Der Komponist als Autor: Alfred Schnittkes Klavierkonzerte 9783412207625, 3412207624

Alfred Schnittke (1934-1998) gilt gemeinhin als Komponist, der mit dem Begriff der Polystilistik das Paradigma der Postm

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Der Komponist als Autor: Alfred Schnittkes Klavierkonzerte
 9783412207625, 3412207624

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Christian Storch Der Komponist als Autor

Schriftenreihe der Hochschule für Musik Franz Liszt herausgegeben von Detlef Altenburg Band 8

Christian Storch

Der Komponist als Autor Alfred Schnittkes Klavierkonzerte

2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Alfred Schnittke während der Uraufführung des Films Die letzten Tage von St. Petersburg in der Alten Oper Frankfurt (8. November 1992). Foto: Jürgen Köchel, Privatarchiv Jürgen Köchel, Hamburg. © 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20762-5

Inhalt

Vorbemerkung ....................................................................................................................

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Einführung ..........................................................................................................................

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I.

Alfred Schnittkes Klavierkonzerte – Analysen der Notentexte ................... 13 1. Konzert für Klavier und Orchester (1960)...................................................... 1.1 Analyse der einzelnen Sätze ................................................................................................. 1.2 Zusammenfassung .................................................................................................................. 2. Musik für Klavier und Kammerorchester (1964) ........................................... 2.1 Analyse der einzelnen Sätze ................................................................................................. 2.2 Zusammenfassung .................................................................................................................. 3. Konzert für Klavier und Streicher (1979)........................................................ 3.1 Werkform................................................................................................................................... 3.2 Motive im Konzert für Klavier und Streicher ................................................................ 3.3 Disposition der Motive; Analyse weiterer musikalischer Erscheinungen ............. 3.4 Zusammenfassung .................................................................................................................. 4. Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester (1988) ................... 4.1 Werkform................................................................................................................................... 4.2 Analyse der einzelnen Teilsätze........................................................................................... 4.3 Zusammenfassung ..................................................................................................................

II.

13 13 27 27 28 49 52 52 53 55 70 72 72 73 99

Alfred Schnittkes Klavierkonzerte im auktorialen Diskurs .......................... 102 1.

Einleitung: „Akustisch kann man nicht blättern.“ Zum Problem der Begriffe Autor und Werk in der Musik ..................................................... 102 1.1 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Musik und Literatur..................... 102 1.2 Der Interpret als Co-Autor. Gemeinsamkeiten zwischen Sprechtheater- und Musikaufführung............................................................................... 107

2

Inhalt

2. 2.1 2.2 2.3 3. 3.1 3.2 3.3 3.4

Interpretation und ihre Grenzen....................................................................... 115 Interauktorialität – die Autorschaftsfigur als Palimpsest............................................. 115 Grenzen der Interpretation I – Biographie als Basis von Hermeneutik ................ 161 Grenzen der Interpretation II – Der Rezipient als Ursprung und Zielpunkt von Hermeneutik ................................................................................................ 190 Der Autor als Konstrukt .................................................................................... 196 Eigeninszenierung des Autors und Fremdinszenierung der Autorschaftsfigur ..................................................................................................................... 196 Selbst-Negation als Inszenierung von (Nicht-)Autorschaft....................................... 226 Streben nach Anerkennung. Adressaten der Eigeninszenierung. Reflexionen des Anderen im Eigenen und umgekehrt ............................................... 230 Gattungsspezifik als Konstruktionshilfe. Das Soloinstrument als impliziter Autor? ...................................................................................................................... 251

Zusammenfassung.............................................................................................................. 260 Anhang ................................................................................................................................ 264 Anhang 1 – E-Mail-Korrespondenz.......................................................................... 264 Anhang 2 – Fremdsprachige Originaltexte............................................................... 265 Bibliographie ....................................................................................................................... 270 Abkürzungsverzeichnis...................................................................................................... 283 Personenindex ..................................................................................................................... 284

Vorbemerkung

Alfred Schnittke wurde in Russland geboren und hat dort den längsten Teil seines Lebens verbracht. Deshalb beruhen zahlreiche Erkenntnisse der folgenden Abhandlung auf der Auswertung russischsprachiger Quellen. Die Übertragung russischsprachiger bzw. kyrillischer Namen und Aufsatz- oder Buchtitel basiert deshalb auf einem bestimmten Schema, dass sowohl der Lesbarkeit als auch der Logik des Verständnisses dienlich sein soll. Da es für viele russische Personennamen bereits eine etablierte deutsche DudenSchreibweise gibt, so unter anderem für Dmitri Schostakowitsch und Alfred Schnittke, wird diese im Fließtext verwendet. Bei Namen weniger bekannter russischer Personen, für die es noch keine allgemeine deutsche Schreibweise gibt, erfolgt auch diese Verwendung auf Grundlage der Duden-Transkription. Im Fließtext ist jeweils dem eingedeutschten Wort die korrekte wissenschaftlich transliterierte Version bei der ersten Nennung hintangestellt, sofern sie von der eingedeutschten Schreibweise abweicht, z.B.: Eingedeutschter Name [Wissenschaftlich transliterierter Name] David Rabinowitsch [Rabinovič] Bei Zitaten, die in lateinische Schrift übertragen werden, steht sowohl beim Autornamen als auch beim Titel des Aufsatzes, Artikels oder Buches zunächst die wissenschaftliche Transliteration, um den russischsprachigen Verweis zu verdeutlichen. Dem Autorennamen ist dabei die eingedeutschte Version, wie sie im Fließtext verwendet wird, hintangestellt, z.B.: David Rabinovič [Rabinowitsch], „Konzerty N’ju-Jorkskovo orkestra” [Konzerte des New Yorker Orchesters], in: SM 23 (1959), Heft 10, S. 141–146.

In der Bibliographie richtet sich die Schreibweise nach der Bibliographierrichtlinie der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar mit der eingedeutschten Schreibweise in eckigen Klammern, z.B.: RABINOVIČ [RABINOWITSCH], David: „Konzerty N’ju-Jorkskogo orkestra” [Konzerte des New Yorker Orchesters], in: SM 23 (1959), Heft 10, S. 141–146.

oder ŠNITKE [SCHNITTKE], Al’fred [Alfred]: „Razvivat’ nauku o garmonii (Pis’mo v redakciju)“ [Das Wissen über die Harmonik fördern (Brief an die Redaktion)], in: SM 25 (1961), Heft 10, S. 44f.

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Vorbemerkung

Den transliterierten Titeln von Aufsätzen, Artikeln und Büchern ist außerdem eine korrekte deutsche Übersetzung in eckigen Klammern angefügt, wie in den oben aufgeführten Beispielen zu erkennen ist. Soweit nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen fremdsprachiger Texte, vor allem aus dem Russischen und Englischen, vom Verfasser. *** Die vorliegende Arbeit wurde am 23.01.2009 als Dissertation im Fach Musikwissenschaft am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena eingereicht. Das Promotionskolloquium fand am 29.06.2009 statt. Ein herzlicher Dank sei deshalb an dieser Stelle meinen Gutachtern Prof. Dr. Albrecht von Massow und Prof. Dr. Helen Geyer ausgesprochen. Ich danke außerdem der Witwe des Komponisten, Irina Schnittke, Prof. Alexander Iwaschkin vom Alfred-Schnittke-Archiv in London, Prof. Dr. Jelena Dolinskaja und Dr. Alla Bogdanowa vom Schnittke-Zentrum Moskau, Prof. Dr. Peter J. Schmelz, Prof. Dr. Franz Körndle, Prof. Mark Lubotsky, dem Präsidenten der Deutschen Alfred-Schnittke-Gesellschaft in Hamburg, Holger Lampson von der Alfred Schnittke Akademie International in Hamburg, meiner Mitherausgeberin der Reihe Schnittke-Studien, Amrei Flechsig, Hans Ulrich Duffek vom Sikorski-Verlag, Prof. Dr. Stefan Weiss, Dr. Gavin Dixon, Sarah Baltes, Thomas Grysko und den vielen fleißigen Korrekturlesern sowie allen, die ich jetzt vergessen habe. Ein weiterer großer Dank geht an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar, in deren Räumlichkeiten diese Dissertation verfasst wurde. Besonderer Dank gebührt darüber hinaus der Friedrich-Ebert-Stiftung, vertreten durch Marianne Braun, für ein zweijähriges Promotionsstipendium sowie dem DAAD für ein dreimonatiges Auslandsstipendium am Alfred-Schnittke-Archiv in London. Nicht zuletzt danke ich Prof. Dr. Detlef Altenburg, dem Direktor des Instituts für Musikwissenschaft Weimar-Jena und Herausgeber der Schriftenreihe der Hochschule für Musik FRANZ LISZT, in der dieses Buch erschienen ist, sehr herzlich für seine Unterstützung bei der Drucklegung. Ich widme diese Arbeit meinen Eltern und meiner Freundin Adriana.

Einführung

Diese Sinfonie hat zwar ein Programm, das mir als Autor bei der Arbeit natürlich bewusst war, das aber nicht unbedingt die Hörer beeinflussen sollte. Denn das Werk soll ja nicht durch Worte wirken, sondern durch die Musik, die Noten.1

Der Titel der vorliegenden Abhandlung verrät, dass es hier um einen diskursiven Interpretationsversuch geht, bestimmte musikalische Werke eines Komponisten unter literaturtheoretischen Aspekten zu betrachten. In der Tat war dies der apriorische Grundansatz dieser Arbeit. Jedoch erlag ich aufgrund auftauchender Fragezeichen der Versuchung, Alfred Schnittkes Klavierkonzerte auch unter soziologischen und philosophischen Aspekten zu interpretieren. Aus der Versuchung wurde mit zunehmendem Arbeiten eine Notwendigkeit, da sowohl musikwissenschaftliche als auch literaturtheoretische Erkenntnisse mit dem Verzicht auf die weiterführenden interdisziplinären Verweise nur unzureichende Diskurserkenntnisse geliefert hätten. Bevor die einzelnen Theorien, die verwendet wurden, um das gewählte Thema zu erörtern, vorgestellt werden, möchte ich erläutern, warum überhaupt Schnittke und seine Klavierkonzerte als Basis für einen auktorialen Diskurs ausgewählt wurden und um was es bei diesem Diskurs eigentlich geht. Alfred Schnittke, 1934 in der ehemaligen Sowjetunion geboren und 1998 in Hamburg gestorben, gilt heute als einer der wichtigsten und berühmtesten russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, gemeinhin auch als kompositorischer Erbe Dmitri Schostakowitschs [Dmitrij Šostakovič]. Seine Kompositionen wurden und werden überall auf der Welt aufgeführt, von Russland (bzw. der ehemaligen Sowjetunion) über Europa, Amerika und Japan bis nach Australien. Fast alle seine Werke sind mittlerweile auf CD eingespielt, teilweise von hochkarätigen Orchestern, Dirigenten und Solisten. Seine Musik wurde und wird weltweit nicht nur von NeueMusik-Fans, sondern von einem breiten Publikum verehrt. Ein Grund für die Berühmtheit Schnittkes liegt in der ihm zugeschriebenen Kompositionsweise, einer Art Collage-Technik, die Schnittke selbst ‚Polystilistik‘ nannte. Aufgrund dieser Technik, die tradierte Elemente und Topoi früherer Musikepochen oder unterschiedlicher Musikgattungen enthält, erweckt die Musik Schnittkes in ihrer Struktur einen vertrauten Eindruck. Zu diesen Elementen gehören neben tradierten Formvorgaben polystilistische Referenzen, die aus der Barockzeit oder der Zeit der Wiener Klassik, aus dem Jazz, dem Blues oder dem Walzer stammen können. Diese Referenzen dienen gleichsam als eingängiger Zugang zu den verborgenen Ebenen der musikalischen Syntax. Stilmittel dieser polystilistischen Kompositionsweise sind das Zitat, das Quasi-Zitat oder die Allusion, also die Andeutung. Diese 1

Alfred Schnittke über seine Symphonie Nr. 4, in: Jürgen Köchel (Red.), Alfred Schnittke zum 60. Geburtstag. Eine Festschrift, Hamburg 1994, S. 88.

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Einführung

Referenzen verweisen nicht nur auf andere Gattungen oder Epochen, sondern auch auf konkrete Werke anderer Komponisten, so u.a. auf Gustav Mahler oder Anton Bruckner. Aber auch Monogramme wie B-A-C-H oder D-eS-C-H (für Dmitri SCHostakowitsch) sind als Referenzen an Komponistenvorbilder gedacht. Gerade diese Verweise auf und Zitate von anderen Komponisten stellen jedoch die Frage nach der Autorschaft Alfred Schnittkes, nämlich ob er tatsächlich der genuine Autor seiner Kompositionen ist oder nur ein origineller Kompilator oder Editor, im pejorativen Sinne gar bloß ein Epigone. Eine zweite Ursache für den Erfolg der Musik Schnittkes liegt in ihrer Struktur. Schnittke komponierte hauptsächlich Werke, die Kontraste zwischen einem (oder mehreren) individuellen Instrument(en) und einer größeren opponierenden Orchestergruppe beinhalten. Ein derart ‚sozialer‘ Charakter seiner Werke fand in einer Gesellschaft wie der sowjetischen, aber auch darüber hinaus, leicht Anklang. Schnittke komponierte vier Violinkonzerte, vier Klavierkonzerte, zwei Bratschenkonzerte, zwei Cellokonzerte, ein Konzert zu dritt, sechs Concerti grossi und zehn Symphonien, die zum großen Teil aufgrund ihrer Instrumentierung ebenfalls diesen ‚sozialen‘ Charakter einer Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft in sich tragen. Mehrere Motive haben mich dazu bewogen, einen auktorialen Diskurs mit dem Schwerpunkt auf Schnittkes Klavierkonzerten zu führen. Zunächst gehören die Klavierkonzerte zur Gattung des Solokonzertes und damit zu der Gattung, in der Schnittke am häufigsten komponiert hat. Der Schnittke-Freund und -Biograph Alexander Iwaschkin schreibt, dass Schnittkes Solokonzerte „[are] inseparable from personality – [their] bright content and delivery need a personal or subjective reading”2. Das heißt im Prinzip nichts anderes, als dass das Auftreten des jeweiligen Soloinstruments direkt auf Alfred Schnittke verweist. Dieser Annahme, dass Schnittke in seine Solokonzerte eingeschrieben sein soll, wird am Ende dieser Abhandlung ein ganzes Kapitel gewidmet sein. Es bildet den Abschluss eines Diskurses, der auf mehreren Wegen dem Verhältnis Schnittkes zu seinen Klavierkonzerten und darüber hinaus nachspüren will. Ein weiterer Faktor für die Auswahl der vorliegenden Werke ist deren unterschiedliche Entstehungszeit. Weiter oben wurde leichtfertig das Begriffspaar ‚Schnittkes Musik‘ gebraucht. Tatsächlich muss hinterfragt werden, ob das Konzert für Klavier und Orchester aus dem Jahr 1960, das in einer Zeit entstand, in der Schnittke noch Aspirant bei seinem Kompositionslehrer Jewgeni Golubew [Evgenij Golubev] am Moskauer Tschaikowski-Konservatorium war, in seiner Stilistik und Materialbehandlung den späteren Klavierkonzerten ähnlich ist. Das zweite Klavierkonzert, die Musik für Klavier und Kammerorchester, entstand 1964. Das dritte und bekannteste Klavierkonzert, das Konzert für Klavier und Streicher, wurde 1979 komponiert und das vierte und letzte Konzert, das Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester, erst im Jahr 1988. Allein diese große Zeitspanne umfasst mehrere Stationen in Schnittkes kompositorischer Laufbahn, die von persönlichen 2

Alexander Ivashkin [Iwaschkin], Alfred Schnittke, London 1996, S. 168.

Einführung

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und politischen Umständen und Begebenheiten begleitet wurden, so dass anzunehmen ist, dass zu den jeweiligen Entstehungszeiten der Klavierkonzerte Schnittke sich als Autor in einem bestimmten Maße zu seinen Kompositionen verhalten hat. Zwei zusätzliche Beweggründe für die Auswahl Schnittkes und seiner Musik für diesen Diskurs sind außerhalb der Gattungsproblematik zu finden. Wie weiter oben erwähnt, beruhte Schnittkes Berühmtheit in der Sowjetunion zum Teil darauf, dass man sich dort mit der Konflikthaltigkeit in der Gegenüberstellung Soloinstrument– Orchester als Synonymisierung für ein Verhältnis Individuum–Gesellschaft sehr gut identifizieren konnte. Tatsächlich nahmen Künstler in der Sowjetunion als propagierter Teil der Ideologie im Vergleich zur westlichen Welt eine vollkommen andere öffentliche Stellung ein. Die kulturpolitischen Reden der Parteivorsitzenden oder des langjährigen Vorsitzenden des sowjetischen Komponistenverbandes, Tichon Chrennikow [Chrennikov], sowie die vielen einschlägigen Beiträge und Aufsätze in der Sovetskaja Muzyka, dem zentralen Presseorgan eben dieses Komponistenverbandes, belegen, mit welcher Vorsicht Komponisten (sowie alle anderen Künstler, allen voran die Literaten) sich zu ihren Werken äußern mussten und wie willkürlich selbst die Interpretation ihrer Werke vorgenommen wurde, um sie entweder zu loben, zu kritisieren oder gar mundtot zu machen. Einige dieser Beiträge über Alfred Schnittke werden im Verlauf des Diskurses zitiert und diskutiert, zeigen sie doch, dass Schnittke keineswegs bloß der Autor seiner Werke war, sondern immer in einem politisch (mal positiv, mal negativ) aufgeladenen Verhältnis zur Rezeption seiner Werke stand. Besonders unter dem Aspekt eines möglichen Strebens nach Anerkennung wird uns dieses Verhältnis begegnen. Schließlich fällt die Zeit, in der Schnittkes Werke auf der östlichen Seite des sogenannten Eisernen Vorhangs entstanden, aber ab den späten 1970er Jahren nicht mehr nur dort rezipiert wurden, mit der Debatte um den Autor, die vor allem in Frankreich und den USA geführt wurde, zusammen. Auch wenn diese Koinzidenz eher zufällig erscheint, lässt ein Zusammenführen womöglich sowjetischpostmoderner Kompositions- und Musikästhetik mit einem westlich-postmodernen Autorschaftsdiskurs Erkenntnisse erwarten, die zum Verständnis beider und zur Verständigung zwischen beiden auf den ersten Blick konträren Welten beitragen können.3 Ein Grund für dieses Verständnispotential ist der dritte Teil im Diskurs um Autor und Werk, der sowohl zwischen beiden vermitteln als auch einen Keil zwischen beide treiben kann, indem er sich einer der beiden Diskursobjekte bemächtigt: der Rezipient Schnittkes und seiner Musik. Weiter oben wurde schon auf die Rezeption von Schnittkes Musik seitens der offiziellen Kulturpolitik der Sowjetunion hingewiesen. Doch nicht nur diese spielt eine Rolle. Auch die westliche Musikkritik und die Musikwissenschaft sowie die Freunde und Wegbegleiter Schnittkes tragen ihren Teil 3

Zur Debatte um eine postmoderne Epoche oder Strömung in der sowjetischen Musikkultur vgl. den Tagungsband (Tagung vom 26.-28.11.2009 in Hannover) von Amrei Flechsig und Stefan Weiss (Hrsg.), Postmoderne hinter dem Eisernen Vorhang (Arbeitstitel), der im Olms-Verlag Hildesheim erscheinen wird.

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Einführung

zum Bild Schnittkes in der Öffentlichkeit bei. Inwieweit dieses Bild auf den Autor Alfred Schnittke und seine Klavierkonzerte zurückverweist oder auch nicht, wird ein wesentlicher Schwerpunkt dieser Arbeit sein. Um in den Diskurs um Autorschaft kurz einzuführen (eine ausführliche, historisch zusammenfassende Debatte kann hier gar nicht geleistet werden; ich verweise hierfür auf die Literaturangaben in der Bibliographie), sei ein kurzes Zitat gebracht, dass den Autor wie folgt definiert: For example, it entails a distinction between an unrestricted notion of writer-per-se (any person who writes) and a more restricted notion of writer-as-author, the latter conceived in social or ideological terms. That distinction is useful in showing that the mere act of writing (writing on the sand, jottings on an envelope) does not make an author. An author so designated is a more weighty figure with legal rights and social standing, a producer of texts deemed to have value.4

Demnach unterscheidet sich, nach Lamarque, ein Autor von Leuten, die einfach nur etwas schreiben, insofern, als ersterer Werke mit Wert erschafft, mit künstlerischem Wert sozusagen. Doch so einfach, wie Peter Lamarque den Autor definiert, liegt er uns heute nach einem ausgiebigen Autorschaftsdiskurs, der in der Literaturwissenschaft schon seit den 1940er Jahren geführt wird, leider nicht vor. Im Laufe der Jahrzehnte haben sich meiner Meinung nach drei Autormodelle herauskristallisiert, die mal mehr oder weniger stark in öffentlichen Diskursen ihren Platz finden: a) Der auctor mit Autorität über das Eigene, das von ihm Geschaffene. b) Der Autor als Medium, historisch perforiert und ohne eigene Autorität. c) Der ‚tote‘ Autor, dessen Werke und deren Definition als solche einzig und allein der Rezeptionsseite gehören bzw. obliegen. Die Frage ist, ob eines dieser Autormodelle und wenn ja, welches auf Musik im Allgemeinen übertragbar und auf Alfred Schnittke im Besonderen anwendbar ist. Es wird sich im Verlauf dieser Abhandlung zeigen, dass, in Bezug auf Alfred Schnittke, jedes Modell für sich im Interpretationsdreieck Autor–Werk–Rezeption erst dann seine volle Wirkung entfaltet, wenn es ins Verhältnis zu den anderen Modellen gesetzt wird und alle drei in eben diesem Dreiecksverhältnis Autor–Werk–Rezeption betrachtet werden. Dabei geschieht die Autorbetrachtung nicht um ihrer selbst willen, sondern basiert zum Einen auf Material, das über den Autor Alfred Schnittke (Eigenaussagen, Interviews, seine Werke, Rezeptionsdokumente), seine Klavierkonzerte (Form- und funktionsharmonische Analysen) sowie über die rezeptive Seite (in Form von Aufsätzen, Beiträgen, Interviews etc.) gewonnen und ausgewertet wird. Zum Anderen werden 4

Peter Lamarque, „The Death of the Author. An Analytical Autopsy”, in: The Death and Resurrection of the Author? (= Contributions in Philosophy 83), hrsg. von William Irwin, Westport 2002, S. 81.

Einführung

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verschiedene Theorien und Theoretiker herangezogen, von denen ich glaube, dass sie den zu führenden Diskurs mit ihren Erkenntnissen fruchtbar werden lassen. Die Auswahl der verwendeten Theorien erfolgte aus einer Fülle vertretener (und vertretbarer) Argumente und Positionen vor dem Hintergrund, ein Strukturationsmodell für die Interpretation von Alfred Schnittkes Klavierkonzerten im Verhältnis zu ihrem Autor und beider Rezeption zur Verfügung zu stellen, das über den musikwissenschaftlich-hermeneutischen Ansatz hinausgeht. Dabei muss klar sein, dass die getroffene Auswahl nicht die Negation des Nichtausgewählten darstellt, sondern lediglich ein Ausschnitt aus einem globalen Diskurs um das Verhältnis von Autor und Werk ist. Interdisziplinäre Interpretationsansätze bergen jedoch nicht nur in der Musikwissenschaft die Gefahr, einer Beliebigkeit in der Auswahl der zu interpretierenden Gegenstände ausgesetzt zu sein. Schnell werden Fragen nach dem Grund laut, warum man ausgerechnet diese Disziplinen miteinander ins Verhältnis setzen möchte, weshalb ausgerechnet unter diesem oder jenem Aspekt und wieso mit diesen oder jenen Beispielen versetzt. Gerade diese Anfälligkeit für einen Mangel an allgemein Gültigem, den eine vorgeworfene Beliebigkeit der Auswahl suggeriert, ist jedoch die Voraussetzung für jegliche Wissenschaft als Zweifel am Bestehenden. Gleichzeitig erwächst erst aus solchen Versuchen – mehr können sie ja a priori nicht sein – das Potential einer Progression wissenschaftlicher Erkenntnis, wenn Analyse und Interpretation den Pfad der eigenen Disziplin verlassen und jenseits ihrer Grenzen nach Möglichkeiten suchen, die ihnen impliziten Erkenntnisse aufschlussreicher darstellen zu können als innerhalb der jeweiligen Disziplin und ihrer Methoden. Das setzt natürlich voraus, dass unter Berücksichtigung lediglich interner Analyse- und Interpretationsmethoden eine nur unzureichende Erkenntnis zu erwarten ist, weshalb der Blick ‚nach draußen‘ erst eine Versuchung, später eine Notwendigkeit zu sein scheint. Dass dies im vorliegenden Fall zu einer schlüssigen Bereichung musikwissenschaftlicher Interpretationsverfahren führt, hoffe ich im nachfolgenden Diskurs aufzuzeigen. Weiter oben wurden die einzelnen von mir angewandten Theorien bereits angedeutet. Zunächst begegnet uns in der Einleitung zum Diskurs in Kapitel II.1.1 der Philosoph Rainer Marten mit seinen Überlegungen zum musikalischen Werkbegriff. Ohne diese einführende Klärung des Begriffs würde der gesamte Diskurs in Frage gestellt werden, besonders im Hinblick auf die rezeptive Seite. Die Frage nach der Klärung relevanter Termini stellt sich auch auf der Autorseite. Die oben aufgelisteten Autormodelle lassen sich auf mehrere Theorien beziehen, so unter anderem auf die des Philosophen Hans-Georg Gadamer, der Literaturwissenschaftlerin Ina Schabert, der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus und Hermann Danuser, der Literaturtheoretiker Roland Barthes, Michel Foucault und Fotis Jannidis und des Kulturhistorikers Felix Philipp Ingold. Mit dem trichotomischen Verhältnis von Autor, Werk und Rezeption beschäftigen sich auf unterschiedliche Weise die Literaturwissenschaftlerin Sandra Heinen, der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Umberto Eco, der Literaturwissenschaftler Gérard Genette, der Soziologe Axel Honneth sowie der

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Einführung

Philosoph Paul Ricœur. Die Theorien und Erkenntnisse dieser Personen sind die Hauptanknüpfungspunkte des vorliegenden Diskurses. Wie zu erkennen ist, bilden damit nicht nur literaturtheoretische, sondern auch soziologische und philosophische Erkenntnisse die Basis dieser Arbeit. Die vorliegende Abhandlung ist in zwei Teile untergliedert, von denen der erste eine Basis für den zweiten darstellt. Ich habe den Analyseteil vom Diskursteil deshalb getrennt, da ein Diskurs, der während seiner Führung beginnt, den Gegenstand seiner selbst (als Teil des Dreiecks Autor–Werk–Rezeption) zu analysieren, nicht nur dem Vorwurf einer willkürlichen Auswahl opportuner Analyseergebnisse ausgesetzt ist, sondern vielmehr sich selbst als Diskurs ‚auf Basis von‘ terminiert. Es hat wenig Sinn, einen Diskurs über Autor und Werk zu führen, bei dem unklar ist, was das zugrundeliegende Werk eigentlich auf der Partiturebene – der codierten Voraussetzung einer In-Klang-Setzung – ausmacht. Keines der Klavierkonzerte Schnittkes wurde bisher umfassend analysiert, d.h. ein Rückgriff auf vorhandene Analyseergebnisse, die zumindest die Materialdisposition aufzeigen können, ist gar nicht möglich. Deshalb muss zunächst geklärt, d.h. analysiert werden, was als Material überhaupt vorliegt und das Werk, welches dann in einen Diskurs geführt werden soll, ausmacht. Dass die Analyse nur auf der notentextlichen Werkebene stattfindet, ist einerseits eine Notwendigkeit, da es keine eindeutige, d.h. einzigartige auditive Werkebene geben kann. Andererseits ist dies die erste Crux jeglichen Autorschaftsdiskurses in der Musik, wie in Kapitel 1 des zweiten Teils dieser Abhandlung ausführlich erläutert wird. Die im ersten Teil dieser Abhandlung gewonnenen Analyseergebnisse der Notentexte bilden somit die Basis für den Autorschaftsdiskurs dort, bei dem neben eben diesen Erkenntnissen auch der Autor selbst, also Alfred Schnittke, sowie die Rezeption seiner Klavierkonzerte und seiner Person als Komponist anhand der Theorien der oben genannten Personen erörtert werden. Die vorliegende Arbeit ist in ihrer Faktur organisch, d.h. die Folge der Kapiteleinteilung ergab sich, abgesehen von der apriorischen Trennung von Analyse- und Diskursteil, z.T. erst beim Schreiben. Damit ist das, was in diesem Diskurs erörtert wird, keine statische Betrachtung, sondern ein Weg. Das Ende dieses Weges, das freilich determiniert sein muss, sind Ergebnisse, die in den einzelnen Kapiteln nicht allein erkenntnistheoretisch diskutiert, sondern vielmehr empirisch aus den Erkenntnissen des jeweils vorangehenden Kapitels abgeleitet worden sind. Aus der Versuchung, literaturtheoretische, soziologische und philosophische Theorien mit musikwissenschaftlichen Diskursen zu verknüpfen, wurde im Verlauf der Arbeit eine Notwendigkeit – der Weg des auktorialen Diskurses entstand erst während seiner Begehung. Dabei muss klar sein, dass „[a]lternativ gewählte und benutzte Beispiele […] abgewandelte Einsichten [liefern]. Diese Unschärfe gehört zum Thema.“5 Schließlich geht es, um nun die inhaltliche Auseinandersetzung vorzubereiten, in der nachfolgenden Abhandlung auch darum, einen gern benutzten Satz intensiv zu durchleuchten und auktorial zu hinterfragen: ‚Das ist typisch Schnittke!‘ Dieser Satz 5

Erich Kleinschmidt, Autorschaft. Konzepte einer Theorie, Tübingen und Basel 1998, S. 7.

