht ohne den pathetischen Verweis auf den Apostel Paulus und den großen mystischen Leib Christi - , seine Auffassung zu entwickeln, dass das Soziale immer auf das Ganze sehen müsse in dem Sinne, dass das Individuum immer nur ein Glied des Ganzen sei, dass es nicht um die möglichsten Berechtigungen des Individuums oder im diskutierten Zusammenhang auf eine absolute Gleichheit der Bildung ankomme, sondern dies immer in Verbindung stehen müsse mit dem, was der Persönlichkeit als Lebensaufgabe gestellt sei, weswegen z.B. Frauen-Bildung auch Frauen-Bildung bleiben solle.14 Und von wem soll die Aufgabe gestellt wer‐ den ?

2.) Der junge, liberale Genossenschafts- Gierke Angesichts des Umfangs, den das Genossenschaftsrecht bei Gierke einnimmt und seiner vielfachen wissenschaftlichen Aufarbeitung, die allein dieser Teil seines Wer‐ kes gefunden hat15, beziehe ich mich auf das, was ich bereits bearbeitet habe. Das gilt auch für den Einfluss, den sein wissenschaftlicher Lehrer und Förderer, der Germanist Georg Beseler gehabt hat.16 Diese Arbeit hat sein Berufsleben deutlich mehr als 20 Jahre ausgefüllt, so etwa von 1865 bis 1888, nachher nur noch spo‐ radisch. Das ist ein Zeitraum, der bei manchem schon das gesamte Lebenswerk 13 14 15 16

Gierke 1896, S. 39 „Denn soziales Recht ist deutsches Recht“ ; auch Janssen 1974, S. 64 f. Verhandlungen des 13, Evangelisch sozialen Kongresses, 1902 S. 31,32. Zuletzt: Peters 2001. Spindler 1982, S. 50 ff. und S. 39 ff.

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umfasst. Aber bei ihm folgten noch über 30 Jahre weiterer intensiver juristischer und rechtspolitischer Arbeit. Die Genossenschaft steht im Zentrum dieser Arbeit und er versteht darunter jede auf freier Vereinigung beruhende deutschrechtliche Körperschaft als einen Verein mit selbständiger Rechtspersönlichkeit, jeden Verband von Personen, von der Fami‐ lie über Vereine, Markgemeinden, Städten und Städtebünde, wirtschaftliche Distri‐ butiv- und Produktivgenossenschaften, Kirchen bis hin zum Staat, dem Verband der Verbände.17 Deshalb besteht der Staat für ihn auch in der späteren Zeit nie getrennt von den Verbänden. Dabei sieht er den repräsentativen Verfassungsstaat als ein Gemeinwesen, das „die genossenschaftliche Grundlage (die Staatsbürgergenos‐ senschaft) und die obrigkeitliche Spitze (die Monarchie) organisch, d.h. nicht als Summe, sondern als eine neue lebendige Einheit“ verbindet. Seine Hoffnung, es mö‐ ge ein einheitliches Reich mit genossenschaftlich verbundenen Einzelstaaten geben, hat sich so nicht erfüllt, zeigt aber seine damalige Idealvorstellung der Verbindung von Staat und Gesellschaft.18 Die Germanen hätten allen andern Völkern eine Gabe vorausgehabt, durch welche sie der Freiheitsidee einen besonderen Gehalt und der Einheitsidee eine festere Grundlage verliehen hätten: die Gabe der Genossenschaftsbildung. Ne‐ ben ihr stehe von je her die entgegen gesetzte Form menschlicher Vereinigung, der herrschaftliche Verband19, der dem römischen Rechtskreis zugeordnet wird. Hier dienen alle Glieder, wozu auch die Sklaven gehörten, dem Haupt und sind zu schrankenloser Treue und vollständigem Gehorsam verpflichtet. Gierkes Arbeit widmete sich der Aufarbeitung des Spannungsverhältnisses, in dem diese beiden Gestaltungsprinzipien im Laufe der Geschichte standen.20 Die Ge‐ nossenschaft mit der Selbstverwaltung der freien und gleichberechtigten Mitglieder ( „Gesamtwille, Wahl, Küre und Urtelsfindung“, Gierke 1868, S. 89 ), der seine Sympathie gilt, wird nicht idealisiert, sondern ihr wird über die Jahrhunderte hinweg nachgegangen und auch manche Schwäche, Schwerfälligkeit und Erstarrung über die Zeiten hinweg festgestellt. Zum Ende dieser Entwicklung wird dann auch der kapitalistische Großbetrieb behandelt, in dem er den alten Herrschaftsverband - schroffer und unbedingter wiederkehren sieht. Die „Wirtschaftsorganismen“, „für welche das Kapital Basis und Herr, die Arbeit nur unselbständiges Werkzeug ist“21, wo die Arbeit rechtlos sei, auf Dauer auch die Kleingewerbetreibenden zu Lohnarbeitern würden und letztlich selbst der Besitzer immer willenloser in den Dienst des eigenen Kapitals gezogen werde. Nur der Widerstand der bedrohten Existenzen setze dieser Tendenz des 17 18 19 20 21

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Gierke 1868, S. 5; Stutz 1922, S. XII. Gierke 1868, S. 833 f. 843. Gierke 1868, S. 3 und S. 89 f. Dilcher 1974/75, Kap. II I. S. 326 f. ; Spindler 1982, S 50 f. Gierke 1868, ab S. 1035 f. S. 1036.

Kapitals, seine Macht immer mehr auszuweiten, ein Ziel. Dieser Prozess wird auch in seinem Lexikonartikel zum Genossenschaftswesen eindringlich dargestellt.22 In diesem Zusammenhang formuliert er auch eine inhaltliche Begründung, warum er den Versuchen der Kommunisten und Sozialisten nichts abgewinnen kann, die er wieder der „romanischen Richtung“ zuordnet. Nämlich, weil sie die notwendige Assoziation „im Wege von oben und außen“ zentral durch den Staat dekretieren und vollstrecken wollten. Das kritisiert er auch an den Vorschlägen von Lassalle. Er befürchtet Polizeistaat, Bevormundung und Beamtenherrschaft.23 Diese Haltung prägt ihn im weiteren Leben und verschärft sich später, z.B. im Vortrag 1889: “Die Verstaatlichung des Privatrechts im Sinne des Sozialismus bedeutet die Unfreiheit und die Barbarei“24 Eine ausführlichere Auseinandersetzung führt er auch noch in seiner Kritik am BGB -Entwurf mit Anton Menger, den er bei den Sozialisten ein‐ ordnet. Trotzdem zeige das Bild, das Menger von der tatsächlichen Beschaffenheit des Entwurfs zeichne, leider eine Fülle wahrer Züge.25 Mitwirkende Staatshilfen wie Arbeitsschutzregelungen, oder Altervorsorgeanstalten oder Beseitigung von Koaliti‐ onsverboten seien indessen nützlich. Nur in der freien Assoziation könnten aber die in ihrer ökonomischen Existenz bedrohten Klassen wahre und dauernde Selbständigkeit nur sich selbst geben. Zwar könne eine selbständige Betheiligung der Arbeit am Unternehmen wohl eher in der Zukunft, eine die Arbeitsgenossenschaft mit dem Kapitalherrschaftsverband versöh‐ nende Organisationsform werden26, aber es entwickele sich im wirtschaftlichen Be‐ reich sehr viel. Als bereits vorhanden sind ihm aktuell die Bildungsgenossenschaften wichtig, die ja eine der Voraussetzungen für die selbst bestimmte Erwerbstätigkeit schaffen. Und er spricht sich unter Hinweis auf englische Erfahrungen ausdrücklich für Vereine der allgemeinen Interessensver‐ tretung für Arbeiter (trade unions, Gewerkschaften) aus, wozu für ihn als ultima ratio auch Streiks gehören.27 Er selbst bevorzugt aber die kooperative Bewegung, die Produktivgenossenschaften als Ziel, in welcher die Arbeit ihr volles Bürgerecht erlange.28 Am Ende seiner Arbeit widmet er sich ausführlich den vielfältigen Distri‐ butivgenossenschaften, etwa Konsumvereinen und Wohnungsgenossenschaften, und den Produktivgenossenschaften, als in der Entstehung befindlichen Organisationen. Schon aus den Fußnoten wird deutlich, wie sehr er dabei zeitgenössische Autoren und Akteure des Genossenschaftswesens wahrnimmt. Da ist der demokratisch und

22 Gierke 1869, S. 788 - 812 . 23 Gierke 1868, S. 1039; Gierke 1869, S. 791 f. 24 Gierke 1889 b, S. 486; Gierke 1889 a, S. 26. 1919 bekräftigt er das nochmals in seinem Arti‐ kel: „Parteilose Wähler“. 25 Gierke 1889 a, S. 25, 26,104; Spindler 1982, S 90, 91. 26 Gierke 1868, S. 1040,1041. 27 Gierke 1868, S. 900, 1040,1042 ; Gierke 1869, S. 794 f. 28 Gierke 1868, S. 1043.

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sozial engagierte Süddeutsche Eduard Pfeiffer, der mir großen Einfluss auf ihn zu haben scheint.29 Wichtig sind ihm auch die Arbeiten von Hermann Schulze Delitzsch, einem Gründer des deutschen Genossenschaftswesens, der als Jurist, libe‐ raler Abgeordneter und Sozialreformer in Preußen viel bewegt hat, sich allerdings mehr auf das Kleingewerbe und Handwerk konzentriert hat.30 Schließlich wird Gierke noch erkennbar von Victor Aimé Huber beeinflusst31, der sich ausdrücklich für die Produktivgenossenschaft von Lohnarbeitern eingesetzt hat. Von Huber über‐ nimmt er auch den Begriff der „arbeitenden Klassen“, obwohl beide nicht Anhänger des Klassenkampfgedankens sind. In einem Rückblick setzt sich Adolf Laufs sehr differenziert mit der Entwicklung des Genossenschaftsrechts und den Aktivitäten der Genossenschaftsbewegung auseinander, wobei er auch den unterschiedlichen Möglichkeiten für Arbeiter und Kleingewerbetreibende nachgeht, die ja von der kapitalistischen Entwicklung genauso durch soziale Verwerfungen bedroht waren wie die Arbeiter.32 An einer Stelle entwickelt Gierke sogar Hubers Arbeit fort und wirkt über ihn hinaus. In diesem Zusammenhang konnte ich eine bis dahin nicht nachgewiesene Arbeit von Gierke entdecken. Huber hatte in der 1. Auflage des Deutschen Staats‐ wörterbuches ( 1857 herausgegeben von Bluntschli und Brater ) noch die Artikel „ Assoziation“ und „Arbeitende Klassen“ bearbeitet. Er hatte sich dabei geweigert, den Begriff der Assoziation durch den der Gemeinschaft oder Genossenschaft ab‐ zulösen, weil diese Begriffe zu vage, zu allgemein seien. Für die 2. Auflage als „Deutsches Staatswörterbuch in drei Bänden“ (1869 Zürich), das nun von Gierkes Schwager Edgar Löning herausgegeben wurde, ist der Artikel „Assoziation“ von Huber durch den Artikel „Genossenschaftswesen“ von Gierke ersetzt. Er gibt dort im Schwerpunkt die Entwicklung der wirtschaftlichen Assoziationen aus dem letzten Teil des Genossenschaftsrechts Band I in konzentrierter Form wieder und baut das aus, samt einer gegliederten Literaturliste zu dem Thema.33 Vermutlich wären die Genannten nachträglich noch stolz, dass die Genossen‐ schaft aus Deutschland 2016 die Aufnahme in die UNESCO - Repräsentationsliste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit gefunden hat. Aber zumindest Gierke und Pfeiffer in ihrem damaligen Entwicklungsstand wären wohl bitter enttäuscht, dass die Genossenschaft es nicht zur internationalen Anerkennung auch der materi‐ ellen Wirkungen bei der Demokratisierung der Wirtschaftsorganisationen und bei der vollen demokratischen Teilhabe der Arbeitnehmer geschafft hat, denn Gierke ging es in dieser Zeit auch um die genossenschaftliche Teilhabe des Volkes an der Wirtschaft. 29 30 31 32 33

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Spindler 1982, S. 73 f. ; Pfeiffer 1863. auch dazu Spindler 1982, S. 63,70, 71. Spindler 1982, S. 70-73. Laufs 1968, S. 311 f. Spindler 1982, S. 57 Anm. 1.

Mich hat natürlich gereizt, Gierkes Arbeit auch mit der von Karl Marx zu verglei‐ chen, der 1867, ein Jahr vor dem Genossenschaftsrecht Band I, den 1.Band von „Das Kapital“ veröffentlicht hat. Es gibt keinen Beleg dafür, dass sie sich als Zeitgenossen wissenschaftlich miteinander beschäftigt haben. Vergleichbar ist aber die Schärfe, mit der beide die Gesetzmäßigkeiten und Auswirkungen des Kapitalismus auf die Gesellschaft ansprechen und kritisieren, auch wenn sie unterschiedliche analytische Herangehensweisen haben.34 Marx beschäftigt sich zwar nicht intensiv mit Genos‐ senschaften, erkennt jedoch die Bedeutung an, die Produktivgenossenschaften für die Arbeiter haben können, auch wenn sie für ihn revolutionäre Umwälzungen nicht ersetzen können.35 Alles in allem, Gierke hat in der Zeit ab 1868 eine Vorstellung von der Rolle und den Aufgaben von genossenschaftlicher Gemeinschaft erarbeitet, die er mit vielen sozial engagierten Akteuren geteilt hat. Wenn ich aber von einer Hinwendung zu einem sozialen Gemeinschaftsrecht spreche, dann ist mit dieser Zeit ein Anfangspunkt gemeint, von dem er sich abgewendet hat, um sich einer neuen Art von Gemeinschaftsrecht zuzuwenden Schließlich ist noch ein Weggefährte des liberalen Gierke zu erwähnen, der mit ihm persönlich und in dieser Zeit auch mit seinen Anliegen eng verbunden war. Das war Lujo Brentano. Gierke wirkte ab 1872 zwölf Jahre lang an der Universität in Breslau, ein Zeitraum, in den auch der größte Teil seiner Weiterarbeit am Genos‐ senschaftsrecht fiel. Dort traf er auf Brentano als Kollegen und sie beide haben fast täglich miteinander verkehrt und, - wie Brentano berichtet- alles erörtert, was sie geistig und politisch erregt hat.36 In den Anfangsjahren habe ihn außer dem Philosophen Dilthey auch der Rechtshistoriker Gierke in den Kämpfen, die er in einem eher sozialreaktionären Klima zu bestehen gehabt habe, oft freundschaftlich unterstützt.37 Gierke zitiert in der Literatur zum Genossenschaftswesen auch eine Arbeit von Brentano. Und Brentano war es, der Gierke mit Gustav Schmoller und dem Verein für Soci‐ alpolitik ( künftig abgekürzt: VfS ) zusammenbrachte, dem sie alle bis zum Ende ihres Lebens angehörten. Brentano war damals geradezu als Sozialist verfemt, und blieb im weiteren Leben ein einflussreicher Sozialliberaler, was dazu führte, dass sie sich später in ihrer politischen Haltung auseinander entwickelten.38Als es z.B. im VfS 1897 um eine heikle Frage des Koalitionsrechts ging, kritisiert Brentano, Gierke habe sich jetzt auf den Standpunkt der Arbeitgeber begeben.39 Diese Entwicklung spricht auch Stutz an, wenn er berichtet, dass Gierke seine historisch-juristische

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Spindler 1982, S. 55 bis 57. Spindler 1982, S. 67 bis 70 . Spindler 1982, S. 74 . Spindler 1982 ,S. 64 Anm. 4 . Spindler 1982, S. 92 bis S. 95 Anm. 1. Spindler 1982, S. 83, 84.

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Denkweise allerdings aus dem Milieu des achtundvierziger Liberalismus mehr und mehr ins konservative Lager geführt habe. 40 Länger und enger verbunden blieb Gierke dem konservativeren Kern des Vereins, also Schmoller und Adolf Wagner, die 1872 den VfS gegründet hatten, - gegen den Volkswirtschaftlichen Kongress, der es ablehnte, überhaupt von einer Arbeiterfrage zu reden und natürlich auch von Genossenschaften und Gewerkschaften. Schmoller war nur wenig älter als Gierke, wurde auch fast 80 Jahre alt und 1908 mit dem Adelstitel geehrt. Er war Nationalökonom aber auch Wirtschafts- und Sozialwissen‐ schaftler und als Sozialpolitiker engagiert. Brentano, Schmoller und Wagner führten zunächst den Kampf gegen das sog. Manchestertum. Bei der Gründungsversammlung 1872 wendet sich Schmoller sehr deutlich gegen die „doktrinäre Manchesterschule“, was ihm Kritik einbrachte. Die Breslauer Zeitung soll z.B. darüber berichtet haben: „Dort wird wüste und wilde Klassenagitation gemacht; der wildeste Parteigeist feiert Orgien.“ 41 Darauf bezog sich auch der zunächst spöttisch gemeinte Begriff des „Kathedersozialismus“. In den ersten Jahren des Bestehens wurden im Verein eine Reihe sozialpolitischer Verbesserungsvorschläge entwickelt: Brentano forderte in der Gründungsveranstal‐ tung Arbeitszeitbeschränkungen für Frauen und Kinder, Schmoller beschäftigt sich mit Arbeitskämpfen und Schlichtungsstellen, wobei die Koalitionsfreiheit im Verein grundsätzlich befürwortet wurde. Spätere Tagungen und Gutachten beschäftigten sich u.a, mit den verschiedenen Formen und Beispielen der Gewinnbeteiligung von Arbeitern ( 1873) , der Reform des Lehrlingswesens ( 1877 ), und mit Alters- und Invalidenkassen.42 1874 erstellt Schmoller ein Gutachten für den Verein über die Entwicklung der Arbeitsverträge. Die Arbeiter könnten zwar zunehmend freie Verträge schließen, würden dann aber den Fabrikordnungen der Unternehmer unterworfen. Schmoller, wie auch Friedrich Bitzer gaben mit vielen Beispielen einen Eindruck von der uner‐ träglichen Behandlung durch einseitige Anordnung der Unternehmer.43 So wurde dann auch die einseitig gegenüber Arbeitnehmern geltende Strafbarkeit des Kon‐ traktbruchs kritisch diskutiert. Allerdings darf die Bezeichnung „Kathedersozialisten“ nicht falsch verstanden werden. Zu den Sozialdemokraten und Sozialisten im Bismarckreich gingen sie genauso stark auf Distanz wie zum Manchesterkapitalismus. Das galt besonders für den konservativen Gründungskern um Schmoller, der schon in der Eröffnungsrede betont, dass man von der Notwendigkeit von Reformen erfüllt sei, aber keinen Umsturz aller bestehenden Verhältnisse predige, gegen alle sozialistischen Elemente 40 Stutz 1922, S. XXX. Weitere Hinweise zur Wendung Gierkes vom Liberalen zum Konservati‐ ven bei Spindler 1982, S. 80,81. 41 Spindler 1982, S. 95. Zum Ganzen auch : Conrad 1906. 42 Spindler 1982, S .95-97. 43 Schmoller in: Schriften des VfS, Bd.7,1874 S. 70 f.; Spindler 1982 S. 128 -130.

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protestiere und nach allen Seiten das Bestehende anerkenne. Auch Schriftführer Held betont: „Wir sind vor allem ganz unbedingte Gegner der Sozialdemokratie und halten diese Richtung, die eine materialistische, rechtsfeindliche, alle Ideale zerstörende Politik vertritt, für eine durchaus zu bekämpfende Partei. Wir wollen jedoch die Wurzeln des Übels angreifen, die sozialen Mißstände“44. Gierke hatte auch auf seinem Weg vom Sozialliberalen zum Konservativen mit sozialen Zielen seine Mitstreiter gefunden, die alle auf der Suche nach einer Art drittem Weg für die soziale Gestaltung des Reiches waren. Bei allem sozialen Engagement schwieg der Verein auffällig zum Sozialistenge‐ setz ab 1878. Auch wenn er sich offiziell einer Stellungnahme enthielt, so fanden sich bei ihm wohl doch eher Befürworter dieses Gesetzes und es stimmten Reichs‐ tagsabgeordnete aus seinen Reihen für die Verlängerung des Gesetzes.45 Das Verbot betraf ja nicht nur die sozialdemokratische Partei, mit der man sich nicht anfreunden konnte, sondern auch die Bildungsvereine, die Koalitionen und allgemein Arbeiter‐ vereine, in denen sie Einfluss hatte oder wo er nur vermutet wurde. Wenn man gera‐ de erst den Wurzeln germanischen Genossenschaftswesens auf der Spur war und die freie Assoziation der arbeitenden Klassen in ihrer Bedeutung für Wirtschaft und Staatswesen herausgearbeitet hat, dann hätte es nahe gelegen, sich dazu in irgendei‐ ner Weise zu verhalten, auch ohne Parteigänger zu sein, zumal die behaupteten terro‐ ristischen Verstrickungen für die gesamte sozialistische und sozialdemokratische Be‐ wegung nicht erkennbar waren. Sehr viel später macht Goldschmidt in seiner An‐ sprache zu Gierkes 80. Geburtstag eine Andeutung, dass dieser sich allen Versuchen, den genossenschaftlichen Gedanken zur Grundlage von Forderungen gegen den preußischen Obrigkeitsstaat zu machen, entgegen gestellt habe. Weil dies auch Auf‐ schluss über das Staatsverständnis des älteren konservativen Gierke gibt, soll das Zi‐ tat vollständig wiedergegeben werden: „Freilich haben auch manche Stürmer und Dränger unter unseren Publizisten den germanischen „genossenschaftlichen Rechts‐ gedanken“ angerufen, um daraus politische Folgerungen zu ziehen, um daraus das Rüstzeug für die Forderung zu gewinnen, dass der sog. Obrigkeitsstaat durch den „genossenschaftlichen Volksstaat“ ersetzt werde. Dass solches Beginnen nicht auf Ihren Beifall rechnen kann, haben Sie wiederholt, insbesondere in Ihrem am 4. Mai 1919 gehaltenen Vortrage „Der germanische Staatsgedanke“ betont. Hier haben Sie in geschichtlicher Treue festgestellt: Der genossenschaftliche Rechtsgedanke ist eine Ursache der Schwäche des germanischen Staates gewesen. Nur der Vermählung ger‐ manischen Geistes mit dem antiken Gedanken der Staatssouveränität, wie sie sich in

44 Spindler 1982, S. 99 und S. 102. 45 Spindler 1982,S. 100,101 mit Verweis auf einen Bericht von Rosa Luxemburg und auf das Ver‐ halten des Vereins gegenüber späterer Repressionsgesetzgebung.

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der preußischen Monarchie vollzogen hatte, verdanken wir die Wiedergeburt des Reiches,…“46 Während Gierke immer noch am Genossenschaftsrecht arbeitete, veränderte sich vieles im deutschen Reich. Die Industrialisierung entwickelte sich stürmisch, es gab erste Krisen mit sozialen Konflikten, die Arbeiterschaft wuchs und wurde auch selbstbewusster und radikaler, die Konflikte mit der Arbeiterbewegung nahmen zu. Das Sozialistengesetz wurde bis 1890 verlängert, aber auch die Bismarcksche Sozi‐ alreform mit den drei großen Sozialversicherungen wurde eingeführt. Durch seine Verbindung mit dem VfS hat Gierke das alles aufmerksam mitverfolgen können. Ge‐ nossenschaften standen nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses und entwickelten sich auch nicht so, wie er es erhofft hatte. Immer mehr drängte die Auseinander‐ setzung mit dem neu zu kodifizierenden Privatrecht. Er brach deshalb die Arbeit am Genossenschaftsrecht nach drei Bänden vorläufig ab, sicherte ihm aber den Einfluss, indem er aufzeigte, dass Formen und Grundsätze deutschen Genossenschaftswesens auch in der von der Pandektistik beherrschten Rechtsprechung existierten.47

3.) Der BGB Entwurfs - kritische Gierke Es änderte sich gegen Ende der 80er Jahren auch viel für Gierke. Der nun 47- jähri‐ ge konnte seinen beruflichen Standort verändern, vom provinziellen Breslau über Heidelberg in die Hauptstadt Berlin und erhielt an der dortigen Juristenfakultät 1887 den Lehrstuhl seines Lehrers Beseler, was eine hohe Anerkennung für seine bisheri‐ ge Arbeit darstellte. Mit dem Entwurf des BGB hatten sich nicht nur seiner Meinung nach die Pandektisten der romanistischen Richtung durchgesetzt und er musste sich 1888 rasch der Kritik am Entwurf des BGB und damit dem Privatrecht zuwenden. Plötzlich herrschte ein politisch bedingter Zeitdruck, der lange historische Vorarbei‐ ten nicht mehr zuließ, und langjährige Nacharbeit im Privatrecht nötig machte.48 Jetzt war er wieder in seinem Element mit seinem Engagement für die deutsch‐ rechtliche, soziale Ausrichtung der neuen Privatrechtsordnung. Und er brachte aus seinem historischen Verständnis eine Reihe wichtiger Kritikpunkte und Vorschläge ein und warnte: „der sittliche und soziale Beruf einer neuen Privatrechtsordnung scheint in seinen Horizont überhaupt nicht eingetreten zu sein“. Er kritisierte eine „individualistische und einseitig kapitalistische Tendenz“, „eine gemeinschaftsfeind‐ liche auf Stärkung des Starken gegen den Schwachen zielende, in Wahrheit antiso‐ ziale Richtung.“ Das alles sei nicht mit Absicht geschehen, sei aber ein Ergebnis,

46 Spindler 1982, S. 81. Goldschmidt 1921 Sp. 711. 47 Gierke 1887, Vorwort S.V; S. 1. 48 Janssen 1974, S. 71 ff.

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„das überall hervorgebracht werden muss, wenn der römische Rechtsgedanke über den germanischen triumphiert.“49 Wieder wurde der Gegensatz zum römischen Recht, das die ungebundene Ver‐ tragsfreiheit und Vermögensverfügung des Einzelnen in den Mittelpunkt stellt, zum Ausgangspunkt. Große soziale Verwerfungen sah er z.B. wenn die unbegrenzte Verfügungsmacht des Eigentümers durch das geplante Prinzip „ Kauf bricht Miete“ und noch vielmehr „ Kauf bricht Pacht“ umgesetzt würde.50 Er beschäftigte sich mit der Bindung von Grundeigentum, sprach von der ebenso absurden wie gefährlichen Erstreckung des absoluten Eigentumsbegriffs auf Grund und Boden.51 Es verwun‐ dert angesichts seiner vielen Arbeiten zu dieser Frage eigentlich, dass bisher sein Einsatz für eine soziale Bodenpolitik (außer bei Repgen, 2001) kaum gewürdigt worden ist. Er kritisiert die Fiktion der juristischen Person, beschäftigt sich mit dem Anerbenrecht, mit Erbpacht, mit dem Familienrecht, mit dem Wucher und der dadurch hervorgerufenen Überschuldung und natürlich mit dem Obligationenrecht und kritisiert besonders die „wenigen glatten Sätze über den Dienstvertrag“. Der Eintritt in einen gewerblichen Organismus, in einen jener in Wahrheit zu modernen Herrschaftsverbänden ausgestalteten Zusammenhänge müsse eigenartige gegenseiti‐ ge Verbindlichkeiten von sittlichem und sozialem Gehalt erzeugen. Wer den wirt‐ schaftlichen Herrschaftsverband als personenrechtliches Gebilde begreift, der muss sich seiner Meinung nach für eine Verbindung des Obligationenrechts mit dem Personenrecht und damit dem Familienrecht einsetzen.52 Als wichtigste Korrekturen schlägt er - nach dieser fundamentalen Kritik eigentlich nur wenige - Verbesserun‐ gen für Arbeiter bei Kündigungen und Kündigungsfristen vor, außerdem Fürsorge in Krankheitsfällen, die zunächst auf viel Widerstand gestoßen ist, und Ersatzpflichten hinsichtlich im Dienst erlittener Schäden.53 In dem 1889 in Wien gehaltenen Vortrag „Die soziale Aufgabe des Privatrechts“ erläutert er seine Kritik am Einfluss des römischen Rechts zunächst noch abstrak‐ ter mit Ausführungen zum Verhältnis von Privatrecht, öffentlichem Recht und Sozialrecht, um dann zu entwickeln, dass im deutschrechtlichen Zusammenhang kein Recht ohne Pflichten bestehen dürfe. „Das pflichtenlose Eigentum hat keine Zukunft.“ Das germanische Recht habe eine ihm immanente Schranke, während das romanistische schrankenlose Befugnisse habe.54 Dabei spitzt er seine Vorstellungen in einem berühmten Satz zu: „Schroff ausgedrückt: in unserem öffentlichen Recht muss ein Hauch des naturrechtlichen Freiheitstraumes wehen und unser Privatrecht Gierke 1889 a, S. 2-4; Wolf 1939, S. 559 f. Gierke 1889 a, S. 74 f. Gierke 1889 a, S. 23 . Gierke 1889 a, S. 104,105. Konsequent vertritt er seine sozialpolischen Forderung auch nach dem ersten Weltkrieg in seinem Artikel : Parteilose Wähler 1919. 53 Gierke 1889 a, S. 247. 54 Gierke 1889 b, S. 490, 492. 49 50 51 52

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muss ein Tropfen sozialistischen Öles durchsickern.“ 55 Wobei sich mir bis heute nicht erschlossen hat, worin der „Hauch“ und der „Tropfen“ genau bestehen sollten. Er bleibt – anders als im Genossenschaftsrecht- trotz vieler berechtigter Kritikpunkte im Einzelnen juristisch vage und ungenau. Ein Gemeinschaftsgeist müsse das Privatrecht von unten auf durchdringen und das gelte in gesteigertem Maße, wenn es zugleich dauernde Personenverbindungen setzt und ordnet.56 Und auch bei der Vertragsfreiheit dürfe es nur um die „vernünf‐ tige Freiheit“ gehen „Schrankenlose Vertragsfreiheit zerstört sich selbst. Eine furcht‐ bare Waffe in der Hand des Starken, ein stumpfes Werkzeug in der Hand des Schwa‐ chen, wird sie zum Mittel der Unterdrückung…, der schonungslosen Ausbeutung geistiger und wirtschaftlicher Übermacht.“ 57 Das Privatrecht müsse im heutigen Le‐ ben die großen wirtschaftlichen Herrschaftsverbände als personenrechtliche Gebilde begreifen und ausgestalten, der Dienstvertrag sei kein reines Schuldverhältnis, son‐ dern gliedere die Persönlichkeit selbst einem wirtschaftlichen Organismus ein. Auch hier verweist er auf notwendige Ergänzung und Umbildung des Obligationenrechts durch familienrechtliche Sätze und bereits auf das bisherige Gesinderecht. Auch der großartige Versuch der deutschen Sozialversicherungsgesetzgebung „würde haltlos in der Luft schweben, wenn er mit unverbundenen Individuen und nicht mit vorge‐ fundenen Verbandseinheiten rechnete.“58. Ein Verweis auf die verbliebenen staatli‐ chen Aufgaben im Sozialrecht, die auf den privatrechtlichen Verbänden aufbauen können. An Vorarbeiten für dieses personenrechtliche Gebilde lässt sich bis zu dieser Zeit nur wenig im 2. Band des Genossenschaftsrechts von 1873 finden. Dort stellt er aber die personenrechtliche Gemeinschaft in einen prinzipiellen Gegensatz zur Körperschaft, weil sie trotz äußerlicher Ähnlichkeit auf entgegen gesetzte Prinzipien zurückzuführen sei, weil sie keinen konstituierenden Willensakt, keine Satzung, kei‐ ne Mitgliedschaft, keine Organisation habe.59 Es geht ihm also keinesfalls mehr um die Ergänzung des Herrschaftsverbands durch genossenschaftliche Elemente, wie das früh Sinzheimer und ihm später darin folgend Dilcher gedeutet haben.60 Es geht ihm in der Privatrechtskritik um einen deutschrechtlichen, stark philosophisch ge‐ prägten Personenbegriff, der den Willen des Individuums mit Eintritt in die Gruppe als durch den Willen der andern beschränkt sieht, sodass sie der Person in einer be‐

55 Gierke 1889 b, S. 486. Leider ist Erik Wolf im Quellenbuch ein Nachdruckfehler unterlaufen. Er schreibt vom „Freiheitsraum“, was nicht dem Originalvortragsmanuskript aus Wien, S. 13, entspricht. 56 Gierke 1889 b, S. 489. 57 Gierke 1889 b, S. 499. 58 Gierke 1889 b, S. 506,507. 59 Gierke 1873, S. 923 f., 934 f. 60 dazu Spindler 1982, S. 181 -183: zu Sinzheimer 1922, S. 1 f. und Dilcher 1974/75 S. 338 f.

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stimmten Lebenssphäre als von vornherein gegebene nähere Bestimmung anhaftet.61 Die Stellung im Herrschaftsverband wird zum Wesensmerkmal der Person, was allerdings zuallererst eine Legitimation bestehender Herrschaftsverhältnisse bewirkt. Die konkreten Folgen, die das für die Ausgestaltung eines Dienstverhältnisses und seiner Konflikte haben soll, werden zunächst nicht weiter behandelt. Mit diesem personenrechtlichen Verhältnis bei dauernden Schuldverhältnissen wird aber das eingeführt, worauf Gierke sein neues Gemeinschaftsrecht aufbaut. Allerdings geht Gierke auch in seinem Wiener Vortrag schon weiter mit der Feststellung: “Als monarchisch organisiertes Ganzes, dessen alleiniger Träger der Unternehmer ist und dem Angestellte und Arbeiter als dienende Glieder angehören, tritt ein solcher Verband nach innen und außen auf“. Das ist, auch anders als Dilcher es deutet62, keine einfache Feststellung von etwas Bestehendem mehr, sondern be‐ reits eine rechtliche Einordnung in sein deutschrechtliches Begriffsinstrumentarium, was er später in seiner Rede über das Wesen menschlicher Verbände, 1902, noch näher erläutern und gegen Kritik verteidigen wird. Und so wird der Herrschaftsver‐ band nicht mehr im Gegensatz zur freien Assoziation wie im Genossenschaftsrecht begriffen, sondern als germanisches Rechtsinstitut und damit nicht mehr der Kritik des Systems unbegrenzter Machtausübungsmöglichkeiten unterworfen, - zumindest wenn Gierkes Vorschläge zur personen- und gemeinschaftsrechtlichen Begrenzung beachtet würden. Sogar monarchische Qualität wird der Unternehmensspitze ohne weitere Begründung und unter Kenntnis der sozialen Defizite der konkreten Indus‐ trieentwicklung zuerkannt. Wer mit solcher Wucht gegen einen zentralen Gesetzesentwurf argumentiert, wird entweder zum Systemgegner gestempelt oder aber zur Korrektur eingebunden. Bei‐ des ist Gierke nicht widerfahren. Immerhin ist bekannt, dass Bismarck vom ersten Entwurf des BGB auch nicht begeistert war und Gierke war von Preußen als Mit‐ glied der 2. Kommission zur Überarbeitung des Entwurfs vorgeschlagen worden, die 1890 ihre Arbeit aufnahm. Aber es hatte Widerstand irgendwo im Süden gegeben und nicht Gierke sondern Rudolf Sohm wurde als Germanist in die 2. Kommission berufen.63 Ich kann nur spekulieren, wie er das verarbeitet haben mag. Letztlich hat er sich mit dem BGB ausgesöhnt, obwohl es sich in seiner Grundstruktur nicht geändert hat und anerkannt, dass die meisten Änderungen in der Richtung lägen, für die er in seiner Kritik am 1. Entwurf eingetreten sei.64. Dass es zu Ergänzungen beim Dienstvertrag und zu Einschränkungen der unbegrenzten Eigentümermacht und Vertragsfreiheit gekommen war, zeigt, dass er mit seiner Kritik durchaus erfolg‐ 61 Spindler 1982, S. 132 bis 136 mit Hinweisen auf Gurwitsch, Janssen und Bezügen zum System der Sittenlehre von Fichte; Gierke 1873, S. 928. 62 Gierke 1889 b, S. 507; Dilcher 1974/75, S. 338. 63 Eckert 2003, S. 519 f. S. 523; auch Stutz 1922, S.XXXIV, der Gierke als den Denker und Sohm als den Dichter des deutschen Rechts bezeichnete. 64 Gierke 1896, S. 6.

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reich war. Das lag wohl auch an Sohm, der als Germanist auch auf die soziale Einbindung und Entwicklung achtete.65 Die Zeitgenossen betonen, Gierke habe das neue Gesetz loyal erläutert und kom‐ mentiert. Trotzdem hat er sich geleistet, 1895 und damit deutlich vor der Verabschie‐ dung des BGB, das Privatrecht Band I, Allgemeiner Teil und Personenrecht, zu veröffentlichen und damit seine Sichtweise zu vertiefen, was im Abschnitt über den Treudienstvertrag noch aufgegriffen wird. Und obwohl er es zunächst noch abgelehnt hatte, soziale Bindungen in Sondergesetze zum Privatrecht zu verlagern,66 schien er sich mehr darauf zu konzentrieren, nun auch neben dem BGB die Entwick‐ lung in seinem Sinne voranzutreiben. Das gilt nicht nur für das Handels- und Gesellschaftsrecht, sondern auch für die rechtliche Behandlung der Gewerkschaften. In der Zeitspanne des auslaufenden Sozialistengesetzes ist z.B. die verstärkte öffentliche Erörterung des Koalitionsrechts zu beobachten, an der er sich nicht nur in einem Gutachten zum 19. deutschen Juris‐ tentag 1888 intensiv beteiligt. Er möchte Gewerkschaften als freie Körperschaften wie andere Standes- und Berufsverbände anerkannt wissen und spricht sich gegen polizeiliche Schikanen aus.67 Das hat er auch noch 1896 wiederholt, wo er sich ge‐ gen die Einschränkungen im BGB gegenüber sozialpolitisch ausgerichteten Vereinen wendet, die erklärtermaßen Arbeitervereine treffen, „polizeiliche Handlangerdienst leisten“ und schikanieren sollen68 1890 wird auch der VfS mit einer Tagung zu „Arbeitseinstellungen und die Fort‐ bildung des Arbeitsvertrags“ aktiv. Ein Auslöser war, dass die nunmehr selbstbe‐ wusstere und organisierte Arbeiterschaft die Unternehmen mit Arbeitseinstellungen unter Druck setzten. Während Brentano nach wie vor für die freie Vereinigung der Arbeiter als Voraussetzung für den Kampf um bessere Arbeitsbedingungen eintrat, machte sich bei Gierke langsam wie bei den andern konservativen Mitgliedern eine gewisse Skepsis gegenüber den sozialdemokratisch beeinflussten Gewerkschaften breit.69 Deutlicher wurden die Befriedungswirkung, die Rolle der Schlichtungsstel‐ len und die Disziplinierungswirkung der Haftung des Gewerkschaftsvermögens für Schäden aus Arbeitskämpfen hervorgehoben,70 obwohl Gierke neben der Integrati‐ on früher die Selbstorganisation, die soziale Emanzipation und die ökonomische Interessensdurchsetzung in den Vordergrund gestellt hatte. Diese Tendenz verstärkte sich in den folgenden Jahren, z.B. als darüber gestritten wurde, inwieweit Gewerk‐ schaften Druck auf ihre Mitglieder ausüben dürfen. Gierke wollte insbesondere die 65 66 67 68 69 70

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mehr zu Sohm: Spindler 1982, S. 89, 90,100,107. Gierke 1889b, S. 488 f. Spindler 1982, S. 81, 82. Gierke 1896, S. 49 f. Ausführlich zu der Tagung: Teuteberg 1977, S. 58 f., 60 f. Schriften des VfS Bd. 47 (1890), S. 273 f, wo Gierke die Hauptpunkte der Debatte zusammen‐ fasst. Spindler 1982, S. 83.

Gefahr der Tyrannei der Sozialdemokratie gegen einzelne Gewerkschaftsmitglieder zurückdrängen.71 Noch später beim evangelisch sozialen Kongress, 15. Verhandlung 1904, erschienen ihm eigentlich nur noch die christlichen Arbeitervereine förde‐ rungswürdig, weil sozialdemokratisch beeinflusste Organisationen auf die Abwen‐ dung von Staat und Vaterland hinzielten. Das sei eine Gefahr für die Persönlichkeit, denn die volle Persönlichkeit habe nur, wer dem Vaterland, dem Staat von innen he‐ raus mit dem was dieser größten weltlichen Gemeinschaft zukomme, angehöre.72 Bevor ich seine weitere Entwicklung im privatrechtlichen Gemeinschaftsrecht darstelle möchte ich kurz ein Kapitel einschieben

4.) Der Kathedersozialist Gierke So wie die Haltung zu Gewerkschaften lassen sich seine zeitgenössischen Bezüge an der Mitarbeit im VfS anschaulich nachzeichnen. Heinrich Herkner würdigte seine Rolle im Verein 1921 an seinem Grab mit einfühlsamen Worten: „Wer den Entschla‐ fenen nur als politisch rechts stehenden Juristen kennt, der mag darüber erstaunen, dass er sich in diesem nationalökonomischen Kreis der ob ihres angeblichen Radika‐ lismus viel gescholtenen ´Kathedersozialisten´ so gern und eifrig betätigt hat.“ „In jeder erdenklichen Beziehung, als Referent, Debattenredner und Vorsitzender bei vielen Generalversammlungen, wie als Mitglied und Vizepräsident des Ausschusses, hat er Jahrzehnte hindurch dem Verein wertvolle Dienste geleistet.“73 1890 wurde er in den geschäftsführenden Ausschuss gewählt, 1911 in den Vorstand. Und weil die Tätigkeit des Vereins nicht nur in seinen Schriften gut dokumentiert ist, sondern auch seine Entwicklung vielfältig aufgearbeitet und analysiert wurde,74 lässt sich hier viel über die sozialpolitischen Kontroversen erfahren, die Gierke nicht nur beobachtet, sondern bei denen er sich auch eingebracht hatte. Das Aufsehen erre‐ gende war, dass Gierke als einer von ganz wenigen Juristen in einem Verein von Nationalökonomen, Soziologen und Sozialpolitikern mitarbeitete. Das war etwas anderes, als sich in der juristischen Gesellschaft zu Berlin oder bei Juristentagen zu engagieren, was er mit vielen Gutachten und Beiträgen selbst‐ verständlich auch tat. Aber hier war er interdisziplinär unterwegs, hatte Kontakte nicht nur zu Schmoller, sondern etwa auch zu Friedrich Naumann, Adolf Wagner oder dem Arbeitsrechtler Heinz Potthoff. An herausgehobener Stelle war ansonsten nur der damals schon ältere, renommierte nationalliberale Jurist Rudolph von Gneist im Verein tätig, um den sich die Gründer für den Vorstand besonders bemüht hatten 71 72 73 74

Spindler 1982, S. 84, Schriften des VfS, Bd. 76 (1898 ) S. 398. Spindler 1982, S. 84,85. Spindler 1982, S. 92, 93. z. B. Boese 1939; Lindenlaub 1967; und kritisch aus marxistischer Sicht: Völkerling 1959.

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und der ebenfalls sozialpolitisch engagiert war. Gneist fungierte auch von Beginn bis 1874 als erster Vorstand, scheint sich dann aber wieder mehr um den Juristentag und die juristische Gesellschaft gekümmert zu haben. Ebenfalls aufschlussreich ist Gierkes aktive Mitgliedschaft im Evangelisch- so‐ zialen Kongress, der 1890 gegründet wurde. Das Datum steht ja nicht nur für das Auslaufen des Sozialistengesetzes, sondern auch für die erstarkte Rückkehr der Sozialdemokraten und ihrer Organisationen und nicht zu vergessen, für den Rück‐ tritt Bismarcks. Dies alles machte, wie nicht nur viele im VfS erkannt hatten, die Beschäftigung mit der sozialen Frage und dem Umgang mit der Sozialdemokratie auch für die evangelischen Sozialreformer umso dringender, denn man hatte gelernt, dass sie nicht mehr verboten, sondern ertragen und eingefügt werden musste. Bei dem Kongress stand er dem sozialliberalen Theologen Naumann näher, als dem sehr konservativen Gründer Stöcker.75 1895 wurde Gierke im Aktionskomitee aktiv Um einen Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklung während Gierkes wei‐ terer Arbeit an der personenrechtlichen Gemeinschaft zu bekommen, waren mir die Debatten im VfS zur Beziehung von monopolistischer Entwicklung, Kartellen und Sozialreform bis zum Kriegsbeginn 1914 wichtig. Deutschland war in der Zeit von 1900 bis 1910 zur zweitgrößten Industrienation der Welt geworden. Der Aufschwung bis zum ersten Weltkrieg wurde hauptsächlich von immer größeren Monopolbetrieben getragen, die Zahl der Arbeiter stieg an und die Arbeitsbedin‐ gungen verbesserten sich zeitweise auch. Auf der Vereinstagung 1894 bezeichnete Schmoller den Monopolbetrieb als eine Art „sozialistische, gemeinwirtschaftliche, volkswirtschaftliche Organisation“, als ein Mittel zu Krisenbeseitigung und Preis‐ senkung. Je größer er sei, desto sicherer würde die Behandlung nach sozialen Gesichtspunkten.76 Diese Hoffnung oder auch Illusion führte zur Unterstützung ex‐ pansiver Politik mit sozialpolitischen Argumenten z.B. der Ausgaben zur Finanzie‐ rung der Kriegsflotte. Weil sich die Hoffnungen nicht einfach erfüllten, Stagnation eintrat und bis 1914 dann doch wieder die Arbeitskämpfe zunahmen, wurde 1905 noch einmal etwas kritischer diskutiert. Diesmal vertrat Schmoller noch deutlicher unter dem Einfluss von Gierke, das Wesen der Kartelle liege im „demokratischgenossenschaftlichen Prinzip“ der Deutschen und sei deswegen zu begrüßen.77 Auch der erste Weltkrieg wurde nicht nur aus patriotischen, sondern auch aus sozialpolitischen Gründen von vielen unterstützt. Gierke, der selbst in den zwei Einigungskriegen 1866 und 1870/71 aus Überzeugung gedient hatte, lobt, dass mit Kriegsbeginn auch der Gegensatz der Stände und der wirtschaftlichen Interessen hinweggefegt sei und meinte darin den deutschen Volksgeist in seiner Herrlichkeit geschaut zu haben. Er lobt die Überwindung der Arbeitslosigkeit und die engere 75 Spindler 1982, S. 94. und zu weiteren Tagungsbeiträgen: S 13, 84,85. 76 Nachweise bei Spindler 1982, S.107. 77 Spindler 1982, S. 108,109.

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Verflechtung von Individualrecht und Sozialrecht während des Krieges, womit sich auch in zukünftigen Zeiten der deutschrechtliche Gedanke der Gemeinschaft entfal‐ ten könne.78 Er stand damit nicht alleine. Auch Schmoller unterstützte den Krieg, genauso wie Potthoff und Sinzheimer insbesondere mit Blick auf das sich entwi‐ ckelnde Arbeitsrecht. Der Krieg müsse in Fragen der Arbeitsorganisation und der Arbeitsbedingungen „Lehrmeister des Friedens sein“ und enthalte Keime für die Weiterbildung des Arbeitsrechts im Frieden.79

5.) Der Treudienstvertrags- Gierke Das sind grob die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Hintergründe, vor denen Gierke seine Konstruktion der personenrechtlichen Gemeinschaft weiter ausbaut, die er ohne viel Vorarbeit in die BGB - Kritik eingebracht hat. Sie wird 1895 im 1.Band des Privatrechts zur personenrechtlichen Gemeinschaft kraft herrschaftlicher Gewalt weiterentwickelt. Dort wird sie nach der personenrechtlichen Gemeinschaft zur gesamten Hand unter einem eigenen Gliederungsparagraphen 80 a behandelt. Sie sei im Rechtssinne ein individualistisches Gebilde, „enthält jedoch sozialrechtliche Keime.“ Hinzu komme, dass hier ein Gemeinschaftsverhältnis infolge einer Überund Unterordnung bestehe. Nur in einer kurzen Anmerkung wird darauf verwiesen, dass der Gewaltunterworfene zu Gehorsam und Dienst und der Herr zu Schutz und Fürsorge verpflichtet sei.80 Das ist etwas anderes, als nur eine Feststellung. Hier ordnet das Gemeinschaftsrecht Personen in einem Herrschaftsverband nach ihrer unterschiedlichen Stellung ein, es geht nicht mehr um ihre gleichgeordnete Stellung in der Genossenschaft. Oder, wie Gierke es ausdrückt: „Deutsches Recht ist Gemeinschaftsrecht. Es stellt auch im Privatrecht das Individuum nicht aus dem ge‐ sellschaftlichen Zusammenhange heraus. sondern misst alle Rechte, die es dem ein‐ zelnen zuteilt, an ihrer Funktion im Leben des Ganzen…Tief in das Privatrecht führt es die Verbundenheit der Person durch natürliche und gekorene Gemeinschaftsver‐ hältnisse“81 Spätestens hier wird auch deutlich, dass er nicht gleiches Recht für alle anstrebt und dass er unter Sozialrecht etwas anderes versteht, als wir heute. Vereinfacht gesagt, liegt dieses Rechtsgebiet für ihn quer zur Aufteilung von Privatrecht und öffentlichem Recht, sodass er von einem privatrechtlichen Individualrecht ausgeht, insoweit es die menschlichen Willensträger als Einzelwesen in Beziehung setzt, und von einem privatrechtlichen Sozialrecht, das alles umfasst, was den Einzelnen in 78 79 80 81

Gierke 1914b; Gierke 1916, S. 257,260; Spindler 1982, S. 109 f. Spindler 1982 ,S. 115 f. Gierke 1895, S. 697 f., S. 701; Spindler 1982, S. 138-140 . Gierke 1896, S. 39.

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Organisationen eingliedert, während man nach wie vor im öffentliche Recht sozial‐ rechtliche Vorschriften findet, mit denen der Staat alle bindet, wie Arbeitsschutzge‐ setze, Sozialversicherung oder Tarifgesetze.82 Aber es existiert für ihn unendlich viel mehr Sozialrecht, das nicht Staatsrecht ist. Wenn man sich eine Vorstellung davon machen will, welche konkrete Privatrechtsstruktur er anstrebte, kann man von Gierke erfahren: Der allgemeine Teil des BGB würde ganz gestrichen. Es würde mit dem Personenrecht begonnen und mit dem Recht der Gemeinschaften und Verbände enden. Dazwischen würde das Obligationen- Sachen- und Familienrecht behandelt. Oder man sollte den Gesamtplan für das BGB zunächst aufgeben und schrittweise mit einem deutschen Obligationenrecht beginnen83. Dort könnte dann ein Gesamtar‐ beitsvertrag geregelt werden, wie ihn der Schweizer Roman Boos entworfen hat, dessen Monographie Gierke begeistert.84 Dabei spricht viel für die ausführlichere Regelung des Arbeitsvertrags im BGB, wie es auch Lotmar für das Schweizer ZGB erreicht hatte, aber das hätte unter Gierke eine stark personenrechtliche Komponente gehabt. Deutliche Bezüge dieser Konzeption zu einem Mitstreiter gibt es auch hier, und zwar zu der ökonomischen Arbeit von Wagner.85 Doch Gierke war noch nicht zufrieden. Die Herleitung aus dem Familienrecht war noch undeutlich und auch nach welchen Prinzipien die gegenseitigen Verpflich‐ tungen konkretisiert werden sollten. Deshalb stieg er mit über 70 Jahren zur Vorbe‐ reitung des dritten Bandes des Privatrechts nochmals in die Rechtsgeschichte ein und fand den germanischen Treudienstvertrag aus fränkischer Zeit, der aus einer vertragsmäßigen Erweiterung des hausherrlichen Verbandes hervorgegangen sei. Da gab es die gegenseitigen Treueversprechen zwischen Dienstherrn und Treudiener, diese Treue sollte zugleich den tieferen sittlichen Zweck als auch eine Rechtspflicht im Gemeinschaftsverband darstellen, aus ihr sollten eine Reihe weiterer Rechte und Pflichten entspringen, z.B. auch eine Fürsorgepflicht, die keines eigenen Haftungs‐ grundes mehr bedurften oder auch in frühen Formen eine Befehls- und Zuchtgewalt einschließlich körperlicher Züchtigung.86 Zur Über- und Unterordnung kam jetzt auch noch das Element der gegenseitigen, hingebungsvollen Treue. Offenbar habe sich daraus in steigendem Maße ein entgeltlicher Arbeitsvertrag entwickelt als ei‐ genartiger Schuldvertrag mit gleichzeitig personenrechtlicher Wirkung. Der älteste ausgeprägte Typus dieses Vertrages sei der Gesindevertrag. Es mag alle diese Vertragstypen gegeben haben, aber die historische Verbindung, die er zwischen ihnen und dem modernen Arbeitsvertrag herstellt, ist in dieser Schrift nicht überzeugend, weil er einmal höhere und niedere Dienste nicht ausein‐ 82 83 84 85 86

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Gierke 1895, S. 26,27; Gierke 1914 a, S. 62 f.; Spindler 1982 S. 155 f. Gierke 1896, S. 54 f. Gierke 1917, S. 816 f. 836 f. Wagner 1894, der wiederum Gierke und Menger zitiert. Spindler 1982, S. 158- 160. Gierke 1914 a, S. 40 f.; Spindler 1982, S. 143 f.

ander hält und vor allem die Bedeutung der gewerblichen Arbeitsverhältnisse des Mittelalters praktisch nicht wahrnimmt, die sich nicht nur in größeren Handwerksbe‐ trieben, sondern auch im Baugewerbe, in der Textil- und Metallindustrie und im Bergbau entwickelten. Das holte erst der Rechtshistoriker Ebel in den 1930er Jahren nach und er kam zu anderen historischen Vorläufergebilden.87 Kein Wunder, dass Ebel auch später noch etwas „dogmatisch Gewaltsames“ und „doktrinär Romanti‐ sches“ bei Gierke kritisierte, wie eingangs erwähnt. Auch auf Bezüge im VfS konnte er hier nicht zurückgreifen. Nicht nur, dass hier die Großbetriebe bereits Tagungsgegenstand waren, sondern auch schon 40 Jahre früher, bei der Tagung 1874, hatten Schmoller und andere energisch die Unter‐ schiede zwischen den Arbeitnehmern der Großindustrie und den Hausangestellten deutlich gemacht. Im Arbeitsvertrag gehe es um eine Verpflichtung zu genau fixier‐ ter Arbeit bei ausgebildeter Arbeitsgliederung und –teilung und kaufmännischer Betriebsweise, im Gesindevertrag gehe es um allgemein dienende Tätigkeit, wobei sich aus der Treuepflicht dann erst die einzelnen geschuldet Leistungen ergeben würden.88 Die Arbeitsordnungen, die damals beobachtet werden konnten, sprachen zudem in ihrer Einseitigkeit jeder Treueverbindung Hohn. Es fällt auch schwer, in renditeorientierten Kapitaleignern in Aktiengesellschaften den familiären Unterneh‐ mer als Treuherren zu erkennen. Doch Gierke sieht als Verbindendes das immer fortwirkende Herrschaftsverhältnisverhältnis auch im modernen Unternehmen.89

6.) Nachwort Gierke hat aus guten Gründen, nämlich um einen Ansatz zu finden, die Persön‐ lichkeit und soziale Existenz der Arbeitnehmer zu schützen, auf seine altbewährte Weise wieder in der deutschen Geschichte gesucht, hat sich dabei aber meiner Ansicht nach gründlich verlaufen, was die Wurzeln des Dienstvertrags angeht und hat im Privatrecht mit der personenrechtlichen Gemeinschaft eine begriffliche Hülle geschaffen, die ideologisch sehr unterschiedlich ge- und benutzt werden konnte90, aber jedenfalls mit dem emanzipatorischen Anspruch des Genossenschaftsrechts nichts mehr zu tun hatte. Mir ist in diesem Zusammenhang auch unterstellt worden, ich hätte Gierke als Vorläufer des Nationalsozialismus dargestellt,91 was angesichts des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit nicht ganz abwegig gewesen wäre, denn dort lautete § 2: „Der Führer [des Betriebes] entscheidet der Gefolgschaft gegenüber in allen be‐ 87 88 89 90 91

Spindler 1982, S. 145- 152: Ebel 1934, S. 109 f. und Ebel 1936, S. 319 f. S. 323 f. Nachweise bei Spindler 1982, S. 148. Gierke 1914 a, S. 55 f. Neumann 1937. Tennstedt 1983, S. 87.

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trieblichen Angelegenheiten…. Er hat für das Wohl der Gefolgschaft zu sorgen. Die‐ se hat ihm die in der Betriebsgemeinschaft begründete Treue zu halten“ ( AOG vom 20.1.1934 RGBl I S. 45 ). Die Arbeitsrechtler Heinz Potthoff und Johannes Denecke (, der auch noch in der beginnenden Bundesrepublik als Richter beschäftigt wurde,) begrüßten das Gesetz als großen Schritt vom „Vermögensrecht zum Menschenrecht, vom Tauschgeschäft zum Treudienst“ und lobten den Durchbruch der deutschrecht‐ lichen Grundsätze im Treudienstverhältnis, bei dem „Gemeinschaftsgefühl und Ge‐ meinschaftswille“ die Hauptsache sind.92 Es gab aber, worauf andere hinweisen, auch während der nationalsozialistischen Zeit Juristen, die mit Gierke nichts anfan‐ gen konnten, oder Historiker wie Ebel, die sich fachlich kritisch mit ihm auseinander gesetzt haben. Aber ich halte es da genauso wie mein Kritiker: Niemand kann beeinflussen, wie nachkommende Gruppierungen seine Ideen vereinnahmen. Das gilt nicht nur für Gierke, das gilt offenbar auch für den von mir als alternativen Praktiker vorgestell‐ ten Ernst Abbe mit seinem Statut der Carl -Zeiss Stiftung, der sich 1906 gegen je‐ den Treuegedanken ausgesprochen und Verträge mit präzisen sozialen Rechten und Pflichten entworfen hat 93 und trotzdem nachher als „Führer der Volksgemeinschaft“ vereinnahmt worden sein soll. Das gleiche gilt auch für Karl Marx, der mit seiner Analyse des Warencharakters der Arbeit im Kapitalismus und der Mehrwerttheorie die Ausbeutung der Arbeitskraft beenden und die Produktionsbedingungen verän‐ dern wollte und damit nicht in entwickelt kapitalistischen, sondern in wirtschaftlich rückständigen Gesellschaften vereinnahmt worden ist. Auch wenn man ihm nicht anhängt, kann aber der von ihm erkannte Interessenge‐ gensatz im Arbeitsverhältnis nicht einfach durch unbestimmte altgermanische Treue‐ pflichten überdeckt werden. Dass der Arbeiter nicht wie eine Ware behandelt werden soll und bei seiner Tätigkeit in vielfältiger Weise geschützt werden muss ist richtig, ist aber für Gierke an die Voraussetzung gebunden, sich mit seiner ganzen Person dem Herrschaftsverhältnis zu unterwerfen und nicht daran zu denken, dass man auch die Bedingungen verändern kann unter denen die Arbeitskraft zur Ware wird. Sozialer Schutz lässt sich auch auf schuldrechtlicher Grundlage bewerkstelligen, wie neben Abbe der deutsche Arbeitsrechtler Philipp Lotmar bewiesen hat. Er war genauso sozial eingestellt, obwohl er Romanist war. 94 Doch, dass ein Sozialdemokrat wie Hugo Sinzheimer und seine Nachfolger in voller Kenntnis der historischen Herleitung auf den Treudienstvertrag zurückgegrif‐ fen haben, konnte ich nicht nachvollziehen.95 Es hilft auch nichts, diese Konstrukti‐ on als Folge der genossenschaftlichen Arbeiten Gierkes zu interpretieren, denn es 92 93 94 95

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Spindler 1982, S. 177,178. Spindler 1982, S. 175,176. Spindler 1982, S. 175-177. Spindler 1982, 170-173,181 - 183; Sinzheimer 1922, S. 1 f.

war eindeutig keine Fortführung genossenschaftsrechtlicher Ideen. Deshalb muss man, wie ich versucht habe zu entwickeln, die Arbeiten zum Genossenschaftsrecht und zum Privatrecht in ihrer Begründung und Entstehung getrennt bewerten. Die genossenschaftliche Herkunft lässt sich nur bei der ausdrücklichen Unterstützung erkennen, die Gierke trotz gewisser Vorbehalte den Vorschlägen von Sinzheimer für ein Arbeitstarifgesetz zukommen lässt und bei der Behandlung der Vereine ohne Rechtsfähigkeit.96 Gierke selbst hat sich in der Weimarer Republik eindeutig positioniert. Aus sei‐ nem Gespür für die Rolle von Verbänden war für ihn konsequent, dass man sich in diesem neuen staatlichen Gebilde einer Partei zuordnen musste, auch wenn er sich lange keiner Parteischablone hatte unterwerfen wollen und wenn ihm ein berufsstän‐ disches Wahlrecht ohne Frauen ersichtlich lieber gewesen wäre. Deshalb hat er die DNVP, die deutschnationale Volkspartei, mitbegründet, hat für sie öffentlich gewor‐ ben und den sozialpolitischen Teil ihres Programms mitgestaltet. Das geschah nicht außerhalb seiner wissenschaftlichen Arbeit, sondern in voller Übereinstimmung mit seinen Grundauffassungen, und ist ein eindeutiger Hinweis, dass er zu Lebzeiten jedenfalls von keiner anderen politischen Strömungen vereinnahmt werden wollte. Dass er 1920 wieder ausgetreten ist, hatte nicht den Grund, dass er nicht mehr mit den Zielen der Partei übereinstimmte, sondern dass eine starke antisemitische Gruppe in der Partei die Aufstellung seiner Tochter Anna zu den Wahlen zur Natio‐ nalversammlung verhindert hatte, weil sie wegen ihrer Mutter Halbjüdin war.97 Er verurteilte scharf diesen reinen Rassenantisemitismus und erläuterte die Notwendig‐ keit „Juden mit ausgesprochen deutscher Gesinnung“ nicht auszuschließen.

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96 Gierke 1917, S. 815, 819 ff.; Gierke 1900. 97 Spindler 1982, S. 118 ff. ; Gierke 1918; Gierke 1919 ;Gierke 1920; Malowitz 2014, S. 53 f .

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Tilman Repgen Gierkes Kritik am Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich

1. Einleitung Als am 1. Januar 1900 das Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft trat, wurde es von der Fachpresse begrüßt. Die Deutsche Juristenzeitung publizierte in ihrer ersten Num‐ mer des Jahres ein Gedicht von Ernst von Wildenbruch, in dem man lesen kann: „Nun wandelt durch das deutsche Vaterland / Gerechtigkeit im heimischen Ge‐ wand.“1 Wildenbruch meinte, an die Stelle eines „Recht[s] der Deutschen“ sei nun „deutsches Recht“ getreten,2 also ein in irgendeiner spezifischen Weise national ge‐ prägtes Produkt. Das „heimische Gewand“ erschien als etwas Neues.3 Der Usus mo‐ dernus pandectarum war im Urteil des 19. Jahrhunderts eine unheilvolle Zeit un‐ übersichtlicher, verwirrter Rechtsgedanken, wie es Mephistopheles in Goethes Faust eindrücklich warnend dem Schüler vor Augen gestellt hatte.4 Während im Kodifikationsstreit Anton Friedrich Justus Thibaut dem „krausen Gemisch des alten Wirrwarrs“ ein „für ganz Deutschland erlassenes Gesetzbuch“ – und zwar verbunden mit einer „gänzliche[n] schnelle[n] Umänderung“ forderte,5 nicht zuletzt, weil er das römische Recht für ungeeignet hielt,6 so hatte Friedrich Carl von Savigny ein abweichendes Konzept präsentiert. Er hielt dafür, das Privat‐ recht sei „dem Volk eigenthümlich, so wie seine Sprache, Sitte, Verfassung“7 und meinte, der „organische Zusammenhang des Rechts mit dem Wesen und Character des Volkes bewährt sich auch im Fortgang der Zeiten, und ist der Sprache zu ver‐ gleichen“.8 Für Savigny war es ausgemacht, dass sich im Volksbewusstsein das aus der Wurzel des antiken römischen Rechts erwachsene gemeine Recht durchgesetzt habe. Von ihm galt es, für die Gegenwart zu lernen. Sein Stoff musste beherrschbar

1 Wildenbruch 1900, S. 1. 2 Wie Fn. 1. 3 Seit dem 18. Jahrhundert hatte man versucht, neben das römisch-kanonische Recht ein „deut‐ sches (Privat-)Recht“ zu setzen, dazu im Überblick: Luig 2007; außerdem Repgen 2008; Klippel 2007; Scherner 2001. 4 Goethe 1999, 1. Teil, Studierzimmer II, Zeile 1968-1979, S. 87. 5 Thibaut 1814, S. 11 f. 6 Thibaut 1814, S. 18. 7 Savigny 1814, S. 8. 8 Savigny 1814, S. 11.