Einführung

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wird besonders auf der rezeptiven Seite immer wieder offenbar, selbst wenn er nicht expressis verbis ausgesprochen wird. Dass allerdings dieser Satz hinterfragt werden muss, wird vielleicht schon durch die Analysen der Klavierkonzerte (als Notentexte) deutlich, spätestens aber während des nachfolgenden auktorialen Diskurses. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass derartige Zuschreibungen auch bei anderen Komponisten üblich sind, ohne einen genaueren Blick in das Verhältnis von Autor, Werk und Rezeption zu werfen. Ich bin davon überzeugt, dass der Diskurs, wie er in der vorliegenden Arbeit geführt wird, auch auf andere Komponisten und ihre Werke anwendbar ist, zumindest jedoch auf diejenigen, deren kompositorisches Schaffen sich unter ähnlichen Umständen entwickelt hat wie das Alfred Schnittkes.

I. Alfred Schnittkes Klavierkonzerte – Analysen der Notentexte

1. 1.1

Konzert für Klavier und Orchester (1960) Analyse der einzelnen Sätze

Das Konzert für Klavier und Orchester aus dem Jahr 1960 besteht aus drei Sätzen: 1. Satz Allegro 2. Satz Andante 3. Satz Allegro Sowohl die Satzaufteilung und -bezeichnungen als auch die Formvorgaben beziehen sich auf historische Vorbilder mit der Sonatenhauptsatzform im Kopfsatz, einer dreiteiligen Form als Mittelsatz und einem Rondo als Finalsatz. In der Besetzung kommen gegenüber den historischen Vorbildern allerdings Unterschiede zum Vorschein, die über eine bloße Variation hinaus gehen: Der überproportionale Blechbläseranteil, der mit vier Hörnern in F, drei Trompeten in B, drei Posaunen und Tuba symphonisch erweiterte Ausmaße hat. Auch das umfangreiche Schlagwerk erinnert eher an die symphonischen Gattungen des 19. und 20. Jahrhunderts und wird von Schnittke auch in den späteren Klavierkonzerten wieder aufgegriffen. Die Streicher sind gewöhnlich besetzt und bedienen damit wieder den Topos des Traditionellen. 1.1.1 Erster Satz Allegro Der Kopfsatz des Konzertes für Klavier und Orchester beginnt mit dem Hauptthema im Klavier, das nur von den Timpani begleitet wird. Dieses Hauptthema besteht aus einer Sekundfigur mit anschließendem Lauf vom Grundton e bis zur Mollterz g und schließlich abwärts bis zur Sexte c, bevor das Thema erneut beginnt. (Abb. 1)

Abb. 1: 1. Satz, Hauptthema in e-Moll.

In seiner musikalischen Form ist der Kopfsatz des Konzertes für Klavier und Orchester ein Sonatenhauptsatz mit Haupt- und Seitenthema. Das Seitenthema wird in der Exposition in Takt 46 vorgestellt (über der Dominante H-Dur7 mit großer Sexte) und hat gegenüber der eher lyrischen Gestalt des Hauptthemas eher tänzerischen Charakter. (Abb. 2)

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Analysen der Notentexte

Abb. 2: 1. Satz, Seitenthema über der Dominante H7.

Im Folgenden sei die klassische Sonatenhauptsatzform auf den Kopfsatz des vorliegenden Klavierkonzertes angewandt: Takt 1- 82 Takt 83-140 Takt 141-178 Takt 179-200

Exposition Durchführung Reprise Coda

Gehen wir nun näher auf die einzelnen Auftritte der beiden den ersten Satz kennzeichnenden Themen ein. Nach seinem ersten Auftritt im Klavier von Takt 1-10 setzen in Ziffer 1 nun die Streicher mit dem Hauptthema ein. Für zwei Takte spielen sowohl Klavier als auch Orchester das Hauptthema, jedoch nicht parallel, sondern um einen halben Takt versetzt, was eine deutliche Echowirkung zur Folge hat. In den folgenden Takten bis Ziffer 2 vollführen Klavier und Streicher Verzierungen, die aus Elementen des Hauptthemas und den kurzen Paukenmotiven stammen. Ab Ziffer 2 setzt eine erste Modulation in den Hörnern und im Klavier ein, die überleitenden Charakter hat und direkt in das Holz-Streicher-Tutti mit Hauptthema in Ziffer 3 mündet. Das HolzStreicher-Tutti ab Takt 33 (Ziffer 3) erklingt nach demselben Echoprinzip, wie es in Ziffer 1 zwischen Klavier und Streichern vorgestellt wurde: Die Holzbläser beginnen das Hauptthema, einen halben Takt später setzen die Streicher ein, spielen jedoch nicht das gesamte Hauptthema, sondern nur Themenausschnitte desselben. In Takt 41 erreicht die Vorstellung des Hauptthemas in der Exposition eine Art Höhepunkt, der aber bereits im Folgetakt verstummt. Eine kurze Überleitung führt zum tänzerischen Seitenthema in Ziffer 4 (Takt 46). Dieses erfährt eine ebenso solistische Introduktion im Klavier wie das Hauptthema zuvor, jedoch beginnt das Klavier beim Themeneinsatz im Orchester ab Ziffer 5 (Piccoloflöte und Flöte) mit Verzierungen; eine versetzt parallele Themenausführung in Soloinstrument und Orchester ist hier nicht vorhanden und verstärkt damit noch den tänzerisch-treibenden Charakter des Seitenthemas, das für lyrische Überblendungen keinen Raum lässt. Ab Ziffer 6 erklingt das Seitenthema parallel zum Hauptthema allein im Klavier. (Abb. 3) Nach fünf Takten wandert das Seitenthema in Oboe und Fagott, das Klavier konzentriert sich nun allein auf das Hauptthema (Ziffer 7).

Konzert für Klavier und Orchester

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Abb. 3: 1. Satz, Ziffer 6, Seiten- & Hauptthema solistisch im Klavier.

Die thematischen Eindeutigkeiten werden jedoch nach ein paar Takten aufgebrochen zugunsten einer eher abstrakten Verwandtschaft mit beiden Themen, bevor in Ziffer 8 (Takt 83) die Exposition im Orgelpunkt Gis endet und eine zehntaktige Überleitung zur Durchführung beginnt. Diese setzt mit dem variierten Hauptthema ein, wenngleich nicht in der Dominante, sondern in der Dur-Parallele G-Dur. Die Durchführung des Hauptthemas dauert bis Takt 119 (Takt 1 vor Ziffer 13), das Sekundmotiv und der Achtellauf werden teilweise getrennt verarbeitet und erklingen simultan in unterschiedlichen Instrumenten. Neben polytonalen Elementen (etwa in Ziffer 10, wo in Takt 96 auf engstem Raum zwischen A-Dur und Es-Dur changiert wird) treten besonders die für die russische Musik so typischen Modulationen auf, wenn zum Beispiel in Ziffer 11 die Hörner von Es über F und Des zu D-Dur modulieren (Takte 104-111). Von Polyharmonik ist hier allerdings nichts zu erkennen. Die ganze Passage gleicht eher einer Überleitung hin zur sich unmittelbar und plötzlich anschließenden Durchführung des Seitenthemas. Die Durchführung des Seitenthemas verweist in seinem Beginn auf die Exposition des Hauptthemas: Zunächst beginnen die Streicher mit dem Thema, in den Hörnern wird es dann halbtaktig verschoben wiederholt. Alles ist sehr schlicht gestaltet, mit einigen Motivabspaltungen und Sequenzierungen, bevor in Takt 128 plötzlich in den Trompeten im Fortissimo der erste Teil des Hauptthemas erscheint. Um das erneute Erklingen dieses Themas zu betonen, wird es gleich noch einmal wiederholt, auf der Quintstufe zur Tonika e-Moll des Hauptthemas. (Abb. 4)

Abb. 4: 1. Satz, Takt 128ff., Beginn des Hauptthemas in den Trompeten.

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Analysen der Notentexte

Es folgt in Ziffer 14 (Takte 135-140) eine kurze Überleitung, die in der Besetzung die Einleitung zur Exposition mit Pauken und Klavier wieder aufnimmt und damit verdeutlicht, dass nun in Ziffer 15 die Reprise beginnt. Der Einsatz der Reprise ähnelt tatsächlich dem Echoprinzip aus Ziffer 3, wobei der Orchesterpart mit Staccati in den Holzbläsern und Pizzicati in den Streichern hinter den Fortissimo-Akkorden des Klaviers zurücktritt und damit die Echowirkung noch verstärkt wird. In Ziffer 16 (Takt 156) setzt das Seitenthema in Terzparallelen ein. Diese Terzparallelen tauchen auch im gleichzeitig wieder verzierend spielenden Klavier auf und setzen sich in den Holzbläsern in Ziffer 17 fort. In Ziffer 19 (Takt 181) beginnt, nach kurzer Überleitung in den Takten 179-180, die Coda, die jedoch kein neues Material einführt, sondern zurückkehrt zum Hauptthema, dem eine dominierende Bedeutung zuteil wird. Der Verlauf der Themenbehandlung vollzieht sich ähnlich wie der des Seitenthemas in der Exposition: Die Struktur des Hauptthemas, das sowohl im Klavier als auch in der Orchesterbegleitung erklingt, wird nach und nach aufgelöst, so dass nach einem kurzen Solopart des Klaviers in Ziffer 20 der Aufbau des Schlussakkordes erfolgen kann, der den Kopfsatz in Takt 200 beschließt. Der erste Satz des Konzertes für Klavier und Orchester lässt sich also in seiner Chronologie grafisch wie folgt darstellen. (Abb. 5)

Konzert für Klavier und Orchester

Abb. 5: Konzert für Klavier und Orchester – Gliederung 1. Satz Allegro.

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Analysen der Notentexte

Aus dieser Übersicht wird die Traditionsgebundenheit des Kopfsatzes an klassische Formvorgaben deutlich. Alle drei großen Satzteile (fasst man Reprise und Coda zusammen) haben etwa die gleiche Taktanzahl, so dass sich der Satz mit seinen insgesamt 200 Takten in drei fast gleiche Drittel teilen lässt. 1.1.2 Zweiter Satz Andante Wie eingangs bereits erwähnt, besteht der Mittelsatz Andante aus drei Teilen, wobei der mittlere B-Teil auf das Hauptthema des ersten Satzes zurückgreift und es in einen walzerartigen Gestus einbettet, der den beiden Andante-Themen des A-Teils kontrastiv gegenübersteht. Der Mittelsatz des Konzertes für Klavier und Orchester ist demnach in folgende Teile gegliedert: Takt 1- 72 Takt 73-128 Takt 129-184

A-Teil B-Teil A’-Teil

Wie es im Kopfsatz des Konzertes bereits ersichtlich war, so ist auch der zweite Satz in drei Teilen mit etwa dem gleichen Umfang an Takten angelegt. Hieraus lassen sich zwei Dinge ablesen, die sowohl für die nachfolgenden Analysen als auch den Autorschaftsdiskurs im zweiten Teil dieser Abhandlung wichtig sind. Schnittkes Kompositionsansatz befindet sich, wie die Analyse bisher offenbart, auf einem Niveau, das die äußeren Formvorgaben noch nicht in Frage stellt, sondern das sich als apriorische Bedingung einer Materialpräsentation und -entwicklung innerhalb eines Formkanons bewegt. Dies wird besonders im letzten Klavierkonzert, dem Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester, bedeutsam, wenn eine vollständige Form weder von außen vorgegeben noch von innen, also aus der Materialentwicklung heraus, gestaltet wird. Der A-Teil des Andante-Satzes beginnt zunächst mit einem rhythmischen Motiv in der Gran Cassa, das über dem Orgelpunkt H in den Celli (als Dominanttonart zu e-Moll aus dem ersten Satz) im Pianissimo einen zwar schreitenden, jedoch stark zersetzten Rhythmus vorgibt. In Takt 3 setzt in der Bassklarinette (in B) ein Thema ein, welches mit seinem großen Melodiebogen in seiner Faktur einem typischen Andante-Thema eines traditionellen Solokonzertes entspricht. Das Thema beginnt auf der Quinte fis und öffnet den melodischen Ambitus in Takt 4 über e, gis und fis1, bevor in den Folgetakten die Melodie rhythmisch wieder abwärts geführt wird bis zu Takt 8, wo der Hauptteil des Themas endet. (Abb. 6) Die rhythmischen Akzentuierungen dieses Andante-Themas, wie es im Folgenden genannt werden soll, erlauben es, Teile abzuspalten und separat im Verlauf des A-Teils durchzuführen, ohne den Bezug zum Ganzen zu verlieren. Denn bereits in den Takten 9 bis 12 werden aus dem Mittelteil des Andante-Themas einzelne Motive als Umkehrung platziert.

Konzert für Klavier und Orchester

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Abb. 6: 2. Satz, Ziffer 22, Andante-Thema in der Bassklarinette.

In Ziffer 23 (Takt 13) wandert das Thema in die oberen Violinen I und die oberen Violoncelli. In Ziffer 24 setzt das Klavier ein, jedoch nicht mit dem Andante-Thema, sondern einer Variation dessen, das als eigenständiges Thema betrachtet werden soll. (Abb. 7)

Abb. 7: 2. Satz, Ziffer 24, Andante-Thema II.

Ab Ziffer 25 setzt auch das Klavier mit dem Andante-Thema ein, ebenfalls auf der Quintstufe fis1. Während das Thema in Ziffer 26 in die Flöten, Oboen und Violinen wandert, erklingen im Klavier wieder die bekannten Verzierungen, die, in Sechzehntelnoten ausgeführt, dieser Stelle eine gewisse Lebhaftigkeit verleihen. Die Verzierungen verdichten sich bis Takt 61, in dem auf der letzten Zählzeit das zweite Thema des Satzes einsetzt und nahezu solistisch als Überleitung zum B-Teil erklingt. In diesem nun, ab Ziffer 28, setzt plötzlich das Hauptthema aus dem ersten Satz wieder ein, zunächst in den Streichern in Sechzehntel-Pizzicati, ab Ziffer 29 im Klavier mit denselben Notenwerten. Das Hauptthema wird noch zweimal von den Violinen I wiederholt, bevor das Sekundmotiv von ihm abgespalten und durch die einzelnen Instrumente geführt wird. Im Klavier erscheinen wieder die Verzierungen. Die Durchführung bzw. Variierung des Hauptthemas setzt sich bis in Ziffer 31 fort, bevor in Ziffer 32 plötzlich ein Motiv erklingt, das wie eine Abspaltung aus dem zweiten Teil des Andante-Themas scheint und den 3/4-Takt als Walzergestus verstärkt. Parallel dazu erklingt jedoch weiterhin das Sekundmotiv aus dem Hauptthema des ersten Satzes in den Kontrabässen. Ab Ziffer 34 kehrt das zweite AndanteThema wieder, zunächst original, später als Variation. Der Satz wird immer weiter ausgedünnt, bis in Ziffer 36 eine fast solistische Überleitung im Klavier beginnt, die direkt in den dritten Teil des Satzes mündet. Dieser beginnt wieder in der Grundtonart des Satzes H-Dur mit einer weiteren Variation des Andante-Themas, das mehr die einzelnen Komponenten dieses Themas zersetzt und fast schon willkürlich aneinanderreiht bzw. überblendet. Nach diesem kurzen, zwölftaktigen Orchestertutti setzt unmittelbar ab Ziffer 38 die Soloka-

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Analysen der Notentexte

denz des Klaviers ein, in der vorher durch chromatische Modulation erreichten Tonart D-Dur. Auch die Kadenz enthält thematische Elemente des Andante-Themas, die zunächst polyphon beginnen. Im Verlauf der Kadenz werden die einzelnen rhythmischen Elemente des Themas verdichtet, bevor am Ende ein fast homophoner Satz diese zu einem Ende führt. Die letzten Akkorde der Kadenz bestehen in der rechten Hand aus Quart-, in der linken Hand aus Terzschichtungen, die jegliche Tonalitätszugehörigkeit unterbinden. Exemplarisch sei hier die Stelle zwei Takte vor Ziffer 39 herausgestellt, in der in der linken Hand zwischen as-Moll6 und g-Moll6 in Terzstellung changiert wird, in der rechten Hand aber parallel Quartschichtungen über dis2 und e2 erklingen. (Abb. 8) Es handelt sich hierbei wieder um das Stilelement der Polytonalität, das an dieser Stelle, kurz vor dem tonal eindeutigen fis1 des Orchesters als Einleitung der Reprise, erscheint. Derartige ‚Vernebelungen‘ sind uns ja auch schon im ersten Satz begegnet.

Abb. 8: 2. Satz, Takt 2 vor Ziffer 39, Polytonalität.

Wie schon erwähnt, beginnt die Coda des A’-Teils mit einem Tremolo auf dem Ton fis1, das sukzessiv vom Orchester im Crescendo aufgebaut, nach drei Takten jedoch eine Sekunde tiefer alteriert wird, so dass in Takt 145 im Fortissimo der Ton e1 erklingt – als Verweis auf den Grundton des Konzertes. In Takt 148 folgt ein Orchestertutti, das eine Zäsur schafft zwischen Vorhergehendem und dem nachfolgenden thematischen Material. In der Tat erklingt ab Ziffer 40 im vorliegenden Klavierkonzert das zweite Andante-Thema wieder in der rechten Hand im Klavier und wird von diesem auch mehrfach variiert wiederholt. In Ziffer 41 steigt in den Violinen I auch das lyrischere erste Andante-Thema in hohem Register wieder ein. In Takt 175 kommt das Walzer-Motiv hinzu, so dass alle drei wesentlichen in diesem Satz vorgestellten Themen bzw. Motive den zweiten Satz beschließen. Eine Soloklaviersequenz über c-Moll7 beendet den Satz, der attacca und damit wieder ganz traditionell in den Finalsatz Allegro mündet. Im Folgenden soll eine grafische Übersicht die Besonderheiten des zweiten Satzes Andante des Konzertes für Klavier und Orchester darstellen. (Abb. 9)

Konzert für Klavier und Orchester

Abb. 9: Konzert für Klavier und Orchester – Gliederung 2. Satz Andante.

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Analysen der Notentexte

Wie in der vorliegenden Analyse immer wieder deutlich wird, hat dieser zweite Satz deutlichen Variationscharakter. Beide Andante-Themen erklingen den ganzen Satz hindurch variiert wieder, zum Teil chronologisch, zum Teil anachronistisch. Themenabspaltungen mit Durchführungscharakter lassen damit auch die Grenzen zwischen Liedform und Sonatenform verschmelzen. Auch wenn der kontrastive Mittelteil lediglich das Hauptthema des ersten Satzes recycelt, so macht diese Art der Materialwiederverwendung auf eine historische Entwicklung aufmerksam, die zwar schon mehr als 50 Jahre alt war, jedoch nach wie vor Komponisten Inspiration gab: die Variabilität der Form. Von Gustav Mahler und Reinhold Glière über Arnold Schönberg und Alexander Skrjabin [Aleksandr Skriabin] bis zu Paul Hindemith und Benjamin Britten kann man das Aufbrechen tradierter Formen begutachten, wenngleich auf unterschiedlichen Wegen. Mahler und Glière haben den formalen Überbau beispielsweise der Symphonie nie verlassen, während sich unter anderem Skrjabin spätestens ab der 6. Klaviersonate von dem historischen Formvorbild emanzipiert hat. Schönbergs Kammersymphonien entstanden aus Wissen um die Fragilität der Formbewahrung, während Hindemith und Britten sich innerhalb eben dieser Fragilität oder Variabilität der Form den Freiraum für ihre Kompositionen nahmen. Ebenso verfuhr Dmitri Schostakowitsch, was von den in der Sowjetunion politisch Verantwortlichen mit dem Begriff des Formalismus diffamiert wurde und dabei doch das Gegenteil von dem aussagt, um was es in den Werken und der Kunsttheorie der Zeit eigentlich ging. Für Schnittkes erstes Klavierkonzert gilt diese Variabilität der Form auch. Das Verschmelzen zweier musikalischer Gestaltungsformen innerhalb eines Satzes mit deutlichen Interreferenzen zum ersten Satz verdeutlich jedoch auch eine Ästhetik, die besonders im Hinblick auf den sich attacca anschließenden Finalsatz offenbar wird, nämlich das Verquicken mehrerer Sätze zu einer dramaturgischen Einheit, der mehrsätzigen Einsätzigkeit. Dieses tradierte Formmodell liegt auch Schnittkes Konzert für Klavier und Orchester als formaler Unterbau zugrunde. Der zweite Satz Andante gibt mit seinem das Hauptthema des ersten Satzes zitierenden kontrastiven B-Teil einen ersten Hinweis darauf. Aus dem Kopfsatz kehren auch die Verzierungen zurück, die zur gehaltlichen Geschlossenheit der Komposition beitragen. Besondere Beachtung verdient jedoch das Walzer-Motiv, das nicht nur Anzeichen einer Schostakowitsch-Rezeption ist, sondern gleichzeitig auch präskriptiver Topos der späteren polystilistischen Ästhetik Schnittkes, in der die ‚Alltagsgattung’ Walzer eines der Synonyme für die Ambiguität des Banalen wird. 1.1.3 Dritter Satz Allegro Der Finalsatz des Konzertes für Klavier und Orchester ist in seiner formalen Disposition, wie eingangs dieser Analyse bereits erwähnt, ein Rondo. Dass er fast doppelt so lang ist wie der Kopfsatz des Konzertes, wurde ebenfalls geschildert. Anhand des thematischen Materials, das im Verlaufe des Satzes auftritt, lässt sich der Rondosatz folgendermaßen gliedern:

Konzert für Klavier und Orchester

Takt 1-70 Takt 71-100 Takt 101-156 Takt 157-218 Takt 219-282 Takt 283-373

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A-Teil B-Teil A’-Teil C-Teil D-Teil A’’-Teil

Aus dieser Übersicht wird ersichtlich, dass sich der D-Teil unmittelbar an den C-Teil anschließt und damit der Aufbau eines Kettenrondos unterbrochen wird. Wie weiter oben bereits angedeutet wurde, tritt tatsächlich das Hauptthema des Kopfsatzes in beiden Teilen erneut auf und beschließt somit die Zusammengehörigkeit aller drei Sätze zu einem dramaturgischen Ganzen. C- und D-Teil sind, wie zuvor im mittleren Satz, zusammen quasi erneut ein eingeschobener kontrastierender Part, ohne den sich die Theorie von der mehrsätzigen Einsätzigkeit in dieser Komposition nur schwer aufrecht erhalten ließe, auch wenn mit dem scherzohaften 6/8-Rhythmus des Satzes ein Bezug zum Walzer-Motiv des vorangegangenen Satzes hergestellt werden kann. Der Finalsatz des Konzertes für Klavier und Orchester beginnt mit einer kurzen Introduktion im Klavier, die sich beim Themeneinsatz in den Trompeten I und den Streichern in C ab Takt 5 als Verzierungen erweist. Das Finalthema besteht aus zwei Teilen zu je zwei Takten, die beide einen ähnlichen melodischen Gestus haben. (Abb. 10)

Abb. 10: 3. Satz, Finalthema.

Parallel zur Themenvorstellung beginnt bereits in den Hörnern eine Themenverarbeitung, weshalb das Fortspinnen des thematischen Gedankens ab Takt 9 nicht weiter verwunderlich ist. Das Klavier begleitet weiterhin in schnellen Achtelverzierungen in hoher Lage. Ab Ziffer 44 (Takt 22) beginnt auch das Klavier mit dem Finalthema, allerdings sind die Intervallverhältnisse des aufsteigenden Melodieteils gegenüber dem ersten Auftreten des Themas variiert. In Ziffer 45 werden die verzierenden

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Analysen der Notentexte

Achtelläufe in der linken Hand des Klaviers zugunsten eines homophonen Gesamtklangs aufgegeben, bevor in Ziffer 46 (Takt 71) der B-Teil beginnt. Dieser stellt gleich zu Beginn im solistisch spielenden Klavier ein Thema vor, das dem Eingangsthema im A-Teil nicht unverwandt ist, nicht nur im Hinblick auf den Fortspinnungsgedanken, der auch diesem Thema immanent ist. (Abb. 11) Zunächst bleibt die Materialverarbeitung dem Klavier vorbehalten, erst in Ziffer 47 setzt das Orchester mit der Wiederholung dieses Themas ein.

Abb. 11: 3. Satz, Thema II.

Das Klavier unterdessen kontrastiert den Melodiebogen des Orchesters mit lauten Akkord-Repetitionen, gleich als wolle es die Übernahme des Themas in das Orchester verhindern. Schließlich münden diese Repetitionen im Klavier wieder zurück zum Finalthema, so dass nach einer kurzen Überleitung ab Takt 100 ein A’-Teil in den Hörnern einsetzt, gleichzeitig aber B- und A’-Teil durch die variierten Akkordrepetitionen im Klavier verzahnt bleiben. Ab Ziffer 50 verfällt das Klavier in redundante Motivbildungen, die aus Elementen beider bisher vorgestellter Themen bestehen, der Bezug zum Finalthema jedoch stärker ist. Eine kurze Überleitung in Ziffer 51 trägt bereits Gesten des nachfolgenden C-Teils in sich. Über diesen Achtel- und Sechzehntelostinati erhebt sich nun in abgewandelter Form in den Oboen, Hörnern und der rechten Hand des Klaviers das bekannte Hauptthema aus dem ersten Satz. Zunächst ist jedoch die Verwandtschaft mit selbigem noch zu schwach, die Verzierungen in der linken Hand des Klaviers und den Violinen I tragen zur Entschärfung der Erkennbarkeit bei. Diese Bearbeitung des abgewandelten Hauptthemas dauert bis Ziffer 57, in der im Klavier plötzlich die gesamte Entwicklung reduziert wird auf sein eigenes Erklingen, gleichwohl im immer noch schnellen und vorwärtsdrängen-

Konzert für Klavier und Orchester

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den Rhythmus. In Ziffer 58 setzen die Streicher wieder mit dem variierten Hauptthema ein, in Takt 200 kommen die Holzbläser hinzu. Ein piano subito in Takt 208 bereitet das crescendo sempre, das direkt in den D-Teil und damit in das originale Hauptthema mündet, vor. Der D-Teil beginnt deshalb auch im Fortissimo mit dem in seiner melodischen Struktur originalen Hauptthema aus dem Kopfsatz. Jedoch ist die Tonart nicht reines e-Moll, sondern mit verminderter Quinte und großer Sexte mit den Tönen e, g, ais und cis (Oktavierungen unberücksichtigt). Der Einsatz des Hauptthemas wirkt von daher stark dissonant. In Takt 225 erfolgt eine Alterierung in den Holzbläsern hin zu dis3, was den Gesamtklang durch die weiterhin vorhandenen Terzschichtungen weiter eintrübt. In Takt 227 setzt nun das Seitenthema auf Dis-Dur ein, endet aber abrupt nach zwei Takten. Der plötzliche Abbruch des Themas, das zudem im Orchestertutti erklang, wirkt zunächst etwas verwunderlich. Ohne ein Ritardando wird die Entwicklung mitten in der aufsteigenden Achtellinie abgebrochen und reduziert auf die Pauke und die Gran Cassa, die wieder zurückkehren zum Hauptthema, dabei aber immer mehr an Ausdruckskraft verlieren. Der harmonische Satz dünnt immer weiter aus, auch wenn in Ziffer 62 das Klavier hinzukommt und die Motive aus der Überleitung vom A’- zum C-Teil erneut aufgreift. Damit erhalten aber der C- und D-Teil in der Tat eine Solitärstellung, gleichsam einen Rahmen, der das Hauptthema vom Rest des Finalsatzes abgrenzt. Die Überleitung zwischen Ziffer 61 (Takt 229) und Ziffer 64 (Takt 282) dient allerdings auch als Alterierung von Fis-Dur (das bereits beim Einsatz der Pauke in Ges-Dur enharmonisch verwechselt wird) zu G, in dessen Parallele e-Moll das Finalthema in leicht variierter Form ab Ziffer 64 (Takt 283) als wiederkehrender A’’-Teil erklingt. Interessant ist an dieser Stelle ein Blick auf die Blechbläser, denn diese bilden einen Orgelpunkt auf den Tönen e, g, h und d1 und damit einen Moll-Septakkord. In Takt 284 kommen die Hörner hinzu mit den Tönen f, a, c1 und e1 und wechseln sich mit den Trompeten und Posaunen ab, so dass ein tonal uneindeutiger Charakter dieser Passage entsteht. Diese Stelle gilt der Fundamentierung des wiederkehrenden Finalthemas, obgleich eben dieses Fundament jegliche harmonische Sicherheit vermissen lässt. Der A’’-Teil erfährt im weiteren Verlauf eine Bearbeitung sowohl in der Motivik durch Motiv-Abspaltungen als auch Modulationen, bevor in Ziffer 68 das Finalthema erneut einsetzt. Ab Ziffer 69 wird das Thema vom Klavier augmentiert übernommen, es ist dies der Einsatz des Schlusses, durch ein rallentando zuvor vorbereitet. Der Schlussakkord wird über ein crescendo im Orchester erreicht, das Klavier jedoch verharrt auf seinen Akkordclustern, die eine Weiterführung der Wechselharmonik (E–F) sind und damit den gesamten A’’-Teil in die Schlussbildung mit einbeziehen. Der Schlussakkord steht im Orchester in E-Dur im sforzato-fortissimo, das Klavier trübt diesen Akkord mit dem Ton f1(bzw. f2) ein. Eine grafische Übersicht soll auch diesen Satz zusammenfassen. (Abb. 12)

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Analysen der Notentexte

Abb. 12: Konzert für Klavier und Orchester – Gliederung 3. Satz Allegro.

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Die vorliegende Analyse hat gezeigt, wie eng die einzelnen Teile des Rondosatzes thematisch miteinander verbunden sind. Interessant ist aber auch ein Blick auf die Harmonik des Satzes, die bei verschlungenen Terzschichtungen beginnt und erst allmählich so etwas wie ein tonales Zentrum über E aufbaut. Sukzessive Modulationen, die meistens durch bitonale Akkordbildungen ergänzt werden, tragen zu dem harmonischen Verzerrungsbild bei, das auch schon im Kopf- und im Mittelsatz zu erkennen war. Hinzu kommt der permanente Durchführungscharakter des thematischen Materials, das selbst noch im A’’-Teil in einzelne Motive aufgespaltet und aneinandergereiht wird oder simultan erklingt. Damit wird in der Tat ein gewisses Maß an Clusterhaftigkeit erzielt, wie sie vor allem in den Klavierparts zum Vorschein kommt.

1.2

Zusammenfassung

Alfred Schnittkes Konzert für Klavier und Orchester aus dem Jahr 1960 steht musikhistorisch gesehen auf einer bestimmten Höhe seiner Zeit, welche andere Höhenstufen wie etwa Serialität, Aleatorik, Musique concrète u.a. ausblendet und sich ganz dem instrumental-musikalischen Moment einer historischen Kontinuität widmet, die sich in den ‚großen’ Gattungen Symphonie und Solokonzert bis dato erhalten hat. Dennoch lässt sich eine gewisse Offenheit des jungen Schnittke gegenüber vielerlei Einflüssen erkennen. Diese Einflüsse sind zu diesem Zeitpunkt vorwiegend historisch zu betrachten, liefern im Umkehrschluss aber auch Hinweise auf die spätere Entwicklung des Komponisten. Zu diesen Hinweisen zählen nicht nur die – hier noch als Verzierung gemeinten – Clusterbildungen, sondern auch in gewisser Hinsicht der Umgang mit musikalischem Material, das vor allem im Finalsatz des Klavierkonzertes permanenten Durchführungscharakter hat und damit zum Modell für den späten Schnittke werden wird. Hinzu kommt das Verschmelzen unterschiedlicher Satzformen, wie es im zweiten Satz mit Lied- und Sonatenform geschieht. Eine derartige Formüberlappung wird auch im Konzert für Klavier und Streicher wiederkehren.

2.

Musik für Klavier und Kammerorchester (1964)

Die folgende Analyse der Partitur der Musik für Klavier und Kammerorchester, die Schnittke im Jahr 1964 komponierte, baut auf den Ausführungen von Peter J. Schmelz auf, der die Komposition bereits kurz betrachtet und die wesentlichen Elemente herausstellt.6 Da Schmelz’ Analyse aufgrund der anderen Zielsetzung seiner Arbeit sehr kurz ausfällt, ist eine sorgfältige Untersuchung des Werkes für die vorliegende Arbeit nach wie vor unumgänglich. Schmelz’ Erkenntnisse sind dabei jedoch 6

Peter J. Schmelz, Listening, Memory, and the Thaw. Unofficial Music and Society in the Soviet Union, 19561974, PhD Diss. University of California 2002, S. 200–206.

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Analysen der Notentexte

in der Tat hilfreich, zumal er auf die sich mit der Zeit verändernde Rezeption des Werkes beim Komponisten selbst hinweist und somit bereits erste Hinweise für den anschließenden Autorschaftsdiskurs liefert.

2.1

Analyse der einzelnen Sätze

Die Musik für Klavier und Kammerorchester ist in drei Sätze mit einer eingeschobenen Solokadenz zwischen zweitem und drittem Satz gegliedert: 1. Satz 2. Satz Cadenza 3. Satz

Variazioni Cantus firmus Basso ostinato

2.1.1 Erster Satz Variazioni Zunächst treten die Instrumente des Kammerorchesters nacheinander auf, bis als letztes Instrument das Klavier hinzutritt: Vibraphon Cello Violine I Violine II Bassklarinette Viola Kontrabass Oboe Trompete und Horn Flöte Klavier

Takt 1 Takt 3 Takt 6 Takt 12 Takt 17 Takt 24 Takt 27 Takt 28 Takt 29 Takt 34 Takt 39

Allein aus dieser Chronologie ließe sich ein Verweis auf das klassische Solokonzert finden, in dem für gewöhnlich das Orchester thematisches Material exponiert und den Auftritt des Soloinstruments vorbereitet. Demgegenüber steht allerdings das sukzessive Auftreten der Orchesterinstrumente, an das sich das Klavier als lediglich ein weiteres Orchesterinstrument anschließt. Aus dem Titel der Komposition wiederum lässt sich eine exponierte Stellung des Klaviers als Soloinstrument deduzieren, so dass Argumente für eine Allusion an klassische Formvorgaben überwiegen, wenngleich die harmonische Grundlage eine völlig andere ist. In den ersten vier Takten wird vom Vibraphon und vom Cello eine Reihe R1 gemeinsam vorgestellt. (Abb. 13) Schmelz bezeichnet diese Reihe, der englischen Bezeichnung folgend, als Pitch (P0).7 7

Vgl. ebd., S. 202.

Musik für Klavier und Kammerorchester

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Abb. 13: 1. Satz, Takte 1-4, Reihe R1.

Hier sei jedoch das deutsche Kürzel verwendet. Gleich an dieser Stelle muss, im Hinblick auf das weitere Erscheinen dieser Reihe, R1 in ihrer Absolutheit hinterfragt werden. Denn die achten und neunten Reihentöne, h und e, sind beim späteren Erklingen der Grundreihe oder eines ihrer Derivate manchmal vertauscht, so z.B. in den Takten 10-11 in der Violine I. Schmelz gibt im Anhang seiner Dissertation e (im Cello) als den achten Ton und h2 (im Vibraphon) als neunten Reihenton an, fügt aber in Klammern eine (8) hinzu, da er sich ob der Reihenfolge der Töne nicht sicher ist.8 Es stellt sich deshalb gleich zu Beginn die Frage, wie ernst der dodekaphone Grundgedanke dieser Komposition zu nehmen ist, noch dazu, als auf die Exposition der Reihe R1 weniger eine Verarbeitung in den verschiedene Instrumenten folgt, sondern eher die Vorstellung eines Sujets vom Komponieren mit zwölf Tönen. Denn die Reihe R1, wie sie in ihrer Gesamtheit zu Beginn des Satzes eingeführt wird, taucht in dieser Intervallfolge (auch mit vertauschtem achtem und neuntem Ton) im ganzen ersten Satz nicht wieder auf. Auch eine Untersuchung hinsichtlich Umkehrung, Krebs oder Krebs der Umkehrung bringt dahingehend kein Ergebnis. Somit ist die These von Schmelz, die Reihe R1 sei die Grundlage des Satzes, die in verschiedenen Varianten wiederkehrt, nur eingeschränkt tragbar. Sein Beispiel aus den Takten 36-39, in 8

Vgl. ebd., S. 777.

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Analysen der Notentexte

denen in vertikaler Form sich aneinanderreihende zwölftönige Gebilde herauslesen lassen, mögen diese zwar sein. Hiernach auf eine Grundreihe schließen zu wollen, ist jedoch nicht zwingend, denn weder lässt sich in der Chronologie der jeweiligen Reihe der Anfangston as/gis noch ein Derivat feststellen, das sich aus den üblichen Reihenbehandlungen ableiten ließe. Das Auftreten dieser Zwölftonfelder ist deshalb meines Erachtens nach nichts weiter als das Komponieren in freier Atonalität. Allerdings lassen sich an anderen Stellen der Einleitung zum ersten Satz durchaus Derivate aus R1 feststellen. So erklingt in Takt 10 in Vibraphon, Violine I und Violoncello eine Variation von R1, die allerdings nur bedingt die grundlegenden Intervallverhältnisse beibehält, im Übrigen aber Tongruppen aus R1 abspaltet oder Intervallverhältnisse und Chronologien gänzlich auflöst. Ein ähnliches R1-Tonfeld erscheint in der Partitur in den Takten 16-19, das allerdings so nicht hörbar ist. Denn zwar hat die Bassklarinette die Intervallkette (Komplementärintervalle eingeschlossen) von R1 ab dem zweiten Reihenton A notiert, sie erklingt jedoch einen Ton tiefer, so dass die gesamte Intervallfolge und ihr Bezug zu R1 nur theoretisch besteht. Nun ist es in dodekaphoner Musik nicht unüblich, Reihen und ihre Derivate zu transponieren. Jedoch scheint es eine besondere Intention Schnittkes gewesen zu sein, den visuellen Schein von R1 zu bewahren, auch wenn im auditiven Ergebnis etwas anderes zum Tragen kommt. Unmittelbar darauf folgt eine weitere Sequenz, welche die Schwierigkeit einer Differenzierung zwischen dodekaphonen und frei atonalen Strukturen erneut verdeutlicht: Die Violine I, die eben noch mit der Bassklarinette R1 mit den Tönen h1, e2 und es2 (dis2) vervollständigt hat, beginnt nun selbst in Takt 19 mit dem Anfangston der Reihe R1 diese aufzubauen. Parallel setzt die Violine II ein mit d1, dem letzten Ton von R1, der damit in der Reihenbildung der Violine I noch keine Rolle spielt. Aber schon bereits nach zwei Tönen in der Violine I – as2 und a1 – kann diese selbst R1 nicht allein vollenden, sondern wird von der Violine II und deren cis2 (entspricht dem des2 in R1) ergänzt. Es folgen die Töne b1, c1 und g wieder in der Violine I, bevor die Violine II erneut aushilft und mit dem Ton f2 einen weiteren Ton der Grundreihe liefert. Bis hierhin funktioniert die Reihenbildung, auch wenn das d1 in der Violine II am Anfang stört. Doch ab der Mitte des Taktes 19 kann die Reihe R1 nicht mehr vervollständigt werden. Somit haben wir es hier mit einem Derivat von R1 zu tun, das in der traditionellen Satzlehre als Themen- oder Motivabspaltung bezeichnet werden würde. Dafür setzt in der Mitte des Taktes 19 im Violoncello die Reihe R1 wieder ein, ergänzt durch die Violine II und bis zum Ton fis2 auch vollständig. Lediglich der letzte Ton d der Reihe fehlt. In den folgenden Takten taucht R1 immer wieder in den einzelnen Instrumenten auf, allerdings nie, wie bereits erwähnt, als stringente Reihe erkennbar. So finden wir in den Takten 28 bis 31 in der Viola, im Horn sowie in der Bassklarinette je eine perfekte Zwölftonreihe. In der Viola beginnt in Takt 28 zunächst R1 mit den Initialtönen gis1 und a, danach fehlt jedoch die Fortführung dieser Reihe mit den Tönen des und b, dafür folgen c und g als fünfter und sechster Ton von R1. Auch eine Betrachtung der anderen Instrumente, die vorher zur Komplettierung von R1 beigetragen hatten, hilft hier nicht weiter. Es handelt sich

Musik für Klavier und Kammerorchester

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deshalb an dieser Stelle um eine neue Reihe R2, die zwar Elemente R1 in sich trägt, aber als eigenständige Reihe wahrgenommen werden muss. (Abb. 14)

Abb. 14: 1. Satz, Reihe R2.

Ein ähnliches Ergebnis liefert die Analyse der Reihe im Horn. Hier stimmt wieder die Notation von gis und a am Anfang, danach fehlt des/cis, jedoch folgen der vierte und fünfte Ton von R1, b und c1, danach wird R1 wieder aufgelöst. Es entsteht somit die nächste eigenständige Reihe R3, die zudem im klanglichen Ergebnis eine völlig andere Struktur aufweist. (Abb. 15) Die vierte Reihe, R4, die ab Takt 30 in der Bassklarinette erklingt, hat ebenfalls eine eigenständige Intervallführung und beginnt nicht mal mit gis. (Abb. 15) Schmelz’ Ausführungen wären an dieser Stelle hilfreich, wenn seine Herausarbeitung der Zwölftonfelder an diesem Punkt Erkenntnisse liefern und die strikte Anwendung von R1 verifizieren könnte. Doch diese Methode führt zu keinem befriedigendem Ergebnis, denn obwohl sich in Takt 28 in der Vertikalen ein Zwölftonfeld ausmachen lässt, ist dieses bereits im nächsten Versuch nicht mehr perfekt, da der Ton fis fehlt. Nun könnte man meinen, dem vorletzten Ton f der Violine II in ihrem 11:10-Achtel-Aufstieg fehle bloß ein Kreuz, was auf einen Schreibfehler zurückgeführt werden könnte.

32

Analysen der Notentexte

Abb. 15: 1. Satz, Reihen R3 und R4.

Doch erstens wird die Zwölftonfeld-Technik danach vollends aufgebrochen – es lassen sich keine zusammenhängenden und voneinander abgrenzbaren Zwölftonfelder mehr bilden –, zweitens birgt ein Blick auf eben die Elftonreihe der Violine II eine interessante Entdeckung: Hier fehlt als zwölfter Ton ebenso das fis. Würde man also dem Ton f ein Kreuz vorzeichnen, würde in dieser Reihe dann das f zur Komplettierung einer Zwölftonreihe fehlen. Schnittke setzt damit eine Zwölftonreihe gegen eine Elftonreihe und ein vertikales Zwölftonfeld, in dem der Ton f zweimal erklingt. Es entwickeln sich somit bereits in der Exposition des ersten Satzes starke Verästelungen, die sich von der Reihe R1 schon zu diesem Zeitpunkt ziemlich weit entfernen. Die Reihenbildungen, die nur noch rudimentär mit R1 zu tun haben, werden in den anderen Instrumenten bis auf Flöte und Kontrabass, in denen sich in den Folgetakten bis zum Einsatz des Klaviers keine Zwölftonreihen aufbauen, fortgeführt. Auch in der Trompete wird zum Ende der Exposition in den Takten 38-39 lediglich eine imperfekte Zwölftonreihe erreicht, in der der Ton b zweimal erklingt, das h dafür fehlt. Auf die Exposition ohne Klavier, in der die Grundreihe R1 und ihre mannigfaltigen Derivate sowie andere Zwölftonreihen und -felder vorgestellt wurden, folgen nach Takt 39 die 67 Takte andauernden Variationen. In ihnen, schreibt Schmelz, „[...] is a type of logic behind the instrumentation [...] with the piano concentrating on dense chordal statements of the ‚row’, and the instruments of the orchestra linearly sounding isolated pitches from the row [...]“9. An dieser Stelle soll auf die metrischen Angaben in der Musik für Klavier und Kammerorchester verwiesen sein, die sich sowohl von Satz zu Satz als auch innerhalb der einzelnen Sätze ändern. 9

Ebd., S. 202.

Musik für Klavier und Kammerorchester

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Die Takte 1-39 sind von Schnittke in der von ihm angefertigten handschriftlichen Partitur der Universal Edition taktweise numerisch beziffert. Doch wo eigentlich nach der Exposition Takt 40 folgen müsste, beginnt Schnittke erneut mit Eins zu zählen. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würde er je drei Takte zu einer Zählzeit zusammenfassen, doch ein Blick in die Metronomangabe offenbart, dass Schnittke lediglich den 9/16-Rhythmus soweit visuell augmentiert, bis jeweils drei Sechzehntel einen ‚Subtakt’ zugewiesen bekommt und damit drei dieser ‚Subtakte’ einen 9/16-Takt formen. Im Folgenden sei anhand dieser Zählung die Art des instrumentalen Zusammenspiels überblicksartig dargestellt, denn zunächst beginnen die Variationen im Tutti, bevor das Klavier mit je einem anderen instrumentalen Partner variiert, am Ende jedoch nach einer kurzen Solokadenz wieder ein Tutti den Satz beendet. Da Irritationen bei der Taktzählung in Exposition und den Variationen vermieden werden sollen, wird der neuen Zählung nach Takt 39 der Exposition der Buchstabe V vorangestellt. Der erste Takt der Variationen ist demnach V1, Subtakte werden mit V1-I, V1-II und V1-III usw. angegeben. Takt V1-32 Takt V33-36 Takt V37-44 Takt V45-56 Takt V57-59 Takt V60-67

Tutti Klavier und Holzbläser Klavier und Timpani Klavier und Streicher Klavier solo Tutti

Die von Schmelz beschriebenen vertikalen Reihenakkorde im Klavier sind nach kurzem Auftakt in Takt 39 der Exposition bereits in den ersten beiden Subtakten V1-I und V1-II sichtbar, wenngleich die beiden Akkorde in Subtakt V1-I aus insgesamt 15 Noten bestehen und sich in ihnen die Töne a, as/gis und des/cis wiederholen. Von einem zwölftönigen Akkord kann hier also im strengen Sinne nicht gesprochen werden. Hingegen ist der Zielakkord dieser Bewegungen im Subtakt V1-II sehr wohl ein Zwölftonakkord, sofern man den Vorschlag B1 einbezieht. (Abb. 16)

Abb. 16: 1. Satz, Subtakt V1-II, Zwölftoncluster.

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Analysen der Notentexte

In Takt V2 sind im ersten Akkord wieder Elemente von R1 erkennbar, die beiden obersten Töne des Akkordes in der rechten Hand sind mit gis3 und a3 die ersten Töne von R1, darunter liegen mit es3 (dis) und fis3 der dritt- und vorletzte Ton der Reihe. Auch in der linken Hand lässt sich der vertikale Aufbau von R1 mit cis2 (des) und ais1 (b) nachvollziehen. Alle anderen im Akkord erklingenden Töne sind jedoch reihenfremd. Die beiden aus insgesamt neun unterschiedlichen Tönen bestehenden Akkorde lassen sich auch nicht durch die Liegetöne in Flöte, Oboe, Trompete und Horn zu einem Zwölftonfeld ergänzen. Zwar sind in Oboe, Trompete und Horn die Töne g2, f2 und h1 notiert und würden damit die fehlenden Töne bilden, jedoch erklingen in der Trompete es2 und im Horn e1, so dass die Zwölftonfeld-Technik erneut nur im Visuellen und auch nur unter Auslassung des Flötentons erfolgreich ist. Die von Schmelz herausgestellten ‚isolated pitches‘ im Orchester lassen sich gleich zu Beginn der Variationen finden, wenn die Bassklarinette den Ton B spielt (es erklingt allerdings As), darauf die Flöte mit c3, die Oboe mit g2 und schließlich die Trompete mit f2 die Reihe ab dem fünften Reihenton fortführen. Darauf folgt im Horn die Note h1, die allerdings als e1 erklingt und damit die Reihe R1 in beiden Varianten fortsetzt, gleichzeitig aber auch die eben aufgeworfene Frage nach der Ambiguität des musikalischen Materials erhärtet. (Abb. 17)

Abb. 17: 1. Satz, Takte V1-V3.

Die horizontale Reihenbildung im Orchester, wie sie Schmelz erkannte, wird bisweilen auch in die Vertikale verlagert. Sie ist in Subtakt V5-II zu erkennen, in dem die Violinen I und II sowie Cello und Kontrabass vertikal einen Ausschnitt aus R1 ab

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dem siebten Reihenton bilden (Tonfolge f2-h1-e2-es/dis). Die Reihe R1 kann im Orchester auch aus einer Mischung aus vertikaler und horizontaler Reihung entstehen, etwa ab Subtakt V10-II, in dem der Kontrabass mit gis, das Cello mit a und die Timpani mit dem Ton des simultan R1 beginnen. In einem zweiten Schritt folgen dann die Violine I mit b3 und die Viola mit c2, kurz darauf die Violine II mit dem Ton g. Man könnte auch das Klavier mit seinem D1 voranstellen, die so aufgebaute Reihe würde dann mit dem letzten Ton von R1 beginnen und danach von vorne anfangen. Immerhin handelt es sich dennoch wieder nur um einen Ausschnitt aus R1, nicht die komplette Reihe. Diese erscheint im Verlauf des ersten Teils der Variationen nur selten, so z.B. ab Subtakt V28-III, mit dem Ton c im Kontrabass beginnend und sich als R1-Zwölftonfeld sukzessive durch fast alle Orchesterstimmen hindurch aufbauend. Mit Takt V33 beginnen die Variationen des Klaviers mit einzelnen Instrumentengruppen des Orchesters. Zunächst ergeben die Töne der Holzbläser und der Akkord im Klavier ein Zwölftonfeld, das sich aus drei Abschnitten aus R1 zusammensetzt: Takt V33: Takt V34-II: Takt V34-II: Takt V35-I:

cis1/des-B1-c2-G (es erklingt F in der Bassklarinette) f-h-e2-dis1-fis1 (nur im Klavier) d1 (in der Oboe) gis3-a (es erklingt e in der Bassklarinette)

Die folgenden Akkorde im Klavier in Takt V36-II bilden, bei entsprechender Lesart, ein Derivat aus R1, beginnend mit dem Ton des2 und endend mit dem Ton Dis1. Von Takt V37 bis V44 agieren Klavier und Timpani gemeinsam. Dabei wird von Takt V37 bis Takt V39 wieder R1 gebildet, allerdings weder horizontal noch vertikal, sondern als bloßes Zwölftonfeld, beginnend mit den beiden letzten Tönen aus R1, Fis und d im Timpani und endend mit dem drittletzten Ton aus R1, es/dis in Takt V39III wieder im Timpani. (Abb. 18)

Abb. 18: 1. Satz, Takte V37-V39.

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Analysen der Notentexte

Ein Zwölftonakkord wird im Klavier erst wieder in Takt V45-I erreicht, in dem die Variation mit den Streichern beginnt, den Vorschlag A1 nicht einbezogen. Die Streicher erreichen innerhalb der Variation ebenfalls eine Zwölftonreihe, auch wenn im Verlauf ihrer Bildung mehrere Töne wiederholt werden. Die erreichte Reihe ist, in der Chronologie der gespielten Töne, wie folgt notiert: c1-des-B-g1-h1-F-e1-a-gis1-es2-fis2-d1 (Takte V45-I bis V54-III) Dieser Reihe eine Verwandtschaft mit R1 zu unterstellen, führte zu weit, auch wenn sich einzelne Tonpaare in chronologischer oder anachronistischer Reihenfolge ihr zuordnen lassen und die Initialtöne c1, des, B und g1 in geänderter Reihenfolge ein Ausschnitt aus R1 bilden (Oktavierungen nicht berücksichtigt). Der Kopfsatz der Musik für Klavier und Kammerorchester besteht somit aus mehreren Zwölftonreihen, -akkorden und -feldern, von denen eine – die Reihe R1 – in ihrer Erscheinungshäufigkeit überwiegt. Die Reihe R1 ist, wie bereits eingangs konstatiert wurde, allerdings nicht an bestimmte Intervallverhältnisse gebunden, sondern beinhaltet lediglich eine bestimmte Reihenfolge in ihrer absoluten Höhe nicht festgelegter Töne. Damit kann der Kopfsatz insgesamt nicht als strikt dodekaphon betrachtet werden, obwohl in einzelnen Abschnitten das Arrangement der Töne auf reine Atonalität zielt und damit Dodekaphonie evoziert. Bevor allerdings die Analyse des Kopfsatzes schließt, sollen die beiden letzten Abschnitte, die Takte V57-59 (Klavier solo) und V60-67 (Tutti), kurz beleuchtet werden. Der Solo-Klavier-Part weist keine Besonderheiten auf, außer dass in Subtakt V58-III ein Elfton-Akkord erklingt, dem zur Zwölftönigkeit der Ton fis fehlt. Erst im ab Takt V60 folgenden Tutti wird gleich zu Beginn im Orchester und Klavier ein Zwölftonfeld aufgebaut, das allerdings auch Tonwiederholungen (die Töne b, g, h und es; Oktavierungen nicht berücksichtigt) enthält und nur bei einer visuellen Hinzuzählung des als h erklingenden Tons fis1 im Horn gültig ist. In den folgenden Takten erscheint, wie Schmelz erkannt hat, die Vermischung vertikaler und horizontaler Reihen- bzw. Zwölftonfeldbildungen. So lässt sich in den Takten V61-63 im Orchester ein Zwölftonfeld aufbauen. Die überschüssigen Töne lassen sich zu den Akkorden im Klavier hinzuzählen, so dass ebenfalls Zwölftonfelder entstehen. Diese Formgestaltung setzt sich bis zum Ende des Satzes fort, auch wenn der Schlussakkord im Orchester sich zur Vervollständigung seiner Zwölftönigkeit den Ton B2 aus Subtakt V67-I ‚borgen’ muss, dieser aber gleichzeitig den Finalakkord im Klavier zusammen mit dem einen Subtakt vorher erklingenden c1 zum Zwölftonakkord komplettiert. Es lässt sich aus diesem relativ freien Umgang mit dem musikalischen Terminus Reihe ablesen, dass es hier offenbar nicht um die radikale Anwendung und Kalkulation einer streng dodekaphonen oder gar seriellen Kompositionsweise geht. Dafür spricht neben der Doppelerscheinung auch die Doppelverwendung mehrer Töne, um Zwölftönigkeit überhaupt zu erreichen, sowie die Absenz serieller Strukturen in der Behandlung der Spielanweisungen und Dynamikvorgaben. Hinzu kommt eine vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber den In-

Musik für Klavier und Kammerorchester

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tervallverhältnissen in R1. Die zu Anfang vorgestellte Reihe bildet somit nur ein Modell, über das schon im zweiten Anlauf sofort variiert wird und R1 kein einziges Mal mehr in seiner originären Form erscheint. Im Folgenden sei der erste Satz der Musik für Klavier und Kammerorchester kurz schematisch dargestellt. (Abb. 19)

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Analysen der Notentexte

Abb. 19: Musik für Klavier und Kammerorchester – Gliederung 1. Satz Variazioni.

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2.1.2 Zweiter Satz Cantus firmus Gleich zu Beginn des Satzes wird in der linken Hand des Klaviers die Grundreihe R1 vorgestellt wird. (Abb. 20) Den in der rechten Hand begleitenden Akkorden kann Schmelz keinen direkten Bezug zu R1 zuweisen, sondern sieht in ihnen lediglich „ornamentation, free motivic fragments“10. Diese These lässt sich ohne Weiteres unterstützen. Hinzu kommt der Zwischenton F2, der mit seinem Vorschlag in der rechten Hand h4 den Umfang des Ambitus festlegt (er wird nur einmal kurz im sechsten System überschritten) und damit die drei Töne f, e und h um sich selbst kreisen lässt. Nach dem Ende von R1 beginnt eine neue Reihe, die als DR1 bezeichnet sein soll.11 (Abb. 21)

Abb. 20: 2. Satz, Reihe R1 in der linken Hand des Klaviers.12

10 11 12

Ebd., S. 203. Schmelz bezeichnet die Reihe als I1. Vgl. ebd., S. 779. DR steht hier für Derivatreihe. Die Notenbeispiele des zweiten Satzes sowie der Kadenz sind dem Autograph entnommen, um Schnittkes metrisch freie Notationsweise besser kenntlich zu machen.

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Analysen der Notentexte

Abb. 21: 2. Satz, Reihe DR1.

Während des siebten DR1-Reihentons c beginnt eine weitere Reihe mit eben diesem Ton, die Reihe DR2.13 Es wird deutlich, dass sich aus R1 eigenständige Reihen entwickeln, aus denen wiederum Reihen erwachsen. Schmelz gibt im Folgenden noch einige Beispiele an, die hier nicht wiederholt werden sollen. Allerdings schwebt über der ersten Verästelung ein gewisses Fragezeichen, denn R1 geht nicht in DR1 über, sondern wird beendet. Die vorliegende Struktur basiert möglicherweise auf mehreren Konstruktionsmöglichkeiten, von denen eine das Erwachsen einer Reihe aus mit einer anderen Reihe gemeinsamen Tönen ist, die andere Möglichkeit jedoch die ‚thematische’ Verwandtschaft, sofern man bei der dodekaphonen Technik von Thematik überhaupt sprechen kann. Was gemeint ist, sind mehrere Tonfolgen in DR1, die sich auf R1 rückbeziehen lassen: a-gis (als Inversion), g-f, b-c und h-dis. An dieser Stelle sei erneut auf die undurchsichtige Ordnung der Metrik hingewiesen. Der zweite Satz der Musik für Klavier und Kammerorchester beginnt metrisch frei, d.h. ohne jegliche Taktangabe. Erst in der neunten Akkolade mit Hinzutreten 13

Schmelz bezeichnet diese Reihe als I4. Vgl. Schmelz, Listening (wie Anm. 6), S. 779.