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gemacht werden.9 Bei Savigny trifft man auf eine Rechtsidee, die das Recht als eine gegebene Ordnung versteht, die es aus dem Volksbewusstsein zu erschließen gilt. Diese Rechtsidee prägte auch das Verständnis des Gesetzgebers.10 Niemand konnte erwarten, im BGB-Entwurf etwas anderes zu finden, als eine Erscheinungsform des im 19. Jahrhundert entfalteten Pandektenrechts. Vor diesem Hintergrund verwundert der Lobgesang Wildenbruchs auf das „deutsche“ Recht im BGB. Nüchterner geriet die Analyse von Ernst Zitelmann, einem Cousin Gierkes. Er erinnerte gleich im Anschluss an das Wildenbruchsche Gedicht daran, dass das BGB „nur eine Fortsetzung des Vorhandenen“ sei, ein „Erbe“. Und: „Ohne das römische Recht würden wir diese Stunde nicht feiern.“11 Schon auf diesen wenigen Seiten der Deutschen Juristenzeitung vom Januar 1900 deutet sich eine zwiegespaltene Einschätzung des neuen Gesetzes an: Auf der einen Seite ein Gesetz mit National‐ charakter – und zwar deutsch. Auf der anderen Seite nur verkleidetes römisches Recht – oder, wie es Gierke, bezogen auf den ersten Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches von 1888, in seiner pointierten Sprache unvergesslich formuliert hatte: „ein in Gesetzesparagraphen gegossenes Pandektenkompendium“.12 Zitelmann war sich mit Gierke darin einig – hierin beide dem Erbe der histori‐ schen Rechtsschule verpflichtet13 –, dass das Recht ein im Volksbewusstsein le‐ bendiger Stoff sei, der in der Gesetzgebung nur eine Explikation erfahren soll.14 Zitelmann war der Auffassung, dass das deutsche Volk sich das römische Recht im Laufe der Zeit als „eigenes“, also deutsches Recht angeeignet habe15. Damit trat er einer Auffassung entgegen, die im 19. Jahrhundert die beiden Begriffe „deutsch“ und „römisch“ in Bezug auf das Recht als strikten Gegensatz aufgefasst hatte.16 In diesem Punkt war sich Zitelmann mit seinem Cousin nun gar nicht einig. Über den ersten Entwurf hatte Gierke insofern vernichtend geurteilt:

9 10 11 12 13 14 15 16

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Savigny 1814, S. 113. Dazu Repgen 2021. Zitelmann 1900, S. 2. Gierke 1889a, S. 2. Gierke hat ähnliche Formulierungen wiederholt verwendet und auch ande‐ re haben sich damals in diesem Sinne geäußert, vgl. die Nachweise in: Repgen 2001, S. 41 f. Fn. 82. Zur historischen Rechtsschule umfassend Haferkamp 2018. Zu Gierkes Selbstwahrnehmung: Gierke 1903; s. a. Dilcher 1974/75; Einordnung von Gierkes Sicht auf die Verfassungsge‐ schichte aus der Perspektive der Genossenschaftstheorie bei Böckenförde 1995, S. 147-176. Zu Gierkes Rechtsvorstellung vgl. Stolleis 1992, S. 359-363. Grundlegend Janssen 1974. Auch zum ersten Entwurf konnte man schon solche Überlegungen lesen, vgl. beispielsweise Cleß 1890, S. 9. Weiterführend Repgen 2001, S. 35-49. Schon bei Wieacker 1952, S. 280, kann man lernen, dass „deutsch“ in diesem Zusammenhang mehr eine politische Chiffre war; so dann auch Mundt 1976, S. 130; Schröder 1981, S. 37-51; John 1989, S. 121; Pfennig 1997, S. 183; zu „römisch versus deutsch“ im 19. Jahrhundert vgl. Luig 1995, S. 95-137. – Wegen des Chiffrencharakters von „deutsch“ im Sinne von „sozial“ ist es für das Verständnis von Gierkes Argumentation nicht erheblich, dass die „Rechtsgenealogie“ des so gearteten Rechts aus dem Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert nicht plausibel belegbar ist, vgl. dazu nur mwN. Thiessen 2011, S. 344.

„Wird dieser Entwurf […] als Ganzes betrachtet, wird er auf Herz und Nieren geprüft und nach dem Geiste befragt, der in ihm lebt, so mag er manche lobenswerte Eigenschaft offenbaren. Nur ist er nicht deutsch, nur ist er nicht volkstümlich, nur ist er nicht schöp‐ ferisch – und der sittliche und sociale Beruf einer neuen Privatrechtsordnung scheint in seinen Horizont überhaupt nicht eingetreten zu sein!“17

Zwar bezog sich Gierke hier auf den ersten Entwurf und Zitelmann auf das fertige Gesetz, aber zwischen beiden Fassungen lag nun einmal keine Neukonstruktion, sondern man wird sagen müssen, dass die genetische Grundlage des ersten Entwurfs auch in der schließlichen Gesetzesfassung erhalten geblieben war. Zitelmann hatte im BGB die Vollendung der „Deutschwerdung des römischen Rechts“ gesehen.18 Man habe – hier griff er die zitierte Formulierung Gierkes auf – ein Werk erhofft, „das ein neues Zeitalter juristischer Glückseligkeit heraufführen sollte, echt deutsch, volkstümlich, ‚sozial‘.“19 Wenn Gierke im Entwurf das „Deutsche“ vermisste, so meinte er etwas anderes als Zitelmann. Gierke ging es nicht darum, ob es gelungen sei, die Pandekten in ein deutsches Kleid zu stecken, sondern er vermisste eine inhaltliche Qualität des Gesetzes. Dies gilt es im nächsten Abschnitt überblickartig zu skizzieren.

2. „Nur ist er nicht deutsch, nur ist er nicht volkstümlich, nur ist er nicht schöpferisch…“ Die Publikation des ersten „Entwurf[s] eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deut‐ sche Reich“ im Frühjahr 1888 leitete eine Wende in der Privatrechtswissenschaft in Deutschland ein, eine Zäsur, die schon von den Zeitgenossen wahrgenommen wur‐ de.20 Das römische Recht büßte seine Rolle als Referenztext vollständig ein. Sozusa‐ gen über Nacht entstanden so viele wissenschaftliche Texte, die sich mit dem ersten Entwurf beschäftigten, dass Paul Laband dies später mit der „Plötzlichkeit und Hef‐ tigkeit eines Wolkenbruches“ verglich.21 Zu den Wortführern dieser Kritik zählte vor allen anderen Gierke.22 Schon kurz nach dem Erscheinen des ersten Entwurfs trat er 17 18 19 20 21 22

Gierke 1889a, S. 2. Zitelmann 1900, S. 2. Zitelmann 1900, S. 3. Dazu mit Nachweisen Repgen 2001, S. 32-35. Laband 1906, Sp. 3. So Staatssekretär Oehlschläger im Bundesrat, vgl. von Stieglitz, Bericht vom 26. November 1890 über die Sitzung des Justizausschusses des Bundesrats vom 25. November 1890, in: Ja‐ kobs/Schubert 1978, S. 347, der Gierke als den „Hauptgegner“ des Entwurfs bezeichnete. 1890 hatte man im Bundesrat auf Vorschlag von Oehlschläger darüber beraten, ob man Gierke in die zweite Kommission berufen solle, um der Kritik künftig den Wind aus den Segeln zu nehmen. Man fürchtete aber, „daß seine Mitwirkung zu einer Förderung der Berathungen nicht dienen werde, weil er gerne und sehr viel rede; […]“ (l.c.). Anstelle Gierkes berief man dann Rudolf Sohm in die Kommission. Dazu Schulte-Nölke 1995, S. 158-168, insbes. S. 163 f.

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mit einer Fundamentalkritik unter dem Titel „Der Entwurf eines bürgerlichen Ge‐ setzbuchs und das deutsche Recht“ hervor, die zunächst in vier Teilen in den Jahren 1888 und 1889 in Schmollers Jahrbuch erschien,23 dann 1889 auch als Monogra‐ phie.24 Konzentriert trug Gierke seine Kritik am 5. April 1889 in einem programma‐ tischen Vortrag vor der juristischen Gesellschaft in Wien vor.25 Außerdem findet man bis 1896 noch gut ein Dutzend weiterer Publikationen von Gierke zu Einzelfra‐ gen des neuen Gesetzes.26 Fragt man, warum gerade Gierkes Kritik so besonders viel Aufmerksamkeit (auch noch im 20. Jahrhundert27) erfahren hat, so ist der Grund wohl vor allem, dass seine Kritik eine politisch heikle Grundsatzfrage betraf, nämlich die nach der „sozialen Aufgabe“ des Privatrechts und dass Gierke diese Kritik auf der Basis seiner Vorstellung von dieser sozialen Aufgabe an einer beeindruckenden Fülle von rund 100 Rechtsinstituten in allen fünf Büchern des BGB schon im Jahr 1888/89 durchführte.28 So konnten andere kritische Stimmen zum BGB-Entwurf fast immer an Gierkes Werk anknüpfen. Gierkes besondere Leistung liegt sicher darin, dass er seine Kritik letztlich nach dem einheitlichen Kriterium der Berücksichtigung des Gemeinschaftsgedankens im Privatrecht sehr konsistent ausgearbeitet hat. „Sozial“ war, wie nun zu zeigen sein wird, für Gierke nicht ein blankes Schlagwort, sondern gefüllt mit dem Gemeinschaftsgedanken. Ausgangspunkt für die Rekonstruktion seiner Kritik soll der erwähnte Wiener Vortrag über „Die soziale Aufgabe des Privatrechts“ sein.29 Gierke setzte dort beim Rechtsbegriff an, den er anthropologisch als einen „Ausdruck der doppelten Bestimmung des Menschendaseins“ ausdeutete:30 Jeder Mensch lebe „zugleich sich selbst und der Gattung.“31 Es war für ihn diese natürliche Doppelperspektive,32 in der Philosophie längst entfaltet, die auch das Recht prägt. Sie war übrigens auch Savigny nicht fremd.33 23 24 25 26 27 28 29 30 31

Gierke 1888/89. Gierke 1889a. Gierke 1889b. Vgl. unten Bibliographie. Dazu Repgen 2001, S. 15. Vgl. das Register bei Repgen 2001, S. 17 f. Gierke 1889b. Gierke 1889b, S. 5. Gierke 1889b, S. 5. – Dahinter stand das Genossenschaftsprinzip, das Gierke in seinem (am Ende vierbändigen) Genossenschaftsrecht (Berlin 1868, 1873, 1881, 1913) entfaltet hatte. Vgl. nur Dilcher 2013, S. 269 f.; ders. 2017, S. 378. 32 Dilcher 2013, S. 270, 274, spricht anschaulich von einem „polaren Spannungsverhältnis“ bei Gierke. Ähnlich S. 272. 33 Savigny 1840, § 52, entwickelt hier das „Wesen der Rechtsverhältnisse“, die dem Privatrecht angehören, weiter (S. 331). Aber diese Rechtsverhältnisse haben Teil an der „allgemeine[n] Natur der Rechtsverhältnisse überhaupt“ (S. 331). Auch für Savigny ist der Mensch stets in „Berührung mit denen, die ihm gleich sind durch ihre Natur und Bestimmung“. Daher muss es für die Einzelnen, um nebeneinander bestehen zu können, eine „unsichtbare[…] Gränze“ für den „sichern, freyen Raum“ geben, in dem man lebt (S. 331 f.). Diese rechtliche Grenze ist

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Auch für Gierke war das kein neuer Standpunkt; er galt auch für sein Staatsver‐ ständnis.34 Gerhard Dilcher hat wiederholt auf die Schlüsselstelle in der Einleitung von Band 1 des Genossenschaftsrechts aus dem Jahr 1868 hingewiesen.35 Dort begann Gierke mit den Worten: „Was der Mensch ist, verdankt er der Vereinigung von Mensch zu Mensch.“36

Erst im Zusammenschluss der Einzelnen verwirklicht sich das Menschsein und gewinnt seine geschichtliche Dynamik, wie Gierke schrieb.37 Dem setzte Gierke ein kräftiges, für das Privatrechtsdenken wichtiges „Aber“ entgegen, das zu lesen lohnt: „Aber diese Entwicklung aus der scheinbar unüberwindlichen Mannichfaltigkeit zur Ein‐ heit stellt nur die Eine Seite des gesellschaftlichen Fortschritts dar. Alles Geistestleben, alle menschlichen Vorzüge müßten erstarrend darin untergehen, wenn der Einheitsgedan‐ ke [sc. die Bildung der Genossenschaften] allein und ausschließlich triumphirte. Mit gleicher Gewalt und gleicher Nothwendigkeit bricht sich der entgegengesetzte Gedanke Bahn, der Gedanke der in jeder zusammenfassenden Einheit fortbestehenden Vielheit, der in der Allgemeinheit fortlebenden Besonderheit, – der Gedanke des Rechts und der Selbständigkeit aller in der höheren Einheit zusammenströmenden geringeren Einheiten bis herab zum einzelnen Individuum , – der Gedanke der Freiheit.“38

34 35 36 37 38

auch für Savigny nicht nur durch die rechtlich geschützten Individualinteressen der anderen Menschen gezogen, sondern auch durch die Einordnung des Einzelnen in die Gemeinschaft. Letztere ist für ihn vor allem das durch den Gebrauch derselben Sprache gekennzeichnete Volk. „In diesem Naturganzen ist der Sitz der Rechtserzeugung (§ 8, S. 19). Dieses Volk wiede‐ rum ist eine „natürliche Einheit“, die unabhängig von den „einander ablösenden Geschlech‐ ter[n]“ existiert (S. 20), allerdings nicht abstrakt, sondern im Staat als der „organische[n] Er‐ scheinung des Volkes“ (§ 9, S. 22). Das bestimmt auch „das Verhältniß der Einzelnen zu dem allgemeinen Recht“. „[…] der Einzelne kann sich, vermöge seiner Freiheit, durch Das was er für sich will, gegen Das auflehnen, was er als Glied des Ganzen denkt und will. Dieser Wider‐ spruch ist das Unrecht, oder die Rechtsverletzung, welche vernichtet werden muß, wenn das Recht bestehen und herrschen soll“ (S. 24). Die Mitgliedschaft im „Ganzen“, im Volk und Staat also, begrenzt rechtlich die Freiheit, so dass für Savigny gilt: „Und in diesem neuen Ver‐ hältniß [sc. des Einzelnen zum allgemeinen, objektiven Recht] erscheint die des Unrechts fähi‐ ge individuelle Freiheit als von dem Gesammtwillen gebunden und in ihm untergehend“ (S. 24). Das „Staatsinteresse“ im Sinne des Gemeinwohls (§ 15, S. 56) gehört für Savigny zum „allgemeinen Element“ des Volksrechts, „gegründet auf das Gemeinsame der menschlichen Natur“ (S. 52). – Mit diesen Andeutungen soll auf eine gewisse Parallelität grundsätzlicher Po‐ sitionen bei Savigny und Gierke hingewiesen werden, ohne daraus eine Kausalität ableiten zu wollen. Joachim Rückert danke ich für den Austausch über diese Parallele und seine Hinweise auf die Fundstellen in Savignys System. Zur inneren Begrenzung der Freiheit bei Savigny auch Rückert 2017, S. 70 f. Rn. 125 sowie S. 93 Rn. 205 bezüglich der Fundstellen in Savignys Sys‐ tem, sowie ders. 1997, S. 164-166. Vgl. dazu Malowitz 2002, S. 143-151, insbes. S. 146. Dilcher 1974/75, S. 327 f.; ders. 2009, Sp. 377; ders. 2017, S. 378-380. Gierke 1868, S. 1. In demselben Sinne dann auch Gierke 1895b, S. 26. Gierke 1868, S. 1. Gierke 1868, S. 1 (Hervorhebungen im Original).

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Der Einheit der Gemeinschaft steht danach die Vielheit, die Mannigfaltigkeit der Einzelnen gegenüber. Für diese gilt „mit gleicher Gewalt“ der Gedanke der Freiheit. Beide Prinzipien bestimmen für Gierke das Recht, keines besteht absolut.39 Dieselbe Rechtsanthropologie lag Gierkes Kritik am BGB-Entwurf zugrunde. In seinem Wiener Vortrag erklärte er: Einerseits ist der Mensch ein Individuum, „eine Welt für sich, [...] und doch auch Theil von höheren Ganzen, vorübergehende Erscheinung in dem Lebensprozesse von Gemeinwesen.“40 Es ging Gierke um eine Synthese. Das Recht sollte weder einseitig nur die Individualinteressen schützen oder nur die Gemeinschaftsbelange ordnen, sondern es sollte beide Interessenkreise vereinen.41 „Indem das Recht als äußere Lebensordnung diesen zwiefachen Gehalt des Menschen‐ lebens vorfindet und demgemäß sich in zwei verschiedenartige Reiche gliedert [sc. öffentliches und privates Recht], muß es sich auf der einen Seite die Begrenzung und den Schutz der äußeren Lebenssphären der Individuen, auf der anderen Seite den Aufbau und die Sicherung des Lebens der Allgemeinheit zum Ziel setzen.“42

Und genau darum war es Gierke bei seiner Kritik am ersten Entwurf zu tun. Zwar hätten auch die Römer, so erklärte er weiter, diese beiden Perspektiven gekannt, aber sie hätten öffentliches und privates Recht durch einseitige Betonung der jeweiligen Interessen zu sehr von einander getrennt,43 während doch in Wahrheit der Mensch sich selbst als Einheit erlebe und zugleich Individuum und Gemeinschaftswesen

39 Zum Stellenwert der Freiheit als integraler Bestandteil des Gemeinschaftsgedankens bei Gier‐ ke Dilcher 2017, S. 382-384; das „Sozialprinzip“ ist die Freiheit als emanzipatorische Kraft, nicht die „Hilfe für Schwache“, l.c. S. 382; Rückert 1997, S. 167-169 sieht bei Gierke hingegen eine Relativierung des Freiheitsprinzips, die bis zur Negation „prinzipiell-freiheitliche[r] Ver‐ tragsbegründung“ reiche; Hofer 2001, S. 115-122, 141-148, 255 f. Dass die Freiheit bei Gierke aus Gemeinschaftsrücksicht grenzenlos eingeschränkt werden könnte, wie Hofer annimmt, l. c., S. 143, 145, 148, ist allerdings kaum vereinbar mit manchen Positionen Gierkes zu einzel‐ nen Rechtsinstituten, etwa dem Recht der Einzelnen auf „freie Körperschaftsbildung“ oder dem Eintreten für den Schutz des Persönlichkeitsrechts, um nur zwei Beispiele zu nennen, vgl. Repgen 2001, S. 58-61 und 147-152. Die Position von Hofer würde bedeuten, dass die Ge‐ meinschaftsinteressen beliebigen Inhalt haben könnten. Gierke selbst würde eine vollständige Negation der Freiheit aber nicht als angemessen auffassen, vgl. nur das Zitat soeben oben bei Fn. 38 am Ende. Eine Vereinnahmung Gierkes für kollektivistische Ausformungen des Rechts wäre jedenfalls nur unter Missachtung seiner Konzeption von Freiheit möglich. Insbesondere ist es wichtig, bei Gierke auch die freiheitssichernde Funktion des öffentlichen Rechts zu se‐ hen. Hofer selbst bemerkt, dass Gierke etwa Lassalles Vorstellungen ablehnte, S. 119. Vgl. auch unten Fn. 106. 40 Gierke 1889b, S. 5. Gierke berief sich freilich nicht auf die philosophische Tradition seit Aris‐ toteles, sondern auf die damals recht junge Konzeption von Dilthey 1883; dazu Janssen 1974, S. 184-188, 204-209. 41 So auch schon klar Dilcher 1974/75, S. 336. 42 Gierke 1889b, S. 5. 43 Gierke 1889b, S. 6. – Mit Recht betont Dilcher 2013, S. 271, dass Gierke keineswegs das römi‐ sche Recht geringschätzte.

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sei.44 Daher folgerte Gierke, müsse sich diese Wechselbezüglichkeit in den Zwecken des Rechts wiederfinden: „Allein zuletzt darf sie [sc. die Rechtsordnung] die Einheit des Zieles nicht vergessen und muß auch im Privatrecht, wo sie zuvörderst für Einzelinteressen sorgt, das Gemein‐ wohl erstreben, und im öffentlichen Recht, wo sie zunächst auf das Ganze blickt, den Einzelnen gerecht werden.“45

In der germanischen Rechtstradition sei, so Gierke, diese soziale Perspektive in privaten Rechtsverhältnissen stets lebendig geblieben, weil die Trennung von öffent‐ lichem und privatem Recht nicht so strikt wie im römischen Recht ausgefallen sei.46 Eine Kultur, die die Einheit des Menschen nicht berücksichtige, sei dem Untergang geweiht.47 Das 19. Jahrhundert habe eine Trendwende eingeleitet: „Wir besinnen uns wiederum auf die Einheit alles Rechtes, wir nehmen in den Zweck des öffentlichen Rechts die Freiheit und in den Zweck des Privatrechts die Gemeinschaft auf.“48

Beides gehörte für Gierke unlösbar zusammen und zwar – es sei wiederholt – gleichwertig.49 Ein Staat, der nicht mehr der Gesamtheit dient, verliert in den Augen Gierkes seine „Hoheit“ und eine einseitige Betonung der Gemeinschaftsbelange im Privatrecht würde zu einer Verkümmerung führen.50 Das Christentum hätte dann, so bemerkte er, „umsonst den unvergleichlichen und unvergänglichen Werth jedes Menschendaseins offenbart.“51 Gierke begründete diese Einschätzung nicht näher, aber traf sicher etwas Richti‐ ges, wenn er die Betonung der Bedeutung des Individuums, also der Personalität des Menschen, mit dem Christentum in Beziehung setzte.52 Sie spiegelte sich bei Gierke etwa in der Forderung der Berücksichtigung der Persönlichkeitsrechte im BGB wi‐ der.53 So hatte Gierke die Einführung eines Unterlassungsanspruchs zum Schutz des Namens gefordert,54 wie er in § 12 S. 2 BGB festgelegt wurde, den die erste Kom‐ mission noch als Aufgabe des öffentlichen Rechts aufgefasst hatte.55 Zugleich ver‐ 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55

Gierke 1889b, S. 5. Gierke 1889b, S. 6. Gierke 1889b, S. 7, 8. Gierke 1889b, S. 9. Gierke 1889b, S. 10. – Wie in Fn. 33 zu sehen war, vertrat Savigny sehr ähnliche Positionen, allerdings ohne dafür ein „germanisches“ oder „römisches“ Spezifikum zu reklamieren. Vgl. auch das Zitat oben bei Fn. 38. Es ist daher richtig, dass Dilcher 1974/75, S. 353 f., betont hat, Gierke habe im Herrschaftscha‐ rakter des Staates zugleich eine Gefahr für die Freiheitsidee gesehen. Gierke 1889b, S. 11. Zum Ganzen Siedentop 2017. – Ein frühes Beispiel aus der deutschen Rechtstradition bietet der Traktat über die Unfreiheit im Sachsenspiegel Ldr. III, 42, dazu: Repgen 2020, S. 21-23. Gierke 1889a, S. 84 f.; weiterführend Repgen 2001, S. 59-61. Zur staatsrechtlichen Seite dieser Auffassung Dilcher 1974/75, S. 343 f. Gierke 1889a, S. 86 f. Motive 1888, Bd. IV, S. 1006.

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langte Gierke die Abwehr eines übersteigerten Individualismus‘. In diesem Zusam‐ menhang fielen in seinem Wiener Vortrag die pointierten Sätze, deren Schluss wohl fast jeder Jurastudent in Deutschland einmal gehört hat: „Wir können mit dem großen germanischen Gedanken der Einheit alles Rechtes nicht brechen, ohne unsere Zukunft aufzugeben. Und mit diesem Gedanken ist ewig unverein‐ bar ein absolutisches öffentliches Recht, ewig unvereinbar ein individualistisches Privat‐ recht. Wir brauchen ein öffentliches Recht, das durch und durch Recht ist; das ein Ver‐ hältniß der Gegenseitigkeit zwischen dem Ganzen selbst und seinem Gliede, zwischen der höchsten Allgemeinheit und allen engeren Verbänden, zwischen der Gemeinschaft und dem Einzelnen setzt; das den Staat vom Scheitel bis zur Sohle durchdringt und bindet und auch da, wo der Zwang versagt, noch des Schutzes durch Richterspruch genießt; das zwar die Pflichten gegen das Ganze voranstellt, aber zugleich den Gliedern Rechte am Ganzen, dem Geringsten Antheil am Staat gewährt und verbürgt; das von der Nothwendigkeit und der Stetigkeit des Gemeinlebens ausgeht und doch die Freiheit in sich aufnimmt. Wir brauchen aber auch ein Privatrecht, in welchem trotz aller Heilighal‐ tung der unantastbaren Sphäre des Individuums der Gedanke der Gemeinschaft lebt und webt. Schroff ausgedrückt: in unserem öffentlichen Recht muß ein Hauch des naturrecht‐ lichen Freiheitstraumes wehen und unser Privatrecht muß ein Tropfen sozialistischen Oeles durchsickern.“56

Aus dem Gedanken der Einheitlichkeit der Rechtsordnung und der Einheit des Men‐ schen als individuelles und soziales Wesen folgte für Gierke, dass das Privatrecht neben der Freiheitsidee den Gemeinschaftsgedanken beachten müsse. Nur das ent‐ sprach nach seiner Auffassung dem „germanischen Rechtsgeist“.57 Freiheit wurde von Gierke als tragendes Prinzip des Privatrechts anerkannt, aber immer eingefügt in den Lebenszusammenhang des Einzelnen in der Gemeinschaft.58 Zentrale Bedeutung sollte nach Gierke die Ablehnung schrankenloser subjektiver Rechte haben. Der Ausgangspunkt müsse sein: „Kein Recht ohne Pflicht.“59 Recht ist für Gierke eine „sittlich-beschränkte Willensmacht“.60 Gierke kritisierte daher, dass im Entwurf ein allgemeines Schikaneverbot fehle.61 Insbesondere könne es

56 Gierke 1889b, S. 12 f. Zum „Öltropfen“ insbesondere Becker 1995; Wieacker 1967, S. 470 Fn. 7 hat auf die ursprüngliche Verwendung des Bildes bei Ludwig Uhland in der Paulskirche am 22. Januar 1849 aufmerksam gemacht; Otto von Bismarck hatte am 12. Juni 1882 im Reichstag in einer Grundsatzrede aus Anlass des Plans, ein Tabakmonopol einzuführen, von einem „Tropfen sozialen Öls“ gesprochen, der nötig sei, um den sozialen Frieden zu sichern, in: Stenographische Berichte 1883, S. 353-364, hier S. 361. Vgl. auch Repgen 2000. 57 Gierke 1889b, S. 15. 58 Vgl. oben in Fn. 39. 59 Gierke 1889b, S. 17; der Sache nach auch schon ders. 1873, S. 33, dazu auch Hofer 2001, S. 144. 60 Gierke 1873, S. 130. Gierke trennt hier nicht zwischen Recht und Sittlichkeit. Dazu auch Land‐ au 1995, S. 81. Es muss hier offenbleiben, ob Gierke an anderen Stellen seines Werkes einer strikten Trennung beider Sphären das Wort redete. So sieht es Dilcher 2013, S. 263; ebenso Janssen 1974, S. 184. 61 Gierke 1889b, S. 18. Vgl. unten im Text bei Fn. 83 ff.

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kein „pflichtenlose[s] Eigenthum“ geben.62 Das Grundeigentum unterliege etlichen Beschränkungen zugunsten der Gemeinschaft.63 Es sei beispielsweise wichtig, die „Stetigkeit des Grundbesitzes“ zu wahren.64 Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein‐ geleitete Bodenmobilisierung betrachtete Gierke als Problem, denn dadurch werde „die innige Verknüpfung von Einzelnen und Familien mit der Scholle, die Wahrung des Ständigen, Traditionellen, Heimathlichen in Gesinnung und Sitte, die feste Einwurzelung und kräftige Gliederung des gesellschaftlichen Körpers […] untergraben.“65

Die Zwangsvollstreckung in Grundeigentum, insbesondere wenn es die Existenz‐ grundlage eines landwirtschaftlichen Betriebs darstelle, müsse begrenzt werden. Der Schuldner habe ein Recht auf eine „Heimstätte“.66 In dieselbe Richtung wies bei Gierke die strikte Ablehnung der von § 509 E I vor‐ geschlagenen Regel „Kauf bricht Miete“. Es ging um den Bestandsschutz von Woh‐ nungsmietverträgen im Veräußerungsfall. Der Entwurf verneinte den Bestandsschutz – konträr zur sozialpolitischen Absicht des Reiches67 –, was aufgrund der Brisanz der Wohnungsfrage als Bestandteil der „sozialen Frage“ auf fast einhellige Kritik stieß.68 „Ist es […] der Beruf eines ‚deutschen‘ Gesetzbuches, das römische Recht nun endlich dennoch uns allen aufzuzwingen? Vor allem handelt es sich dabei [sc. dem Satz ‚Kauf bricht Miete‘] um eine Frage von der größten socialen Tragweite. Die sociale Bedeutung ihrer Entscheidung reicht sogar über die unmittelbaren praktischen Folgen des einen oder anderen Satzes hinaus. […] Wenn irgendwo, so ist hier der sociale Beruf unserer Gesetzgebung mit Händen zu greifen.“69

Freilich hatte der Kampf um diese Regel den Charakter von Schattenboxen. Denn die praktische Relevanz der Regel „Kauf bricht (nicht) Miete“ für den Bestands‐ schutz von Wohnungsmietverträgen war verschwindend gering und stand in einem merkwürdigen Gegensatz zur öffentlichen Wahrnehmung.70 Dementsprechend wird man den Erfolg Gierkes und der zahlreichen anderen Kritiker, dass § 571 BGB schließlich die Regel „Kauf bricht nicht Miete“ kodifizierte, auch mehr als symbo‐ lisch bewerten müssen.

62 63 64 65 66 67 68 69 70

Gierke 1889b, S. 18. Gierke 1889b, S. 21-27. Gierke 1889b, S. 23. Gierke 1889b, S. 23. Gierke 1889b, S. 23. Zur Sozialpolitik im Kaiserreich Nipperdey 1998, S. 335-373. Vgl. die Nachweise bei Repgen 2001, S. 236 f. Fn. 110. Gierke 1889a, S. 75 f. Dazu: Repgen 2001, S. 241-249. – Erwähnt sei hier nur Protokolle 1898, Bd. II, S. 137, wo‐ nach die soziale Bedeutung der Regel völlig überbewertet werde.

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Eine konsequente Umsetzung des Satzes: „Kein Recht ohne Pflicht“ forderte im Schuldrecht Einschränkungen der Vertragsfreiheit. Man müsse sie, so meinte Gierke, als „vernünftige Freiheit“ verstehen, als eine „Freiheit, die kraft ihrer sittlichen Zweckbestimmung ihr Maß in sich trägt, – Freiheit, die zugleich Gebundenheit ist.“71

Es gehe darum, dass die wirtschaftliche Übermacht der einen Seite nicht dazu missbraucht werden dürfe, die Unterlegenheit der anderen Seite auszunutzen. „Mehr als je hat heute auch das Privatrecht den Beruf, den Schwachen gegen den Starken, das Wohl der Gesammtheit gegen die Selbstsucht der Einzelnen zu schützen.“72

Zu den konkreten Forderungen Gierkes zählte die Beschränkung der Vermögens‐ pfändung, die Einführung von Zinsmaxima, von Formvorschriften (z. B. bei Bürgschaften durch Frauen).73 Im Dienstvertragsrecht sollte die Gemeinschaft des Dienstherrn mit den Dienstpflichtigen – jedenfalls wenn zugleich eine Hausgemein‐ schaft entsteht – Berücksichtigung finden.74 Das im Deliktsrecht herrschende Verschuldensprinzip hielt Gierke für eine „ro‐ manistisch-individualistische Verirrung“, die man durch den Gedanken einer Gefähr‐ dungshaftung ergänzen müsse. Wer eine Gefahrenquelle besitze, müsse auch für deren schädlichen Folgen einstehen.75 „Es giebt keinen gesellschaftswidrigeren Gedanken, als daß es gestattet sein soll, alle Vortheile aus einem die Mitmenschen gefährdenden Eigenthum zu genießen, ohne das entsprechende Risiko zu tragen.“76

Und die Haftung des Hausherrn für die Hausangehörigen, des Geschäftsherrn für seine Angestellten usw. hielt Gierke für ein „Postulat sozialer Gerechtigkeit“.77 Auch im Personenrecht müsse sich der Gemeinschaftsgedanke ausdrücken, wie Gierke schrieb.78 Alles Vermögen sei „nur um der Person willen da“ und daher müsse das Recht der Persönlichkeit Beachtung finden.79 Einmal mehr wird hier deutlich, dass Gierke keineswegs eine einseitige Betonung der Gemeinschaftsinter‐ essen befürwortete.

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Gierke 1889b, S. 28; vgl. auch die Bemerkungen oben bei und in Fn. 58. Gierke 1889b, S. 29. Gierke 1889b, S. 31. Gierke 1889b, S. 32. Gierke 1889b, S. 33. Gierke 1889b, S. 33. Gierke 1889b, S. 34. Gierke 1889b, S. 34. Gierke 1889b, S. 34.

Das Familienrecht müsse, so Gierke, vom Begriff der Familie als einer Grundein‐ heit der Gesellschaft ausgehen. Die Eheleute sollten als Gesamthand verstanden werden. Die Kinder bildeten mit den Eltern einen „fesselnden Verband“.80 Im Erbrecht sei die Testierfreiheit zwar nicht mehr aufzuhalten, aber das Inte‐ staterbrecht müsse das Primäre sein: „Nur in der Verwirklichung der im natürlichen Bau der Familie angelegten Geschlech‐ terfolge, in dem Eintritt der kraft der Gliederung des gesellschaftlichen Körpers hierzu nächstberufenen Individuen in die leer gewordene Stelle liegt die unvergleichlich werth‐ volle soziale Funktion, liegt die unvergängliche innere Berechtigung des Erbrechts.“81

Zum Schluss ging Gierke noch auf die freiwilligen Personenverbindungen ein, zunächst die „Herrschaftsverbände“ in der Hausgemeinschaft, also die Beziehung von Hausherrn und Gesinde bzw. Hausdienerschaft, aber auch in Unternehmen, die Gierke als „wirtschaftlichen Organismus“ begriff.82

3. Das Schikaneverbot In diesem Abschnitt soll das Schikaneverbot als Beispiel für einen erfolgreichen Kritikpunkt Gierkes am Entwurf des BGB herausgegriffen werden. Eine typische Ausprägung des Gemeinschaftsgedankens im Privatrecht lag für Gierke in der Ablehnung schrankenloser subjektiver Rechte. Konsequent erschien es daher, die Berücksichtung eines allgemeinen Schikaneverbots im Gesetz zu verlan‐ gen, wie es etwa ALR I 6 §§ 36, 37 und I 8 §§ 27, 28 zu Grunde lag.83 Gierke schrieb: „Keine Ahnung aber taucht [im E I] davon auf, daß in solchen Sätzen [sc. wie im ALR] das lange verdunkelte deutsche Rechtsgewissen zum Durchbruch gekommen ist! Das romanistische Denken des Entwurfes weiß nur von reinen Befugnissen, welche zwar von außen her durch entgegenstehende Befugnisse eingeschränkt und mit Pflichten verknüpft werden können, jedoch in sich selbst eine Schranke nicht tragen. Dagegen ist dem Geiste dieses Entwurfes die eigentlich germanische Auffassung, nach welcher jedes Recht zugleich Pflicht ist und eine ihm immanente sittliche Schranke hat, völlig verschlossen.“84

Die Gesetzeskommission hatte nach dem Vorbild der „neueren Gesetzeswerke“ von einem allgemeinen Schikaneverbots Abstand genommen. Die subjektiven Rechte

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Gierke 1889b, S. 36 f. Gierke 1889b, S. 39. Gierke 1889b, S. 40. Gierke 1889b, S. 18; ders. 1889a, S. 183 u. 264. Gierke 1889a, S. 183.

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dienten, so die Motive, „der Befriedigung wirklicher Bedürfnisse.“85 Diese Bedürf‐ nisse erkenne die Rechtsordnung nur an, wenn sie „dem Wohle der menschlichen Gemeinschaft zu dienen“ geeignet seien.86 „Wer aber ein ihm zustehendes Recht geltend macht, macht einen auch nach der Seite des Interesses anerkannten Willensinhalt geltend.“87

Im Vordergrund stand also die rechtstheoretische Überlegung, gesetztes Recht könne nur sein, was auch dem Gemeinwohl diene. Wer sich eines solchen Rechts bediene, verfolge damit beinahe notwendig ein legitimes Ziel. Es sei, so fuhren die Motive fort, schon schwierig, die Schädigungsabsicht zu beweisen, noch schwieriger aber, „daß der Berechtigte … an der Ausübung [des Rechts] keinerlei sonstiges Interesse irgend welcher Art habe.“88 Schließlich sei es ebenso leicht möglich, in schikanöser Weise den Schikanevorwurf zu erheben.89 Im Ergebnis herrschte zwischen Gierke und den Verfassern des Entwurfs Einig‐ keit: Beide hielten ein Handeln in reiner Schädigungsabsicht für verwerflich. Der Gesetzgeber aber hielt es für praktisch ausgeschlossen, solche Verhaltensweisen nachzuweisen. Das bedeutete jedoch keineswegs, dass der Gesetzgeber schrankenlo‐ se subjektive Rechte befürwortet hätte. Albert Gebhard, der Redaktor des Allgemei‐ nen Teils des BGB, meinte vielmehr: „Wirthschaftliche und ethische Rücksichten, Billigkeitsgründe, welche die Ausgleichung entgegengesetzter Interessen gebieten, können zu Gesetzesvorschriften führen, durch welche die Rechtsausübung Beschränkungen unterworfen wird.“90

Auch das römische Recht kannte in seiner gesamten Tradition diesen Rechtsgedan‐ ken; erst im 19. Jahrhundert lehnte man den Rechtsgedanken in seiner allgemeinen Form ab, weil man die Grenzen der Freiheit im Bereich der Sittlichkeit ansiedelte.91 Zwar hatte die erste Kommission die Erwägung über die Aufnahme eines allge‐ meinen Schikaneverbots dem Redaktor aufgegeben,92 aber Gebhard überzeugte mit seiner Skepsis gegenüber einer gesetzlichen Fixierung des allgemeinen Schikanever‐ bots die erste Kommission für die Ausarbeitung eines bürgerlichen Gesetzbuchs für

Motive 1888, Bd. I, S. 274, bestätigt in Bd. III, S. 260. Motive 1888, Bd. I, S. 274. Motive 1888, Bd. I, S. 274. Motive 1888, Bd. I, S. 275. Wie Fn. 88. Gebhard 1981, S. 411. Repgen 2019, § 226 Rn. 2; zur Entstehungsgeschichte von § 226 BGB vgl. Haferkamp 2003, Rn. 12-15. 92 Vgl. Rassow 1877, S. 220; Rassow bezog seine Informationen insofern aus: Die Ausarbeitung des Entwurfs eines deutschen bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, in: Besonde‐ re Beilage zum Deutschen Reichs-Anzeiger und Königlich Preußischen Staats-Anzeiger, Nr. 2 vom 13. Januar 1877, S. 1 ff., angehängt an Nr. 11 des Deutschen Reichs-Anzeigers und Kö‐ niglich Preußischen Staats-Anzeigers vom 13. Januar 1877.

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das Deutsche Reich.93 Es war vor allem Gierke, der diese Entscheidung kritisierte.94 Gierke zog diese Auffassung konsequent durch alle Gebiete des Entwurfs und nahm beispielsweise auch daran Anstoß, dass man die Vollziehung einer zwecklosen und für andere lästigen erbrechtlichen Auflage verlangen könne.95 Die zweite Kommissi‐ on griff das Thema wieder auf, lehnte aber auch die Aufnahme einer solchen Regel ins Gesetz ab, weil das Gesetz die Geltendmachung eines Rechts gerade als berech‐ tigtes Interesse anerkenne.96 Erst die Justizkommission des Reichstags entschied sich in ihrer Beratung des BGB-Entwurfs zur Formulierung eines allgemeinen Schi‐ kaneverbots und machte es damit unzweideutig zur Rechtspflicht, subjektive Rechte nicht nur zum Schaden anderer Personen auszuüben.97 Gierkes Position hatte sich in diesem Punkt durchgesetzt.

4. Erträge Gierkes Kritik an den BGB-Entwürfen nahm ihren Ausgang von seinem Rechtsbe‐ griff, der den Menschen in einer doppelten Perspektive, nämlich als Individuum und Gemeinschaftswesen sah. Erst von diesem prinzipiellen Standpunkt aus erschließt sich die Dimension seiner Kritik am BGB-Entwurf.98 Gierke sah in der Doppel‐ perspektive eine besondere Ausdrucksform eines „germanischen Rechtsgeistes“.99 Wenn Gierke in seiner Kritik meinte, der BGB-Entwurf sei nicht „deutsch“, so schwingt darin zwar ein nationalpolitischer Ton, aber im Kern ging es Gierke um ein Fehlen der Doppelperspektive, ein Fehlen der Berücksichtigung des Gemeinschafts‐ gedankens zugunsten einer Verabsolutierung von Individualinteressen. Wenn Gierke von „sozialem“ Privatrecht sprach, sollte dieser Gedanke in konkrete Dogmatik umgesetzt werden. Und nur dann seien, so meinte er, „einer friedvollen Zukunft die Wege [ge]ebnet“.100 Geradezu definitorisch schrieb er 1896: „Denn soziales Recht ist deutsches Recht. […] Deutsches Recht ist Gemeinschaftsrecht. Es stellt auch im Privatrecht das Individuum nicht aus dem gesellschaftlichen Zusam‐ Vgl. Prot. I 460. In: Jakobs/Schubert 1985, S. 1245. Gierke 1890a, S. 252-254, 492-505, insbes. S. 494: „kein Recht ohne Pflicht“. Gierke 1889a, S. 519: Wer die Erfüllung einer Auflage fordern darf (vgl. § 1888 E I-BGB), „hat als Wächter der Pietät und Sitte eine sociale Funktion zu erfüllen. Um so weniger ist es zu billigen, daß der Entwurf sich nicht entschlossen hat, zwecklose, unverständige oder ledig‐ lich für andere Personen lästige Auflagen für unwirksam zu erklären. […] Eine gesunde Rechtsordnung aber darf ihre Zwangsmittel nur insoweit dem Willen Verstorbener zu Gebote stellen, als derselbe ein vernünftiges Interesse zur Geltung bringt.“ 96 Protokolle 1897, S. 239 mit Bezug auf Motive 1888, Bd. I, S. 275. 97 Bericht 1896, S. 32 f.; zum Ganzen: Repgen 2019, § 226 Rn. 2-8. 98 Das kommt zu kurz in den beiden Göttinger Dissertationen Haack 1997 und Pfennig 1997; immerhin aber streift Pfennig S. 183 den Gedanken. 99 Vgl. oben bei Fn. 57. 100 Gierke 1896, S. 39. 93 94 95

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menhange heraus, sondern mißt alle Rechte, die es dem Einzelnen zutheilt, an ihrer Funktion im Leben des Ganzen. Schrankenloser Befugniß ist es abhold, den Rechten läßt es Pflichten entsprechen, […] Tief in das Privatrecht führt es die Verbundenheit der Per‐ sonen durch natürliche und gekorene Gemeinschaftsverhältnisse und durch vielgestaltige Genossenschaften ein […].“101

Solche Betonung des Gemeinschaftsgedankens lässt leicht übersehen, dass Gierke mit gleicher Berechtigung die individuelle Freiheit im Recht geschützt sehen woll‐ te.102 Das ist auch mit Blick auf das Staatsverständnis von Gierke hervorzuheben.103 Hofer hat, wie erwähnt, gemeint, die Unbegrenztheit des Gemeinschaftsgedankens führe in der Konsequenz gegebenenfalls zu einer Aufhebung der persönlichen Freiheit.104 Andere haben in Gierke eine geistige Wurzel nationalsozialistischer Vorstellungen gesehen.105 Insbesondere Dilcher hat überzeugend die Gegenposition vertreten.106 Es ist Hofer zuzugeben, dass Gierke keine „Schrankenschranken“ für die Freiheit (und übrigens auch nicht für den Gemeinschaftsgedanken) formuliert hat. Aber genauso richtig ist, dass Gierke die Freiheit für einen wesentlichen Be‐ standteil der Rechtsordnung hielt. Sogar sein zentraler Begriff der „Genossenschaft“ betont dieses Element.107 Die Vorstellung Gierkes hat also eine gewisse Ähnlichkeit zur modernen Grundrechtsdogmatik108 und der Wesensgehaltsgarantie.109 Die Aus‐ tarierung der beiden Prinzipien sollte, so meinte Gierke, dem Einzelfall überlassen bleiben.110 Genau darum blieb Gierke auch nicht bei den abstrakten Feststellungen zur sozialen Aufgabe des Privatrechts stehen, sondern wandte sie auf konkrete Rechtsinstitute an. Gierke hat in seiner prononcierten Begleitung der Entstehung des BGB eine besondere, aber keine besonders erfolgreiche Rolle gespielt. Sein Anliegen, die „soziale Aufgabe“ des Privatrechts zum Kern der Kritik zu machen, fand zwar als herausragend wichtige prinzipielle Erwägung reichen Widerhall in der zeitgenössi‐ schen Diskussion. Aber dieser Widerhall war doch im Ergebnis oft ein Widerspruch. Nicht, dass man dem BGB eine soziale Aufgabe abgesprochen hätte, aber doch, dass

101 Gierke 1896, S. 39. 102 Vgl. z. B. oben die Zitate bei Fn. 38 und 56 sowie Gierke 1889b, S. 12: „Verstaatlichung des Privatrechts im Sinne des Sozialismus bedeutet die Unfreiheit und die Barbarei.“ 103 Dazu nur Dilcher 1974/75, S. 339-348, insbes. S. 343 f. 104 Vgl. oben Fn. 39. 105 Wolf 1970, S. 57; Hattenhauer 1996, Rn. 633; ähnlich ders. 2004, Rn. 1913-1915. 106 Dilcher 2013; auch Oexle 1988, S. 198 f.; Malowitz 2002, S. 158 f. 107 Gierke 1868, S. 5: „Unter ‚Genossenschaft‘ im engsten und technischen Sinne wird [...] jede auf freier Vereinigung beruhende deutschrechtliche Körperschaft, das heißt ein Verein mit selbständiger Rechtspersönlichkeit, verstanden." (Hervorhebung von mir). 108 Dazu: Merten 2009. 109 Vgl. Art. 19 II GG; dazu Leisner-Egensperger, 2009. 110 Gierke 1868, S. 1041.

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man diese letztlich eben anders als Gierke aufgefasst hat.111 Jedenfalls ließ man sich kaum auf den Gemeinschaftsgedanken als Prinzip hinter den jeweiligen dogmati‐ schen Auffassungen von Gierke ein. Dabei hatte Gierke hier einen Nerv getroffen.112 Im Zusammenhang mit dem Schikaneverbot konnte man der Grundsatzfrage kaum ausweichen, wohl aber auf anderen Gebieten. Die Sprachlosigkeit der Zeitgenossen auf der Prinzipienebene mag darin eine Er‐ klärung finden, dass Gierke selbst nicht auf der Prinzipienebene blieb, sondern ihre Anwendung auf die einzelnen Rechtsinstitute übertrug und damit auf die konkrete Ebene der Dogmatik gelangte, wo sich Für und Wider nun einmal auch als Meinung formulieren ließen, ohne auf die Prinzipienebene zurückzugreifen. Gleichzeitig ist zu bemerken, dass Gierke seinerseits in der konkreten Anwendung oft ohne Expli‐ kation des Grundsatzes auszukommen hoffte. So verteidigte Gierke zum Beispiel auf dem Juristentag 1895 in der Diskussion über das Anerbenrecht die Berechnung des Anteils der Miterben nach dem Ertragswert damit, diese Berechnungsmethode und die Bezahlung der Abfindung der Miterben über eine Rente sei „ein sehr wesentliches Erfordernis eines gesunden Anerbenrechts“. Eine „Abfindung nach den Kräften des Hofes“ sei das „älteste Princip“.113 Dass diese Berechnungsmethode in besonderer Weise geeignet war, den Bestand des Hofes und damit die Erhaltung desselben in der Familie zu sichern, was dem Familienverband als Gemeinschaft geschuldet war und zugleich der Stabilität der Gesellschaft, musste sich der Hörer in der Debatte selbst sagen. Die oben beschriebene Bedeutung des Gemeinschaftsgedankens für Gierkes Kri‐ tik am BGB-Entwurf darf man im Übrigen nicht dahin verstehen, als hätten andere Gesichtspunkte für Gierke keine oder eine völlig untergeordnete Rolle gespielt. Es bleibt aber bemerkenswert, wie wenig einerseits die Zeitgenossen auf den Ge‐ meinschaftsgedanken bei Gierke selbst eingegangen sind, wie stark sie sich aber andererseits mit den Ergebnissen seiner Kritik auf der Ebene der Rechtsinstitute auseinandergesetzt haben. Dieser starke Widerhall hat Gierke im 20. Jahrhundert immer wieder zum Referenzpunkt für „die“ Kritik am BGB werden lassen, obgleich die unmittelbaren Auswirkungen von Gierkes Kritik auf die Gestaltung des BGB weit weniger spektakulär wirken. Beeindruckend bleibt aber die Kohärenz von Gierkes Rechtsdenken, dass seinen Ausgangspunkt in einem Menschenbild hat, das auf einer Doppelperspektive beruht.

111 Überblick dazu bei Repgen 2001, S. 490-509. Zustimmend Thiessen 2004, S. 47, mit einem anschaulichen Beispiel zur Diskussion um eine verschuldensunabhängige Haftung des Ver‐ richtungsgehilfen, S. 45-47. 112 Treffend Dilcher 2013, S. 287: „Der zentrale Punkt von Gierkes wissenschaftlichen Fragen und seiner Theoriebildung ist das Problem der Moderne: Wie kann die Freiheit des Individua‐ lisierungsprozesses gesichert werden, ohne die soziale, ethische und politische Kohärenz der Gesellschaft aufzulösen?“. 113 Gierke 1895a, S. 102.

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Im Privatrecht ging es für Gierke um den Einzelnen, um seine Freiheit, aber immer zugleich im Miteinander menschlicher Gemeinschaft, denn „was der Mensch ist, verdankt er der Vereinigung von Mensch zu Mensch“.114 1902 antwortete Gierke in einer Diskussion auf die Frage, was „sozial“ bedeute: „Es nennt eigentlich jeder das sozial, was ihm in dem Augenblick als erwünscht er‐ scheint, … Sozial ist aber nur, was zuerst auf das Ganze sieht, was in dem Individuum ein Glied des Ganzen sieht und was dem Leben der Menschheit alle individuellen Kräfte einordnen will.“115

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114 S. oben Fn. 36. 115 Gierke 1902, 32.

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Teil II: Gierke und die Geschichte des politischen Denkens

Jan Schröder Das Sippen-Kapitel in Gierkes „Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft“ und seine Quellen

1.0 Einleitung: Die Sippe in Gierkes Genossenschaftslehre und die spätere „Sippen“-Diskussion In seiner Theorie der menschlichen Assoziationen nimmt Otto von Gierke bekannt‐ lich einen Dualismus von Einheit und Freiheit an1, ein ständiges Mit- und Gegenei‐ nander herrschaftlicher und freiheitlich-genossenschaftlicher Verbände. Eine Genos‐ senschaft „im engsten Sinne“ ist für ihn „jede auf freier Vereinigung beruhende deutschrechtliche Körperschaft, das heißt ein Verein mit selbständiger Rechtsper‐ sönlichkeit“2. In der Kreation solcher Verbindungen sieht er überhaupt eine Eigen‐ tümlichkeit der Deutschen, welche die „Gabe der Genossenschaftsbildung“ allen anderen Völkern voraus hätten3. Die älteste Erscheinungsform der deutschen Genos‐ senschaft soll das „Geschlecht, die Sippe oder Magschaft“ sein4, „die Gesammtheit aller Hausväter, welche sich eines gemeinsamen Stammvaters erinnern“5. Diesem „Prototyp“6 der deutschen Genossenschaft widmet Gierke den § 3 seiner „Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft“ („Die Geschlechtsgemeinschaft des ältesten Rechts“; ich bezeichne diesen Abschnitt des Buches als „Sippen-Kapi‐ tel“, da „Geschlecht“ und „Sippe“ für Gierke gleichbedeutend sind7). Anliegen des Kapitels ist der Nachweis, dass die Sippe ein wesentlicher Baustein des frühzeitli‐ chen (200 v. bis 800 n. Chr.8) germanischen Verfassungslebens war, vor allem, dass sie eine eigene Rechtspersönlichkeit und womöglich auch eine besondere eigene Or‐ ganisation besaß. Gierke befand sich dabei im Einklang mit einer breiten herrschen‐ den Meinung seiner Zeitgenossen. Einzelne Elemente der Lehre wurden zwar hin

Gierke 1868, S. 1. Gierke 1868, S. 5. Gierke 1868, S. 3. Gierke 1868, S. 14. Gierke 1868, S. 16. „Sippe“ ist für Gierke also nur die agnatische Verwandtschaft, was z.B. auch S. 27 mit Anm. 65 noch einmal deutlich wird. 6 Gierke 1868, S. 15. 7 S. den Text zu Fn. 4. 8 Diese tausend Jahre sind der Zeitraum der „Ersten Periode“, die Gierke behandelt (Rechtsge‐ schichte, S. 8). S. aber auch unten zu Fn. 87, 88.

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und wieder in Zweifel gezogen9, ernsthaft kritisiert wurde sie vor 1900 aber wohl nur von Andreas Heusler10, dessen Überlegungen jedoch zunächst kaum Resonanz fanden. Erst seit 1950 mehrte sich die Kritik an der traditionellen Sippentheorie. Fe‐ lix Genzmer fand 1950 im Hinblick auf verschiedene angebliche Funktionen der Sippe (Heeresabteilung, Bedeutung für Fehde und Wergeldzahlung) die Quellen‐ grundlage unzureichend, Karl Kroeschell schilderte 1960 die Erosion der älteren Theorie und wies darauf hin, dass im älteren angelsächsischen Recht nicht die Sip‐ pelosigkeit eine Rolle spielte, sondern nur die Freundlosigkeit, Genossenlosigkeit11. Irene Wiebrock meinte 1979, es gebe weder ein lateinisches noch ein griechisches Äquivalent für das Wort „Sippe“ und die angeblich in den Quellen vorkommenden Rechte und Pflichten der Sippe bezögen sich nur auf einzelne Verwandte oder Ver‐ wandtengruppen oder überhaupt nur auf Nachbarn und Freunde, „Sippe“ sei ledig‐ lich eine „beschreibende Bezeichnung für bestimmte Verwandtenverbände oder -gruppen“, und Alexander C. Murray bestritt 1983, dass es in der germanischen Frühzeit eine „Clan“-Struktur gegeben habe und die Quellen agnatische Sippen vor‐ aussetzten12. 1990 erklärte Ekkehard Kaufmann die Sippentheorie des 19. Jahrhun‐ derts für „soweit erschüttert, dass man von einer herrschenden Lehre nicht mehr sprechen kann“13. Trotz einzelner Versuche zur Verteidigung der alten Theorie14 setzte sich die neue, skeptische Sicht der Dinge überraschend schnell durch. Schon kurz nach 1960 gibt das Lehrbuch eines der Hauptvertreter der alten Theorie, Hein‐ rich Mitteis, die traditionelle Sippenlehre auf15, und um und nach 2000 kommt sie in den rechtsgeschichtlichen Lehrbüchern kaum noch vor16. 9 10 11 12 13 14

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So kennt vor allem Waitz 1865, S. 49 ff. („Die Familie“), neben der „Familie“ keinen davon unterschiedenen Sippen-, oder Geschlechtsverband. Allerdings ordnet er die meisten Rechts‐ wirkungen, die Gierke mit der Sippe verbindet, schon der Familie zu. Heusler 1885, S. 259 f. Heuslers Kritik geht vor allem dahin, dass die angeblich kollektiven Rechte und Pflichten immer nur einzelne Personen, nicht aber die Verwandtschaft als ganze beträfen. Genzmer 1950, S. 34-49; Kroeschell 1960, S. 1-25. Zusammenfassend später auch Kroeschell, 2003, Sp. 1934 f. Wiebrock 1979; Murray 1983. Kaufmann 1990 a, Sp. 1668-1670 (1668). Conrad 1962, S. 32, lehnt die Überlegungen Kroeschells wegen „unzureichender Begründung“ ab; Kritik an Kroeschell auch bei Schlesinger 1963, S. 13-21. Eher wohlwollend gegenüber der älteren Lehre auch Schulze 1986, S. 33-35, der meint, die Sippe sei zwar „kein Verband im Sin‐ ne einer juristischen Person gewesen..., wohl aber eine Personengemeinschaft, die man ihres rechtlichen Zusammenhangs nicht gänzlich entkleiden kann“, „Personenverband im mittelal‐ terlichen Sinne“ (35). Mitteis/Lieberich 1963, S. 23: Man dürfe die Sippe nicht „als korporativen Geschlechtsver‐ band“ ansehen. Sie ist „mehr Lebenskreis als festgefügte Organisation“. Am Ende wird auf den ZRG-Aufsatz von Kroeschell verwiesen. Die alte Lehre findet sich noch in der letzten von Mit‐ teis allein bearbeiteten (2.) Auflage, München 1952. So erscheint schon das Wort „Sippe“ nicht in den Registern von Ebel/Thielmann1998, und Me‐ der 2005. Eisenhardt 2008 hat zwar im Register drei Eintragungen zu „Sippe“, sie gehen aber alle ins Leere. Siehe auch Saar 2005. S. 474: Kein „allg. Rechtsbegriff der S. als fest gefügter Organisation“, „vornehmlich sozialer Sachverhalt“; Strauch 2005, S. 478: „tritt in den skandi‐

Repräsentiert also Gierkes Sippentheorie einen überholten Stand des rechtshisto‐ rischen Wissens, so dass es nicht lohnt, sich weiter mit ihr zu beschäftigen? Ganz so einfach scheint es mir doch nicht zu liegen. Auf jeden Fall ist es aufschlußreich, bei einem Autor dieses Ranges zu sehen, wie er die ihm vorliegenden Quellen und die zeitgenössische Literatur verarbeitet, wo er vielleicht daneben greift, wo er etwas verschönt oder verschweigt, wo er selbst zweifelt, aber umgekehrt auch, wo er mög‐ licherweise sogar 150 Jahre später nicht ohne weiteres zu widerlegen ist. Darüber hi‐ naus ist die Sippenlehre ein wichtiger Baustein von Gierkes Genossenschaftstheorie. Eine Untersuchung des Sippenkapitels verspricht also nicht nur Einsichten in Gier‐ kes Arbeitsweise, sondern auch in die Tragfähigkeit seiner Genossenschaftslehre.

2.0 Das Sippenkapitel und Gierkes Beweise für die rechtliche Selbständigkeit der Sippe Das Sippenkapitel umfaßt 14 Seiten, von denen sich (nach einer kurzen Einführung) die ersten auf das herrschaftlich verfaßte „Haus“, die anderen zwölf auf das genos‐ senschaftlich verfaßte „Geschlecht“, also die Sippe, die freie Vereinigung der Haus‐ väter beziehen. In den 68 Fußnoten werden die zeitgenössischen Standardwerke, aber auch speziellere Literatur zitiert. Mit großem Abstand am häufigsten (etwa dreißigmal) erscheint dabei Reinhold Schmids Quellensammlung „Die Gesetze der Angelsachsen“17, wobei Gierke nicht nur auf die dort edierten Texte, sondern mehr‐ fach auch auf Schmids Glossar zurückgreift. Weit dahinter folgen als nächste Georg Waitz, vor allem dessen „Deutsche Verfassungsgeschichte“18 und Wilhelm Eduard Wilda, vor allem dessen „Strafrecht der Germanen“19, wobei insgesamt, wenn ich richtig gezählt habe, Waitz zehn- und Wilda achtmal erscheint. Auffällig oft greift Gierke auf einen recht kurzen Abschnitt des Aufsatzes von Konrad Maurer „Über angelsächsische Rechtsverhältnisse“20 zurück. Andere Werke wie Jacob Grimms „Deutsche Rechtsalterthümer“ und die rechtsgeschichtlichen Gesamtdarstellungen von Karl Friedrich Eichhorn, Heinrich Zöpfl und Ferdinand Walter kommen seltener vor. Eigenartig ist Gierkes Verhältnis zu dem viel älteren und damals berühmteren Georg Waitz, dessen Bedeutung ihm natürlich nicht entgeht. Wo Waitz überein‐

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navischen Quellen als allg. Rechtsbegriff nur selten auf“. - Weitere (geschichtswissenschaftli‐ che) Literatur bei Hechberger 2005, S. 304 ff. Schmid 1858. Die genaue Zahl ist schwer anzugeben, weil Gierke häufig die angelsächsischen Quellen direkt und ohne Hinweis auf Schmid zitiert, auch dann aber oft mit den Schmidschen Seitenzahlen. Waitz 1865. Mehrfach zitiert wird auch Waitz 1846. Wilda 1842. Außerdem zitiert Gierke auch Wilda 1831. Maurer 1853, 47 ff. „Das Geschlecht“ behandelt Maurer auf S. 52-62.

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stimmt, verweist er gerne auf ihn21, auch übernimmt er von ihm ganze Zitatennester, nicht immer mit Nachweis22. Andererseits kritisiert er ihn auch zu Unrecht und über‐ geht abweichende Auffassungen23. Offenbar wollte der ehrgeizige junge Gelehrte (Gierke war beim Erscheinen der „Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft“ 27 Jahre alt) nicht unnötig Glanz auf den namhafteren Kollegen fallen lassen. Was sind nun Gierkes Beweise für seine Ansicht, daß die Sippe in der Frühzeit eine Rechtsperson mit eigenen Rechten und Pflichten und einer besonderen Organi‐ sation war? Ich erörtere vorab zwei Grundfragen, nämlich, welches lateinische Wort überhaupt im Sinne von „Sippe“ verstanden werden kann und welche Personen die Sippe umfaßt (2.1). In zwei weiteren Abschnitten gehe ich - unter Beschränkung auf drei Bereiche - den Belegen für die Existenz von Rechten und Pflichten (2.2) und einer eigenen Organisation der Sippe nach (2.3). Dabei lege ich nicht den modernen Wissensstand zugrunde, sondern nur die Quellen und Literatur, die Gierke kannte. Nicht berücksichtigt habe ich die von Wilda angeführten nordischen Quellen, die auch Gierke nicht zitiert.

2.1 Zwei Grundfragen Die von Gierke herangezogenen Quellen sind überwiegend in Latein geschrieben. Zu fragen ist also, welche lateinischen Äquivalente es für „Sippe“ gibt24. Mit „Sip‐ pe“ werden übersetzt: „familia“, „propinquitas“ und „propinqui“, „gens“, „cogna‐ tio“, „generatio“, „genealogia“, „domus“, „consanguinei“, „proximi“, „parentela“

21 Gierke 1868, S. 19 Anm. 34 (zur Eideshilfe), 20 Anm. 33 (zum „praecipuum“ des Erben beim Wergeld), 21 Anm. 38 (zur „chrenecruda“), 22 Anm. 43 (zur Friedenspflicht innerhalb der Sip‐ pe), 23 Anm. 51 (Wehrhaftmachung als Angelegenheit der Sippe). 22 Gierke 1868, S. 18 Anm. 19: Übernahme der Hinweise auf Graff, Grimm und Kuhn (zum Wort „Sippe“) aus Waitz 1865, S. 69 Anm. 1, den Gierke hier nicht zitiert; S. 18 Anm. 23: Übernah‐ me der Hinweise auf Grimm, Wilda und Köstlin aus Waitz 1865, S. 70 Anm. 2, den Gierke zitiert; S. 20 Anm. 33: Übernahme der Hinweise auf friesische und dithmarsische Rechtsquel‐ len aus Waitz 1865, S. 67 Anm. 2, wobei Gierke nur Waitz 1846 zitiert; S. 21 Anm. 42: Über‐ nahme der Hinweise auf Stellen des Edictus Rothari, der Lex Burgundionum und Liutprand aus Waitz 1865, S. 69 Anm. 2, den Gierke hier nicht zitiert; S. 23 Anm. 51: Übernahme der Hinweise auf Eichhorn und Grimm aus Waitz 1865, S. 57 Anm. 1, den Gierke zitiert. 23 Gierke 1868, S. 24 Anm. 57: Waitz (1865, S. 75) versuche „Zurückführung der späteren Gra‐ desbeschränkungen (sc. der Verwandtschaft) auf eine durchgehende Grundzahl“. Das ist min‐ destens ungenau, denn Waitz schreibt, man habe zwar „im Laufe der Zeit“ ein Bedürfnis ge‐ fühlt, „innerhalb der Verwandtschaft gewisse Unterscheidungen zu machen“, läßt aber dahin‐ gestellt, ob es auf den siebten Grad ankommen soll. - Gierke 1868, S. 21: „sicherlich bildete sie (sc. die Sippe) einstmals ein Familiengericht“, in der zugehörigen Anm. 40 wird die abwei‐ chende Meinung Waitz’ (1865, S. 69) nicht erwähnt. 24 Ausführlich zu den in Betracht kommenden lateinischen und griechischen Wörtern Wiebrock 1979, S. 7-52. Zu „parentes“ erscheint hier aber nur ein Beleg, weil Wiebrock lediglich „Quel‐ len der Zeit der Völkerwanderung bis ungefähr zum Jahre 500 n. Chr.“ (2) heranzieht, also vor allem nicht die Volksrechte.