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der Glocken und des Kontrabasses beginnt die Taktzählung. Dieser Abschnitt dauert 19 Takte, bevor erneut eine metrisch freie Kadenz im Soloklavier beginnt. Der ganze erste Abschnitt ist mit der römischen Ziffer II überschrieben und weist auf seinen Charakter als zweiter Satz des Konzertes hin. Die nach den 19 Takten des Orchesters erneut einsetzende Solokadenz ist mit Ziffer 2 überschrieben, obwohl vorher die Ziffer 1 fehlte. Nach dieser Kadenz beginnt die metrische Zählung erneut mit Einsatz eines Orchesterinstruments. Dieser Abschnitt ist mit Ziffer 3 versehen und dauert zwölf Takte bis zum Ende des Satzes. Die Grundstruktur in der Besetzung des Cantus-firmus-Satzes ist also eine ABA’C-Form, jedoch weist die Bezifferung darauf hin, dass das erste Solo des Klaviers und der darauffolgende Abschnitt des Orchesters ohne Klavier eine Einheit bilden, wohingegen das zweite Solo und das Tutti eigenständig sind. Schmelz’ Analyse wird an dieser Stelle sehr dünn, er bringt nur noch einige allgemeine Aussagen, dass „[…] these characteristics [gemeint sind der ‚ebb and flow of the progress‘, Anm. d. Verf.] continue into the body of the second movement after the orchestral voices join in.“14 Mit ‚ebb and flow‘ bezeichnet Schmelz die inkonsequente Anwendung der Derivatstruktur, aus der sich nicht immer neue Zwölftonreihen ableiten lassen. In Takt 2 des Orchesterteils beginnen die einzelnen Instrumente nun, kurze Abschnitte aus den Derivaten bzw. Ableitungen zu spielen und sie teilweise noch weiter zu verzweigen. Dieser Teil ist in sich liedartig gegliedert. Nach blockhaftem Beginn in den ersten vier Takten beginnt ein eher linear-polyphoner Teil, der sich bis zu den Takten 14-15 verdichtet, danach jedoch wieder in den blockhaften Aufbau des Anfangs zerfällt. Bezeichnend ist, wie Schmelz richtig feststellt, dass die Verwebungen mit den vorgestellten Reihen mal mehr, mal minder und manchmal gar nicht erkennbar sind bzw. man anzweifeln kann, ob sie überhaupt existieren. Als Beispiel sei hier Takt 3 in den Streichern herausgegriffen. Weder die blockhaften Tonfolgen in den Violinen noch die melodieartigen Tonfolgen in Cello und Kontrabass lassen sich auf R1 oder eines ihrer Derivate rückbeziehen. Die Verästelungen haben sich mittlerweile sehr stark von der Grundreihe und ihren Ableitungen entfernt. In der Folge kommt es nun zu Referenzen der einzelnen Derivate untereinander, wie die Tonfolge a2-g3-c1 der Flöte in den Takten 6-7 – Oktavierungen wieder unberücksichtigt – auf die Folge a-g1-c2 des Cellos in den Takten 3-5 reagiert. Der folgende Soloteil des Klaviers ist zwar nicht länger als der erste, dafür aber wesentlich kompakter und in sich umfangreicher. Das belegt zum Einen schon die Ausweitung des Systems um erst ein, dann zwei und sogar drei weitere Systeme mit Violinschlüssel, um die Menge an Material unterbringen zu können. Umso überraschender ist die Tatsache, dass die sich nun bildenden Reihen ihren Zwölftoncharakter aufzugeben scheinen. Bereits die erste Reihe DR3 weist mit den Tönen e, cis und b Tonwiederholungen auf, noch bevor die Reihe vollständig ist. Ebenso DR4, wo der Ton f an dritter und sechster Stelle auftaucht. (Abb. 22) Es geht hier offenbar nicht mehr um die Entwicklung bzw. Weitertreibung einer zuvor begonnen Reihenablei14

Ebd., S. 204.

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Analysen der Notentexte

tung im Musikalischen, sondern, das verrät ein Blick auf die Seite des Manuskripts, um die Schaffung einer weiterverzweigten Struktur sowohl im Musikalischen als auch im Visuellen, obwohl es sich an dieser Stelle nicht um sogenannte Augenmusik handelt.

Abb. 22: 2. Satz, Derivatreihen DR3 und DR4 mit Tonwiederholungen.

Der C-Teil des zweiten Satzes der Musik für Klavier und Kammerorchester wirft einige Fragen auf. Weiter oben wurde erkannt, dass A- und B-Teil thematisch zusammen gehören, während A’- und C-Teil aufgrund der eigenen Bezifferung voneinander getrennt zu betrachten sind. Jedoch ist der B-Teil der einzige Part, in dem kein Klavier erklingt, insofern scheint er sich doch vom Rest des Satzes abzuheben. Auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass der C-Teil eigentlich gar kein Tutti-Teil ist, denn in keinem der zwölf Takte erklingen alle Instrumente des Orchesters und das Klavier gleichzeitig. Der C-Teil beginnt mit dem übergebundenen G1 des Klaviers. Als Kontrapunkt erklingt in Takt 1 in der rechten Hand der Ton as4, der damit, wie es ähnlich schon im A-Teil an einer etwas späteren Stelle geschah, einen Rahmen im Ambitus bildet, noch dazu, als in der linken Hand des Klaviers mit dem Ton H2 das Tonhöhenfenster noch weiter geöffnet wird. In diesem Fenster nun werden neben den Reihenderivaten, aus R1 auch frei atonale Tonfolgen eingeflochten, so z.B. in der Bassklarinette mit ihrer Tonfolge F-des-ges-C-As1 (notiert ist G-es-as-D-B1). Auch das Klavier, über das bis auf den Öffnungsgestus am Anfang des C-Teils bis jetzt nicht gesprochen wurde, beteiligt sich an dem Verästelungsprozess der anderen Orchesterstimmen. So erklingt in den Takten 8 und 9 in der Unterstimme der linken Hand die Tonfolge G-e-Gis-A, die Umkehrung der ersten vier Töne aus DR1.

Musik für Klavier und Kammerorchester

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In Takt 9 setzt in der Oberstimme der linken Hand eine Ableitung aus R1 mit der Tonfolge Gis-A-cis-b, dem Anfang der Grundreihe, ein. (Abb. 23)

Abb. 23: 2. Satz, Takt 9.

Bezeichnend ist an dieser Stelle, dass hier die Instrumentation am dichtesten ist, ab Takt 10 sofort wieder ausdünnt und in Takt 12 nur noch Oboe, Violine I und Klavier übrig bleiben. Bei aller dodekaphoner und mathematischer Struktur unterliegt dem Ganzen offenbar ein dramaturgischer Grundgestus, auch wenn dieser, anders als bei herkömmlicher tonaler Musik, nicht oder nur kaum hörbar ist. Viel fraglicher ist jedoch der Satztitel Cantus firmus. Keines der Instrumente konzentriert sich auf nur eine Reihe, die dann als Cantus firmus bezeichnet werden könnte. Auch tritt keine der zu Beginn des Satzes vorgestellten Reihen und selbst nicht R1 besonders in Erscheinung. Es hat eher den Anschein, als sollte die Satzbezeichnung etwas suggerieren, was definitiv nicht bzw. dessen bloßes Gegenteil – nämlich absolute Heterogenität des musikalischen Materials – vorhanden ist. Auch die Fokussierung auf die Instrumentation an sich, d.h. das Verhältnis von Klavier und Orchester, führt zu keinem befriedigendem Ergebnis, selbst wenn man versuchen würde, den A-Teil als Cantus firmus zu betiteln, der inhaltlich vom Orchester übernommen und im zweiten Soloteil, dem A’-Teil, wieder an das Klavier übergeben und von diesem durch den C-Teil hindurch bis zum Ende geführt wird. Doch diese Deutung wirft mehr Fragen auf als dass sie logisch ist. Viel weiter kommt man in der Interpretation des Verhältnisses von Titel und Inhalt, wenn man den Cantus firmus nicht als feste Melodie – in diesem Fall die Reihe R1 – betrachtet, die sich durch den ganzen Satz zieht, sondern als Basis immer neuer Folgereihen, nämlich den Verästelungen einer sich entwickelnden Variation. Insofern ist die Titelbezeichnung Cantus firmus historistischen Ursprungs. Diese Tatsache wirft nun die Frage auf, welchen Bezug Schnittke zu diesem Zeitpunkt bereits zum kompositorischen Umgang mit Musikgeschichte gehabt hat, der doch erst später in seiner sogenannten polystilistischen Phase Grundlage seiner Ästhetik wird? Es hat den Anschein, als ließen sich bereits in dieser vermeintlich atonalen Phase seiner kompositorischen Biographie Hinweise auf sein späteres Schaffen finden, wenngleich versteckt und bisweilen stark abstrahiert. Die Satzbezeichnung Cantus firmus kann sicherlich auch nur bloße Spielerei sein, sie zeugt allerdings von einem bewussten Umgang mit musikgeschichtlichen Parametern und Typologien. Bevor die Analyse des dritten Satzes beginnt, sei an dieser Stelle eine grafische Übersicht über die Struktur des zweiten Satzes der Musik für Klavier und Kammerorchester gegeben. (Abb. 24)

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Analysen der Notentexte

Abb. 24: Musik für Klavier und Kammerorchester – Gliederung 2. Satz Cantus firmus.

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2.1.3 Cadenza Auf den ersten Blick fällt auf, dass die Kadenz vollständig auskomponiert ist und sich damit an der klassischen Kadenz orientiert. Die Freiheit des thematischen Gehalts in der klassischen Kadenz weicht hier jedoch dem absoluten Bezug zum Grundgehalt der Komposition: Die Cadenza besteht aus aneinander gereihten Tonfeldern, die sich, zumindest zu Beginn, vollständig aus der Grundreihe R1 zusammen setzen. Je dichter und schneller jedoch die Kadenz fortschreitet, umso stärker wird die Chronologie von R1 aufgebrochen und es kommt zu Überlappungen nicht benachbarter Töne der Reihe sowie zu Überschneidungen einzelner Töne benachbarter R1-Felder, wie in der vierten und fünften Akkolade.15 (Abb. 25)

Abb. 25: Kadenz, vierte und fünfte Akkolade.

Ab dem Ende der sechsten Akkolade bricht die Strenge der Reihe auf. Tonwiederholungen machen eine Zuordnung zu R1 vollkommen unmöglich. Die Kadenz wechselt hier in eine freie Atonalität, gleichzeitig bewegt sich das Material in höhere Register. Nach der Rückkehr in tiefere Register ab dem Ende der siebten Akkolade kehren auch die aneinander gereihten Zwölftonfelder zurück, wenngleich die R1Verwandtschaft nun nicht mehr genau wahrgenommen werden kann. Zwar befinden sich die Anfangstöne der Reihe am Beginn des jeweiligen Feldes, jedoch treten Töne hinzu, die in R1 eigentlich erst später erklingen. Auch ein Vergleich mit den anderen herausgestellten Reihen bringt hier kein befriedigendes Ergebnis, so dass es nun sinnvoller ist, den Bezug der hier erklingenden Zwölftonfelder zu R1 grundsätzlich 15

An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass die ersten drei Töne der vierten Akkolade in der rechten Hand im Bassschlüssel stehen, um erstens die Zwölftönigkeit zu erreichen und zweitens die Notierung des Violinschlüssels vor dem d’’ zu rechtfertigen. Die mangelnde Kennzeichnung im Autograph kann irritieren.

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Analysen der Notentexte

anzuzweifeln. Zumal am Ende der achten Akkolade die Prozedur des Aufbrechens erneut beginnt: Gleich zu Beginn der neunten Akkolade erklingt in der rechten Hand zunächst b2, unmittelbar danach b. Das gleiche Spiel wiederholt sich noch einmal gegen Ende der neunten Akkolade, in der sich wieder problemlos Zwölftonfelder bilden lassen, aber zu Beginn der zehnten und letzten Akkolade der Cadenza wieder durch Tonwiederholungen (zunächst d2 in der rechten Hand) gestört werden. Diese Störungen in der Bildung dodekaphoner Strukturen setzen sich bis zum Ende der Cadenza fort. Will man die Kadenz deuten, so kann man vom Versuch der Loslösung von reiner dodekaphoner Technik sprechen, der allerdings erst beim dritten Mal gelingt. Wie Schmelz andeutet, sei der dritte und letzte Satz (er fügt die Cadenza in den dritten Satz ein) „[…] the least strict“16. Sicher ist dies in Bezug auf den Beginn der Cadenza nicht wahr. Es scheint aber möglich, dass die Kadenz hier nicht, im Gegensatz zu ihrer klassisch-historischen Funktion, eine in sich geschlossene Solitärfunktion einnimmt und thematisch frei die Möglichkeiten pianistischer Virtuosität vorstellt, sondern in die Gesamtkomposition, wie etwa bei Franz Liszt oder Johannes Brahms, eingebunden ist: Zum Einen kommt das Grundmaterial in seiner reinen Form zum Vorschein, zum Anderen verweist der dramaturgische Verlauf – diesen kann man der Cadenza durchaus zuschreiben – auf den dritten und letzten Satz der Musik für Klavier und Kammerorchester. Die Cadenza übernimmt damit eine Art Mittlerfunktion zwischen strenger Dodekaphonie und freier Atonalität. 2.1.4 Dritter Satz Basso ostinato Schmelz konstatiert: „Like the short motives heard throughout the second movement, these motives are related to the row forms but are not completely serial.”17 Zunächst muss bemerkt werden, dass sich das Ostinato nicht durch den gesamten Satz zieht, sondern in Takt 134 in einen Höhepunkt mündet, der bis Takt 144 anhält. Danach erklingt eine Art Coda, deren Inhalt Akkordakzente im Klavier und Glissandi in den Orchesterstimmen sind und die von Takt 145 bis zum Schluss in Takt 182 dauert. Zurückkommend auf die dodekaphone Struktur in den Ostinato-Stimmen lässt sich in der Tat gleich zu Beginn die Reihe R1 in ihrer reinen Form im Kontrabass herausstellen. Jedoch wird die Zwölftönigkeit bei der Verlagerung des Ostinatos in das Cello ab Takt 4 schon wieder aufgegeben, wenn nur elf Töne erklingen und der fehlende zwölfte Ton d sich auch nicht durch den Kontrabass oder die Violine I ergänzen lässt. So gibt es zwar keine Tonwiederholungen, die uns in der vorangehenden Cadenza begegneten, jedoch auch keine perfekte Zwölftonreihe. Auch ein Vergleich mit den Ableitungen und Folgereihen von R1 liefert kein befriedigendes Ergebnis. Zwar lassen sich einzelne Notenkombinationen erkennen, weitere eindeutige Querverweise fehlen jedoch. In den Takten 20 bis 22 erklingt erneut R1, diesmal als Krebs. Es folgt der Krebs eines Derivats, das hier als Reihe DR5 bezeichnet sein 16 17

Schmelz, Listening (wie Anm. 6), S. 205. Ebd.

Musik für Klavier und Kammerorchester

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soll18, bei dem jedoch ein Ton doppelt, wenn auch enharmonisch verwechselt, erklingt, nämlich des in Takt 24 und cis in Takt 26. Es kann nur spekuliert werden, ob diese Tonwiederholung Absicht ist oder ein Schreibfehler. Beide Varianten sind mit Argumenten diskutierbar. (Abb. 26) Ab Takt 26 bricht die dodekaphone Struktur wieder auf. Zwar beginnt das Cello mit den Tönen d, ges und es den Krebs der Reihe R1, doch wird diese Reihenbildung nicht weiter verfolgt.

Abb. 26: 3. Satz, Takte 20-26.

Im Gegensatz zum Ostinato, an dessen Fortschreiten sich bis zum Höhepunkt ab Takt 134 nichts ändert, durchwandern die restlichen Orchesterstimmen und das Klavier eine Entwicklung. Diese Instrumente setzen mit ihren kurzen Motiven, Melodielinien und punktuell platzierten Noten gegenüber dem Ostinato einen gewissen Kontrapunkt. Zunächst führen sowohl die Orchesterstimmen als auch das Klavier einzelne Noten aus, bevor das Klavier ab Takt 12 beginnt, aus den Noten zweitönige Motive zu formieren. Gleichzeitig verlängern sich die Notenwerte in den Orchesterstimmen. Ab Takt 25 bilden sich im Klavier melodieartige Phrasen, aus dem alternierenden Spiel zwischen linker und rechter Hand wird ein zweistimmiger Klaviersatz. Gleichzeitig werden aus den Liegetönen in den Orchesterstimmen wieder kurze Tonrepetitionen. Der zweistimmige Klaviersatz verdichtet sich zunächst, bevor er nach einer kurzen Generalpause in Takt 40 ab Takt 44 zu Trillern mutiert. Die Reihenfolge der erklingenden Töne als Triller lässt sich jedoch von keiner der bisher auftretenden Reihen ableiten. Nach nur zehn Takten wandeln sich die Triller wieder in eine linienförmige Melodie in der rechten Hand zurück, die linke Hand begleitet mit punktuell gesetzten Akkorden. Ab Takt 64 treten die verbliebenen Streicher, also Violine I und II sowie die Viola, mit schnellen Achtelrepetitionen hinzu und bauen zusammen mit den ebenfalls repetierenden Blechbläsern einen Spannungsteppich auf, der allerdings ab Takt 85 wieder verklingt. Die folgenden Takte sind sowohl in den Orchesterstimmen als auch im Klavier geprägt von Intervallbildung, vornehmlich Septimen und Nonen. So spielt die Violine II in Takt 92 eine Septime e-d1, das Klavier in der linken Hand in den Folgetakt hinein dis1-cis. Mit einer verbindlichen Reihenbildung oder der Verästelung einer entwickelnden Variation hat das ganze wenig zu tun. Auch das Ostinato in Cello und Kontrabass lässt sich an dieser Stelle nicht auf R1 oder andere Reihen beziehen. Lediglich einzelne Tonpaare könnte man in die Tonfolge von R1 einordnen, was 18

Schmelz bezeichnet diese Reihe als RI11. Vgl. ebd. S. 779.

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Analysen der Notentexte

ich jedoch für zu spekulativ halte. Der Schwerpunkt der Materialarbeit scheint hier in der Tat eher auf einer metastrukturellen Ebene zu liegen, d.h. auf der Herausbildung einer gewissen Dramaturgie auf der Basis atonaler Strukturen. Die Intervallbildungen nehmen diesbezüglich auch die Coda vorweg, in der die zu bildenden Intervalle durch Glissandi überwunden werden. Bevor dies jedoch geschieht, setzt in Takt 134 nach gradueller Verdichtung des Satzes hin zum Tutti der Höhepunkt des gesamten Stückes ein, der im Forte-Fortissimo die Repetition gleicher Töne im Orchester und arpeggio-artiger Motive im Klavier zum Gegenstand hat. Die Orchesterstimmen bilden zusammen, unter der Bedingung, dass man entweder die Timpani oder den Kontrabass weglässt, einen Zwölftonakkord, allerdings nur theoretisch, wie schon häufiger festgestellt wurde, da die Klarinette in B und das Horn in F spielen und damit andere Töne erklingen als notiert sind, die Zwölftonakkord-Bildung damit nicht möglich ist. Im Klavier kehrt der Beginn aus R1 wieder, allerdings nur bis zum fünften und sechsten Ton der Reihe, c und g, die hier vertauscht sind. Danach wird diese Tonfolge wiederholt. (Abb. 27)

Abb. 27: 3. Satz, Takt 134f.

In Takt 143-144 schließlich wird, ergänzend zum Zwölftonakkord im Orchester, im Klavier die Reihe R1 noch einmal komplett aufgebaut mit folgenden Akkordpaaren: Akkord I Akkord II Akkord III Akkord IV

Gis1-Cis-A B-c-g f1-h1-e1 dis2-fis2-d3

Noch im selben Takt erklingt im Klavier ein Toncluster im Ambitus fis-d1 subito pianissimo, welches die Coda einleitet, in der auf die Punktualität zu Beginn des Satzes zurückverwiesen wird. Interessant ist, dass die in den Orchesterstimmen auftretenden Glissandi selten direkt vom Anfangs- zum Zielton gespielt werden sollen, sondern über teilweise außerhalb des Intervalls liegende Mitteltöne, so z.B. in den Takten 169-171 im Kontrabass. (Abb. 28)

Musik für Klavier und Kammerorchester

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Abb. 28: 3. Satz, Takte 169-172.

So streng der Höhepunkt des Satzes mit der Reihe R1 und einem Zwölftonakkord geendet hat, so frei sind nun die Glissandi sowohl in den Anfangs- als auch in den Zieltönen notiert. Auch die Septimen- und Nonenbildung scheint hier offenbar nicht von Bedeutung. Die durch die Glissandi gebildeten Intervalle reichen von großer Sekunde (Kontrabass in den Takten 154-156, Intervall fis-gis) bis zur großen Septime (Flöte in den Takten 171-172, Intervall c3-des2). Der Satz verdichtet sich immer mehr, bis auch die Glissandi nicht mehr von einzelnen Instrumenten, sondern in Gruppen (z.B. die Streicher ab Takt 176/177) erklingen. In der Folge beschließt ein finales, aufwärtsgerichtetes Glissando im Tutti den Satz im Forte-Fortissimo. Der erreichte Akkord im Orchester lässt sich jedoch nicht als Zwölftonakkord beschreiben, da gleich mehrere Töne mehrmals (Oktavierungen nicht berücksichtigt) gleichzeitig erklingen. Es bleibt fraglich, aus welcher Reihe – wenn dies überhaupt der Fall ist – diese finalen Töne der Glissandi entstammen. Viel eindeutiger ist ein Blick auf das Akkordcluster des Klaviers, dessen Ambitus von B1 bis A reicht und demnach Dodekaphonie beinhaltet. Vor einer Zusammenfassung der Musik für Klavier und Kammerorchester soll an dieser Stelle wieder eine grafische Übersicht folgen. (Abb. 29)

2.2

Zusammenfassung

So streng dodekaphon und mit dem Zwölfton-Statement als Schlussakkord im Klavier auch in sich geschlossen die Musik für Klavier und Kammerorchester vordergründig angelegt ist, so wenig radikal und kompromisslos ist sie bei einer genaueren Betrachtung. Gleich auf mehreren Ebenen konnte ein Aufbruch dodekaphoner Strukturen hin zu einer freieren Handhabung von Atonalität festgestellt werden, um drei maßgebliche Charaktereigenschaften von Musik darstellen zu können: 1. Doppelbödigkeit des musikalischen Materials 2. Dramaturgiebildung 3. Historische Bezüge

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Analysen der Notentexte

Abb. 29: Musik für Klavier und Kammerorchester – Gliederung 3. Satz Basso ostinato.

Musik für Klavier und Kammerorchester

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Im Gegensatz zum Konzert für Klavier und Orchester aus dem Jahr 1960, das sowohl in seiner formalen Struktur als auch in seiner Tonsprache historisch ist und damit die Punkte 2 und 3 bedient, kommt bei der eben analysierten Komposition ein Merkmal zum Vorschein, das in späteren Werken Schnittkes – und nicht nur in den Klavierkonzerten – zur maßgeblichen Triebfeder, in den Spätwerken gar allein sowohl Träger als auch apriorische Bedingung einer Materialassoziation im Außermusikalischen wird: die Ambiguität des musikalischen Materials. Das Spiel mit der Doppelbödigkeit, die an dieser Stelle – gemeint ist die Inkongruenz visueller und auditiver Reihenbildung – mehr eine kleine, wenn auch ausgeklügelte und bewusste Spielerei zu sein scheint, entwickelt sich im Konzert für Klavier und Streicher, wie die folgende Analyse zeigen wird, zum Grundgedanken der Materialbehandlung, im Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester gar zur Vorbedingung einer Transzendenz des Materials, das im Musikalischen nur noch schwer verifizierbar ist. Freilich kann bei der Musik für Klavier und Kammerorchester von Materialtranszendenz nicht gesprochen werden, zu eindeutig – und bisweilen recht banal – sind die dodekaphonen Strukturen aneinandergereiht oder überlappen einander. Die entwickelnde Variation, die Schnittke als Baumstruktur bezeichnete und über die im zweiten Teil dieser Abhandlung noch zu sprechen sein wird, lässt sich ohne Weiteres herausstellen und nachvollziehen. Zwar werden die Bezüge zur Grundreihe R1 immer schwächer, so dass die Frage nach dem Reihenbezug der einzelnen Derivate immer wieder aufkeimt, nicht nur in den Phasen, die zugunsten einer dramaturgischen Entwicklung von strenger Dodekaphonie befreit sind. Dennoch bleibt R1 die Grundlage der gesamten Komposition, auch im Hinblick auf ihre Ableitungen und Folgereihen. Schon die Absenz einer Absolutheit der Intervallverhältnisse innerhalb der einzelnen Reihen lässt allerdings erkennen, dass es sich bei dem vorgestellten Material nicht um eine Basis strenger dodekaphoner Reihenkomposition handeln kann. Die Zwölftonfelder, die sich im ersten Satz nur mit viel Phantasie R1 zuordnen lassen, sind da nur ein Beispiel. Schmelz hat also Recht, wenn er sagt, dass die Musik für Klavier und Kammerorchester „[…] is not as overdetermined as the Music for Chamber Orchestra had been“19. Schließlich bleibt noch ein Wort zu den historischen Bezügen zu verlieren. Die Bezeichnungen Variazioni, Cantus firmus, Cadenza und Basso ostinato sind allesamt historisch, entstanden in unterschiedlichen Epochen. Diese Satzbezeichnungen in Schnittkes Musik für Klavier und Kammerorchester sind zwar in gewisser Weise eine Öffnung gegenüber Musikgeschichte. Allerdings scheint, unter Berücksichtigung der Materialbehandlung, die entwickelnde Variation bzw. Baumstruktur, wie Schnittke sie nennt, auch ein Versuch zu sein, dodekaphone Techniken in tradierten Formvorgaben auszuprobieren.

19

Ebd., S. 201.

52

3. 3.1

Analysen der Notentexte

Konzert für Klavier und Streicher (1979) Werkform

Das Konzert für Klavier und Streicher ist in sich mehrfach nach unterschiedlichen Tempi gegliedert: Moderato Andante Maestoso Tempo I Allegro Tempo di Valse Cadenza: Moderato (Moderato) Maestoso Moderato Tempo I

Takte 1- 23 Takte 24- 56 Takte 57- 64 Takte 65-123 Takte 124-217 Takte 218-298 Takte 299-326 Takte 327-336 Takte 337-351 Takte 352-366 Takte 367-422

Die Unterteilungen sind allerdings nicht gleichzusetzen mit der Gliederung in einzelne Struktureinheiten. Vielmehr ergeben mehrere der aufgelisteten Tempoeinheiten zusammengefasst jeweils einen Abschnitt oder eine Art ‚Teilsatz’, untergliedert nach dem Auftreten motivisch-thematischen Materials: Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4

Takte 1-109 Takte 110-365 Takte 366-411 Takte 412-422

Diese Unterteilung wirft einige Fragestellungen auf, umso mehr, als die einzelnen Teile der Sonatenhauptsatzform mit folgender Gliederung unterstellt sind: Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4

Exposition Durchführung Reprise Coda

Die erste Frage betrifft die Inkongruenz der angegebenen Tempobezeichnungen und ihrer eventuellen Einteilung der Komposition in das Schema der Sonatenhauptsatzform. Der herausgestellte Übergang von Exposition zur Durchführung in den Takten 109 zu 110 ist nach Schnittkes Angaben im Moderato (Tempo I) gehalten, ebenso der Übergang von Reprise zu Coda. Die Tempobezeichnungen sind demnach nicht immer kongruent zu den einzelnen Satzteilen. Insofern wird zu klären sein, ob die

Konzert für Klavier und Streicher

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These von der Sonatenhauptsatzform überhaupt haltbar und schlüssig ist, oder ob mit einer derartigen Kategorisierung der analytische Blick nicht a priori verbaut wird. Hierzu sollen die einzelnen Themen und Motive untersucht werden.

3.2

Motive im Konzert für Klavier und Streicher

Zunächst mag man die Frage stellen, warum hier von Motiven und nicht von Themen oder einem Hauptthema gesprochen wird. In der Tat könnte bereits in den ersten Takten der Eindruck entstehen, es gäbe ein Hauptthema, das während des ganzen Konzertes mal im Klavier, mal in den Streichern bisweilen variiert auftritt, am Ende jedoch wieder in seiner reinen Form an das Soloinstrument zurückgegeben wird. Diese These wird von der Tatsache unterstützt, dass sich aus den zwischen Takt 1 und Takt 8 auftretenden Noten eine Zwölfonreihe bilden lässt, mit folgender Tonfolge (Abb. 30, Oktavierungen unberücksichtigt): g – es – c – ges – ces – f – d – a – des – as – e – b Jedoch ist die Zwölftonreihe erstens eingebettet in Tonwiederholungen, die eine Definition der Reihe als thematisch vordergründig negieren. Zweitens treten Derivate dieser Reihe im Verlauf des Konzertes singulär und demnach motivisch auf, was erneut für die Anwendung des Motivgedankens spricht. Lediglich am Ende des Konzertes, wenn die Reihe in ihrer ‚reinen‘ Form wiederkehrt (Takte 394-402), ist diese als solche wahrnehmbar.

Abb. 30: Takte 1-8, Zwölftonreihe.