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und immer wieder „parentes“ („parentes“ heißt nicht nur Eltern, sondern durchaus auch „Verwandte“25). Die Vielfalt der Ausdrücke ist verwirrend, muß aber nicht unbedingt gegen die Sippentheorie sprechen26. Es kann für einen Begriff mehrere synonyme Wörter geben, und Ausdrücke wie „cognati“ oder „parentes“, die je nach dem Kontext „Verwandte“ bedeuten können, umfassen in jedem Fall auch die Sippe, die sich ja aus Verwandten zusammensetzen soll. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wer überhaupt mit wem verwandt ist und ob alle Verwandten zur Sippe gehören. Zweifelhaft war zu Gierkes Zeit schon der germanische Begriff der Verwandtschaft. Im allgemeinen nahmen Gierkes Zeit‐ genossen an, dass in der Entwicklung von der ältesten Zeit bis zum frühen Mittelal‐ ter eine Verengung des Begriffes stattgefunden habe, eine allmähliche Begrenzung der Verwandtschaft auf den fünften, sechsten oder siebten Grad27. Gierke betont aber, „daß in älterer Zeit von einer Beschränkung der Sippe auf gewisse Grade nie die Rede ist“28. War dann aber auch noch der entfernteste Verwandte Mitglied der Sippe?29 Gierke macht zwei Einschränkungen. Zum einen sollen zur Sippe nur die Agnaten gehören30. Zum anderen kann es sein, dass auch die Agnaten, wenn die Zeit des Stammvaters schon lange zurück liegt, weit verstreut und/oder sich ihrer Zusammengehörigkeit nicht mehr bewußt sind. Gierke löst das Problem so: „Der thatsächliche Zustand, das Leben selbst entschied darüber, zu welcher Sippe Je‐ mand gehöre, eigner Wille und Anerkennung der Genossen bestimmten bei entstehenden Zweifeln... die Grenzen der verschiedenen Geschlechter“,

und schon vorher: „Die wirkliche Lebensgemeinschaft, das Bewußtsein der Bluts‐ verwandtschaft, das räumliche Zusammenleben entschieden“31. Irgendwelche Quel‐ lenbelege für das eine oder das andere sind nicht ersichtlich. Immerhin ist die zweite Einschränkung wenigstens plausibel. Daß sie in den Quellen nicht vorkommt, ist kein zwingender Einwand, denn man darf nicht erwarten, dass die rohen und sprachungewandten Rechtstexte der Frühzeit eine so feine Differenzierung wieder‐ geben konnten; es wäre vorstellbar, dass sie im „parentes“-Begriff eine Unterschei‐ dung wie die Gierkesche mitdachten, ohne sie formulieren zu können. Einen Beweis dafür gibt es allerdings auch nicht. 25 Deutlich z.B. Lex Burgundionum (MGH Leges, Edition Friedrich Bluhme) tit. 35, § 2: wenn ein freies Mädchen freiwillig einem Sklaven folgt, werden beide getötet. § 3: Wenn die paren‐ tes des Mädchens ihre parens nicht bestrafen wollen („quodsi parentes puellae parentem suam punire fortasse noluerint“), wird das Mädchen in königliche Sklaverei geführt. 26 Dazu auch Wiebrock, S. 52. 27 S. etwa die Nachweise bei Waitz 1865 S. 75, und bei Gierke 1868, S. 24 Anm. 57 (auch hier unter Übernahme von zwei Zitaten Waitz’). 28 Gierke 1868, S. 24. 29 Maurer 1853, S. 52 f.: „Ueber die innere Organisation (d.h. die Zusammensetzung) dieser Ver‐ bindung fehlen uns alle Nachrichten“. 30 S. o. zu Fn. 5. 31 Gierke 1868, S. 25 und 24 mit Anm. 57.

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2.2 Kollektive Rechte und Pflichten der Sippe? Rechte und Pflichten der Sippe als solcher sehen Gierke und mit ihm die zeitgenös‐ sischen Autoren in Fülle. Die Sippe soll einen eigenen Heeresverband gebildet, gemeinsam das Land besiedelt und für die einzelnen Genossen gebürgt haben, sie soll zur Fehde und zu den eventuellen Wergeld- und „Compositions“-Leistungen berechtigt und verpflichtet, zur wechselseitigen Eideshilfe verpflichtet und Vormund Unmündiger gewesen sein, sie soll an Eheschließungen mitgewirkt und ein eigenes Vermögen gehabt haben. Die drei wohl wichtigsten Fälle sind die folgenden: Die Berechtigung zum Erhalt und die Verpflichtung zur Leistung von „Compositionen“ nach Fehde-Handlungen (2.2.1), die Vormundschaft (2.2.2) und das eigene Vermö‐ gen der Sippe (2.2.3).

2.2.1 Die Verpflichtung und Berechtigung der Sippe bei Wergeld und anderen Kompositionsleistungen Die Fehde mit ihren weiteren Auswirkungen galt schon immer als ein Bereich, in dem die Sippe eine besonders wichtige Rolle spielte. Ich beschränke mich auf die Leistungen, die zwecks Ablösung der Fehde zu erbringen waren. Gierke scheint das Recht der Sippe zum Empfang und ihre Pflicht zur Erbringung der Ersatzzahlungen (oder Sachleistungen) auf ein und dasselbe Prinzip zurückzuführen32. Sehr viel reichhaltiger sind aber die Hinweise auf eine gemeinschaftliche Berechtigung der Sippe. Das überrascht insofern nicht, als jedenfalls bei Totschlag kein unmittelbar Berechtigter (Geschädigter) existiert und notgedrungen einzelne oder alle Verwand‐ ten ins Spiel kommen, während es einen unmittelbar Verpflichteten in Gestalt des Täters immer gibt. Tacitus berichtet, dass bei leichteren Delikten ein Teil der Sühne dem König oder dem Gemeinwesen („regi vel civitati“), ein Teil dem Verletzten oder seinen Verwandten („ipsi, qui vindicatur, vel propinquis eius“) geleistet wer‐ de33, während bei Tötungen das gesamte Haus („recipit... satisfactionem universa domus“) die Entschädigung erhalte34. „Domus“ kann zwar, wie wohl auch Gierke sieht, kaum mit „Geschlecht“ oder „Sippe“ übersetzt werden, aber er meint, Tacitus habe sich hier nur „weniger genau“ ausgedrückt35. Weiterhin verweist er auf die von

32 Gierke 1868, S. 18 („Die ganze Sippe... empfieng... die Sühne. Die ganze Sippe... zahlt mit ihm [sc. dem Genossen] die verwirkte Buße“, Hervorhebung im Original), 19 („Haftung für und Anspruch auf Wergeld“), 20 („Empfang und Zahlung der Buße“). 33 Tacitus: Germania, c. 12: „Sed et levioribus delictis pro modo poena: equorum pecorumque numero convicti multantur. Pars multae regi vel civitati, pars ipsi, qui vindicatur, vel pro‐ pinquis eius exsolvitur“. 34 Tacitus: Germania, c. 21. . 35 Gierke 1868, S. 15 Anm. 1.

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Reinhold Schmid gesammelten angelsächsischen Quellen. So bestimmt ein Gesetz von König Ine, bei Tötung eines Ausländers „erhalte der König zwei Theile der Were, den dritten Theil der Sohn oder die Magen“, und ein sehr viel späteres Gesetz Heinrichs: wenn ein Anglicus ohne Verschulden getötet werde, sei das Wergeld den Verwandten („parentibus“) zu zahlen 36. In den Volksrechten findet sich weniger. Nach der Lex Frisionum muß, wer einen Liten tötet, an dessen Herrn drei Viertel und an die Verwandten („propinquis occisi“) ein Viertel der Entschädigung leisten37, etwas Ähnliches ordnet die Lex Saxonum38 an. Auch dies sind jedoch Sonderfälle, von ihnen abgesehen tauchen die Verwandten nicht als Einheit, sondern nur in bestimmten Gruppen auf39. Gierke sieht darin eine allmähliche Verdrängung des Sippenrechts durch das Erbrecht40. Und auch nur noch in den „Volksrechte(n) der Salfranken41, Friesen und Sachsen“ seien „die propinqui allgemein betheiligt“, wäh‐ rend das „ripuarische, alamannische und bairische Gesetz... von der Theilnahme der Magen an den Fehde- und Wergelds-Verhältnissen bereits keine Spur mehr“

enthalten42. Gierke erkennt also selbst, dass die Quellen aus der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends n. Chr. seine Vorstellungen nicht ausreichend stützen. Die Belege sind vereinzelt, räumlich und zeitlich verstreut, und beweisen nicht, dass die Sippe irgendwann einmal im gesamten - nordischen, angelsächsischen und kontinentalen

36 Gesetz Ine’s (vor 690) c. 23 = Schmid 1858, S. 30 (Original), 31 (Übersetzung); Gesetz Hein‐ richs: Leges Henrici, 69 = Schmid 1858, Anhang 21, S. 432 ff. S. 470: wenn ein Anglicus ohne Verschulden (meritum) getötet wird, „secundum pretium natalis sui et loci consuetudinem de wera parentibus componatur“. 37 Lex Frisionum I 7 (MGH Leges, Edition v. Richthofen): „Si litum occiderit, solidos 27 uno denario minus componat domino suo, et propinquis occisi solidos 9 excepta tertia parte unius denarii“. 38 Lex Saxonum 18 (MGH Leges, Edition v. Richthofen): Wenn ein Lite einen Menschen tötet und dies ohne Wissen seines Herren tut, wird er vom Herrn entlassen „et vindicetur in illo et aliis septem consanguineis eius a propinquis occisi, et dominus liti se in hoc conscium non esse cum undecim iuret“. 39 Lex Frisionum I 1: Bei der Tötung eines Edlen (nobilis) durch einen anderen Edlen sind außer dem Erben nur die nächsten Verwandten („propinqui proximi“) zu einem Drittel beteiligt. Pac‐ tus legis Salicae, 65 § 1 (MGH Leges, Edition Eckhardt): „Si cuiuscumque pater occisus fuerit, medietatem compositionis filii colligant, et aliam medietatem parentes, qui proximiores sunt tam de patre quam de matre, inter se dividant“. 40 Gierke 1868, S. 20 f. Als Beleg für die angebliche Entwicklung vom Sippen- zum Erbrecht zitiert er (Anm. 35) die Lex Thuringorum 31 (MGH Leges, Edition v. Richthofen): „Ad quem‐ cunque hereditas terrae pervenerit, ad illum vestis bellica, id est lorica, et ultio proximi, et solu‐ tio leudis debet pertinere“. 41 Das ist unzutreffend, da der Pactus legis Salicae nur die „proximiores“ parentes berechtigt, s.o. Fn. 39. 42 Gierke 1868, S. 20 f.

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- „germanischen“ Recht (an dessen Einheit Gierke glaubt43) eine eigenständige Korporation gewesen ist. Um das annehmen zu können, muß man die vorhande‐ nen Zeugnisse als bruchstückhafte Reste eines viel umfassenderen älteren Rechts‐ zustands betrachten. Warum er das für berechtigt hält, begründet Gierke erst am Ende des Sippenkapitels. Er meint vor allem, die „Zerstreuung der keine Städte kennenden Germanen über große Länderstrecken, die Ansiedlung einzelner Teile des Geschlechts an anderen Orten, das Eintreten Vieler in Gefolgschaften und Eroberungsheere“ hätten „eine räumliche Trennung der Sippen herbei“ geführt, „welche damals sehr bald jeden Zusammenhang lösen mußte“44. Es soll also vor allem ein Zerfall der Sippen im Laufe der Völkerwanderung verantwortlich sein. Außerdem spiele die „gesteigerte Berücksichtigung der weiblichen Verwandtschaft“ eine Rolle und die Abneigung der erstarkenden öffentlichen Gewalt, „Vieles, was als Gewohnheitsrecht noch lange fortbestand“, in den „leges“ und den anderen Quellen aufzuzeichnen45. Das könnte so gewesen sein, aber aus der Zersplitterung der Sippen und dem zunehmenden Einfluß der Obrigkeit ergibt sich noch nicht, daß die Sippen vorher Genossenschaften mit kollektiven Rechten waren. Noch dürftiger sind die Belege für eine Verpflichtung der ganzen Sippe. Tacitus gibt keinen einzigen und spricht nur von dem entsprechenden Recht46. Gierke be‐ zieht sich vor allem wieder auf die angelsächsischen Rechtsquellen, weil „hierin noch keine wesentliche Änderung (sc. gegenüber der Frühzeit) erfolgt“ sei47. So haften nach einem Gesetz Aethelbirhts, das um 600 n. Chr. entstanden ist, die Verwandten eines landflüchtigen Mörders auf das halbe Leutgeld48. Ähnlich läßt ein späteres Gesetz Aelfreds die mütterlichen Magen eines (väterlich) magenlosen Tä‐ ters auf ein Drittel haften49, auch hier ist vielleicht Flucht des Täters vorausgesetzt. Aber beide Gesetze betreffen einen Sonderfall, da in den anderen in diesem Kontext behandelten Totschlagsfällen keine Verwandtenhaftung eintritt50. Konrad Maurer 43 Jedenfalls „deutsch“ und „germanisch“ verwendet Gierke abwechselnd und scheint es gleich‐ zusetzen, etwa Gierke 1868, S. 15: „Das deutsche Haus“, S. 16: „anders dachte der Germane“, S. 25: Familiensinn „der Germanen“ usw. Daß die einzelnen „germanischen“ oder gar die deut‐ schen Rechte nicht ohne weiteres vergleichbar sein könnten, erwägt er nicht. 44 Gierke 1868, S. 26. 45 Gierke 1868, S. 27. 46 S. o. zu Fn. 33 und 34. 47 Gierke 1868, S. 19, auch S. 17: „Angelsachsen, bei denen die Magengenossenschaft lange von besonderer Festigkeit blieb“, mit Anm. 16, wo die beiden im Folgenden aufgeführten Stellen zitiert werden. 48 Gesetz Aethelbirhts c. 23, in der Übersetzung von Schmid 1858, S. 5: „Wenn ein Mörder aus dem Lande entweicht, sollen die Magen (im englischen Text „magas“) den halben Leudis gel‐ ten“. 49 Gesetz Aelfreds c. 27, in der Übersetzung von Schmid 1858, S. 87: „Wenn ein Mann, der keine väterlichen Magen hat, ficht und Jemand erschlägt, so sollen, wenn er mütterliche Magen hat, diese einen Drittheil der Were zahlen, einen Drittheil die Genossen, für einen Drittheil fliehe er“ (im lateinischen Text: „si ex materna cognationem habeat, reddat ipsa tertiam partem...“). 50 Nicht beweisend sind andere in diesem Zusammenhang angeführten Texte. Wiederum ein Son‐ derfall ist ein Gesetz Cnuts c. 5, § 2 (dt. Übersetzung Schmid, S. 257), das einen mit Fehde be‐

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meint denn auch, von einer rechtlichen Verpflichtung der Verwandten, für die Buße aller Friedensbrüche eines ihrer Verwandten zu haften, sei in den angelsächsischen Gesetzen „nirgends die Rede“51, es handele sich auch eher um sittliche als rechtliche Pflichten. Schon gar nicht ergibt sich aus den angeführten kontinentalen Quellen eine solche Verpflichtung. Vereinzelt findet sich eine subsidiäre Haftung oder auch nur eine der nächsten Verwandten (also nicht der ganzen Sippe)52. Beide Einschrän‐ kungen verbindet das berühmte Kapitel der Lex Salica „De chrenecruda“53. Wer einen Menschen getötet und mit 12 Zeugen beschworen hat, daß er das Wergeld nicht aufbringen kann, muß von der Schwelle seines Hauses aus Sand auf seinen nächsten Verwandten („quem proximiorem parentem habet“) werfen. Wenn Vater und Brüder nicht zahlen können, muß er Sand werfen auf die drei nächsten aus der mütterlichen und väterlichen Generation. Sodann soll er, barfuß und nur mit einem Hemd bekleidet, über den Zaun springen. Unter den Verwandten wird dann unter Umständen der Sandwurf wiederholt, wenn die näheren nicht leistungsfähig sind. Kann schließlich kein Verwandter für den Täter zahlen, dann büßt dieser mit seinem Leben. Hier haften die Verwandten also nicht nur nicht primär, sondern auch nicht insgesamt als „Sippe“, sondern nur in einzelnen Gruppen. – Einen überzeugenden Beweis für eine reguläre, primäre Mithaftung der ganzen Sippe scheint es nicht zu geben54. Man muß Gierke also glauben, daß die dürftigen Quellen nur aktuelle Reste einer alten, ursprünglich weitergehenden Verwandtenhaftung sind. Das fällt vor allem bei der „Chrenecruda“ schwer, die ja selbst ein archaisches, schon in der

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legten Geistlichen betrifft, der sich mit seinen Magen („cum parentibus suis“) reinigen soll. Weiterhin wird zitiert ein Gesetz Edmunds c. 1, pr. und § 1 (dt. Übersetzung Schmid, S. 177): Einen Totschläger trifft die Fehde, wenn er das nicht mit Hilfe seiner Freunde („amici“) binnen eines Jahres durch volle Wergeldzahlung sühnt. Wenn ihn aber die Magenschaft („cognatio“) verläßt und nicht zahlen will, dann ist sie außerhalb der Fehde, außer dem Täter selbst, sofern sie ihm hinfort weder Nahrung noch Schutz gewährt. Daraus ergibt sich aber wohl kaum eine Verpflichtung der Magen zur Wergeldzahlung. Gierke (1868, S. 19 mit Anm. 26) sieht das zwar wohl ebenso, hält es aber für bemerkenswert, dass jedenfalls von den Magen insgesamt und nicht von einzelnen Personen die Rede ist. S. auch den folgenden Text. Maurer 1853, S. 54 Anm. 5 und 55. Nur subsidiäre Haftung in einer von Gierke (1868, S. 20 Anm. 32) zitierten friesischen Quelle: v. Richthofen 1840, S. 24 o. links. Die Verwandten des Verpflichteten müssen diesem helfen bei der Zahlung: „cognati eius tenentur eium iuvare... si ipse solvere non habet“. Nur Haftung der nächsten Verwandten in der Lex Saxonum II 6 ( = 19 der MGH Leges, Edition v. Richthofen): „Si mordtotum quis fecerit, componatur primo in simplo iuxta conditionem suam; cuius multae pars tertia a proximis eius qui facinus perpetravit componenda est“. Walter 1853, § 468 S. 109 f., scheint „proximi“ auf die Söhne zu beziehen, behauptet aber doch ohne weitere Bele‐ ge, die „Blutschuld“ habe prinzipiell „das ganze Geschlecht“ getroffen. Pactus legis Salicae c. 58; verkürzt in Lex Salica (MGH Leges, Edition Eckhhardt D) c. 100, mit der Überschrift „De crene cruda, quod paganorum tempus observabant“. Gierke (1868, S. 17) drückt sich sogar im Hinblick auf das - von ihm für besonders beweiskräf‐ tig gehaltene - angelsächsische Recht vorsichtig aus: Es werde hier „in einem gewissen Um‐ fang die Gesammtheit der Magen für das Vergehen des Einzelnen haftbar“ erklärt (Hervorhe‐ bung von mir).

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Zeit der Volksrechte als heidnisch und überholt empfundenes Rechtsinstitut war55 soll man in ihr wirklich das sozusagen „moderne“ Überbleibsel eines noch älteren Rechts sehen56? Aber immerhin: So schwach ausgeprägt die kollektive Berechtigung und Verpflichtung der Verwandten in der Zeit der Volksrechte auch sein mag, es bleiben doch einige Fälle, in denen sie nicht mit Sicherheit auszuschließen ist.

2.2.2 Die Sippe als Vormund Ein wichtiger zweiter Bereich kollektiver Sippenrechte soll die Vormundschaft ge‐ wesen sein. „An die Gesammtheit der Genossen... fiel bei den Angelsachsen in ältester Zeit das mundium über Unmündige und Weiber, die ihren Hausherrn verloren, sie übertrug es erst einem einzelnen - und zwar wol dem nächsten - Magen“57.

Gierke zitiert dazu ein Gesetz Hlodhaeres und Eadrices aus der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts58: Nach dem Tod des Ehemannes bei Lebzeiten von Witwe und Kind, soll das Kind bei der Mutter bleiben „und man gebe ihm von seinen väterlichen Magen einen willigen Bürgen, sein Gut zu wahren, bis es zehn Winter alt ist“.

Wenn sich das „man“ auf die Verwandtschaft bezieht, dann setzt hier in der Tat die Sippe den Vormund ein, und in einem Gesetz von König Ine, das denselben Fall betrifft, ist von einem Einzelvormund überhaupt nicht die Rede, sondern nur von der Verwandtschaft (wieder „man“) als ganzer, die für den Unterhalt von Frau und Kind sorgen soll, und „Die Magen sollen den Hauptsitz halten, bis es gejahret ist“59. Schwache Andeutungen einer Gesamtvormundschaft der Sippe enthält auch 55 Schmidt-Wiegand, Sp. 839 f. S. schon o. Fn. 53 (paganorum tempus). Vgl. auch die Institutio‐ nen des Gaius, der schon im 2. Jahrhundert n. Chr. die alten Vorschriften über die Haussuchung durch den nackten Bestohlenen im Hause des Beschuldigten „lächerlich“ findet (Gaius Inst. III 193: „Quae res [lex] tota ridicula est“), und Holzhauer, Sp. 825-829 (826). 56 Das suggeriert allerdings Gierke (1868, S. 21): „Nur noch subsidiär... haften die Verwandten bei den Salfranken“ (Hervorhebung von mir) mit Hinweis auf „De chrenecruda“ in Anm. 38. Aber auch Waitz 1846, S. 176: „die Haftung der Familie... war eben bei den Salischen Franken eine subsidiarische geworden“ (Hervorhebung von mir). 57 Gierke 1868, S. 22 (Hervorhebung im Original). 58 Gesetz Hlodhaeres und Eadrices § 6 = Schmid 1858, S. 12 (englisch), S. 13 deutsch: „Wenn ein Ehemann stirbt, beim Leben von Frau und Kind, so ist recht, daß das Kind der Mutter folge, und man gebe ihm von seinen väterlichen Magen einen willigen Bürgen, sein Gut zu wahren, bis es zehn Winter alt ist.“. 59 Gesetz Ine’s c. 38 = Schmid 1858, S. 39 (deutsch): „Wenn ein Keorl [Gemeinfreier] und sein Weib zusammen ein Kind haben und der Mann stirbt, so habe die Mutter das Kind und nähre es, und man gebe ihr 6 Schillinge zur Verköstigung, eine Kuh im Sommer und einen Ochsen im Winter. Die Magen sollen den Hauptsitz halten, bis es gejahret ist.“ Auch ein sehr viel spä‐ teres Gesetz Heinrichs geht von einer Gesamtzuständigkeit der „parentes“ aus: Leges Henrici.

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eine friesische Rechtsquelle60. Allerdings bezweifelten schon Zeitgenossen Gierkes die kollektive Vormundschaft der Sippe und sprachen ihr im wesentlichen nur eine Obervormundschaft zu61. In den Volksrechten scheint jedenfalls, was auch Gierke nicht bestreitet62, eine Gesamtvormundschaft der Verwandten nicht vorzukommen; Vormund wird ohne weiteres der nächste Schwertmage63. Auch im Fall der Vor‐ mundschaft muß man also, sofern man überhaupt die angelsächsischen Quellen so versteht wie Gierke, von ihnen auf eine ältere Zeit zurückschließen, in der das kol‐ lektive Recht der Sippe im deutschen (oder germanischen)64 Recht noch voll ausge‐ bildet war.

2.2.3 Das eigene Vermögen der Sippe „... vermögensfähig war das Geschlecht unzweifelhaft in seiner Einheit“65. Die Leh‐ re von der Vermögensfähigkeit der Sippe stützt sich im Hinblick auf Grundstücke vor allem auf drei Belege. Caesar berichtet in „De bello Gallico“, dass niemand ein bestimmtes Feld oder Grundstück besitze, sondern „magistratus ac principes“ jähr‐ lich wechselnd „singulos gentibus cognationibusque hominum“ etwas zuteilten66. Nimmt man das ernst67, dann wäre es jedenfalls ein Beweis für das ursprünglich ge‐

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c. 70. § 18 = Schmid 1858, S. 471: Wenn ein Vater stirbt und einen Sohn oder eine Erbtochter hinterläßt, so sollen sie bis zum Alter von 15 Jahren „nec causam prosequantur, nec judicium subeant“ „sed, sub tutoribus et actoribus, sint in parentum legitima custodia saisiti, sicut pater eorum fuit in die mortis et vitae suae“. Emsiger Recht § 7b = v. Richthofen 1840, S. 194 ff. „Das emsiger Pfenningschuldbuch“. S. 196 § 7, dritte Version, rechte Spalte: wer des elternlosen Kindes Gut nimmt, soll es zur Rechnung bringen „myt daer menen [gemeinsamen] vrunde raet“. Zum angelsächsischen Recht Maurer 1853, S. 54: Die Unterstützungspflicht der Verwandten werde „weniger von der Verwandtschaft als Gesammtheit als von deren einzelnen Angehöri‐ gen... getragen“. Dass es nur eine Einzelvormundschaft gegeben habe, die mit dem Fehderecht verbunden gewesen sei, meint Kraut 1835, S. 11 mit Anm. 6, 31 f., 168; gegen ihn aber Gierke 1868, S. 18 Anm. 20. Gierke 1868, S. 22: es war die (ältere) „einheitliche Organisation schon gelöst“. Lex Saxonum 42 (MGH Leges, Edition v. Richthofen): „Qui mortuus viduam reliquerit, tutel‐ am eius filius, quem ex alia uxore habuit, accipiat; si is forte defuerit, frater idem defuncti; si frater non fuerit, proximus paterni generis eius consanguineus“; Lex Saxonum 44 (MGH Le‐ ges, Edition v. Richthofen) „Qui defunctus non filios sed filias reliquerit, ad eas omnis heredi‐ tas pertineat; tutela vero earum fratri vel proximo paterni generis deputetur“. Zum Ganzen Kraut 1835, S. 166 f., 185; Stobbe 1884, S. 434. S. o. Fn. 43. Gierke 1868, S. 23. Caesar: De bello gallico, VI 22 (2): „neque quisquam agri modum certum aut fines habet proprios, sed magistratus ac principes in annos singulos gentibus cognationibusque hominum quique una coierunt, quantum et quo loco visum est agri, adtribuunt atque anno post alio transire cogunt“. Kritisch in der modernen Literatur Murray 1983, S. 42 ff. Caesar habe das nicht aus eigener Kenntnis geschrieben, sondern folge nur einer damals schon traditionellen ethnographisch-hi‐ storischen Sichtweise (45). Die „Clan“-Theorie überschätze Caesars Äußerungen (50).

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meinschaftliche Grundeigentum der (wie auch immer abgegrenzten) Sippe. Des wei‐ teren wird eine Tacitus-Stelle angeführt: Die Äcker würden von der Gesamtheit in Besitz genommen, dann aber bald „inter se“ entsprechend der Würdigkeit verteilt68. Demnach würde das Land jedenfalls vorübergehend im Gesamteigentum sein, und noch länger, wenn man annimmt, daß die „universi“ es zunächst den Sippen und erst diese den Einzelnen überlassen69. Ein dritter vielzitierter Beleg ist eine Stelle aus der Lex Alamannorum70, die von einem Streit „inter duas genealogias“ über die Grenzen ihres Landes handelt. „Genealogia“ könnte „Sippe“ bedeuten, könnte aber auch lediglich eine Sammelbezeichnung (vielleicht ein Familien- oder Ortsname) für eine Gruppe von Individualeigentümern sein71. Einen sicheren Schluß für oder gegen ein ursprüngliches Gesamteigentum der Sippe läßt also auch diese Stelle nicht zu. Gierke sieht natürlich auch, daß es jedenfalls in der Zeit der Volksrechte Einzel‐ eigentum an Grundstücken gab72, und lehnt es ab, die im Mittelalter fortdauernde Bindung dieser Güter (durch Beispruchsrecht, Erbenlaub) aus einem Gesamteigen‐ tum der Sippe zu erklären73. Auch Sippeneigentum an beweglichen Sachen hält Gierke für möglich: „Heilige Geräthschaften, Vieh, Waffen mochten in ungetrenntem Gesamtbesitz sein“74. Sein Beleg dafür ist eine Tacitus-Stelle, wonach Totschlag durch eine gewisse Zahl von Waffen und Vieh gesühnt werden kann, welche die „domus“ (was Gierke mit „Sip‐ pe“ übersetzt) empfängt75. Gierke meint zwar, die Sühneleistung sei „nachher vert‐ heilt“ worden, aber einiges (Vieh) als Geschlechtsopfer zurückbehalten worden76. Auch hier, wie beim Grundeigentum, ergibt sich also, dass es solches Sippeneigen‐ tum gegeben haben könnte.

68 Tacitus: Germania, 26 (1): „agri pro numero cultorum ab universis in vices occupantur, quos mox inter se secundum dignationem partiuntur“. 69 So in der modernen Literatur etwa Schulze 1986, S. 38. 70 Lex Alamannorum (lib. 2 = MGH Leges, Edition Pertz) 87: „Si quis contentio orta fuerit inter duas genealogias de termino terrae eorum...“. 71 Murray 1983, S. 99 ff. meint, es handele sich um Erbengemeinschaften. Zum Verständnis der Zeitgenossen Gierkes siehe Waitz 1865, S. 76 mit Anm. 4, der annimmt, es handele sich entwe‐ der um „ganze Dörfer“ oder „größere Familienverbände“. Er selbst denkt wohl eher an das zweite. 72 Siehe etwa die Vorschrift „De alodis“ der Lex Salica (= 59 des Pactus legis Salicae). 73 Gierke 1868, S. 23. Soweit das Sippeneigentum an Grundstücken nicht aufgeteilt worden sei, setze es sich jedoch als Gemeindevermögen fort. 74 Wie vorige Fn. 75 Tacitus: Germania, cap. 21 (1): „luitur enim etiam homicidium certo armentorum ac pecorum numero recipitque satisfactionem universa domus“. 76 Gierke 1868, S. 23 Anm. 52. Was sollte auch - jedenfalls nach Aufteilung des Grundeigentums - die Sippe als solche mit einem Viehbestand anfangen? .

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2.3 Die Organisation der Sippe Nahm man einmal an, dass eine Sippe mit eigenen Rechten und Pflichten existiert hatte, dann mußte sie auch irgendwie organisiert gewesen sein. „War nun aber so die alte Sippe eine wahre Genossenschaft, so muß sie selbst bei den einfachsten Zuständen eine gewisse Organisation gehabt haben“77.

Methodisch handelt es sich hier um einen Schluß, welcher in der, Gierke wohlbe‐ kannten, Rechtstheorie der späten historischen Rechtsschule in den Bereich der „Construction“ fiel - ein Schluß, der allerdings in der Geschichtswissenschaft noch riskanter ist als in der dogmatischen Rechtswissenschaft: Aus verschiedenen We‐ senszügen eines speziellen Rechtsphänomens („Sippe“) entnimmt man, dass es einem bestimmten Gattungsbegriff (hier „Genossenschaft“) unterzuordnen ist, und daraus dann wieder, dass auf das konstruierte Phänomen alle Sätze anwendbar sind, die für die Gattung gelten78. Hier also: Die Sippe ist eine Genossenschaft, jede Genossenschaft hat eine Organisation, also auch die Sippe. Irgendwelche Quellenbe‐ lege dafür gab es nun aber überhaupt nicht mehr, was Gierke auch nicht bestreitet: „Über die Verfassung des Geschlechts... besitzen wir nun freilich nur spärliche Nachrichten“, und später noch deutlicher: „Wir wissen nichts über die Grundsätze, welche das Verhältniß des Genossen in der Sippe, Berathungen und Beschlußfassungen, Versammlungen, Vorstandschaft, Vertre‐ tung nach außen, Aufbringung gemeinschaftlicher Lasten und Benutzung gemeinsamen Eigenthums bestimmt haben“.

Er hält es für wahrscheinlich, dass die Sippe zum Vorbild der „Verfassung der freien Volksgemeinde“ geworden ist, so dass man von dieser zurückschließen könne79. Immerhin glaubt Gierke wenigstens für die Existenz von Familiengerichten eini‐ ge Anhaltspunkte zu haben. „Sicherlich bildete sie (sc. die Sippe) einstmals ein Fa‐ miliengericht“80. Er findet das „angedeutet“ von Tacitus, bei dem es für den Fall des Ehebruchs der Frau heißt: Mit abgeschnittenen Haaren, nackt, „coram propinquis“, treibt sie der Mann aus dem Haus und jagt sie mit Prügel durch das ganze Dorf81. Dass „coram propinquis“, offen vor den Verwandten (oder nur Nachbarn?), ein Familiengericht andeuten soll, ist allerdings nicht gerade sehr einleuchtend. Auch hatte Gierke dieselbe Stelle vorher schon als Beweis für die Gerichtsbarkeit des Hausvaters verwendet, so dass er nun annehmen muß, das Familiengericht habe „die Gerichtsbarkeit des einzelnen Hausvaters in einer freilich nicht näher zu ermit‐ 77 78 79 80 81

Gierke 1868, S. 25. Dazu Schröder 2020, § 67 II 2 b, S. 278. Gierke 1868, S. 16, 25. Gierke 1868, S. 21. Tacitus: Germana, cap. 19: „abscisis crinibus nudatam coram propinquis expellit domo maritus ac per omnem vicum verbere agit“.

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telnden Weise beschränkt(e)“82. Die von ihm angeführten weiteren Quellen belegen allenfalls, dass die „parentes“ eine Frau oder ein Mädchen bei Unzucht bestrafen konnten, nicht aber, dass sie ein Gericht bildeten83. Nicht sonderlich korrekt ist auch die Art und Weise, wie Gierke hier die zeitgenössische Literatur zitiert: Als Ge‐ währsleute für das Vorhandensein von Sippengerichten nennt er Kraut, Unger und Zöpfl84, verschweigt aber, dass Unger keine Belege für Verwandtengerichte sieht85 und übergeht ganz das ablehnende Votum von Georg Waitz86.

3.0 Zusammenfassende Überlegungen Trotz der inhaltlichen Einwände liest man das Sippenkapitel auch heute noch mit einer gewissen Bewunderung. Es beeindrucken die Souveränität des 27-jährigen Autors, sein sicherer Umgang mit den Quellen und der Literatur, seine energische, gewandte, aber doch wissenschaftlich nüchterne Rhetorik - und seine Arbeitskraft, wenn man bedenkt, dass das Sippenkapitel wenig mehr als ein Hundertstel des Riesenwerks ausmacht. Dass es mit der Literatur hin und wieder ungenau oder nicht ganz fair umgeht, mag man aufs Ganze gesehen verzeihlich finden. Aber Gierkes Beweise für die Existenz einer germanischen Sippe, die als Genossenschaft kollek‐ tive Rechte und Pflichten hatte und körperschaftlich organisiert war, sind, wenn auch nicht ohne weiteres widerlegbar, so doch nicht voll überzeugend. Unsicher ist schon, welche lateinischen Wörter überhaupt als Äquivalent für „Sippe“ anzusehen sind und welche Personen die Sippe umfassen soll. Weiterhin steht zwar fest, dass nicht nur antike Autoren, vor allem Tacitus, sondern auch die Volksrechte und die gleichzeitigen angelsächsischen Quellen Hinweise auf eventuelle gemeinsame Rechtszuständigkeiten der Verwandten enthalten. Die Belege sind jedoch äußerst lückenhaft, was Gierke nicht bestreitet. Für ihn sind die vorhandenen Zeugnisse auch nur Spuren, Reste einer vor die Volksrechte oder sogar vor die römischen 82 Gierke 1868, S. 15 Anm. 7, S. 21. 83 Es handelt sich um Edictus Rothari 189 (parentes können die Unzucht rächen), 193 (wenn ein freies Mädchen einem Sklaven folgt, dann „requirant“ sie der Herr des Sklaven und die paren‐ tes des Mädchens. Und wenn man sie findet, bekommen beide die gesetzliche Strafe), 221 (wenn ein Sklave eine freie Frau oder Mädchen „in coniugium“ führt, ist sein Leben bedroht und die parentes haben über die im Einvernehmen mit ihm handelnde Frau oder Mädchen die Macht, sie zu töten oder des Landes zu verweisen und mit ihren Sachen zu tun, was sie wol‐ len). - Lex Burgundionum Tit. 35, § 2: wenn ein freies Mädchen freiwillig einem Sklaven folgt, werden beide getötet. § 3: Wenn die parentes des Mädchens es nicht bestrafen wollen, wird es in königliche Sklaverei geführt; Liutprandi leges cap. 24: Wenn eine freie Frau sich mit einem Sklaven verbindet und die parentes das innerhalb eines Jahres nicht rächen, dann wird sie Magd des Palatium. Vgl. auch Kaufmann 1990 b, Sp. 1670-1672. 84 Gierke 1868, S. 21 Anm. 40. 85 Unger 1842, S. 84: „Von einem solchen gerichte der magen ist uns nun freilich keine kunde überliefert“. 86 Waitz 1865, S. 69: „ohne dass... von eigenen Familiengerichten die Rede sein kann“.

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Autoren zurückreichenden87 viel umfassenderen Sippenordnung, die nach und nach zerfallen ist. Schon gar nicht existieren, wie Gierke selbst sieht, Beweise für eine körperschaftliche Organisation der Sippe. Es ist das Eigentümliche des Sippenkapitels, dass es grundsätzlich eine voll aus‐ gebildete genossenschaftliche Struktur der germanischen Sippe behauptet, die Quel‐ lenzeugnisse aber weit dahinter zurückbleiben – und Gierke selbst das zugesteht. Über die Lücken helfen die Überlegungen zum Zerfall der Sippen (o. 2.2.1 zu Fn. 43 ff.) und die „konstruktive“ Begründung einer Sippenorganisation (o. 2.3 zu Fn. 77 ff.) nicht hinweg. Was Gierke Sicherheit gibt, ist offenbar sein hinter dem Ganzen stehender Glaube, das genossenschaftliche Denken sei tief im germanischen Wesen verwurzelt und reiche vor die schriftlichen Quellen zurück. Diese Überzeu‐ gung prägt das gesamte „Genossenschaftsrecht“ und Gierkes Staatsverständnis über‐ haupt und sie mußte sich gerade auf die Beurteilung der Sippe auswirken: Die Ger‐ manen haben „Eine Gabe vor allen Völkern voraus - die Gabe der Genossenschafts‐ bildung“, schon vor ihrem „Eintritt in die Geschichte“ waren die „Familienverbin‐ dungen unzweifelhaft... in irgendeiner Zeit die einzigen organisirten und ihres Zu‐ sammenhangs bewußten Verbände“, und der „Prototyp“ des genossenschaftlichen Verbands ist nun eben „das Geschlecht, die Sippe, die Magschaft“88. Mit der Auffül‐ lung der nachchristlichen Quellenfragmente durch die Genossenschaftsidee verläßt Gierke aber die Geschichtsforschung, so professionell sein Umgang mit den Quellen sonst auch ist. Die Sippe mußte eine germanische Genossenschaft gewesen sein, weil es sonst keine in der quellenlosen Frühzeit gegeben hätte. Die Frage, wie sich dieser „Mangel“ des Sippenkapitels auf den gesamten Bau der Genossenschaftstheo‐ rie auswirkt, ist eigentlich sinnlos. Das Sippenkapitel ist unlösbar mit der Genossen‐ schaftslehre verknüpft und man kann den „Germanismus“ von beidem nur entweder ablehnen oder akzeptieren. Abkürzungen HRG = Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte MGH = Monumenta Germaniae historica ZRG (Germ. Abt.) = Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Germanistische Abteilung)

87 Das deutet er 1868, S. 28, an: „Die Entstehung von Stämmen, Völkern und Nationen aus Er‐ weiterungen, Verzweigungen und Vereinigungen der Geschlechter fällt in das Dunkel vorge‐ schichtlicher Zeit“ - also fällt auch die Rechtsverfassung der „Geschlechter“ in eine Zeit, die noch vor Gierkes eigentlicher Zeitgrenze des 2. Jahrhunderts v. Chr. (s. o. zu Fn. 8) liegt. 88 Gierke 1868, S. 3, 12, 14 f. Vgl. auch die vorige Fn.

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Peter Nitschke Volkssouveränität missverstanden: Die Althusius-Rezeption bei Otto von Gierke in der Relektüre

Otto von Gierke hat eine beeindruckende Publikationsbandbreite in der juridischen Auslegung von Staat, Recht und Volk hinterlassen. Als maßgeblicher Repräsentant der so genannten Germanistischen Schule unter den deutschen Staatsrechtlern hat Gierke stets, ganz wie sein Lehrer Georg Beseler (1809-1888), gegenüber der Roma‐ nistischen Schule die Historizität des deutschen Rechts in seiner tradierten Entwick‐ lung betont.1 Vertreter der Germanistischen Schule nehmen intentional auch eine Frontstellung zum modernen Naturrecht ein. Gierke unterstreicht in all seinen Stu‐ dien immer wieder ebenso die Abgrenzung zum Rechtspositivismus, den er heftig bekämpft hat.2 Eines der zentralen Argumentationsfelder seiner Staatsrechtslehre ist die so genannte Genossenschaftstheorie. Hierzu hat ihm auch die juristische Zunft große Anerkennung zu Teil werden lassen. Allerdings ist (und wird) dabei meist unterschlagen, wie sehr sich Gierke hierbei auf den prämodernen Denker Johannes Althusius (1563-1638) bezogen hat, dessen Politica in ihren Grundzügen und auch vom normativ-logischen Verständnis für Gierke das entscheidende Paradigma darge‐ stellt hat, welches ihm für seine systematische wie ebenso subtile Rekonstruktion des (deutschen) Genossenschaftsrechts Pate gestanden hat. Im Folgenden geht es daher um die Rekonstruktion und Aufarbeitung der maßgeblichen Argumente und Interpretamente, die für Gierke in seiner Lesart der Theorie des Althusius zielleitend gewesen sind für sein grundsätzliches Verständnis von moderner Staatlichkeit, dem Volksbegriff und hierin inkludiert – der Begründungsperspektive für die Qualität der Souveränität.

I. Die Genossenschaft als Organon Zunächst einmal ist bemerkenswert das Leitverständnis für die Genossenschaft, mit der Gierke über all die Jahre hinweg geradezu beharrlich argumentiert hat. Paradig‐ matisch kommt dies neben seinen systematischen Abhandlungen dazu auch in seiner Antrittsrede als Rektor der Humboldt Universität im Oktober 1902 zum Ausdruck.

1 Vgl. Schmidt 2010, S. 134ff. 2 Vgl. dazu auch Stolleis 1992, S. 360f.

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Ohne das hier der nominale Bezug auf Althusius fällt, wird doch deutlich, wie sehr das prämoderne Genossenschaftsbild das juristische Denken Gierkes beherrscht. In ihrem epistemologischen Kern ist dieses Verständnis nicht nur organologisch, sondern auch spezifisch metaphysisch angelegt. Denn gleich zu Beginn seiner Rek‐ toratsrede rekurriert Gierke in seinen Ausführungen auf die „verborgenen Reiche des wesenhaft und ewig Wahren“.3 Aus diesem normativen Grundverständnis heraus wird der gesellschaftliche Körper, der Staat, getragen und gebildet von einer Viel‐ zahl anderer gesellschaftlicher Körper (den Kirchen, den Gemeinden und eben den Verbänden). Deshalb ist für ihn die Frage nach „dem Wesen der Verbände“ die „Kernfrage“ für die juristische Perspektive.4 Die Orientierung an den Verbändestaat erfolgt hier zugleich mit einer Kritik bzw. Frontstellung zum individualistischen Prinzip des modernen Naturrechts, hier insbesondere der Kontrakttheorie. Die Vorstellung, dass „nur einzelne Menschen als in sich abgeschlossene subjektive Einheiten“ zu betrachten seien,5 diese Vorstellung teilt Gierke überhaupt nicht. Er findet sie im Gegenteil kognitiv schädlich, weil damit die Wirklichkeit des Rechts nicht zu begreifen sei. Denn aus einer Vorstel‐ lung vom Individuum als der entscheidenden Rechtsperson heraus würde jegliche Auffassung vom Staat dann nur abgeleitet, letztlich fiktiv werden.6 Ein „aus der Gemeinschaft“ herausgelöstes Individuum wäre jedoch selbst schon eine Fiktion,7 insofern ist für Gierke die moderne Naturrechtsvorstellung der falsche Weg für die angemessene Interpretation der Rolle des Staates. Denn der Staat ist, hierin folgt er Aristoteles, mehr als nur die Summe seiner Teile. Wer dies verkennt, der versteht nicht die Wirkungsmacht der kollektiven Existenz – und vor allem ihre Sinnhaftigkeit, die eben nicht in einer mechanischen Arithmetik ihrer individuellen Einzelmitglieder aufgeht:8 „Die Apostel der Volkssouveränetät neigten dazu, den Staat in die Summe der Bürger zu verlegen“. Interessanterweise betrachtet Gierke diese naturrechtliche Wendung als ein kognitives Phänomen, welches mit dem Sie‐ geszug des Nominalismus eingesetzt habe. Das wäre dann gegen Hobbes gerichtet, wenn er hier vom „Sturz des Rationalismus durch den Nominalismus“ spricht.9 Demgegenüber insistiert Gierke weiterhin auf den aristotelischen Leitgedanken, „bei dem das Verhältnis der Einheit des Ganzen zur Vielheit der Teile der Regelung durch äussere Normen“ auch unmittelbar für den individuellen Willen betrachtet werden müsse.10 Nach seinem Verständnis von Staatlichkeit lässt sich dies eigentlich Gierke 1902, S. 1. Ebd., S. 3. Ebd., S. 4. Ebd., S. 7. Aus Gierkes Sicht ist tatsächlich das gesamte römisch-kanonische Rechtsgebäude nichts anderes als eine Fiktionstheorie. Vgl. hier auch Schröder 2017, S. 156. 7 Vgl. Gierke 1902, S. 8. 8 Ebd., S. 9. Die Schreibweise des Begriffs findet sich so tatsächlich bei Gierke. 9 Ebd., S. 11. 10 Ebd., S. 12.

3 4 5 6

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nur über die Betrachtung der politischen Ordnung als organisches Gebilde einlösen. Staat und alle in ihm inkorporierten Einheiten (Verbände) betrachtet Gierke deshalb als „soziale Organismen“.11 Hierbei wird er metaphysisch, spezifisch sogar theolo‐ gisch in der Argumentation, indem er die Metapher vom Corpus Christi gebraucht. So, wie in der Person Jesu Christi die gesamte Menschheit trotz aller Vielheit als ein Leib erscheint, so ist ihm auch der Staat der eine (d.h. einigende) Körper, der alle Verbandskörper umschließt.12 Der Verweis auf diese Metapher zum analogen Ver‐ ständnis von dem, was der Staat ist oder sein könnte, kommt nicht zufällig. Denn: „Alle gedanklichen Fortschritte haben sich mit Hilfe von Bildlichkeit vollzogen“, meint Gierke.13 Tatsächlich fällt es ja auch schwer, sich den demokratischen Verfas‐ sungsstaat in Form eines Bildes vorzustellen. Demgegenüber ist das organologische Verständnis von der Metapher her im Vorteil: die Verbände erfüllen die Funktion von Organen und bilden in ihren je unterschiedlichen Teilen und Strukturen dennoch zusammen das große Ganze, eben den Staat. Nichts anderes meint auch Hobbes, nur hat er das Organon des Menschen als Staat auf die Zusammensetzung durch die vielen kleinen Menschen bezogen.14 Für Gierke bleibt die Bildlichkeit des zu Bedenkenden schon allein deshalb relevant, weil er davon ausgeht, dass wir nicht wissen, „was eigentlich das Leben ist“.15 Insofern ist auch das Denken in Form des organischen Systems hier letztlich nur eine analoge Konstruktion für das Verständnis dessen, was faktisch ist. Denn die Gemeinschaft der Menschen in Form ihrer jewei‐ ligen politischen Ordnung existiert. Wo es also eine Existenz gibt, da gibt es auch eine Entität. Deshalb ist die „Gemeinschaft ein wirkendes Etwas“.16 Und diesem Etwas, das seine Wirkung entfaltet, kann man sich als Individuum nicht entziehen. Eine deutliche Absage an den atomistischen Individualismus und Freiheitsbegriff des modernen Liberalismus:17 „Somit kann auch die wirkende Gemeinschaft nicht mit der Summe der sie bildenden Individuen zusammenfallen, muss vielmehr ein Ganzes mit überindividueller Lebenseinheit sein.“ Hier wird dann wieder der aristo‐ telische Topos deutlich sichtbar: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Organologisch ist deshalb für Gierke die Perspektive, fast möchte man sagen, te‐ leologisch, strukturiert: wir alle sind „Teileinheiten höherer Lebenseinheiten“.18 Es 11 Ebd. 12 Vgl. ebd., S. 14. – Man muss sich im Zusammenhang mit dieser originellen Deutung fragen, ob nicht Hobbes tatsächlich sein berühmtes Interpretationsbild vom Leviathan auch aus dieser christlichen Analogie heraus formuliert hat? Immerhin ist der nominale Gebrauch von Jesus Christus im Leviathan die am Häufigsten vorkommende Anzeige. Aber das muss an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden. Vgl. Hobbes 1984, dazu im Ansatz auch Nitschke 2009. 13 Gierke 1902, S. 16. 14 Zur Bildinterpretation dieses zweifellos gelungensten Beispiels einer Visualisierung in der politischen Theorie vgl. u.a. Bredekamp 2006 u. Voigt 2017. 15 Gierke 1902, S. 19. 16 Ebd., S. 21. 17 Ebd., S. 22. 18 Ebd., S. 23.

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lässt sich nun nicht sagen, welche Form der Teleologie er hierbei übernimmt, ob er beispielsweise dem subsidiarischen Stufenmodell von Thomas von Aquin folgt oder einfach dem metaphysischen Grundverständnis des politischen Aristotelismus – wahrscheinlich waren ihm diese Pfadabhängigkeiten auch nicht klar. Es spielt aber auch keine Rolle, denn im Kern handelt es sich hier um ein metaphysisches Lagebild:19 „Das metaphysische Bedürfnis eines einheitlichen Weltbildes wird nicht aussterben und immer wieder aus der Mischung von Wissen und Glauben geborene Versuche hervortreiben, das Welträtsel zu lösen“, betont Gierke in seiner Rektorats‐ rede. Die Konstellation der subsidiarischen Organologie und Metaphysik, wie sie sich bei Althusius findet, deutet Gierke an einer Stelle dann kurz an, indem er auf die in sich gestuften Organe, als den Niederen, den Höheren und dem abschließend Höchstem verweist.20 Wichtig ist ihm hierbei, dass die innere Ordnung stimmig ist. Denn jeder Streit innerhalb einer Ordnung zerstört eben diese Ordnung: wenn vor allem der Widerstreit in der Sache ungelöst bleibt, dann kommt es zur „Läh‐ mung, Erschütterung oder gar Auflösung“.21 Die strukturelle Krise, die ein jeder Widerstreit innerhalb einer politischen Ordnung auslöst, kann, wenn am Ende alle institutionellen Mechanismen versagt haben, nur noch mit Macht gelöst werden. Überraschenderweise ist dies dann für Gierke, der doch stets für die Gültigkeit des Rechts in seiner historischen Zusammensetzung plädiert, der Einsatz von Macht, und zwar einer Macht, die sich „über das bestehende Recht“ hinwegsetzt.22 Dieser Machiavellismus (oder Nietzscheanismus) durch die Hintertür wird aber wieder eingefangen durch die Grundüberzeugung, die Gierke dann ein weiteres Mal aus der aristotelischen Ordnungslehre bemüht, „wenn das Ganze ein höheres und wertvolle‐ res als die Summe der Individuen ist, wenn das Gemeinwesen mehr als ein Mittel für die Zwecke der einzelnen bedeutet“.23 Die Genossenschaft stellt die Basis für die Struktur der politischen Ordnung vor dem Momentum einer jeweils freiheitlichen Willensentscheidung. Gilden und sonstige Genossenschaften betrachtet Gierke als freie Einungen.24 Es ist gerade das damit verbundene Motiv einer freiheitlichen Assoziation zur Sozialität, welche Gierke als Lösung für die Herstellung von politischer Ordnung ansah.25 Eben des‐ halb kann man in seiner Lehre und Interpretation auch keine Anleihen für die NSIdeologie sehen, wie manche Kommentatoren dies bei einer recht oberflächlichen Darstellung gemutmaßt haben. Denn Gierkes Analyse des modernen Staates basiert vor dem Hintergrund der Genossenschaftslehre auf einem dualistischen Grundver‐ 19 20 21 22 23 24 25

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Ebd., S. 24. Vgl. ebd., S. 28. Ebd., S. 30. Ebd. Ebd., S. 35. Oexle 1988, S. 193. Vgl. auch ebd., S. 198.

ständnis: hierbei wird die Herrschaft konträr zur Genossenschaft gesehen, wobei das Plädoyer für das Prinzip einer Vergemeinschaftung von unten gegenüber dem TopDown-Modell der staatlichen Vergesellschaftung erfolgt.26 Ausgehend von der Basis aller Genossenschaften ist der Staat dann in der Summe eine Metaform der Genos‐ senschaft, quasi die Genossenschaft der Genossenschaften schlechthin.27 Man kann in dieser Lehre tatsächlich eine Art „Soziologie der Verbände“ sehen,28 doch ist an‐ dererseits die Organologie eigentlich strikt aristotelisch orientiert und folgt damit den Leitlinien des Politischen Aristotelismus, auch wenn sich Gierke dessen nicht bewusst gewesen sein mag, da die Forschungsdebatte hierzu erst über 100 Jahre spä‐ ter aufgekommen ist.29

II. Die Lehre des Johannes Althusius Für Gierke ist bekanntermaßen die Genossenschaft ein Verein mit selbständiger Rechtspersönlichkeit.30 Anhand seiner äußerst aufwändigen und belesenen Rekon‐ struktion der historischen Erscheinungsformen der Formate dieser Rechtspersönlich‐ keiten in Zeit und Raum wird deutlich, wie sehr der Rechtshistoriker und Staats‐ rechtler aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts genau hierin die entscheidende Grundlage für die Genese und Existenz des modernen Verfassungsstaates vermutet bzw. dies so zu legitimieren versucht hat. Insbesondere die Darstellung zum Deut‐ schen Genossenschaftsrecht als vierter Band seiner quellen- und interpretationsrei‐ chen Beschäftigung damit unterstreicht diesen Befund. In diesem beeindruckend tiefgestaffelten Werk kommen alle Aspekte des Genos‐ senschaftsrechts, aber darüber hinaus auch viele klassischen Fragen des modernen Staatsrechts, zur Interpretation.31 Die Darstellung zu Althusius ist in diesem Monu‐ mentalwerk nur ein kleinerer Part, obwohl man merkt, dass Gierke hierbei bestimm‐ te Theoreme (wie etwa die von der Volkssouveränität oder der föderalen Struktur der Kompetenzmuster) argumentativ um den Emdener Gelehrten herum aufbaut. Neben 26 Vgl. auch Schmidt 2010, S. 135. 27 Das ist aber mehr als eine rein additive Form, wie Schmidt (2010, S. 135) in Verkennung der aristotelischen Bezugslinie meint. 28 Ebd., S. 136. 29 Vgl. dazu u.a. Dreitzel 1970 u. 1991, Bd. 2, S. 547ff., Nitschke 1995a, Fidora u.a. 2007, Horn/ Neschke-Hentschke 2008. 30 Oexle 1988, S. 206. 31 Vgl. Gierke 1913. – Seitdem hat man in der deutschsprachigen Wissenschaft zur politischen Theorie eigentlich keinen Autor mehr gehabt, der wie Gierke derart intensiv und mit subtiler Kompetenz in der Interpretation die überaus zahlreichen, allesamt in Latein vorliegenden Traktate zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert durchforstet und systematisierend verwertet hat. Einzig der Frühneuzeithistoriker Horst Dreitzel dokumentiert auf seine Weise eine ebenso intensive Beschäftigung mit den politischen Traktaten speziell aus dem Kontext des Alten Reiches. Vgl. hierzu Dreitzel 1991.

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der Würdigung der Jurisprudentia Romana von 1586 ist es vor allem die Erörterung über die Systematik des Althusius in den Dicaeologicae von 1617, die Gierke hier in den Mittelpunkt rückt.32 Was ihn hieran fasziniert hat ist die Argumentationsli‐ nie, mit der bei Althusius „die Staatspersönlichkeit in die Volksgesamtheit verlegt“ wird.33 Die Einheit des Ganzen, des politischen Systems, seiner juridischen Inhalte und Institutionen sowie der normative Rahmen, all das findet Gierke in der Lehre des Emdener Syndikus paradigmatisch angelegt. Demnach werden die homines sin‐ gulari in ihrer korporativen Verbindung untereinander als homines conjuncti, conso‐ ciati et cohaerentes begriffen.34 Das organologische Stufenmodell des Althusius mit 1) gens, 2) familia, 3) collegium, 4) universitas und 5) der respublica deutet Gierke als ein Ordnungsmuster, bei dem das Verständnis von Recht „an der eigenen Person“ als ein Moment der Freiheit strukturell erhalten bleibt.35 Genau diese Einschätzung wird von der neueren Forschung zu Althusius allerdings so nicht mehr geteilt,36 aber es lohnt dennoch, sich die Argumentation Gierkes zu Althusius genauer anzuschau‐ en, werden hierdurch doch interessante Alternativperspektiven für die Legitimation des modernen Staates sichtbar. Abgekoppelt vom vierten Band zur Geschichte des deutschen Genossenschafts‐ rechts, der erst 1913 erschien, aber zeitgleich mit den diversen Studien dazu in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hat Gierke seine Abhandlung über Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien im Jahre 1880 veröffentlicht. Der Untertitel zeigt mehr noch als der Haupttitel an, wie sehr Gierke diese Abhandlung programmatisch verstanden wissen wollte. Denn es ging ihm nicht nur um Althusius, sondern anhand der Erörterungen über die eigentümliche Lehre des Emdener Syndikus sieht er hierin zugleich einen Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik insgesamt.37 In seinen Zusätzen für die Edition vom Jahre 1902 bezeichnet Gierke seine Abhandlung als „Gelegenheitsschrift“.38 Das ist nun wirklich ein Understatement sondergleichen, denn selten hat ein deutscher Autor 32 Vgl. Althusius 1617, ND 1967. Zu den einzelnen Publikationen des Althusius vgl. auch Scupin/Scheuner 1973. 33 Gierke 1913, S. 178. 34 Ebd., S. 179. 35 Ebd. 36 Die Forschung zur Staatslehre des Althusius ist in den letzten Jahrzehnten dank der Bemü‐ hungen der Johannes-Althusius-Gesellschaft konzeptionell ausgereift und mittlerweile auch in einem durchaus internationalen Format befindlich. Grundlegend hierzu folgende Tagungs‐ bände: vgl. Dahm/Krawietz/Wyduckel 1988, Wyduckel 1997, Blickle/Hüglin/Wyduckel 2002, Bonfatti/Duso/Scattola 2002, Carney/Schilling/Wyduckel 2004, Malandrino/Wyduckel 2010. Eine gelungene Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur dokumentiert auch darüber hinaus Knöll 2011. 37 Vgl. Gierke 1981. In dieser Edition sind die Zusätze mit den Erläuterungen der beiden weite‐ ren Auflagen, a) der von 1902 (S. 323-366) und b) der von 1913 (S. 367-391), mit enthalten. Mittlerweile existiert auch ein digitaler Reprint der Originalfassung von 1880 (Wroclaw o.J.), natürlich allerdings ohne die beiden Zusätze. 38 Ebd., S. 323.

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derart systematisch die Denker des 17. und 18. Jahrhunderts im europäischen Dis‐ kurskontext zu Fragen der politischen Ordnungsgestaltung bearbeitet und pointiert interpretiert. Hierbei ist ihm eine um Althusius herum gruppierte Ideengeschichte gelungen.39 Was Gierke so an Althusius fasziniert hat, ist nicht nur die Grundlinie der Genossenschaftstheorie, sondern überhaupt die Systematik, mit der Althusius in der Geschichte „der rechtsbegrifflichen Prägung des Denkens über den Staat“ zu einem sehr frühen Zeitpunkt auftritt.40 Althusius erscheint hierbei als Prototyp für die Entwicklung des deutschen Rechtssystems.41 Mit seiner beispiellosen Bele‐ senheit der Vielzahl lateinischer Quellen versucht Gierke damit die Leistungsfähig‐ keit des deutschen Rechtsdenkens paradigmatisch unter Beweis zu stellen. Wenn er einleitend darauf verweist, dass Althusius im 19. Jahrhundert eine unbekannte Größe sei, dann vielleicht, weil er ein deutscher Autor gewesen sei,42 was natürlich ein Ressentiment, noch dazu ein Übles, war. Althusius wird damit von vornherein als ein nationaler Denker präsentiert, dessen Souveränitätslehre, eben weil sie sich angeblich auf das Volk stütze, in Opposition zu der nachgerade klassisch (modern) gewordenen Souveränitätstheorie von Jean Bodin stehen würde.43 Wenn er ihn noch dazu dann in unmittelbarer Argumentationslinie zu Rousseau sieht,44 dann wird hier eine Art von Heroisierung in der politischen Ideengeschichte betrieben, die für die Althusius-Forschung dann allerdings (leider) auch nicht ohne Folgen geblieben ist. Mit seiner Belesenheit der zeitgenössischen Publikationen von Hermann Conring (1606-1681) bis zu Johann Heinrich Boecler (1611-1672) u.a. ordnet Gierke Althu‐ sius in die Diskurswelt der Prämoderne ein. Die Politica des Althusius, die seit ihrem Ersterscheinungsjahr 1603 bis 1614 allein drei Auflagen hatte,45 kann man in dieser Hinsicht durchaus als Bestseller unter den prämodernen Traktaten zur politischen Theorie bezeichnen, allerdings gilt dies nur für den deutschsprachigen Wirkungsraum – und zunächst auch nur bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges. Die Verständnisweise, wie sich Gierke mit Althusius auseinandersetzt, ist auch nicht ohne Widersprüche, denn er ordnet die Politica als ein Kernstück der monar‐ chomachischen Literatur ein, was durchaus schablonär ist. Auch wenn verschiedene Geistesgrößen (wie etwa auch Leibniz) späterhin um Althusius gerade deswegen 39 40 41 42 43 44 45

Was auch die Intention gewesen ist, vgl. ebd., S. 326. Ebd., S. IV. Vgl. auch ebd., S. VI. Vgl. ebd., S. 1. Vgl. ebd., S. 3. Vgl. ebd., S. 4. Generell wird in der Forschung mit der 3. Auflage von 1614 gearbeitet, die von Carl Joachim Friedrich (1901-1984) erstmals 1932 als Reprint mit einer substanziellen Einführung der Wis‐ senschaft wieder zugänglich gemacht wurde. Vgl. Althusius 1614. Lange Zeit musste man sich mit der Originalfassung, die ein recht schwieriges Latein beinhaltet, in Deutschland zufrieden‐ geben, bis endlich Dieter Wyduckel (1938-2015) eine zumindest in Auszügen der über 1.000 Seiten umfassenden Ausgabe in deutscher Übersetzung 2003 auf den Markt gebracht hat. Vgl. Althusius 2003, dazu Nitschke 2003.