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Analysen der Notentexte

Darüber hinaus folgt auf das Vorschlag-Motiv20, wie ich es deshalb nennen möchte (Abb. 31), ab Takt 9 die mehrfache Repetition eines einzelnen Tons (RepetitionsMotiv; Abb. 32), die sich im Laufe des Konzertes Klavier und Orchester ebenfalls teilen und am Schluss die letzten Takte des Klaviers bestimmt. Zu diesen beiden Motiven gesellt sich in Takt 24 ein Dreiklangs-Motiv (Abb. 33), mit dem ebenso verfahren wird wie mit den beiden ersten. Allen drei Motiven ist allerdings eines gemein: sie sind alle sehr kurz. Das Vorschlag-Motiv besteht, berücksichtigt man die Konstruktion eines Dreiklangs, aus zwei Tönen mit jeweils einem Vorschlag. Das Repetitions-Motiv ist bereits nach drei aufeinanderfolgenden Tönen als solches erkennbar, zumal das Dreiermetrum in diesem vorherrscht. Das Dreiklangs-Motiv wiederum besteht im Wesentlichen aus drei bis vier Tönen, die zu einer sukzessiven Dreiklangsbildung beitragen. Alle drei Motive haben in ihrer Faktur und im Auftreten während des Konzertes unterschiedliche Funktionen. Das Vorschlag-Motiv, verstärkt durch das solistische Auftreten des Klaviers am Anfang des Konzertes, wirkt – trotz seiner Herkunft aus einer Zwölftonreihe – vor allem melodisch, das Repetitions-Motiv ist in seiner Faktur eher rhythmisch und das Dreiklangs-Motiv hat vornehmlich akkordische Wirkung.

Abb. 31: Vorschlag-Motiv.

Abb. 32: Repetitions-Motiv.

20

Jelena Dolinskaja bezeichnet dieses Motiv als „Ruf-Motiv“. Vgl. Elena [Jelena] Dolinskaja, „Fortepiannyj koncert Šnitke v kontekste vtoroj volny avangarda“ [Schnittkes Klavierkonzert im Kontext der Zweiten Avantgardewelle], in: Al’fredu Šnitke posvjaščajetsja [Alfred Schnittke gewidmet], hrsg. von Alla Bogdanova [Bogdanowa] und Elena [Jelena] Dolinskaja (= SchnittkeJahrbuch 5), Moskau 2006, S. 99.

Konzert für Klavier und Streicher

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Abb. 33: Dreiklangs-Motiv.

Ob bei der Analyse der drei vorherrschenden Motive des Konzertes für Klavier und Streicher eine Kategorisierung vorgenommen werden sollte, die Motive also nach Funktion und Zustand zu bewerten seien, möchte ich bereits an dieser Stelle bezweifeln. In der Tat hat es den Anschein, als wäre das zuerst auftretende Motiv, das Vorschlag-Motiv, dasjenige, welches aufgrund seiner Ableitung aus einer Zwölftonreihe, seines dennoch Melodie bildenden Charakters und seiner fast schon solistischen Disposition innerhalb des Konzertes als Hauptmotiv benannt werden könnte. Sowohl Repetitions-Motiv als auch Dreiklangs-Motiv sind weder melodisch noch vordergründig thematisch angelegt und beide werden innerhalb des Werkes mehrfach begleitend eingesetzt. Dennoch sollte eine Untergliederung in Haupt- und Nebenmotive unterbleiben, denn gerade weil die beiden oben genannten Motive eingeführt werden, gerade weil sie fast das ganze Konzert hindurch präsent sind und gerade weil sie am Ende wieder in ihrer reinen Form auftreten, halten sie zusammen mit dem Vorschlag-Motiv einen gemeinsamen Status. Somit handelt es sich hier um drei gleichwertige Motive. Um die Frage nach der Gesamtstruktur des Werkes und der eingangs gestellten These der Sonatenhauptsatzform zu beantworten, soll im Folgenden die Disposition der einzelnen Motive näher betrachtet werden.

3.3

Disposition der Motive; Analyse weiterer musikalischer Erscheinungen

3.3.1 Vorschlag-Motiv Wie bereits erwähnt, entstammt das Vorschlag-Motiv einer Zwölftonreihe. Zu Beginn erscheint das Motiv in seiner reinen Form in den Tonarten c-Moll, Ces-Dur, Des-Dur und E-Dur und verknüpft damit Tonalität und Atonalität. In den Takten 4 und 8 sind zwei Akkorde der linken Hand eingeschoben bzw. angehängt, von denen der erste in d-Moll, der zweite in g-Moll steht. Zur Erinnerung: Das zweite Motiv tritt in eben dieser harmonischen Chronologie auf (d-Moll zwischen Ces-Dur und Des-Dur und g-Moll als Schlussakkord). Die Akkorde in den Takten 4 und 8 gliedern die Motivreihe in zwei Einheiten, denen beiden ein gemeinsames Charaktermerkmal immanent ist: Entschleunigung. Beginnend im 4/4-Rhythmus, erscheint die Wiederholung des Vorschlag-Motivs in Ces-Dur bereits im 5/4-Takt, der d-Moll-

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Analysen der Notentexte

Akkord steht im 6/4-Takt. Die Abfolge wiederholt sich in den Takten 5-8, von 4/4 über 5/4 zum 6/4-Takt. Um diesen entschleunigenden Charakter erklären zu können, muss das Folgegeschehen, also die Einführung des Repetitions-Motivs ab Takt 9, berücksichtigt werden, da hier erkennbar ist, dass dieses Motiv sich über Akkorden in der rechten und linken Hand des Klaviers ausbreitet. Somit können die Akkorde in den Takten 4 und 8 nicht nur als dramaturgischer Kontrast zur dodekaphonen Grundstruktur, sondern auch als Vorbereitung dieser neuen Sinneinheit verstanden werden, quasi als Einführung der Einführung, als Verzahnung zweier syntaktischer Elemente. In den Takten 111-115, dort, wo der Beginn der Durchführung angesetzt ist, erscheint das Vorschlag-Motiv in den Streichern mit der harmonischen Folge C-Dur, cis-Moll, G2 (ohne Terz) und gis-Moll. Die harmonische Reihe vom Beginn des Klavierkonzertes ist hier tongeschlechtlich vertauscht und umgekehrt: Anstatt c-Moll und Ces-Dur stehen C-Dur und cis-Moll, anstatt d-Moll und Dis-Dur sind G-Dur und gis-Moll notiert. Hier erscheint das Vorschlag-Motiv demzufolge auf einer anderen Tonstufe. Man könnte aber die musikalischen Erscheinungen auch als Abwandlungen von d-Moll und Dis-Dur betrachten, doch ist eben der Akkord in Takt 115 zu stark gis-Moll, als dass es Sinn haben würde, ihn in Richtung Dis-Dur zu definieren. Somit ergeben die Takte 111-115 vielmehr eine Variation der Motivreihe, die darüber hinaus in ihrer reinen Form das einzige Mal im gesamten Konzert in den Streichern erklingt. In den Takten 152-154 sowie in den Takten 158-160 erscheint das VorschlagMotiv nun in einer ersten Variation. (Abb. 34) Der erste Vorschlag besteht aus zwei Tönen, die zusammen eine Oktave bilden.

Abb. 34: Vorschlag-Motiv, Takte 158-160.

Der zweite Vorschlag ist, ebenso wie der erste Zielton, ein Einzelton, dafür besteht der zweite Zielton wiederum aus einer Oktave. Die Streicherbegleitung ist homophon in Achtelrepetitionen (Repetitions-Motiv) gesetzt. Eine harmonische Analyse dieser Takte verdeutlicht erneut den zweifelhaften Zustand, der, wie schon bei der Definition der Motive erkannt, das ganze Konzert hindurch präsent ist. Denn begleitend zum Klavier, welches in den Takten 152-153 in d-Moll erklingt, spielen die Violinen II Des-Dur, die Violen e-Moll und die Violoncelli I-III ebenfalls d-Moll (mit

Konzert für Klavier und Streicher

57

Terz im Bass), wobei die Violoncelli in Takt 153 auf der Zählzeit drei in Des-Dur wechseln (ebenfalls mit Terz im Bass). In Takt 154 steht das Vorschlag-Motiv des Klaviers in Des-Dur, die Violinen II spielen jedoch d-Moll, die Violen weiterhin eMoll und die Violoncelli I-III bleiben in Des-Dur (mit Terz im Bass). Demzufolge hat hier ein ‚harmonischer Tausch’ zwischen Soloinstrument und Begleitung stattgefunden. Darüber darf die harmonische Faktur des Ganzen nicht außer Acht gelassen werden, denn die simultan erklingenden Harmonien d-Moll und Des-Dur sind nur eine kleine Sekunde voneinander, e-Moll eine große Sekunde von d-Moll und eine kleine Terz von Des-Dur entfernt. Der oben erwähnte zweifelhafte Zustand, d.h. die Vernebelung harmonischer Zugehörigkeit, ist hier evident. An dieser Stelle sei ein Verweis auf die bitonalen Stellen im Konzert für Klavier und Orchester gegeben. Der Wechsel der Tonarten d-Moll und Des-Dur von Klavier in Violinen und umgekehrt verdeutlicht überdies die enge Verklammerung der musikalischen Erscheinungen – alles bleibt in der Schwebe, nichts ist eindeutig zuzuordnen. Das auditive Resultat indes würde die Verschleierung auflösen, denn das Vorschlag-Motiv ist auch in seiner harmonischen Bewegung deutlich erkennbar und hebt sich von den im mittleren Register spielenden Streichern ab, so dass der harmonisch schwebende Charakter kaum zur Entfaltung kommt. Das Vorschlag-Motiv erklingt ab Takt 217 wieder im Klavier, diesmal, wie zu Beginn des Konzertes, als Soloinstrument. Auffällig ist zum Einen, dass die in Takt 5 und 8 auftretenden Akkorde als Interludien den jeweiligen Vorschlag-Motiven vorangestellt sind, noch dazu, als sie nur Oktaven und damit nicht in die harmonische Reihe des reinen Vorschlag-Motivs eingebunden sind. Zum Anderen wird aufgrund eben dieser Anordnung das vorgeschriebene Dreiermetrum deutlich hervorgehoben, wobei die Tempoangabe Tempo di Valse darüber hinaus verrät, dass es sich hier um eine neue Sinneinheit handelt. Das solistische Erklingen des Vorschlag-Motivs und das Walzertempo, im Übrigen das einzige Mal im Konzert, markieren den Endpunkt einer Entwicklung und den Beginn eines neuen syntaktischen Abschnitts. Vielleicht mag es zunächst verwundern, warum die exponierte Stelle in der Einteilung des Werkes in Kapitel I.3.1 keine Berücksichtigung fand, ist dort doch der nächste Einschnitt, der Beginn der Reprise, erst ab Takt 366 gekennzeichnet. Dennoch ist die These der Sonatenhauptsatzform mit der gegebenen Untergliederung zu halten. Es stellt sich jedoch heraus, dass das Konzert für Klavier und Streicher womöglich auf mehreren Ebenen zu gliedern ist, d.h. dass zum Beispiel die Durchführung noch einmal in Abschnitte unterteilt ist, die über die bloße Konvention einer Themenbehandlung hinausgehen. Das Vorschlag-Motiv erklingt in Takt 217 in seiner reinen Form wie zu Beginn des Konzertes, jedoch etwa zwei Oktaven tiefer. Der Vorschlag hat dieselbe Tondauer wie am Anfang, die Hauptnote ist verkürzt auf 1/8. Die zwölf Takte des Motivs haben also keinen entschleunigenden Charakter, sondern bleiben im Tempo gleich. Bemerkenswert ist, dass die Intervallverhältnisse der zunächst fallenden Terz größer werden:

58

Analysen der Notentexte

Takt Intervall

217 k3

218 g3

219 k3

220 k3

Takt Intervall

225 Tt.

226 r5

227 g6

228 g6

221 k2

222 g6

223 g6

224 Tt.

Es findet offenbar so etwas wie eine Öffnung statt. Das im Forte gespielte Vorschlag-Motiv bricht nach Takt 228 abrupt ab und mündet in das Dreiklangs-Motiv, das Dreiermetrum und den Oktavakkord der linken Hand beibehaltend, dynamisch jedoch ins Piano wechselnd. Es hat den Anschein, als wäre jene Sequenz nur die Vorbereitung, quasi der Anlauf für die nächste Stelle, an der das Vorschlag-Motiv erklingt, nämlich Takt 269. (Abb. 35)

Abb. 35: Vorschlag-Motiv, Takte 269-271.

Wie in Abbildung 35 gut zu erkennen ist, bricht die Vorsicht und der eher verhaltene Charakter des Vorschlag-Motivs an dieser Stelle gänzlich auf: Der Vorschlag mutiert zum Toncluster, bestehend aus den Tönen fis2, e3, f3 und g3, so dass die Hauptnote, hier zur kleinen Terz erweitert, von der linken Hand übernommen werden muss. Der zweite Vorschlag behält die Faktur der ersten Hauptnote (hier jedoch Quarte) bei und mündet in das zweite ‚Hauptnoten-Cluster’. Das Spiel wiederholt sich in der Akkordzusammensetzung leicht variiert in den Takten 270 und 271, bevor ein expressives Repetitions-Motiv, an den ersten Höhepunkt des Konzertes in den Takten 58-70 erinnernd, diese Bewegung unterbricht. Man erwartet fast eine Wiederholung dieser vier Takte, doch die Takte 273 und 274 sind nur mehr Reste des VorschlagMotivs. Der erneute Einsatz des Repetitions-Motivs in Takt 275 lässt erahnen, dass zuvor das variierte Vorschlag-Motiv erklingen sollte, es aber nur der zerbrochene Rest war. In Takt 284 erscheint erneut das Vorschlag-Motiv im Forte-Fortissimo, jedoch harmonisch im Vergleich zum vorherigen Auftreten stark zurückgenommen. Dass hier wieder das Ende einer Sinneinheit steht, verdeutlicht besonders ein Fakt: Das Motiv wird zwölfmal wiederholt, bis schlussendlich Klavier und Streicher in Takt 296 auf einer Fermate stehen bleiben und somit die gesamte musikalische Entwicklung des Konzertes beenden, wobei bislang kaum von musikalischer Entwicklung gesprochen werden kann. Vielmehr scheint sich das Material im Kreis zu drehen, mal bauen sich Vorschlag-Motiv und Begleitung zu einer vermeintlichen Klimax auf, mal verschwindet die musikalische Expression des Motivs in harmoni-

Konzert für Klavier und Streicher

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schen Clustern. Doch nie kann man hier von einer zielgerichteten Entwicklung sprechen. Wären den zwölf Takten Repetition noch weitere zwölf angehängt, es wäre bei der Fermate ohne Aussage geblieben. Als Konsequenz bleibt somit nur die Konzentration auf den Ursprung übrig: Töne erklingen lassen. Nach dieser Sequenz erfolgt in Takt 366 (Tempo I) die Überleitung zur Reprise. Die Reprise selbst beginnt in Takt 394 mit dem reinen Vorschlag-Motiv (Abb. 36), das eine Oktave höher erklingt. Die Verwebungen mit dem Orchester in den Takten zuvor waren so intensiv, dass zwar der melodische Verlauf noch erhalten, die rhythmische Struktur – wir erinnern uns des entschleunigenden Moments beim ersten Auftreten – nun aber durcheinander geraten ist: von 4/4 auf 2/4 auf 5/4 auf 4/4 usw. usf. Die Celli I-IV begleiten hingegen in H-Dur. Außerdem nehmen sie die Akkorde, die auch diesmal die melodische Reihe unterbrechen (d-Moll und g-Moll), auf, halten sie bis zum Ende der Reihe und bilden so einen harmonisch schwebenden Teppich.

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Analysen der Notentexte

Abb. 36: Vorschlag-Motiv, Reprise, Takte 394-402.

3.3.2 Repetitions-Motiv Die Erscheinungsformen dieses Motivs können besser herausgestellt werden, wenn man die Analyse dessen vom Ende des Konzertes her beginnt. Dieses Ende besagt vor allem eines: Auch das Repetieren eines Einzeltons (im Verlaufe des Konzertes auch Akkorde und Toncluster) kann Motiv sein, kann eine musikalische Aussage

Konzert für Klavier und Streicher

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treffen und damit auch Gehalt transportieren. In den Takten 419-421 geschieht dies durch ein ausgeprägtes Smorzando sowie durch rhythmische Entschleunigung. Dabei geht dem Repetieren ein transponiertes B-A-C-H-Motiv voraus. (vgl. Abb. 73) Welche Bedeutung dieses Motiv für die Interpretation des Konzertes haben kann, wird im zweiten Teil dieser Arbeit in Kapitel II.2.1 erörtert werden. An dieser Stelle sollte man zunächst die ersten Takte des Konzertes wieder in Erinnerung rufen, in denen das Vorschlag-Motiv metrisch ebenso erschien und damit eine Art metrische Umklammerung besteht. Wie an anderer Stelle bereits geschildert, scheint die Faktur des RepetitionsMotivs nicht ganz eindeutig zu sein. Das fast schon apathische Repetieren des Tons fis4 (im Übrigen ziemlich nahe am rechten Ende der Klaviatur) verweist darauf, dass dieses Motiv nur aus repetierenden Tönen bzw. Akkorden besteht. Geht man zum Anfang des Konzertes zurück, so ist in Takt 12 eine zweifache Sekundbewegung erkennbar, die in den Folgetakten auf anderen Tonstufen wiederholt wird. (Abb. 37)

Abb. 37: Repetitions-Motiv, Takt 12.

Die Musikwissenschaftlerin Walentina Cholopowa [Valentina Cholopova] spricht von einer „unbeantworteten Frage“21 und meint damit ein für das Konzert wesentliches Element, das hier zum Erklingen kommt. Nur welche Art von Frage ist gemeint, eine zum bejahen oder verneinen oder eine Frage, bei der die Antwort offen ist? Vielleicht wird die Frage gar nicht beantwortet, denn betrachtet man den Schluss des Konzertes, so kann man feststellen, dass hier die Frage nicht mehr zu Ende formuliert ist, sondern eine Floskel bleibt, die zweimal wiederholt wird. Somit ist es besser, sowohl Repetitions-Motiv als auch Sekundbewegung zu einer Sinneinheit zusammenzufassen, die jeweiligen Repetitionen ohne anschließende Aufwärtsbewegung aber auch für sich gelten zu lassen. Dass das Repetitions-Motiv nicht thematisch, sondern rhythmisch angelegt ist, wurde an anderer Stelle bereits erläutert, die syntaktische Verwebung mit dem Vorschlag-Motiv durch die Interludien in den Takten 4 und 8 ebenso. Im Unterschied 21

Valentina Cholopova [Walentina Cholopowa] und Evgenija Čigarëva [Jewgenja Tschigarjowa], Al‘fred Šnitke. očerk žizni i tvorčestva [Alfred Schnittke. Ein Abriss seines Lebens und Werkes], Moskau 1990, S. 141.

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Analysen der Notentexte

zum Vorschlag-Motiv, das durch seine thematische Veranlagung für sich etwas genauer betrachtet werden musste, soll bei der Analyse des Repetitions-Motivs (in Verbindung mit der Sekundbewegung) vor allem der Fokus auf Interdependenzen mit anderen zeitgleichen oder aufeinanderfolgenden musikalischen Erscheinungen liegen. Damit kämen wir zum Einen der These Cholopowas etwas näher, denn eine Frage impliziert gemeinhin eine Antwort. Zum Anderen steht der ambivalente Charakter des Motivs einerseits begleitend, andererseits motivisch durchdringend zur Disposition – wie ein Spielball, den sich die Konzertierenden Klavier und Streicher abwechselnd zuspielen. Das Spiel beginnt im Klavier, mit zwei Anläufen auf d1 im 5/4-Takt in den Takten 9-10 und dem Erreichen der Sekundbewegung in 7/8 und 2/4 in den Takten 11-12. Das aus dem Vorschlag-Motiv bekannte Prinzip der Entschleunigung wird hier umgekehrt verwendet – als Beschleunigung. Der nächste Einsatz des Repetitions-Motivs nebst Sekundbewegung wird zunächst beschleunigt, dann wieder entschleunigt. Der dritte Einsatz ab Takt 17 ist dann nur noch entschleunigt, ab Takt 20 ist wieder beides vorhanden. Das Tempo dieser 15 Takte ist damit geprägt von einer metrischen Unordnung. Hinzu kommen die unterschiedlichen dynamischen Bezeichnungen, die einen Bogen von Mezzopiano über Forte wieder zu Mezzopiano spannen. Außerdem besteht ab Takt 20 eine metrische Inkongruenz, denn die rechte Hand spielt Triolen, während die linke Hand weiterhin Achtelnoten im 4/4-Rhythmus spielt; verlangsamt tritt genau diese Polyrhythmik auch in Takt 21 auf. Harmonisch gesehen ist der Beginn des RepetitionsMotivs eng verwoben mit dem vorher erklingenden Vorschlag-Motiv: Die rechte Hand spielt in Takt 9 g-Moll, übernimmt also die Tonart des letztes Akkordes des Vorschlag-Motivs. Gleichzeitig erklingt in der linken Hand die Tonart des Taktes 7, E-Dur. Der erste Anlauf zu einer musikalischen Frage entsteht demzufolge harmonisch gesehen aus den beiden letzten Akkorden des Vorschlag-Motivs. Takt 10 ist da schon selbstständiger, in der rechten Hand erklingt h-Moll, in der linken Hand BDur. Die bereits für das Vorschlag-Motiv gültigen harmonischen Cluster treten auch hier bereits zu Beginn des Konzertes auf, einerseits mit g-Moll und E-Dur, wobei EDur die Durparallele zu g-Moll ist, andererseits – und hier besonders deutlich – mit den nur eine kleine Sekunde voneinander entfernt liegenden Tonarten h-Moll und BDur. Um die Funktion des Repetitions-Motivs erklären zu können, sollen vor allem diejenigen Stellen analysiert werden, in denen dieses Motiv (z.T. mit Sekundbewegung) merklich zum musikalischen Geschehen beiträgt. In den Takten 46-56 ist dies der Fall, wo das Motiv von den Streichern übernommen wird, jedoch jetzt weniger motivischen, dafür eher begleitenden Charakter hat. Das Orchester setzt dieses Motiv ametrisch ins Verhältnis zum Klavier. Harmonisch betrachtet kann von Bitonalität gesprochen werden, denn das zunächst in allen Streichinstrumenten erklingende c-Moll wird ab Takt 49 nur noch von den Celli und Kontrabässen beibehalten, in Violinen und Violen erklingt Ces-Dur. So wandern die Tonarten sukzessiv durch die Streichergruppen:

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Konzert für Klavier und Streicher

Takt

Vl. & Vle.

Vc. & Cb.

46-48 49-50 51 52 53-55 55-56

c-Moll Ces-Dur d-Moll Des-Dur E-Dur B-Dur

c-Moll c-Moll Ces-Dur d-Moll Des-Dur E-Dur

Die tabellarische Übersicht veranschaulicht, dass (bis auf den Anfang) immer zwei Tonarten parallel erklingen, die eine eindeutige tonale Zugehörigkeit verschleiern und die Auflösung ab Takt 57 vorbereiten helfen. Hier scheint die bis jetzt eher begleitende Funktion dieses Motivs plötzlich eine dominante Rolle zu erhalten: Die Fortissimo-Repetitionen im Klavier in den Takten 58 und 62 dominieren den darunter liegenden Streicherteppich. Betrachtet man den melodischen Verlauf von Streichern und Klavier an dieser Stelle, so lässt sich eine Sekundbewegung nach oben in den Streichern feststellen, von c2 über d2 nach e2. (vgl. Abb. 72.2) Die punktierte Halbe (e2) in Takt 58 wird simultan vom Klavier eine Oktave höher, also auf e3, übernommen und in das Repetitions-Motiv geführt. Erinnern wir uns der anfänglichen Sekundbewegung nach dem Repetitions-Motiv, so scheint es, als wäre die melodische Chronologie hier vertauscht. Das Repetieren des Klaviers und das kontrastierende Harmonisieren der Streicher kehrt an anderer Stelle zurück: Im zweiten Höhepunkt des Konzertes am Ende der Durchführung, der den ersten in seiner musikalischen Expressivität bei weitem übertrifft und somit als physisches Finale des gesamten Klavierkonzertes angesehen werden kann. Die Möglichkeit einer kadenzierten Auflösung dieses Höhepunktes wird durch den Einsatz des Klaviers a priori verbaut. Der einzige Ausweg ist eine Interaktion zwischen Klavier und Streichern, die allerdings sowohl harmonisch als auch rhythmisch labil ist. Was in Takt 337 im Klavier noch das Repetitions-Motiv nebst der Sekundbewegung ist, wird in den Takten 339-341 zu einem fast ziellosen Umherirren in der musikalischen Syntax des Motivs. (Abb. 38) Die erste Sekundbewegung erfolgt bereits zu Beginn der dritten Triole, es folgen fünf Sechzehntelnoten als Synonym für Beschleunigung, danach eine Fermate, wieder Beschleunigung, normales Tempo und ein Sekundschritt, noch mal Be- und Entschleunigung und zu guter Letzt die sogenannte musikalische Frage, gefolgt von der Betonung des Fragezeichens durch einen weiteren Sekundschritt und die dreifache Wiederholung des Satzzeichens.

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Analysen der Notentexte

Abb. 38: Repetitions-Motiv, Takte 339-341.

Harmonisch betrachtet bleibt zumindest das Repetieren des Klaviers konstant. Der in Takt 337 erklingende Akkord, bestehend aus den Tönen C, E, cis, c2, e2 und c3, bleibt bis Takt 341 in dieser Faktur erhalten (die Sekundbewegungen natürlich ausgenommen). Wir haben es deshalb zunächst mit Tönen aus C-Dur zu tun, die durch das cis in der linken Hand eine Eintrübung erfahren. Ein harmonisch gänzlich anderes Bild entsteht jedoch, wenn wir die Harmonien der Streicher in diesem Takt hinzuziehen. Dort erklingt nämlich ebenfalls kein reines C-Dur, sondern hier entsteht die Eintrübung durch den Ton a, der im ersten Viertel des Taktes, außer in den Violen, in allen Instrumentengruppen des Orchesters vorkommt. Somit erweitert sich die harmonische Erscheinung um die neue Tonart A-Dur, doch auch a-Moll ist möglich, die Tonikaparallele zu C-Dur. Dieser polytonale Klang wandert im zweiten Viertel in den Streichern zu G-Dur, dann wieder zu A-Dur usw. usf., während im Klavier nach wie vor C-Dur, eingetrübt durch cis, erklingt. Klavier und Streicher sind also harmonisch durch jeweils zwei Töne aus A-Dur aneinander gebunden. Die Rückkehr zum tonal Eindeutigen vollziehen die Streicher in Takt 342, wo sie das Repetitions-Motiv aufgreifen und in reinem F-Dur spielen. Beim erneuten Einsatz des Klaviers bricht jedoch diese tonale Deutlichkeit auf, die Streicher spielen fast zusammenhangslos, das Klavier dominiert mit dem erneuten Ansatz der musikalischen Frage, das Fragezeichen bereits vorangestellt. In Takt 346 spielt das Klavier solistisch. Das Ergebnis sind Clusterrepetitionen, denen keine tonale Funktionsbezeichnung zugewiesen werden kann. (Abb. 39)

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Konzert für Klavier und Streicher

Abb. 39: Repetitions-Motiv, Takt 346.