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einen Bogen gemacht haben, weil sie hierin eine Argumentation im Kampf gegen die Monarchie gesehen haben, bedeutet dies noch lange nicht, dass Althusius in diesem Zusammenhang die angemessene Zuordnung mit seiner Schrift bekommen hat.46 Gierkes Verständnis, demzufolge es eine unmittelbare Kontinuität von der monarchomachischen Literatur zum Contrat Social geben würde,47 ist jedenfalls sachlich falsch. Der Institutionalismus ist bei Althusius gänzlich anders strukturiert. Im spezifischen Sinne fehlt ein derartiges Verständnis bei Rousseau. Allerdings ist die Einschätzung richtig, dass man in der Lektüre der Politica durchaus republikani‐ sches Gedankengut identifizieren kann. Wenn daher bereits ein englisches Dictiona‐ ry von 1857 bei Althusius auf die „boldness of democratical principles“ hingewiesen hat,48 dann zeigt dies, dass man durchaus recht früh diese Konnotationslinie bemerkt hat, vorausgesetzt, die Interpreten waren selbst demokratisch orientiert. Die neuere Forschung jedenfalls bestätigt diesen Befund in der historisch-typologischen Zuord‐ nung. Gierke schätzt an Althusius die systemisch vernetzte Argumentationsstruktur aus einer theologisch-humanistischen Tradition heraus, in der das juristische und das philosophische Prinzip zugleich gewahrt wird. Er meint, dass Althusius hiermit „auf der Höhe seiner Zeit“ gestanden habe.49 Das ist nun einigermaßen irritierend, denn woher weiß Gierke als Mann des späten 19. Jahrhunderts, was auf der Höhe der Epoche des Althusius relevant oder nicht-relevant war? Die im Grunde anmaßende Einschätzung ist in ihrer hermeneutischen Naivität allerdings bezeichnend, denn sie demonstriert schlagartig, dass es hier (auch) um etwas ganz anderes geht, als Althusius aus der historischen Vergessenheit wieder zu entreißen. Tatsächlich wird Althusius mit seiner Lehre als ein Rückgriff auf die eigenen zeitgenössischen Debat‐ ten verwendet.50 Methodologisch gesehen und auch in hermeneutischer Hinsicht ein Missbrauch, der einem Missverständnis des historischen Textes gleichkommt. Die großartige Belesenheit Gierkes am lateinischen Originaltext (samt diverser anderer zeitgenössischer Traktate des frühen 17. Jahrhunderts in dem Zusammenhang) sollte insofern durchaus mit Skepsis betrachtet werden. Denn eine historisch exakte, d.h. quellenkritische, geschweige denn ideologiekritische Lesung wird hier eben nicht vorgenommen. Das spielt zunächst auch keine Rolle, wird jedoch immer dann (und vor allem an den konkret-systematischen Stellen) in der Argumentation relevant, wenn es um die Einordnung in das grundsätzliche politische Verständnis geht. Ne‐ benbei bemerkt sei in diesem hermeneutischen Zusammenhang darauf hingewiesen, dass Gierke offenbar völlig übersehen hat, dass Althusius in seiner Politica eben nicht klassisch juridisch argumentiert, sondern eine dezidierte Öffnung und Hinwen‐ 46 47 48 49 50

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Vgl. kritisch dazu u.a. Wyduckel 2002 und Friedeburg 2004. Vgl. Gierke 1981, S. 9. Dazu noch ausführlicher im weiteren Verlauf der Analyse. Hier zit. n. Gierke 1981, S. 10, Anm. 20. Ebd., S. 16. Vgl. hierzu kritisch auch Peters 2002.

dung zu einer politologischen (heute würde man auch sagen können, z.T. durchaus soziologischen) Interpretation gelangt bzw. kommen möchte. Im Staatsaufbau, besser: Ordnungsverständnis, wird die Lehre des Althusius kurz und in sich formal zuverlässig zunächst beschrieben. Demnach haben wir es hier mit einem in sich gestuften organologischen Aufbau zu tun, der von der Familie als (natürlicher) Basis über die genossenschaftliche Korporation, zur Gemeinde, alsdann der jeweiligen Provinz und am Ende dem Staat reicht.51 Jeder „höhere Verband“ ruht hierbei „auf engeren Vereinigungen, ohne die er nicht bestehen könnte, während sie selbst auch ohne ihn lebensfähig“ wären, meint Gierke.52 Allerdings konnotiert er diese Aufbausystematik nicht zentral als föderale Lehre, sondern denkt hier nur wei‐ terhin in dem römisch-rechtlichen Gegensatzmodell von privaten und öffentlichen Interessensphären.53 Dabei ist genau dies die Eigentümlichkeit des Althusius in seiner Argumentation und damit zugleich auch die hermeneutische Herausforderung für das Verständnis seiner Lehre, weil Althusius die termini technici ganz merkwür‐ dig gemixt hat mit römisch-rechtlichen wie auch griechischen Begrifflichkeiten.54 Die heuristischen Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, werden gerade beim Staatsbegriff überaus deutlich, denn da kann sich Althusius bezeichnenderweise auch nicht festlegen. Und so heißt der Staat mitunter politia oder imperium, mal auch regnum oder populus – und dann sogar wieder klassisch republikanisch respu‐ blica. Der Staat (politia) umfasst und regiert den ganzen Körper. Body politic ist be‐ kanntermaßen auch die Metapher bei Hobbes, was deutlich zeigt, wie sehr Althusius hier in einem ganz normalen Diskursumfeld agiert:55 „Und so regiert der physische Körper als Ganzes alle seine Glieder“, bilanziert Gierke zu Recht.56 Aber dieser politische Körper (Staat) ist keineswegs so zu verstehen wie der Staat des 19. (oder gar des 20.) Jahrhunderts. Das organologische, korporatistische Argument fokussiert immer nur die kollektive Existenz, eben nicht das Individuum. Insofern ist gerade der Volksbegriff des Althusius eben nicht der moderne, den wir seit der Französischen Revolution haben. Das „gesammte Volk“ des Althusius entspringt einer patriarchalischen Organisations- und Legitimationsstruktur,57 die Gierke voll‐ ständig hier ignoriert bzw. gar nicht versteht. Da ist Hobbes mit seiner Begründung im Leviathan tatsächlich der erste Theoretiker, der den Volksbegriff vom Kopf auf die Füße stellt. Und dies hat dann auch Konsequenzen für die Souveränität, die bei Althusius eben noch aufgrund der wechselseitigen Verbindung zwischen den 51 52 53 54 55 56 57

Vgl. dazu im Überblick Nitschke 2007. Gierke 1981, S. 21. Vgl. ebd., S. 22. Vgl. zu den zentralen Begriffen das Lexikon zur Politica von Malandrino/Wyduckel 2005. Vgl. Harvey 2007, Odzuck 2016. Gierke 1981, S. 26. Ebd., S. 29.

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jeweiligen Korporationen untereinander, die das Volk darstellen, und dem Staat, der alles umfasst, eigentlich zweigeteilt bleibt. Im Übrigen ein Verständnis, wie es auch noch bei Kant zutage tritt, der zwischen der Souveränität der Exekutive und der des Staates, der eine Republik sein soll, unterscheidet.58 Auch im Verständnis des Widerstandsrechts ist die Deutung nicht so einfach zu ziehen, wie sie Gierke bei seiner Interpretation vorgibt: Tatsächlich sind die Ephoren dazu ermächtigt, gegen einen tyrannischen Herrscher an der Spitze der Politia Widerstand zu leisten, ihn sogar „verurtheilen und hinrichten“ zu lassen.59 Aber das gilt nur für den Ausnahmefall der Tyrannis. Die ständische Freiheit bleibt eingebunden in das gestufte Herrschaftssystem und hat nichts mit der individuellen Freiheit im modernen Rechtsstaat zu tun.60 Derartige Missverständnisse in der Ein‐ schätzung Gierkes auf Althusius gibt es mehrere. Insofern muss man vorsichtig sein bei der Interpretation dieses prämodernen Klassikers, den immerhin Gierke selbst auch für ein merkwürdiges Buch hält.61 Merkwürdig ist die Argumentation bei Althusius vor allem deshalb, weil die Methodik eine ganz eigenwillige Verfah‐ rensweise beinhaltet. Althusius wendet die ramistische Methode an, die auf einer fortwährenden Dichotomisierung der Aussageformen, hier besonders der relevanten Topoi, beruht. Der ramistische Ansatz folgt intentional der platonischen Dialektik,62 die mit der Dihairesis hierzu den epistemologischen Grundbau geliefert. Doch wäh‐ rend es bei Platon zu einer geradezu kunstvollen Zweiteilungsagenda (insbesondere im Politikos) gekommen ist, wird das ramistische Verfahren von den prämodernen Adepten meist sehr schablonär umgesetzt, was zu dem Effekt führt, dass für den heutigen Betrachter die jeweiligen Aussageformen oft gewollt statuarisch wirken. Das gilt auch für die Handhabung bei Althusius. Zu Recht bemerkt Gierke in die‐ sem Zusammenhang, dass das ramistische Einteilungsverfahren „dem Einzelnen in Bezug auf die Art und Weise der Kategorienbildung den freiesten Spielraum“ ließ.63 Mit anderen Worten: der Ramismus entpuppt sich im Nachhinein als ein ziemlich willkürliches Auslegeverfahren. In der juristischen Lehre folgt Althusius durchaus dem Marburger Juristen Her‐ mann Vultejus (1555-1634),64 ansonsten kann man jedoch seine Systematik, in der Art und Weise, wie er sie methodologisch konzipiert hat, als originär betrachten. In der rein rechtswissenschaftlichen Abhandlung des Althusius, den Dicaeologicae, gliedert Althusius alles mit einer derartigen Strenge in der Untergliederung, dass

Vgl. dazu auch Nitschke 2009a, S. 81f. Gierke 1981, S. 35. Vgl. hier auch Winters 1988, S. 554f. Gierke 1981, S. 36. Vgl. hierzu grundsätzlich Ong 1958. Speziell zum dihairetischen Verfahren Nitschke 1995b, S. 24ff. 63 Gierke 1981, S. 39, Anm. 9. 64 Vgl. ebd., S. 40.

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Gierke hier zu dem Urteil kommt, der Stoff sei „mit unerbittlicher Konsequenz, man möchte sagen mit Fanatismus“ organisiert worden.65 Das ist eine pointiert zutreffende Betrachtung, die nicht nur für die Inhalte der Dicaeologicae gilt, sondern eben auch für die der Politica. Die ramistische Methode führt dann eben doch dazu, dass Althusius recht formale Unterteilungen operationalisiert, wodurch der Text in seinem Duktus und die Argumentation in ihren Inhalten oft sehr stupide wirken. Eine Begeisterungsfähigkeit für die föderale Ordnung wird dadurch schwierig, mit den klugen analytischen Pointen eines Thomas Hobbes ist der Duktus des Althusius nicht vergleichbar und dies gilt dann auch für die Texte eines John Locke oder gar Jean-Jacques Rousseau. Tatsächlich ist die ganze Argumentation der Politica zugunsten des föderalen Ordnungssystems auf der Grundlage von Korporationen einigermaßen trocken, um nicht zu sagen blutleer. Sie bekommen nur dann ihre inhaltliche Lebendigkeit, wenn man sie als Blaupause vor dem Hintergrund der korporationsrechtlichen Ständestrukturen des Alten Reiches sieht.66 Als solche sind sie sicherlich auch von den Zeitgenossen eingeschätzt worden, was für die Attrakti‐ vität der Schrift bis zu einem gewissen Datum spricht. Methodologisch wie auch inhaltlich gehen die Debatten des 17. Jahrhunderts jedoch nach 1648 einen anderen, weitaus schwungvolleren Weg. Auch das erklärt, warum Althusius irgendwann nicht mehr in ist. Selbst Gierke wird von diesem methodologisch-heuristischen Effekt einer streng formalen Zuordnungsweise affiziert. Denn seine Darstellung ist über weite Strecken rein paraphrasierender, d.h. nacherzählender Art. Insofern ist es irgendwie amüsant, dass Althusius erst durch Gierkes Interpretation wieder ins Bewusstsein für den fachwissenschaftlichen Diskurs unter deutschen Staatsrechtslehrern gebracht wurde, dabei aber gleichsam wieder nur unter der Oberfläche einer allgemeinen Wahrneh‐ mung geblieben ist, ein Zustand, der sich erst ab den 1980er Jahren einigermaßen ändern sollte. Doch auch wenn Gierke seinen Althusius über weite Strecken hin nur paraphra‐ siert, was angesichts des lateinischen Textes selbst schon eine enorme Leistung gewesen ist, so gibt es doch für die entscheidende Fragen wichtige Kommentierun‐ gen durch Gierke. Das betrifft zunächst den Einfluss der religiösen Perspektive. Hier ordnet Gierke sehr zutreffend Althusius der calvinistischen Interpretation von Gott und Welt zu.67 Was eben auch bedeutet, dass so etwas wie Glaubensfreiheit für Althusius ein Fremdwort ist.68 Allerdings zieht Gierke hier nicht die notwendige logische Konsequenz für die Interpretation des Staates, der dann eben doch calvinis‐ tisch vorstrukturiert bleibt. Durch die calvinistische Sicht der Dinge wird immerhin 65 66 67 68

Ebd., S. 41. Vgl. auch Nitschke 2009b. Vgl. Gierke 1981, S. 36ff. Vgl. auch ebd., S. 57.

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aber der Volksbegriff enorm aufgewertet, ganz im Gegensatz zum lutherischen Ver‐ ständnis, das hierbei zu sehr auf die Obrigkeit ausgerichtet bleibt.69 Dem Kontrakt der Korporationen untereinander liegt „die Idee des Vertrages mit Gott zu Grunde“, wie Gierke sehr richtig bemerkt.70 Allerdings, und darin zeigt sich auch die Pfad‐ abhängigkeit in den heutigen Interpretationen der juridischen Althusius-Forschung (wie etwa bei Wyduckel) zu Gierke, sieht dieser die überaus zahlreichen Belege auf die Bibel nur als nominale Anzeige, nicht als Bekenntnis des Gläubigen.71 Hier erweist sich ein grundlegendes Missverstehen eines durch und durch säkularisierten Juristen im Bewusstsein seiner Moderne im Umgang mit diesem prämodernen Text und dessen zeitgenössischen Konnotationen. Wenn Gierke meint, dass sich Althusi‐ us trotz seiner calvinistischen Weltanschauung von der „theokratischen Auffassung des Staates […] so gut wie völlig löst“,72 dann ist dies eine Fehlinterpretation,73 die ganz offensichtlich daher rührt, dass Gierke die theokratische Begründung für die politische Ordnung ins Mittelalter verlegt. Interpretationen, wie etwa die von Johann Friedrich Horn (ca.1629-1665), der in der Politicorum pars architectonica de Civitate (1664) die Monarchie als göttlich legitimierte Herrschaftsordnung prä‐ sentiert hat, deutet Gierke bezeichnenderweise als Restaurationsversuche.74 Dabei ist es doch eigentlich zunächst eher eine säkularisierende Absetzbewegung, die in und mit der Vertragstheorie im 17. Jahrhundert stattfindet, und nicht umgekehrt. So neu ist Hobbes schließlich in dem kontraktualistischen Grundmodell auch nicht, wie uns das heute scheinen mag: tatsächlich sind die Bezüge zur spätmittelalterlichen Naturrechtslehre unübersehbar, was auch Gierke schon herausarbeitet.75 Volk und Herrscher begründen sich wechselseitig per Kontrakt. Allerdings ist das Volk (wie in der jesuitischen Auslegung deutlich sichtbar) immer schon zuvor existent. Was bei Hobbes neu ist, Gierke spricht hier vom Radikalismus in der Herangehensweise,76 das bezieht sich auf die Rückbindung auf das jeweilige Individuum, also platonisch gesprochen, den Micro-Anthropos. Das Leitbild, welches Hobbes im Leviathan so genial formuliert, „in personam unam vera omnium unio“,77 ist de facto dem mittel‐ alterlichen Diskurs entnommen.

69 Vgl. ebd., S. 58. 70 Ebd., Anm. 5. 71 Vgl. ebd., S. 59. – Dezidiert dagegen die Interpretation bei Winters 1963, Rengsdorf 1988, Janssen 1992. 72 Gierke 1981, S. 60, Hervorhebung v. Gierke. 73 In der Althusius-Forschung gibt es daher auch den Interpretationsstrang, der meist von den Nichtjuristen vertreten wird, die hier, wie etwa Schmidt-Biggemann 1988 oder auch Nitschke 1997, von einer Politischen Theologie sprechen. 74 Vgl. Gierke 1981, S. 70. 75 Vgl. ebd., S. 79ff. 76 Ebd., S. 84. 77 Hier zitiert Gierke Kapitel 17 des Leviathan in der lateinischen Fassung, vgl. Hobbes 1984, S. 134.

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Doch leider verschüttet Gierke diese Einsicht in die Kontinuität schnell wieder, weil er unbedingt beweisen will, dass es ausgerechnet Althusius gewesen sei, der „die Vertragslehre zur Theorie erhoben“ habe!78 Damit stilisiert er Althusius zu einem deutschen Hobbes,79 eine mehr als merkwürdige Argumentation. Diese kommt auch deshalb schief in ihrer Begründung, weil Gierke den Politischen Aristo‐ telismus verkennt bzw. noch gar nicht als Begründungsschema parat hat: für ihn sind das alles nur Stimmen, welche die „ursprünglich herrschende und niemals ganz ver‐ drängte Theorie“ des Aristoteles mit dem Paradigma des animal natura sociale im‐ mer wieder vorgebracht haben.80 Gerade aber weil er Althusius mit seiner Lehre von den Konsoziationen quasi kontraktualistisch einordnen will, übersieht er hierbei, a) wie sehr auch Althusius dem aristotelischen Topos folgt, was in Folge der calvinisti‐ schen Lehre auch nicht überraschend ist, darüber hinaus b) den organisatorischen Stellenwert der Vertragslogik bei Althusius. Denn diese Verträge werden immer nur zwischen den Korporationen geschlossen, wenn überhaupt schriftlich fixiert (und nicht nur im Sinne der historischen Tradition als pactum tacitum gepflegt).81 Das Individuum als politisches Subjekt (damit als Kennzeichen der Moderne) kommt hierbei als Akteur gar nicht vor. Deshalb argumentiert Gierke hier, wenn er vom individualistischen Grundprinzip spricht,82 fast schon in ideologischer Weise als Vertreter des modernen Staates historizistisch. Über weite Strecken geht es in der Argumentation auch gar nicht um Althusi‐ us, sondern um die Deutungshoheit, welche Form der politischen Theorie für die Existenz des modernen Staates in ihrer Genese die zentrale Rolle spielt. Nicht alle Zuordnungen, die Gierke hier vom Spätmittelalter bis ins frühe 19. Jahrhundert hin vornimmt, sind aus heutiger Sicht der Dinge richtig. Vor dem Hintergrund des eher staatsrechtlich-schablonären Diskursstandards in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind sie sicherlich angemessen oder auf jeden Fall ein wichtiger Beitrag gewesen. Doch ist die Art und Weise, wie Gierke seine immense Belesenheit im Vorbeimarsch in den Fußnoten dokumentiert und interpretiert, schon recht dog‐ matisch. Auf keinen Fall geht es hier bei ihm um die Feinheiten einer historischen Hermeneutik. Die Ranke-Schule der Geschichtswissenschaft bleibt ihm erkennbar fremd. So meint Gierke doch tatsächlich, dass selbst ein Justus Möser (1720-1794) sich trotz „aller Bekämpfung der Lehre vom Naturzustande und von den Menschen‐ rechten […] der Idee des Gesellschaftsvertrages nicht zu entziehen“ vermochte.83 78 79 80 81 82 83

Gierke 1981, S. 76, Hervorhebung v. Gierke. Vgl. auch ebd., S. 102. Ebd., S. 109, Anm. 83. Zur Bedeutung des pactum tacitum eingehend Grunert 2000. Gierke 1981, S. 100. Ebd., S. 117, Anm. 108. Diese Aussage demonstriert, wie viele andere auch, wie wenig sich Gierke substanziell auf die jeweils spezifische Konfiguration von Autor, Zeitgenossenschaft und historischem Diskurs eingelassen hat. Bei Justus Möser liegen die Argumentationsebenen denkbar anders. Vgl. hierzu Nitschke 2020.

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In der historischen Übersicht wird hier eigentlich sehr konstruktivistisch eine Eintei‐ lungslehre behauptet, die sich sowohl in der jeweils historischen Zeitgenossenschaft der Autoren anders darstellt und damit erst recht auch aus heutiger Sicht und Inter‐ pretation so nicht mehr aufrechterhalten werden kann.

III. Die Qualität der Volkssouveränität Das zeigt sich besonders auch im dritten Kapitel seiner Abhandlung über Althusius, in dem es um die Interpretation der Volkssouveränität geht. Zwar hat Gierke recht, wenn er feststellt, dass sich bei der Idee des Herrschaftsvertrages zwei im Prin‐ zip selbstständige Rechtssubjekte (nämlich Volk und Herrscher) gegenüberstehen,84 doch ist die Einschätzung, dass in der spätmittelalterlichen Konstellation selbst der Monarch „im Princip einem republikanischen Magistrate gleichgestellt“ gewesen sei,85 doch sehr abenteuerlich. Das Reichsvolk, welches den deutschen Monarchen wählte, das waren nur die territorialen Obrigkeiten, also die Fürsten. Im Prinzip arbeitet Gierke sehr überzeugend heraus, wie sehr bereits im Spätmit‐ telalter das Leitbild des Thomas Hobbes von den Gliedern, die in ihrer konfigura‐ tiven Zusammensetzung dann am Ende den Leviathan ausmachen, schon existent gewiesen ist.86 Doch sind dies immer nur Verbände gewesen und eben keine indivi‐ duellen Akteure, bezogen auf die je einzelne Person. Im Kern ist damit tatsächlich der Trend für eine atomistische und mechanistische Staatsvorstellung angelegt ge‐ wesen,87 aber erst Hobbes hat hier die radikale Konsequenz daraus gezogen. In dieser Hinsicht liefert die Argumentation von Gierke mehr eine Hintergrundbeleuch‐ tung für die Theorie von Hobbes als eine sachgerechte Auseinandersetzung mit der Ordnungslehre des Althusius. Trotz aller intentionalen Vorprägungen bleibt die spätmittelalterliche Lehre korporatistisch an einer entscheidenden Stelle stehen: und zwar der im Verständnis des Staates. Dahinter lauert dann auch die Souveränitäts‐ frage:88 „Nicht die leiseste Spur begegnet von dem scheinbar so nahe liegenden Gedanken, den Begriff der juristischen Person durch die Verbindung mit dem Be‐ griff des gesellschaftlichen Organismus zu vertiefen, die dem letzteren zugeschrie‐ ben substantielle Lebenseinheit zugleich als Rechtssubjekt zu setzen und so das Schattenwesen der persona ficta durch den Begriff der realen Gesamtpersönlichkeit zu verdrängen.“ Das ist für Gierke die analytische, originäre Leistung von Hobbes gewesen, diesen Schritt zu gehen: denn was den spätmittelalterlichen oder prämo‐ dernen Vorstellungen bis dahin mangelte, ist die Verbindung der Differenz von der 84 85 86 87 88

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Vgl. Gierke 1981, S. 123. Ebd., S. 125. Vgl. z.B. ebd., S. 134. Vgl. auch ebd., S. 135. Ebd., S. 136.

Auffassung einer Staatspersönlichkeit und der jeweils lebenden Herrscherpersön‐ lichkeit.89 Zwar anerkennt auch Gierke, dass die mittelalterliche Auffassung von Volkssou‐ veränität nicht das atomistische Subjekt zugrunde gelegt habe.90 Dennoch zieht er daraus nicht die nötige, logische Konsequenz und betrachtet den Volksbegriff als das, was er im spätmittelalterlichen oder prämodernen Denken (bis zur Fran‐ zösischen Revolution oder der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung) eben immer noch gewesen ist: nämlich als organisches Element von in sich gestuften Herrschaftskorporationen. Die starke Legitimation, die dem Monarchen als von Gott inaugurierten Exekutor in der Menschenwelt zukommt,91 ist ja gerade die Position, welche die Monarchomachen versuchen in Abrede zu stellen. Insofern ist die Volkssouveränitätslehre, von der Gierke für das Mittelalter spricht,92 zwar eine Lehre vom Volk, das durchaus als major, superior oder potior bzw. dominus, wie es in der monarchomachischen Literatur erscheint,93 aufgefasst werden kann, allein es fehlt hier das moderne Verständnis von der Repräsentation der individuellen Exis‐ tenzen. Darüber hinaus ermangelt es hier einem parlamentarischen System, welches diese individuelle Ebene aller Beteiligten repräsentieren könnte. Insofern ist auch die Aussage über die Leistung des Althusius ziemlich abwegig:94 „Er führte den Gedanken eines beiderseits verbindlichen Anstellungsvertrages, durch welchen das Volk als Geschäftsherr die Verwaltung der von ihm nicht unmittelbar auszuübenden Majestätsrechte einem obersten Geschäftsführer mit einem innerhalb der gegebenen Vollmacht selbständigen Recht auf Geschäftsführung übertrage, bis ins Einzelne rein privatrechtlicher Formulierung durch“. Die Deutung ist völlig ahistorisch, zeigt aber symptomatisch, wie sehr sich Gierke hier in der Lektüre durch sein Faible für das Privatrecht aus dem Verständnis seiner eigenen Epoche heraus in der Genossen‐ schaftsperspektive hat leiten lassen. Er unterschlägt dabei komplett, dass Althusius in der Politica ausdrücklich eben nicht auf eine juridische Interpretation hinauswill, und damit schon gar nicht auf eine privatrechtliche Komponente, sondern die Or‐ ganisation der Ordnung als politische Manifestation betrachtet. Deshalb sind die termini technici eben auch nicht mehr rein juristischer Provenienz. Wenn Gierke meint, dass Althusius einen verschärften Souveränitätsbegriff ver‐ wendet habe,95 dann trifft dies auf Bodin, aber eben nicht auf den Emdener Juristen zu. Bodin ist überhaupt der entscheidende Referenzautor für Althusius,96 was wiede‐

89 90 91 92 93 94 95 96

Vgl. auch ebd., S. 137. Vgl. ebd., S. 139. Vgl. auch ebd., S. 140. Ebd., S. 142. Vgl. ebd., S. 144. Ebd., S. 145. Vgl. ebd., S. 149. Vgl. hierzu auch Scupin 1988.

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rum von Gierke nur bedingt gewürdigt wird. Zwar sieht er bei Bodin die völlige „Vernichtung der Idee eines konstitutionellen Staats“,97 doch geht er erstaunlicher‐ weise nur kursorisch auf die Argumentation ein und stellt dann abschließend fest, dass damit die Begründung geliefert worden sei für den absolutistischen Staat, bei dem die Staatspersönlichkeit in der Herrscherpersönlichkeit aufgehe.98 Mit dieser Argumentationsfigur benötigte die Monarchie dann auch kein Verständnisbild mehr vom Staat im Sinne einer juristischen Person.99 Alle Steuerungsfragen in der politi‐ schen Ordnung werden dann über die personale Einheit des Herrschers mit seiner Herrschaftsordnung vollzogen.100 Die Ausgestaltung der Souveränitätsfrage als einer machtvollen Herrschaftsfrage für die staatliche Ordnung mit dem Fokus auf die personale Spitze des Regierens ist nicht nur im Reich, sondern eben auch (Hobbes sendet über Bodin hinaus diese Botschaft) der Diskursweg, der am meisten Beachtung findet. Auch im re‐ publikanischen Sinne kann dann von hierher die Interpersonalität zwischen dem (potenziell gewählten) Regenten und dem Bürger, der dann nicht einfach mehr Untertan ist, sondern wählt, in Interaktion begriffen und damit für die Moderne legitimiert werden. Hobbes liefert hierfür, das sieht auch Gierke so, mehr noch als Bodin die entscheidende paradigmatische Argumentationsfigur.101 Jede Form von monarchia limitata oder mixta ist damit diskreditiert: das Volk figuriert sich nur „im Könige, ohne ihn“ ist es „nichts als ein Haufe von singuli“.102 Pufendorf folgt dem hobbesischen Plädoyer bekanntermaßen, einzig Leibniz insistiert weiterhin auf ein Souveränitätsverständnis, das relativ bleibt, interessanterweise mit dem Verweis auf die Vielschichtigkeit des menschlichen Lebens, so dass es verkehrt sei, eine Souve‐ ränitätsfixierung nur an einer Stelle in der politischen Ordnung zu konzentrieren.103 Aber diese Argumentation bleibt ein Sonderfall und wird später (und eigentlich bis heute hin) nicht wirklich angemessen aufgenommen.104 Auch in der Fortsetzung der fachwissenschaftlichen Debatte, die Gierke in sei‐ ner Nachbetrachtung zur zweiten Auflage von 1902 in der Kommentierung zu Staatsrechtslehrern wie etwa Georg Jellinek (1851-1911), Johann Caspar Bluntschli (1808-1881) oder Hermann Rehm (1862-1917) macht, geht er auf das Paradigma der Volkssouveränität nicht wirklich mit der ganzen logischen Konsequenz ein. Immerhin räumt er ein, dass Jellineks Kritik an seiner Interpretation, in Althusius den Begründer des Gesellschaftsvertrags sehen zu wollen, insofern berechtigt sei, 97 98 99 100 101 102 103 104

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Gierke 1981, S. 151. Ebd., S. 159, Hervorhebung v. Gierke. Vgl. ebd. Vgl. auch ebd., Anm. 109. Vgl. ebd., S. 176. Ebd., S. 177. Vgl. auch ebd., S. 179, Anm. 166. Zu Leibniz ausführlich Nitschke 2015. Die Argumentation von Drischler 2015 geht zwar in diese Richtung, ist aber stellenweise unklar strukturiert.

weil Althusius eben nicht vom Individualwillen ausgegangen sei.105 Diese Argu‐ mentationsfigur schreibt Gierke paradigmatisch der angelsächsischen Diskussion seit Hobbes zu. Aber er zieht keine logische Konsequenz aus diesem Einwand: denn sie hätte dazu führen müssen, diese idealtypische Stilisierung des Johannes Althusi‐ us ad acta zu legen. Doch weiterhin insistiert Gierke auf seiner Interpretation – und damit auch auf die Verbindung in der Bezugslinie zu Rousseau.106 Auch in seinen Reflexionen von 1902 wird der Volksbegriff hinsichtlich seiner Repräsentationsmodi nicht weiter hinterfragt. Eigentlich hätte er sich spätestens bei dem Argument, dass für Althusius „der Staat als Subjekt mit der Gesammtheit der Bürger“ zusammenfal‐ le,107 fragen müssen, wer oder was hier überhaupt den Bürgerbegriff ausfüllt – oder eben auch nicht. Erneut wird deutlich, dass Gierke sich sehr stark von der Faszination des in sich scheinbar stringent geregelten Systems hat leiten lassen. Zur theokratischen Begrün‐ dungskonstellation, die bei Althusius eben auch immer wieder durchschimmert, sagt er erneut kein Wort. Althusius sieht er ganz offensichtlich als Katalysator in dem diskursiven Wech‐ selspiel zwischen einer Auffassung von Volks- und Herrschaftssouveränität.108 Letztlich geht es darum, wer hier wen domestiziert: der Staat das Volk oder das Volk den Staat. Vielleicht ist die Frage auch gänzlich falsch gestellt: vielleicht müsste man hier eher auf die Koinzidenz beider Faktoren in einem grundsätzlich dialektisch phänomenalen Zusammenhang setzen. Aber das ist eine Frage, die an dieser Stelle nicht weiter thematisiert werden kann. Richtig ist jedoch die Erkenntnis bei Gierke, dass der mittelalterliche wie auch der prämoderne Souveränitätsbegriff an einer Unausgegorenheit hinsichtlich seiner Bestimmung leidet, was dazu führt, dass die meisten Autoren hierunter eine Doppelheit verorten, so im Übrigen auch noch bei Kant, der nicht klar zwischen der Volkssouveränität und der des Herrschers unterscheidet bzw. beide thematisiert.109

IV. Die Stilisierung zum deutschen Rousseau Mehr allerdings als auf Kant richtet Gierke seine Aufmerksamkeit auf Rousseau. Denn im französischen Meisterdenker meint er den kongenialen Erben und Fortset‐ zer für die Genossenschaftstheorie gefunden zu haben. Was Gierke an Rousseau so schätzt, ist dessen Argumentation zugunsten der Volkssouveränität, in der er

105 106 107 108 109

Vgl. Gierke 1981, S. 329, Anm. 10. Vgl. ebd., S. 332ff. Ebd., S. 336. Vgl. ebd., S. 350. Vgl. hier Anm. 58.

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das „unzerstörbare Recht des Volks“ sah.110 Allerdings täuscht er sich hier, denn Rousseau übernimmt im Prinzip die Hobbessche Argumentation (und dies gegen Locke), indem die Souveränität in Form der volonté générale auf die großgeschrie‐ bene identitäre Einheit von Volk und Staat zugeordnet wird. Das ist dann genau die totalisierende Komponente, die dem modernen Staat so zu schaffen macht, wenn man den damit verbundenen Moralismus der öffentlichen Meinung auch noch zum Maßstab der sich hierin artikulierenden (angeblichen) Vernünftigkeit verabsolutiert. „In der Steigerung des Souveränetätsbegriffs war Hobbes nicht zu überbieten“, meint Gierke,111 hingegen will er einfach nicht erkennen, wie sehr ausgerechnet Althusius, indem er sich um die Negation der Bondinschen Zauberformel bemüht, die Souveränitätsfrage strukturell verunklart hat. Auch die Fortführung seiner Argu‐ mentation bis hin zu Rousseau, der angeblich hier bei Althusius das Formprinzip der Volkssouveränität übernommen habe,112 passt überhaupt nicht, wenn Gierke zu‐ gleich feststellt, dass Rousseau den Einzelwillen im Grunde eliminiert bzw. in einen schablonären „Durchschnittswillen“ bei der volonté générale aufgehen lässt.113 Was hingegen passt, ist die Rekonstruktion des Repräsentationsverständnisses, welches nicht erst im englischen Parlamentarismus zu Hause ist, sondern bereits in den spätmittelalterlichen Debatten, etwa bei Ockham oder Nikolaus von Kues.114 Denn wenn man Althusius bescheinigen darf, dass er in der Wertschätzung der Korporationen bei ihrem komplexen Unter- und Nebeneinander den Repräsentati‐ onsgedanken weiterhin verfolgt habe, dann ist es doch gerade Rousseau gewesen, der diese Idee radikal negiert. Seine Vorstellung einer unmittelbaren Demokratie ist tatsächlich so etwas wie „das Evangelium des konsequenten Radikalismus“, und damit die Abschaffung der Repräsentation.115 Rousseau verfolgt im Übrigen auch keine Föderaltheorie, wie sie bei Althusius, das bemerkt auch Gierke,116 in ganz eigentümlicher Weise vorgestellt wird. Für Gierke ist selbst Rousseau mit seiner theoretischen Synthese in Form der berüchtigten volonté générale letztlich nicht überzeugend:117 „Alle Versuche, der volonté générale im Gegensatz zur volonté de tous eine spezifische Qualität höherer Art zu verschaffen, scheitern daran, dass der allgemeine Wille für Rousseau immer ein aus den Einzelwillen zusammengesetzter Kollektivwille bleibt und niemals als ein in den Einzelwillen erscheinender Gemeinwille gedacht wird.“ In der politischen

Gierke 1981, S. 189. Ebd., S. 190. Vgl. auch ebd., S. 201. Ebd., S. 203. Vgl. ebd., S. 211ff. Ebd., S. 223. Vgl. ebd., S. 226. – Zur föderalen Grundstruktur des Staatsaufbaus bei Althusius vgl. u.a. Ni‐ tschke 1997, Krawietz 1997 u. Hüglin 2002. 117 Gierke 1981, S. 357.

110 111 112 113 114 115 116

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Praxis verbirgt sich dann dahinter eben doch (nur) der jeweils konkret gewordene Mehrheitswille.118 Genau das ist aber bei Althusius nicht der Fall bzw. soll in seiner Theorie strukturell eingehegt werden. Althusius versucht dies durch die Regelung von zwei Verfahrensweisen zu gewährleisten, die letztlich jedoch nur eine Art Vorschlag für die Geschäftsordnung der Kollegien untereinander darstellen: 1) im Falle von Sachfragen, die alle Korporationen als Gemeinschaft betreffen, dann „überwiegt die Mehrheit aller versammelten Kollegen die Minderheit in den gemeinschaftlichen Angelegenheiten“, sofern diese „als von der Gemeinschaft ge‐ sondert betrachtet“, hiervon nicht berührt werden.119 2) „In solchen Angelegenheiten jedoch, die alle als Einzelne oder überhaupt nur einzelne Kollegen betreffen, setzt sich die Mehrheit nicht durch. Vielmehr muss, was alle angeht, auch von allen gebilligt werden.“120 Unverkennbar ist diese Empfehlung zur Legitimation von Dezisionen politisch auch das Strukturmuster in der Entscheidungsfindung der EU, mit allen Vor- und Nachteilen, die hiermit verbunden sind. Insofern kann man nur darüber spekulie‐ ren, inwieweit sich Althusius hierbei auf konkrete historische Verhältnisse einge‐ lassen hat, aber unabhängig davon ist von der Sachlogik her prozedural für die Entscheidungsfindung die Evidenz nicht zu bestreiten. Die Rechtsgemeinschaft der Kollegen, auf die Althusius abhebt, „besteht darin, dass sie in ihrem Kollegium nach demselben Recht und Gesetz leben, sich leiten und verpflichten lassen“,121 was subsidiarisch gestaffelt dann in die allgemeine Ordnung mündet bzw. darin aufgefangen wird. Das hat nun damit aber gar nichts mehr gemein mit der Theorie des Jean-Jacques Rousseau, der einen gänzlich anderen Begründungsaufbau liefert. Schon der Bürger-Begriff unterscheidet sich hier vollkommen vom noch ständisch moderierten Untertanenstatus bei Althusius.122 Auch gelegentliche Versuche in der neueren Althusius-Forschung, den prämoder‐ nen Denker hier im Anschluss an die These Gierkes sattelfest zu machen, gehen allzu offensichtlich von vornherein davon aus, immer nur übereinstimmenden Se‐ quenzen zwischen Rousseau und Althusius herauszufiltern. Die Differenzen werden zwar mitunter eingeräumt, aber strukturell vernachlässigt und damit tendenziell negiert. Insbesondere Wyduckel hat hier den Versuch unternommen, Gierke in dem Bemühen Althusius als wesentlichen Starautor für die deutsche Prämoderne zu plakattieren. Immerhin erkennt er mehr als Gierke an, wie sehr Althusius den aristo‐ telischen Topoi von der Natur des Menschen Folge leistet. Aber die unterschiedliche Auffassung vom Naturzustand, der eben seit Hobbes eine ganz andere paradigmati‐ 118 119 120 121 122

Vgl. ebd. Althusius 2003, S. 51. Ebd., S. 52. Ebd., S. 51. – Zum Subsidiaritätsprinzip bei Althusius ausführlich auch Malandrino 2002. Vgl. prononciert Spaemann 2008.

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sche Modellierung bekommen hat als es im Mittelalter bei den Debatten üblich war, dies wird von Wyduckel epistemologisch nicht weiter honoriert. Damit wird auch der individualistische Ansatz, der bei Rousseau vorliegt, konsequent vernachlässigt bzw. verharmlost. Es ist eben nicht das Gleiche, wenn man, wie Althusius mit einer „Stufenfolge von Verträgen“ korporativer Art argumentiert,123 und dann im 18. Jahrhundert genau diese Konstellation im logischen (und damit auch im histori‐ schen) Begründungsmodell nicht mehr berücksichtigt. Was Althusius darlegt, läuft auf eine „mittelbar-repräsentative Herrschaft“ hinaus,124 weil das Volk immer über eine potestas concessa verfügt.125 Diese Art der Repräsentation findet bei Rousseau nicht mehr statt. Sie ist schlichtweg delegitimiert. Auch die Unterscheidungslinie hinsichtlich der Implikationen einer politischen Theologie werden hier systematisch vernachlässigt bzw. als irrelevant erklärt,126 obwohl auch selbst Wyduckel einräumt, dass Althusius zweifellos vom „Standpunkt eines politischen Calvinismus geschrie‐ ben“ habe.127 Die notwendigen Konsequenzen zieht er daraus aber nicht.

V. Was am Ende bleibt … So wenig die Stilisierung des Althusius zu einem deutschen Rousseau im Kontext von Gierke also tauglich ist, so muss man sich auch fragen, was denn die Quintes‐ senz von Gierkes Althusius-Betrachtung auf der Grundlage der neueren Forschung letztlich ist bzw. was davon an Substanz übrigbleibt. Zweifellos kann man Gierke zugutehalten, dass er einen wichtigen prämodernen Denker aus der Schubladenkiste des Vergessens entrissen hat. Sicherlich hat Gierke auch eine Reihe von wichtigen Fragen an den Autor und seinen nicht gerade einfachen Text gestellt. Aber die Antworten, die er hierzu gegeben hat, sind eben doch nicht so treffsicher, wie sie zunächst in der rein juridischen Debatte zu sein schienen. So beeindruckend der kommentierende Sachverstand von Gierke in der Heteroge‐ nität der Traktate aus mehr als vier Jahrhunderten auch ist, in der Summe wirken seine Interpretationen dann eben doch befremdlich, weil hier alles und jedes von vornherein in einem historischen Vorverständnis mit dem Blick aus dem 19. Jahr‐ hundert herausgesondert und erläutert wird. D.h., Gierke kennt den Endzustand des modernen Staates, so wie er ihn erlebt hat, und ordnet dem alles zu und ab, was eben passt und hier nicht zu passen scheint. In seiner Auslegung nimmt der 123 124 125 126 127

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Wyduckel 1988, S. 474. Ebd., S. 479. Vgl. ebd., S. 478. Vgl. ebd., S. 487f. Ebd., S. 489. Zur Bedeutung des Calvinismus in der Lehre des Althusius, die dann je nach Intensität auch als Form einer Politischen Theologie gelesen werden kann (oder sogar müss‐ te), vgl. Eßer 1988, Weinacht 1988, Vries/Nitschke 2004, Walther 2004.

Prozess der Hinwendung zur modernen Staatlichkeit zwei Wege, von denen der eine der dominierende gewesen ist, nämlich a) der Zentralismus von Herrschaft im Vollzug des absolutistischen Staates und b) die föderale Ordnungslehre, die in das Modell des Bundesstaates mündet. Beiden gemeinsam ist allerdings am Ende als Ar‐ beitsgrundlage die Volkssouveränität. Ganz abgesehen davon, dass Gierke hier den absolutistischen Staat theoretisch und ideologisch überzeichnet (wie überhaupt die damalige Geschichtswissenschaft), so stilisiert er auch das bundesstaatliche Modell. Gierkes Modellierung der Lehre des Johannes Althusius, denn nichts anderes ist es, was er da gemacht hat, basiert auf einem unreflektierten geschichtsphiloso‐ phischen Fortschrittsdenken, das sich zwar an der Vorstellung von Liberalität und Republik in seiner Epoche orientiert,128 damit aber genau das unterläuft, was ihm eigentlich hermeneutisch der Ansatz gewesen war: nämlich eine angemessene histo‐ rische Rekonstruktion zur Genossenschaftstheorie. Das Recht hat Gierke stets als Inbegriff von Vorstellungen betrachtet, wobei er hier durchaus nominalistisch vorgegangen ist.129 Allerdings ist er hierbei tendenzi‐ ell einer hegelianischen Dialektik gefolgt, was für eine Auseinandersetzung mit Althusius (und überhaupt mit den Autoren der Prämoderne) denkbar ungeeignet ist. Denn die Argumentation in der Politica verfährt weder hegelianisch im Sinne einer Geschichtsphilosohie, noch ist sie überhaupt an der Rekonstruktion von Geschichte interessiert. Eine Übereinstimmung findet sich jedoch im Nominalismus, denn auch die ramistische Methodik neigt dazu bzw. bedingt diese Verständnisweise von Tex‐ ten und Begrifflichkeiten in und mit der Rekonstruktion ihrer terminologischen wie historischen Erscheinungsformen. Aber gerade weil dies methodologisch nicht passt, ist die neuere Althusius-Forschung seit den 1990er Jahren weit über Gierkes Frage‐ stellungen hinausgegangen. Am Ende lässt sich konstatieren, dass Gierke mit seiner Althusius-Interpretation weder für die deutsche Rechtswissenschaft in ihrer weiteren Entwicklung im Verlauf des 20. Jahrhunderts,130 noch für die Althusiusrezeption der Gegenwart eine zentrale Signifikanz aufweist.

128 Vgl. dazu Stolleis 1992, S. 361 sowie Peters 2002, S. 358f. u. Schmidt 2010, S. 136f., Schrö‐ der 2017. 129 Oexle 1988, S. 203, Anm. 59. 130 „Eine korrigierende Wirkung auf den das Fach beherrschenden Formalismus hat Gierke aber auch mit seiner Wiederentdeckung des Althusius nicht erzielt.“ Friedrich 1997, S. 269, Her‐ vorhebung v. Friedrich.

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Ben Holland1 Pufendorf und das Naturrecht bei Gierke

1. Einleitung Otto von Gierkes vierbändiges Werk Das deutsche Genossenschaftsrecht gipfelt in einer Exegese der Staatstheorie Samuel von Pufendorfs (1632–94) und seiner Nachfolger. Pufendorf, so Gierke, habe mit seinem Werk eine „geniale Neuerung“ herbeigeführt, der ein „seltsames Schicksal“2 widerfahren sei. Diese vier Bände ergeben eine Art Rückwärtshegelianismus, da ihr Autor argumentiert, dass das ur‐ sprüngliche germanische Gegenseitigkeitsverhältnis zwischen dem Individuum und der Gesellschaft unter den Druck externer Einflüsse rückgängig gemacht worden sei. Um ca. 1800, so Gierke, sei die organische Beziehung zwischen der Einzelperson und der Gesamtperson der Genossenschaft – welche den ordentlich deutschen Verei‐ nigungstyp bezeichnete – sowohl in der Theorie als auch in der Praxis vollkommen von der Bildfläche verschwunden. Für Gierke lag Pufendorfs Genie darin, dass er eine neue soziale Ontologie und Methode entwickelte, um diese ursprüngliche germanische Idee der Einheit in der Vielheit durch theoretisches Argumentieren vor dem Sterben zu bewahren und wiederzubeleben. Seinem Werk wäre dieses seltsame Schicksal zum einen zugestoßen, weil Pufendorf fremde Anregungen in sein Denken eindringen ließ, und zweitens, weil er diese Ideen an seine Nachfolger in der deutschen Rechts- und Politikwissenschaft vermittelt habe. Für Gierke also kennzeichnet Pufendorfs Staatstheorie den entscheidenden Punkt, ab welchem die „genossenschaftliche Grundlage“ sowohl der Privat- als auch der Gruppenidentität in Deutschland nach langen Jahrhunderten der schleichenden Aushöhlung endgültig zu Staub zerfällt.3 Die von Gierke verfasste Geschichte der politischen, sozialen und rechtlichen Philosophie in Deutschland und andernorts hat einen langen Schatten darauf gewor‐ fen, wie andere diese Geschichte seitdem weitererzählt haben. In diesem Beitrag möchte ich nahelegen, dass das seltsame Schicksal Pufendorfs in der Geschichte der Ideen, so wie diese im Laufe des letzten Jahrhunderts geschrieben wurde, sich der Tatsache verdankt, dass sich ihm ein so einflussreicher, so einfühlsamer aber auch so eigenwilliger Interpret wie Gierke zugewandt hat. Mein erster kritischer 1 Aus dem Englischen übersetzt von Rene Bailey. 2 Gierke 1913, S. 419. 3 Gierke 1913, S. 415.

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Einwand gegen Gierke bezieht sich darauf, dass er Pufendorfs Gesamtwerk sinnent‐ stellend wiedergibt, um dadurch Pufendorf in genau die Geschichte einzupassen, die er erzählen will. Und zwar nicht bloß wie beim Zeichnen einer Karikatur, in der be‐ stimmte Gesichtszüge betont, aber Details und Feinheiten heruntergespielt oder so‐ gar gelöscht werden. Die von Gierke geschriebene Geschichte wird vollkommen un‐ historisch, denn er macht Kategorienfehler in Bezug auf das Denken Pufendorfs, um es in eine Chronik des Zusammenbruchs einzufügen und dabei völlig fälschlich dar‐ zustellen. Pufendorf, so Gierke, eröffne eine Dichotomie zwischen Natur und Kultur, Biologie und Recht, die in der rein germanischen Tradition bis dahin nie zu finden sei. Dennoch, so werde ich argumentieren, wurde Pufendorfs „analoges“ System ge‐ nau dazu konzipiert, jedwede Dichotomie zwischen eindeutigem und vieldeutigem Sprachgebrauch bei den Geistes- und Naturwissenschaften zu vermeiden. Mein zweiter Kritikpunkt bezieht sich auf etwas vollkommen anders. In seinem 1880 er‐ schienenen Werk über die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorie deutet Gierke Pufendorf nahezu als solch einen Konstitutionalisten, für den er an anderen Stellen große Bewunderung ausdrückt. Da Gierke Pufendorfs Methode des analogen Argumentierens aber nicht zu schätzen weiß, schreibt er letzterem eine absolutisti‐ sche Politiklehre zu, die er noch fünfunddreißig Jahre später bis zu den letzten Sei‐ ten seines opus magnum fortschreibt. Im nächsten Abschnitt skizziere ich die von Gierke erzählte Geschichte der kata‐ strophalen Entwicklung der Politiklehre über die Jahrhunderte hinweg. Sie wird den Lesern dieses Bandes wohl schon bekannt sein, muss aber dennoch in Erinnerung gerufen werden, da sie den Kontext für Gierkes kritische Auseinandersetzung mit Pufendorf bildet. Im dritten Abschnitt wende ich mich dieser Auseinandersetzung zu und beschreibe, wie Gierke die naturrechtliche Staatstheorie von Pufendorf deutete. Ich bewerte dann diese Interpretation im Lichte dessen, was Pufendorf tatsächlich geschrieben hat, und der Gedankenstruktur, die hinter den expliziten Aussagen Pu‐ fendorfs steht.

2. Gierke und die Genossenschaftsrechtslehre 2.1 Die Genossenschaft Das deutsche Genossenschaftsrecht erzählt die Geschichte vom Aufstieg und vom Fall der Idee der „Gruppen-Identität“, die Gierke mit der altgermanischen Genossen‐ schaft verbindet.4 Wie schon erwähnt, stand Gierke dem Hegelianismus nahe. Also 4 Holland 2017, S. 184–88 behandelt das geistige und politische Klima zu Göttingen, welches Gierkes philosophischer Geschichte der Ideen über die Einzel- und Gruppenidentität zugrunde liegt.

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führte er die Entstehung der Genossenschaft auf eine Synthese bestimmter Elemente von zwei sich gegenüberstehenden Organisationsarten zurück, die es schon vor der Gründung des Heiligen Römischen Reiches gegeben hat: die Volksgenossenschaft und den herrschaftlichen Verband. Bei Ersterer waren „[a]lle Freien […] als Genos‐ sen an sich gleich berechtigt und gleich verpflichtet, denn Geber war zu gleichem Teile Mitträger, Mitbewahrer, Mitverteidiger von Volksfrieden und Volksrecht“.5 Nichtsdestoweniger war „die Volksgenossenschaft, welche so bei den Germanen die Stelle eines Staates vertrat, […] identisch mit der Summe aller freien und wehrhaften Männer des Volks, die durch sie vertreten“ wurden.6 Mit anderen Worten gab es keine abstrahierte Einheit, die verschieden wäre von den Individuen, die zusammen den Verband bildeten. Bei der zweiten Organisationsart dagegen, dem herrschaftlichen Verband, hatte ein einziges Individuum die Rolle des Hüters von Frieden und Recht inne. „Einer – und dieser Eine nicht als Träger einer abstrakten Idee, sondern als sinnlich lebendige Persönlichkeit – ist der Herr und stellt in sich die gesamte rechtliche Einheit des Verbandes dar.“7 Bei der ersten Organisationsart gibt es Vielheit aber keine wahre Einheit, bei der zweiten dagegen, Einheit ohne wahre Vielheit. Gierke behauptete, dass die die Genossenschaft schaffende Synthese im Schmelz‐ tiegel des raschen sozialen und wirtschaftlichen Wandels der Hohenstaufenzeit (1138–1254) geschmiedet wurde. Die freien Städte, die zu dieser Zeit gegründet wurden, entnahmen der Volksgenossenschaft das Prinzip der geschworenen Treue und dem herrschaftlichen Verband das Prinzip der territorialen Gemeinschaft. Gier‐ ke las aber in den Aufzeichnungen der freien Städte den Beleg für eine Differenzie‐ rung und Abstraktion, von der es in der früheren Periode gar kein Echo gibt. Jeder Veränderung an ihrem Ausmaß, Bürgerschaft oder Verfassung zum Trotz blieb die Stadt immer noch dieselbe Stadt, und sie bestand als Rechtssubjekt und übte ihre Macht in eigenem Namen aus. „Hier zum ersten Male waren weder sichtbare Herren noch eine sinnlich wahrnehmbare Gesamtheit noch beide in einem bestimmten Gemeinschafts- und Teilungs-verhältniß die eigenberechtigten Inhaber öffentlicher Gewalt. Sondern die öffentliche Gewalt stand der Stadt als Stadt zu.“8 Da die Stadt eigene Rechte besaß und Macht ausübte, so bildete sie für Gierke eine Person, denn nur Personen konnten Rechtssubjekte sein. „Alle Fortschritte“, meinte er, „welche sich dem alten Genoßenschaftswesen gegenüber in dem korporativen Ge‐ noßenschaftswesen vollzogen haben, führen darauf zurück, daß die Genoßenschaft immanente Einheit als Person erkannt und rechtlich anerkannt wurde“.9 Die Volks‐ genossenschaft war aber „keine Personengesamtheit im alten Sinne, die zugleich 5 6 7 8 9

Gierke 1868, S. 35. Ebd. Gierke 1868 S. 89. Gierke 1873, S. 733. Gierke 1873, S. 886.

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Einheit und Vielheit, ein Ganzes und eine Summe wäre, sondern […] schlechthin nur die als Person begriffene Einheit in der Gesamtheit“.10 Für Gierke galt die Genossenschaft als Person, da sie Rechtsträger war, und weil sie diese Rechtssubjektivität weder der Summe ihrer verschiedenen Glieder, die den Körper bildeten, noch ihrem Haupt verdankte, sondern selbst inne hatte. Noch dazu galt sie als Person, weil die Persönlichkeit nicht nur auf der Subjektivität, sondern auch auf der Intersubjektivität beruht. „Wir empfinden uns auch als Teil eines in uns wirkenden lebendigen Ganzen. Wollten wir unsere Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk und Staat, einer Religionsgemein‐ schaft und Kirche, einer Berufsgemeinschaft, einer Familie und mancherlei Vereinen und Genossenschaften wegdenken, so würden wir in dem ärmlichen Rest uns selbst nicht wiederkennen. Besinnen wir uns aber auf dieses alles, so wird uns klar, daß es sich nicht bloß um äußere Ketten und Bande handelt, die uns umschlingen, sondern um psychische Zusammenhänge, die in unser Innerstes hineinreichen und integrierende Bestandteile unseres geistigen Wesens bilden.“11

Person sein bedeutet Einheit in der Vielheit sein, und genau dies war es, was die Genossenschaft an und für sich darstellte und ihren Gliedern auch ermöglichte. Gierke behauptete, dass die Idee der Personengesamtheit der Genossenschaft, die zuallererst ins Leben gerufen wurde, um die Stadt zu charakterisieren, bald danach an Einfluss in Fragen des Gemeinschaftslebens inner- und außerhalb der Stadt ge‐ wann, und so wurden sowohl die Handwerksvereine und Zünfte in den Städten als auch die kantonale Versammlungen außerhalb davon als Genossenschaften verstan‐ den. Personen konnten Teile anderer Personen sein, ohne dass dies in irgendeiner Weise die Persönlichkeit der einen oder der anderen untergrabe: es war genau diese Idee der Persönlichkeit, die Gierke für die „geniale Neuerung“ des Germanischen hielt. Die Genossenschaften standen ihren Gliedern „nicht wie beliebigen Dritten, sondern in organischer Verbindung gegenüber. Denn sie waren nicht bloß für sich, sondern auch für ihre Glieder da und durch die Beziehung auf diese begrenzt und gebunden; gleichwie umgekehrt die Glieder nicht bloß für sich, sondern auch für den Verband vorhanden und durch ihn begrenzt und gebunden waren. Daraus ergab sich die Möglichkeit einer Verbindung von Einheits- und Vielheitsrecht.“12

Durch die Genossenschaft war es möglich, menschliche Personen in einen weite‐ ren „lebendigen Organismus“ einzugliedern, ohne dass die Identität der dadurch Aufgenommenen vernichtet wurde. Es gab eine Wechselseitigkeit zwischen der Persönlichkeit des Ganzen und der seiner Teile.

10 Gierke 1873, S. 887; Hervorhebung hinzugefügt. 11 Gierke 1902, S. 22–23. 12 Gierke 1873, S. 40.

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„Es gehört nach deutschrechtlicher Anschauung zum Wesen der Genoßenschaft, Einheit in einer Vielheit zu sein, und folgeweise zwar als Einheit eine selbständige Existenz über ihren Gliedern zu führen, zugleich aber zu der Vielheit der in ihr vorhandenen selb‐ ständigen Sonderexistenzen in organischer Beziehung zu stehen. Die Genoßenschaftsper‐ sönlichkeit als solche steht daher zwar über, aber nicht außer der Personengesamtheit, welche ihren augenblicklichen Körper bildet; sie ist eine ihr immanente Einheit, welche sich als eine wesenlose Abstraktion ins Nichts verflüchtigen würde, sobald man die Beziehung zu einer Vielheit selbständiger Personen fortdenken wollte.“13

Schließlich betonte Gierke, dass die Genossenschaft, da organisch existierend, eine reale Person war, weder künstlich noch erfunden, die ihre Existenz keiner gesetzli‐ chen Fiktion verdankte und keiner Vertretung durch eine natürliche Person bedürfte, um willens- und handlungsfähig zu sein. „In der Erhebung der Stadt zur Person war nichts Künstliches oder Fiktiv. […] Es war aber eine Abstraktion, indem nur vermöge einer solchen die Einheit in der Vielheit ersannt und als ein von der letzteren Verschiedenes gesetzt werden konnte“.14 An der Spitze der immer größeren Verbände, bei denen die Genossenschaften sich einfügen konnten, stand „die ursprüngliche germanische Idee des Rechtsstaa‐ tes“.15 Obwohl nur „das letzte Glied in der Reihe der zu Personen entwickelten Verbände“,16 „ist ein solcher Staat von den in ihm enthaltenen engeren Verbänden des öffentlichen Rechts, von Gemeinden und Körperschaften, nicht generisch ver‐ schieden“.17 Da der Rechtsstaat das letzte Glied bildete und „als die höchste Allge‐ meinheit keine Allgemeinheit mehr über sich“ hatte, war er wahrhaft „souverän“.18 Jedoch verfügte der Rechtsstaat über kein einziges Recht, das nicht auch seinen Mitgliedern zustand. Der Rechtsstaat, wie Chris Thornhill erklärt, „verleibt sich die zwischen seinen organischen Bestandteilen bestehenden rechtsverbindlichen Ab‐ kommen ein und nimmt diese Abkommen als nicht reduzierbare Komponente des eigenen Verfassungsgeflechts auf: tatsächlich hat der Staat keine verfassungsmäßige Realität, die von diesen Abkommen unterschieden werden kann – diese Abkommen sind seine Verfassung“.19 Wie Gierke selbst schrieb, wurde die Idee eines Staates, „welcher nur durch das Recht und für das Recht vorhanden und dessen gesamtes Le‐ ben in einer allgemeinen und die individuellen Beziehungen gleichsetzenden Rechts‐

Gierke 1873, S. 906. Gierke 1873, S. 823. Gierke 1881, S. 609. Gierke 1873, S. 831. Gierke 1868, S. 832. Gierke 1868, S. 833. Eine sehr klare Darstellung des homologen Charakters des Staates und der kleineren Verbände ist in Chaplin 2005, S. 151–59 zu finden. 19 Thornhill 2007, S. 210: „assimilates the legally binding agreements that exist between its orga‐ nic constituents, and it accepts these agreements as irreducible elements of its own constitutio‐ nal fabric: indeed the state has no constitutional reality that can be distinguished from these agreements – these agreements are its constitution“; Hervorhebung hinzugefügt.

13 14 15 16 17 18

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ordnung gebunden war“20 am Beispiel des Rechtsstaats veranschaulicht. Einzelne und verbundene Personen hatten keine „privaten“ Rechte dem Staat gegenüber, noch hatte der Staat keine „öffentlichen“ Rechte seinen konstituierenden Bestandteilen gegenüber. Daher beruhte die Souveränität des Rechtsstaates im wahrsten Sinne auf dem Volk. Wie David Runciman ausführt, sind alle „Personen im Rechtsstaat […] gleichzeitig öffentliche Teile und private Einheiten. Daher darf keine Person weder von einem Amt ausgeschlossen (d.h. zum Untertanen herabgestuft) werden noch das ganze öffentliche Recht alleine in Anspruch nehmen (d.h. zum Souverän erhoben werden)“.21 Die Persönlichkeit des Rechtsstaates beruhte auf der Gesamtheit des pri‐ vaten und öffentlichen Rechts, „das den Staat vom Scheitel bis zur Sohle durch‐ dringt und bindet“.22 Dies stellte für Gierke die endgültige soziale, politische und rechtliche Synthese dar.

2.2 Der Romanismus und das Naturrecht Die Synthese setzte sich aber nicht durch, und Gierkes empörte Ablehnung richtete sich gegen die böswillige fremde Einflussnahme des „Romanismus“, des römischen Rechtsdenkens, das durch die sogenannte „Rezeption“ während des späten elften Jahrhunderts nach Deutschland eingeführt wurde. Seiner Meinung nach förderte der Romanismus einen atomistischen Individualismus und die Übermacht des Staates, die beide dem „Germanischen“ gegenüber feindlich eingestellt waren. Vom Anfang des dreizehnten Jahrhunderts an sei das Germanische einem zweiseitigen Anschlag des Romanismus ausgesetzt, bis zum Sieg des Letzteren, wobei die „Beseitigung von […] Zwischenorganen aus der politischen Kultur nur noch das absolute Indivi‐ duum in Konfrontation mit dem absoluten Staat zurückließ“.23 Der erste Angriff auf das Germanische erfolgte durch das Zivilrecht. Für das Zivilrecht existierten zwei Vorstellungen der Gruppe: die societas und die universi‐ tas. Eine societas oder Personengesellschaft konnte zu jedem rechtlichen Zweck gegründet werden, obwohl societates meistens für eine gewerbliche Unternehmung beauftragt wurden, in die alle Gesellschafter mit ihrem Kapital oder Arbeit investier‐ ten. Eine societas besaß aber selbst keine eigene Rechtspersönlichkeit, denn die socii waren für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft einzeln verantwortlich und konnten Anspruch auf ihre Gewinne erheben. Sie hatte also keine eigene Existenz 20 Gierke 1868, S. 609. 21 Runciman 1997, S. 53: „persons in the Rechtsstaat are public parts as well as private wholes, and so no person can either be denied a public function (i.e. reduced to the level of a subject), nor claim the whole of public right as their own (i.e. raised to the level of a sovereign)“. 22 Gierke 1889, S. 12. 23 Hager 1989, S. 583: „elimination of […] intermediate bodies from political culture left only the absolute individual in confrontation with the absolute state“.