Anstatt die Erscheinungen des Motivs chronologisch zu analysieren, nähern wir uns der Funktion des Repetitions-Motivs im Gesamtwerk von außen her. Diese Vorgehensweise hat ihren Sinn, denn bei der eingangs gestellten Frage nach der Sonatenhauptsatzform erscheint nun ein neuer Formtypus: die Rondo-Form. Anfang und Ende des Konzertes scheinen sowohl im Hinblick auf das Vorschlag- als auch das Repetitions-Motiv miteinander verwandt zu sein. Doch im Gegensatz zu den Variationen des Vorschlag-Motivs innerhalb des Konzertes besteht ein noch engerer Zusammenhang der Repetitionen an Anfang und Ende des Konzertes. Eine weitere Betrachtung des Repetitions-Motivs im Konzert für Klavier und Streicher führt nahe an zwei Einschübe, einen Blues- und einen Walzerteil, heran. Wir befinden uns inmitten der Durchführung, in der das Vorschlag-Motiv mehrfach variiert im Klavier und den Streichern erklingt. Auch das Repetitions-Motiv erfährt hier Abwandlungen. In den Takten 134-137 erklingen Akkordrepetitionen im Klavier – in der rechten Hand in As-Dur, in der linken Hand in a-Moll. Gleichzeitig spielen die Violinen I abfallende halbe Noten im Dreiermetrum. In Takt 152 kehren die Repetitionen zurück, diesmal, mit derselben Faktur wie vorher das Klavier, in den Violinen II (Des-Dur) und den Violen (e-Moll), gleichzeitig spielt das Klavier das variierte Vorschlag-Motiv. Gegen Ende der Durchführung sind diese Erscheinungen nicht zu finden, was darauf schließen lässt, dass die zirkulare Form hier ihr Zentrum gefunden hat. Zwar begleitet die linke Hand im Walzerteil ab Takt 253 die zielgerichteten Bewegungen von rechter Hand und Violinen II als Viertelnotenrepetitionen, doch führt diese Begleitung hin zum Vorschlag-Motiv, steht also nicht allein für sich oder ist bereits Begleitung desselben. Außerdem ist der musikalische Ausdruck im Vergleich zu den Streichern – die Violinen I spielen dazu die absteigende Linie – und der rechten Hand des Klaviers zu hintergründig. Betrachtet man das Konzert unter Berücksichtigung des Repetitions-Motivs, so lässt sich die vorgestellte zyklische Form grafisch wie folgt darstellen: T9-23

T46-56

T85-109

Zentrum der Durchführung

T298-318

T336-350

T419-421

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Analysen der Notentexte

Bezogen auf das Repetitions-Motiv ist das Zentrum der Durchführung für das Konzert entweder von ebenso zentraler Bedeutung wie ihre Position vermuten lässt oder aber die wesentlichen musikalischen Entwicklungen spielen sich gerade hier nicht ab, sondern im Anfang und gegen Ende des Konzertes, also in der Exposition, der Reprise und der Coda. Die Tatsache, dass die syntaktischen Verknüpfungen des Repetitions-Motivs nur in diesen drei Teilen des Konzertes vorhanden sind, nicht aber in der Durchführung selbst, stellt uns bei der Analyse der Motive als auch bei der Findung der Gesamtform vor ein Problem. Bisher konnten beim Vorschlag-Motiv Zusammenhänge von Anfang und Ende des Konzertes (‚reines’ Vorschlag-Motiv), in der Durchführung und sogar im Walzerteil erkannt werden. Die fallende und steigende Terz zog sich durch das gesamte Konzert wie ein Gedanke, zu dem man immer wieder – verzerrt oder original – zurückkehrte. Das Auftreten des RepetitionsMotivs jedoch weist einen bogenartigen Formansatz auf, die Bewegung nicht entlang eines Zeitstrahls, sondern von außen nach innen und wieder nach außen, wie es sowohl in der dreiteiligen Liedform als auch im klassischen Bogenrondo üblich ist. Um eine Verbindung zwischen beiden Formtypen herzustellen, hilft eine kurze Betrachtung des letzten Motivs, das eingangs dieser Arbeit schon als vorrangig begleitend eingeschätzt wurde und das von daher auf beide bereits analysierten Motive verweisen könnte: das Dreiklangs-Motiv. 3.3.3 Dreiklangs-Motiv Es hat zunächst den Anschein, als würde das Dreiklangs-Motiv ebenso wie das Reptitions-Motiv von außen nach innen geführt und hätte damit einen ebensolchen zyklischen Formansatz. Demgegenüber steht die harmonische Verwandtschaft mit dem Vorschlag-Motiv, wie sie bereits in Kapitel I.3.2 herausgestellt wurde. Ein erstes Indiz, dass über das Dreiklangs-Motiv die beiden anderen musikalischen Elemente miteinander verknüpft sind, ist deshalb präsent. Eine weitere Verbindung besteht ab Takt 71, wo das Klavier in der rechten Hand Triolen, in der linken Hand reguläre Achtelnoten spielt (wir erinnern uns der Polyrhythmik im Repetitions-Motiv in Takt 20). In den Violinen I (1 und 2) erklingt eine Quartole, die ab der zweiten Note stark an die musikalische Frage erinnert. Metrisch versetzt erklingt diese Frage auch in den Instrumenten 3-6 der Violinen I. Die fragende Bewegung wird in den Takten 73-74 an die Violinen II weitergereicht, dasselbe Spiel wiederholt sich ab Takt 75. Da die musikalische Frage zum RepetitionsMotiv gehört, also eine etwas exponiertere Stellung innehat, sollten die gleichzeitigen Dreiklangsbewegungen des Klaviers als ihre Begleitung angesehen werden. Um diesen Verdacht zu bekräftigen, kann man die Takte 315-316 heranziehen. Unterhalb des in der rechten Hand erklingenden Repetitions-Motivs mit musikalischer Frage begleitet die linke Hand im Dreiklangs-Motiv, in der rechten Hand erklingt außerdem die musikalische Frage akkordisch in Duolen. Das Dreiklangs-Motiv verbindet somit nicht nur willkürlich einzelne Repetitionen innerhalb des Klavierkonzertes, sondern verknüpft zudem unterschiedliche syntaktische Zusammenhänge, so dass dadurch die Rondo-Form, hier als spiegelbildartige Syntax, aufgebrochen bzw. in

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Konzert für Klavier und Streicher

ihrer Symmetrie gestört wird. Damit kommen wir dem wesentlichen Kernpunkt dieser Komposition näher. Wo über eindeutig zuzuweisende Motive Formparameter aufgebaut werden können, werden durch andere oder gar dieselben Elemente eben diese strengen Parameter wieder destruiert. Geht man in der Betrachtung der harmonischen Zusammenhänge zwischen beiden Motiven weiter, so gelangt man zu Takt 164, in dem das Vorschlag-Motiv variiert in den Streichern erklingt. Auffallend ist hier besonders, dass die in den Violinen auftretenden Tonarten (As-Dur und h-Moll) sowohl im Klavier als auch in den Violen, die ebenfalls im Dreiklangs-Motiv begleiten, gespielt werden. Man kann dieses Muster bis in Takt 169 feststellen, auch wenn in den Violen 1-4 ein teilweiser Stimmentausch stattfindet. Die harmonische Verwandtschaft zwischen Vorschlag- und Dreiklangs-Motiv ist bis hierher vorherrschend. Ein differenzierter Zusammenhang besteht ab Takt 229, wo das Dreiklangs-Motiv in variierter Form auftritt und zusammen mit dem auf der ersten Zählzeit erklingenden Akkord das Tempo di Valse fortspinnt. Denn genau dieses Fortspinnen ist es, was dieses Motiv mit jenem verbindet, tritt das Vorschlag-Motiv doch vorher in der gleichen rhythmischen Faktur auf. Der Piano-Einsatz in Takt 229 lässt somit das Dreiklangs-Motiv wie einen Schatten des vorherigen erscheinen, wie auch der erste Einsatz des DreiklangsMotivs ab Takt 24 vor allem wegen seiner harmonischen Kongruenz mit dem Vorschlag-Motiv aus den Takten 1-8 als dessen Schatten bezeichnet werden kann. In Takt 229 tritt diese Wirkung nicht mehr vorrangig harmonisch – semantisch gesehen beginnt in Takt 24 ein neuer Abschnitt – auf, vielmehr verknüpft gerade dieses Fortspinnen des rhythmischen Gestus beide Motive miteinander und führt nach langer Eigenständigkeit letztlich doch wieder zurück zum Vorschlag-Motiv (Takt 269). Eine weitere Verflechtung der beiden Hauptakteure durch das Dreiklangs-Motiv entsteht noch einmal in der Durchführung. Auf die begleitende Funktion gegenüber dem Repetitions-Motiv in den Takten 313-318 wurde bereits eingegangen. Blickt man nun weiter, so erklingt in Takt 319 erneut das Vorschlag-Motiv, das als vorsichtiges Herantasten an die ursprüngliche reine Form definiert werden kann. In der linken Hand jedoch erklingt nach wie vor das Dreiklangs-Motiv, als Fortspinnung aus der vorherigen Begleitung. Dass dem so ist, belegt eine harmonische Analyse: Takt 313-315 f-Moll

316-318 E-Dur

319-320 g-Moll

320-321 Ges-Dur

322-323 A-Dur

323-324 c-Moll6

Bis auf den letzten Moll-Sextakkord sind alle anderen Akkorde in ihrer Chronologie der harmonischen Reihe des reinen Vorschlag-Motivs aus den Takten 1-8 und der Introduktion des Repetitions-Motivs aus den Takten 24-32 entnommen, allerdings hier eine Quarte höher (Oktavierungen nicht berücksichtigt). Damit bildet das Dreiklangs-Motiv nicht nur den Schatten des Vorschlag-Motivs bezogen auf die Harmonik, sondern es nuanciert sich selbst, indem es zwar seine rhythmische Faktur beibehält, harmonisch jedoch einen Schleier über eindeutige Verknüpfungspunkte legt.

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Analysen der Notentexte

Dabei tritt durch den veränderten Schlussakkord der harmonischen Reihe erneut die Verschleierungstechnik hervor: Um ganz sicher zu gehen, dass direkte Konnotationen vermieden und reine Formen nivelliert werden, erklingt am Ende nicht cMoll, so wie es die harmonische Reihe vollendet hätte, sondern der Sextakkord. Dieser wirkt nicht nur dominantisch (man wünscht sich den Grund- und Ausgangston dieser Reihe f, um einen auf B-Dur/b-Moll verweisenden Dominant-Septakkord zu hören), sondern er bereitet harmonisch betrachtet, wenn auch nur leicht, die in Takt 325 in der linken Hand einsetzenden Arpeggi vor. Damit ist nachgewiesen, dass durch die semantische Verknüpfung von Dreiklangs-Motiv und Vorschlag-Motiv an syntaktisch unterschiedlichen Positionen strenge Formparameter gestört werden und damit eine perfekte Form – sowohl als Rondo- als auch als Sonatensatzform – negiert wird. Jeder Parameter, gleich ob Motivik, Harmonik oder Form, erlangt nie den Status des Vollkommenen. Einzig und allein das Vorschlag-Motiv erklingt zu Beginn des Konzertes in einer reinen Form, obwohl auch hier, wie aufgezeigt, Anklänge und Verweise zu späterem gegeben werden. Die Wiederkehr dieser dennoch ursprünglichen Form am Ende des Konzertes ist demzufolge nicht als Rückkehr zum Reinen zu verstehen, sondern vielmehr als ein Bloßstellen der reinen Form. 3.3.4 Der Blues-Einschub Bevor die Analyse des Konzertes zu einem Abschluss geführt wird, soll an dieser Stelle ein weiteres wesentliches Element behandelt werden. Hierbei handelt es sich um den Bluesteil in den Takten 193-216 (Tempobezeichnung Allegro). Zunächst fällt hier das Blues-typische Metrum22 auf: Die Sequenz ist durchweg im 4/4-Takt gehalten. Nach einer kurzen Überleitung (Takte 190-192) beginnt zunächst ein SoloKontrabass pizzicato zu spielen (Takt 193). Auf unbetonter Zählzeit setzt das Klavier mit einer für Blues typischen Trillerverzierung ein und spielt die nächsten Takte selten im vorgegebenen Metrum. Insgesamt umfasst der eigentliche Bluesteil 15 Takte, eine für diese Art untypische Anzahl: „Das sog. Bluesschema besteht in der Regel aus 12 Takten, die man auch als CHORUS (= Begriff für eine instrumentale Strophe) bezeichnet“23. Zwar gab und gibt es auch Takterweiterungen, jedoch enthalten diese meist eine gerade Anzahl von Takten, also „[…] z.B. auch 8- und 16-taktige Bluesstrophen“24. In Takt 207, nach 15 Takten, beginnt jedoch eine neue Sinneinheit, die Überleitung zum Walzerteil, die mit der Blues-Sequenz nur noch die Bewegungen des Klaviers gemein hat, weshalb eine eintaktige Erweiterung dorthin nicht vollzogen werden kann. Im Gegenzug kann auch der Beginn nicht um einen Takt vorgezogen werden, da die Überleitung zum Bluesteil in sich geschlossen ist. Somit bleibt das Bluesschema von der Anzahl der Takte her unvollständig. Aber auch der melodische Verlauf vor allem des Kontrabasses weist Blues-untypische Merkmale 22 23 24

Die Hinweise auf Blues-Musik sind folgenden Büchern entnommen: Bill Dobbins, Blues, Rottenburg 1988; Bernd Frank, Blues Piano, Brühl 1993 und Manfred Paul Galden, Vom Blues zum Rhythm & Blues, Oldershausen 1993. Frank, Blues Piano (wie Anm. 22), S. 6. Ebd., S. 7.

Konzert für Klavier und Streicher

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auf. Zwar sind Akzente wie im Blues nicht auf die schwere Zählzeit gelegt, also Zählzeit 1 und 3, sondern bilden zusammen mit vereinzelten Triolen ternäre Rhythmen. Doch diese Akzente treten eben nicht so oft auf, als dass sie einen durchweg hör- und fühlbaren Bluesrhythmus kreieren könnten. Vielmehr krankt das rhythmusgebende Fundament der Blues-Entwicklung an seiner eigenen Behäbigkeit. (Abb. 40) Dazu kommt der melodische Verlauf, der mit seinen chromatischen Intervallen zwar an Blues erinnert, jedoch selten die Blues-typischen Intervalle kleine Terz, Tritonus und kleine Septime spielt.

Abb. 40: Blues-Einschub, Takte 196f.

Dafür sind gleich zu Beginn in Takt 193 drei aufeinanderfolgende Halbtonschritte vorgegeben, allerdings im regulären 4/4-Rhythmus, so dass das Erkennen eines

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Analysen der Notentexte

Bluesschemas zunächst schwer fällt. Basierend auf der alternativen Blues-Tonleiter bei Dobbins25, die mit fünf Halbtonschritten beginnt, könnte der Beginn des Kontrabasses auf den dorischen Bluesmodus verweisen (Beginn auf der zweiten Tonstufe). Der fallende Halbtonschritt zu Beginn des Taktes 195 unterbindet diese These jedoch. Im weiteren Verlauf zeigt der Kontrabass generell den Gestus einer aufsteigenden Linie, die zunächst bis Takt 196 anhält und dann, nach dem Fall einer großen Septime von e1 auf f, einen Takt lang den Ton f umspielt. In Takt 198 beginnt, wieder nach großem Septimen-Fall, erneut die aufsteigende Linie bis Takt 200. So setzt sich der melodische Verlauf bis zum Schluss fort, wobei am Ende durch zwei ViertelTriolen mit anschließender Achtel-Triole der chromatische Lauf beschleunigt wird. Wesentlich näher am Blues orientiert ist dagegen die Oberstimme, das Klavier. Mit Trillern, Triolen, Quintolen, Sextolen und Synkopierungen folgt es damit dem grundlegenden Bluesschema, das die Abkehr von sturer metrischer Ordnung fordert und den Melodiebogen näher an der menschlichen Stimme orientiert. Neben den Trillern sind vor allem die fallenden und steigenden Dreiklangsbewegungen in Sechzehnteln die für den Blues so typischen Verzierungen, auch „arpeggio-artiger Schleifer“26 genannt. Hinzu kommt in Takt 195 ein ‚halber’ Quartenakkord sowie ein ‚halbes’ Fugato in Takt 199. Am Ende ahmt das Klavier die Aufwärtsbewegung des Kontrabasses nach, allerdings nicht in Halbtonschritten, sondern in den Intervallen Quarte und Terz und beschreibt so in der ersten Triole einen A-Dur-Akkord, gefolgt von C-Dur und h-Moll, bis der Zielton f3 schließlich erreicht ist. Dabei haben die ganze Zeit die Violinen I und II im Pianissimo begleitet, zunächst in C-Dur. In Takt 197 erklingt in den Violinen I d-Moll, während in den Violinen II weiterhin C-Dur gespielt wird. Die in diesem Konzert so häufig verwendete Bi- und Polytonalität durchzieht also auch den Bluesteil.

3.4

Zusammenfassung

Wie während dieser Analyse herausgestellt wurde, erklingt jedes Element innerhalb des Konzertes für Klavier und Streicher immer nur im Kontext zu anderen, bisweilen gegensätzlichen Elementen. Diese Dualität lässt Klavier und Streicher über die verschiedenen Motive und anderen musikalischen Erscheinungen miteinander konzertieren. Die Ebenen (Tonalität, Motivik, Rhythmik etc.) verschwimmen des Öfteren, damit auch die musikalische Form, die zwischen Sonatenhauptsatz- und RondoForm changiert. Die Argumente für und wider die Sonatenhauptsatzform sind dieselben, wie sie auch für einen rondoartigen Ansatz gelten könnten. Denn rein ist die Form nicht, als dass sie ohne Weiteres so genannt werden könnte. Aber irgendwie vorhanden ist sie trotzdem, verknüpft mit allem anderen, was in diesem Konzert erklingt und weitere Formdefinitionen zulässt. Abschließend soll eine grafische Darstellung den formalen Aufbau dieses Konzertes illustrieren. (Abb. 41) 25 26

Dobbins, Blues (wie Anm. 21), S. 5. Frank, Blues Piano (wie Anm. 21), S. 8.

Konzert für Klavier und Streicher

Abb. 41: Konzert für Klavier und Streicher – Gliederung.

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Analysen der Notentexte

Es kann abschließend gesagt werden, dass das Konzert für Klavier und Streicher formell an die Sonatenhauptsatzform angelehnt ist. Die Dramaturgie des Konzertes verweist auf das Perfekte, erreicht es aber nicht. Gleich einer Exponentialkurve, die sich im Unendlichen einer Konstanten annähert, sie aber nicht erreicht, so verklingt, mit dem transponierten eingeschobenen Motiv über B-A-C-H, Schnittkes drittes Klavierkonzert.

4. 4.1

Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester (1988) Werkform

Im Gegensatz zu den vorangehenden Klavierkonzerten gibt es in der Partitur zum Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester keinerlei Tempoangaben. Das macht das Aufstellen einer These zugunsten eines Formschemas schwierig. Somit ist man auf die Bezifferung thematischer Abschnitte angewiesen, deren Gesamtzahl 65 beträgt. Mehrere dieser bezifferten Abschnitte ergeben daher jeweils eine Struktureinheit, die als Teilsätze bezeichnet sein sollen. Das vorliegende Konzert ist meines Erachtens in fünf solche Teilsätze untergliedert. Im Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester begleitet ein Kammerorchester, das zudem ein umfangreiches Schlagwerk besitzt: Neben den Kesselpauken sind drei Musiker mit dem Schlagwerk beschäftigt, das aus Vibraphon, Glocken, Militärtrommel, drei Bongas, drei Tomtom, Becken und Tamtam besteht. Die Holzbläser umfassen sämtliche Register von Oktavflöte, Flöte, Piccoloklarinette, Klarinette, Bassklarinette, Fagott und Kontrafagott. Die Blechbläser hingegen lassen die obersten Register mit Horn, Trompete, Posaune und Kontrabasstuba vermissen, die Streicher sind gewöhnlich besetzt, decken aber instrumentbedingt bereits alle Register ab. Streicher und Bläser bilden den tonalen Klanggegensatz zum Klavier, während das umfangreiche Schlagwerk gegenüber dem Klavier die rhythmischen Akzente setzt. Die gewählte Satzaufteilung des Klavierkonzertes lässt sich wie folgt darstellen: Takt 1-128

Takt 128-209

Takt 210-335

Takt 336-458

Takt 459-492

1. Teilsatz

2. Teilsatz

3. Teilsatz

4. Teilsatz

5. Teilsatz

Am einfachsten ist dabei die Trennung des ersten Teilsatzes vom Rest des Werkes: In diesem treten Klavier und Orchester nie simultan auf, sondern nur nacheinander. Der zweite Teilsatz beginnt kontrastiv mit Klavier und Streichern, markiert also ein erstes Interagieren von zweifachem Soloinstrument und Orchester. Er endet im Tutti mit einer angehängten Floskel der Trompete. Im dritten Satz gibt es zum ersten Mal motivisch-thematische Durchdringung zwischen Klavier und Kammerorchester, die gegen Ende des Satzes in einen ersten Höhepunkt führt. Der Zusammenbruch

Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester

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des aufgestauten Orchesterklangs erfolgt im Klavier und geht als Solosequenz über in den vierten Satz, in dem sich das musikalische Material erneut zu einer Klimax verdichtet, diesmal aber im Tutti in den dramaturgischen Höhepunkt mündet und mit dem wieder solistisch spielenden Klavier den Finalsatz einleitet. Der Finalsatz schließlich ist thematisch über Klavier und Glocken mit dem Kopfsatz verwandt und beschließt das Konzert mit einem sieben Takte dauernden Schlussakkord. Die Trennung der Sätze zwei bis fünf voneinander manifestiert sich zum Einen in der Besetzung, zum Anderen im Auftreten motiv-thematischen Materials.

4.2

Analyse der einzelnen Teilsätze

4.2.1 Erster Teilsatz Der erste Teilsatz des Konzertes für Klavier vierhändig und Kammerorchester beginnt mit einer Solosequenz des Klaviers in den Takten 1-3, in der zunächst ein Zwölftonthema in der rechten Hand vorgestellt wird. (Abb. 42) Diese Zwölftonreihe R1 tritt während des Konzertes nicht nur im Klavier häufiger auf: d – cis – es – c – h – ais – g – f – e – b – a

Abb. 42: 1. Teilsatz, Reihe R1.

Hieraus lassen sich zweierlei Dinge erkennen. Erstens ist R1 nicht komplett – es fehlen die Töne fis/ges und gis/as –, zweitens erklingt ein Ton zweimal, bevor die Reihe vollendet ist: b/ais. Zieht man den kontrapunktischen Melodiebogen der linken Hand hinzu, so wird R1 komplettiert durch as und b, allerdings auch gestört durch das Wiederholen von Tönen, die bereits in der Oberstimme erklingen. Somit haben wir es bei der Vorstellung des Themas mit einer imperfekten Zwölftonreihe zu tun, die im ersten Teilsatz nicht noch einmal erklingt. Im Verlauf des Konzertes jedoch kehrt sie immer wieder und tritt besonders im Höhepunkt im vierten Teilsatz hervor.

74

Analysen der Notentexte

Wie bereits erwähnt ist der erste Teilsatz geprägt von abwechselnd spielendem Klavier und Orchester. Nach Vorstellung der Reihe R1 verdichtet sich das musikalische Geschehen hin zu einem ersten Höhepunkt, einem Akkord über A (ohne Terz) in Takt 5, bei dem alle vier Hände des Klaviers eine vollkommene Konsonanz spielen. (Abb. 43)

Abb. 43: 1. Teilsatz, Takt 5.

Diese währt allerdings nur kurz, bereits der Nachsatz im Klavier II besteht aus zwei Quarten, die nur eine kleine Sekunde voneinander entfernt sind. Im weiteren Verlauf bricht die Konsonanz dann vollends auf, führt aber, einem zweiten Anlauf gleich, zu erneuter Dur-Harmonik in den Takten 12-13, bestehend aus der Akkordabfolge BDur, h-Moll, C-Dur, h-Moll, Cis-Dur und Fis-Dur, wobei Fis-Dur die zu erreichende Tonika markiert, verstärkt durch die Dominante Cis-Dur mit Quinte im Bass. Diese Modulation ist eine der wenigen Stellen innerhalb des gesamten Konzertes, in der eindeutig erkennbare Dur-Harmonik das harmonische Gesamtbild dominiert. Doch auch diese ist nicht von Dauer, sondern wird zu guter Letzt in das Repetieren eines Einzeltons zerlegt, der in den Folgetakten (Takte 21-24) über dem Orgelpunkt des Klaviers II um kleine Sekunden ober- und unterhalb erweitert wird, damit tonale Zusammenhänge vollends verschleiert und den ersten Teil des Soloparts des Klaviers beendet. In Takt 27 beginnt nun eine neue Reihe, diesmal in den Glocken I. (Abb. 44) Sie kehrt im Schlussteil ab Takt 480 leicht variiert ebenfalls in den Glocken wieder und markiert so einen gewissen Rahmen des Konzertes. In Takt 27 handelt es sich um eine perfekte Zwölftonreihe, in der alle Töne der chromatischen Skala erklingen, bevor in Takt 33 mit dem Ton ges1 die erste (enharmonisch verwechselte) Wiederholung eines bereits erklungenen Tons einsetzt.

Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester

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Abb. 44: 1. Teilsatz, Takte 27-35, Reihe in den Glocken.

Die Reihen in den Glocken II und Vibraphon spielen hier wohl nur eine untergeordnete Rolle, denn beide kehren im Verlauf des Konzertes nicht wieder. Auch das Bilden von Umkehrung, Krebs und Krebs der Umkehrung der ersten Glocken-Reihe bringt dahingehend kein Ergebnis. Unter dem Aspekt der Kohärenz des ersten Teilsatzes ist ein Blick auf den weiteren Verlauf der orchestralen Teilsequenz wichtig, denn ähnlich wie zu Beginn im Klavier folgt auch hier auf das Vorstellen eines motivisch-thematischen Materials in Takt 39 ein erster Höhepunkt, der in den Streichern gern Es-Dur oder c-Moll sein möchte (es fehlt die Quinte bzw. der Grundton), in den Bläsern aber durch den Ton A von vornherein nicht zugelassen wird. Anders als im Klavierteil ist also hier eine eindeutige Dur-Moll-Tonalität von vornherein verbaut. Der nachfolgende Zusammenbruch geschieht ähnlich wie im ersten Teil im Klavier und mündet ebenso in das Repetieren eines Einzeltons, der sich mit Tönen im Sekundabstand zu einem harmonischen Cluster vermengt (Takte 54-55). Die ersten beiden Teile des ersten Teilsatzes, in denen sowohl Klavier als auch Orchester ihren ersten Auftritt haben, sind demnach dramaturgisch miteinander verwoben. Zunächst wird motivischthematisches Material vorgestellt, das sich zu einem Höhepunkt verdichtet, danach zusammenbricht und am Ende über Ton- bzw. Clusterrepetitionen den ersten Abschnitt beschließt. Ab Takt 56 spielt wieder das Klavier, das erneut thematisches Material vorstellt. Dieses ist jedoch keine Reihe, sondern ein Thema im herkömmlichen tonalen Sinn, bestehend aus zwei Takten und in a-Moll. (Abb. 45) Nach dem tonal uneindeutigen Beginn des Konzertes erfährt die Materialentwicklung hier eine erste Ruhephase.

76

Analysen der Notentexte

Abb. 45: 1. Teilsatz, Takt 56f., Dreiklangs-Thema.

Zunächst wird dieses Thema, das hier Dreiklangs-Thema genannt werden soll, durch verschiedene Tonarten geführt, von a-Moll in den Takten 56-57 über h-Moll in Takt 60 und gis-Moll in Takt 66 hin zu b-Moll in Takt 72 (mit arpeggierten Akkorden im Klavier II). Dabei ist, neben der engen Lage der Tonarten gis-Moll, a-Moll, bMoll und h-Moll, innerhalb des Materials eine Tendenz sichtbar. Der anfänglich vorhandene zweite Teil des Themas, in dem eine Alterierung in die Dur-Terz erfolgte, tritt bei der alterierten Wiederholung in seiner musikalischen Faktur zurück. In Takt 61 flieht die rechte Hand zum rechten Rand der Klaviatur, in Takt 67 tritt das Material auf der Stelle und in Takt 73 erklingt es erst gar nicht. Die in den ersten Takten des Klavierkonzertes vorgestellte imperfekte Reihe mutiert hier zu einem imperfekten Thema, das zunächst jedoch perfekt beginnt und erst im Verlauf der Wiederholungen imperfekt wird. Das Orchester beendet diesen Ausflug in die Tonalität ebenfalls durch Flucht in hohe Lagen (Takte 73-74). Ab Takt 88 nun erklingt das neue thematische Material in der linken Hand des Klaviers I. (Abb. 46)

Abb. 46: 1. Teilsatz, Reihe R2 und ihre Varianten.

Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester

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Diese Reihe beendet auch den ersten Teilsatz, denn sie wird vom Klavier vorgestellt. Später erklingt sie als Umkehrung im Orchester. Diese exponierte Behandlung des Materials ermöglicht es, diese Reihe als R2 zu definieren. Ebenso wie die Reihe R1 ist auch dieses Material nicht perfekt. Bevor die Zwölftonreihe komplettiert ist, erklingt in Takt 90 mit dem Ton es der Anfangston der Reihe enharmonisch verwechselt erneut. Es besteht hier eine Parallele zum Beginn des Konzertes, auch weil beide Reihen im Klavier erklingen. In seiner melodischen Gestik enthält R2 mehrere Elemente, die als markante Topoi im weiteren Verlauf des Konzertes immer wieder, nicht nur im Klavier, an diese Reihe erinnern. Zum Einen ist es die Tonfolge cis–H–c in Takt 89, die als Krebs den Beginn der Reihe R1 markiert. Zum Anderen erregen die in Takt 90 folgenden Quartsprünge B–es–as–des1 Aufmerksamkeit. (Abb. 47)

Abb. 47: 1. Teilsatz, Takt 90.

Die folgende Melodie der linken Hand des Klavier I in den Takten 92-97 ist denn auch eine erste Variation dieser Reihe. In Takt 94 erklingen die Quartsprünge (der zweite ist zum Tritonus mutiert, der dritte ganz und gar zur großen Terz), darauf folgt der Krebs des Beginns von R1. Während der ganzen Zeit begleitet das Klavier II in dissonierenden Akkorden, zunächst in Sekunden, ab Takt 92, mit Beginn der variierten Reihe R2 im Klavier I, abwechselnd in Quarten und Tritoni. Oberhalb der Reihe R2 und ihrer Variation erinnert die rechte Hand des Klavier I an die Begleitung aus dem Dreiklangs-Thema, bevor in Takt 99 ein Stimmentausch stattfindet und die dissonante Begleitung jetzt in das Klavier I verlagert wird. Beschränkte sich eine Überlappung von Klavier und Orchester zuvor nur auf den Schlussakkord der Klaviersequenz (Takt 79), so erfahren beide Agierende in den Takten 108-111 eine erste Vermengung. Das Klavier beendet seine motivische Arbeit (übrigens mit dem Krebs aus R1), während in der Bassklarinette und dem Kontrafagott die Umkehrung der Reihe R2 einsetzt, deutlich erkennbar an den fallenden Quarten in den Takten 110-111. (Abb. 48)

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Analysen der Notentexte

Abb. 48: 1. Teilsatz, Takt 110f.