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über diejenigen hinaus, die sie bildeten. Von größerem Interesse für Gierke war die universitas bzw. die Körperschaft, die laut dem römischen Recht ausdrücklich eine Rechtspersönlichkeit besaß. Die Körperschaft wurde als einzelne Einheit verstan‐ den, die das Recht auf Eigentum hatte und selbst Rechtsträger und handlungsfähig war. Obwohl die Körperschaft eine rechtliche Einheit bildete, die sich von den Persönlichkeiten ihrer Mitglieder unterschied, stellte sie jedoch Gierkes Erachtens nach keine wirklich lebende Person dar. Nach der römischen Weltsicht war „eine wirkliche Person […] nur der Mensch, weil nur er ein Individuum und nur das Individuum Person war“.24 Die universitates wurden per gesetzlicher Fiktion als Personen behandelt. „Wenn eine universitas, obwohl sie ihrem realen Substrat nach kein Individuum war, als Person und somit als Individuum gesetzt wurde, so lag darin die vom Recht vollzogene Behandlung einer in Wirklichkeit nicht existenten Tatsache, als sei sie existent“.25 Die universitas existierte nur im Rahmen des Gesetzes und nicht als eigenständiger Organismus. Als Geschöpf des öffentlichen Rechts stellte diese Einheit eine juristische aber keine natürliche Person dar, wäh‐ rend sie als Geschöpf des Privatrechts durch eine Fiktion als Person, aber nicht als wahre Einheit, verstanden wurde. Noch dazu konnte die universitas von einem Individuum vertreten werden, während dies der Genossenschaft unmöglich war, da kein Individuum außerhalb stehen und als rein öffentliche Persönlichkeit auftreten durfte. Dem römischen Korporationsrecht zufolge handelte der Proktor im Namen der Körperschaft, aber noch behielten alle die Körperschaft bildenden Mitglieder als Gesamtheit selbst nach der Wahl des Proktors ihre eigene immanente Autorität. Daher konnten sie den Willen der Körperschaft vollwertig zum Ausdruck bringen, wenn sie „kollektiv“ und nicht „distributiv“ handelten, d.h., wenn sie als universi‐ tas und nicht als Individuen handelten. Die Aufnahme der Korporationslehre des Altertums in Deutschland bedeutete für Gierke eine Änderung im mittelalterlichen Denken, wobei „die individuellen und die gesellschaftlichen Rechtsbeziehungen der einzelnen Menschen“ – und dabei ihre privaten und öffentlichen Personen – „von einander geschieden“ wurden.26 Ebenso wie das Zivilrecht war für Gierke auch das Naturrecht römischrechtli‐ cher Herkunft. Insbesondere vom sechzehnten Jahrhundert an habe es begonnen, die harmonischen germanischen Ideen der Genossenschaftspersönlichkeit und des menschlichen Verbandes niederzureißen.27 Zunächst einmal verstand das Naturrecht „im Sinne [seiner] Weltanschauung das eigentlich konstitutive Element keineswegs in dem natürlichen Werden und Wachsen, sondern führt[e] überall den Schöpfungs‐ gedanken durch“. Demnach entstammten alle sozialen Gruppen einem göttlichen 24 25 26 27

Gierke 1881, S. 103. Ebd. Gierke 1881, S. 598. Siehe die hilfreiche Behandlung in Dumont 1986, S. 72–76. Dass das Naturgesetz römischer Herkunft sei, ist natürlich höchst umstritten. Siehe Gierke 1913, S. 276–85 zur Begründung.

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Schöpfungsakt, wobei letzterer auch den allerwichtigsten Verein, den „mystischen Körper” der Kirche, „unmittelbar bildet und beseelt”.28 Zum Zweiten bedeutete es, dass das bindende Gesetz für alle in dieser vom Christentum ausgerufenen universa‐ len Gemeinschaft die Vernunft war; etwas, das sowohl Gott als auch die Menschheit teilten. Dass Menschen die Vernunft innehatten, verdankten sie einem Geschenk von Gott; Er hat uns vernunftbegabt geschaffen. Das Genossenschaftsprinzip basierte also nicht grundsätzlich auf der Vernunft, wobei das Recht organisch wächst; das Gesetz wurde wesentlich von oben herab den Menschen auferlegt. Drittens war das theologische System, das hinter dem Diskurs des Naturrechts stand – also die christliche Theologie der katholischen Kirche – monarchisch. Zu diesem Punkt wird Gierkes Kritik wohlüberlegt etwas umsichtig. Er hielt den Katholizismus in gewissem Maße dafür verantwortlich, dass eine neue Weltanschauung entstanden war, nach der das von Menschen bewohnte System einem universellen Rechtsstaat entsprach. Das Versprechen des Christentums sei es, die Menschheit in einer von Gott selbst geschaffenen Gemeinschaft zu vereinen. Alle Gruppen seien von Gott zu demselben Zweck geordnet, aber selbst in dieser Welt, die als „ein einziger, von Einem Geist beseelter und nach Einem Gesetze gebildeter Organismus‟ verstanden sei, habe jeder seinen zugeordneten Platz, so dass sie ein „verkleinertes Abbild des ͵microcosmusʹ der Welt‟ bilde und „dieselben Principien, auf denen der Bau der Welt beruht, bei der Konstituierung jedes Theilganzen wiederkehren‟ müssen.29 Die Einheit des menschlichen Körpers sei „in dem überirdischen Haupt gewahrt’’, selbst wenn „in ihm sehr wohl unter Einem obersten Haupte besondere Häupter der in sich wieder als Körper abgeschlossen Theile‟ möglich seien.30 „In Kirche und Reich zerfällt der Gesamtkörper in mehrfach abgestufte Theilkörper deren jeder zwar der Verbindung mit dem Ganzen notwendig bedarf, zugleich aber für sich selbst ein mit einem Sonderzweck ausgerufenes und in sich wiederum nach dem Princip der die Vielheit und beherrschenden Einheit konstituiertes Ganze bildet‟.31 Die wahre Einheit setze sich nicht aus „anthropozentrischen Äußerlichkeiten‟32 zusammen, sondern aus der Koordinierung der Teile durch Gottes Vernunft, so „daß alle Glieder in ihren Funcktionen sich zu ergänzen und zu unterstützen, daher niemals den Vortheil der übrigen Glieder aus den Augen zu verlieren und deren Verletzung als eignes zu betrachten haben‟.33 Manche christlichen Gesellschaftstheoretiker haben große Bewunderung gezeigt für Gierkes Anerkennung und Charakterisierung der harmonischen Natur der Stadt Gottes auf der Pilgerreise auf dieser Erde.34 Dennoch 28 29 30 31 32 33 34

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Gierke 1881, S. 556. Gierke 1881, S. 514. Gierke 1881, S. 546–47. Gierke 1881, S. 544–45. Koessler 1949, S. 448: „anthropocentric trappings‟. Gierke 1881, S. 550. Milbank 1990, S. 405-06.

spürte Gierke keine solche Bewunderung für das, was er so deutlich charakterisierte, da es sich immer noch auf dem monarchischen Herrschaftsprinzip gründete und in diesem Sinne den Genossenschaftsprinzipien entgegenstand. Die vorherrschenden Motive des Romanismus – Schöpfung, Zugeständnis und Königreich – standen also im Gegensatz zu den germanischen Schwerpunkten des organischen Wachstums und der wirklichen Persönlichkeit der Genossenschaften. Laut Gierke hatte dies katastrophale Folgen. In Bezug auf die Politiklehre führte der Romanismus schließlich zur These der Souveränität des Herrschers: in gewisser Weise eine Rückkehr zur These des herrschaftlichen Verbandes. Alle Individuen hat‐ ten aufgrund ihrer Vernunftfähigkeit Zugang zu den Postulaten des Naturrechts, und nach der Naturrechtslehre war es gerade dieser Zugang, der Individuen zu Personen machte. Diese Vorstellung der Beziehung zwischen Persönlichkeit und Recht machte es, so Gierke, äußerst schwierig, die politische Gemeinschaft selbst als Person und einheitliches Rechtssubjekt zu denken. Denn, wenn „in diesem Zusammenhang […] alle Deduktionen‟ der Politiklehre darauf zurückzuführen sind, dass „das We‐ sen des gesellschaftlichen Organismus in der Einheit beruht‟, so mache dies es konzeptionell sehr schwierig, die Gesamtperson als Voraussetzung beizubehalten.35 Als Lösung zeigte sich zunächst einmal das Argument, dass alle politischen Ge‐ meinschaften bei ihrem Herrschaftsprinzip das monarchische christliche Königreich spiegeln müssten, und dann durch einen zweiten Schritt die Einheit von „einem herr‐ schenden Theile‟ – d.h. vom Souverän – als Voraussetzung für die Gesamtperson zu machen.36 Gierke führte auf Dante Alighieri eine Weiterentwicklung des Arguments zurück, und zwar, dass „das im politischen Körper zu Einende die Willenskraft sei, zur Darstellung aber der unitas in voluntatibus sich offenbar am besten die voluntas una domina et regulatrix eines einzigen Menschen eigne”.37 Vernunft ist für alle gleich, aber die Erfahrung zeigt, dass unsere Willen unterschiedlich sind. Wenn es daher darum geht, politische Einheiten zu vereinen, dann sollen wir am besten den Willen zum Schwerpunkt machen, da „die gesellschaftliche Ordnung in ähnlicher Weise auf der Ueber- und Unterordnung der Willen beruhe, wie die natürliche Ordnung auf der Ueber- und Unterordnung der Naturkräfte”.38 Später machte Baldus de Ubaldis (der wichtigste mittelalterliche römische Jurist) sehr deutlich, dass der Begriff der Gesamtperson verschwunden war. Wenn ein Kaiser stirbt, meinte er, hört sofort jede Gerichtsbarkeit auf, die er anderen übertragen hat. Auch für Gierke ist es der Wille des Kaisers, der beim Delegieren zum Ausdruck kommt, und nicht der des Reiches, denn das Reich habe keinen Verstand und daher auch keinen Willen. Der Wille ist eine Tatsache, und bloße Tatsachen sollten von Rechtsangelegenheiten 35 36 37 38

Gierke 1881, S. 559. Ebd. Gierke 1881, S. 560. Gierke 1881, S. 560, N.108.

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unterschieden werden.39 Offenbar hatte sich eine Kluft zwischen dem Herrscher und der Bevölkerung geöffnet, und die Rechtspersönlichkeit, die diese beiden umfassen sollte, war dort hineingefallen. Nun wurde das Recht, das zuvor der Vernunft gleich‐ gesetzt worden war, vom Willen des Souveräns bestimmt. Nachdem die Naturrechtstheoretiker das Problem der souveränen Autorität gere‐ gelt hätten, meinte Gierke, beschäftigten sie sich dann mit der Frage, wie diese souveräne Autorität zu kontrollieren sei und zogen hierfür eine Grenzlinie zwischen positivem und natürlichem Recht. Das positive Recht wurde „dem ausdrücklich oder stillschweigend erklärten Herrscherwillen‟ gleichgesetzt, so dass der Herrscher „vor und über‟ alle von ihm oder seinen Vorgängern erlassenen Statuten gestellt wurde.40 Auf der anderen Seite habe Gott das Naturrecht in der natürlichen Ver‐ nunft des Menschen zur Erreichung von irdischen Zielen gesetzt, und nicht einmal dem Souverän sei es gestattet, dagegen legitim zuwider zu handeln. Diesen beiden Rechtssphären entsprachen zwei Rechtstypen. Als „Zugeständnis” des Staates wurde ein Recht verstanden, das in die positive Rechtssphäre fällt. Natürliche Rechte aber konstituierten Ansprüche auch gegen den Souverän, denn sie wurden den Menschen von Gott selbst zugestanden. Wie alle Rechte setzen natürliche Rechte ein Subjekt voraus, und das Subjekt eines Rechts könnte nur eine Person sein. Bei früheren Ver‐ sionen der naturrechtlichen Staatstheorie gab es also im Staat eine große Trennlinie zwischen den Persönlichkeiten der Bürger und der Persönlichkeit des Herrschers, so dass, wenn „das Volk” eine Person genannt wurde, dies „bloß eine kollektive Konzeption” war, die die einzelnen Besitzer der natürlichen Rechte umfasste; das Volk wurde „der Summe seiner Bestandteile gleichgesetzt‟.41 Diese organische Analogie wurde also auf die „unpersönliche Tatsache der Verbindung der Teile” und auf die „gleichermaßen unpersönliche Tatsache eines Systems der gemeinsamen Kontrolle zur Aufrechterhaltung dieser Verbindung” angewandt, aber nicht auf das „persönliche Element eines Systems der Kontrolle durch eine Gesamtperson”.42 Daher war der Staat ein „lebloser Begriff”, weil er keine wirkliche Person an und für sich darstellte.43 In ihrer endgültigen Gestalt stellte die naturrechtliche Staatstheorie also genau das Gegenteil von einer Genossenschaft dar. Gierke deutete die Staatstheorie von Thomas Hobbes als diese endgültige Gestalt. Hobbes behauptete mit „schärfster Folgerichtigkeit” und „radikaler Kühnheit”, dass alle Individuen in einem Zustand der Natur ein natürliches Recht auf alles hätten.

39 Gierke 1881, S. 606. 40 Gierke 1881, S. 614. 41 Barker 1934, S 52: „a merely collective conception“; „made co-extensive with the sum of its constituent units“. 42 Barker 1934, S. 52: „the impersonal fact of the connection of the parts“; „the equally imperso‐ nal fact of a system of common control for maintaining that connection“; „the personal factor of a system of a controlling group-personality“. 43 Gierke 1913, S. 319.

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Da in einem solchen Zustand niemand in Sicherheit sein könnte, hielt es jeder für vernünftig, sich einem „am Vertragsschluss seinerseits nicht beteiligten gemein‐ schaftlichen Herrscher” zu unterwerfen.44 Alle öffentlichen Rechte werden durch diese Person bzw. Versammlung aufgenommen, die noch ein natürliches Recht auf alles behält: „[Hobbes] hatte das Naturrecht bis zum Recht eines Jeden auf Alles erweitert, damit es an seiner eignen Herrlichkeit zugrunde gehe und in der Gestalt des einen einzigen Menschen oder einer einzigen Versammlung verbliebenen jus ad omnia in die nackte Gewalt umschlage. Er hatte das Individuum allmächtig gemacht, um es alsbald zur Selbstzerstörung kraft eben dieser Allmacht zu zwingen und den Träger der Staatsgewalt zum irdischen Gott zu erhöhen.“45

Die durch den Vertrag von Hobbes geschaffene „Persönlichkeit des Staates [kann] wie jeder Körper schlechthin nur eine sein‟.46 Sein Vertreter verkörpert nicht bloß das Haupt, sondern die eigentliche Seele des Staatskörpers. Der Staat spricht und handelt nur durch ihn, und was er sagt und tut, wird im Namen des Staates gesagt und getan. Der von Hobbes erdachte Staat verkörpert das Gegenteil der germani‐ schen Tradition. Er existiert durch eine Fiktion des Naturrechts, die ausschließlich durch seinen Vertreter bzw. die künstliche Person des Souveräns aufrechterhalten wird. Die wirklichen Personen, die seine Subjekte sind, sind zu einem einzigen stummen Autor von alledem geworden, was in ihrem Namen gesagt und getan wird.47 Was immer für Rechtspersönlichkeiten natürliche Personen und Verbände im Staat besitzen, so erhalten sie diese nur durch ein Zugeständnis des Souveräns. In Hobbes‘ Staat können Körperschaften nur dann existieren, wenn sie vom Souverän genehmigt werden, was sie zu bloßen juristischen Personen macht. „So bleibt es doch dabei, daß die Persönlichkeit der Verbände nur durch ein juristisches Kunst‐ stück zu Stande kommt, kraft dessen sie für das Recht als etwas gelten, was sie in Wirklichkeit nicht sind‟.48

3. Gierke und Pufendorf 3.1 Gierkes Kritik an Pufendorf Gierkes Schilderung der naturrechtlichen Lehre der Gesamtperson und der Persön‐ lichkeit des Staates endet aber nicht bei Hobbes. Als nächster tritt Pufendorf auf,

44 45 46 47 48

Gierke 1913, S. 331. Gierke 1913, S. 331–32. Gierke 1913, S. 330. Hobbes 2012. Siehe Kapitel 16 für eine Behandlung des Herrschers als künstliche Person. Gierke 1902, S. 5.

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der auch eine führende Rolle in dieser Geschichte spielt und die Weichen zu ihrer endgültigen Vollendung stellt. Zwar habe Pufendorf in diesem Theorienstreit heftig darum gekämpft, „das Prinzip der Genossenschaft als Voraussetzung‟ für die Ge‐ samtperson am Leben zu erhalten, aber vergebens, und sein Scheitern daran habe ebenso zum Begräbnis des Genossenschaftsprinzips beigetragen wie der gezieltere Angriff von Hobbes. In Gierkes Augen bedeutete der große theoretische Schritt von Pufendorf nicht weniger, als dass er ein „neu entdecktes Land betrat‟.49 Dies war das Land der von Pufendorf sogenannten moralischen Wesen [entia moralia].50 Es wäre vielleicht verständlicher, wenn wir solche Wesen sozial bzw. institutionell anstatt moralisch nennten, denn Pufendorf versuchte mit diesem Begriff alle zur philosophischen Nachforschung notwendigen gesellschaftlichen und organisatorischen Praktiken zu vereinen, die nur durch menschliches Abkommen zustande kommen und das Ziel haben, ein geordnetes und erstrebenswertes gesellschaftliches Zusammenleben zu sichern. Damit gelang es Pufendorf nicht nur, einen geeigneten Gattungsbegriff für öffentliche Körperschaften, sondern auch eine analoge Methode für deren Klas‐ sifizierung und Analyse zu finden, in der die Klassifizierung der moralischen Per‐ sonen der Klassifizierung von Naturwesen in den Naturwissenschaften entsprach. Ohne solche Analogien, „wenn wir dieselbige nach der Norm derer Physikalischen anderer Gestalt in gewisse Classen unterscheideten‟, meinte Pufendorf, kann man einfach nicht systematisch die Welt der menschlichen intersubjektiven Pflichten deuten, „weil unser in denen materialischen Sachen ganz vertieffter Verstand die Moralischen anderster fast gar nicht als durch eine in jener gesuchte Aehnlichkeit begreiffen kan‟.51 Das heißt, ebenso wie Qualität ein Merkmal der physischen Welt ist, so entspricht dieser bei menschlichen Organisationen jene Kategorie der moralischen Wesen, die eine bewertende Kraft ausübt, z.B. durch Titel („mit welchen man in dem gemeinen Leben den Unterscheid derer Personen nach ihrer Schätzbarkeit‟ erkennt), Macht‐ befugnisse (wodurch „einer etwas rechtmäßiger Weise und mit einen Moralischen Nachdruck und Werckzeug thun kan‟), Rechte („vermöge derer man […] an etwas einen Rechtlichen An- und Zuspruch hat‟) und Verpflichtungen („wenn jemand auß einer moralischen Nothwendigkeit was leisten oder zulaßen und leiden muß‟).52 Und ebenso wie es Quantitäten in der physischen Welt gibt, so haben Menschen soziale Normen wie den Preis und den Verdienst nach Leistung etabliert.53 Als die wichtigsten von allen moralischen Wesen jedoch deutete Pufendorf die Wesen der moralischen Welt. Diese Wesen nannte er moralische Personen, die analog 49 50 51 52 53

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Gierke 1913, S. 418. Für eine aktuelle eingehende Auslegung siehe Hunter 2019. Pufendorf 1711, I, i, 5. Pufendorf 1711, I, i, 18–21. Pufendorf 1711, I, i, 22, 12/25.

zu natürlichen Wesen verstanden werden sollen, „weil noch andere Moral-Dinge in denenselben gleichsam unmittelbahr gegründet sennd, und zwar fast eben so, als wie die Eigenschafften und der Gehalt in denen Cörperlichen Selb-Ständen ihren Grund und Beistand haben‟.54 Moralische Personen sind also die Ämter und Gesellschaftsrollen, welche natürliche Personen entweder einzeln oder kollektiv in‐ nehaben. Einige davon sind ziemlich einfach zu verstehen. Wenn man zum Beispiel die Rolle eines Ehemanns annimmt, so nimmt man ein Amt an, das aus bestimmten Pflichten, Rechten und Fähigkeiten besteht, für die eine Einzelperson zuständig ist. Andere sind eher komplexer zusammengesetzt. Eine Kirche zum Beispiel ist eine gesellschaftliche Einrichtung mit ihren eigenen Ämtern, die aber auch aus verschie‐ denen Personen in den Rollen des Bischofs, des Pfarrers und des Gemeindemitglieds besteht. Gierkes Erläuterung der moralischen Wesen folgt zum größten Teil derjenigen von Pufendorf sehr eng. Sie sind für ihn die Eigenschaften, „die von vernünfti‐ gen Wesen physischen Gegenständen und Bewegungen beigelegt werden, um auf die menschliche Willensfreiheit leitend und ermäßigend einzuwirken und so das menschliche Leben harmonisch zu ordnen‟.55 Insbesondere habe Pufendorf „den Weg zu einem solchen Gattungsbegriff [dadurch gebahnt], dass er von vornherein den rechtlichen Begriff der Person unter dem Namen der persona moralis von dem natürlichen Persönlichkeitsbegriff loslöste‟.56 Bei seiner Darstellung von Pufendorfs Auffassung der moralischen Wesen erläuterte Gierke weiter: „So ergeben sich als entia moralia ad analogiam substantiarum conceptae [moralische Wesen, die zum Konzept der Substanz analog sind,] die von der Rechtsordnung den Menschen attribuierten personae morales.‟57 Gierkes Erläuterung von Pufendorf zufolge geht die moralische Persönlichkeit also um die Vergabe von Rechten, was jede Rechts‐ ordnung tut. Rechte müssen in etwas bestehen und daher, so Gierke, habe Pufendorf den substantiellen Aspekt der Person so stark betont. Noch dazu, ebenso wie ein Individuum mehrere juristische Personen innehaben kann, so kann eine Gruppe von Individuen auch zu einer einzigen juristischen Person werden, „sobald einer gehörig geeinten Mehrheit von Individuen ein einziger Wille und demgemäß eine besondere Rechtssphäre zugeschrieben wird‟, so dass diese Rechte einer einzigen Körperschaft gehören.58 Pufendorf war nicht nur Gesellschafts- und Rechtswissenschaftler sondern auch Politiktheoretiker, und im späten siebzehnten Jahrhundert wandte sich die politische Theorie in Europa zunehmend dem Staat zu. Die Gründung eines Staates, meinte Pufendorf, erfolge in drei Etappen. Erstens würden sich mehrere Haushaltsvorstände 54 55 56 57 58

Pufendorf 1711, I, i, 6, 4/15. Gierke 1913, S. 416. Ebd. Gierke 1913, S. 416–17. Gierke 1913, S. 417.

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zusammen verbinden. Dabei sei es „vor allen Dingen nothwendig, daß ein jeder dieser zukünfftigen neuen Gesellschafft sich mit dem andern verbünde, in eine und zwar beständige Gemeinschafft zutretten und seine Wolfahrt und Sicherheit mit gemeinem Rath und unter gemeiner Anführung zu suchen‟.59 Als zweiter Schritt erfolgt eine Mehrheitsabstimmung über das erwünschte Regierungssystem unter denjenigen, die an dem gerade beschlossenen Vereinigungsabkommen Teil genom‐ men haben; darauf wird das Regierungssystem durch Erlass eingerichtet. Schließlich unterwerfen sich die zukünftigen Staatsmitglieder dem Willen der Einzelperson oder Gruppe, die gemäß der ursprünglichen Vereinbarung von jetzt an souverän über alle herrscht. Laut Pufendorf sei es diese „Vereinigung und Unterwerffung des Willens […] wodurch die ganze Bürgerliche Gesellschafft das Ansehen und die Gestalt einer einßigen Persohn gewinnet‟.60 Für Gierke machte Pufendorf mit seiner Auslegung zwei bedeutsame Schritte auf dem Wege dahin, das Genossenschaftsprinzip des Staates wiederzubeleben. Zum einen hatte die von Pufendorf beschriebene zusammengesetzte moralische Person „eine konstitutive Bedeutung“.61 Gierke verstand darunter nach der Auslegung Pu‐ fendorfs, dass eine moralische Person „schon aus der blößen conjunctio hominum“ ins Leben gerufen werden könnte. Sie bedürfte keines Vertretungsorgans, das in ihrem Namen handeln würde.62 Für Hobbes wird die Staatspersönlichkeit gleichzei‐ tig mit der Ernennung des Staatsvertreters ins Leben gerufen; die Gesamtperson wird im Augenblick der Schaffung belebt. Darauf gelten als Rechtspersönlichkeiten nur der Souverän, der die führende Staatsrolle übernimmt, und die anderen Amtsträ‐ ger, die ihr Amt durch ein Zugeständnis des Souveräns erhalten und daher bloße Schatten von Personen sind. Für Pufendorf dagegen wird die zusammengesetzte moralische Person allein durch eine Vereinbarung zwischen Individuen belebt und rechtsfähig. „Somit haben Einzelpersonen und Gesamtpersonen dieselbe Art von Dasein”, denn sie haben beide zugestimmt, in einer bestimmten rechtlichen Rolle zu handeln und ihre Handlungen durch andere moralische Einzel- und Gesamtpersonen anerkennen zu lassen. 63 Hierin besteht der zweite bedeutsame Schritt von Pufendorf, denn auf diese Weise „führte er freilich mit Entschiedenheit das Prinzip durch, daß die zusammengesetzte Person ein wollendes und handelndes ͵Rechtssubjektʹ von ebenso einheitlicher Wesenheit wie die einfache Person sei“.64 Gierke glaubte jedoch, dass Pufendorf den Tendenzen des „alt-modernen“ Den‐ kens erlegen sei und dem altrömischen Denken den Weg eröffnet habe, das Germa‐ nische erneut in Gefahr zu bringen, denn „von seinen individualistischen Grundan‐ 59 60 61 62 63 64

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Pufendorf 1711, VII, ii, 7. Pufendorf 1711, VII, ii, 8; Hervorhebung hinzugefügt. Gierke 1913, S. 415. Gierke 1913, S. 415, N. 131. Gierke 1913, S. 417. Gierke 1913, S. 418.

schauungen aus vermochte er über eine formale Gleichsetzung der Gesamtperson mit der Einzelperson nicht hinaus[zu]gelangen“.65 Wenn es darum gehe, für die Gesamtperson eine solide Basis für die Attribute zu bestimmen, die das Wollen und Handeln ermöglichen, dann käme für Gierke nur die natürliche Einzelperson als Muster in Frage. Die von Pufendorf vorgesehene Gesamtperson wurde, ebenso wie bei Hobbes, „durch die Persönlichkeit des Vertreters dergestalt absorbiert“, so dass die Gruppe nur durch ihren Vertreter will und handelt.66 So habe die Gruppe eine „wirkliche” Persönlichkeit nur dann, wenn sie vertreten wird. Dies bedeute letztendlich, dass die zusammengesetzte moralische Person an und für sich nicht wahr sei, und so müsse man die Weltsicht Pufendorfs, genau wie die von Hobbes, als individualistisch und nicht organisch deuten. „Sobald indes das reale Substrat zur Sprache kam, tauchte hinter der persona moralis simplex immer wieder der lebendige Mensch auf und riss als persona physica die Attri‐ bute der Persönlichkeit an sich; die persona moralis composita aber stützte sich auf kein reales Ganze, auf sein lebendiges Gemeinwesen, sondern auf das künstliche Produkt von Verträgen, durch welche Individuen sich einander obligiert hatten. […] Eine so mit den Mitteln des Individualrechtes konstruierte Einheit war zuletzt doch nur täuschender Schein: bei genauerer Prüfung fiel sie in Stücke und löste sich in Rechtsverhältnisse.“67

Nach der Deutung von Gierke wäre für Pufendorf, insbesondere im Hinblick auf den Staat, die Staatspersönlichkeit nur dann wirklich, wenn die zusammengesetzte Körperschaft durch eine Einzelperson vertreten wäre, die als eine einzige Einheit handelt und will. Letzten Endes war Pufendorf also „in genauem Anschluss an Hobbes“.68 Am Schluss von Das deutsche Genossenschaftsrecht führt Gierke eine Reihe von prominenten Denkern aus dem späten siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert an, die heute bis zum letzten Mann ins Dunkel verschwunden sind: Johann Nikolaus Hert (der als Erster De jure naturae ins Deutsche übersetzte); Gottlieb Gerhard Titius; Nicolaus Hieronymus Gundling; Franz Schmier; J. G. Daries; Daniel Nettelb‐ ladt; August Ludwig von Schlözer; und Johann Christoph Hoffbauer. Jeder dieser Denker betrachtete eine rechtlich anerkannte Gruppe, einschließlich des Staates, als eine moralische Person. Daher konnten sie auch, so Gierke, „von neuem den Unter‐ schied zwischen rechtlicher und physischer Persönlichkeit“ aufnehmen, den Pufen‐ dorf gezogen hatte.69 Auf dieser Weise wurde Pufendorfs These der moralischen Persönlichkeit „schon von seinen Schülern nicht mehr als Grundlage der gesamten Philosophie, sondern lediglich als Erklärungsmittel für einzelne dem Vergleich mit

65 66 67 68 69

Ebd. Gierke 1913, S. 419. Gierke 1913, S. 418–19. Gierke 1913, S. 413. Gierke 1913, S. 420.

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der Sinnenwelt widerstrebende Rechtsphänomene verwertet“, wie zum Beispiel der Gruppenbesitz.70 „[S]ie erscheint neben den lebendigen Menschen nur als begriff‐ liche Schemen, welche für gewisse Gruppen von Rechtsbeziehungen die Verknüp‐ fung mit einem einheitlichen Mittelpunkte ermöglichte.“71 Intern bezeichnete die Existenz von jeder Gruppe eine moralische Person. „Das Wesen jedes Verbandes erschöpft sich in gegenseitigen Rechtsverhältnissen der Verbunden: ‚die moralische Persönlichkeit‘ ist nur eine begriffliche Formel, welche bestimmte Wirkungen dieser Beziehungsverhältnisse abgekürzt ausdrückt“.72 Damit wurde „die Herabsetzung der moralischen Person zum Sammelnamen, des Gemeinwillens zur Willensnummer vollendet“.73 Schlicht gesagt war es die individualistischste Konzeption der Gesamt‐ person in der Geschichte des westlichen Denkens. „Die Existenz dieser moralischen Person ist also nur deshalb und insoweit eine Realität, weil und inwiefern sie sich mit der Existenz der Individuen deckt; die Einheit des Willens und der Kraft in der Verbandperson hat nur deshalb und insoweit Wirklichkeit, weil und inwiefern die Individuen in Übereinstimmung oder kraft Vollmacht einheitlich wollen und handeln“.74 Das Konzept der moralischen Person „lässt nur nach außen hin einen technischen Wert” zu, denn mit diesem künstlichen Begriff wurde es möglich, eine Gruppe in einem mit mehreren Gruppen erfüllten Handlungsfeld als Einzelperson zu behandeln. Da der Staat insbesondere nach Pufendorf als moralische Person bezeichnet wurde, hatte dies nichts mit dem inneren Leben des Staates zu tun und galt nur für den Staat in seinen äußeren Handlungen. Es war Ausdruck der Staats‐ identität als freiwilliges Subjekt von bestimmten „Vereinbarungen“ (mehr waren sie nicht) des Verhaltens.75 Die moralische Persönlichkeit des Staates wurde dann auch zu seiner internationalen juristischen Persönlichkeit, die, wie es seitdem zahllose internationale Rechtsanwälte verstanden haben, eine „ungreifbare“ Qualität habe.76

3.2 Die Kritik von Gierke verfehlt ihr Ziel Meine erste Kritik an Gierke wird dem Leser höchstwahrscheinlich schon aufgefal‐ len sein. Nämlich, dass es für Pufendorf keine Gleichsetzung zwischen der morali‐ schen und juristischen Persönlichkeit gegeben hat. Laut Pufendorf bildet eine mora‐ lische Person jede gesellschaftliche Rolle, die von einem Individuum bzw. einer

70 71 72 73 74 75 76

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Gierke 1913, S. 419. Gierke 1913, S. 421. Gierke 1913, S. 444. Gierke 1913, S. 430. Gierke 1913, S. 444. Gierke 1913, S. 425. Sands 2016, S. 293: „The moral personality of the state became its international legal persona‐ lity, which many an international lawyer has seen ever since as an ͵intangible’ quality”.

Gruppe von Individuen angenommen wird, denn alle Rollen bilden sich auf, aus und durch die Fähigkeiten und Kompetenzen von natürlichen Personen. Moralische Personen bilden die Bestandteile der moralischen Welt. Sie sind die frei handelnden Einzelpersonen, die zusammenwirken, um jene Rollen und Ämter anzunehmen, die für ihre Vereinigung bzw. Körperschaft von Nutzen und notwendig sind. Zwar sind juristische Personen gleichzeitig moralische Personen, aber nicht jede moralische Person ist auch eine juristische Person. Ehefrau, Pfarrer, Botschafter, Familie, Kir‐ che oder Staat zu sein bedeutet selbstverständlich auch eine Vielfalt an Pflichten auf sich zu nehmen und eine Reihe von Rechten wahrzunehmen, die feste Bestandteile des Rechtssystems sind. Der Ehevertrag bindet die Frau daran, ihrem Mann zu ge‐ horchen. Wenn ein Botschafter einem fremden Land Staatsgeheimnisse weiterleitet, dann wird er vor Gericht strafrechtlich verfolgt, wenn sein Verrat entdeckt wird. Diese Rollen, Ämter und Organe stellen aber nicht nur für eine rein juristische Gemeinschaft das zum Wollen und Handeln fähige Herzstück dar. Sie stellen auch das zum Wollen und Handeln fähiges Herzstück einer Welt dar, die aus sozialen, politischen und wirtschaftlichen Handlungen besteht, und obwohl diese Handlungen durch den Rechtsstaat bedient werden, bestehen sie auf keinen Fall bloß um dem Rechtsstaat zu dienen. Für Pufendorf können moralische Personen also eine Vielfalt von Rollen und Verantwortungen annehmen, die absichtsvoll, zweckdienstlich und ethisch sind, die aber überhaupt nichts mit dem Rechtsstaat zu tun haben. Nichtsdestoweniger ist die Art und Weise, wie Pufendorf den Begriff „moralisch“ verwendet, ziemlich eigenwillig. So bemerkt Ernest Barker in der Einführung zu seiner englischen Übersetzung Das deutsche Genossenschaftsrecht, der sich mit Pu‐ fendorf beschäftigt, dass wenn von der moralischen Person die Rede ist, „das Wort ͵moral’ genauso verwendet [wird], als wenn wir von einer moralischen Gewissheit oder einem moralischen Sieg reden. Es ist nicht nötig, sich mit diesem Gebrauch auseinanderzusetzen, solange uns deutlich ist, er sei eigenartig”.77 Genau wie Gierke aber glaubt Barker, dass Pufendorf das Wort „ausschließlich in Zusammenhang mit der Rechtssphäre” verwendet.78 Weiter hält er Pufendorf vor, mit diesem Begriff „ein Durcheinander beim Denken zu verursachen, Dank dessen, die ‚moralische Person‘ in etwas ethisches und gutes umgestellt wird“ – obwohl das Wort eigent‐ lich keine andere Bedeutung als „juristische Person“ haben solle.79 Dies Urteil ist aber aus mehreren Gründen zu voreilig. Zwar ist die moralische Gewissheit ein rechtlicher Begriff, aber nicht ausschließlich, und von einem moralischen Sieg im juristischen Kontext zu reden kommt überhaupt nicht in Frage. Es gibt genauso 77 Barker 1934, S. lxiii: „Here [in speaking of moral personality] the word moral is used in much the same sense as when we speak of a moral certainty or a moral victory. We need not quarrel with the usage, provided that we are clear that it is peculiar”. 78 Ebd: „belongs exclusively to the sphere of law”. 79 Barker 1934, S. lxv: „a confusion of thought which turns the ,moral person’ into something ethical and good”.

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wenig Grund dazu, „moralisch“ als „juristisch“ zu deuten, wie als „etwas ethisches und gutes“. Pufendorf verwendet den Begriff „moralisch“ auf eine eigenartige Weise nicht deshalb, weil er synonym mit „juristisch” verwendet wird, sondern weil es schwierig ist, überhaupt ein passendes Synonym dafür zu finden. Am nächsten kommt eventuell ‚institutionell’, wie ich ein Stück weiter oben vorgeschlagen habe, aber selbst dies trifft es nicht genau. Der Begriff „moralische Person“ muss verstanden werden, wie er von Gierke nicht verstanden wird, im Kontext des Gedankensystems von Pufendorf und nicht als einen bloßen künstlichen Begriff, der am Ende einer über Jahrhunderte dauernde Dialektik eingeführt worden ist. Gierke deutet das System von Pufendorf zur Klas‐ sifizierung von moralischen Einheiten im Vergleich mit natürlichen Einheiten als den Versuch, eine Grenze zwischen der Natur und gesellschaftlichen Konventionen zu ziehen. Aus dieser Sicht spiegelt der Gegensatz zwischen der natürlichen und der moralischen Person den Gegensatz zwischen Biologie und Recht wider. Meiner Meinung nach können wir eine plausible Gedankenkette für Gierkes Interpretation von Pufendorfs Absichten auf folgende Weise zusammenstellen. Hobbes zufolge können wir nur angemessen und eindeutig von Menschen reden: Menschen sind nichts weiter als sich bewegende mechanische Körper; intern gibt es keinen wirkli‐ chen Unterschied zwischen Körper und Seele, noch im breiteren Sinne zwischen Biologie und Kultur, Natur und Konvention. Wer lebt, ist belebt; wer belebt ist, hat einen inneren Motor; wer einen inneren Motor hat, will sich ständig bewegen und am Leben erhalten. So geraten die Menschen in Konflikte untereinander, prallen gegeneinander oder drohen zusammenzustoßen, und ständig konkurrieren sie mitein‐ ander in einem Wettlauf des Lebens; „einem Wettlauf, aus dem man nur durch den Tod aussteigen kann“.80 Die Lösung bestehe darin, einen neuen Mechanismus – den Staat – als Schlichtungsinstanz zu errichten, damit wir nicht mehr gegeneinander stoßen. Anfangs habe Pufendorf die Hobbessche These zwar abgewiesen, aber zum Schluss wäre er in dessen Denkweise gefangen worden. Nach der Auffassung von Gierke habe Pufendorf von den Menschen doppeldeutig und in mehreren Sinnen geschrieben, die keinen Zusammenhang miteinander haben und sich ebenso wenig entsprechen wie Apfelsine und Adamsapfel.81 Er habe das Natürliche von dem Konventionellen getrennt, wobei er diese uralte Grenzziehung durch eine neue zwischen Biologie und Recht ersetzte, und daraus ergab sich die eigentliche Kraft seiner Spaltung zwischen natürlichen und moralischen Personen. Nach Gierke machte Pufendorf denselben aber umgekehrten Fehler, wobei er das Juristische dem Menschlichen bzw. dem Organischen entgegensetzte. Für Pufendorf aber, wie wir wissen, war die wichtigste Unterscheidung diejenige zwischen dem Natürlichen und dem Moralischen, wobei letzteres weit umfassender als bloß „juris‐ 80 Dunn 2010, S. 426: „a race from which you cannot escape by any means other than death”. 81 Diese Idee entnehme ich Soskice 1985, S. 65.

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tisch“ verstanden werden soll und alles miteinschließt, was sozial aufgebaut und eingeleitet worden ist. Weiter versuchte Pufendorf letztendlich keine eigentliche Sonderung, sondern eine Analogie darzustellen: den Begriff „Person” zwar etwas gedehnt aber trotzdem noch angemessen zu verwenden – weder eindeutig noch dop‐ peldeutig und auch nicht figurativ. Auf diese Weise versuchte er, wahrhafte Ähnlich‐ keiten und Verbindungen zwischen den zwei Wesensarten zu betonen und dadurch ihre enge Beziehung hervorzurufen. Wenn aber Gierke Pufendorfs analoge These der moralischen Persönlichkeit des Staates behandelt, geht seine Kritik daneben und zeigt, dass er den Gedankengang von Pufendorf vollkommen missverstanden hat. Anscheinend verstand Gierke nicht richtig, was Pufendorf mit dem Wort „Person“ meinte, noch, was dies für seine These der moralischen Persönlichkeit des Staates bedeutet. Denn genau gesehen setzte Pufendorf die Persönlichkeit gleich mit der rationalen Freiheit. In einer durch die rationale Freiheit gelenkten Welt entsteht jede Tat der geistigen Fähigkeiten des Verstandes und des Willens, welche zu dieser Tat entsprechend beitragen: die grundliegende Rationalität der Tat wird vom Verstand aufrechterhalten und ihre Wahlfreiheit vom Willen gesichert.82 Dadurch konnte Pu‐ fendorf anhand einer sozusagen analogen Übertreibung behaupten, dass der Staat eine „Person” sei, denn in seinem Aufbau ahmte der Staat dadurch den Menschen nach, dass er sich selbst sowohl durch den Verstand als auch durch den Willen regieren ließe. In einem ordentlich aufgebauten Staat, meinte Pufendorf, wären diese Kapazitäten jeweils durch eine Deputiertenversammlung und den Fürsten vertreten. Auf diese Weise wäre es möglich, einem bösartigen oder willkürlichen Herrscher vorzubeugen, denn, genauso wie bei jedem gewöhnlichen Menschen die Ausübung des Willens durch gewisse Bedingungen eingeschränkt wird und jede Tat einer soli‐ den Rechtfertigung benötige, so müssen im Staat die gleichen Bedingungen auf den Willen des Souveräns Anwendung finden. Der Verstand ermöglicht es Menschen, die Gründe zu entscheiden und abzuwägen, von denen die letztliche Entscheidung des Willens abhängt. In einem analog zur rationalen Person konzipierten Staat müsse es ebenso bedeuten, dass der König nicht etwas wollen kann, das von der Deputier‐ tenversammlung nicht als vernünftig erachtet wird. „Es sind aber auch deßhalben in der gleichem Reiche nicht zwei öffentliche Willen, denn alles was das ganze Reich will, das will es mittelst des Willens seines Königes”, selbst wenn des Königs Wille dadurch so eingeschränkt wäre, dass er bestimmte Sachen nur unter bestimmten Bedingungen befehlen darf oder vergebens befiehlt.83 Nach Pufendorfs Ansicht sei der Staat „eine auß vielen Leuten zusammen-gesetzte Moral-Persohn, deren Wille, weil andere ihren Willen dahin vereiniget und unterworffen haben, für aller ihren Willen gehalten wird“.84 Es soll aber betont werden, dass Pufendorf von diesem Pro‐ 82 Holland 2017, S. 78-80. 83 Pufendorf 1711, VII, vi, 10. 84 Pufendorf 1711, VII, ii, 13.

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zess, in dem die sich Zusammenschließenden auf ihren Willen bei der endgültigen Entscheidung verzichteten, ihre Kapazität zum Verstehen ausschloss. Zwar hat der von Pufendorf konzipierte Staat seinen eigenen durch die Deputiertenversammlung vertretenen Verstand, aber das Verstehen der Gesellschaftsvertragspartner wird nicht an jene Person abgegeben, die zum Souverän wird. In der Kritik von Gierke an Pufendorf liegt eine beträchtliche Ironie, denn, im Unterschied zu zahlreichen Kommentatoren Pufendorfs vor dem einundzwanzigsten Jahrhundert, kam Gierke dem Verständnis am nächsten, dass die Souveränität der zusammengesetzten moralischen Persönlichkeit des Staates verfassungsmäßig um‐ schrieben ist. Von dieser Gierkes nuancierten Interpretation von Pufendorf ist im vierten Band von Das deutsche Genossenschaftsrecht wenig zu spüren. Um sie zu finden, müssen wir uns also an das Buch wenden, das Gierke schrieb, bevor er an seinem vierten Band zu arbeiten begann: die 1880 erschienene Studie des politischen Denkers Johannes Althusius. Generell gab es sowohl bei der zeitgenössischen Se‐ kundärliteratur als auch im späteren Werk von Gierke eine Tendenz, Pufendorf eine absolutistische Souveränitätslehre zuzuschreiben. In dieser Studie von Althusius aber ist Gierkes Verständnis deutlich zu erkennen, dass für Pufendorf „die höchste Gewalt keineswegs nothwendig absolut zu sein braucht, vielmehr verfassungsmäßi‐ ge Beschränkungen verträgt“.85 Wie er berichtete, sei „der Herrscher, ohne seine Souveränität einzubüßen, vertragsmäßig gebunden […], für gewisse Akte den Kon‐ sens des Volkes oder einer Deputiertenversammlung einzuholen“.86 Ebenso hätte „ein Monarch nicht die volle Freiheit […], die Volks- oder Deputiertenversammlung zu berufen, sie aufzulösen, ihr Propositionen zu machen und ihre Beschlüsse zu ver‐ werfen“.87 Und dennoch, schrieb Gierke, habe Pufendorf dadurch die Souveränität nicht geschmälert, denn: „Allein nach Pufendorfs Ausführungen bleibt das „imperium limitatum“ nur dann eine ungetheilte und unverstümmelte höchste Gewalt, wenn trotz verfassungsmässiger Gebun‐ denheit der freie Wille des Herrschers in letzter Instanz ausschließlich den Staatswillen darstellt, so dass der Staat lediglich durch den Herrscher will und handelt [„omnia quae vult civitas vult per voluntatem Regis“] und nur in bestimmten Beziehungen die Wirksamkeit seines Wollens und Handelns durch gewisse Voraussetzungen [„conditio sine qua non“] bedingt ist.“88

Mit anderen Worten verstand Gierke ganz genau, dass es für Pufendorf kein Paradox bei der Idee einer eingeschränkten und zugleich höchsten Majestät gab: wenn nur eine Person die endgültige Entscheidung treffen konnte, dann bestand Souveränität.

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Gierke 1880, S. 183. Ebd. Gierke 1880, S. 184. Gierke 1880, S. 183–4.

Trotzdem behauptete Gierke aber, dass Pufendorfs Souveränitätslehre Hobbes zu viel schuldete, um das Handeln des Souveräns tatsächlich verfassungsmäßig einzu‐ schränken. Seiner Meinung nach nahm Pufendorf diese „gewissen Voraussetzungen“ nie richtig ernst. Denn laut Pufendorf sei „[j]ede wirkliche Theilung der Gewalten unter mehrere Personen oder Versammlungen […] dem Wesen des Staats zuwider, da die Majestät gleich der Seele einheitlich und ungetheilt (‚unum et indivisum‘) ist und Theile in ihr nur in demselben Sinne wie Seelenvermögen in der Seele unter‐ schieden werden“.89 Wir haben schon feststellen können, dass Gierke aus der Ge‐ schichte der politischen Theorie seit dem Mittelalter eine enge Verbindung zwischen Willen und Majestät erkannt hat. Da Pufendorf so ausdrücklich versuchte, den Wil‐ len des Staates zusammen mit dem Willen des Souveräns zu verbinden, scheint Gierke auch geglaubt zu haben, dass Pufendorf seine Meinung teile. Demzufolge wäre die Majestät durch die von Pufendorf genannten gewissen Voraussetzungen ei‐ gentlich nicht eingeschränkt, denn der Wille des Souveräns war der einzige, der zählte. In Gierkes Augen also „[errang] Pufendorfs dem aufgeklärten und gemäßig‐ ten Absolutismus gewissermaßen auf den Leib zugeschnittene Souveränitätslehre […] einem gewaltigen Erfolg“.90 Leider gelang es Gierke nicht, die grundliegende Konzeption zu Pufendorfs Ana‐ logie richtig zu verstehen, denn laut dieser galten jene „gewissen Voraussetzungen“ für die Ausübung des souveränen Willens nur bei solchem Handeln, wie bei seiner Theorie des freien menschlichen Willens und Handelns postuliert: diese Vorausset‐ zungen galten nur dann, wenn die Vernunft den Willen mit einem guten Grund zum Handeln versorgte. Wie die Fähigkeiten in der Seele unterschieden werden, so wird die Souveränität nach Pufendorf durch die Vernunft und den Willen gemeinsam ausgeübt. Das oben zitierte „nur in demselben Sinne“ von Gierke zeigt sowohl sein scharfsinniges Verständnis von Pufendorfs Staatstheorie als auch seine Unfähigkeit, die analoge Struktur von Pufendorfs These der natürlichen und moralischen Persön‐ lichkeit ernst zu nehmen. Denn das Konzept der zusammengesetzten moralischen Person des Staates bedeutet bei Pufendorf eine Teilung der Gewalten unter den Herr‐ scher und eine Deputiertenversammlung. Die Pflicht Letzteren besteht darin, das Handeln des Souveräns zu zügeln, indem sie es an den lokal operierenden Normen der Rationalität misst. So hatte Pufendorf tatsächlich eine teilweise „organische“ Staatsauffassung erschaffen, und zwar eine, die viel weniger an Hobbes schuldete als Gierke glaubte.

89 Gierke 1880, S. 184. 90 Ebd.

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4. Zusammenfassung Trotz ihrer Schwachstellen hat Gierkes Deutung von Pufendorfs Staatstheorie die nachfolgenden Debatten darüber stark beeinflusst. Seine irreführende Gleichsetzung der moralischen mit der juristischen Person wurde nicht nur (etwa) vom bedeutends‐ ten deutschen Historiker des öffentlichen Rechts wiederholt, sondern zeigt sich auch in wichtigen Werken über die internationale Ethik.91 Der weltweit führende Histori‐ ker der modernen Staatstheorie hat die Auffassung von Gierke wiederholt und ist sogar noch einen Schritt weiter gegangen, indem er den von Pufendorf erdachten Staat dem Staat von Hobbes gleichsetzt.92 In der Tat ist die Ansicht sehr verbreitet, dass Pufendorf bloß ein „Schüler von Hobbes“ sei,93 der eine „schön Hobbessche Souveränitätslehre nach dem Geschmack der kontinentalen Europäer“ zubereitet habe,94 obgleich er öffentlich immer versucht hat, sich von Hobbes zu distanzieren. Zum Teil muss Gierkes enorm einflussreiche Geschichte der Staats- und Korporati‐ onslehre einige Verantwortung dafür tragen, denn 1993 empfahl man sie als die wichtigste zuverlässige Sekundärquelle für die Geschichte des Konstitutionalismus und erst kürzlich 2020 als Bücher, die die größte Rolle bei der Erforschung der Geschichte der Staats- und Körperschaftspolitik gespielt haben.95 In diesem Beitrag habe ich Gierkes Exegese von Pufendorf zusammengefasst und die Konturen davon gezeichnet, wie diese Analyse zu seinen eher politischen Zwe‐ cken passte. Ich habe auch versucht zu zeigen, wo die Wurzeln von Gierkes Irrtum zu suchen sind. Denn für mich liegt der Kern des Problems darin, dass Gierke nie richtig die eigentliche Substanz der von Pufendorf entworfenen analogen Methode zu verstehen vermag. Diese Vergleichsmethode bot eine Alternative an, sowohl auf der einen Seite zur Verschmelzung von Natur und Kultur (à la Hobbes), als auch auf der anderen Seite zu den endlosen Streiten im Laufe der Geschichte der politischen Theorie im Westen, Natur und Kultur zu spalten. Das Genie von Pufendorf lag darin, die moralischen Personen des Staates und der gesellschaftlichen Körperschaften so darzustellen, dass der Leser keinen Schock bei der Lektüre erfährt. Mit einem passenden Vergleich ist es möglich, Ideen aus einem komplexen Zusammenhang zu nehmen und in einen anderen einzuführen, ohne dass sie dabei unangemessen erscheinen, zu viel geistigen Druck ausüben, noch eines latenten Modells bedürfen. John Dunn, den ich schon zitiert habe, schrieb vor einem halben Jahrhundert, dass „ein Historiker immer vor dem Problem steht, dass seine eigene Erfahrung 91 Stolleis 1992, S. 359–63. 92 Skinner 2002, S. 407; Skinner 2009, S. 351. Seit der Veröffentlichung früherer Forschungen des Autors hat Skinner diese Ansicht revidiert. Siehe z.B. Skinner 2018, S. 365–68. 93 Palladini 2019. 94 James 2006, S. 119: „a neatly Hobbesian theory of sovereignty for continental European con‐ sumption”. 95 Tuck 1993, S. xii; Burns 2020, ix–x.

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auch drastisch den Kontext der Äußerung [des Textes] einschränkt; meistens ist er allzu bereitwillig, eine Tatsache über die Vergangenheit in eine Tatsache über die intellektuelle Biographie des Historikers umzuwandeln“.96 Natürlich ist Gier‐ kes Geschichte des sozialen, juristischen und politischen Denkens ein Beleg der enormen Talente und Anstrengungen ihres Autors. Nichtsdestotrotz darf man nicht annehmen, dass sie politisch unbefangen, schuldlos oder harmlos sei. Sie stellt eine Studie der Zersplitterung einer authentischen politischen Tradition dar, bei deren Wiederherstellung Gierke eine Rolle zu spielen hoffte. Diese Tradition entstammt einer zusammengesponnenen Synthese aus eigenständigen Einheiten und Mehrhei‐ ten, die einzeln nicht dazu fähig waren, die traditionelle Einheit in der Vielheit – das Markenzeichen des Germanischen – aufrechtzuerhalten. Die Ironie liegt darin, dass Gierke nicht verstand, wie Pufendorfs Vergleichsmethode eine Art Synthese bildete und damit eine dritte Alternative zur ein- und mehrdeutigen Anwendung von Konzepten anbot. Sie ermöglichte es Pufendorf, eine ganz besondere Auslegung des Staates zu entwickeln, der sich Gierke eigentlich nicht so eigensinnig hätte widersetzen sollen.

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96 Dunn 1968, S. 98: „the problem of the historian is always that his experience also drastically closes the context of utterance [of the text]; indeed all too readily turns a fact about the past into a fact about the intellectual biography of the historian“; Hervorhebung im Original.

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Martin Espenhorst „Der absolute Staat und die absolute Individualität werden die Devisen der Zeit.“ Die Begriffe „Absolutismus“ und „Aufklärung“ im Werk Otto v. Gierkes (1841–1921)

1. Einleitung und Fragestellung Zwischen den Jahren 1868 und 1913 erschienen die vier Bände „Das deutsche Genossenschaftsrecht“ aus der Feder des Juristen Otto (v.) Gierke. Hierin analysierte der Jurist und Rechtshistoriker in einem detaillierten und umfangreichen Entwurf die Rechts- und Ideengeschichte von Genossenschaften.1 Gierkes – unvollendetes – Werk, das innerhalb eines Zeitraums von 45 Jahren veröffentlicht wurde und knapp 3.500 Seiten umfasste, behandelte jedoch nicht nur Genossenschaften als Rechts‐ form, sondern bezog Stellung zu damaligen zentralen europaweiten Diskursen, vor allem zu Differenzen, wie Gemeinschaft/Individuum, Nationalstaat/Weltbürgertum, Herrscher-/Volkssouveränität, Herrschafts-/Gesellschaftsvertrag, Vernunft/Geschich‐ te, Vertrag/Organ, öffentliches/privates Recht, Naturrecht/Theokratie oder auch Un‐ tertan/Bürger. Diese Diskurse der politischen Theorie waren eingebunden in die historische Entwicklung der Zeit und betrafen die „deutsche Frage“ im Rahmen der Reichsgrün‐ dung von 1872 und ihrer Vorgeschichte sowie die „soziale Frage“ im Zuge der „industriellen Revolution“. Gerade das Genossenschaftswesen schien vielen als ein „dritter“ Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus bzw. Konservativismus und Sozialismus.2 Gierke richtete seinen Fokus dabei auf die soziale und rechtliche Verbindung von Individuen untereinander sowie ihrer Mitgliedschaft in öffentlichen und priva‐ ten Rechtsformen, also Assoziationen, wie Staaten, Gemeinden, Genossenschaften, Zünften und Vereinen.3 Dabei ist sein Werk durchgehend ein Plädoyer für einen gut organisierten Bundesstaat, eines föderalistisch strukturierten Gemeinwesens, das sich über einzelne Staaten wölbt, sowie zudem für das Recht, auf den verschiedens‐ ten Ebenen – Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur – Assoziationen zu bilden. 1 Bieback 1976, S. 433–446. 2 Brockmeier/Peters 2007, S. 219–312. 3 Grundlegend: Janssen 1972; Ders. 2005, S. 352–366; Ders., 2016, besonders S. 25–96.

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Besonders dem Absolutismus sowie aber auch dem Naturrechtsdenken der Auf‐ klärung kam in Gierkes Werk eine besondere Bedeutung zu. Die philosophischen Systeme der Frühen Neuzeit – Anstaltstheorien, Vertragstheorien – förderten Gier‐ kes Ansicht nach entweder den „Staatsabsolutismus“ oder die „Emanzipation des Individuums“. Selbständige Sondergesellschaften im Staat, unabhängige Gemeinden sowie Genossenschaften und freie Assoziationsrechte seien ignoriert worden. Es war mit Nachdruck Gierke, der, wie Dietrich Hilger herausarbeitete, dank seiner doppelten Orientierung an herrschaftlichen und genossenschaftlichen Struktu‐ ren vor jeder etatistischen Verengung des verfassungsgeschichtlichen Blickfeldes bewahrt und seine Aufmerksamkeit auch auf ,Erscheinungen des Nicht-absolutisti‐ schen im Absolutismus‘, auf die noch lange sich haltenden Residuen ,örtlicher Sou‐ veränität‘ (Gerhard Oestreich) gelenkt habe.4 Im Jahr 1995 sprach Peter Blickle sogar die Hoffnung aus, dass die „Assozia‐ tion Gierkes zu einem heuristisch nützlichen Konzept werden, die Vergangenheit auf neue Weise umfassender zu erschließen, die Herkunft der Gegenwart präziser zu beschreiben und die Zukunft optimistischer zu entwerfen“.5 Gierkes Konzept eines dialektischen Prozesses von Herrschaft und Genossenschaft schien Blickle als eine Referenz in Zeiten von „Ego-Gesellschaft“ auf der einen und dem „Bedürfnis nach wertorientierten Gemeinschaftsformen“ auf der anderen Seite besonders gut geeignet.6 Dieses Plädoyer des renommierten Schweizer Historikers im politischen Kontext der deutschen Wiedervereinigung ging so weit, dass sich Blickle in Genos‐ senschaften einen Referenzpunkt für die deutsche Geschichtswissenschaft vorstellen konnte. Denn nach Gierke böten diese einzig und allein die Möglichkeit, Staatsein‐ heit, bürgerliche Freiheit mit Selbstverwaltung zu vereinen.7 Zentrale Bedeutung kommt in Gierkes Genossenschaftstheorie dem Begriff der Verbandsperson zu,8 bei dem es sich für ihn keineswegs nur um die Summe der Individuen beziehungsweise Mitglieder handelte, wie er es in naturrechtlich gepräg‐ ten Vorstellungen formuliert sah. Vielmehr entwickeln Verbände seiner Ansicht nach einen eigenständigen Gesamtwillen, dem sich die Mitglieder unterwerfen. Nicht etwa ein Gewebe von Verträgen ordnen dabei die Beziehungen zwischen den Mit‐ gliedern und zwischen diesen und der Gesamtheit, sondern ein verfassungsmäßiges Statut. Der Publizist Kurt Tucholsky allerdings war – ganz anders als Blickle – mit Gier‐ kes Entwurf nicht einverstanden und kritisierte 1919, zu Lebzeiten Gierkes, dessen Begriff der Kollektivität in seiner Rezension zu Heinrich Manns „Der Untertan“ wie folgt: „Was der Jurist Otto Gierke einst die reale Verbandspersönlichkeit benannte, 4 5 6 7 8

Hilger 1982, S. 86–94. Blickle 1995, S. 245–263. Ebd. S. 263. Ebd. S. 262. Weiterführend: Schmidt 1987.

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diese Erscheinung, dass ein Verein nicht die Summe seiner Mitglieder ist, sondern mehr, sondern etwas andres, über ihnen Schwebendes: das ist hier in nuce aufgemalt und dargetan. Neuteutonen und Soldaten und Juristen und schließlich Deutsche – es sind alles Kollektivitäten, die den einzelnen von jeder Verantwortung frei machen, und denen anzugehören Ruhm und Ehre einbringt, Achtung erheischt und kein Ver‐ dienst beansprucht.“9

2. Absolutismus und Aufklärung im Werk Otto Gierkes 2.1. Gierke unterschied in seinem „Genossenschaftsrecht“ fünf historische Epochen: 1. bis 800, 2. 800 – 1200, 3. 1200 – 1525 und 5. seit 1806. Die vierte Epoche umfasste bei ihm den Zeitraum 1525 bis 1806, den er in seinem letzten Band „Die Staats- und Korporationslehre der Neuzeit“ behandelte, der 1913, ein Jahr vor Be‐ ginn des Ersten Weltkriegs, veröffentlicht wurde. Dieser Zeitraum wurde in älteren wissenschaftlichen Darstellungen unbestritten als „Zeitalter des Absolutismus“ cha‐ rakterisiert, ein Terminus, der heutzutage vornehmlich nur noch im Schulunterricht Verwendung findet.10 Gierke filterte für diese Zeit des 16. bis frühen 19. Jahrhunderts sechs historische Abschnitte der Entwicklung der Herrschaftsidee und der staatlichen Obrigkeit he‐ raus. Die Begrifflichkeit Gierkes wird dabei bewusst beibehalten: 1. Aufkommen der Idee einer „staatlichen Obrigkeit“, 2. Entfaltung des „obrigkeitlichen Staates“ von der Reformation bis zum 30-jährigen Krieg, 3. Ausbau zu einem „polizeilichen Bevormundungssystem“ vom Westfälischen Frieden 1648 bis ins 18. Jahrhundert, 4. Vollendung des „Staatsabsolutismus“ einschließlich der Schaffung einer „Staatsein‐ heit“ sowie Entstehung des „aufgeklärten Despotismus“ (ca. 1750 – um 1800), 5. Sieg der „absoluten Staatsidee“ und des „Individualismus“ durch die Französische Revolution, 6. Durchsetzung der „absoluten Staatsidee“ in der Verwaltung und bis hin zu lokalen Ebenen sowie Aufhebung etwaiger bis dahin noch existenter Schran‐ ken zwischen „Staat“ und „Individuum“.11 Nach Gierke setzte sich in der vierten Epoche (1525 – 1806) die Landeshoheit auf der Basis des römischen Rechts endgültig durch. Dies hatte weitreichenden Folgen für die Genossenschaften. Das Genossenschaftswesen wurde nun, so Gierke, zu einem staatlich privilegierten, privatrechtlichen Korporationswesen ohne Teilnahme am öffentlichen Recht. Die Korporationen verloren, so heißt es weiter, an Freiheit und Selbstverwaltung sowie ihren vormaligen Status als Glieder der Allgemeinheit. Für Gierke enthielt damit der absolute Staat – sei es als „Polizeistaat“ oder als 9 Tucholsky 1919, S. 320. 10 Asch/Duchhardt 1996. 11 Gierke 1868, S. 650–652.

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„Bevormundungsstaat“ – gegenüber dem Genossenschaftswesen eine gegnerische Tendenz. Wie definierte Gierke Absolutismus, Aufklärung und aufgeklärten Absolutismus? Die Formel des Absolutismus wird – so hat es Otto Gierke einmal festgestellt – in dem Satz wiedergegeben: „princeps legibus solutus est“, in der die Vereinigung von Gesetzgebung und Exekutive in einer Hand sowie der Übergang der Gemeinderech‐ te auf den Monarchen festgeschrieben sei.12 In seiner 1909 gehaltenen Rede über die Stein’sche Städteordnung von 1808 blickte Gierke zurück auf Absolutismus, aufgeklärten Absolutismus und skizzierte die Geschichte der Stadt während dieser Epochen. Den Ausgangspunkt der Entwicklung sah Gierke hier in der mittelalterlichen Stadt, in der sich zuerst die „altgermanische Genossenschaft“ zur Körperschaft verdichtet habe und die herrschaftliche Ordnung des Feudalstaates zu zersetzen vermochte.13 Doch mit dem Aufstieg der Landeshoheit und des Territorialstaates in Form des „anstaltlichen Obrigkeitsstaates“ habe die Stadt an Staatlichem abgeben müssen. Die Landstände, so Gierke, büßten nach und nach ihre Kraft zu „gemein‐ heitlicher Mitdarstellung“ des werdenden Staates ein. Die Staatswerdung erfolgte seiner Ansicht nach über den Landesherrn, die Beamten und das Territorium und zwar ohne die Landstände, so dass die absolute Monarchie entstand. Gierke schreibt: „Der Staat erscheint nunmehr als eine von oben und außen in das Volk hineingebau‐ te Anstalt. Sie ist zum Wohle des Volkes bestimmt, aber sie entstammt nicht dem Volke“.14 Und weiter: „Die Persönlichkeit des Staates geht nach der vergeistigten Auffassung des aufgeklärten deutschen Absolutismus nicht in der Persönlichkeit des Herrschers auf, wird aber vom Herrscher voll repräsentiert.“15 Diese Staatsper‐ sönlichkeit, kritisierte Gierke, sei der verbundenen Gesamtheit transzendent, nicht immanent. Es gebe daher nur Untertanen, aber keine Bürger. Die kulturhistorische Folge war nach Gierke, dass das Stadtregiment in eine Olig‐ archie entartete, die Ratsverfassung und auch die Verfassung der einzelnen Gilden und Zünfte verknöcherte, Heimlichkeit anstatt Öffentlichkeit – also Transparenz – betrieben wurde und der obrigkeitliche Staat für sich das Monopol der Verbandsge‐ walt in Anspruch nahm. Ferner registrierte Gierke, dass im Absolutismus und im aufgeklärten Absolutismus die staatliche Macht aller engeren Verbände abgebaut wurde, Bürgerversammlungen wegfielen, an deren Stelle nur Bürgervertretungen ge‐ bildet wurden, sowie spießbürgerliche Gesinnung, Privilegiensucht und engherziger Zunftgeist vorherrschte und vieles mehr.

12 13 14 15

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Gierke 1881, S. 52. Gierke 1909, S. 12. Ebd., S. 15. Ebd., S. 15/16.

Zwar legte Gierke dem Absolutismus einen spezifischen historischen Sinn im Rahmen seiner Geschichte des Genossenschaftsrechts bei, letztlich ließ er aber auch keine Zweifel daran, dass der Absolutismus im Widerspruch zum „germanischen Rechtsstaat“ stehe. In seinem 1919 gehaltenen Vortrag über den „germanischen Staatsgedanken“, der stark unter dem Eindruck der Niederlage Deutschlands im 1. Weltkrieg stand, erläutert er: „Mit dem Satz ,Princeps legibus solutus‘ untergrub man die Fundamente des germanischen Rechtsstaates.“16 Stattdessen entwickelte sich, so Gierke, die „polizeiliche Allgewalt des reinen Obrigkeitsstaates“ und zu‐ gleich eine „Anstalt des öffentlichen Wohls“. Aus dem „Wohlfahrtsstaat“ wurde nach Gierke ein „Bevormundungsstaat“. Einen ähnlichen Strukturwandel, wie er für die Stadt skizzierte, zeichnete Gierke auch für die ländliche Gemeinde. Während des Absolutismus wurde, so Gierke, die bis dahin bestehende Markgenossenschaft zerstört und in eine rein agrarische Genossenschaft transformiert. Sie wurde, stellte er fest, entweder Alleineigentum eines Herren oder Sondereigentum der Genossen. Auch die Landgemeinde sei auf eine rein politische Gemeinde reduziert worden. Mehr und mehr, so Gierke, verschwanden während des Absolutismus genossenschaftliches Eigentum und ge‐ nossenschaftliche Gesamtrechte. Auch die Vorsteher der Gemeinden wurden nach Gierke in Abhängigkeit zur Obrigkeit gebracht, so dass die Quelle des nun entstan‐ denen obrigkeitlichen Amtes nicht mehr die Vollmacht der Gemeinde, sondern die Instruktion der Landesobrigkeit wurde. Die Amtsführung geschah, so Gierke, im Namen einer höheren Gewalt und nicht mehr im Namen der Gemeinde. Gierke sah dadurch neue Verantwortlichkeiten, Rechenschaftspflichten entstehen, und sogar die Gerichte hätten nun den Landesherren unterstanden. Anstatt der Genossen als Laien seien gelehrte Richter eingesetzt worden, wie Gierke kritisierte. Insgesamt zeichnete Gierke für die Zeit des Absolutismus ein Bild der Auflösung und Beschränkung der Gemeindeautonomie in Politik, Wirtschaft und Recht mit realen Folgen, wie z.B. der Aufhebung der Feldgemeinschaft, der Teilung der Allmenden und der Auflösung des Gesamteigentums. Namenlose Sachen, so Gierke, gehörten fortan dem Fiskus, und die Marken wurden als Grundeigentum des Landesherren deklariert. Obwohl Absolutismus – ebenso wie die Aufklärung – dem Genossenschaftswe‐ sen nach Gierke zutiefst fremd seien, schätzte er die Leistungen des absoluten Staates als „eine der größten Thaten in der Geschichte“. Diese Leistungen des Abso‐ lutismus entdeckte er in der Auflösung der Lehnsabhängigkeit und der Schaffung neuer Rechtsverhältnisse unter der Devise der Gleichheit vor dem Recht. Gierke schreibt: „Die Befreiung des Bauernstandes am Ende des vorigen und im Anfang dieses Jahrhunderts stellte, indem sie das Unrecht von Jahrhunderten sühnte, zum ersten Male Staaten her, in denen es nur Freie gab. Mit der allgemeinen Freiheit

16 Gierke 1919, S. 18.

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aber gieng die rechtliche Gleichheit Aller Hand in Hand. Denn die Gleichheit der Unterthanen im Staat und vor dem Gesetz war das wohltäthige Resultat, welches aus der Zerschlagung der auf der ständischen Gliederung beruhenden Korporationen und Herrenverbände des Mittelalters und aus der damit verbundenen endlichen Nivellirung der Stände überhaupt folgte.“17 Einen besonderen Platz erhielt Gierke auf Grund dieser positiven Aspekte in der begriffsgeschichtlichen Untersuchung zum Absolutismus Reinhard Blänkners aus dem Jahr 1990.18 Gierke sei es gelungen, heißt es hier, dass die „Germanistik“19 – eine wissenschaftliche Gruppierung, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wirkte und die sich dem einheimischen, germanisch-deutschen „Volksrecht“ im Gegensatz zum römischen „Juristenrecht“ widmete – ihren Anschluss an die positive Bewer‐ tung des Absolutismus gefunden habe.20 Die Germanistik war neben dem „Borus‐ sianismus“, bei der es sich um eine schon im Vormärz gebildete, kleindeutsche Gruppierung handelte,21 die auf Preußen als Führungsmacht setzte, eine wichtige Säule des klassischen Liberalismus und stach besonders durch ihre Kritik an der Rezeption des römischen Rechts hervor. Zu ihren Vertretern gehörten u.a. Gierkes Lehrer Georg Beseler (1809 – 1888), ferner der Jurist und Politiker Georg Ludwig von Maurer (1790 – 1872) und der Historiker Karl Hagen (1810 – 1868), die sich auch speziell zum damals noch jungen Absolutismus-Begriff äußerten.22 Gierke habe, so Blänkner weiter, die starre Konfrontation von „germanischer“ Freiheit und Vernichtung derselben durch den Absolutismus durch die historisch-dialektische Verbindung des Genossenschafts- mit dem Herrschaftsgedanken überwunden. Diese Aussöhnung des Germanismus mit dem historischen Absolutismus habe – in Ver‐ bindung mit den späteren wirtschaftshistorischen Forschungen Gustav Schmollers (1838 – 1917) – eine wichtige Voraussetzung für die zu Beginn des 20. Jahrhunderts unternommene verfassungsgeschichtliche Bearbeitung des Absolutismus und der Neuzeit (z.B. durch Otto Hintze und Fritz Hartung) geschaffen.23 Was aber genau wies im Absolutismus auf die von Gierke favorisierte „germani‐ sche Staats- und Rechtsidee“? Für Gierke schien die absolute Monarchie Preußens der einzige Weg gewesen zu sein, dem Staat eine „deutsche Gedankenwelt“ einzu‐ flößen und Herrschaft neu zu begreifen. Gierke schreibt: „Deutsch [am Hohenzol‐ lernstaat] war die Energie, mit der die germanische Vorstellung, daß jede Herrschaft in erster Linie Pflicht sei, in diesem Staate wirksam wurde.“24 Die Devise Friedrich Gierke 1869, S. 645. Blänkner 1990. Grundlegend: Dilcher 2017. Blänkner 1990, S. 175. Zum Borussianismus siehe: Blänkner 1990, S. 151–163. Beseler 1836; Karl Hagen 1843, S. 195 – 203; Maurer 1869–1871. Blänkner 1990, S. 164 – 165. 23 Ebd., S. 175. 24 Ebd., S. 19.

17 18 19 20 21 22

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II. von Preußen, dass er der erste Diener des Staates sei, war für Gierke daher das Signum dieser „deutschen Gedankenwelt“. Auch wenn der preußische Staat des aufgeklärten Absolutismus nach Gierke ein Polizeistaat, Wohlfahrtsstaat und Erziehungsstaat war, blieb er für ihn im „germanischen Sinn“ ein Rechtsstaat, der die Unabhängigkeit der Gerichte anerkannte. Und weiter: „Die Selbstverwaltung, die Autonomie der Gemeinden und Genossenschaften, die kirchlichen Hoheitsrechte be‐ schnitt er. Aber der eiserne Reifen, den er um die Zwischenverbände legte, erstickte nicht deren eigenes Leben, behütete es vielmehr in verborgener Stille, aus der es, als die Zeit gekommen war, in germanischer Kraftfülle wieder hervorbrechen konnte.“25 Und dennoch: Nach Gierke war es nicht der Hohenzollernstaat, also Branden‐ burg-Preußen, und auch nicht der ihn kennzeichnende aufgeklärte Absolutismus, der die föderal bzw. „genossenschaftlich“ strukturierte deutsche Nation von 1871/72 vorbereitete. Statt dessen konstruierte Gierke sogar eine historische Verbindung zwischen dem Absolutismus der Frühen Neuzeit und dem Kommunismus des 19. Jahrhunderts. Er schreibt: „Gehen die einen auf einen angeblichen Naturzustand hinaus, in dem der Staat in den Individuen aufgehen soll, so predigen die Utopien in steigender Progression den Staatsabsolutismus, bis endlich in den kommunistischen Idealen nicht nur die politische, sondern auch die privatrechtliche Persönlichkeit aller Individuen zu Gunsten des Einen allsorgenden Staats vernichtet wird.“26 2.2. Was verstand Gierke unter Aufklärung? Aufklärung – ein Fachterminus, den Gierke nur selten verwendete – umfasste bei ihm die Emanzipation der Individuen, die Nivellierung der Stände und die Gleichheit Aller vor dem Gesetz. Sie wurde sei‐ ner Ansicht nach geprägt vom Naturrecht als, wie Gierke mit kritischer Distanz defi‐ nierte, „allein wahres Recht, ein unmittelbar aus der Vernunft zu entnehmendes, in Ewigkeit unwandelbares und überall sich selbst gleiches Menschenrecht“.27 Seinen Höhepunkt hatte das Naturrecht für Gierke im 17. und 18. Jahrhundert, als es fast alle Zweige der Jurisprudenz dominierte: vor allem öffentliches Recht, Staatsrecht, Kirchenrecht, Strafrecht und Völkerrecht, und weiter: „Sie bemächtigte sich der bedeutendsten Fürsten und ihrer Rathgeber und setzte in der Reformgesetzgebung des sog. aufgeklärten Absolutismus eine Reihe ihrer Postulate durch.“28 Der Grundirrtum des Naturrechts sei es gewesen, urteilte er, aus dem Wesen des Menschen als eines abstrakt und für sich vorgestellten Individuums ein für alle Zeiten und Völker gültiges Vernunftrecht zu entwickeln. Nicht nur der „absolute Staat“, sondern auch die „absolute Individualität“ zielte nach Gierke auf die Ver‐ flüchtigung aller Gemeinden und Genossenschaften, so dass ausschließlich Staat und 25 26 27 28

Ebd., S. 20. Gierke 1869, S. 649. Gierke 1883, S. 12. Ebd., S. 22–23.

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Individuum existieren sollten und individuelle Freiheit sowie rechtliche Gleichheit der Untertanen herbeigeführt würden.29 Anders als in Deutschland sei in Frankreich dieser Zustand durch die Revolution von 1789 weitestgehend realisieren worden. Doch sei das Naturrecht, wie Gierke konstatierte, in seiner eigenen Zeit inzwi‐ schen widerlegt und überwunden worden: „Der Traum des gleichförmigen Welt‐ rechts flösst heute kaum mehr Vertrauen ein, als die Bemühungen um die Erfindung einer Universalsprache; der Glaube an die Fähigkeit des Verstandes, das schlechthin und ausschließlich vernünftige Recht zu konstruiren, scheint heute kaum minder absurd als die Meinung, die Phantasie könne die endgültiger Verkörperung der Schönheit in einem absoluten und einzigen Kunstwerk ersinnen; […].“30 Neben dem absoluten Staat als Akteur gesellschaftlicher Transformation würdigte Gierke auch die Aufklärung im Alten Reich. Für ihn war das Naturrecht der Auf‐ klärung rückblickend ein „geschichtliches Produkt“ mit einer spezifischen rechtshis‐ torischen Aufgabe, indem es das „fremde“ römische Recht an die Gegebenheiten in Deutschland anpasste – er spricht von „Nationalisierung“ – und einheimische Rechtsideen wiederentdeckte (bzw. „wiedererweckte“). Denn die Naturrechtsideen – jedenfalls die deutschen, wie die von Christian Thomasius (1655 – 1728), Justus Henning Boehmer (1674 – 1749) und Christian Wolff (1679 – 1754) – brachten nach Gierke teils unbewusst teils bewusst einheimische deutsche Rechtsideen zur Geltung oder unterstützten die aufstrebende „germanistische Rechtsschule“. Dank der Naturrechtstheorie sei das öffentliche Recht neben dem privaten Recht ein einheitliches geblieben. Zudem habe die deutsche Naturrechtstradition das Recht der freien „Association“ unter die unveräußerlichen Freiheitsrechte des Individuums aufgenommen. Insofern sieht Gierke bei aller grundlegenden Kritik am Naturrecht der Aufklärung auch etwas Versöhnliches, wenn er schreibt: „Uralte Bande hat er gesprengt, befreiende Reformen und grundstürzende Revolutionen hat er gezeugt, tausendjährige Rechtsgebilde hat er wie Spreu vom Boden gefegt, nie zuvor erhörte Neubildungen hat er ins Dasein gerufen“.31 Dem Naturrecht gelangen, so drückte es Gierke aus, „befreiende Thaten“, die noch bis in seine Gegenwart – teilweise unerkannt – hineinwirkten. Wenn Blänkner Gierkes Leistung als eine Versöhnung zwischen Germanistik und Absolutismus charakterisiert, so gilt dies auch für die Aufklärung. Deutlich wird dies u.a. in seiner Würdigung Samuel von Pufendorfs, auf die unten noch einzugehen sein wird, als eines der ersten Vertreter des aufgeklärten Absolutismus.32 Doch hat sich, wie noch zu zeigen sein wird, der moderne, liberale, genossen‐ schaftliche Staat bei Gierke weder aus der Aufklärung noch dem aufgeklärten 29 30 31 32

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Gierke 1869, S. 645. Gierke 1883, S. 13. Gierke 1883, S. 32. Gierke 1886, S. 91–96, S. 92.

Absolutismus in gerader Linie entwickelt. Die Auflösung der ständischen Freiheit durch Absolutismus und Aufklärung sah Gierke aber durchaus als Voraussetzung für die Etablierung einer neuen bürgerlichen Freiheit, die er als Signum seiner eigenen Zeit fasste. Weder aus den Landständen noch aus der Landeshoheit oder aus einer Kombination beider Strukturen sah Gierke den modernen – deutschen – Staat er‐ wachsen, sondern aus deren Überwindung und somit Neubildung eines allgemeinen „Staatsbürgertums“. Deutlich unterschied er „Bürger“ von „Untertan“: „In dem Be‐ griffe des Bürgers findet sich politisches Recht und politische Pflicht, Herrschen und Gehorchen, aktive und passive Betheiligung am Gemeinwesen vereinigt: der Un‐ terthan [dagegen] ist Subjekt nur im Privatrecht, im öffentlichen Recht lediglich Ob‐ jekt […].“33 Während das Gemeinwesen, so Gierke, die Teilnahme der Bürger an Verwaltung, Rechtspflege und Gesetzgebung fordere und zu den Prinzipien der Wahl, der Kollegialität und der Majorität neige, würden dagegen Untertanen von der Obrigkeit vom öffentlichen Leben ferngehalten. Stattdessen würden ernannte ein‐ heitliche Organe in einer zentral strukturierten Administration begünstigt.34

3. Gierkes Deutung frühneuzeitlicher Autoren: Grundlagen Gierke entwickelte sein Konzept vom Absolutismus und der Aufklärung aus einem reichhaltigen Studium der frühneuzeitlichen Literatur. Er unterschied prinzipiell drei verschiedene theoretische Programme für die Zeit des Absolutismus und wies ihnen jeweils spezifische Referenzwerke zu: erstens, die Theorie der Volkssouveränität, repräsentiert durch Althusius, zweitens, die Theorie der Herrscherpersönlichkeit, die von Thomas Hobbes (1588 – 1679) vertreten wurde, und, drittens, die vermittelnde Theorie der „doppelten Majestät“, der Gierke Christoph Besold (1577 – 1638) zuordnete. Als dieser Theorie verwandt, bezeichnete er auch die Systeme des Völ‐ kerrechtlers Hugo Grotius (1583 – 1645), mit dem er sich in Zusammenhang mit sei‐ ner Althusius-Studie sowie seinem Werk zum „Genossenschaftsrecht“ ausführlicher beschäftigte. Schließlich sei noch die Theorie der „beschränkten Herrschersouverä‐ nität“ erwähnt, der Gierke Francisco Suárez (1548 – 1617) zuwies. Knapp 80 Autoren wertete Gierke aus.35 Seine Einschätzungen dieser Werke begründete er mit den Positionen der Autoren zum Natur- und Vertragsrecht und zu ihrer Stellung zum Individuum und zur Gemeinschaft. Intensiver befasste er sich im 4. Band seines „Genossenschaftsrechts“ mit Johannes Althusius (1563 – 1638) und Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778).36 In Althusius sah Gierke einen 33 34 35 36

Gierke 1869, S. 643. Ebd. Gierke 1913, S. 372–378. Weitere frühneuzeitliche „Aufklärer“, Philosophen, Juristen, Staatsrechtler, Politiker und Theo‐ logen, mit denen Gierke sich beschäftigte, sind, Henning Arnisäus (1575 – 1636), Christoph

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frühneuzeitlichen Gelehrten, der das Prinzip der Assoziationsfreiheit aufrechterhal‐ ten habe. Althusius ordnete Gierke die Rolle eines Gegenpols zum Absolutismus zu. Damit, so Gierke, habe er – Althusius – die damals herrschende Lehre über das Verhältnis von Korporation und Staat umgekehrt. Und weiter: „Hier tritt mit einem Schlage dem siegreich vorschreitenden staatsabsolutistischen Gedanken sein radikales Widerspiel entgegen: jeder Verband empfängt von sich aus Leben, Macht und Recht […]“.37 Jede Vereinigung bis hin zum Staat erwachse bei Althusius, so Gierke, aus der föderativen Verknüpfung engerer Gemeinschaften. Die Gliedkörper gäben von ihrer ursprünglichen Selbständigkeit nur so viel auf, als dem Gesamtkör‐ per zur Erreichung seines Zweckes notwendig. Besonderes Interesse zeigte Gierke zudem an Daniel Nettelbladt (1719 – 1791). Während Gierke Althusius und Nettelbladt als konzeptionelle Vordenker der Ge‐ nossenschaftstheorie würdigte, so schreibt er: „Ja manche Naturrechtslehrer, wie Althusius und später Nettelbladt, ließen den Staat selbst erst aus dem von unten nach oben voranschreitenden Zusammenschluss engerer gesellschaftlicher Körper emporwachsen“; sieht er in Rousseau gewissermaßen die Antipode dazu: „Das letzte Ziel der korrekten Theorie, wie Rousseau sie formulierte und die französische Revolution sie annähernd verwirklichte, war die Auflösung des sozialen Körpers in eine allgewaltige zentralisierte Staatsmaschine und eine atomisierte und nivellisierte Masse freier und gleicher Individuen."38 Im Werk Rousseaus sieht Gierke eine grundlegende Kritik an Vereinigungen, Gemeinschaften sowie gesellschaftlichen Einrichtungen und zugleich eine Verherrlichung des Naturzustandes. Gierke deutet Rousseaus Naturzustand dahingehend, dass in ihm Freiheit und Gleichheit durch keinerlei soziale Fesseln eingeschränkt gewesen seien. In der Forschung wurde immer wieder auf die Rezeption Gierkes einzelner frühneuzeitlicher Gelehrter – vor allem natürlich von Althusius,39 zu dem Gierke

Besold (1577 – 1638), Hugo Grotius (1583 – 1645), Hermann Conring (1606 – 1681), Georg Horn (1620 – 1670), Samuel v. Pufendorf (1632 – 1694), Ludolf Hugo (1632 – 1704), Ulrich Huber (1636 – 1694), Heinrich von Cocceji (1644 – 1719), Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716), Johann Nikolaus Hert (1651 – 1710), Christian Thomasius (1655 – 1728), Justus Henning Böhmer (1674 – 1749), Christian Wolff (1679 – 1754), Joachim Darjes (1714 – 1791), Friedrich der Große (1712 – 1786), Johann Heinrich Gottlob Justi (1717 – 1771), Gottfried Achenwall (1719 – 1772), Justus Möser (1720 – 1794), Immanuel Kant (1724 – 1804), August Ludwig Schlözer (1735 – 1809), Heinrich Gottfried Scheidemantel (1739 – 1788), Johann Gottfried Herder (1744 – 1803), Johann Gottlieb Fichte (1762 – 1814), Johann Christoph Hoffbauer (1766 . 1827) und Wilhelm v. Humboldt (1767 – 1835). Mehrfach erwähnt werden nicht-deutsche Autoren, wie Francisco Suárez (1548 – 1617), Jean Bodin (1529/30 – 1596), Thomas Hobbes (1588 – 1679), Baruch de Spinoza (1632 – 1677), John Locke (1632 – 1704), Emmanuel Joseph Sieyès (1748 – 1836), Charles-Louis, Baron de Montesquieu (1689 – 1755) und Anne Robert Turgot (1727 – 1781). 37 Gierke 1913, S. 204. 38 Gierke 1883, S. 29. 39 Schapp 2008, besonders S. 251–252.

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eine viel gelobte und mehrfach aufgelegte Monographie herausgab,40 aber auch von Grotius,41 Pufendorf,42 Rousseau43 sowie Möser44 und anderen – verwiesen. Über Pufendorf verfasste Gierke einen eigenständigen Artikel.45 Während Gierke durchaus positiv die Studien von Althusius und Nettelbladt sowie auch die Arbeiten von Francisco Suárez, Gottfried Wilhelm Leibniz und Johann Gottfried Herder bewertete, weil sie die Gemeinschaft höher bewerteten als das Individuum, stand er dem Werk Johann Gottlieb Fichtes, der „zu seinem fast sozialistischen System“ gelangte, ebenso ablehnend gegenüber wie dem Rousseaus. Hugo Grotius nun, dem Gierke einen hohen Anteil an der Profanisierung der politischen Theorie beimaß, indem er Natur- und Vertragsrecht zum Durchbruch verholfen hätte, entwickelte eine Theorie des doppelten Subjektes der Souveränität, nämlich die Lehre vom subjectum commune – also der Staatskörper – et proprium majestatis – also der Herrscher. Zwar kenne Grotius, so Gierke, nur eine Majestät, wohl aber eine doppelte Trägerschaft der höchsten Gewalt.46 Ebenso wie bei Althusius sah Gierke – und dies würdigte er – auch im Werk von Grotius eine Betonung körperschaftlicher Ordnungen.47 Gierke schreibt: „Lebhaft betonte Grotius die Eigenschaft des Staates als eines zusammengesetzten Körpers mit selbständiger Lebenseinheit und gab namentlich dem Gedanken des körper‐ schaftlichen Organes, in dessen Handlung zugleich das Gemeinwesen selbst handelt, einen unübertrefflich scharfen Ausdruck“.48 Obwohl Grotius Lehre föderalistisch geprägt war, indem er den Staat als Föderation seiner Teilverbände auffasste,49 man‐ gelte es jedoch, wie Gierke feststellte, an der Erkenntnis, diese Einheit als eine herr‐ schende Persönlichkeit zu erfassen,50 so dass Volks- und Herrscherpersönlichkeit bei Grotius nur einen Dualismus bildete. Es fehlte ihm somit an einem Begriff der Staatspersönlichkeit,51 zumal das „subjectum commune“ bei Grotius jeder aktiven Befugnis und jeder realen Bedeutung entbehre.52 Auch Grotius überwand nach Gierke das Naturrecht nicht, so dass z.B. jeder Ver‐ band dem Individuum entstammte. Gierke kam zu dem Schluss: „Immer aber bleibt die so als besondere Person anerkannte ,universitas‘ eine in Wahrheit vielheitliche 40 Kritisch zur Althusius-Rezeption Gierkes, siehe Stollberg-Rilinger 1999. 41 Bushkovitch 2012. Unter: https://perspectivia.net/publikationen/vortraege-moskau/bushkovitch _ideology (eingesehen, 9-12-2019). 42 Holland 2017, S. 204–206. 43 Oberparleite-Lorke 1996, S. 41–42. 44 Schröder 1986, besonders S. 49–50. 45 Gierke 1886, S. 91–96. 46 Gierke 1913, S. 318. 47 Gierke 1913, S. 297. 48 Gierke 1913, S. 309–310. 49 Gierke 1880, S. 251. 50 Gierke 1913, S. 310. 51 Gierke 1880, S. 172. 52 Gierke 1880, S. 174.

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Summe von Individuen, die nur für bestimmte rechtliche Beziehungen zur Einheit zusammengefaßt wird.“53 Fraglich blieb für Gierke zudem auch Grotius‘ Darstellung von zwischenstaat‐ lichen Bündnissen. Zwar unterschied Grotius Staatenvereine von Staatenbünden, unklar aber blieb für Gierke, wie die Souveränität der Einzelstaaten im Rahmen eines körperschaftlichen Verbandes garantiert werden könne.54 Als einen Pionier des Naturrechtsdenkens in Deutschland sah Gierke den Staatsund Völkerrechtler Samuel von Pufendorf, eines, so Gierke „der ersten Vertreter des aufgeklärten Absolutismus und der religiösen Toleranz“. Gierke schreibt: „Be‐ wundernswerth ist Pufendorfs trotz einiger Grundirrthümer echt historisch gedachter Darlegung, wie Alles so gekommen sei; bewundernswerth die Schärfe vorurtheils‐ loser Beobachtung, die der Schilderung und Analyse des bestehenden Zustands zu Grunde liegt; bewunderungswerther noch der staatsmännische Seherblick, mit dem er voraussagt, daß diesem Reiche nur noch die Auflockerung in einem völker‐ rechtlichem Bund, den zahlreichen lebensunfähigen Territorialbildungen […] der Untergang, den größeren weltlichen Fürstenthümern aber die Verwirklichung des modernen Staats beschieden sein werde!“55 Stattdessen forderte Pufendorf, so Gier‐ ke, ein „Föderativsystem souveräner Staaten“. Doch, und dies kritisierte er, bleibe Pufendorf, den er nichtsdestotrotz als einen Genius würdigt, im Dualismus zwischen „Einheitsstaat“ auf der einen und „verbündeter Staatenwelt“ auf der anderen Seite stecken, da er den dritten Weg nicht gesehen habe, nämlich den des Staates als eines Staates, der sich über Staaten wölbe, wie er nach Gierke im modernen Deutschland von 1871 realisiert wurde.56 Trotz seines von Gierke hoch geschätzten historischen Sinnes, seines ausgepräg‐ ten Rechtsgefühls und seines politischen Blicks war in Pufendorfs System nach Ansicht von Gierke kein Platz für ein selbständiges kommunales oder korporatives Leben zwischen Staat und Individuum. Das bedeutete, dass Pufendorf den Anteil der Stände am Staat als „monströs“ bezeichnen musste. Und weiter: „So hat denn Pu‐ fendorf das Recht des aufstrebenden deutschen Absolutismus dem überkommenen ständischen Staat gegenüber vernunftrechtlich deducirt.“57 Gierke verurteilte keineswegs in Gänze diejenigen naturrechtlich argumentieren‐ den Gelehrten, die dem aufgeklärten Absolutismus zuzurechnen sind.58 So würdigte er den Göttinger Historiker und Staatsrechtler August Ludwig Schlözer (1735 – 53 54 55 56 57 58

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Gierke 1913, S. 354–355. Ebd., S. 363. Gierke 1886, S. 92. Ebd., S. 92. Ebd., S. 94. Zu nennen sind: Joachim Darjes (1714 – 1791), Friedrich der Große (1712 – 1786), Johann Heinrich Gottlob Justi (1717 – 1771), Gottfried Achenwall (1719 – 1772), Justus Möser (1720 – 1794), Immanuel Kant (1724 – 1804), August Ludwig Schlözer (1735 – 1809) und auch Heinrich Gottfried Scheidemantel (1739 – 1788).

1809) als „geistreich“.59 Grundsätzlich beurteilte Gierke zwar die Zeit während des Absolutismus und des aufgeklärten Absolutismus als eine Epoche, in der das Kör‐ perschaftswesen an die Peripherie gedrängt wurde. Justi z.B. habe keinerlei korpora‐ tiven Elemente in seinen Entwurf der bürgerlichen Gesellschaft aufgenommen.60 Scheidemantel legte zwar, so Gierke, großes Gewicht auf ,Gesellschaften‘ im Staat, er lehnte aber Vereins- und Versammlungsfreiheit ab und unterwarf diese Gesell‐ schaften der Staatsaufsicht. Auch Kant habe dem geschichtlich entwickelten Korpo‐ rationsrecht weder Neigung noch Verständnis entgegengebracht. Allerdings aner‐ kannte Gierke, dass einzelne Autoren die Assoziationsfreiheit durchaus würdigten. Vor allem war es Nettelbladt, der ein umfassendes System zur Körperschaftsfreiheit entwickelt und sogar jeder Gesellschaft angeborene natürliche Rechte zugestanden habe.61 Auch Achenwall nahm die Anerkennung einer eigenen Sozialgewalt der en‐ geren Verbände auf. Gierke filterte in seiner Analyse des Absolutismus und des auf‐ geklärten Absolutismus das Paradoxon heraus, dass selbst „Individualisten“, wie z.B. Schlözer, dann doch die Assoziationsfreiheit als natürliches Grundrecht der In‐ dividuen schätzten.62

4. Gierkes Deutung frühneuzeitlicher Autoren: Detailfragen Gierke beurteilte die frühneuzeitlichen Werke, indem er sie mit einem spezifischen Fragenkatalog konfrontierte. Dies soll mittels eines näheren Blicks auf die Rezeption Gierkes der Autoren des aufgeklärten Absolutismus – Darjes, Justi, Achenwall, Kant, Schlözer und Scheidemantel – veranschaulicht werden. Die Werke dieser Autoren befragte Gierke nach ihren Positionen zu Individuum und Staat sowie Freiheit und Naturzustand, Vertragsrecht, moralischer Person und Konstitution. Er sieht bei ihnen grundsätzlich ein Primat des Individuums vor der Gemeinschaft. Zweck des Staates sei hier, wie er herausarbeitet, die Wiederherstel‐ lung des verloren gegangenen vermeintlich freien und gleichen Naturzustandes. Nicht nur im Werk Rousseaus und Fichtes findet Gierke diese „individualistische“ Position, sondern auch bei Kant, bei dem der Staat an ein vor ihm stehendes Ver‐ nunftrecht gebunden scheint, „dessen Maßstab der angeborne und unveräußerliche Anspruch des als Selbstzweck gesetzten vernünftigen Einzelwesens auf Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit bleiben sollte“.63 Kritisch urteilte Gierke, dass Kant das Recht der bürgerlichen Gesellschaft nur als zusammengefügtes Individualrecht

59 60 61 62 63

Gierke 1880, S. 200. Gierke 1913, S. 498. Gierke 1913, S. 510. Ebd., S. 514. Ebd., S. 388.

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definiert habe.64 Gierke selbst bezweifelte, dass die Gemeinschaft aus dem Individu‐ um entstamme. Ein weiterer Aspekt, den Gierke in den genannten Werken untersuchte, betraf das Vertragsrecht. Der Gesellschaft liege bei den Autoren des Naturrechts, wie Gierke kritisch darlegte, nur ein Rechtsgeschäft zugrunde, durch das die ehemals freien und gleichen Individuen sich ihrer „Selbstherrlichkeit“ zugunsten eines von ihnen gestifteten Verbandes entäußert hätten.65 Der Vorstellung eines paradiesischen – freien und gleichen – Naturzustandes, der der Gesellschaft vorgeschaltet sei, folgte Gierke nicht. Kritisch prüfte Gierke auch das Verständnis, das die betreffenden Gelehrten von der moralischen Person hatten. Gierke wies für die Zeit des Absolutismus und des aufgeklärten Absolutismus eine begriffsgeschichtliche Veränderung des Terminus der moralischen Person nach. Der Begriff der moralischen Person werde, wie er belegte, in der frühneuzeitlichen Soziallehre nur noch für die äußeren Beziehungen der Gesellschaft verwandt, nicht aber auch für die inneren Beziehungen.66 Darjes, z.B. gebrauchte nach Gierke den Begriff der persona moralis nur für äußere Zusam‐ menhänge, die Individuen einer Gesellschaft dagegen seien bei ihm durch gegen‐ seitige Rechtsbeziehungen entweder gleichmäßig berechtigt und verpflichtet oder als Herrscher und Beherrschte gegenübergestellt.67 Auch bei Achenwall konstatiert Gierke ein Aufgehen des inneren Gesellschaftsrechts in vertragsmäßige Beziehun‐ gen zwischen den Gesellschaftern. Der Begriff der moralischen Person werde bei ihm ebenfalls nur für die „nach außen wirksame kollektive Einheit“ verwendet.68 Gierke stellte damit für diese Zeit eine zunehmende Herabsetzung des Begriffs der moralischen Person fest und zwar bedingt durch das Majoritätsprinzip. Denn Entscheidungen setzten offenbar im Laufe der Zeit Einstimmigkeit voraus. Von einer Verbandspersönlichkeit konnte, wie Gierke feststellte, nicht mehr gesprochen werden. Das Werk A. L. Schlözers nimmt er als Beleg dafür, dass die kollektive Einheit nach damaliger Lehre „nichts als eine Summe einzelner Menschen“ sei und der Gesamtwille nur aus der Summe aller einzelnen Willen gedacht werde.69 Für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts beobachtete Gierke zudem ein Ringen zwischen absolutistischen und konstitutionellen Positionen. Mitunter würden neben der Herrscherpersönlichkeit als Persönlichkeit des Staates auch das Volk und die Volksvertretung unterschieden, denen jeweils die Qualität einer moralischen Person zugeschrieben wurden. Dabei werde zunehmend der Gedanke des Verfassungsstaa‐ tes formuliert. Diese Lehre mit ihren revolutionären Impulsen begegne, so Gierke, 64 65 66 67 68 69

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Ebd., S. 396. Ebd., S. 397. Ebd., S. 425. Ebd., S. 427. Ebd., S. 428–429. Ebd., S. 430–431.

bei Darjes, Achenwall, Scheidemantel und A. L. Schlözer.70 Mit Rückgriff auf Mon‐ tesquieu setzte sich nach Ansicht von Gierke die sogenannte konstitutionelle Theorie mit ihrer Kombination von gemischter Verfassung und Gewaltenteilung durch. Vor‐ ausgesetzt wurde dabei eine geteilte Souveränität einschließlich der Herrschersouve‐ ränität. Besonders Justi und A. L. Schlözer favorisierten laut Gierke dieses Format.71

5. Gierkes Bewertung des Preußischen allgemeinen Landrechts und der Stein’schen Städteordnung Neben den Theorien, die während des Absolutismus und des aufgeklärten Absolutis‐ mus entwickelt wurden, widmete sich Gierke auch der praktischen Rechtsprechung. Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang waren für ihn das „Allgemei‐ ne Landrecht für die Preußischen Staaten“ aus dem Jahr 1794 und die „Städteord‐ nung“ des Reformers Karl Freiherr vom und zum Stein (1757 – 1831) sowie seiner Mitarbeiter aus dem Jahr 1808.72 Beide Gesetzestexte unterzog er einer eingehenden Analyse. Das PrALR behandelte er – noch in seiner Funktion als Hochschullehrer in Heidelberg – in seinem Werk „Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Recht‐ sprechung“, das 1887 in Berlin in der Weidmannschen Buchhandlung erschien. Die Stein’sche Städteordnung würdigte er in seiner Rede zur Feier des Geburtstags des Kaisers und Königs im Jahr 1909. Das PrALR sei nach Gierke ein Produkt der „friderizianischen Gedankenwelt“ und Ergebnis der spezifisch deutschen naturrechtlichen Theorie. Er würdigte dieses „deutsche Gesetzbuch“ als „älteste Kodifikation des neuern Europa“ und befand es trotz vieler Mängel als durchaus dem Entwurf des BGB aus dem Jahr 1889 überlegen und zwar hinsichtlich seines „deutschen“, „volkstümlichen“, „schöpferi‐ schen“ und „sozialen“ Geists bzw. Gehalts.73 Sein Augenmerk richtete Gierke bei seiner Wertung des PrALR auf die Frage, inwieweit ein Verein das Recht der Persönlichkeit und inwieweit ein Verein Körperschaftsrechte erlangen könne – etwa durch staatliche Verleihung oder ausschließlich durch staatliche Verleihung. Für das PrALR galt, so Gierke, dass jedem ungenehmigten Verein die Eigenschaft einer „moralischen Person“ und die Rechte der „Korporationen und Gemeinen“ versagt würden. Während im Absolutismus und im aufgeklärten Absolutismus sogar enge‐ re Verbände als staatliche Institutionen begriffen wurden und die von Gierke für diese Zeit nachgewiesene Ausweitung des obrigkeitlichen Staates dazu führte, dass korporative Vielfalt zurückgedrängt wurde und Institutionen wie „Corporation“ und 70 71 72 73

Ebd., S. 465. Ebd., S. 482–483. Grundlegend: Duchhardt 2007. Gierke 1889, S. 14.

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„Gemeinheit“ als öffentliche Einrichtungen deklariert wurden, sieht er dagegen in seinem eigenen Jahrhundert die freie Körperschaftsbildung gestärkt, womit eine begriffliche Konkretisierung der Termini „öffentlich“ und „Person“ einherging.74 Er schreibt: „Das Preussische Landrecht giebt besonders deutlich zu erkennen, dass es im Geiste der damals herrschenden Anschauungen mit den Begriffen der ,Korpo‐ ration‘ und der ,moralischen Person‘ die Vorstellung einer öffentlichen Institution verbindet, welche durch den Staat als solche anerkannt und mit Rücksicht auf ihre Gemeinnützigkeit besonders privilegiirt ist.“75 Allerdings sieht Gierke im PrALR durchaus auch Ansätze, die über die damalige „Doktrin“ hinausreichen. Unter dem Einfluss des Naturrechts nämlich werde, wie Gierke lobend betont, ein natürliches Recht der freien Vereinsbildung anerkannt.76 Daraus folgerte Gierke, dass es seit dem neben „unzulässigen und verbotenen Verei‐ nen“ auch „geduldete Vereine“ mit der Qualität der „erlaubten Privatgesellschaft“ gab. Diese „erlaubten Privatgesellschaften“ waren allerdings, so Gierke, nur ihrem Wesen nach Körperschaften. Die inneren Verhältnisse dieser Vereine wurden zwar nach den Grundsätzen des Körperschaftsrechts beurteilt. Nach außen aber sei diese rechtliche Anerkennung versagt worden, und diese Gesellschaften „stellen [somit] keine moralische Person“ vor.77 Damit sei ein, so Gierke, wirrer und widerspruchs‐ voller Rechtszustand geschaffen worden, denn diesen Vereinen sei nur eine „halbe juristische Person“ zuerkannt worden.78 Allerdings habe man in der Praxis versucht, Wege zu finden, um die „erlaubten Privatgesellschaften“ auch nach außen hin als anerkannte Körperschaften zu behandeln.79 Gierke unterscheidet bei seiner Deutung des PrALR eine technische Seite der Rechtslage, nach der die betreffenden Körperschaften nicht als Körperschaften aner‐ kannt wurden, von der rechtlichen Seite, nach der die Körperschaften im Vergleich zu den staatlich anerkannten immerhin als unvollkommen rechtfähig gelten konn‐ ten.80 Das Preußisches Landrecht würdigte Gierke zwar als freisinnig angelegte Körper‐ schaftslehre, der allerdings die praktische Spitze abgebrochen wurde.81 Es dominier‐ te weiterhin, wie er urteilte, die „staatsanstaltische“ Behandlung der Städte und ein „absolutistisches Bevormundungssystem“, wobei genossenschaftliche Auffassungen an Boden gewannen.

74 75 76 77 78 79 80 81

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Gierke 1887, S. 90. Ebd., S. 98. Ebd., S. 100. Ebd., S. 104. Ebd., S. 105. Ebd., S. 105. Ebd., S. 111. Ebd., S. 22.

Dabei machte er grundsätzlich deutlich, dass die Preußischen Stein-Hardenbergi‐ schen Reformen keineswegs die revolutionäre Gesetzgebung in Frankreich rezipiert hätten. Das deutsche Naturrecht unterschied sich, wie Gierke herausarbeitete, grund‐ legend vom französischen Naturrecht, denn während in Frankreich eine tendenziell korporationsfeindlich Rechtsituation dominiert hätte, in dem „Staatsabsolutismus“ und „Individualismus“ als Pole wirkten, so dass den Zwischeneinheiten, wie es Gierke ausdrückte, der Krieg erklärt wurde, hätte in Deutschland eine Vorstellung vom sozialen Körper bestanden, der aus einer Stufenreihe von Sozietäten errichtet wurde. Die Gemeinde, ausgestattet mit einem besonderen Staatsvertrag, habe ein eigenes Leben erhalten. Der historische Unterschied zwischen Städten und Landge‐ meinden sei, anders als in Frankreich, aufrechterhalten worden und die tradierte Stadtkorporationen keineswegs zerschlagen. Alte Korporationen seien mit neuem Leben gefüllt worden. Gierke wollte in der Stadtgemeinde nicht etwa eine vom Staat abhängige Verwaltungsinstitution sehen, sondern ein lebendiges, selbständiges Gemeinwesen.82 Konnte Gierke im PrALR nur mit Mühe Impulse zur Förderung von Körperschaf‐ ten ausmachen, sah er dagegen in der Stein’schen Städteordnung von 1808 – 14 Jahre nach dem PrALR – ein „unübertroffene[s] Vorbild einer aus deutschem Geiste geborenen Neuverwirklichung des sich selbst verwaltenden bürgerlichen Gemein‐ wesens“.83 Der „anstaltliche“ Staat des absolutistischen Zeitalters wurde, urteilte Gierke, in den genossenschaftlichen Staat der Gegenwart überführt. Denn der Städ‐ teordnung gelang, so Gierke, die „Versöhnung der geschichtlich ererbten Obrigkeit mit der volksmäßigen Grundlage des genossenschaftlichen Gemeinwesens“.84 Erst‐ mals sei es in deutschen Landen gelungen, die verlorene städtische Selbstverwaltung auf moderner Grundlage wiederherzustellen, das selbständige Gemeindeleben zu erneuern und den Staat in das Volk zurückzuverlegen. Damit schienen nach Gierke Absolutismus und aufgeklärter Absolutismus endgültig in Deutschland überwunden. Die Stadt sei nun zu einem selbständigen Gemeinwesen auf der Basis der Selbst‐ verwaltung geworden. Die städtische Freiheit habe sich gegen staatliche Bevormun‐ dung durchgesetzt und die Bürgerschaft habe spezifische Rechte wiederbekommen. Auch wurde die Stein’sche Städteordnung nach Gierke der Ausgangspunkt für die Erneuerung der körperschaftlichen Selbstverwaltung.85 Landgemeinden wurden neu gestaltet und eine Fülle von Sonderleben in verjüngten oder neu geschaffenen Ge‐ nossenschaften des öffentlichen Rechts erweckt. Der Staat erfuhr durch die Städte‐ ordnung eine Umschmelzung zum genossenschaftlichen Gemeinwesen.86

82 83 84 85 86

Gierke 1909, S. 12. Gierke 1909. Ebd., S. 22. Ebd., S. 32. Ebd., S. 32.

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Allerdings fehlte es nach Ansicht von Gierke noch an einem weiteren Schritt, denn erst später entstand in Deutschland der „Volksstaat“. Der dann errichtete neue deutsche Gesamtstaat war seiner Ansicht nach als genossenschaftliches Gemeinwe‐ sen gegründet auf den Einzelstaaten und der Volksgesamtheit.87 Erst im genossen‐ schaftlichen Staat werde, so Gierke, das Volk selbst zur Person durch die Mitbetäti‐ gung nicht beamteter Volksgenossen, z.B. in der Rechtsprechung und Verwaltung.

6. Gierkes Positionen zum Völkerrecht In Gierkes „Genossenschaftsrecht“ ist zwar der Entwurf eines von unten nach oben errichteten, bundesstaatlich organisierten Europas enthalten. Skeptisch blieb Gierke aber hinsichtlich der Schaffung supranationaler Gremien und Instrumente, wenn dies mit der Aufgabe nationaler Souveränitätsrechte verbunden war. Die Idee eines langfristigen, gar ewigen Friedens sowie weltbürgerliche Anschauungen hatten in seinen Überlegungen keinen Platz. Der Krieg, bei aller von ihm zugestandenen Grausamkeit, war seiner Ansicht nach im Wesen der Mächte und Menschen zur Ausgestaltung ihrer Existenz als politisches und rechtliches Instrument fest veran‐ kert – aber nur als letztes denkbares Mittel. Sieg und Niederlage verglich Gierke daher mit einem „Schiedsspruch“ und sogar „Gottesurteil“.88 Das bedeutete nicht, dass sich Gierke gegen völkerrechtliche Instrumentarien und Regularien ausgesprochen hätte – im Gegenteil. Nach Gierke war das Völkerrecht kein „wesenloses Phantom“, da es von den Nationen als Recht empfunden und anerkannt werde. Durch das Völkerrecht werde überhaupt erst, so Gierke, Weltver‐ kehr, Weltwirtschaft und Weltkultur ermöglicht.89 Die Aus- und Fortbildung interna‐ tionaler Schiedsgerichte bewertete er als wohltätige Einwirkung auf die friedliche Beilegung von Konflikten. Auch beobachtete er eine positive Entwicklung bei dem Bemühen – etwa durch die Haager Konferenzen –, den Krieg zu „vermenschlichen“. Gewaltsame Eingriffe in die individuelle Rechtsphäre der Angehörigen des feindli‐ chen Staates und bestimmter, nicht im Dienst des Staates stehender Privatpersonen sollten, wie er ausführte, unterbunden werden. Auch sollte die Kriegsgewalt – z.B. bestimmte Waffenarten, wie Dum-Dum-Geschosse – eingeschränkt werden. Versu‐ che, das Völkerrecht abzuwerten oder als Chimäre abzulehnen, erteilte Gierke eine deutliche Absage. Zugleich stellt Gierke aber zu Recht fest, dass es an einer geordneten Exekution fehle und die Akzeptanz der Entscheidungen nur auf freiwilliger Basis geschehe.90 87 88 89 90

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Ebd., S. 33. Gierke 1915, S. 14. Ebd., S. 12. Ebd., S. 11.

Obwohl das Völkerrecht Ausdruck einer Gemeinschaftsüberzeugung der Völker sei, könne es, wie Gierke darlegte, den „immer wieder erträumten ewigen Frieden“ nicht herbeiführen.91 Machtkampf, Machterweiterung und Machtbehauptung müssten, so Gierke, als „elementare Naturereignisse“ hingenommen werden. Kritisch und distanziert befasste sich Gierke daher mit den Bemühungen in der USA und Europa, einen Völkerbund oder gar ein „Weltreich“ aufzubauen. Den Staa‐ ten ihre nationale Identität streitig zu machen, war Gierkes Ansicht nach geschichts‐ widrig. Der Ausbau überstaatlicher Organisationen konnte für ihn nur unter Beibe‐ haltung der „völkerrechtlichen Souveränität“ erfolgen.92 Und hier erblickte Gierke ein Paradoxon: Der Völkerbund sollte nach den damals vorliegenden Konzepten auf der Grundlage des Nationalitätenprinzip geschaffen werden. Doch gerade in der Devise der Selbstbestimmung der Völker,93 wie sie der damalige US-Präsident Woodrow Wilson nach Ende des 1. Weltkrieges in seinem 14-Punkte Programm vorschlug, sah Gierke eine Illusion. Denn dieses Prinzip wurde, wie Gierke durchaus zu Recht kritisierte, nicht durchgängig eingefordert. Plädierte Großbritannien, fragte er, für ein unabhängiges Irland? Und weiter: Sollte Gibraltar spanisch werden? Sollte Indien von Großbritannien unabhängig werden „oder in irgendeinem anderen Teil seines [Großbritanniens] ungeheuren Kolonialbesitzes die Herrschaft an eine überwiegende fremde Nationalität“ abtreten?94 Unter dieser Perspektive erschien Gierke die Devise der Selbstbestimmung der Völker und der Völkerbund selbst ein politisches, gegen Deutschland, die Donaumonarchie und die Türkei gerichtetes Instrument und keineswegs eine pazifistische den europäischen Frieden fördernde Maßnahme. So mangelte es Gierke an einem Grundvertrauen gegenüber nicht-deut‐ schen Mächten, vor allem England und Frankreich. Zugleich plädierte Gierke stets für eine hervorgehobene Stellung Deutschlands im europäischen Mächtesystem.

7. Fazit Absolutismus und aufgeklärter Absolutismus waren in Gierkes Genossenschafts‐ theorie zwei historische Epochen mit spezifischen Impulsen bei der Entstehung kultureller und zwar genossenschaftlicher Strukturen. Doch weder Absolutismus noch Aufklärung waren bei ihm Referenzbegriffe des liberalen Staates bzw. der modernen Gesellschaft. Nach Gierke bildete sich in dieser Zeit der absolute Staat auf der Basis der Landeshoheit aus. Dieser Staat hatte nach Gierke die Tendenz, dass er „absolut“, 91 92 93 94

Ebd., S. 12. Gierke 1917, S. 39. Grundlegend dazu: Fisch 2010. Gierke 1917, S. 35.

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Gesellschaft, Recht und Verwaltung dominierte. Sowohl die Landstände als auch die Städte und Landgemeinden sowie überhaupt die Assoziationen befanden sich dabei nach Gierke in einer grundsätzlichen Krise, da die Bildung von Assoziationen unterbunden oder stark beschränkt wurde und sie in Abhängigkeit zur staatlichen Obrigkeit standen. Der Staat besaß nach Gierke das Monopol der Verbandsgewalt. Der Begriff Absolutismus beschrieb bei Gierke eine gegenüber dem Volk tran‐ szendente, nicht immanente Staatspersönlichkeit. Die Einwohner waren demnach nur Untertanen, anstatt mitwirkende Bürger, und die Stadtregimenter waren oligar‐ chisch strukturiert. Es fehlte, wie Gierke kritisierte, an Transparenz. Trotz dieser fundamentalen Kritik an Absolutismus und Aufklärung (Naturrecht) gelang es Gierke, ihre durchaus positiven Dimensionen in der Geschichte der Asso‐ ziationen und Korporationen herauszuarbeiten. Die historischen Leistungen des Ab‐ solutismus und des aufgeklärten Absolutismus bestanden für Gierke in der Durchset‐ zung des Prinzips der Gleichheit der Untertanen im Staat und vor dem Gesetz. Im Wirken Friedrichs II. von Preußen als erstem Diener des Staates sah Gierke das Signum der damaligen, eine in die Zukunft weisende „Gedankenwelt“. Zwar war seiner Ansicht nach Preußen im Absolutismus und aufgeklärten Absolutismus ein „Wohlfahrt- und Polizeistaat“, aber auch ein Rechtsstaat, in dem die Gerichte ihre Unabhängigkeit bewahrten. Besonders der 4. Band seines „Genossenschaftsrechts“ enthält eine Ideenge‐ schichte des Absolutismus und des aufgeklärten Absolutismus, die um die beiden Pole Althusius als Vorläufer des Genossenschaftsrechts und Rousseau als dessen Widersacher gruppiert ist. Weitere Autoren der damaligen Zeit, mit denen sich Gierke näher befasste, waren Hugo Grotius, Samuel Pufendorf, Daniel Nettelbladt, Joachim Darjes, Gottfried Achenwall, Immanuel Kant, August Ludwig Schlözer und Heinrich Gottfried Scheidemantel. Die Werke dieser Gelehrten analysierte er, indem er ihre Positionen zum Naturzustand, Vertragsrecht, zur moralischen Person der Verbände, zu konstitutionellen Gremien und zum Assoziationsrecht herausfilterte. Im Fokus Gierkes stand weder das allgemein gültige Recht des Staates noch das des einzelnen Menschen. Stattdessen richtete er sein Augenmerk auf die Gemein‐ schaften und Korporationen, die ihrerseits im gemeinsamen Verbund einen Staat begründen und ausmachen. Gierkes „Genossenschaftsrecht“ enthält insofern enormes kritisches Potential ge‐ genüber staatlicher Bevormundung, die z.B. in der ausschließlichen Anerkennung und Privilegierung von Verbänden durch den Staat gesteuert wurde. Eine weitere Bedeutung für die Entwicklung des Genossenschaftsrechts misst Gierke neben den Theorien der Gelehrten auch der Rechtspraxis zu. Hier sind es vor allem das „Allgemeine Landrecht der preußischen Staaten von 1794“ und „Steins Städteordnung von 1808“, die seiner Ansicht nach weitreichende Impulse aussendeten. Obwohl das PrALR nach Gierke eng an die damalige „Doktrin“ des

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Absolutismus und aufgeklärten Absolutismus angelehnt war, wies es durchaus in die Zukunft, indem es die freie Vereinsbildung anerkannte. Dagegen lobte er – gleichsam hymnisch – Steins Städteordnung von 1808 als unübertroffenes Vorbild einer Neuverwirklichung des sich selbst verwaltenden bür‐ gerlichen Gemeinwesens. Steins Städteordnung überwand laut Gierke Absolutismus und aufgeklärten Absolutismus. Der Staat wandelte sich nun, so heißt es bei ihm, aus einer „Anstalt“ in eine genossenschaftliche Form. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Gierke nicht etwa eine Lebenswelt vor Augen hatte, die geprägt war von den dualistischen Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft, sondern von einem Gewebe von Systemen und Subsystemen. Daher auch übte Gierke deutlich Kritik an einem Staat, der „von oben“ das gesellschaft‐ liche Leben zu bestimmen suchte. Denn für ihn war der Staat nur ein System – gewiss ein besonderes – neben anderen. Er schreibt: „Das staatliche Leben, das Leben der Religion, der Sittlichkeit und der Sitte, der Wissenschaft und der Kunst, das wirtschaftliche und soziale Leben sind selbständige Systeme mit autonomer Zwecksetzung“.95 Wird die einleitend vorgestellte Position Blickles aufgegriffen, nach der Gierkes Konzept maßgeblich und aussagekräftig sein kann für die Analyse der Vergangen‐ heit, das Verständnis der Gegenwart und die Konzipierung der Zukunft, so können folgende Aspekte als „Lehren“ Gierkes zusammengefasst werden: Gierke ging es a) um die Schärfung systemischer Strukturen in Politik, Wirtschaft, Recht und Gesellschaft, b) um die Stärkung föderaler, bundesstaatlicher Strukturen sowie c) um die Begrenzung staatlicher Einflussnahme und Disziplinierung „von oben“ mit dem Ziel, Polizei-, Erziehungs-, Wohlfahrts-, Fürsorge- und Bevormundungsstaaten zu verhindern. Dabei waren nicht „Freiheit“, „Gleichheit“ und „Brüderlichkeit“ die Bestandteile des Inventars der Begründungsmetaphern Gierkes, sondern Assoziati‐ onsfreiheit, (aktive) Teilhabe der Bürger als Beamte und Laien sowie (autonome) Selbstverwaltung.

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95 Gierke 1915, S. 23.

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Teil III: Zur Rezeption und Wirkungsgeschichte von Gierke

Niall Bond Rechtstheoretische Einflüsse auf die entstehenden empirischen Sozialwissenschaften: die Rezeption Otto von Gierkes durch Ferdinand Tönnies

1. Einleitung In diesem Beitrag über die Beziehung zwischen Ferdinand Tönnies und Otto von Gierke, deren Bedeutung in anderen Arbeiten angeschnitten aber nicht ausführlich behandelt worden ist1, soll gezeigt werden, dass Ferdinand Tönnies‘ seine normativ angelegte Begriffsdichotomie von Gemeinschaft und Gesellschaft im Gründungs‐ werk der deutschen Soziologie Gemeinschaft und Gesellschaft von 1887 wesentliche Anregungen der Rechtshistorik und -philosophie, vor allem Gierkes verdankte und wie Gierke zur gleichen Zeit auf eine eigene „Gemeinschaft-Gesellschaftstheorie“, allerdings ohne die gleiche Wirkung gekommen war. Innerhalb der politischen und juristischen Landschaften lassen ähnliche Analysen bei Gierke (1841-1921) und Tönnies (1855-1936) allerdings nicht auf die gleichen politischen Loyalitäten schließen; zwischen dem am Anfang liberal anmutenden Konservativen Gierke und dem zuweilen radikalen marxistisch beeinflussten Sozialdemokraten Tönnies lagen Welten2. Carl Schmitt hatte in Der Begriff des Politischen festgestellt, dass Gierkes Herrschaft-Genossenschaftsdichotomie und Tönnies‘ Gemeinschaft-Gesell‐ schaftsdichotomie Hegels Begriffe im Laufe des Neunzehnten Jahrhunderts abgelöst hatte3, und war von der politischen Vielfalt von Gierkes Nachfolgern beeindruckt.4 Später überschattete Tönnies‘ Gemeinschaft-Gesellschaftsdichotomie Gierkes Ge‐ nossenschaft-Herrschaftsdichotomie in den Sozialwissenschaften wie im politischen Diskurs5, und dies vielleicht aufgrund von Tönnies‘ düsteren Geschichtsprognosen, 1 Oexle 1982, Ricciardi 1997, Pasqualucci 1986. Der Verfasser dankt dem Käte Hamburger Cen‐ ter for Advanced Study "Law as Culture" für die Möglichkeit, im Rahmen eines Fellowships seine Gedanken zu präzisieren. 2 Die politischen Stellungnahmen von Gierke und Tönnies müssen differenziert gesehen werden, auch bei Fragen der Übersetzung, wie dies Jouin 2021 zeigt, indem sie darauf hinweist, dass „corporation“ als französische Übersetzung von „Genossenschaft“ schon deshalb problematisch ist, da die Korporationen im neunzehnten Jahrhundert in Frankreich nur von reaktionären Strömungen verteidigt wurden, während sie in Deutschland liberale Anhänger fanden, die nur damit verbundene nobiliäre Privilegien abschaffen wollten. 3 Schmitt 2018, S. 225. 4 Jouin 2021, S. 21f. 5 Ebd., S. 27.

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die zu Zeiten des Modepessimismus beliebt sind6. Während Gierke hauptsächlich bei Juristen bekannt war, zog Tönnies‘ Rezeption weitere Kreise in den empirischen Sozialwissenschaften. Wie Tönnies am ersten Soziologentag in „Wege und Ziele der Soziologie“ ankündet, ist seine Soziologie eine „Vertiefung der sozialphilosophi‐ schen Überlegungen der Rechtsphilosophie“.7 Gierke ist einer der wichtigsten Vor‐ denker von Tönnies, und Sprache und Überlegungen zeugen von ähnlichen Besorg‐ nissen um die Einigung eines freien Deutschlands gleichgestellter Bürger, doch be‐ schrieb Tönnies in einem Brief an Carl Schmitt bei aller Bewunderung vor Gierkes „Gelehrsamkeit“ Gierke als „kindlich“.8 Nur ein interdisziplinärer Ansatz lässt sehen, wie wichtig der juristische Denker Otto von Gierke für das soziologische Denken in seinem Entstehen in Deutschland um die Jahrhundertwende war, und wie wichtig der Fokus auf den Gegensatz zwi‐ schen Gemeinschaft und Gesellschaft als Grundlage von normativen Urteilen sein kann. Die Formulierung der Wertneutralität verstellt manchmal den Blick davor, dass ihr Sinn in der Freiheit zum Urteilen liegt. Die Dichotomie von Gemeinschaft und Gesellschaft als Gegensatz für (freilich subjektive) Werturteile eingeführt zu haben, darf als ein Verdienst von Tönnies angesehen werden.

2. Tönnies und die Rechtswissenschaften Mit ihrem Beitrag zu „Tönnies und die Rechtswissenschaften seiner Zeit“ am Fer‐ dinand Tönnies-Symposium in Kiel im September 2019 eröffnet Doris Schweitzer eine Diskussion über „Juridische Soziologien“ unter anderem von Tönnies.9 Doch unterschätzt sie in ihrer gründlichen Arbeit die Bedeutung der Rechtswissenschaf‐ ten für Tönnies‘ Theorie und Tönnies‘ Bedeutung für die Rechtswissenschaften und das Potential seines Begriffspaars für fundierte normative Urteile. Wenn sie zeigt, dass seine Begriffe in „Soziologie und Rechtsphilosophie“ von 191110 und „Gemeinschaft und Individuum“ von 191411, für eine Auseinandersetzung mit einer aktuellen Debatte am Anfang des 20. Jahrhundert nicht adäquat waren, tat seine „veraltete Problematisierungsweise des Rechts“ der Relevanz seiner Begriffe keinen Abbruch. Diese Relevanz wird an Tönnies‘ Auseinandersetzung mit zwei zeitge‐ nössischen juristischen Denkern deutlich, die im Rechtsdenken weit voneinander entfernt waren und für Tönnies‘ Dichotomie repräsentativ sind: dem organisch Windelband 1884. Tönnies 1926b, S. 125-143, S. 125. Brief von Tönnies an Schmitt, Schmittiana, 2016, S. 116. Schweitzer 2020. Ich danke der Autorin und der Ferdinand Tönnies Gesellschaft für den frühen Einblick in Schweitzer 2021. 10 Tönnies 1911, S. 569-71. 11 Tönnies 2012b, S. 203-211. 6 7 8 9

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denkenden Rechtshistoriker Otto von Gierke (1841-1921) und dem Utilitaristen Rudolf von Jhering (1818-1892). Wenn die Auseinandersetzung mit dem Naturrecht in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts das Werk Gemeinschaft und Gesellschaft kaum zur Kenntnis nahm12, wurde sein Begriff des „gemeinschaft‐ lichen Naturrechts“ von späteren Juristen vereinnahmt, allerdings in einer Weise, die ihm nicht genehm sein konnte. Die Ideologen von Vichy unter der damaligen Leitung eines später zu anderen Auffassungen bekehrten Ökonomen François Per‐ roux beriefen sich auf das Gemeinschaftsideal von Ferdinand Tönnies, als unter der Diktatur des Maréchal Pétains die Individualrechte der Republik den Interessen der „communauté nationale“ unterordnet wurden, genau wie im deutschen Recht der Volksgemeinschaftsbegriff im Nationalsozialismus pervertiert wurde. Doch Pierre Uri, der den europäischen Gemeinschaftsbegriff mitgeprägt hat, war ein Anhänger von Tönnies.13 Dass das Thema Tönnies und die Rechtswissenschaften so lange vernachlässigt wurde, liegt an den Hürden zwischen den Disziplinen. Tönnies entwarf sein Ge‐ dankengerüst in einem vorinterdisziplinären Zeitalter. Was Tönnies in der ersten Auflage von Gemeinschaft und Gesellschaft 1887 als Prooemien bezeichnet und in der zweiten Auflage die „soziologischen Gründe des Naturrechts“ 1912 wird, und was Tönnies noch in seiner Einführung in die Soziologie von 1931 als das „gemein‐ schaftliche Naturrecht“14 bezeichnet, zeigt, wie er Normen für seine Soziologie aus dem juristischen Bereich zog. Tönnies‘ Gemeinschaft und Gesellschaft entstand im Kontrast zwischen zwei sehr unterschiedlichen Rechtsphilosophien: der organischen Anschauung Otto von Gierkes und der rationalistischen Anschauung Jherings. Später schrieb er, „Die Hauptbegriffe waren auch in fortwährender kritischer Beziehung auf die Theoreme […] Iherings“ gedacht15. Der wichtigere Einfluss war allerdings Gierke. Während ich die Bedeutung der deutschen historischen Schule der Nationalökonomie in der Herausbildung von Tönnies‘ Gedankengerüst betont habe16, will ich hier die über‐ ragende Bedeutung von juristischen Denkern in Tönnies‘ Soziologie betonen: im deutschsprachigen Raum spielen Savigny, Jhering und besonders Gierke eine große Rolle, im angelsächsischen Raum der Rechtshistoriker Henry James Sumner Maine. Für Tönnies waren schon die Wirtschaftswissenschaften aus den Staatswissenschaf‐ ten und der Rechtslehre hervorgegangen, und die Soziologie entstand in ihrem Kielwasser. Im Jahre 1910 sah Tönnies die „reine theoretische Soziologie“, „die man auch Sozialphilosophie nennen mag“ als ein Gebiet an, das „unablösbar von der Geschichte der Rechtsphilosophie“ sei, wobei sich „in neueren Zeiten die Theoreme 12 13 14 15 16

Vgl. die Verweise u.a. auf die Juristen Jung 1912, Kantorowicz 1906 in Schweitzer 2021. Cohen 2012. Tönnies 1931, S. 217. Tönnies 1926a, S. 63-103. Bond 2011, Bond 2013a, Bond 2013b.