Diese fallenden Quarten werden, verzerrt als Tritoni und Quinten, in den Blechbläsern in den Takten 114-115 zitiert, in der Oboe in Takt 118 zunächst ebenfalls fallend, in Takt 119 zusammen mit Klarinette und Trompete aufsteigend. Unterdessen bereiten Violen, Celli und Kontrabass durch ein 13 Takte dauerndes aufsteigendes Glissando das Ende des ersten Teilsatzes vor und führen direkt in die Aufwärtsbewegung des Klaviers in Takt 128, der quasi ein Zwischenspiel zwischen erstem und zweitem Teilsatz darstellt. Der erste Teilsatz ist geprägt durch das abwechselnde Spiel von Klavier und Orchester, bei dem zunächst im Klavier, dann im Orchester Material vorgestellt wird. Ab Takt 108 gibt es einen ersten thematischen Kontakt zwischen Klavier und Kammerorchester, bei dem jedoch das Orchester seinen eigenständigen Gehaltsanspruch (Reihe der Glocken) aufgibt und die thematische Vorgabe des Klaviers (R2) beantwortet. 4.2.2 Zweiter Teilsatz Wie in der Einleitung dieser Analyse bereits geschildert, gestaltet sich die Trennung des ersten Teilsatzes vom Rest der Komposition aufgrund der Besetzung relativ leicht. Die chronologische Abfolge von Klavierspiel und Orchesterantwort ermöglicht überdies eine fast mühelose Zuordnung eines motivisch-thematischen bzw. des Reihenmaterials. Dass diese Elemente nun in den Folgesätzen auftreten, ist logisch. Dennoch gestaltet sich die Gliederung der Teilsätze zwei bis fünf etwas schwieriger, da das Material manchmal bis zur Unkenntlichkeit getarnt ist und themen- bzw. reihenfremde Elemente die analytische Logik immer wieder in die Irre führen. So wirft denn auch der Beginn des zweiten Teilsatzes – zum ersten Mal im Tutti – mehr Fragen auf als er beantwortet. Nach dem Anlauf in Takt 128 spielt das Klavier die arpeggierten Akkorde, die wir aus dem Dreiklangs-Thema kennen. Die Streicher vollführen zeitgleich orgelpunktartig eine absteigende Linie. Die gesamte Gestik erinnert, vor allem auch harmonisch, an das Repetitions-Motiv der Streicher ab Takt 46 im Konzert für Klavier und Streicher, das ebenso wie hier das von Polytonalität bestimmt ist und zu einem ersten Höhepunkt führt.

Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester

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Im zweiten Teilsatz des vierten Klavierkonzertes findet der Höhepunkt jedoch nicht statt. Die Bewegung der polytonalen Klavierarpeggi bleibt in Takt 135 stehen. Stattdessen nimmt das Klavier ab Takt 136 einen erneuten Anlauf – wir erinnern uns der beiden Anläufe zur Dur-Moll-Harmonik in den Takten 5 und 12-13 –, wird aber wieder abgebrochen und repetiert am Ende in Takt 142 Akkordcluster in Sextolen. Ein dramaturgischer Höhepunkt wird auch hier vermieden und es hat den Anschein, als sei dieses zweifache Fehlen einer Kulmination ein erster Kommentar zu den durbzw. mollharmonischen Intermezzi des ersten Teilsatzes. Die Tatsache, dass das Klavier nun jedoch auf der Vorstufe zum Höhepunkt weit entfernt von jeglicher Konsonanz ist, ist vielleicht ein erster Hinweis auf den (harmonischen) Einfluss des Orchesters, denn dessen erste Klimax in Takt 39 war ebenfalls tonal nicht eindeutig. Damit ist ein semantischer Zusammenhang zwischen erstem und zweitem Teilsatz hergestellt. Die folgenden Takte 143-156 sind da wesentlich komplexer. Auffällig ist aber, dass Klavier und Orchester wieder abwechselnd auftreten. Vielleicht ist dies auch die Quintessenz aus den ersten Interaktionen: Im Orchester tritt das d-cis-esMotiv aus dem Beginn der Reihe R1 auf verschiedenen Tonstufen auf. Die Antwort des Klaviers sind Fortissimo-Akkordrepetitionen aus übereinander geschichteten Terzen, die somit fast wie simultan erklingende Akkorde aus dem Dreiklangs-Thema wirken. In Takt 150 beginnen dann Trompete und Posaune ein Thema, das wohl eher überleitenden Charakter hat, denn ab Takt 157 beginnt nun wieder, im Klavier I, die Reihe R2 als Umkehrung aus den Takten 88-91. Diese Umkehrung ist nicht der einzige Verweis auf die Stelle des ersten Erklingens dieser Reihe. Geht man zur absteigenden Linie mit anschließend aufsteigenden Quarten in der linken Hand des Klavier I in den Takten 92-95 zurück, so ist die Richtung dieser Bewegung nun in den Takten 160-162 in der linken Hand des Klavier II entgegengesetzt. Hinzu kommt der Tritonus d1-gis1 (linke Hand Klavier II), der ab Takt 92 als D-Gis erklang. (Abb. 49)

Abb. 49: 2. Teilsatz, Takte 160-162.

Ebenso wie zuvor folgt nach der Umkehrung von R2 im Klavier ab Takt 166 die Grundreihe R2 in den Oboen, Klarinetten und Trompeten. Doch die Reihe bleibt beim Quartfall stehen, den in den Takten 167-168 auch Horn, Posaune und Tuba übernehmen. Darauf folgt nun in den Takten 169-175 eine Überleitung, die, zumin-

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Analysen der Notentexte

dest im Klavier, an die Überleitung in den Takten 75-78 erinnert: Ebenso wie dort herrscht auch hier Polyrhythmik vor. Das Klavier I spielt in der rechten Hand Sechzehntelnoten, in der linken Hand Achtelnoten. Das Klavier II hingegen reagiert mit Vierteltriolen in der rechten Hand und Achteltriolen in der linken. (Abb. 50)

Abb. 50: 2. Teilsatz, Takte 169-171.

Harmonisch gesehen besteht zwischen beiden Überleitungen ebenfalls eine Verbindung. Während jedoch in den Takten 75-78 Quinten die dissonanten Tritoni überlagern, sind die drei Takte im zweiten Teilsatz von jeglicher Konsonanz befreit. Die Holzbläser und Streicher begleiten im Fugato und bilden nach den ersten vier Tönen ein Toncluster, bestehend aus es-d-cis-c (im ersten Teilsatz waren Klavier und Orchester zeitlich noch voneinander getrennt). Blickt man auf die Überleitung der Takte 75-83, so folgte auf sie die Introduktion der Reihe R1 im Klavier und damit eines wesentlichen Elements der gesamten Komposition. Theoretisch kann man nach einer zweiten, rhythmisch und harmonisch mit dieser verwandten Überleitung ebenfalls ein im Konzert essentielles Material erwarten. Was folgt, ist jedoch eine tonale Überraschung. In Takt 176 beginnt eine Sequenz, die mit ihrem monotonen punktierten Rhythmus und sowohl im Klavier als auch in den Streichern auftretenden Quint- und Quartparallelen fremd klingt. (Abb. 51) Zwar werden die Quinten bereits nach fünf Takten zu Tritoni deformiert, so dass die anfängliche exponierte Stellung mehr und mehr einem Auflösen in die tonal-atonale Struktur des Gesamtwerkes weicht. Dennoch bleibt die Erinnerung, auch dank der Weiterführung der

Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester

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Rhythmus gebenden Militärtrommel27, präsent und die ganze Passage damit ein stilfremder Einschub.

Abb. 51: 2. Teilsatz, Takte 176-180.

In Takt 181 mutieren, wie bereits erwähnt, die Konsonanzen zu Dissonanzen. Gleichzeitig beginnen sich die melodischen Wege innerhalb der Instrumentengruppen zu trennen: Während die rechte Hand des Klavier I (zusammen mit der rechten Hand des Klavier II, den Violinen I und den Celli) eine melodische Linie zunächst abwärts beginnt, wandert die linke Hand des Klavier I (zusammen mit der linken Hand des Klavier II, den Violinen II und dem Kontrabass) aufwärts. Dieses Hin und Her zieht sich über mehrere Takte, in denen durch harmonische Verdichtung im Klavier die anfängliche tonale Klarheit immer weiter verwässert wird. In Takt 196 erklingt nun in der Oboe und der Trompete die Anfangsreihe R1, so als wäre der Weg bis hierher nur eine Exposition gewesen, ein halbwegs tonales Vorspiel zum Hauptthema dieses Klavierkonzertes. Doch die Reihe erklang gar nicht im Klavier, sondern wurde von zwei Protagonisten des Orchesters aus dem Mantel der Tonalität ins Bewusstsein zurückgerufen. Zunächst wird das musikalische Material in die Dissonanz geführt und dann abrupt vom lautesten Instrument des Orchesters auf das Wesentliche – die unperfekte Zwölftonreihe R1 – reduziert. Dabei spielt das Klavier gar nicht mehr mit, das Orchester beendet diesen Satz mit einem ForteFortissimo-Finale, das die Trompete mit ihrer Floskel in Takt 209 beschließt. Es ist unschwer zu erkennen, dass der zweite Satz in seiner Struktur wesentlich heterogener ist als der erste. Statt der systematischen Abfolge des motivischthematischen Materials werden alle Elemente, also die Reihen und das Dreiklangs27

Tamburo militare; die musikalische Gestalt dieser Sequenz negiert eine über den Namen der Trommel bewusst assoziativ ausgewählte Verwendung des Instruments.

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Analysen der Notentexte

Thema, zueinander und zu ihren Grundformen im ersten Teilsatz ins Verhältnis gesetzt. Somit hat der zweite Teilsatz bereits Ansätze einer Durchführung, in der das im ersten Teilsatz vorgestellte Material variiert wiederkehrt, gleichzeitig aber auch neue Dimensionen öffnet. Der zweite Teilsatz ist in Abb. 52 in seiner Chronologie grafisch dargestellt. Aus dieser Übersicht gehen mehrere Dinge hervor. Zunächst wird deutlich, dass die thematisch wesentlichen Elemente des Konzertes, die Reihen R1 und R2 (original und variiert), die gleichzeitig den atonalen Mittelpunkt der Komposition bilden, entweder im Klavier oder im Orchester erklingen, nie aber dann, wenn beide Agierende zusammen musizieren. Zweitens verteilen sich im Umkehrschluss die tonalen Reminiszenzen – der Schatten des Dreiklangs-Themas und der polystilistische Einschub – auf beide simultan erklingenden Akteure. Die Umkehrung von R2 im Klavier und die Grundreihe R2 im Orchester bilden den Mittelpunkt dieses Satzes. Insgesamt wirken der Beginn des Teilsatzes mit den abgebrochenen Kulminationen und der stilfremde Einschub gegen Ende ein wenig fremd. Zwar sind beide Elemente eingebettet in die musikalische Faktur des Gesamtwerkes – der Beginn als Kommentar zu den tonalen Höhepunkten im ersten Teilsatz und die Takte 176-195 mit ihrer harmonischen Transformation zugunsten der atonalen Struktur der Komposition –, dennoch haben sie mit den thematischen Grundelementen des Konzertes wenig gemein und setzen so eine Art Kontrapunkt zu den Reihen R1 und R2. Als Überleitungen taugen beide Sequenzen nicht. Der Anfang wird bereits selbst durch die Soloklavierpassage in Takt 128 eingeleitet, die beiden angedeuteten Höhepunkte sind zu dominant, als dass sie bloßes Beiwerk sein könnten. Ebenso verhält es sich mit dem Einschub: Nach unvollendeter Reihe R2 erfolgt eine Überleitung, die zwar das Thematische dieser Sequenz nicht vorbereitet, sondern im Gegenteil davon wegführt. Umso exponierter erscheint aber dadurch der Beginn der Quint- und Oktavparallelen mit begleitender Trommel; somit hält diese Stelle einen zentralen Status. Die oben angesprochene Gestik der Durchführung bleibt bei diesen beiden Elementen allerdings außen vor. Vielmehr scheint hier der dramaturgische Verlauf des musikalischen Materials überdeckt zu sein, um eindeutige Erkennungsmerkmale der thematischen Entwicklung zu verschleiern. Dass dabei aber Sujets wie Höhepunkte, Tonalität, stilfremde Einschübe mit Scherzocharakter und nicht zuletzt die motivische Floskel in der Trompete in Takt 209 entweder gar nicht stattfinden, nach kürzester Zeit destruiert werden oder ohne jeden Zusammenhang auftauchen, ist ein erster Verweis auf ein wesentliches Merkmal dieser Komposition: Die Beziehung von Klingendem und Nichterklingendem zum Faktor Zeit.

Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester

Abb. 52: Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester – Gliederung 2. Teilsatz.

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Analysen der Notentexte

4.2.3 Dritter Teilsatz Während der zweite Teilsatz in seiner heterogenen Struktur geprägt war von einer kaum erkennbaren Materialverarbeitung, so zeigen sich im dritten Teilsatz die thematischen Verhältnisse nun etwas eindeutiger. Zunächst erklingt jedoch, scheinbar völlig zusammenhangslos, eine Passage für Klavier in den Takten 210-235, das ab Takt 236 bis zu Takt 256 von Tuba und Kontrabass begleitet wird. So eindeutig das Material von R2 danach auch analysierbar ist, so nebulös erscheint der Beginn des Satzes, als sollte wiederum der Fokus vom Gehalt des Werkes abgelenkt werden hin zu einer thematisch völlig frei gestalteten Form. Bei genauerem Hinsehen allerdings lassen sich in diesen ersten 46 Takten des Satzes Bezüge zu vorher Erklungenem und später Erklingendem finden. Den Beginn machen im Takt 211 zwei Akkorde im Klavier II, bestehend aus den Quarten F-C und E-H1, also eine abwärts gerichtete Bewegung mit anschließendem Lagenwechsel in die Quinte (F-c in Takt 213; Abb. 53).

Abb. 53: 3. Teilsatz, Takte 211-213.

Dieses Motiv antizipiert das Ende des vierten Teilsatzes. Zwar ist der zweite große Sekundschritt zu einem kleinen alteriert, aber die Gestik bleibt die gleiche; die Verwandtschaft zum Anfangsmotiv der Reihe R1 ist ebenfalls gegeben. Was allerdings darauf bis zu Takt 256 folgt, ist nicht mehr eindeutig zuzuordnen. Die musikalische Struktur der Sequenz weist einen eigentümlichen Charakter auf, obwohl immer wieder Zitate aus R1 und R2 sowie dem Dreiklangs-Thema hervortreten und einen Bezug zum thematischen Grundgehalt des Konzertes herstellen. So erklingen in den Takten 230-231 und 233-234 Quartsprünge, wie sie ähnlich in der Grundreihe R2 vorkommen. Der Beginn der Tuba in Takt 236 ist in seinem melodischen Verlauf dem Dreiklangs-Thema entnommen (bis Takt 243). Doch nicht nur das thematische Grundmaterial wird adaptiert, es werden genauso Verweise auf die stilfremden Einschübe und damit auf das Nichterklingende gegeben. In den Takten 223-225 verbindet die linke Hand des Klavier II die kurzen ähnlichen Motive von Pauken (Takt 222) und rechter Hand des Klavier I (Takt 226) mit einem Motiv, das bereits ab Takt 181 im dortigen Einschub den Bewegungsverlauf mehrerer Instrumente definierte. (Abb. 54) Erinnern wir uns der exponierten, aber dennoch fragwürdigen Stellung jener Sequenz im dramaturgischen Verlauf des zweiten Teilsatzes, auch in Bezug auf die Harmonik, so sind hier eindeutige Parallelen erkennbar. Gleichzeitig markieren die eben genannten kurzen Motive in den Pauken und der rechten Hand des Klavier I um diesen kurzen Abschnitt herum einen neuen

Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester

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außerthematischen Bezug, der wiederum das bereits nicht zum Gehalt gehörige umklammert und damit eine dritte (außer-)thematische Ebene einführt. Hier wird auf kleinstem Raum ein ursprünglich außerthematisches Material (die Sequenz aus dem stilfremden Einschub im zweiten Teilsatz) dem genuin Thematischen aus den Reihen R1 und R2 und dem Dreiklangs-Thema gleichgesetzt und mit der Umklammerung durch die beiden kurzen Motive, die nun selbst das Außerthematische darstellen, in eine analytische Mehrdeutigkeit geführt.

Abb. 54: 3. Teilsatz, Takte 222-227.

Denn was bleibt inhaltlich von einer melodischen Linie übrig, die einst zu einem außerthematischen Intermezzo gehörte, d.h. selbst nicht thematisch Elementares des Konzertes war, nun aber in einem völlig neuen, ihr fremden Kontext auftritt? Andererseits könnte man aber auch sagen, dass der Beginn des dritten Teilsatzes nicht das Gegeneinanderausspielen unterschiedlicher Gehalte ist, sondern im Gegenteil die logische Verknüpfung von Thematischem (die Allusionen an die Reihen R1 und R2 und das Dreiklangs-Thema) und Nicht-Thematischem darstellt. Somit ist der Anfang dieses Teilsatzes analytisch betrachtet zwar fassbar, jedoch kommt hier die Ambiguität von musikalischem Material zum Vorschein, d.h. nichts was ist, ist was es ist. Alles kann mehrere Funktionen haben, kann thematisch oder außerthematisch sein. Die auch schon im Konzert für Klavier und Streicher festgestellte Polyharmonik ist da nur ein Parameter. Das Prinzip des Verschleierns eindeutiger Zuweisungen ist hier im vierten Klavierkonzert bereits auf eine nächsthöhere Ebene verlagert worden – das ursprünglich Thematische spielt in dieser kurzen Passage überhaupt keine Rolle mehr, allein das Außerthematische ist Gegenstand der Mehrdeutigkeit. Umso erstaunlicher ist, dass in Takt 257 gleich auf sechs Stufen die Grundreihe R2 (im Klavier II, rechte und linke Hand) und die Umkehrung dieser Reihe (in Oboe, Klarinette und Horn) wiederkehren, begleitet vom Klavier I im variierten Dreiklangs-Thema. (Abb. 55) Zunächst beginnen Klavier II (linke Hand Unterstimme)

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Analysen der Notentexte

und Horn, das Klavier in E, das Horn in b1. Das Intervall ist, lässt man den doppelten Oktavabstand unberücksichtigt, ein Tritonus. Im Fugato setzen nun die restlichen Klavierstimmen sowie Oboe und Klarinette ein. Die zweite Klavierstimme (linke Hand Oberstimme) beginnt in f, die Oboe in h – wieder ein Tritonus. Beim letzten Einsatz der Reihe wiederholt sich das Spiel: Die rechte Hand des Klavier II setzt auf fis ein, die Klarinette beginnt in c2. Der Grundreihe R2 in den drei Klavierstimmen ist jeweils die Umkehrung der Reihe in den drei Bläserstimmen im Tritonusabstand entgegengestellt, das Ganze endet in den Takten 264-265.

Abb. 55: 3. Teilsatz, Takte 257-265.

Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester

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Abb. 55: Fortsetzung.

Hier beginnt, ebenfalls paarweise, die Variation der Variation aus den Takten 92-97. Begann diese dort mit zwei fallenden Motiven und darauffolgenden Quartsprüngen als Allusion auf die Grundreihe R2, so ist der melodische Verlauf hier nun vertauscht. Erstens erklingt in den drei Bläsern Klarinette, Fagott und Horn die Umkehrung der fallenden Motive, also steigende; zweitens folgt auf die fallenden Motive im Klavier II nicht der Quartsprung, sondern fallende Quarten (Takte 269-272; Abb. 56), auf die steigenden Motive in den Bläsern entsprechend steigende Quarten. Außerdem ist das Horn das einzige Instrument, das den in den Takten 95-96 erklingenden Krebs des Beginns aus R1 hier wiederum als dessen Krebs und damit als tatsächliches d-cis-es-Motiv zitiert (beginnend auf b1).

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Analysen der Notentexte

Abb. 56: 3. Teilsatz, Takte 269-273.

In Takt 273 beginnt, einem Dacapo gleich, erneut die Reihe R2, diesmal jedoch spielen die Bläser (Oboe, Klarinette und Trompete) die Grundreihe, während im Klavier I die Umkehrung erklingt. Die Dreiklangsbegleitung wandert in das Klavier II. Harmonisch gesehen bleibt dieser erneute Einsatz ebenso dissonant wie der erste: Trompete und Oberstimme der rechten Hand beginnen im Intervall h1-f3, Oboe und Unterstimme der rechten Hand folgen im Abstand ais1-e2, danach Klarinette und linke Hand Klavier mit a1-es1. Der auf die Reihe R2 folgende Nachsatz mit fallenden bzw. steigenden Motiven und darauffolgenden fallenden Quarten bzw. Quartsprüngen ist hier ebenso vorhanden. Jedoch entspricht die Chronologie hier wieder den Takten 92-97, d.h. auf zwei fallende Motive folgen Quartsprünge und umgekehrt. Als erste Nuance, quasi als Eintrübung der konsonant klingenden Quartschichtung, erfahren die steigenden Quarten in den Bläsern in Takt 286 eine Alterierung zum Tritonus hin. Diese chromatische Veränderung weckt Erinnerungen an den Einschub im zweiten Teilsatz: Dort wurden die Quintparallelen nach wenigen Takten zu Tritoni verändert, um den zuvor erreichten Tonalitätsbezug zu destruieren. Hier nun wird in den Nachsatz einer Zwölftonreihe eingegriffen, der zudem aus Material dieser Reihe stammt. Die bereits a priori dissonante Grundreihe wird damit noch einmal dissoniert, allerdings nicht in der Umkehrung im Klavier. Dies stellt harmonisch einen Schwebezustand dar, denn weder kann das Material aus R2 klar benannt werden, noch ist die Dissonanz allgegenwärtig, als dass von einer totalen Verfremdung des Ursprünglichen gesprochen werden könnte. Am Schluss folgen ein Septimensprung in den Bläsern sowie ein Septimenfall im Klavier I. Ab Takt 289 erklingt die Reihe R2 zum dritten Mal. Die Instrumentenverteilung ist wie folgt: Die Grundreihe R2 wird von den Violinen I und II sowie den Violen gespielt; die Umkehrung der Reihe in der Flöte, der Klarinette und im Fagott. Flöte und Violinen I beginnen diesmal auf derselben Tonstufe, nämlich auf e2. Es folgen Klarinette und Violinen II auf dis1, danach beginnen Fagott und Violen die Umkehrung bzw. die Grundreihe auf der Tonstufe d. Dies weist auf zweierlei hin. Erstens ist erkennbar, dass bei den jeweiligen Einsätzen der Reihe und deren Umkehrung in

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den Takten 257, 273 und 289 jeweils ein Instrument ausgetauscht wurde. Zuerst spielen Oboe, Klarinette und Horn; in Takt 273 weicht das Horn dem Fagott und in Takt 289 wird die Oboe durch die Flöte ersetzt. Die Reihe wandert so durch die Bläser (bis auf Trompete, Posaune und Tuba). Auf der anderen Seite wechseln sich Klavier I und II als Träger des Thematischen und Begleiter ab. Beide Male jedoch ist das Verhältnis zwischen Bläsern und Klavier im Tritonus positioniert. Ab Takt 289 jedoch haben Klavier I und II nunmehr begleitende Funktion, die Träger des Thematischen sind jetzt die hohen und mittleren Streicher. Die im Fugato gesetzten Einsätze in diesem Takt beginnen im Abstand einer kleinen None, oder, lässt man Oktavierungen unberücksichtigt, einer kleinen Sekunde, also e-es-d. Dies war auch vorher der Fall. Unrein ist der Einsatz ab Takt 289 schon deshalb, weil neben dem Fugato-Einsatz sowohl die Grundreihe R2 als auch ihre Umkehrung vorhanden sind, die melodische Gestik also in zwei entgegengesetzte Richtungen verläuft. Was fehlt, ist allerdings der variierte Nachsatz aus den Abschnitten davor. Das thematische Material endet in Takt 296 und mündet direkt in den Aufbau eines Höhepunktes. Was aber ab Takt 289 wiederkehrt, ist das Dreiklangs-Thema in den Celli und im Kontrabass, melodisch zwar variiert, rhythmisch allerdings original. Das in Takt 297 einsetzende Finale des dritten Teilsatzes besteht aus dem zweifachen Aufbau eines Akkordes mit anschließendem Zusammenbruch im Klavier. Der erste Akkordaufbau erstreckt sich über 15 Takte und erklingt durch sukzessiven Einsatz der einzelnen Instrumente bzw. Instrumentengruppen, wobei die Bläser lange Notenwerte halten, während die Streicher in kurzen Notenwerten (Achteltriolen) begleiten. Das aufgestaute Material bleibt in Takt 311 stehen, wird abgebrochen und erneut zu einem Akkord verdichtet. Nun allerdings halten auch die Streicher lange Notenwerte, so dass in Takt 320 ein Cluster aus den Tönen gis-g-fis-f-fes-d-c-h in den Bläsern und ein zweiter, bestehend aus gis-d-g-cis-c-f-h (jeweils ohne Oktavierung), in den Streichern erklingt. (Abb. 57) Dieser Cluster besteht aus mehreren Tritoni, z.B. c-fis, f-h, d-gis usw. usf. Dies ist ein Hinweis auf die harmonische Verwandtschaft mit dem Material zuvor, das ja immer wieder in Tritoni mutierte und somit auch einen disharmonischen Gesamtbezug hergestellt hat. Das Ende des dritten Teilsatzes ist vielleicht weniger Zusammenbruch denn Nachsatz. Das Klavier I spielt in den Takten 323-331 eine Fuge, der Comes beginnt im verminderten Quintabstand. In dieser Fuge sind sowohl Elemente aus R1 (Takte 325-326 und 327-328) als auch die Quartsprünge aus R2 (Takte 329-330) vorhanden. Das Klavier II begleitet in Quarten, die eine kleine Sekunde voneinander entfernt sind.

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Analysen der Notentexte

Abb. 57: 3. Teilsatz, Takte 320-322.

Dieser Cluster erinnert an den ersten Höhepunkt im Klavier in Takt 5 (vgl. Abb. 43), dessen Nachsatz im Klavier II ebenfalls diese Harmonik aufwies. Ab Takt 332 wird die Quartschichtung zugunsten großer Septimen aufgegeben, der Ambitus wird somit größer und das Ende des dritten Teilsatzes umso offener. Um den dritten Teilsatz zusammenzufassen, soll an dieser Stelle eine schematische Übersicht gegeben werden. (Abb. 58)

Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester

Abb. 58: Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester – Gliederung 3. Teilsatz.

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Analysen der Notentexte

Aus dieser Übersicht ist zu erkennen, dass in der Besetzung eine Art ABCB’A-Form vorherrscht. Nach solistischem Beginn (A) treten Instrumente hinzu (B), in den Takten 289-296 erklingt die Reihe R2 und ihre Umkehrung im Tutti (C; mit Klavier als Begleiter), danach steigt das Klavier aus (B’) und kehrt am Ende als Soloinstrument wieder (A). Inhaltlich kann ein ähnlicher Verlauf festgestellt werden. Der Satz beginnt mit Allusionen auf und Assoziationen des Grundmaterials des Konzertes. Im zweiten Teil wird die Reihe R2 horizontal durchgeführt, im dritten Teil – unperfekt – vertikal. Der Nachsatz bezieht sich inhaltlich wieder auf den Beginn des Satzes. Somit ist der dritte Teilsatz in sich geschlossen, sowohl semantisch als auch in der Besetzung und bildet eine Art verkürztes Rondo. Geprägt ist dieser Teilsatz vor allem von der Durchführung der Reihe R2. Am Anfang noch definiert durch Allusionen, Irritationen und Doppelbödigkeit, erhält die Dramaturgie dieses Satzes mit Beginn des Taktes 257 eine eindeutige Richtung. Das Durchführen der Grundreihe R2 und deren Umkehrung durch die verschiedenen Instrumente enden im Versuch und dem Abschluss eines Höhepunktes, bei dem wiederum das harmonische Material der Reihe auftritt. Die Anklänge an die Reihen R1 und R2 und den Anfang des Konzertes markieren nicht nur den Abschluss eines Teils, sondern gleichzeitig auch die Überleitung hin zu einem nächsten, den vierten Teilsatz, in dem die Anfangsreihe behandelt wird. 4.2.4 Vierter Teilsatz Nach dieser Überleitung folgt zu Beginn des vierten Teilsatzes in den ersten Takten ein Moment des Innehaltens und der Ruhe. Diese Ruhe ist zwar trügerisch, denn die Quinte B1-F in der linken Hand des Klavier II wird getrübt durch den Ton ces in dessen rechter Hand. Dennoch bildet dieser Anfang einen starken Kontrast zum Ende des vorhergehenden, weshalb trotz der Eintrübung der ruhende Charakter entsteht. In Takt 339 erklingen in der rechten Hand des Klaviers I Tonrepetitionen auf as2, die auf die Stelle kurz vor Beginn des Dreiklangs-Themas (Takte 54-55) verweisen. Darauf erklingt in Takt 343 grundlegendes thematisches Material: die Reihe R1. (Abb. 59) Im Vergleich zum Beginn des Konzertes ist die Reihe hier augmentiert, in ihrer Faktur aber nicht variiert, sondern rein. Im Klavier II erklingen weiterhin die Akkorde des Beginns, weiter dissoniert durch hinzukommende Akkorde in der rechten Hand. In der rechten Hand des Klavier I wird die Repetition des Tons as2 fortgeführt.

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Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester

Abb. 59: 4. Teilsatz, Takte 343-351.