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vom richtigen wirtschaftlichen Leben… abgezweigt haben.“17 Sein „soziologisches“ Gründungswerk entstand in einem Gesamtkomplex, dessen Genealogie er auf die Staatswissenschaften zurückführte, von denen die Ökonomik auch für Tönnies eine Abzweigung ist. Tönnies’ origineller Beitrag zur Rechtstheorie besteht in seiner Synthese vom Na‐ turrecht des Rationalismus und der Historischen Rechtsschule18, die sich nach Tön‐ nies in der Rechtsdogmatik und -methodik im Laufe des Neunzehnten Jahrhunderts durchgesetzt hatte und deren restaurative Folgen Tönnies kritisierte. Er fand in Gier‐ ke einen Nachfahren der Historischen Schule und in Jhering einen Erneuerer des Ra‐ tionalismus. Dreh- und Angelpunkt von Tönnies‘ wissenschaftlicher Methode war seine „Synthese“ des seine soziologischen Begriffe zugrundeliegenden Gegensatzes zwischen Historismus und Rationalismus, der „am Auffallendsten in der Rechtsphi‐ losophie zutage“ getreten war. Der Gegensatz zwischen dem Historismus und dem Rationalismus war im Kodifikationsstreit am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts aufgekommen, als Historisten versuchten, „das Naturrecht… gänzlich preiszugeben, hingegen das Gewohnheitsrecht als normales Gebilde des Volksgeistes höher zu schätzen als alles, was im Gebiet des Rechtes aus der Vernunft abgeleitet werden kann“.19 Ein Führer in diesem Streit war der Gründer der historischen Rechtsschule Carl von Savigny.20 Tönnies‘ Synthese verband sich mit seiner Geschichtsphilosophie: Recht als Ver‐ nunftprodukt ist Recht in der modernen Gesellschaft, wie Recht als Produkt des Volksgeistes Recht in der vormodernen Gemeinschaft war. Im ersten Buch von Gemeinschaft und Gesellschaft werden die Sozialformen „soziologisch“ bestimmt, im zweiten Buch werden die ihnen unterliegende Willensformen „psychologisch“ erläutert, im dritten Buch wird gezeigt, wie beide Sozialformen eine von der Ver‐ nunft zu bejahende Grundlage haben. Diese normativen Grundlagen sind in der Gemeinschaft affektiv und traditionell, in der Gesellschaft beruhen sie auf Eigenin‐ teresse. In Gemeinschaft und Individuum von 1914 wiederholt Tönnies, dass das gemeinschaftliche oder gesellschaftliche Verhältnis auf einem aus dem freien Willen hervorgehenden „Anspruch auf ein gewisses Verhalten“ beruht und somit von einem überindividuellen sozialen Willen „geboten“ wird.21 Doch Recht als ein Vernunftprodukt ist nach Tönnies nicht das einzige Recht, das als „natürlich“ gelten kann. Historisch gegebene natürliche Rechtsfiguren liefen dem modernen Naturrecht voraus. Tönnies hebt sich von der Historischen Schule und von Savigny ab, in dem er auch gemeinschaftlichem Naturrecht eine in der Vernunft liegenden Grundlage gibt. Das „natürliche Recht“ im gemeinschaftlichen 17 18 19 20 21

260

Tönnies 1926b, S. 125. Tönnies 1926a, S. 98. Tönnies 2012b [posthum], S. 257. Savigny 1814. Tönnies 2012c, S. 203.

Sinne folgt aus einem „stillschweigenden Einverständnis über das, was sein muß, einem Einverständnis, das aus den tatsächlich gegebenen Verhältnissen als eine Fol‐ gerung und Forderung sich ergibt: es ist ‚selbstverständlich‘ und also notwendig“.22 Die normative Grundlage der gemeinschaftlichen Ordnung ist eine andere Quelle der Harmonie als die der gesellschaftlichen Ordnung. Im Abschnitt 24 des dritten Buches von Gemeinschaft und Gesellschaft über „Das Gemeinwesen“ definiert Tön‐ nies „Eintracht“ als „eine natürliche und a priori in ihrem Keime enthaltene Ordnung und Harmonie, nach welcher jedes Mitglied das Seine tut, tun muß oder doch soll; das Seine genießt, genießen soll oder doch darf“. Während das rationale Naturrecht die Rechte und Freiheiten des einzelnen betont, zielt die Gewohnheitsrechtslehre auf die Pflichten des Einzelnen gegenüber dem Ganzen ab. Schweitzer weist auf die Nähe zwischen Tönnies‘ Synthese von Recht und Pflicht in der Gemeinschaft und Gierkes 1889 publiziertem Entwurf eines Sozialrechts auf, welches das indi‐ vidualistische Denken des Privatrechts mit Gemeinschaftsdenken verbindet.23 In seinen Überlegungen zum Verhältnis zwischen Gerechtsamen und Pflichten schreibt Tönnies, dass „Gerechtsame und Pflichten die beiden korrespondierenden Seiten derselben Sache, oder nichts als die subjektiven Modalitäten der gleichen objektiven Substanz von Recht und Kraft“ seien. Ungleichheiten werden in der Gemeinschaft anerkannt und bejaht. „Reale Ungleichheiten“ entstehen innerhalb der Gemeinschaft „durch ihren Willen“, dürfen aber nicht zu groß sein, da bei zu großem Abstand der Zusammenhang „gleichgültig und wertlos“ werde, doch dürfe die Ungleichheit auch nicht zu klein sein, da der Zusammenhang „irreal und wertlos“ werde.24 Während das gesellschaftliche Naturrecht auf formaler Freiheit und Gleichheit beruht, beruht das gemeinschaftliche Naturrecht implizite auf empfundener aber gewollter Unfrei‐ heit und Ungleichheit.25 Die Aufnahme von Gierkes normativen Ansätzen in Tönnies‘ Soziologie wirft auf den anderen, den soziologischen Werturteilstreit Licht. Tönnies schreibt, dass nur wenige Leser von Gemeinschaft und Gesellschaft „wirklich mit dem Zustand und der Vergangenheit rechts- und sozialphilosophischer Lehren hinlänglich vertraut waren.“26 Die Kenntnis der Problemlage der Rechtsphilosophie und -historik nicht des zwanzigsten, sondern des neunzehnten Jahrhunderts ist eine Voraussetzung für unser Verständnis des Gründungswerks der modernen deutschen Soziologie in seiner Normativität.

22 Tönnies 1909, S. 19. 23 Gierke 1889. S. 20. 24 Tönnies 2019, S. 143; die Überschrift im ersten Buch von Gemeinschaft und Gesellschaft lau‐ tet § 8 Würde und Dienst – Ungleichheit und ihre Grenzen. 25 Vgl. Kamenka und Erh-Soon Tay 1990. 26 Tönnies 2012, S. 104.

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3. Otto von Gierkes Bedeutung für Tönnies‘ Rechtverständnis Bei Kämpfen um die Besatzung von Begriffen werden Intentionen durch Über‐ setzungen manchmal verdeutlicht. So wurde Gierkes Genossenschaftsrecht27 von Mary Fisher als “Community in historical perspective”28 oder Gemeinschaft in histo‐ rischer Perspektive 1990 ins Englische übersetzt; (früher waren lediglich Exzerpte des Werkes über das Naturrecht von Ernest Barker 1934 ins Englische übersetzt worden29). In Gemeinschaft und Gesellschaft zitiert Tönnies Gierkes 1879 veröffent‐ lichtes Werk über Johannes Althusius30 und sein Genossenschaftsrecht; im zweiten Vorwort schrieb er, dass Gierkes Genossenschaftsrecht zum Verständnis der Rechts‐ bindung und „des unlöslichen Zusammenhangs zwischen dem Rechtsleben und dem ganzen Kulturleben bestehe, neben der rechtlichen Seite auch die kulturhistorische, wirtschaftliche, soziale und ethische Seite“ beitrug.31 Frederic William Maitland sah Gierkes Bedeutung in der Ausgrabung mündlicher Traditionen32 und der Gegenüberstellung zwischen der modernen Gesellschaft mit beschränkter Haftung (“joint-stock company”) und den Gemeinschaften vergange‐ ner Agrargesellschaften (“agrarian communities with world-old histories”) zu einer Zeit, da die Beschwerden der Bauer über Ungerechtigkeiten laut wurden und man nach Begriffen suchte, um „Gruppen von Menschen, einfachen und komplexen, modernen und archaischen“ auf den Begriff zu bringen. Gierke hatte den Begriff „Genossenschaft“ eingesetzt, den Maitland mit „fellowship“ übersetzt33. Gierkes Werk wurde zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, in dem kleine Agrargrundstücke, die in Preußen aus den Gemeinheitsteilungen hervorgegangen waren, zwecks Ratio‐ nalisierung zusammengelegt wurden. „Genossenschaft“, „Gemeinschaft“, „commu‐ nity“ und „fellowship“ stehen in nah aneinander stehenden semantischen Feldern in einem begrifflichen Raum, der auf eine weitentlegene Vergangenheit und Hoff‐ nungen auf eine Zukunft von Beziehungen gegenseitiger Bejahung, Gleichheit und Respekt verweisen. Als „Gesammtperson“ besaß nach Gierke die Genossenschaft einen „Gesammtwillen34. Diese Betrachtungen aus der Romantik wurden von Gierke in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts aktualisiert, und mit den Bestrebungen nach einer deutschen Nation in Verbindung gebracht: wie John D. Lewis betont, setzt sich Gierke mit dem germanischen im Gegensatz zum römischen Recht auseinander: sein Blick führt zur Mark und zur Gemeinde zurück, zu den

27 28 29 30 31 32 33 34

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Gierke 1868. Gierke 1990 in der Übersetzung von Fischer. Gierke 1934. Gierke 1929. Tönnies 2019, S. 47. Maitland 1900, S. xiii. Ebd., xxv. Ebd., xxvi.

Lehnsregistern, zu den Stadtchartern, zu den Regeln der unendlichen Formen von Gilden and Genossenschaft zurück.35 Blickt man nicht auf Tönnies‘ Gemeinschaft und Gesellschaft zurück, sondern von 1848 nach vorne, sehen wir, dass Gierke mit der Hoffnung schrieb, Freiheit, Gleichheit und Genossenschaft (als eine deutsche Variante der Brüderlichkeit) unter germanischem Vorzeichen zu verwirklichen. Vor der Reichsgründung waren diese Bestrebungen deutlich liberal. Im Gegensatz zu Tönnies setzt Gierke auf die Geschichte als Fortschritt: „so erhebt sich in ununterbrochen aufsteigender Wölbung der erhabene Bau jener or‐ ganischen Verbände, welche in immer grösseren und umfassenden Kreisen den Zusammenhang alles menschlichen Seins, die Einheit in seiner bunten Mannichfal‐ tigkeit, zur äusseren Erscheinung und Wirksamkeit bringen.“36 Die Stadt ist bei Gierke ein „lebender Organismus“, der aus kleineren Verbindungen und Organen besteht.37 Tönnies nimmt die soziale Welt auch als „lebenden Organismus“ wahr; nur nimmt er allerdings für die Verwirklichung einer höheren Einheit jede Hoffnung: der Gang der Geschichte schreitet in Richtung auf gebändigten Zwist und Egoismus hin. Gierkes utilitaristischer Gegensatz in der zeitgenössischen Jurisprudenz war Rudolf von Jhering, dessen Der Zweck im Recht von einer konträren Sehnsucht nach Bindungslosigkeit, nach einer Gesellschaft geprägt war, in welcher das Geld der Schlüssel zur Freiheit war. Als Jurist teilte Gierke eine Grundposition von Tönnies: das menschliche Leben ist per Definition ein soziales Leben. „Was der Mensch ist, verdankt er der Vereini‐ gung von Mensch und Mensch. Die Möglichkeit, Associationen hervorzubringen, die nicht nur die Kraft der gleichzeitig Lebenden erhöhen, sondern vor Allem durch ihren die Persönlichkeit des Einzelnen überdauernden Bestand die vergangenen Geschlechter mit den kommenden verbinden, gab uns die Möglichkeit der Entwick‐ lung, der Geschichte.“38 Gierke sieht die Geschichte als einen Streit zwischen den zwei großen Prinzipien „Einheit“ und „Freiheit“– die Vereinfachung dieses Gegen‐ satzes und ihre Führung in eine eingleisige Geschichtsphilosophie unter variierenden Wertevorzeichen ist ein Schlüssel zum Verständnis von Gemeinschaft und Gesell‐ schaft. Für Gierke drehte sich der Kampf in Deutschland um seine Zeit nach Innen und nach Außen um diese Prinzipien, da keine Nation überlebt hatte, welche in ihrem Bestreben nach Freiheit die Einheit aus dem Blick verlor, oder in ihrem Bestreben nach Einheit die Freiheit unterdrückt hatte. Am Anfang predigte Gierke liberalen Bestrebungen nach Einheit und nach Frei‐ heit das Wort. Er benützt den Ausdruck “organische Verbände” um die Idee der Einheit mit der Idee der Vielheit in der Einheit zu vereinbaren – den Gedanken des 35 36 37 38

Lewis, 1935, 17. Gierke, 1868. S. 1. Lewis, S. 38. Gierke, 1868, 1.

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Rechts und der Autonomie der immer kleineren Einheiten bis zum Individuum.39 Die Verbindung von Einigkeit, Recht und Freiheit war ein zentrales Thema in den Kämpfen um die deutsche Nation im neunzehnten Jahrhundert und wurde von einem Freund von Savigny, dem liberalen Germanisten August Heinrich Hoffmann von Fallersleben als Trias in seinem Gedicht „Das Lied der Deutschen“ in der dritten Strophe 1841 genannt. Als Gierke 1868 den ersten Band seines Genossenschafts‐ rechts schrieb, war Deutschland noch nicht vereint: “Keinem anderen Volke in dem Zuge nach Universalität und in der Fähigkeit zu staatlicher Organisation nachste‐ hend, die meisten an Liebe der Freiheit übertreffend, haben die Germanen Eine Gabe vor allen Völkern voraus, durch welche sie der Freiheitsidee einen besonderen Gehalt und der Einheitsidee eine festere Grundlage verliehen haben – die Gabe der Genossenschaftsbildung.”40 Gierke präsentiert einen geschichtlichen Überblick rechtshistorischer Entwick‐ lungsstadien, in welchem der Gegensatz zwischen „genossenschaftlicher“ und „herr‐ schaftlicher“ „Auffassung“, der in Tönnies‘ Gemeinschaft und Gesellschaft nicht übernommen wird, zentral ist: bis zur Krönung Karls des Großen im Jahre 800 sei Deutschland vornehmlich patriarchalisch regiert worden, gefolgt von einer patrimo‐ nialen und feudalen Verfassung, in der „die Herrschaft über die Genossenschaft“, die „Dinglichkeit über die Persönlichkeit“ „definitiv gesiegt“ habe bis ungefähr 1200. „In der dritten Periode, welche mit dem Mittelalter zugleich endet“, sei „es das Prinzip der Einung, welches, während Lehnsstaat und -hierarchie haltlos zusammenbrechen, von unten auf in gekorenen Genossenschaften auf allen Gebieten die herrlichsten Organisationen schafft.“41 Diese herrlichsten Organisationen werden allerdings durch die Schaffung des Obrigkeitsstaates überschattet: „In der vierten Periode – bis 1806 – vollzieht sich der definitive Sieg der Landeshoheit und des von ihr mit Hilfe des aufgenommenen römischen Rechts entwickelten Princips der Obrigkeit.“ „Der obrigkeitliche Staatsgedenke und mit ihm der Polizei- und Bevormundungsstaat entwickelt sich“, und „der absolute Staat und die absolute Individualität werden die Devisen der Zeit.“42 An dieser Stelle führt Gierke seine Hoffnung für eine Synthese von Freiheit und Einheit ein: “Wir stehen erst am Beginn der fünften Periode, von welcher wir in den Gedanken des allgemeinen Staatsbürgerthums und des repräsentativen Staats die Versöhnung uralter Gegensätze erwarten. So kurz dieser Zeitraum bisher ist, schon vermögen wir zu sagen, dass in ihm das eigentlich bildnerische Princip die freie Association in ihrer modernen Gestaltung ist und sein wird.“43 Gierke führt die Unfreiheit des Obrigkeits- und absolutistischen Staates auf den römischen Einfluss 39 40 41 42 43

264

Ebd., 1. Ebd., 3,4. Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 10.

zurück und germanisiert die freie Assoziation. Die Realität schwankt zwischen den Polen der Genossenschaft und der Herrschaftspolen hin- und her: „Genossenschaft und Herrschaft kombiniren sich im Laufe der Zeiten; in der Genossenschaft tritt ein Herr an die Spitze, in der Herrschaft entwickelt sich eine Genossenschaft der Die‐ nenden.“44 Tönnies’ in sich widersprüchliche Geschichtsphilosophien sind anders. Als Exeget von Hobbes und Locke sieht er in seinen Aufsätzen von 1879 mit dem Umschlag von Commonwealth zur politic society eine progressive Zunahme an bürgerlichen Freiheiten voraus, als Kritiker des Handelsgeistes der modernen Gesellschaften sieht er 1887 mit dem Umschlag von Gemeinschaft in Gesellschaft die progressive Abnahme gefühlter Einheit voraus.45 Man sieht, dass die Wertbezüge von Tönnies denen von Gierkes Genossenschaftstheorie ähnlich und zeittypisch waren, aber zu ganz anderen Geschichtsdeutungen führten, als Tönnies in gewollter Anlehnung an Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik eine eingleisige Geschichtstheorie, während Gierkes Geschichtslektüre ein nuancierteres Hin- und Her zwischen den Polen von Herrschaft und Genossenschaft ist. Die ideologische Intention Gierkes liegt 1868 in der Legitimierung eines reprä‐ sentativen Staats, der die Prinzipien von Einheit und Freiheit aufrechterhält und „dem nach Selbstherrschaft ringenden und eine zeitgemäße Form dafür erschaffen‐ den Volksgeist entsprungen“ sei.46 1868 wollte er die repräsentative Demokratie als germanisch verteidigen; nach Bismarcks Machtübernahme traten diese Forderungen in den Hintergrund. Frankreich war für Gierke kein Beispiel, da das Land nur den Schatten der Teilnahme des Volks am Staat auf Papier warf.47 Lewis stellt zwei Ten‐ denzen in Gierkes Genossenschaftstheorie fest: als erste die spontane Einheit von Gruppen mit ihrer Autonomie innerhalb der Gesamtheit, die dem deutschen Denken im neunzehnten Jahrhundert zuwiderlief, und als zweite die organische Integration von Gruppen in eine Gesamtheit mit der Sonderstellung des souveränen Staates und der Monarchie, die sich in die deutsche Tradition eher einreihte.48 Für Lewis ist der Staat als organische Einheit Vorläufer sowohl von Carl Schmitts als Othmar Spanns Verständnis des Staates als überindividuelles Phänomen, dessen Autorität nicht von den Individuen abgeleitet wird.49 Im zweiten, 1873 veröffentlichten Band von Genossenschaftsrecht definiert Gier‐ ke den Genossenschaftsbegriff als „Gattungsbegriff für diejenigen deutschrechtli‐ chen Körperschaften, welche nicht Staat oder Gemeinde sind.“ Eine bei Tönnies zentrale Unterscheidung wird von Gierke vorweggenommen: die organisch „gewor‐

44 45 46 47 48 49

Ebd., S. 13. Bond, 2021. Gierke, 1868, S. 820. Ebd., S. 823. Lewis, 92. Ebd., 95.

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dene“ und die “gewillkürte“ Vereinigung50 - eine zentrale Unterscheidung in Ge‐ meinschaft und Gesellschaft. Ein von Gierke herangeführtes Beispiel einer geworde‐ nen Vereinigung ist die Stadt: „Die Stadt war ein nothwendiges Gemeinwesen, des‐ sen Dasein der freie Wille nicht zu bejahen oder zu verneinen, sondern als etwas Ge‐ gebenes hinzunehmen hatte.“51 Tönnies‘ Identifikation mit Gierke ist so stark, dass er ihn falsch zitiert und „genossenschaftlich“ mit der eigenen Präferenz „gemeinschaftlich“ austauscht. Bei Gierke heißt es: „In allen diesen Fällen indes erschien das, worin wir eine Verwen‐ dung der Allmende zur Bezahlung besonderer der Gemeinde als solcher geleiste‐ ten Dienste zu erblicken geneigt sind, dem Zeitbewusstsein gleichzeitig als eine Verwendung des Allen gemeinen Gutes für die unmittelbaren Bedürfnisse aller.“ Beim Zitat in Gemeinschaft und Gesellschaft, tauscht Tönnies „Bezahlung“ mit „Be‐ jahung“ aus, und „dem Zeitbewusstsein gleichzeitig“ mit „der gemeinschaftlichen Denkungsart zugleich“ aus. Tönnies setzt mit seiner eigenen Terminologie fort: „Sie sind Organen ihres Leibes vergleichbar. Die Verfassung des Zusammenlebens ist ökonomisch, d. h. gemeinschaftlich (kommunistisch).“52 Im Gegensatz zu konserva‐ tiven Preußen Gierke ist der junge Tönnies ein kommunistischer Sympathisant. Der dritte, 1881 veröffentlichte Band von Das deutsche Genossenschaftsrecht wird von Tönnies nicht erwähnt.53 Der vierte Band vom Genossenschaftsrecht er‐ scheint erschien 1913; hier sind die Bestrebungen nach Einheit, Recht und Freiheit nicht mehr spürbar; sehnsuchtsvoll kehrt Gierke zurück zu seinem Kampf, das ger‐ manische Denken im künftigen deutschen Privatrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs zur Geltung kommen zu lassen.54 Der Nationalismus scheint den Liberalismus über‐ schattet zu haben.

4. Die Gemeinschaft-Gesellschaftsdichotomie bei Gierke Wie Tönnies 1887 feststellte, waren die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft in “synonymischen Gebrauche“ begründet55; sein Werk soll der Begriffsdichotomie eine neue Bestimmung geben. Bemerkenswert veröffentlichte Gierke 1887 ein ande‐ res, kaum bemerktes Werk, in welchem die Gemeinschaft-Gesellschaftsdichotomie eine überragende Rolle spielte: Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Recht‐ sprechung. „Erst nachdem der Druck schon weit gediehen war, stellte sich der ganze Umfang der in Angriff genommenen Aufgabe heraus. Insbesondere war es die 50 51 52 53 54 55

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Ebd., 830. Gierke 1868, S. 865, 866. Gierke, 1873, S. 239. Vgl. Tönnies 2019, S. 161 ff. Gierke, 1881. Gierke, 1913, vii. Tönnies, S. 124.

allmählich erkannte Nothwendigkeit, die Darstellung des Körperschaftsrechts durch die Einschiebung einer ausführlichen Darstellung des Rechtes der über Kommunion und Societät hinausschreitenden Gemeinschaften und namentlich der ehelichen Gü‐ tergemeinschaft nebst ihren Fortsetzungen und der Handelsgesellschaft in all ihren Verzweigungen zu ergänzen, wodurch der ursprüngliche Plan eine, wie der Augen‐ schein lehrt, sehr beträchtliche Erweiterung erfuhr.“56 Die Ergänzung seines Genos‐ senschaftsrecht sei „eine über das römische Gedankensystem hinausschreitende mo‐ derne Gemeinschafts- und Gesellschaftstheorie.“57 Die eheliche Gütergemeinschaft wird mit dem Lateinischen condominium und Handelsgesellschaften werden mit dem Lateinischen societas übersetzt.58 Wie andere „Rechtsgemeinschaften“ entsteht die Handelsgesellschaft durch Vertrag.59 „Im Gegensatz zu den familienrechtliche Gemeinschaften handelt es sich hier um schlechthin gewillkürte Gemeinschaften, deren Bestand auf der schöpferischen Kraft des freien Willens beruht.“60 Während Gierke nicht darauf abzielte, eine Begriffsdichotomie zwischen nicht gekürten und gekürten Verbindungen in den Mittepunkt seines Denkens zu rücken, geschweige denn die nicht gewählten als die wesentlicher hinzustellen, wie dies bei Tönnies der Fall ist, war der Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft in Gier‐ kes Werk von 1887 zentral. Das Werk scheint Tönnies unbekannt gewesen zu sein. Dabei ist die Idee einer „gekürten“ Verbindung in Tönnies’ Gemeinschaft und Gesellschaft, bestimmend für die psychologische Grundlage (“Willkür” in der Originalausgabe 1887 und ab 1912 „Kürwille“) der modernen Gesellschaft.61 Die Dichotomie wurde aus der juristischen in die soziologische Theorie übergesetzt. Aber schließlich zog Tönnies‘ Denken weitere Kreisen.

5. Genossenschaft, Gemeinschaft und die nationalistische Ideologie wirtschaftlicher und sozialer Solidarität in der deutschen Rechtstheorie des neunzehnten Jahrhunderts Tilman Repgens Studie über die soziale Aufgabe des Privatrechts, insbesondere sein Kapitel über den Gemeinschaftsgedanken, zeigt wie die Idee der Gemeinschaft mit Gierkes Worten als „Tropfen sozialistischen Öls“ bis in das Privatrecht einwirkte; Gierke sah den Menschen in seinen gemeinschaftlichen Beziehungen.62 Dieser Be‐

56 57 58 59 60 61 62

Gierke 1887, S. v. Ebd., 10. Ebd., 11. Ebd., 436. Ebd., 468. Tönnies 2019, S. 249. Gierke zitiert nach Repgen 2001. Vor allem das Kapitel Der Gemeinschaftsgedanke 51-67, S. 63.

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fund wird von Sibylle Hofers Arbeit über privatrechtliche Auseinandersetzungen im neunzehnten Jahrhundert bestätigt. Während die Vertragsfreiheit der Mittepunkt der liberalen Lehre war, deutete eine Erneuerung im Rechtsdenken am Ende des neunzehnten Jahrhunderts auf die Notwendigkeit von überindividuellen Berücksich‐ tigungen. Für Hofer stand das neue rechtswissenschaftliche Interesse an überindi‐ viduellen Rechtsgrundlagen in einem Verhältnis zum zeitgenössischen nationalisti‐ schen Diskurs und zur Distanznahme zum römischen Recht. Während des Vormärz hatten Beseler und Mittermaier für die Erneuerung der alten germanischen, vom Absolutismus überschatteten Freiheiten plädiert. Der Absolutismus wurde zusehends als französischen Einfluss denunziert. Die Schlichtheit des Manneswortes als Grundlage germanischen Rechtes wur‐ de dem Formalismus des römischen Rechts entgegengestellt. An einer Juristenver‐ sammlung in Lübeck 1845 hatte der Jurist Christ erklärt, dass „der Deutsche mit seiner Gemüthlichkeit und seiner Innerlichkeit im Familienleben und mit seinen Begriffen von Frauenehre überhaupt zu einer ganz andern Gestaltung seines Rechtes kommen, als der Römer“ musste.63 Der in Deutschland lebende schweizerische Jurist Johann Caspar Bluntschli zog einen Kontrast zwischen der individuellen Freiheit des germanischen und der absoluten Macht des römischen Rechts.64 1848 meinte Theodor Mommsen, dass das römische Recht „dem Prinzip der Solidarität der Bürger unter einander, nicht aber dem der Freiheit des Individuums widerstrei‐ tet.“65 Ein Amalgam wurde zwischen „Freiheit“ und „Autonomie“ der Gemeinden oder der „Gliedschaften“ oder auf der anderen Seite des deutschen Adels oder der Genossenschaften geschaffen.66 Unterschiede zwischen dem Geist des römischen und des germanischen Rechts bildeten das Kernargument von C.A. Schmidts Der prinzipielle Unterschied zwischen römischem und germanischem Recht von 1853.67 Hegel hatte die Entwicklung des römischen Rechts beschrieben: „Die Entwicklung besteht in der Reinigung der Innerlichkeit zur abstrakten Persönlichkeit, welche im Privateigentum sich die Realität gibt, und die spröden Personen können dann nur durch despotische Gewalt zusammengehalten werden.“ In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte meinte Hegel, die germanischen Völker seien hingegen Träger des christlichen Prinzips.68 In den 1860er und 1870er Jahren hatten unterschiedliche Germanisten gegen das römische Recht polemisiert. Sie bezogen sich auf Rodbertus’ Zur Geschichte der agrarischen Entwicklung Roms unter den Kaisern oder die Adscriptitier, Inquilien und Colon von 1864. Diese rechtliche Debatte fiel mit einer wirtschaftlichen Debatte 63 64 65 66 67 68

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Hofer, 2001, 16. Ebd., 21. Ebd., 22. Ebd., 24. Ebd., 49. Zitiert bei Hofer, 49.

zwischen der Freihandelsschule liberaler Wirtschaftswissenschaftler im Kongress deutscher Volkswirte und den Kathedersozialisten im Verein für Sozialpolitik zusam‐ men, dessen Wortführer Adolf Wagner einen wichtigen Einfluss auf Tönnies ausübte und dem sich Tönnies anschloss.69 Hofer verweist auf die vier führenden Reformfra‐ gen der damaligen Politik: 1) die Freiheit oder die Gebundenheit großer Landgüter gegenüber Landarbeiter; 2) wirtschaftliche Freiheit gegenüber autoritäre Staatsinter‐ ventionismus in der Industrie; 3) Freihandel oder protektionistische Handelstarife; 4) Selbsthilfe oder Staatshilfe in den sozialen Fragen, welche die Arbeiter betrafen.70 In all diesen Fragen stand Tönnies auf der Seite des Vereins, und der konservative Gierke teilte dessen Sorgen. Die konservative und autoritäre Reaktion auf eine Wirtschaftskrise im Jahre 1878 verursacht allgemein eine Abwendung vom Manchester-Liberalismus und eine Hinwendung zum Sozialstaat. In der Rechtsdebatte wurde das römische Recht mit angelsächsischem Wirtschaftsliberalismus in Verhältnis gesetzt; die Germanisten sprachen sich gegen beide aus. Sogar der liberale Verfechter des Utilitarismus Ru‐ dolf von Jhering relativierte das Prinzip der individuellen Freiheit im Recht, wenn es praktischen Bedürfnissen nicht entsprach.71 Gierke, ein Konservativer, war der Auf‐ fassung, dass eine “wirtschaftliche Personalgenossenschaft“ die Arbeiterklasse zur Autonomie dadurch verhelfen würde,72 dass der Arbeiter Subjekt in der Wirtschafts‐ organisation würde73, während der moderne Unternehmer für Gierke eine ähnliche Macht hatte wie ein über Sklaven verfügender römischer pater familias.74 Die von Gierke und aus einer ganz anderen politischen Richtung kommenden Ferdinand Las‐ salle befürworteten „wirtschaftlichen Associationen“, die später als „Genossenschaf‐ ten“ bezeichnet wurden, sollen später eine politische Sache von Tönnies werden, der sich der „Genossenschaftsbewegung“ anschloss. Während Gierke gegenüber Staats‐ interventionen skeptisch war, hatte er nichts gegen „mitwirkende Staatshilfe“.75 Zu den Erben Gierkes werden zwei Juristen gerechnet, welche den Wirtschaftsliberalis‐ mus einschränkten: Hugo Preuss, der für den Satz „Eigentum verpflichtet“ bekannt wurde, und der Hegelianer Julius Binder, der Freiheiten mit Pflichten verband. Diese Debatten waren insbesondere bei den Verfechtern germanischen Rechtes unter dem Vorzeichen nationaler Rivalitäten beliebt. Gierke benützte den Ausdruck deutsch-frei als Synonym für genossenschaftlich. In Die soziale Aufgabe des Privat‐ rechts erklärte er, dass das römische Privatrecht individualistisch und das germani‐

69 70 71 72 73 74 75

Bond, 2011 23 – 46. Ebd., 78. Jhering, 551. Gierke, 1868, 1036. Gierke, 1868, S. 788, 1037. Hofer, S. 118 ff. Ebd., S. 121.

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sche Recht „sozial“ war.76 Angesicht des überwuchernden Nationalismus im Diskurs über „soziales Recht“, den Suzanne Pfeiffer-Munz feststellt77, gehört zu den Eigen‐ tümlichkeiten der Sozial- und Rechtstheorie des jungen Tönnies das Ausbleiben von Deutschtümelei – einem Bestehen auf deutsche Überlegenheit, die für seine Vorgän‐ ger und Zeitgenossen so typisch war (und in der Zeit um den ersten Weltkrieg auch Tönnies‘ Polemiken charakterisierte). Als Sohn von Herzogtum Schleswig-Holstein, in welchem die Bevölkerung zur preußischen Hegemonie eine ähnlich distanzierte Haltung hatten, wie zur früheren dänischen Hegemonie hielt Tönnies – trotz seines Gebrauchs des Terminus „Volksgemeinschaft“ in Gemeinschaft und Gesellschaft – die Nation nicht für den eigentlichen Rahmen von Gemeinschaft. Seine politische Sozialisation führte ihn dazu, Freiheit und die „soziale“ Frage eher für ergänzend als entgegengestellt zu halten. Doch besteht die Abwesenheit nationalistischer Polemik in der ersten Ausgabe von Gemeinschaft und Gesellschaft in der sozialphilosophi‐ schen Intention, eine unparteiische, für alle Sozialkörper relevante und universal gültige Diagnostik und Prognostik aufzustellen. Gierke hatte Vorläufer in der Rechtsphilosophie. Beeinflusst wurde er durch 1) Gustav Hugo (1764-1844), der zwischen eine kritisch sein wollende und nach Selbstständigkeit strebende Rechtsphilosophie und dem sich mit dem Status quo befriedigenden positiven Recht unterschied78, 2) Savigny, der die Rechtsphilosophie mit „Naturphilosophie“ verband, und 3) den zum Protestantismus bekehrten Juden Friedrich Stahl, für den das Recht auf christlicher Offenbarung und niemals auf rationalistischen Doktrinen des Naturrechts fundieren durften.79 Das Naturrecht schien im Kielwasser der Historischen Schule vernichtet worden zu sein, deren Lehren theologisch untermauert wurden, um sich der Zustimmung der Mächtigen zu sichern.80 Die Restauration der Staatswissenschaften (1816–1834), ein Werk des Schweizers Karl Ludwig von Haller, mokierte sich über die für das Naturrecht grundlegende Annahme der Gleichheit aller Menschen81 und wollte „dem Natur‐ recht, und hier vor allem der rationalen Staatskonstruktion (der Vertragstheorien) den Garaus machen“, was der Historischen Schule „wenigstens in Deutschland“ gelang82. In Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft von 1814 argumentierte Friedrich Carl von Savigny, dass die Aufgabe des Gesetzgebers nicht darin bestand, das Recht rationalistisch zu untermauern, sondern es lediglich als Gewohnheitsrecht aus dem Volksgeist hervorgehen zu lassen. Doch gab es deutschsprachige Befürworter des Naturrechts: die Rechtsphilosophie von Heinrich 76 77 78 79 80 81 82

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Ebd., S. 143. Pfeiffer-Munz. Hugo, S. 1. Stahl, 1830-56. Tönnies 2019, S. 41-44. Haller, 1964. Tönnies, 2019, S. 42.

Ahrens (1808-1874) versuchte ein neues, auf sozialen Bedürfnissen statt der indivi‐ dualistischen Rationalität der Aufklärung zu gründen.83 Hegels Verdienst bestand für Tönnies in der Erkenntnis, dass die Sozialstrukturen der Moderne als Produkte des Geistes natürlich waren, und nicht lediglich Irrtümer, wie sie die Romantik und die Historische Schule beurteilt hatten. In Tönnies‘ Landschaft der Rechtsphiloso‐ phie ragten an besonderer Stelle das Denken von Gierke und Rudolf von Jhering hinein, sowie der Engländer Maine, der ein historisches Gesetz in der Entwicklung von Verhältnissen des Status zu Verhältnissen des Vertrags zu erblicken meinte. In seiner Beschreibung der Gemeinwirtschaft ist Gierkes Genossenschaftsrecht eine Quelle84, in seinen „Soziologischen Gründen des Naturrechts“ im Dritten Buch von Gemeinschaft und Gesellschaft ist die Auseinandersetzung mit Gierke implizit85, die Auseinandersetzung mit Savignys zweimal zitiertem Das Obligationsrecht als Teil des heutigen römischen Rechts86 explizit87, die Bedeutung Maines ebenfalls explizit88, wie auch die Bedeutung Jherings89. Tönnies meint, dass Jherings Versuch, alles Recht zweckrational aus „Zwecken“ abzuleiten, eine „Erneuerung des Natur‐ rechts“ darstellte, wobei Tönnies im unveröffentlichten Manuskript „Die Erneuerung des Naturrechts“ eine ganz andere „Erneuerung des Naturrechts“ in den politischen Anforderungen der Arbeiter nach Gerechtigkeit sieht. Er erklärt, die Wissenschaft müsste sich mit der Arbeiterklasse einigen, um die Grundlagen ihrer positiven Herrschaft herbeizuführen. Wie Locke der bürgerlichen Revolution und Herrschaft vorausging, meinte Tönnies, dass ein gemeinschaftliches Naturrecht den Weg in die Herrschaft der Arbeiterklasse vorbereiten würde. Tönnies wurde von den Rechtswissenschaften rezipiert – etwa durch Georg Jellinek (1851-1911) in seiner Staatslehre von 190090, und Gustav Radbruch (1878-1949), der in seiner liberalen Einführung in die Rechtswissenschaft schreibt, dass Tönnies aufgrund seiner überpersönlichen Deutung des sozialen Lebens die Möglichkeit schafft, unsere höchste Aufgabe nicht in der „Volksgemeinschaft“, son‐ dern in der „Werkgemeinschaft“ zu sehen. Damit spricht er einem Gemeinschafts‐ verständnis das Wort, in welchem mit dem ebenfalls Liberalen Parsons sprechend „achieved“ Gemeinschaft höher bewertet wird als „ascribed“ Gemeinschaft. Für Radbruch war Gierke der Vertreter der organischen Staatstheorie, für welche die Gesamtheit nicht für ihre Mitglieder besteht, sondern die Mitglieder für die Gesamt‐ heit – eine Staatstheorie, in die sich Tönnies‘ Gemeinschaftstheorie einreiht.91 Tön‐ 83 84 85 86 87 88 89 90 91

Ahrens, 1968. Tönnies 2019, S. 162. Tönnies 2019, S. 325 ff. Savigny 1851, I, 9. Tönnies 2019, S. 341, 362. Ebd., S. 322, 342 f. Ebd., S. 348. Jellinek, 1966, S. 69, 75, 84, 207, 210. Radbruch, 1964.

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nies‘ Projekt bestand darin, gleichzeitig die individualistische und die organische Sichtweise zur Geltung kommen zu lassen. Während die Historische Schule dem Naturrecht mit seinen Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft ein Ende set‐ zen wollte, wurde die analytische Rechtstheorie von Bentham und Austin – also von den Utilitaristen – fortgesetzt. Wortführer des Utilitarismus in den zeitgenös‐ sischen deutschsprachigen Rechtswissenschaften war Rudolf von Jhering, der in Der Zweck im Recht von 1877 zu zeigen versuchte, dass es im Recht tatsächlich Universalien gab und dass alle Rechtssätze auf Zwecke zurückzuführen waren.92 Der rationalistische Ansatz war für Tönnies Grund genug, Jherings Theorie als „Erneuerung des Naturrechts“ anzusehen. Nur sollte der Rationalismus nicht in den Dienst des liberalen individualistischen, sondern in den Dienst eines kollektivis‐ tischen gemeinschaftlichen, von Adolf Wagner inspirierten Naturrechts gestellt wer‐ den. Seine Verwerfung der Zweckrationalität aller Rechtssätze93 veranlasste Tönnies zur Erklärung, dass seine eigene Theorie in „einem gewissen negativen Verhältnis“ zu Jhering entstanden sei.94 Jhering geht so weit in seinem Utilitarismus, dass er den Egoismus verherrlicht und die Vorliebe für die Gastwirtschaft mit pekuniärer Gegenleistung über Gastfreundschaft für natürlich erklärt.95 Tönnies konnte sich mit Jhering somit nicht anfreunden. Das Naturrecht ist für Tönnies ein Ausdruck der Hoffnung auf einen rationalen Umgang mit dem Recht – aber ein rationales Rechts‐ verständnis braucht nicht in eine Parteinahme für Gesellschaft über Gemeinschaft, für Individualismus über Gemeinschaftlichkeit auszuarten. Tönnies vertritt implizite den Standpunkt, dass das germanische Recht gemein‐ schaftlicher ist, das römische Recht gesellschaftlich: das Aufkommen des Rationa‐ lismus im kodifizierten Recht ging mit dem moralischen Niedergang Roms einher; aber nur weniger schienen die Notwendigkeit dieser parallelen Entwicklungen als „Physiologie and Pathologie“ des sozialen Lebens wahrzunehmen.96 Das gemein‐ schaftliche Naturrecht ist von Gierke inspiriert – im Familienrecht transzendiert die Gemeinschaft die vereinzelten Willen der Mitglieder – während das gesellschaftli‐ che Naturrecht utilitaristische Voraussetzungen hat, da die künstliche Person der Ge‐ sellschaft eines spezifischen Zwecks willen ins Leben gerufen wird. „So ist, in allge‐ meiner Fassung, Gemeinschaft das Subjekt verbundener Wesenwillen, Gesellschaft das Subjekt verbundener Kürwillen.“97 Konsequenterweise unterscheidet Tönnies zwischen einem Rechtssystem, in welchem sich Menschen wie natürliche Mitglieder einer Einheit verhalten, und einem anderen Rechtssystem, in welchem sie sich wie völlig unabhängige Individuen willkürlich verhalten. In dieser Unterscheidung erfin‐ 92 93 94 95 96 97

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Jhering, 1877, Band 1, S. vi, vii. Jhering 1883, 4. Tönnies, 1924, S. 13. Jhering 1877, 125 f. Tönnies, 2019, S. 376. Ebd., S. 335.

det Tönnies neue und originelle Rechtsverständnisse tradierter Begriffe. „Besitz“ wird durch den „Wesenwillen“ des Individuums gewollt, „Vermögen“ gehört dem Individuum nur an, um weitere, ferner entlegene Zwecke zu erreichen.98

6. Auswüchse des gemeinschaftlichen Naturrechts im Nationalsozialismus Zu den Rechtswissenschaftlern, die Tönnies‘ Gemeinschaft-Gesellschaftsdichotomie als Ausgang für das eigene Denken gehörte Ernst Wolgast, dessen Schüler HansHelmut Dietze mit dem Thema Naturrecht in der Gegenwart 1936 habilitierte. Da Tönnies ein Regimegegner des Nazismus war, wurde er von Dietze ignoriert, der statt Tönnies Wolgast als den Urheber der Dichotomie anpreist. Er schreibt, „wer ein soziales Verhältnis unter der Frage: Gemeinschaft oder Gesellschaft? betrachtet, dem ‚fällt es wie Schuppen von den Augen‘, wie mir oft gesagt wurde. Derart natürlich und also anschaulich ist das Theorem. Weiterhin aber danke ich meinen S.A.-Kameraden, mit denen gemeinsam ich im Sturmdienst das Wesensgesetz einer wichtigen der neuen Gemeinschaftsordnungen kennen lernte. Aus dem Erlebnis der natürlichen und ungeschriebenen Ordnung unseres Sturmes vor allem schöpfte ich die Erkenntnis des heutigen Naturrechts überhaupt, in dem sich jede Gemein‐ schaft ursprünglich verfaßt weiß.“99 Im gleichen Werk schreibt Dietze, dass das Naturgesetz der deutschen Gemeinschaft die Ehe zwischen Deutschen und Juden ausschloss.100 In seiner Völkisch-politischen Anthropologie, fragte der Nazi-Ideologe und Freund von Alfred Rosenberg Ernst Krieck, ob die Erneuerung der germani‐ schen Rasse angemessener germanischer Rechtsprinzipien nicht auch eine Rückkehr zum Naturrecht bedeutete.101 Die Manipulierung der Naturrechtsidee durch die Na‐ zis hat den französischen Juristen Olivier Jouanjan zur Feststellung geleitet, dass die Überlegenheit des Naturrechts über dem positiven Recht eine Rechtsunsicherheit hervorrief, die sich bald in eine physische Unsicherheit ausmündete. So wurde im Nationalsozialismus die Todesstrafe angewandt, als argumentiert wurde, dass die natürliche (rassische) Grundlage des Rechtes unzureichend zur Geltung kam.102 Die Wahlverwandtschaft mit Savignys Warnung vor dem rationalen individualisti‐ schen Naturrecht liegt auf der Hand. Fabian Wittreck folgerte, dass man weder dem (gemeinschaftlichen) Naturrecht, noch dem positiven Recht die Schuld für das verbrecherische Recht des Nationalsozialismus zuweisen durfte, da die Nazijustiz

98 99 100 101 102

Ebd., S. 338. Dietze, 1936, S. XII, X. Ebd., 270. Krieck, 1937, S. 42. Jouanjan, ohne Datum.

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sich nicht nur durch die Anwendung wahnsinniger Gesetze, sondern auch durch eine wahnsinnige Rechtslosigkeit auszeichnete.103

7. Schluss Tönnies‘ Gründungswerk der modernen deutschen Soziologie war Gierkes Ge‐ schichte organisch entstandenen Rechtes verpflichtet und entstand aus denselben begrifflichen Spannungen und politischen Ereignissen, die Gierkes Denken nährten. Tönnies vergaß seine Verbundenheit gegenüber Gierke bis zu seinem Lebensende nicht. In seiner Einführung in die Soziologie von 1931 bezieht sich Tönnies noch einmal auf Gierke, diesmal auf sein Recht und Sittlichkeit104, um die ethische „freie Berichtigung“ des Rechts zu erklären.105 Tönnies‘ überragende Wirkung in der Ideengeschichte kann auf seine schlichtere Geschichtsphilosophie und identitäts‐ stiftende Funktion in den modernen Sozialwissenschaften zurückgeführt werden. Schweitzers Folgerung, Tönnies habe den Weg ins Recht nicht gewagt, nimmt sei‐ ne Aufnahme rechtsphilosophischer Überlegungen und seinen Einfluss auf spätere Rechtswissenschaftler nicht zur Kenntnis. Er wagte den Weg in eine normative, rechtsbezogene Sozialphilosophie, auf die sich spätere Juristen im Guten wie im Schlechten bezogen. Gierkes optimistischerer Ehrgeiz, in einer liberalen sozialen Verfassungsmonarchie106 eine höhere Synthese von Einheit, Freiheit und Zusam‐ menschluss im Begriff der Genossenschaft für die Zukunft zu finden, mag gerade das gewesen sein, was Tönnies als „kindlich“ erschien. Beide lehnten am Ende die Hoffnung der Marxisten ab, die Gesellschaft könnte auf Druck der Unterdrückten in eine große Gemeinschaft umschlagen. Nach Jouin hielt Gierke es für notwendig, dem Individualismus der Gesellschaft durch die staatliche Unterstützung von Ge‐ meinschaften entgegenzuwirken.107 Für Gurvitch108 war Gierke der Gründer des So‐ zialrechts, eine Entwicklung, die Tönnies prinzipiell bejahte109. Gierkes Begründung des Staats in seiner nach Tönnies‘ Vorrede zur zweiten Auflage seines Jugendwer‐ kes „schönen Rede über ‚das Wesen der menschlichen Verbände‘“110 – „die freie Willenstat, die eine Verbandsperson ins Leben ruft“ sei „kein Vertrag, sondern ein schöpferischer Gesamtakt“ – entspricht Tönnies‘ Anschauung über Gemeinschaften im Gegensatz zu Gesellschaften. Ferner schrieb Gierke hier, „Auch Geburt und Tod 103 104 105 106 107 108 109 110

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Wittreck, 2008. Gierke 1963b. Tönnies 1931, S. 233. Jouin, S. 36 sieht die Sehnsucht nach einer Synthese aus Liberalismus und Organizismus als merkwürdig an; in einer sehr anderen Form finden wir sie auch bei Tönnies an. Jouin, S. 41. Gurvitch 1932. Bond 2006. Tönnies 2019, S. 49.

der gesellschaftlichen Lebewesen sind für das Recht zugleich Rechtsvorgänge, die wiederum mit individualrechtlichen Begriffen nicht konstruiert werden können und daher eine neue Welt sozialrechtlicher Begriffe auslösen“.111 Tönnies‘ prinzipielle, u.a. durch Gierke inspirierte Unterscheidung zwischen kollektiven und individua‐ listischen Rechtsansätzen kann ungeachtet der Irrwege vergangenen gemeinschaftli‐ chen Naturrechts für künftige Überlegungen unter dem Begriff der „commons“ heute noch wegweisend sind – dass manche gemeinschaftlichen Ressourcen zum Wohle aller geschützt und verwaltet werden müssen.112

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Céline Jouin Stiftung, Association, Institution. Gierke und Saleilles

„The struggle over the ‘contract of association’ which takes place in France, those woes of the ‘congrégations’ of which all have heard, invoked foreign learning across the border, and now we may read in lucid French of the various German theories.” F. W. Maitland1

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es eine Rezeption Gierkes in Frank‐ reich, die heute aber weitgehend vergessen ist. Der deutsche Jurist hatte einen nennenswerten Einfluss auf einige wichtige französische Juristen – Léon Michoud, Raymond Saleilles, Maurice Hauriou – und dann, ab den 1920er Jahren, auf den französisch schreibenden Juristen und Soziologen russischer Abstammung Georges Gurvitch. Drei wichtige Bücher in der französischen Theorie des Rechts stützen sich auf die Ideen Gierkes: La théorie de la personnalité morale von Michoud (1899), De la personnalité juridique von Saleilles (1910) und L’idée du droit social von Gurvitch (1932). Es ist eigentlich kein Zufall, dass Gierke in Frankreich in Vergessenheit geraten ist, denn die nachrevolutionäre, juristische Kultur in Frankreich stand den Ideen Gierkes generell feindlich gegenüber. Im Unterschied zu Maitland, der sich auf das Genossenschaftsrecht bezog, um den angelsächsischen Juristen ihre eigene Praxis zu erklären, verwendeten Michoud, Saleilles, Hauriou und Gurvitch die Theorien des Juristen therapeutisch, um das französische Recht von seinen Abstraktionen, seinem Individualismus und seinem Jakobinismus zu kurieren – und um die Herrschaft des Zivilrechts zu brechen, das die französiche Rechtswissenschaft seit 1804 dominier‐ te.2 Die historischen Untersuchungen Saleilles' zur piae causae aus der Zeit des Justi‐ nian und die Institutionenlehre von Hauriou, ohne die man die große europäische Debatte über den Institutionalismus nicht verstehen kann, gehen von Thesen Gier‐ kes aus. Die italienischen Rechtshistoriker sind sich dieses Zusammenhangs besser bewusst als ihre französischen Kollegen.3 Diese begnügen sich zumeist damit, den 1 Maitland 2003, S. 68. 2 In einem Brief an Eugen Huber spricht Saleilles der deutschen juristischen Kultur für Frankreich eine „orthopädische“ Funktion zu. Zitiert nach Sabbioneti 2010, S. 288. 3 Siehe Orestano 1978, S. 243; Conte 2018, S. 123; Sabbioneti 2010. Die Studie von Caroula Ar‐ gyriadis-Kervégan zu Hauriou und Gierke ist meines Wissens im französischen Sprachraum die einzige, die sich dieser Frage widmet. Siehe Argyriadis-Kervégan 2008.

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Einfluss von Jhering und Jellinek zu erwähnen, wenn sie die Rolle der deutschen Rechtswissenschaft im Übergang vom Zivilrecht zum Sozialrecht in der III. Repu‐ blik behandeln. Gierke war aber dennoch hilfreich dafür, den Geist Savignys aus der Zivilrechtslehre in Frankreich auszutreiben, von welchem diese während des gesamten 19. Jahrhunderts beherrscht wurde, sowie dem soziologischen Defizit in der Rechstwissenschaft zu begegnen. Er stellte für Michoud, Saleilles, Hauriou und Gurvitch bekanntlich einen der zentralen Ansätze dar, um die Existenz subjektiver Rechte gegen Léon Duguit und gegen die positivistische Soziologie von Auguste Comte zu behaupten. Das Genossenschaftsrecht von Gierke diente dazu, die Idee des subjektiven Rechts gegen die positivistische Soziologie und gegen Duguit wieder zu etablieren, ohne von einer Öffnung des Rechts auf die Soziologie abzusehen. Die vorliegende Studie konzentriert sich auf eine Darstellung der Aufnahme des Denkens von Gierke bei Raymond Saleilles (1855-1912). Es wird gezeigt, wie er über seine Bezüge auf die Genossenschaftschaftstheorie und über Analysen, die ihm Gierke in einem berühmten Brief schickte, das deutsche Modell der Stiftung ins französische Recht einzuführen versucht.4 Die privatrechtliche Stiftung war für Saleilles ein Symbol für die Wiederherstellung sozialer Zusammenhänge und für die Überwindung der trockenen Abstraktionen, die aus dem Naturrecht und den poli‐ tischen Ideen der Revolution stammten. In seinem großen Buch De la personnalité juridique (1910) ging er aber über diese reformistischen Bemühungen noch hinaus. Er erhob den Begriff der Stiftung (fondation) zum Paradigma und versuchte, von ihm aus das gesamte Recht neu zu konzipieren. Man findet bei ihm eine ganze Theorie der Stiftung, die ihm unter anderem dazu dient, den Staat neu zu denken. Diese steht in einem engen Verhältnis zur Institutionenlehre, die Hauriou im selben Zeitraum entwickelt hat. Über diese etwas in Vergessenheit geratene Phase der Rechtsgeschichte lässt sich auch nachvollziehen, wie Saleilles, der ein katholischer Jurist, aber auch ein Republikaner war, das Sozialrecht auffasste. Die Originalität Gierkes bestand darin, seine Kritik des BGB nicht auf die Wahrnehmung einer Ungleichheit zwischen den Klassen, sondern auf eine allgemeine Konzeption des Rechts und seiner sozialen Dimension zu stützen.5 Wie Gierke verstand Saleilles das Sozialrecht nicht als einen Spezialbereich des Rechts, sondern als einen Zusammenhang von metajuristischen Thesen, von denen aus man das Recht, das Privatrecht wie das öffentliche Recht, anders denken konnte.6 Wie Gierke wollte er die Leerstelle zwischen Individuum und Staat füllen sowie eine Alternative zum Sozialismus anbieten. Gurvitch zeigte 1932, dass Saleilles und Hauriou in Frankreich zu den Begründern der Idee des

4 Gierke 1907. 5 Vgl. dazu auch den Beitrag von Repgen in diesem Band. 6 Gierke 1889 und Gierke 1902.

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Sozialrechts gehören.7 Aber ebensowenig wie Gierke bilden Saleilles oder Hauriou eine Theorie der sozialen Rechte aus, auch wenn Gurvitch versucht hat, beide auf diese Seite zu ziehen. Die Idee sozialer Rechte, die als eine neue Kategorie der Grundrechte aufgefasst werden und das Recht auf eine gerechtere Verteilung des Wohlstands begründen, trat in der französischen Rechtslehre erst in den 1930er Jah‐ ren unter dem Einfluss von Gurvitch auf. Die „föderale“ Interpretation der Stiftung, die Saleilles anbietet, zeigt, dass es ihm aber nicht im engeren Sinn um eine Erklä‐ rung der sozialen Rechte (Déclaration des droits sociaux) geht.8

1. Vom Genossenschaftsrecht zum vergleichenden Recht. Saleilles Korrekturen Raymond Saleilles ist wahrscheinlich der größte „Gierkianer“ unter den französi‐ schen Juristen. Er hat sich sein ganzes Leben lang vom Werk Gierkes inspirieren las‐ sen, dem er eine uneingeschränkte Bewunderung entgegenbrachte. Wie sein Berliner Kollege, mit dem er im Briefwechsel stand, überarbeitete er das Sozialrecht vom Privatrecht aus, vor allem durch seine Stellungnahmen in Sachen der zivilrechtlichen Haftpflicht und bei Arbeitsunfällen, Fragen, die in Frankreich die Geburtsstunde des Sozialrechts markieren.9 Saleilles war davon überzeugt, dass Gierke Beseler hinter sich gelassen hatte, indem er die Theorie der Genossenschaft auf das öffentliche Recht anwandte.10 Er hatte sich zum Niveau von Rousseau aufgeschwungen.11 Das Genossenschaftsrecht war das Antidot zum Contrat social: als das Modell eines Gemeinwesens, das die Vielfalt der individuellen Rechte nicht vollständig aufhebt, erschien ihm die Genos‐ senschaft als das genaue Gegenteil der völligen Entfremdung („aliénation totale“) bei Rousseau.12 Saleilles war einer der Begründer des vergleichenden Rechts in Frankreich. Gier‐ ke spielte eine entscheidende Rolle in der Herausbildung einer national kodierten Rechtswissenschaft, so wie Savigny Anfang des 19. Jahrhunderts, Maitland in Eng‐ land oder Michelet in Frankreich. Saleilles begann damit, die Analysen Gierkes von ihren inhärenten, nationalistischen Mythen zu befreien. Er war vom Tiefgang der Untersuchungen Gierkes in den Bann geschlagen und er entnahm ihnen so man‐ ches Konzept und so manche Analyse. Aber zum Teil dekonstruierte er die „große

7 8 9 10 11 12

Gurvitch 1932. Gurvitch 2009. Siehe Saleilles 1897. Saleilles 1910, S. 200. Saleilles 1910, S. 198. Saleilles übersetzte „Genossenschaft“ mit „collectivité“ oder „compagnie“, aber er wusste, dass der Ausdruck nicht vollständig ins Französische übersetzbar ist. Saleilles 1910, S. 161; S. 184.

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Erzählung“, die das Genossenschaftsrecht inszenierte, auch. Die Vorstellung eines jahrhundertealten Konflikts zwischen dem Prinzip der Genossenschaft und dem Prinzip der Herrschaft, zwischen den gegensätzlichen Traditionen des römischen Rechts und des germanischen Rechts, erschien ihm nur unter Vorbehalt annehmbar zu sein. Ebenso erschien ihm die These Gierkes, dass das germanische Recht aus Prinzip ein soziales Recht sei, unhaltbar. Saleilles nuanciert die Vorstellung Gierkes, dass das römische Recht die Auto‐ nomie der Verbände aufgrund einer vertikalen Machtkonzeption beschränkt habe. Er unterstreicht gegenüber seinem deutschen Kollegen, dass sich der Corpus juris civilis tatsächlich oft an die moderne Idee von der „Realität der Verbandsperson“ annähert.13 Klarer als Gierke unterscheidet er das römische Recht von der Pandektis‐ tik des 19. Jahrhunderts. Er verdeutlicht die Darstellung, die Gierke von der romani‐ schen universitas gibt und er verringert den Unterschied zwischen der universitas und der Genossenschaft in der Hinsicht, wie sie heute noch von den Rechtshistori‐ kern vertreten wird.14 Festzuhalten ist außerdem, dass ihm das französische Recht nach der Revolution weitaus individualistischer erschien als das römische Recht.15 Die Gierk'sche Theorie der Realität der Verbandsperson griff er vor allem wegen ihrer praktischen Konsequenzen auf: sie gestatte es, den Verbänden, die von einem monströsen Staat („l’État-Pantagruel“) verschluckt worden waren, ihre Autonomie zurückzugeben. Wie sein deutscher Kollege wollte er, dass Verbände mit ihrer Grün‐ dung bereits ihre Handlungsfähigkeit erhalten, ohne darauf zu warten, dass sie ihnen vom Staat erteilt wird und er war auch der Idee der strafrechtlichen Verantwortung moralischer Personen zugeneigt.16 Die Bedeutung der Theorie der Realität der Ver‐ bandsperson, die bei Gierke undeutlich geblieben war, stellte er jedoch deutlicher heraus und er reinigte sie von ihren organizistischen Übertreibungen.17 Auf der an‐ deren Seite stimmte er mit Gierke darin überein, dass „in Bezug auf das öffentliche Recht, die Fiktionstheorie eine Theorie des Absolutismus ist“.18 Er entlehnte von Gierke das Konzept der „gesamten Hand“ um dieser Form des kollektiven Eigentums im französischen Code civil, der sie nicht sonderlich schätzte, mehr Raum zu geben. Dies war aber wiederum nur durch die Trennung von dem nationalistischen Rahmen möglich, mit dem Gierke sie verbunden hatte. In Saleilles' Augen ist die „gesamte Hand“ nicht nur eine germanische Rechtsform, sondern eine europäische Form.19 Ebensowenig ist sie allein eine feudale Form. Er wirft den französischen Juristen vor, sie allein im Rahmen von Studien über den Feudalismus 13 14 15 16 17 18 19

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Saleilles 1910, S. 98; S. 108. Saleilles 1910, S. 108f. Saleilles 1910, S. 112. Saleilles 1910, S. 203. Saleilles 1910, S. 204. Saleilles 1910, S. 384; Gierke 1883. Saleilles 1910, S. 180f.

berücksichtigt und das „ökonomische und soziale Interesse“ an ihr nicht gesehen zu haben. Man hatte schlicht nicht gesehen, dass sie „eine Institution, die sich anpassen und verallgemeinern konnte“ war. 20 Für Saleilles, den Juristen aus Dijon, ist die „ge‐ samte Hand“, weder das Feudaleigentum, noch das lokale Eigentum, sondern das gemeinsame Eigentum (propriété commune). Man kann nicht genug hervorheben, wie sehr sein Denken in dieser Hinsicht von größter Aktualität ist, wenn er für eine generelle Erweiterung von Gemeingütern (biens communs) plädiert. Er hat en pas‐ sant zugleich sowohl das Denken Gierkes als auch dasjenige der französischen Ju‐ risten seiner Zeit modernisiert.

2. Assoziation versus Stiftung Im Rahmen der Société d’études législatives, deren Präsident er war, stellte Saleilles ganz maßgebliche Studien über das Wesen von Stiftungen vor, aus denen sich die wichtigste Phase seiner Wirkung zusammensetzt.21 Er wollte, dass einige Eigen‐ schaften von den Stiftungen auf die Assoziationen übergehen, um sie finanziell besser auszustatten und um daraus wirkliche soziale Mächte machen zu können. Sein Ziel war, das Modell des Vertragsrechts im formalen Zivilrecht zu erschüttern, um jenes zu politisieren und zu demokratisieren. Auf die Arbeiten von Gierke gestützt konnte er das liberale Rechtsmodell, das im Hintergrund des Code civil steht, dechiffrieren, um darin ein „soziales Modell“ einzuführen. Sein Ansatzpunkt war der privatrechtliche Verein. Die Assoziation (association) wurde in der politischen Kultur in Frankreich seit dem 18. Jahrhundert regelrecht idealisiert. Sie war das Symbol für eine „Gesell‐ schaft der Individuen“, sowohl im Gegensatz zur Korporation, die mit dem Ancien Régime assoziiert wurde, als auch zur Stiftung (fondation). Der bekannte Artikel „fondation“ (Stiftung) aus der Enzyklopädie von Turgot ist sehr aufschlußreich in Bezug auf die ausgesprochene Furcht, die die biens de mainmorte in Frankreich hervorriefen. Turgot wollte die Stiftung, die eine Form gemeinsamen Eigentums außerhalb jeder Kontrolle darstellte, ein Symbol der Ständegesellschaft und der kirchlichen Güter war, durch Assoziationen (associations) ersetzen, die ihm als ein‐ zige mit einer aufklärerischen Politik vereinbar schienen. Vor dem Hintergrund des bürgerlichen Modells des freien Warentauschs wurde die Stiftung als ein unbewegli‐ ches Vermögen angesehen, das den Willen eines Verstorbenen über die lebendigen, sozialen Bedürfnisse hinweg durchsetzte, während die Assoziation die individuelle Freiheit darstellte.

20 Saleilles 1910, S. 182. 21 Saleilles 1908a und 1908b.

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Die offizielle Position der Verwaltung in Bezug auf Stiftungen zeugte seit der Re‐ volution ganz ausdrücklich von der Absicht, unter allen Umständen die Vertretung des Allgemeininteresses dem Staat alleine zuzuschreiben. Das System der Stiftungen entstand aus der Rechtsprechung des Conseil d'État, der die Stiftungen in souveräner und karg ausgestatteter Weise schuf, während sie in Deutschland und in England seit langer Zeit als ein Mittel, das Gemeinwohl durch individuelle Initiativen zu vergrößern, anerkannt waren.22 Das Gesetz über die Assoziationen von 1901 hatte den eingetragenen Assozia‐ tionen zwar die Form einer „kleinen“ juristischen Person („petite personnalité“) zugestanden, aber es gab ihnen nur eine beschränkte juristische Handlungsfähigkeit. Waldeck-Rousseau wollte die Assoziation in der Form eines reinen Vertrags beibe‐ halten, sofern sie den individualistischen Prinzipien nicht widerspricht.23 Saleilles, wie seine Kollegen Duguit, Hauriou und Michoud, wollten ihr einen korporativen Charakter geben, damit sie nicht nur Verpflichtungen zwischen ihren Mitgliedern, sondern auch gegenüber Dritten schaffen und damit eine analoge Funk‐ tion im Vergleich zu öffentlichen Institutionen bekommen konnte. Der Ansicht von Saleilles nach wurde die Assoziation 1901 in einer Form legali‐ siert, die sie machtlos bleiben ließ. Er beobachtete „dass das französische Recht den Akt der Zweckbestimmung eines Vermögens, als vermittelnden Akt zwischen dem Beitrag im kommerziellen Sinn und der Schenkung, systematisch vernachlässigte“.24 Das französische Recht verurteilte die Assoziationen dazu, allein von den Beiträgen der ersten Mitglieder zu existieren, was sie dazu zwang, sich „auf der Basis von leeren Kassen zu gründen“, was „mehr oder weniger in praktischer Hinsicht das ganze Gesetz von 1901 unnütz erscheinen ließ.“25 Den établissements d’utilité publique wollte Saleilles privatrechtliche Stiftungen hinzufügen. Dem Gedanken des Kollektivismus und einer Ausdehnung der Staats‐ macht abgeneigt, nahm er die immensen Möglichkeiten der sozialen Nutzung priva‐ ter Vermögen wahr. Die entscheidende Frage war, wie man dem Privatrecht eine öffentliche Aufgabe zusprechen und es aus seiner Autarkie lösen konnte, wie es laut Gierke schon das Vorhaben von Althusius war.26 Saleilles wandte sich nun an Gierke, um von ihm mehr über die Rolle von Stif‐ tungen im deutschen Recht zu erfahren. Der deutsche Jurist antwortete ihm mit einem langen Brief vom 29. Januar 1907, den er mit der Frage abschloss, ob die Vorstellungen von Turgot nicht die juristische Kultur in Frankreich so sehr beein‐ 22 Pomey 1980, S. 51f. 23 „Der Verein (association) ist nichts als ein reiner Vertrag, nicht mehr und nicht weniger“, er‐ klärte Waldeck-Rousseau in seiner Proposition de loi sur les associations vom 11. Februar 1882. 24 Saleilles 1910, S. 210. 25 Saleilles 1910, S. 207. 26 Gierke 1958, S. 244.

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flusst hätten, dass die privatrechtlichen Stiftungen dort keineswegs einfach einzufüh‐ ren seien. Saleilles fand diesen Brief ausgesprochen wichtig. Er übersetzte ihn und publizierte ihn umgehend im Bulletin de la Société d’études législatives.27Tatsäch‐ lich aber hatte Gierke selbst, obwohl er leidenschaftlicher Verfechter der Assoziati‐ onsfreiheit und der Selbstverwaltung der Verbände war, die Freiheit der Stiftungen, wie sie im ersten Entwurf des BGB anerkannt war, bekämpft, aus dem Motiv heraus, dass eine Stiftung dem privaten Willen eines Toten zu viel Gewicht verleiht und dass sie nicht ausreichend sozial sei.28 Saleilles aber war bereit, sich der Gedanken Gier‐ kes frei zu bedienen, um sie an die französische Debatte und seine eigenen Anliegen anzupassen.

3. Der Begriff der Stiftung: drei Auffassungen Saleilles wollte aber nicht nur die deutsche Form der Stiftung ins französische Recht einführen. Er schuf auch einen neuen Begriff der Stiftung (fondation). Ebenso wie es eine begrifflich neue Konzeption von Seiten Haurious gab, weshalb sein Konzept von „Institution“ nicht einfach durch „Anstalt“ oder „Einrichtung“ übersetzen wer‐ den kann, wie es Carl Schmitt in Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens in treffender Weise bemerkt,29 ebenso gab es eine neue begriffliche Kon‐ zeption von Seiten Saleilles. Saleilles wollte, wie gesagt, die Bedeutung, die die Idee der Stiftung in Frank‐ reich hatte, verändern, um daraus das Symbol für die Vitalisierung des Sozialen zu machen, und nicht mehr für die unbeweglichen Güter der Kirche und die gesell‐ schaftliche Nutznießerei. Zu diesem Zweck ging er von dem klassischen Begriff der Stiftung aus, wie er bei Savigny vorlag. Er verglich ihn mit dem Konzept von Gier‐ ke, und indem er vorgab, letzteren einfach zu kommentieren und zu übernehmen, erfand er einen dritten Begriff. Dieser Begriff klärte sich mehr und mehr, seit den Studien von 1908 über die Stiftung und die piae causae im spätrömischen Reich30, um sich schließlich in De la personnalité juridique voll zu entfalten. In diesem Buch spielt der Begriff der Stiftung dieselbe Rolle wie der Begriff des trust bei Maitland. Er wird eine „totaler Begriff“, durch den man die Gesamtheit des Rechts (das subjektive Recht, das Eigentumsrecht, die Religionsfreiheit, das Assoziationsrecht, das öffentliche Recht usw.) neu denken kann. Mit dem Unterschied allerdings, dass der Begriff des trusts im englischen Recht sehr wohl seinen Platz hat, während Saleilles' Begriff der Stiftung nie ins französische Recht eingeführt wurde und eine 27 28 29 30

Gierke 1907. Gierke 1888, S. 174f.; Gierke 1873, S. 967-968; Gierke 1907. Schmitt 2006, S. 47. Saleilles 1908a und 1908b.

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abstrakte Konstruktion blieb, vergleichbar dem Plan von einer Kathedrale, die nie gebaut wurde. In seinem System des heutigen römischen Rechts unterscheidet Savigny die Korporation von der Stiftung, eine Unterscheidung, die in der Pandektik im 19. Jahrhundert wieder aufgenommen wurde. Für ihn gibt es keinen Grund, weshalb der Begriff der Person als „Träger“ des Rechts allein auf die Vorstellung eines einzelnen Menschen bezogen werden sollte. Er kann auf „künstliche Subjekte“ ausgedehnt werden.31 Von ihnen gibt es zwei Typen: die Korporationen (Corporationen) und die Stiftungen. Erstere haben eine sichtbare Person zum Substrat; die zweiteren haben eine abstraktere Form, weil sie ihre Existenz nur aus einem Zweck beziehen: sie sind die Personifizierung eines abstrakten Zwecks.32 Puchta, ein Schüler von Savigny versah die ersteren mit der Bezeichnung univer‐ sitates personarum und die letzteren mit derjenigen von universitates rerum, um da‐ rauf hinzuweisen, dass die ersteren eine Vereinigung von Personen zum Gegenstand haben, die zweiteren aber einen Komplex von Gütern.33 Gierke änderte diese Einteilung Savignys auf entscheidende Weise. Den beiden klassischen Konzepten von Körperschaft und Stiftung stellte er eine dritte Haupt‐ kategorie zur Seite, nämlich diejenige der Anstalt.34 Die Unterscheidung, die bei Gierke in den Vordergrund tritt, ist nicht mehr die Unterscheidung zwischen Kör‐ perschaft und Stiftung, sondern die Unterscheidung zwischen Anstalt und Körper‐ schaft.35 Gierke hat „keinen Zweifel daran, dass es das kanonische Recht war, das zuerst einen klaren Begriff der Anstalt ausbildete“.36 Der terminologische Begriff „Anstalt“ bezeichnet Situationen, in denen die Zweckbestimmung innerhalb eines Verbandes, der auch eine juristische Person ist, nicht vom Willen der Mitglieder, sondern von einem übergeordneten Willen abhängig ist, der als Gegenstand ebenso gut die Organisation von Personen als auch die Verwaltung von Gütern haben kann. Im öffentlichen Recht ist dieser Wille derjenige des Staates. Während also die Körperschaft für Gierke ihren Zweck selbst bestimmt, erhält ihn die Anstalt „von oben“. Die Stiftung ist damit nichts weiter als eine Unterka‐ tegorie der Anstalt.37 „Stiftungen sind bestimmte Anstalten.“, Anstalten im Sinne des Privatrechts.38 In der Anstalt drückt sich ein Stiftungswille aus, während die Körperschaft Ausdruck eines Gemeinwillens ist.39 Diese Eigenschaften einer Anstalt

31 32 33 34 35 36 37 38 39

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Savigny 1849 II, § 60 und § 85. Savigny 1849 II, § 60 und § 85. Puchta, 1881 II, S. 8f. Gierke 1887, S. 12; 13; Gierke 1873, S. 962f; Gierke 2010, § 78; Gierke 1881, S. 119; S. 806f. Gierke 1873, § 37; Gierke 1887, S. 12-13; Gierke 2010, S. 645. Gierke 1873, S. 959. Gierke 2010, S. 645. Gierke 1887, S. 12 ; Gierke 2010, S. 645. Gierke 2010, S. 645.

bestätigen sich in allen Stiftungen: in der Stiftung, wie in der Anstalt beruht der zum Ausdruck kommende Wille nicht auf den einzelnen Mitgliedern. Diesen Unterscheidungen von Gierke folgten zahlreiche Juristen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert, die sich immer öfter auf dieses Konzept der Anstalt („institution“) beriefen, um alle diejenigen Situationen – im öffentlichen Recht wie im Privatrecht – zu bezeichnen, in denen die Zweckbestimmung eines Verbands transzendent und nicht immanent erfolgt. Gierke unterzog die Kategorien Savignys und der Pandektik insgesamt drei Ver‐ änderungen. Erstens: Die Anstalt wurde zur Hauptkategorie, die Stiftung war nur mehr eine abgeleitete Kategorie. Was bislang „der gewöhnlichen Kategorie von Stiftungen gefehlt hat, war eine Theorie der Anstalt.“40, so Gierke. Zweitens: Gierke definierte Stiftungen nicht mehr als ein personalisiertes Vermö‐ gen. Die Anstalten und die Stiftungen haben ihm zufolge ebenso ein menschliches Substrat wie die Körperschaften. Der Unterschied zwischen beiden beruht auf dem Verhältnis von Vielheit und Einheit. Gierke ist der Auffassung, dass die Anstalten, auch wenn sie eine juristische Person sind, immer „durch Menschen leben“. „Dieses Moment bei Verbandsorganisation fehlt bei keiner Stiftung: auch das einfachste Sti‐ pendium bedarf einer Verfassung, welche Menschen in bestimmter Richtung bindet und zu Handlungen bewegt.“41 Er kritisiert die „allzu spiritualistische Fassung“ , die dem Willen des Stifters zu große Bedeutung gibt im Verhältnis zum inkorporierten, „sozialen Willen der Menschen“, eine Position, die sich ihm zufolge „ins Mystische verliert oder zur Fiktion zurückführt“.42 Schließlich und letztendlich gab Gierke drittens seinen Begriffen von Anstalt und Körperschaft eine ausgesprochen allgemeine, regelrecht philosophische Tragweite. Sie bezeichnen bei ihm geradezu zwei verschiedene „Hauptgattungen sozialer Ver‐ bandseinheiten“: die erste entspricht im Großen und Ganzen einer autoritären Herr‐ schaft und die zweite einem repräsentativen oder konstitutionellen System. Gierke wirft Beseler vor, dass er seinen Begriff der Anstalt „nicht mit dem höheren Begriff des menschlichen Verbandes“ verknüpft hatte – eine Kritik, die auch gegenüber Savigny gilt.43 Gierke für seinen Teil setzt sich dafür ein, diesen Mangel zu beheben. Er verknüpft den Begriff der Anstalt mit der Genealogie der Idee des abstrakten Rechtssubjekts. Ihm zufolge entsteht diese in einem jahrhundertelangen Prozess, in dessen Verlauf sich das Gemeinwesen als Rechtssubjekt von seinen konkreten Trägern getrennt habe. Seiner Meinung nach entstanden die beiden Begriffe der Körperschaft und der Anstalt aus diesem Prozess der Abstraktion und Idealisierung, 40 41 42 43

Gierke 1887, S. 11. Gierke 1887, S. 12. Gierke 1887, S. 13. Gierke 1887, S. 11.

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wobei das kanonische Recht eine ganz zentrale Rolle gespielt habe.44 Der Begriff der Korporation stammt aus der Ersetzung einer sichtbaren Gemeinschaft durch eine unsichtbare, juristische Person, während der Begriff der Anstalt aus der Ersetzung eines sichtbaren Herren durch ein abstraktes Rechtssubjekt hervorgeht.45 Michoud und Saleilles waren es, die die Gierk'sche Konzeption der Stiftung und der Anstalt in Frankreich einführten.46 Saleilles erklärt 1910, dass es zwei verschie‐ dene Theorien der Stiftung im Deutschland des 19. Jahrhunderts gibt, die auf „zwei ganz verschiedene Richtungen“ zurückgehen: (1) in der Position der Pandektistik wird die Idee der Stiftung von korporativen Konzeptionen radikal getrennt, um sie an die Konzeption einer Zweckbestimmung von Gütern anzubinden. Stiftungen werden als vermögensrechtliche Zweckbestimmungen betrachtet, deren Nutznießer nicht zugleich die Eigentümer der Stiftung sind. Der unveränderliche Wille des Stifters herrscht hier vor. (2) eine „andere Konzeption“ definiert die Stiftung als eine korporative Form, als eine Organisation, die einer unbestimmten, anonymen Gemeinschaft von Begünstigten, die ebenso Eigentümer der zugeteilten Güter sind, Vorteile verschafft.47 Diese „andere Konzeption“ bringt Saleilles bisweilen mit Gierke in Verbindung. Letzterer habe „gezeigt, dass die Stiftung lange Zeit als eine erweiterte Körperschaft betrachtet wurde.“48 „Was die Konzeption der Stiftung betrifft“, schreibt er, „habe Gierke gezeigt, dass die korporative Auffassung, bevor die Vorstellungen von Zweck und Zweckbestimmung dominierten, historisch lange Zeit vorherrschte: die Stiftung wurde in der Tat als eine erweiterte Körperschaft betrachtet, deren Mitglieder an‐ onym und unbestimmt bleiben.“49 Saleilles unterstreicht oft, dass das Verdienst Gierkes darin besteht, Begriffe auf ihre Elastizität hin zu betrachten. Hier aber macht er die Kategorien Gierkes ungleich elastischer, als sie eigentlich sind. Gierke hat zwar zugegeben, dass die Stiftung ein spezifischer Typ der juristischen Person (also eine Form der Korporati‐ on) ist. Wesentlich für ihn war aber der Gegensatz zwischen der Körperschaft und der Anstalt: die erste führt zum „konstitutionellen“ Modell, in dem der gemeinsame Wille immanent, den Mitgliedern eigen ist, zurück, während die zweite – von der die Form der Stiftung abgeleitet wird – zum „autoritären“ Modell, demzufolge der Wille des Stifters oder des Herren transzendent, den Mitgliedern übergeordnet ist, zurückführt. Saleilles schreibt Gierke also tatsächlich seine eigene Vorstellung zu, wenn er wiedergibt, was für ihn die richtige Definition einer Stiftung ist. Er bestimmt sie 44 45 46 47 48 49

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Gierke 1873, § 37, S. 959. Ebd. Michoud 1906, S. 186f.; Saleilles 1910, S. 231f. Saleilles 1910, S. 231. Saleilles 1910, S. 425. Ebd.

als eine Kombination aus Assoziation und Stiftung (un mixte d’association et de fondation) oder aus Körperschaft und Stiftung (de corporation et de fondation), weil er der „corporation“ die „konstitutionelle“ Bedeutung gibt, die sie bei Gierke hat, auch wenn sie für die französische Öffentlichkeit eine gerade gegensätzliche Bedeu‐ tung annimmt. „Man muss es immer wieder sagen“, schreibt Saleilles 1910, „eine association unterscheidet sich gar nicht so sehr von einer Stiftung. Sie wird auch von der Idee der Zweckbestimmung beherrscht, d.h. von einer Zweckbestimmung, die in den Händen einer Gruppe liegt, statt in einer bestimmten Satzung festgelegt zu sein. Einst gab es mit der Idee der Körperschaft (idée corporative) eine Brücke die beide verband.“50 Diese Idee ermöglicht es Saleilles, sich gegen die französische politische Kultur und gegen die Diskrepanz, die sie zwischen der „archaischen“ Stiftung und der „modernen“ Assoziation schafft – wie sich in dem Artikel aus der Enzyklopädie von Turgot wiederfindet – zu stellen. In dieser neuen, hybriden Form bekommt die Stiftung für Saleilles ihre zentra‐ le Bedeutung. Seine Interpretation Gierkes hat ihn auf erstaunliche Weise dazu gebracht, aus der Stiftung (fondation) ein neues Paradigma des Rechts zu erstellen. Tatsächlich aber war die Rolle der Stiftung bei Gierke nie so zentral, wie Saleilles es bald für ihn behaupten wird. Für den Theoretiker der Genossenschaft war sie vor allem nicht so positiv, sondern vielmehr negativ besetzt, da sie mit dem Begriff der Anstalt und dementsprechend mit demjenigen der Herrschaft verbunden war. Gierke hat, wie gesagt, im Übrigen auch die Stiftungsfreiheit, wie sie im ersten Entwurf des BGB vorgesehen war, stets kritisiert. Im Jahre 1910 verwirft Saleilles schließlich die Einteilung seines deutschen Meis‐ ters, allerdings ohne es eigens hervorzuheben. Er bricht mit dem engen Rahmen der deutschen Debatte über die Stiftung, nicht nur um darüber seinen eigenen Begriff, denjenigen einer Kombination von Assoziation und Stiftung (un mixte d’association et de fondation), einzubringen, sondern auch um seine Konzeption mit der großen Innovation seines Kollegen Maurice Hauriou zusammenzuführen: den Begriff der Institution. Dieser Begriff, den er soeben mit Bewunderung in der Préface au Droit public von 1906 entdeckt hatte, begann ab sofort in seinen Darstellungen selbst zu „arbeiten“. Saleilles deutet an, dass er seinem eigenen Begriff von Stiftung entspricht: „Körperschaft (corporation) und Anstalt (établissement)“, schreibt er, „diese beiden Gruppen unterscheiden sich nicht, jedenfalls nicht mehr, als sie unser öffentliches Recht in der Theorie des „établissement d’utilité publique“ unterschei‐ det, denn, was in dem einen wie dem anderen Fall vorherrscht, ist der Aspekt der Stiftung, wenn man sich auf die Seite des Privatrechts stellt, und der Aspekt der Institution, wenn man sich auf die Seite des öffentlichen Rechts stellt (c’est le côté fondation si l’on se place au point de vue du droit privé, et le côté institution si l’on

50 Saleilles 1910, S. 428.

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se place sous le point de vue du droit public). Es gibt nichts anderes als Institutionen im Recht. Jede Organisation, die geschaffen wird, um Rechte auszuüben, ist eine In‐ stitution.“51

4. Der Staat und die unbestimmten Personen 4.1 Das Problem der „incertae personae“ In Zusammenhang mit seiner Untersuchung der piae causae im spätrömischen Reich, die ihm zufolge historisch die ersten Stiftungen sind, tauchte Saleilles' eige‐ ner Begriff der Stiftung zuerst auf. Die Frage der piae causae bildet einen roten Faden in seiner ganzen intellektuellen Entwicklung. Er behandelt sie im „Rapport préliminaire sur le projet relatif aux fondations“, den er 1908 für die Société d’étu‐ des législatives verfasst hat, in seiner Studie „Les Piae causae dans le droit de Justinien“ aus dem selben Jahr, dann erneut in De la personnalité juridique (1910). In diesem Buch erhält sie eine neue Tiefe. Neu ist daran, dass Saleilles den Begriff der Institution, den Hauriou soeben herausgearbeitet hatte, mit seiner eigenen Analy‐ se der Stiftung in Verbindung bringt. Die Originalität von Saleilles' Ansatz besteht darin, dass er sich über die Berüh‐ rungspunkte von drei verschiedenen Fragestellungen entfaltet: Erstens die Frage der incertae personae, ein Problem in Bezug auf das Erbrecht im spätrömischen Recht Zweitens die Frage des Wesens des subjektiven Rechts Drittens die Frage der Redefinition des Staates aus der Sicht des Sozialrechts Die erste Frage war ein leicht angestaubtes Problem der Rechtslehre, das vor allem Romanisten und Spezialisten der Spätantike bekannt war.52. Savigny hatte es in seinem System des heutigen römischen Rechts diskutiert.53 Die zweite wurde in ganz Europa intensiv diskutiert, seit es die historische Rechtsschule auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Es war Gegenstand einer nach wie vor aktuellen Kon‐ troverse innerhalb der III. Republik zwischen zwei grundlegenden Konzeptionen der Theorie des Rechts im 19. Jahrhundert, der Interessentheorie (Jhering) und der Willenstheorie (Savigny, und Gierke, der sie auf Verbände anwandte). Die dritte war ein avantgardistisches Problem für die Juristen aus der Generation von Saleilles und Hauriou: auf dem Spiel stand die Definition des demokratischen Volkes und der Sozialbürgerschaft im (noch nicht existierenden) Sozialstaat. Saleilles erfand etwas 51 Saleilles 1910, S. 565. Die Wörter „Körperschaft“ und „Anstalt“ sind in diesem Zitat auf Deutsch. 52 Corbo 2012. 53 Savigny 1849, § 43.

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Neues, indem er diese drei Probleme zusammenbrachte, die noch nie irgendjemand zusammengebracht hatte. Der Begriff der Stiftung war dem römischen Recht unbekannt. Die religiösen Stiftungen (Krankenhäuser, Armenhäuser, Waisenhäuser usw.) entstanden innerhalb der christlichen Kirche des 4. Jahrhunderts. Eine Stiftung setzte voraus, dass etwas erlaubt ist, was dem römischen Recht nach als juristisch unmöglich eingeschätzt wurde: ein Rechtsinstitut von Erben zum Nutzen einer anonymen Gruppe (der‐ jenigen der Armen, der Waisen, der Gefangenen, der Kranken, usw.). Im alten römischen Recht konnte eine Erbschaft nicht an eine unbestimmte Gemeinschaft von unbekannten Empfängern weitergegeben werden. Diese Empfänger werden mit dem Ausdruck der „unbestimmten Personen“, incertae personae, bezeichnet. Dem römischen Recht zufolge sind diejenigen Personen incertae, die keinen Anspruch auf eine Erbschaft haben, weil sie in ihrer Zahl und in ihrer Identität unbestimmt sind und weil der Vererbende im Moment seines Todes ihren Namen nicht angeben kann.54 Der Ausdruck incertae personae hat also eine genau bestimmte und techni‐ sche Bedeutung. Er bezeichnet allein die Erbfähigkeit von juristischen Personen. Unter der Herrschaft des Justinian wurde das allgemeine Verbot, das auf den incertae personae lastete, aufgehoben infolge des Aufstiegs des Christentums.55 Die incertae personae durften ein Erbe erwerben. Die Anzahl der piae causae nahm zu, gefördert von den Verfassungen der christlichen Kaiser. Eine Frage in Bezug darauf verfolgt Saleilles: zu wessen Gunsten wurde ein Erbe erlassen, wenn eine pia causa entstand? Wer war der Eigentümer der Stiftungsgüter? Waren es die Verwalter, die Kongregation der Mönche und Nonnen, die diesen Dienst leisteten? Oder sogar die Armen selbst? War es der Bischof, unter dessen Jurisdiktion ein solches Werk gestellt wurde? War es die Kirche? Diese Frage wurde diskutiert. Da der technische Begriff der Stiftung in der Spätantike noch nicht exis‐ tierte, ist es zweifellos schwierig, sie mit absoluter Sicherheit zu beantworten. Saleil‐ les beharrt jedoch darauf, dass die „unbestimmten Personen“ (incertae personae) die alleinigen Eigentümer der Sitftungsgüter waren. In „Les Piae causae dans le droit de Justinien“ schreibt er Folgendes, nachdem er die verschiedenen Hypothesen widerlegt hat: Es bleibt also allein die Idee, dass das Vermögen den „personnes incertaines“ gehört; genau das ergibt sich aus den Verfassungen des Codex des Justinian und aus der Novel‐ lae. Man hatte erlaubt, was bislang für juristisch unmöglich gehalten wurde, ein Rechts‐ institut von Erben zum Nutzen einer anonymen Gruppe; der Beleg dafür ist, dass diese Gruppen von Empfängern mit den corpora des klassischen Rechts gleichgesetzt wurden. Es handelt sich lediglich um corpora, deren Mitglieder keine feste und bestimmte Menge bilden, sie setzen sich aus vorübergehenden Gemeinschaften zusammen, zum Beispiel 54 Savigny 1849, S. 307. 55 Corbo 2012, S. 11.

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aus den Kranken eines Krankenhauses. Sie müssen deshalb von einem Vermittler vertre‐ ten werden, dem Verwalter oder der Gruppe der Verwalter, die mit der Nutzung der Gelder betraut sind. Es handelt sich dabei sehr wohl, in Wirklichkeit, wenn man so will, um eine Stiftung im modernen Sinn des Wortes; aber nicht um eine Stiftung, die die Verkörperung eines abstrakten Zwecks darstellt, sondern um eine Stiftung im deutschen Sinne. Es handelt sich um eine Stiftung, die konkrete Menschen, reale Begünstigte vertritt (…). Es gibt also ein autonomes, unabhängiges Vermögen, das so gestaltet ist, als gehöre es einer individuellen Person und so gehört der fiktive Besitz nicht einem idealen Wesen, sondern konkreten Menschen, den Armen selbst. Es handelt sich dabei ebensosehr um die korporative Idee von Gierke, die sich an der Scheidelinie von zwei Strömungen befindet, genau an dem Punkt, wo sie undeutlich wird, um sich schießlich in ein neues Konzept zu verwandeln, das Konzept der Stiftung, die eingerichtet wird, um eine unbestimmte und anonyme Gemeinschaft zu vertreten.56

In all seinen Texten zu diesem Thema wiederholt Saleilles seine These: die „Armen und die Gefangenen“ sind die Eigentümer der Güter, die man unter ihnen verteilt. Eine in Wahrheit rätselhafte These, zumindest aus der Sicht des technischen Begriffs der Stiftung, denn es versteht sich von selbst, dass eine Stiftung keine Aktiengesell‐ schaft ist. Studierende, die ein Stipendium erhalten, sind nicht Eigentümer eines Anteils der Stiftung, ebensowenig wie die Empfänger eines Literaturpreises. Sie sind auch nicht Miteigentümer. Wenn Saleilles so stark betont, dass die ersten Stiftungen im spätrömischen Reich ein Vermögen bildeten, dessen Begünstigte zugleich die Besitzer waren, und wenn er nicht davor zurückschreckt, nebenbei das klassische Konzept der Stiftung und sogar „die korporative Idee von Gierke“ zu verdrehen, dann liegt es daran, dass es um weit mehr geht als um die historische Frage der piae causae. Duguit, Saleilles, Michoud und Hauriou setzten sich mit Leidenschaft für die Einführung der Stiftung in das französische Recht ein. Aber sie hatten, wie gesagt wurde, ihre Bedeutung vollständig umgekehrt: anstatt sie auf die unveräußerlichen Güter der Kirche (biens de mainmorte), zurückzubeziehen – wie Turgot – wurde die Stiftung für sie ein Synonym für das „sozialgebundene“ Eigentum selbst. „Es ist untragbar“, schreibt Saleilles, „wenn man uns noch länger die Stiftungsfreiheit vorenthält, die nicht nur eine Konsequenz aus dem Recht auf Privateigentum ist, sondern die daran vor allem eine Korrektur in sozialer Hinsicht“ ist.57 Indem sie sich daran erinnerten, dass die Menschheit aus mehr Toten als Lebenden besteht (Comte), verknüpften diese Juristen fortan den Willen des Toten mit dem sozialen Willen, der dem Eigensinn von Familien entzogen war. Saleilles projizierte also die Debatten der III. Republik in die Fragen der piae causae. Von diesen Kontroversen aus lässt sich verstehen, wie er das Konzept der 56 Saleilles 1908b, S. 539-540. Hervorhebung C.J. 57 Saleilles 1910, S. 287. Hervorhebung C.J.

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Stiftung mit einer neuen Bedeutung aufgeladen hat. Sie hatte in De la personnalité juridique nicht mehr den technischen Sinn, den sie bei den deutschen Juristen hatte, und sie hatte auch nicht mehr die negative Bedeutung, die sie in Frankreich sei dem 18. Jahrhundert bekommen hatte. In der Frage der piae causae stellte das alte, individualistische römische Recht das französische Recht dieser Zeit dar. Versuchten Saleilles und seine Kollegen nicht sogar, die Anordnung, derzufolge die Stiftung zugunsten des Artikels 906 im Code civil zurückgewiesen wurde – und derzufolge der Begünstigte eines Tes‐ taments im Moment des Todes des Vererbenden bekannt sein muss – unwirksam zu machen? Für den katholischen Juristen Saleilles stellten die neuen Regeln im Justinianischen Recht, die mit dem Aufstieg des Christentums verbunden waren, das neue republikanische Sozialrecht dar, das er zusammen mit seinen Kollegen aufbauen wollte. Indem er sagte, dass die „unbestimmten Personen“ („les personnes incertaines“) die legitimen Eigentümer der Stiftungsgüter sind, die unter ihnen ver‐ teilt werden, und indem er unterstrich, welche Hindernisse, man überwinden musste, um es so darzustellen (nämlich den Individualismus des römischen Rechts und die Verbote, die es geltend machte), stellte er sich eigentlich auf den Standpunkt des Sozialrechts. Machte man in einer Stiftung bestimmte Güter unveräußerlich, indem man zu Unrecht den Willen eines Toten geradezu heiligsprach? Nur die enge Sicht‐ weise traditioneller Zivilrechtler konnte das Wesen der Stiftung so darstellen. Man muss hinzufügen, dass Saleilles nicht nur gegen die Privatrechtslehre seiner Zeit kämpfte, sondern auch, wie Michoud und Hauriou, gegen Duguit, dem er vorwarf, die subjektiven Rechte abzulehnen, eine Ablehnung, in der er den Ausdruck einer „umgekehrten Theologie“, einer „positivistischen Theologie“ sah.58 Nun sprach sich aber auch Duguit für Stiftungen im Sinne des Privatrechts aus, aber für ihn waren Stiftungen Teil des objektiven Rechts, das immer spontan entsteht. Wenn Saleilles beweisen wollte, dass die Stiftung von Anfang an nicht als ein Vermögen ohne Subjekt, sondern als ein Subjekt, das sich durch seine Zweckbestim‐ mung realisiert, gedacht war, d.h. wie ein Organismus, der sein Objekt verkörpert, dann machte er aus ihr die Verkörperung der wahren Beziehung zwischen subjekti‐ vem Recht und objektivem Recht. Er stützte sich bei diesem Vorhaben in erster Linie auf Gierke. Émile Durkheim und die französischen Solidaristen wie etwa Léon Bourgeois, die so großen Einfluss auf die Republikaner der III. Republik hatten, wa‐ ren ihm keine Unterstützung, weil sie Solidarität im Ausgang von der Vertragsidee konzipierten. Gierke hingegen diente ihm dazu, gegen zwei gegensätzliche Lager zu kämpfen: auf der einen Seite gegen die französischen Zivilrechtler, die die Theorie Savignys annahmen und jeden Verband von Vertrag und individuellem Eigentum aus dachten, auf der anderen Seite gegen Duguit, für den die subjektiven Rechte 58 Saleilles 1910, S. 557. Léon Michoud kommentiert diese Position von Saleilles in: Michoud 1911, S. 511.

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eine metaphysische Fiktion bedeuteten und der das ganze Recht als objektives Recht definierte. Diese beiden Positionen standen sich in der französischen Debatte freilich gegenüber. Gemäß der Vorstellung von Saleilles und Hauriou, standen sie für das alte Recht und das neue Recht, für den unsozialen Individualismus und das Sozialrecht, denn in dieser Kontroverse schlugen sie sich trotz allem auf die Seite von Duguit. Aber Duguit täuschte sich nach wie vor in der Art und Weise, wie er das Sozialrecht konstruierte. Der Begriff der Stiftung von Savigny konnte als eine Brücke zwischen diesen beiden Konzeptionen des Rechts dienen. Es diente Saleilles dazu, zu zeigen, was den beiden Konzeptionen gemeinsam war. Die Idee der Zweckbestimmung (Savigny) war tatsächlich von der Notwendigkeit gezeichnet, das gemeinsame Interesse dem Willen eines Stifters unterzuordnen, gerade so als wäre dieser noch lebendig, und letztlich auch von der Notwendigkeit, alles im engen Rahmen individuellen Eigentums zu verorten. Sie konnte ohne weiteres in Richtung der Vorstellung eines Eigentums ohne Subjekt (Brinz) – die das Konzept des Rechts‐ subjekts aufhebt – abgleiten und zu Duguit zurückführen. Die Verabsolutierung des individuellen Willens und die vollständige Absorbierung des individuellen Willens in einem verdinglichten, kollektiven Interesse waren die beiden größten Risiken für Saleilles, wie für Gierke, der bereits sagte, der Kollektivismus sei eine pervertierte Form des Individualismus.59

4.2 Unbestimmtheit, Unfähigkeit und Rechtssubjekt Wenden wir uns nun den ersten der beiden Fragen zu, in die Saleilles das Problem der „unbestimmten Personen“ verwickelt hatte: das Problem des Rechtssubjekts. Wie gezeigt wurde, unterstreicht Saleilles, dass die „unbestimmten Personen“ die Eigentümer der Stiftungsgüter sind. Wenn sie die Eigentümer sind, sind sie folglich auch Rechtssubjekte, da das Eigentumsrecht das subjektive Recht par exellence ist. Saleilles nun machte die Aussage umkehrbar: Rechtssubjekte sind unbestimmte Personen. Diese Umkehrbarkeit der beiden Aussagen (die unbestimmten Personen sind Rechtssubjekte / die Rechtssubjekte sind unbestimmte Personen), erklärt die verborgene Struktur des Buches De la personnalité juridique, auch wenn sie Saleil‐ les nie explizit formuliert. Vorausgesetzt ist dabei, dass Saleilles dem Ausdruck incertae personae eine neue Bedeutung gab. In De la personnalité juridique verliert der Begriff seinen technischen Charakter und nimmt einen viel allgemeinere Bedeu‐ tung an. Saleilles erwähnt ihn eigentlich nur noch auf Französisch („les personnes incertaines“); er spielt offensichtlich mit der Zweideutigkeit des Wortes „incertain“ im Französischen. Wenn er in seinem Buch von 1910 von „personnes incertaines“

59 Gierke 1958, S. 256; Saleilles 1910, S. 141.

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spricht, bezeichnet er nicht mehr die Erbunfähigkeit durch die Unbestimmtheit des wen und des wieviel, also die Bedeutung, die sie für die Spezialisten für römisches Recht hat. Ohne dass es Saleilles jemals genauer sagt, bemerkt man, dass der Aus‐ druck eine breitere Bedeutung bekommt. Die unbestimmten Personen bezeichnen fortan Personen, die zugleich unzuverlässig, unsicher und ungewiss sind, die also ihrer selbst wenig sicher sind, deren Anzahl unbestimmt ist und deren Existenz nicht ganz sicher ist. Sie werden dadurch, kurz gesagt, mit dem Volk der Massendemokratie gleichge‐ setzt. Die Frage, die sich stellt, ist, ob es sich bei ihm um eine passive und irrationale Menschenmenge („foule“) handelt, wie Gustave Le Bon es behauptete. Für einen der sozialen Frage gegenüber aufgeschlossen Juristen wie Saleilles können diese Eigen‐ schaften nicht unabhängig voneinander bestehen: wenn sich die modernen Subjekte ihrer selbst wenig sicher sind, dann deshalb, weil sie für die Institutionen eine unbe‐ stimmte Masse sind, wobei diese sich nicht sicher ist, ob sie wirklich existieren. Die institutionalistische These beruht gerade auf der Behauptung eines Zirkels zwischen der Identität der Subjekte und dem Platz, den ihnen die Institutionen zusprechen. Eine aufmerksame Lektüre von Saleilles Buch von 1910 zeigt gerade, dass die incer‐ tae personae nun auf das moderne Rechtssubjekt verweisen, auch wenn Saleilles, um es zu wiederholen, diese Bedeutungsverschiebung nie erläutert. In seiner Untersuchung der incertae personae hat Savigny das Hospiz, als ty‐ pisches Beispiel für eine Stiftung, kontinuierlich der Stadt (municipium, civitas) gegenübergestellt, die für ihn das typische Beispiel einer Korporation (corporation) war. Er hat das Vermächtnis, das einem Hospiz hinterlassen wurde, dem Vermächt‐ nis, das der Stadt gemacht wurde, gegenübergestellt. Er hat stets die incerta persona vom cives, den Armen vom Bürger, unterschieden. Im Bewusstsein darüber, was die modernen sozialen Rechte von der alten Armenpflege unterscheidet, und weil er gerade nicht versucht, die alte Logik der Armenfürsorge wieder einzuführen, weigert sich Saleilles die Situation der incerta persona von derjenigen des Staatsbürgers (cives) zu unterscheiden. Im modernen Sozialrecht ist der Arme immer auch ein Bürger. Und umgekehrt ist der Bürger immer auch ein potentieller Armer, da die ökonomische Ungleichheit nach wie vor ein Strukturmerkmal des organisierten Ka‐ pitalismus ist. Saleilles war überzeugt davon, dass die garantierten Grundrechte und die Menschenrechte nicht mehr reichen würden, um die tatsächliche Freiheit der modernen Bürger zu gewährleisten. Die Unterscheidung zwischen der rechtlichen Erlaubnis, etwas zu machen oder nicht zu machen (das Wollendürfen), und der tatsächlichen Möglichkeit, eine Wahl zwischen mehreren erlaubten Optionen zu treffen (das Wollenkönnen) war für ihn ein Kernpunkt (während es in den Augen Duguits eine Subtilität ohne große Bedeutung war). Die Frage, die Le Bons Psychologie des foules stellt, durchzieht immer Saleilles Untersuchungen: inwieweit ist das demokratische Volk eine passive Masse (foule) in

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Le Bons Sinn? Inwieweit ist es ein handlungsfähiges, bewusstes politisches Subjekt? Inwieweit gleichen die Repräsentanten des Volkes Vormündern, die anstelle ihrer Mündel (des Verrückten, des Kindes usw.) agieren? Diese Frage ist omnipräsent in De la personnalité juridique. Um darauf zu antworten, greift Saleilles auf das Schema der Stiftung zurück. Die Masse (la foule), der Verein (l’association) und die Stiftung (la fondation) stellen für ihn drei verschiedene Grade der Handlungsfähigkeit dar. Eine Masse ist „passiv, unbewusst, anorganisch“. Ein Verein (association) ist „aktiv, bewusst, organisch“.60 Die Stiftung, so wie er sie versteht, deren Modell „die Genossenschaft von Gierke oder der deutsche Verband“ ist, „ist ein Zwischenstadium“, schreibt er.61 Sie ist nicht einfach eine leblose Vermögensmasse. „Sie ist ein Bündel von einzelnen Rechten, die eine handelnde Gemeinschaft begründen.“62 Saleilles interessiert an der Stiftung insbesondere, dass sie eine Zerlegung des reinen Eigentums in „ein Bündel von Rechten“ durchführt.63 Sie führt eine „Ver‐ doppelung der Rechte“ zwischen Begünstigten und Eigentümern durch, zwischen denen, die den Gebrauch eines Besitzes haben, und denjenigen, die die legalen Inhaber sind, zwischen denen, die die Rechtsfähigkeit haben und denjenigen, die die Handlungsfähigkeit haben. Die Stiftung ist für ihn, wie gesagt, selbst das Paradigma des Sozialeigentums: durch sie wird ein Komplex von Sachen der Bestimmung sozialer Bedürfnisse zu eigen gemacht. Sie regelt die Nutzung indem sie die Sachen von ihrem Besitzer löst. Aber Saleilles geht noch weiter. Er macht daraus sogar ein Paradigma des Rechtssubjekts. Er behauptet tatsächlich, dass die Verdoppelung, wie sie der fondation eigentümlich ist, „sich überall findet, in allen Bereichen“ und „dass sie stets einen Stolperstein für alle Theorien der Persönlichkeit darstellte.“64 Die größte Anomalie in der Theorie Savignys ist in Saleilles Augen, dass für sie in letzter Konsequenz die Geschäftsunfähigen (das Kind, der Verrückte, der Em‐ bryo) keine Rechtssubjekte sind. Für Savigny ist das Recht tatsächlich Ausdruck der Willensmacht, also der Macht eines Erwachsenen im Vollbesitz seiner Fähigkeiten. Saleilles wendet ein, dass „man ohne einen Willen sein und dennoch Rechte haben kann.“65 Das ist der Fall bei Embryonen, bei Mündeln, bei „Verrückten, die in ihrem Bett schlafen“. Für Saleilles ist es inakzeptabel, die juristische Subjektivität allein an die Geschäftsfähigkeit zu binden. „Niemals würde jemand, außer vielleicht ein paar dilettantischen Liebhabern von Kuriositäten, in unserer modernen Gesell‐ schaft sagen, dass die Rechte des Mündels an den Vormund übergegangen sind,

60 61 62 63 64 65

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Saleilles 1910, S. 194. Ebd. Ebd. Saleilles 1910, S. 194. Saleilles 1910, S. 425. Saleilles 1910, S. 537.

ebensowenig wie man sagen würde, dass die Rechte des Bürgers an einen Herrscher übergegangen sind.“66 Aus Saleilles Sicht hat Jhering damit recht, das Primat des Zwecks über den Willen zu behaupten. Das Wesen subjektiver Rechte kann nicht in einem rein äußerlichen Handlungsvermögen bestehen. Die Handlungen des Vormunds können den Handlungen des handlungsfähigen Volljährigen nicht gleichwertig sein. Es ist der soziale Zweck der Rechte, der die Rechtssubjektivität ausmacht. „Das Recht wird demjenigen zugeschrieben, der seinen Zweck verkörpert, d.h. jegliche soziale Zweckbestimmung.“67 Das Recht liegt beim Mündel, beim Bürger, der durch die soziale Gesetzgebung begünstigt wird, kurz gesagt: bei den personnes incertaines in dem Sinn, den Saleilles diesem Ausdruck 1910 gegeben hat. Saleilles änderte die Definition des subjektiven Rechts von Jhering jedoch leicht ab (ebenso wie Michoud und Hauriou). In Frankreich entstand eine Ablehnung der Willenstheorie Savignys im Umfeld des soziologischen Positivismus. Sie stützte sich auf Jhering und seine Definition des Rechts als „ein rechtlich geschütztes Interesse“. Aus der Sicht von Saleilles und Hauriou hatte Jhering recht damit, den Zweck innerhalb seiner Definition des subjektiven Rechts aufzuwerten. Aber er hatte nicht recht darin, das Element des Willens vollständig aufzuheben. Saleilles bestand wiederum auf der Existenz eines Willens im Dienste des recht‐ lich geschützten Interesses. „Mit der Definition von Jhering“, schreibt er, „müsste man allen Begünstigten von administrativen Schutzmaßnahmen richtige subjektive Rechte verleihen, auch wenn diese Maßnahmen der Initiative und dem Ermessen der Repräsentanten einer Gemeinschaft überlassen bleiben. Ist es nicht im Namen der Subjekte, wie man früher sagte, oder der Bürger, wie wir heute sagen, und in ihrem Interesse, dass das öffentliche Recht, gemäß der Verfassung des jeweiligen Landes, dem Souverän Rechte zuspricht? Würde man sagen, es sind die subjektiven Rechte der Individuen, die er ausübt, wie ein Vormund die Rechte seiner Mündel? Wir können nicht akzeptieren, dass die Rechte jemand anderem zugesprochen werden als ihren Empfänger.“68 Es ist in den Augen von Saleilles also nicht ganz exakt, dass derjenige das Rechtssubjekt ist, für den die Nützlichkeit des Rechtes bestimmt ist. Das Risiko, das Saleilles sah, war, dass eine große Anzahl von Freiheitsrechten ihr materielles Substrat gleichsam nur in einem kontrollierten Lebensbereich finden. Das objektive Recht verfügt über zahlreiche Mittel zum Schutz der individuellen Interessen, wie zum Beispiel die polizeilichen Maßnahmen oder die strafrechtliche Verfolgung, aber dadurch werden die subjektiven Rechte nicht geschützt. „Wenn man mit Jhering sagt, dass die Rechte rechtlich geschützte Interessen sind“, schreibt Saleilles, „dann 66 Saleilles 1910, S. 537. 67 Saleilles 1910, S. 500. 68 Saleilles 1910, S. 544.

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gibt man damit nur den halben Begriff des Rechts an, denn vor allem geht es darum, zu wissen, wie diese Interessen rechtlich geschützt werden.“69 Seine Aufwertung des Elements der Assoziation oder der Korporation in der Stif‐ tung hat genau diesen Sinn: sie soll dadurch demokratischer werden. Die Aufwer‐ tung der organischen Struktur – die er „das deutsche Kriterium“ nennt – gegenüber der Art des Zwecks, ohne radikalen Gegensatz der beiden, ist die Lösung, die er dafür gefunden hat.70 „Der Zweck ist das zentrale Element im Recht“.71 Darin besteht die Lehre, die es von Jhering und dem „sozialen Modell“ beizubehalten gilt. „Aber das kollektive oder korporative Element darf nicht verschwinden. Es war Savignys Irrtum, beide gegeneinander zu stellen.“ Und es ist das Verdienst „der Theorie Gierkes und von allen, die daran anschließen“, herauszuarbeiten, dass „das kollektive Element als wesentlicher Teil der Institution erhalten bleibt.“72

4.3 Der Staat als Stiftung Verwirrend ist, wie man sieht, dass Saleilles stets zwei verschiedene Fragen ver‐ mischt, diejenige der subjektiven Rechte (Wille oder Interesse?) und diejenige der Verbandsformen (Korporation oder Stiftung?). Die verschiedenen Definitionen des subjektiven Rechts können mit den verschie‐ denen Verbandsformen in Beziehung gebracht werden. Das französische Modell der association entspricht zum Beispiel der Definition des subjektiven Rechts bei Savigny: beide implizieren das Primat des individuellen Willens als Willen schlecht‐ hin gegenüber dem Zweck. Savignys Modell der Stiftung entspricht der Definition des subjektiven Rechts bei Jhering: beide implizieren den Vorrang des objektiven Zwecks gegenüber dem Willen. Für Jhering ist das Subjekt nicht Inhaber des Rechts, sondern Empfänger, wie „die Armen und die Gefangenen“ in den Wohlfahrtsorgani‐ sationen. Saleilles gibt der Frage der Stiftung erkennbar ein erhebliches Gewicht. Sie wird zum tragenden Element seines Systems. Der Grund, weshalb er den piae causae des 4. Jahrhunderts unter allen Umständen eine „föderale“ Interpretation geben wollte, weshalb er auf ihrer Autonomie gegenüber der Kirche bestanden hat und weshalb er so betont hat, dass die incertae personae Eigentümer sind, liegt auf der Hand: sein normatives Modell stand auf dem Spiel. Die Idee der Stiftung, die er „konsti‐ tutionalisiert“, ermöglicht es ihm, das subjektive Recht mit dem objektiven Recht, 69 70 71 72

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Saleilles 1910, S. 505. Saleilles 1910, S. 441. Saleilles 1910, S. 429. Saleilles 1910, S. 430.

das Rechtssubjekt mit dem Sozialeigentum und das Sozialeigentum mit dem Staat zu verbinden. Das Konzept der Stiftung erlaubt es ihm, die soziale Frage innerhalb der Theorie des Rechts zu verorten. So wird es für ihn möglich, die Existenz eines Rechtssubjekts gegenüber Duguit zu behaupten, auch wenn er gegenüber Rousseau dessen Prekarität unterstreicht. Die Subjekte, wie „modern“ sie auch sein mögen, sind Personen, die etwas erhalten bevor sie etwas geben. Sie werden in die Welt gesetzt. Sie werden erzogen. Sie erben. Aus diesem Grund kann man am Ende sogar den Staat mit einer Stiftung vergleichen. Der Staat als Stiftung: diesen, für die französische III. Republik geradezu hä‐ retischen Vergleich formuliert Saleilles aber nicht direkt. Hauriou wird ihn 1910 in seinen Principes du droit public formulieren, indem er die Arbeiten Saleilles' über die Stiftung, die er „sehr interessant“ findet, kommentiert. Er wird von ihnen angeregt, seinen Begriff der Institution zu erweitern.73 Saleilles begnügte sich damit, es kontinuierlich nahezulegen. Saleilles griff Gierkes These wieder auf, dass die Kirche die erste Anstalt gewesen war, noch vor dem Staat.74 Er übernahm Gierkes Perspektive auf die Rechtsgeschichte, die doppelte Kontinuität, die er zwischen dem Mittelalter und der Moderne, zwischen dem kirchlichen Bereich und dem politischen Bereich sah. Er neigte aber dazu, die Frage der Geschäftsunfähigkeit (des Unmündigen, des Verrückten, des Mündels usw.) und die Frage der incertae personae zu vermischen. Die unbestimmte Gemeinschaft der durch die piae causae Begünstigten wurde zur Gemeinschaft der modernen Bürger des Wohlfahrtsstaates. Aber so paradox dies auch erscheinen möge, es ging nicht darum, die Passivität des Volkes oder seine politische Inkompetenz zu behaupten, wie es Gabriel Tarde oder Gustave Le Bon machten. Es ging auch nicht darum, an die veraltete Logik der Armenpflege, in de‐ nen die sozialen Rechte als die Rechte der Armen angesehen wurden, anzuknüpfen. Es ging nicht darum, zu behaupten, dass durch ihre logische und rechtliche Struktur, derartige Rechte nichts anderes als eine organisierte Wohlfahrtspflege sein können. Es wäre falsch, daraus zu schließen, dass Saleilles' Paradigma der Stiftung ein fataler Archaismus war. Es war vielmehr ein wohl überlegter Anachronismus. Denn es waren nicht Wohltätigkeitseinrichtungen, wie wir sie uns intuitiv vorstellen, mit denen Saleilles den Staat zu vergleichen versuchte. Es war vielmehr seine Kombi‐ nation aus Assoziation und Stiftung, d.h. ein metajuristisches, sehr abstraktes, und reflexives Konzept. 73 « Pour nous il y a dans l’État une chose ou un ensemble de choses, une res publica, un status rei romanae ou rei gallicae. Et ce n’est pas une raison pour qu’il n’y ait pas aussi une personne juridique, car des ensembles de choses peuvent être personnifiés, surtout si l’on se souvient que ces choses sont actives. C’est peut-être seulement une raison pour que l’État personne mo‐ rale soit considéré comme étant une fondation, c’est-à-dire un ensemble actif de choses, plutôt que comme étant une association, ou un ensemble actif de personnes », Hauriou 2010, S. 174. 74 Gierke 1873.

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Wenn er sein Schema der Stiftung ins Zentrum seiner Definition des Rechtssub‐ jekts stellte, dann um zu verdeutlichen, dass die Stiftung ein „Bündel von Rechten“ ist, ein Komplex von vielfältigen Relationen, die verschiedenen Subjekten angehö‐ ren. So konnte von der Willenstheorie Abstand genommen werden. Es ging darum, gegen Savigny, aber auch gegen Gierke, zu unterstreichen, dass das Recht nicht von seinem Träger aus gedacht werden kann.75 Und es ging darum, herauszustellen, dass es im Recht eine Verdoppelung gibt zwischen der Rechtsfähigkeit und der Geschäftsfähigkeit – eine Verdoppelung, die man überall im Recht wiederfindet. „Es stimmt nicht“, schreibt Saleilles, „dass der Mensch, nur weil er Mensch ist, irgendwie ein Minimum an Rechten mit sich führt, die fest zu seiner Person gehören, so als wären sie ihm auf eine unumgängliche und unzertrennliche Weise garantiert.“76 Ein subjektives Recht ist ein Komplex von organisierter und garantier‐ ter Macht, die den Menschen erlaubt, ihre Freiheit auszuüben. Es erscheint als eine „verliehene Eigenschaft, die abhängig ist von der Art und Weise, wie die sozialen Verhältnisse aufgefasst werden, die also auf einem Verhältnis sozialer Interdepen‐ denz beruht“. Auf diese Weise ist es möglich, dem Embryo, dem Kind oder dem Verrückten, der in seinem Bett schläft, Rechte zuzuschreiben.77 Saleilles schließt da‐ raus nicht, wie Duguit, dass das Recht allein durch die Gemeinschaft verliehen wird, da der Staat aus seiner Sicht keine abstrakte Macht jenseits der realen Menschen ist. Er ist ein soziales Phänomen. Er besteht aus Individuen. Aus diesem Grund bleibt Gierkes Genossenschaft für ihn eine Art regulative Idee.

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Autoren/Autorinnen

Dr. Niall Bond, Jg. 1963, Promotion in Politikwissenschaft und Germanistik 1991 an der Albrecht-Ludwigs Universität in Freiburg, Habilitation 2010 in Geschichte und Zivilisation an der EHESS, ist Ideenhistoriker an der Universität Lyon 2, Forscher an der Soziologieabteilung der Universität Johannesburg (an der humanistischen Fakultät), und 2021 Fellow am Käte Hamburger Center for Advanced Study „Law as Culture“ in Bonn, und arbeitet als Übersetzer und als Konferenzdolmetscher. Auswahl neuerer Publikationen: Understanding Ferdinand Tönnies’ Community and Society: Volume 1: Political philosophy and sociological theory between enlightened liberal individualism and transfigured community, Berlin/New York 2013. Als Her‐ ausgeber: Ferdinand Tönnies, Communauté et Société, zs. mit Sylvie Mesure, Paris, 2010 und Gemeinschaft: Karriere eines Begriffs zwischen Mitgefühl, Tribalismus und Voluntarismus, Akte der Tagung in Lyon im Mai 2018, herausgegeben von Niall Bond, Arno Bammé und Ingrid Reschenberger, München 2019. Email: niall.bond@ univ-lyon2.fr Dr. Martin Espenhorst, Jg. 1965, Studium in Göttingen und Marburg, Promotion an der Philipps-Universität Marburg über August Ludwig Schlözer (1735–1809; 1999/2000), Dozent an der Penn State University (Pa., USA; 2001), wiss. Mitarbei‐ ter am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (2003–2014). Forschungsinteres‐ sen: Wissenschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts (u.a. August Ludwig Schlözer, Familie v. Palthen, Dietrich Hermann Hegewisch), Friedens- und Europageschichte der Vormoderne, Genossenschaftswesen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Kul‐ turgeschichte des Osnabrücker Nordlandes. Auswahl neuerer Publikationen: Aus Neigung zum Staat. Die deutsche Reichsnation im Werk August Ludwig Schlözers (1735–1809) und seine Reise nach Rom (1781–1782), Teil 1, in: Archiv für Kultur‐ geschichte, Band 103 (2021; im Druck). Friedensverträge, in: Inge Dingel et al. (Hg.), Handbuch Frieden im Europa der Frühen Neuzeit, Berlin 2021, S. 343–364. Artikel zu Samuel v. Pufendorf, Christoph Cellarius, Nicolaus Hieronymus Gund‐ ling, Johann Franz v. Palthen. Dietrich Hermann Hegewisch, in: Winfried Böttcher (Hg.), Europas vergessene Visionäre. Rückbesinnung in Zeiten akuter Krisen, Ba‐ den-Baden 2019. Johannes Althusius (1557/63–1618) aus der Sicht Otto (v.) Gierkes (1841– 1921), in: Emilio Bonfatti, Giuseppe Duso, Merio Scattola (Hg.), Politische Begriffe und historisches Umfeld in der Politica methodice digesta des Johannes Al‐ thusius, Wiesbaden 2002, S. 331–361. Die Genossenschaftstheorie Otto v. Gierkes (1841–1921), Göttingen 2001. Email: [email protected]

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Dr. Ben Holland, Jg. 1982, ist Associate Professor in der School of Politics and International Relations an der University of Nottingham (UK). Seine Forschungsin‐ teressen liegen in der Ideengeschichte der europäischen Staatenbildung, Souveräni‐ tätskonzeptionen und dem Verhältnis politischer und theologischer Diskurse. Er ist Fellow der Royal Historical Society und studierte an der Universität Cambridge und der London School of Economics and Political Science. Auswahl neuerer Publi‐ kationen: The Moral Person of the State: Pufendorf, Sovereignty and Composite Polities, Cambridge 2017 und Self and City in the Thought of Saint Augustine, Palgrave Macmillan 2020. Email: [email protected] Dr. Céline Jouin, Jg. 1975, ist Maître de conférences der Rechtsphilosophie und politischen Philosophie an der Universität Caen Normandie in Frankreich. Forschungsschwerpunkte: politische Philosophie nach Hegel und Marx, Rechtsphilosophie und insbesondere deutsche Rechtstheorie im 19. und 20 Jhd. Sie hat Gierkes Buch über Althusius ins Französische übersetzt und herausgegeben. Auswahl neuerer Publikationen: Le retour de la guerre juste. Droit international, idéologie, épistémologie chez Carl Schmitt, Paris, 2013. Als Herausgeberin: Otto von Gierke, Althusius et le développement des théories politiques du droit naturel, Paris, 2021 ; La constitution matérielle de l’Europe, Paris, 2019 ; mit Isabelle Aubert : Heller, Kirchheimer, Neumann. Trois pensées réformatrices du droit, Paris, 2020. Email: [email protected] Dr. Jasper Kunstreich, Jg. 1987, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung von Herrn Prof. Stefan Vogenauer am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie in Frankfurt am Main und seit 2021 Rechtsreferendar am Oberlandesgericht Frankfurt am Main. Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft in Heidelberg, Berlin, Oxford und Frankfurt am Main. 2017 Promotion an der Oxford University mit einer Arbeit über das deutsche Insolvenzrecht im 19. Jahrhundert, 2020 juristisches Staatsexamen in Hessen. Seit 2017 Mitarbeit im Projekt zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft (GMPG). Auswahl neuerer Publikationen: Bankruptcy jurisdiction and the space of economic transactions, Germany 1815–1871, in: Contextualizing Bankruptcy, hrsg. v. Natasha Coquery, Jürgen Finger, Mark Hengerer, VSWG Beihefte, Stuttgart (im Erscheinen); Hrsg. zusammen mit Thomas Duve und Stefan Vogenauer, Rechtswissenschaften in der Max-Planck-Gesellschaft 1948-2000, Göttingen (im Erscheinen). Email: kunstreich@ rg.mpg.de Prof. Dr. Peter Nitschke, Jg. 1961, Professor für Wissenschaft von der Politik an der Universität Vechta. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideengeschichte, Europäische Integration. Auswahl neuerer Publikationen: (Hrsg.), Gemeinsame Werte

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in Europa? Stärken und Schwächen im normativen Selbstverständnis der Europäischen Integration, Baden-Baden 2019. Einführung in die Politikwissenschaft, 2., erweiterte u. aktualisierte Aufl., Darmstadt 2020. Email: [email protected] Prof. Dr. Tilman Repgen, Jg. 1964, Studium der Rechtswissenschaften in Trier und Köln, 1993 Promotion, 2000 Habilitation, seit 2002 Lehrstuhl für Deutsche Rechts‐ geschichte, Neuere Privatrechtsgeschichte und Bürgerliches Recht an der Universität Hamburg, dort seit 2010 Dekan. Auswahl neuerer Publikationen: Das "Seminar für Deutsches und Nordisches Recht" und sein erster Direktor Karl Haff, in: 100 Jahre Rechtswissenschaft an Universität Hamburg, hrsg. von Tilman Repgen, Florian Jeßberger und Markus Kotzur, Tübingen 2019, S. 355-381; §§ 1773-1895 - Vor‐ mundschaft über Minderjährige, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. IV: Familienrecht, hrsg. von Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert und Reinhard Zimmermann, Tübingen 2018, S. 1346-1505 und Naturrecht in action. Rechtliche Argumentation in foro conscientiae anhand von Beispielen aus Vitorias Summen‐ kommentar, in: Von der Allegorie zur Empirie. Natur im Rechtsdenken des Spätmit‐ telalters und der Frühen Neuzeit, hrsg. von Susanne Lepsius, Friedrich Vollhardt und Oliver Bach, Berlin 2018, S. 63-84. Email: [email protected] Professor Dr. Dr. h.c. Joachim Rückert, Jg. 1945, 1964 Studium der Rechtswissen‐ schaft, Geschichte und Philosophie in Berlin, Tübingen und München. Habilitation 1982 in München, o. Prof. in Hannover 1984, in Frankfurt am Main 1992 für Neuere Rechtsgeschichte, Juristische Zeitgeschichte, Zivilrecht und Rechtsphilosophie, i.R. 2010. Auswahl neuerer Publikationen: Ausgewählte Aufsätze in 2 Bänden (Bibliothe‐ ca Eruditorum), Goldbach 2012; Dienstvertrag und Arbeitsvertrag, in Hist.-krit. Kommentar zum BGB, Bd. 3, Tübingen 2013, S. 700-1231; Savigny international? Hg. mit Th. Duve, Frankfurt a. M. 2015; Abschiede vom Unrecht. Zur Rechtsgeschichte nach 1945, Tübingen 2015; Denktraditionen, Schulbildungen und Arbeitsweisen der Rechtswissenschaft – gestern und heute, in: Selbstreflexion in der Rechtswissenschaft, hg. von E. Hilgendorf, Tübingen 2015, S. 13-52; Savigny-Repertorium, Hg. mit F.L. Schäfer, Frankfurt a.M. 2016; Methodik des Zivilrechts - von Savigny bis Teubner, 3. Aufl. Baden-Baden 2017; Unrecht durch Recht. Zur Rechtsgeschichte der NS-Zeit, Tübingen 2018; Berliner Schuldrecht – eine neue Epoche? In: Rechtswissenschaft in der Berliner Republik, hg. von Th. Duve und St. Ruppert, Berlin 2018, S. 506-533; The Invention of National Legal History, in: The Oxford Handbook of European Legal Culture, Oxford 2018, S. 22-83; Koalitionsrecht, Tarifverträge, kollektives Arbeits‐ recht und ihr Prinzip in Deutschland, in Zs. für Arbeitsrecht 4 (2019), S. 515-578; Autonomie des Rechts nach 1945, Hg. mit Lutz Raphael, Tübingen 2020; Art. Rechtsgeschichte, Rechtswissenschaft, in: Staatslexikon, 8. Aufl., Bd. 4, Freiburg 2020, Sp. 1186-1196 und 1257-1271; Privatautonomie unbegrenzt? in: Die offene

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Moderne – Gesellschaften im 20. Jahrhundert. Festschrift für Lutz Raphael, Göttingen 2020 S. 151-172. Email: [email protected] Prof. Dr. Dr. h.c. Jan Schröder, Jg. 1943, seit 1989 Inhaber des Lehrstuhls für Deut‐ sche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht an der Universität Tübingen, im Ru‐ hestand 2009. Auswahl neuerer Buchpublikationen: Rechtswissenschaft in der Neu‐ zeit. Geschichte, Theorie, Methode. Ausgewählte Aufsätze 1976-2009, Tübingen 2010; (mit Gerd Kleinheyer, Hrsg.) Deutsche und europäische Juristen aus neun Jahrhunderten. Eine biographische Einführung in die Geschichte der Rechtswissen‐ schaft, 6. Auflage, Tübingen 2017; Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristi‐ schen Methodenlehre in der Neuzeit (1500-1990), 2 Bände, 3. Aufl., München 2020. Email: [email protected] Prof. Dr. Peter Schröder, Jg. 1965, ist Professor für die Geschichte des politischen Denkens im History Department am University College London. Gastprofessuren in Paris, Rom und Seoul. Forschungsinteresse: politische Ideengeschichte, insbesonde‐ re Souveränitätskonzeptionen, Naturrecht und internationale Beziehungen der frühen Neuzeit. Auswahl neuerer Publikationen: Trust in Early Modern International Politi‐ cal Thought, 1598-1713 (Ideas in Context 116) Cambridge 2017 (paperback 2019); als Herausgeber: R. Filmer, Patriarcha, Hamburg 2019; T. Hobbes, Dialog zwischen einem Philosophen und einem Juristen über das englische Common Law, Hamburg 2021 und Concepts and Contexts of Vattel‘s Political and Legal Thought, Cambridge 2021. Email: [email protected] Prof. Dr. Helga Spindler, Jg. 1948, em. Professorin für Sozial- und Arbeitsrecht, zu‐ letzt am Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik der Universität Duisburg -Es‐ sen. Sie hat sich nach ihrer Dissertation 1982 zu Gierke mit aktueller sozialrechtli‐ cher Geschichte und Ideengeschichte befasst. Auswahl neuerer Publikationen: Kap. 6: Der aktivierende Sozialstaat und sein Verhältnis zur Existenzsicherung, S. 74-86, in: Berlit/Conradis/Pattar (Hrsg.) Handbuch Existenzsicherungsrecht, 3.Aufl. Nomos, 2019; Sozialhilfe- das verkannte Grundsicherungssystem der alten Bundes‐ republik, in: Sozialer Fortschritt 2013/6, S. 154-162; Von der Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum neuen Hartz-IV-Fürsorgeregime - längere Geschichte und Geschich‐ ten zur Abschaffung der beiden Systeme und zur Neuregelung. Manuskript, 2008: www.uni-due.de/edit/spindler/publikationen; War auch die Hartz- Reform ein Ber‐ telsmann Projekt? in: Wernicke/Bultmann (Hrsg.): Netzwerk der Macht-Bertels‐ mann, BdWi Verlag Marburg 2007, S. 243- 276, mit einem Nachtrag 2008 auch bei www.nachdenkseiten.de vom 23.9.2009. Email: [email protected]

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