Was nun in den Takten 352-412 folgt, bedarf im Gesamtkontext des Konzertes einer genaueren Analyse. Dieser Mittelteil lässt sich aufgrund der Besetzung, aber auch bezogen auf das auftretende Material vielleicht wie folgt gliedern: T352-355

T356-363

T364-368

Überleitung

‚Seufzermotiv’ Kulmination

T369-389

T390-393

T394-412

Variation I

Interludien

Variation II

Um die Bedeutung dieses Teils als Hinwirkung zur Wiederkehr und Durchführung der Reihe R1 ab Takt 413 herausstellen zu können, sollen die einzelnen Sequenzen etwas näher beleuchtet werden. Hierzu ist ein Vergleich mit dem vorangehenden

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Analysen der Notentexte

Satz hilfreich, in dem der thematische Kontext ebenfalls zunächst mehr verschleiert denn offenbart wird. Die Allusionen an das thematische Grundmaterial und letztlich der Einsatz der Reihe R2 im dritten Teilsatz können vielleicht auch für den vierten Satz die Vorlage sein. Das hieße, dass in den 60 Takten des Mittelteils Anklänge an die Reihe R1 und möglicherweise auch an anderes thematisches und nichtthematisches Material gefunden werden könnten. Dieser Verdacht wird allerdings zunächst nicht bestätigt. Nach der kurzen Überleitung in den Takten 352-355, in der die linke Hand des Klavier II ihre Akkorde weiterführt und die linke Hand des Klavier I in die Repetition seiner rechten Hand einstimmt, beginnt in Takt 356 eine Art Seufzermotiv, das ab Takt 360 noch einmal variiert wiederholt wird. Gerade das zweite Erklingen dieses Motivs verweist auf die in diesem Konzert schon so oft hervorgetretenen ‚Fremdkörper’, denn nichts bildet einen melodischen oder harmonischen Zusammenhang zum thematischen Material dieser Komposition. Das strahlende Cis-Dur in Takt 360 steht denn auch so exponiert wie verlassen in der es umgebenden Syntax. Das Klavier spielt während des Streichermotivs in Achteln und Triolen, bevor es nach einer kurzen Solosequenz in die Randlagen der Klaviatur flieht und sich gegenseitig, als Klavier I und II, mit heftigen Akkordrepetitionen attackiert. Dabei ist auffällig, dass sowohl im Klavier I als auch im Klavier II die abwechselnd gespielten Quarten jeweils eine kleine Sekunde voneinander entfernt sind. Doch anders als in den Takten 5 und 323ff., wo diese harmonische Situation trotz der vorhandenen Dissonanzen als ruhiger Nachsatz erklang, ist nun von Ruhe und Einkehr nichts zu spüren. Es ist dies die in der musikalischen Expressivität heftigste Solosequenz des Klaviers innerhalb des gesamten Konzertes; alle anderen Ausbrüche standen bisher immer im Verhältnis zum Orchester und erklangen mit ihm oder unmittelbar davor oder danach. Doch markiert diese Stelle weder den Höhepunkt einer vorangegangenen Entwicklung, noch folgt darauf ein neuer thematischer Gehalt. Vielmehr scheint dieser Kulminationspunkt darauf beschränkt zu sein, durch die Flucht in die Extremlagen zum Einen eine scheinbare Distanz zwischen Klavier I und II aufzubauen und zum Anderen dazwischen Raum zu schaffen für Neues. Doch dieses Neue erscheint nicht. Stattdessen beginnt nun in Takt 369 eine Passage, die mit vier Takten Unterbrechung bis zum Beginn der Reihe R1 in Takt 413 andauert und in ihrem Erscheinungsbild äußerst heterogen und unruhig ist. Es treten zwar immer wieder Anklänge an R1 hervor und auch die aus dem Einschub im zweiten Teilsatz bekannten Quarten, die zu Tritoni mutieren, sind hier vorhanden. Dennoch findet dies alles keine richtige Form. Das Einzige was deutlich wird ist eine Verdichtung in der Instrumentation, die nach den Ruhepausen in den Takten 390393 letztendlich zum Einsatz der Reihe R1 führt, diese aber thematisch kaum vorbereitet. So erklingt sie denn auch fast überraschend ab Takt 413 im Klavier I ohne Orchesterbegleitung. (Abb. 60) In den Folgetakten wird diese Reihe nun durch verschiedene Orchesterstimmen gereicht – zuerst in der Flöte und der Oboe (Takte 421-426), danach in den Violinen I und II (Takte 427-432) und zum Schluss in

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Horn und Trompete (Takte 435-440). Die Reihe erklingt damit in den Orchesterstimmen immer in paarweise spielenden Instrumenten.

Abb. 60: 4. Teilsatz, Takte 413-421.

Ab Takt 442 kollabiert das Ganze und mündet in eine Solokadenz des Klaviers, die an anderer Stelle schon erwähnt wurde. (Abb. 61) Es ist die Reminiszenz an den Beginn der Reihe R1.

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Analysen der Notentexte

Abb. 61: 4. Teilsatz, Takte 452-458.

Das würde bedeuten, dass in den Takten 452-458 die bis dahin genommene Entwicklung an den Anfang zurückkehrt und damit als Reprise anzusehen ist. Ob der fünfte und letzte Teilsatz tatsächlich als Reprise funktioniert, wird im folgenden Kapitel untersucht. Doch zuvor soll abschließend zu diesem Teilsatz wieder eine schematische Übersicht angezeigt werden. (Abb. 62) Diese Gliederung zeigt deutlich, dass der vierte Teilsatz in der Tat fast ausschließlich der Reihe R1 gewidmet ist. In der Besetzung ist erkennbar, dass die solistischen Klavierparts den Satz instrumental einrahmen und somit der Anfang der Reihe R1 am Ende des Satzes auch ein Verweis auf dessen Beginn darstellt. Dennoch bleibt die deutliche Verwandtschaft vom Ende des vierten Teilsatzes und dem Anfang des Konzertes primär.

Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester

Abb. 62: Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester – Gliederung 4. Teilsatz.

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Analysen der Notentexte

4.2.5 Fünfter Teilsatz Der ‚Finalsatz’ des Konzertes für Klavier vierhändig und Kammerorchester beginnt nach dem drei Takte dauernden Schlussakkord des vierten Teilsatzes mit dem reinen Dreiklangs-Thema. Im Gegensatz zum ersten Erklingen dieses Themas in Takt 56 ist die Tonart jedoch nicht a-Moll, sondern cis-Moll. Ein erster Hinweis auf die Rückkehr zum Anfänglichen ist hier zwar inhaltlich gegeben, gleichzeitig aber durch die veränderte Tonart gestört. (Abb. 63)

Abb. 63: 5. Teilsatz, Takt 459f.

Auch ein zweiter Anlauf ab Takt 463 bringt dahingehend ebenso wenig, die Tonart ist jetzt es-Moll. Auch ein dritter Ansatz, nun in die Bläser verlagert, trägt zwar die Gestik des Dreiklangs-Themas, weist aber plötzlich in eine völlig neue Dimension. Denn dieses mehrmalige Erklingen eines thematischen Materials war ja bereits in den zwei Sätzen zuvor vorhanden. Es stellt sich nun die Frage, ob dieser fünfte Teilsatz tatsächlich als Reprise benannt werden kann. Es hat den Anschein, als würde sich an den vermeintlich geschlossenen Kreis eine weitere Durchführung von thematischem Grundmaterial – dem Dreiklangs-Thema – anschließen. Das hieße aber wiederum, dass die so deutliche Wiederkehr des Motivs aus R1 am Ende des vierten Teilsatzes gar nicht der Beschluss einer Einheit und die Rückkehr zum Anfänglichen war. Eher war dieses Motiv nur der Schatten des Anfangs, augmentiert und in seinem es nun umgebenden Kontext, also auch dem Dreiklangs-Thema danach, auf einmal seiner beschließenden Funktion entleert. Tatsächlich wird das Dreiklangs-Thema ab Takt 470 noch einmal fragmentarisch im Klavier wiederholt, bevor es – nach einem kurzen Spannungsaufbau in den Streichern – erneut erklingt. (Abb. 64)

Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester

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Abb. 64: 5. Teilsatz, Takte 474-476.

Dieser letzte, zersetzte Einsatz entschwindet auch bald in den sukzessiven Sechzehntelakkorden in das Repetieren von Quartakkorden, die, wie des Öfteren in diesem Konzert, jeweils eine kleine Sekunde voneinander entfernt liegen. Diese Quartschichtungen mutieren zu Tritoni, so wie es im Einschub im zweiten Teilsatz mit den Quinten geschah. Soll also möglicherweise eine harmonische Verbindung zwischen diesem Teil und dem Schluss des Konzertes bestehen? Blicken wir zurück, so lassen sich zwar Verlauf und Harmonik des Einschubs analysieren, dennoch blieb der gesamte Part in seinem Bezug zur Syntax fragwürdig und eher ein Fremdkörper. Die Tatsache, dass nun im Schlussteil des Konzertes diese Repetitionen nach einem Zusammenbrechen des Dreiklangs-Themas erklingen und in Takt 480 die Reihe der Glocken hinzufügt ist, macht eine klare Deutung dieses Finales schwierig. Die Frage nach einem Fazit des Konzertes muss hier gestellt werden und bleibt doch unbeantwortet. Ausgerechnet das Material (die Reihe der Glocken), das bisher nur einmal im ersten Satz mit Beginn des Orchesterparts erklang, bildet hier einen Rahmen, als wäre es die Schließung einer kreisförmigen Entwicklung. Tatsächlich jedoch hat diese Entwicklung gar nicht stattgefunden, denn was zurückkehrt, ist etwas, was am thematischen Geschehen im Verlauf des Konzertes gar nicht teilgenommen hatte. Das Fazit dieser Analyse ist deshalb vielleicht der Umstand, dass es gar keines gibt. Ab Takt 485 treten die Streicher als Orgelpunkt hinzu, ab Takt 487 die Holzbläser und ab Takt 489 die Blechbläser. Aus diesem Klangteppich entsteht in Takt 490 der Schlusscluster in großen Septimen. Dabei greifen die Orchesterstimmen lediglich die erklingenden Töne des Klaviers auf. Die Notenwerte werden größer, bis am Ende alle verstummen.

4.3

Zusammenfassung

Umso klarer sich während der Analyse des vierten Klavierkonzertes die Form, d.h. die Satzstruktur herauskristallisierte, umso dringlicher wurde die Frage nach der tatsächlichen Materialität dessen, was in dieser Komposition als Material vorliegt. Die vorgeschlagene Einteilung des Werkes in die vorgegebenen Teilsätze lässt sich anhand des auftretenden musikalischen Materials leicht nachvollziehen: Werden im ersten Satz zunächst Reihen und Dreiklangs-Thema vorgestellt, so wird im zweiten Satz mit diesem Material bereits gearbeitet. Darauf folgen in den Sätzen drei bis fünf

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Analysen der Notentexte

die Durchführungen dieser Elemente. Was jedoch fehlt, ist ein klares Finale, eine Art Reprise, die noch einmal einen retrospektiven Blick auf die Dramaturgie der Materialverarbeitung wirft und mit einem Fazit das Konzert beschließt. Stattdessen bleibt alles in der Schwebe, Höhepunkte werden abgebrochen, die Verarbeitung thematischen Materials bisweilen ebenso. Am Ende bleibt die Einteilung in Teilsätze, dennoch fällt es schwer, eine abschließende Zusammenfassung zu geben. War in den vorangehenden Konzerten die Form je definierbar, so ließe sich hier ebenso ein Ansatz finden: Exposition und Durchführung sind vorhanden. Eine Reprise jedoch gibt es nicht und damit auch keine geschlossene Form. Die Analyse dieser Komposition hat deshalb formal zu einer Erkenntnis geführt, inhaltlich bleiben Fragen nach der Eindeutigkeit des Materials als solches und seiner Disposition im Verhältnis zwischen den Reihen, dem Dreiklangs-Thema und außerthematischem Material bestehen. In der Abbildung 65 sind die bisherigen Analyseergebnisse aufgelistet. (Abb. 65) Wie aus der Grafik ersichtlich ist, sind die einzelnen Elemente des Konzertes für Klavier vierhändig und Kammerorchester auf mehrfache Weise miteinander verwoben. Einerseits scheint die Reihe in den Glocken einen Rahmen für motivthematische Entwicklung zu bilden. Gleichzeitig findet diese Entwicklung mit dem eigentlichen Material, den beiden Reihen und dem Dreiklangs-Thema, nur bis zu einem gewissen Punkt statt. Ebenso wie das Konzert für Klavier und Streicher ist demnach auch Schnittkes viertes Klavierkonzert auf mehreren Ebenen strukturiert, wobei die Frage bestehen bleibt, was nun eigentlich das hauptsächliche thematische Material ist. Die vielen außerthematischen Erscheinungen legen die Vermutung nahe, dass hier so etwas wie Materialtranszendenz vorliegt, dass also das vordergründig thematische Material gar nicht als solches zu betrachten ist, da es immer wieder in dieser Funktion gestört bzw. dieser Funktion enthoben wird. Damit muss die Aussage, die für den ersten Teilsatz getroffen wurde, erweitert werden: Nicht nur das, was ist, ist nicht was es ist. Die Frage ist auch, ob das was ist, überhaupt eine tragende Funktion innerhalb der Dramaturgie des Konzertes innehat. Diese Frage lässt sich nach der Analyse des Konzertes für Klavier vierhändig und Kammerorchester nicht beantworten.

Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester

Abb. 65: Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester – Gliederung.

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102

Der auktoriale Diskurs

II. Alfred Schnittkes Klavierkonzerte im auktorialen Diskurs

1.

Einleitung: „Akustisch kann man nicht blättern.“ Zum Problem der Begriffe Autor und Werk in der Musik

1.1

Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Musik und Literatur

Nachdem die Partituren, d.h. die Notentexte zu Schnittkes Klavierkonzerten ausführlich analysiert sind und damit klar ist, was an Material zur jeweiligen zumindest notentextlichen Werkbestimmung vorliegt, soll in diesem nun folgenden II. Teil der Abhandlung das Verhältnis des Autors Alfred Schnittke zu seinen Klavierkonzerten und deren beider Verhältnis zu ihrer Rezeption erörtert werden. Bevor dies jedoch geschehen kann, muss zunächst einmal geklärt werden, inwieweit dieser sogenannte auktoriale Diskurs, um den es dabei geht, überhaupt in der Musik stattfinden kann, liegt doch sein Ursprung auf dem Feld der Kunstgattung Literatur und ihrer theoretischen Betrachtung. Grundsätzlich besteht zu Beginn dieser Frage die Notwendigkeit, den Werkbegriff in beiden Kunstgattungen zu klären und damit auf apriorische Gemeinsamkeiten und/oder Unterschiede in der Fähigkeit zum auktorialen Diskurs hinzuweisen, zumal im I. Teil der vorliegenden Abhandlung nur die notentextlichen Werkebenen analysiert wurden. Wilhelm Seidel hat in seinem Buch Werk und Werkbegriff in der Musikgeschichte28 ein historisches Fundament der Definition des Begriffs Werk in der Musik geliefert. Hier geht es darum, die ästhetische Ausdifferenzierung dieser historischen Variable vorzunehmen und zu prüfen, ob ihre Umwandlung in eine Konstante möglich ist, die doch erst das ‚Ins-Verhältnis-Setzen’ zum Begriff und Inhalt des Autors erlaubt. Um einen wesentlichen Unterschied zwischen einem literarischen und einem musikalischen Werk einleitend deutlich zu machen, sei auf das Zitat im Titel dieses Kapitels hingewiesen, das einem Beitrag Lotte Thalers entnommen ist: „Akustisch kann man nicht blättern.“29 In dieser Aussage sind jeweils zwei wesentliche Merkmale von Literatur und Musik enthalten, die die Schwierigkeit in der Übertragung von literaturtheoretischen Erkenntnissen auf die Gattung Musik belegen. Zum Einen sagt der Satz aus, dass Literatur das geschriebene Wort bedeutet, also die Verschriftlichung und damit Fixierung von Sprache, die so wiederholbar und ‚blätterbar’ wird. Zweitens ist gerade diese Fähigkeit zur Wiederholung ein wesentliches Merkmal von Literatur, 28 29

Wilhelm Seidel, Werk und Werkbegriff in der Musikgeschichte (= Erträge der Forschung 246), Darmstadt 1987. Lotte Thaler, „Akustisch kann man nicht blättern. Über Probleme und Gegenstände der Musikkritik“, in: Der Autor im Dialog. Beiträge zu Autorität und Autorschaft, hrsg. von Felix Philipp Ingold und Werner Wunderlich, St. Gallen 1995, S. 115–123.

Interpretation und ihre Grenzen

103

mithin im Bewusstsein des Autors und hermeneutischer Ansatz zugleich. Die Definition des französischen Literaturwissenschaftlers Gérard Genettes ergänzt hierzu: Ein literarisches Werk besteht ausschließlich oder hauptsächlich aus einem Text, das heißt (in einer sehr rudimentären Definition) aus einer mehr oder weniger langen Abfolge mehr oder weniger bedeutungstragender verbaler Äußerungen.30

Im Unterschied dazu verdeutlicht Thalers Aussage ebenso zwei Grundeigenschaften von Musik: Musik als akustisches Phänomen wird noch auf einer anderen Ebene als Literatur zum Werkbegriff, nämlich auf einer auditiven. Zweitens behindert diese auditive Werkdefinition die Fixierung von Sprache bzw. Schrift und damit auch deren Wiederholbarkeit. Musik als akustisches Phänomen lässt es nur bedingt zu, im Werk zu blättern. Visualisiert man diese Problematik gedanklich als Koordinatensystem, so verläuft der Faktor Zeit als Fixierungsparameter des Erklingens, Klingens und Verklingens von Musik eindimensional als Achse t. Ein Zurückgreifen auf einen bestimmten Punkt x entlang dieser Achse ist nur unter Verwendung bestimmter ‚Erinnerungszeichen‘ wie dem Dacapo, der Reprise oder allgemeiner Wiederholungen möglich. Somit ist der musikalische Werkbegriff auf der auditiven Ebene gleichzeitig ein temporaler. Er konstituiert sich in jedem Moment des Erklingens, Klingens und Verklingens von Musik neu, wird so zur „Objektivation von Zeit“31 und ist damit ein haptisch nicht greifbarer. Der literarische Werkbegriff teilt sich in seiner Haptik in zwei Teile: Das literarische Werk als Buch und damit im engeren Sinne haptisch; sowie das literarische Werk als geschlossenes, greif- und rückgreifbares Gesamtkonstituum und damit im weiteren Sinne haptisch. Der tschechische Literaturwissenschaftler Jan Mukařovský teilt das Kunstwerk im Sinne der Semiotik in drei Teile: 1. das materielle Werk als sinnliches (also haptisches) Symbol, 2. das ästhetische Objekt als Bedeutung und 3. als Verhältnis zur bezeichneten Sache im Gesamtkontext sozialer Phänomene. Diese Unterteilung geht über die eben beschriebene Haptik hinaus, zeigt aber die Materialität des Kunstwerkes als erste Stufe auf, die dem musikalischen Werk auf der klanglichen Ebene vollständig abgeht.32 Helga Lühning formuliert den haptischen Mangel einer In-Klang-Setzung wie folgt:

30 31 32

Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, aus dem Französischen übersetzt von Dieter Hornig, Frankfurt am Main 1992, S. 9. Klaus Kropfinger, „Überlegungen zum Werkbegriff“, in: Rezeptionsästhetik und Rezeptionsgeschichte in der Musikwissenschaft (= Publikationen der Hochschule für Musik Hannover 3), hrsg. von Hermann Danuser und Friedhelm Krummacher, Laaber 1991, S. 115. Vgl. Jan Mukařovský, Kapitel aus der Ästhetik, aus dem Tschechischen übersetzt von Walter Schamschula (= Edition Suhrkamp 428), Frankfurt am Main 1970, S. 146.

104

Der auktoriale Diskurs

Das musikalische Ereignis ist das genaue Gegenteil eines kunstgeschichtlichen Objektes: nicht greifbar, nicht sichtbar, kaum begrifflich faßbar, sich selbst verflüchtigend in der Zeit und daher eigentlich überhaupt nicht fixierbar.33

Freilich gilt diese Definition des Werkbegriffs tatsächlich nur für Musik als akustisches Phänomen und somit nur für bestimmte Bereiche von Musik, in denen eine apriorische Codierung des musikalischen Materials als Notenschrift entweder nicht notwendig ist oder nicht überliefert wurde, so z.B. in der populären oder volkstümlichen Musik. Anders verhält es sich bei der sogenannten Kunstmusik. Hier ist das akustische Phänomen die In-Klang-Setzung einer vorab und (meistens) eigens für diesen Zweck geschriebenen Partitur, die aus einem bestimmten Arrangement von Zeichen besteht, mittels derer das akustisch Intendierte visualisiert und für eben diese In-Klang-Setzung von einem oder mehreren Interpreten einstudiert werden kann. Aus diesem Verhältnis zwischen akustischem Phänomen als Resultat und der dazugehörigen Partitur als das musikalische Material des Werkes fixierende praeconditio offenbart sich die ganze Crux einer Bestimmung des Werkbegriffs in der Kunstmusik: Wir haben es in dieser Kunstgattung entweder mit zwei Werken zu tun, die nicht nur durch ihre unterschiedliche haptische Beschaffenheit, sondern auch durch ihre relative Zugänglichkeit für unterschiedliche Rezipientengruppen eigene Charakteristika entwickeln. Oder aber erst die Kombination beider Werktypen, des notentextlichen als auch des klanglichen, determiniert den musikalischen Werkbegriff, so dass die Analysen von Schnittkes Klavierkonzerten tatsächlich das Material von Schnittkes Klavierkonzerten und dessen Disposition, zumindest auf deren notentextlicher Werkebene, aufzeigen. Siegfried Mauser nennt den auditiven Werktyp „Musik als Sprache“, den notentextlichen Werktyp hingegen „Partitur als Text.“34 Diese Unterscheidung impliziert erstens, dass die Partitur als Text noch keine Musik ist und zweitens, dass Musik Sprachlichkeit aufweist. Drittens wird ein Text als Vorbedingung für Sprache betrachtet, wenn die Partitur die Vorbedingung für Musik ist. Zumindest die Sprachanalogie von Musik ist fragwürdig. Der von mir gewählte Terminus ‚Musik als Interpretation’ (einer Partitur als Text) würde Mausers Theorie bestärken und gleichzeitig die Problematik von Musik als Sprache umgehen. Zwei Jahre zuvor gibt Mauser eine bessere Definition des musikalischen Kunstwerkes als „[…] Notat als graphisch

33

34

Helga Lühning, „Komponist, Notentext und Klangwirklichkeit. Über die Autorisation des musikwissenschaftlichen Editors“, in: Autor – Autorisation – Authentizität. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen und der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung, Aachen, 20. bis 23. Februar 2002, hrsg. von Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta (= Beihefte zu editio 21), Tübingen 2004, S. 26. Vgl. Siegfried Mauser, „Text und Rezeption“, in: Musik als Text. Bericht über den internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung Freiburg im Breisgau 1993, hrsg. von Hermann Danuser und Tobias Plebuch, Bd. 1, Kassel u.a. 1993, S. 67.

Interpretation und ihre Grenzen

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konzipierter Code oder seine klangliche Erscheinung als akustisch wahrnehmbarer Verlauf in der Zeit“35. Folgte man der Variante der Werktypologisierung, die von zwei getrennten Werkbegriffen ausgeht, so ließe sich die Partitur leicht dem literarischen Werkbegriff gleichsetzen und damit in einen literaturtheoretischen Diskurs integrieren, wenngleich die Differenz der Sprachlichkeit des Notentextes klar sein muss. Die Notenschrift ist abstrakt und kann keine eindeutigen Gegenstands- oder Sachverhaltsbenennungen durchführen und taugt deshalb als Sprache nur bedingt: „Die musikalische Schrift ist weit entfernt von der Evidenz der Sprachschrift.“36 Ein literarisches Werk hingegen, gleich wie stark destruktiv seine Sprache ist, verwendet in der Regel Worte mit eindeutigem Sinngehalt, selbst wenn diesen eine gewisse Metaphorik immanent ist. Musik kann zwar bestimmte Zeichen verwenden, die als Konstituenten tradiert wurden, z.B. aus der barocken Affektenlehre. Dennoch bleibt eine eindeutige, der Sprachschrift analoge Sinnzuweisung unmöglich. Eine exclamatio bspw. ist zwar als Aufschrei tradiert, in instrumentaler Musik wissen wir jedoch nicht, ob solch ein Quart-, Quintsprung etc. positive oder negative Bedeutung hat. Er könnte für ‚O Gott‘ oder ‚O je‘ stehen, aber auch für ‚Juhu‘ oder ‚Tata‘. Der erweiterte Kontext würde möglicherweise Anzeichen für eine etwas eindeutigere Definition dieser exclamatio liefern. Aber selbst dann bliebe z.B. die Wahl zwischen ‚O Gott‘ und ‚O je‘ bestehen, oder zwischen ‚Mein Gott‘ und ‚O nein‘ usw. usf., was vor allem unter Berücksichtigung barocker Gottesfürchtigkeit für die Deutung dieser exclamatio von entscheidender Wichtigkeit wäre. Als zweiter Werkbegriff stünde das akustische Phänomen Musik in einem klaren interpretatorischen Gegensatz zum ersten, dem Notentext. Die Problematik des ‚Nicht-Blättern-Könnens’ wurde bereits angesprochen. Das klangliche Werk als nicht fixierbares verlangte denn auch andere Herangehensweisen an einen auktorialen Diskurs, da zum eigentlichen Autor, dem Urheber des musikalischen Werkes, der Interpret als Co-Autor in Erscheinung tritt, ohne den die In-Klang-Setzung der Partitur, d.h. die Umwandlung eines Notentextes in ein klangliches Werk, nicht erfolgen würde. Damit sei an dieser Stelle zunächst die Grenze gezogen und der Fokus auf den Werkbegriff als akustisches Phänomen gelegt. Zwei kritische Aspekte bedrohen den klanglichen bzw. akustischen Werkbegriff. Der erste ist weit weniger bedrohlich als der zweite und betrifft die Frage nach dem Aufführungswillen eines Notentextes.37 Zwar ist es unter Komponisten allgemein 35

36 37

Siegfried Mauser, „Rezeptionsästhetik als Paradigma postmoderner Theoriebildung“, in: Wiederaneignung und Neubestimmung. Der Fall ‚Postmoderne‘ in der Musik, hrsg. von Otto Kolleritsch (= Studien zur Wertungsforschung 26), Wien und Graz 1993, S. 17. Einen historischen Einblick in die Betrachtung von Musik als Klang-Rede, ein Phänomen, das im 18. Jahrhundert aufkam, und ihre Bedeutung bietet unter anderem das Kapitel „Deutlichkeit der musikalischen Sprache“ in Karsten Mackensen, Simplizität. Genese und Wandel einer musikästhetischen Kategorie des 18. Jahrhunderts (= Musiksoziologie 8), Kassel u.a. 2000, S. 343–368. Seidel, Werk und Werkbegriff (wie Anm. 28), S. 89. Dabei ist der Terminus ‚Notentext’ ein fragwürdiger, denn gerade in der Musik des 20. Jahrhunderts muss ein musikalischer Text nicht mehr zwangsläufig aus Noten bestehen, wie die Partituren

106

Der auktoriale Diskurs

üblich, die eigenen erstellten Notentexte auch aufführen (oder aufführen lassen) zu wollen (also in ein akustisches Werk zu überführen). Jedoch birgt allein diese theoretische Möglichkeit eine Intentionalitätsfrage, denn bei Unterstellung eines Aufführungswillens für einen Notentext tritt gegenüber dem Komponisten als Absender einer mit diesem Aufführungswillen einhergehenden Botschaft (die zunächst nur abstrakte Intention, kein konkreter Gehalt ist) nach dem Leser der Partitur ein zweiter Adressat in Erscheinung: der Rezipient des akustischen bzw. auditiven Werkes. Sein Unvermögen, akustisch blättern zu können, geht einher mit einer Rezeptionsart, die sich vom Lesen einer Partitur grundlegend unterscheidet: Das Hören von Musik ist ein grundsätzlich sensitives Erlebnis, das auf der Subjektivität von Interpretation und Interpretierbarkeit basiert und diese forciert. Der zweite kritische Aspekt greift die Frage, ob es das akustische Werk überhaupt gibt, direkt an. Mit einer In-Klang-Setzung einer Partitur erfolgt nicht die In-KlangSetzung einer Partitur, sondern nur eine von vielen. Jede Aufführung eines notentextlichen Werkes, d.h. dessen Decodierung in ein klangliches Werk, kann kein exakter Spiegel der Partitur sein: Exaktheit der Wiedergabe ist allein Sache von Kopien. Die Einmaligkeit einer bestimmten Aufführung wiederholt nicht die Einmaligkeit der Partitur: Sie ist eine neue und andersgeartete Einmaligkeit. Entsprechend wiederholt auch die Aura einer gelingenden Aufführung nicht die Aura des Manuskripts und die seiner Editionen.38

Der Philosoph Rainer Marten spricht hier in der Tat ein wesentliches Kriterium jeglichen interpretatorischen Ansatzes an, nämlich die Mehrschichtigkeit der Beziehung zwischen Partitur und Aufführung. Zum Einen unterscheidet sich eine Aufführung von der ihr zugrunde liegenden Partitur, zum Anderen unterscheiden sich alle Aufführungen ein und derselben Partitur untereinander. Das akustische Werk birgt viele Werke in sich, von denen sich jedes während der Umwandlung eines notentextlichen in ein klangliches Werk immer wieder neu konstituiert. Jegliche In-Klang-Setzung einer Partitur kann daher nur eine ihrer nahezu unendlich vielen Interpretationen sein, nicht ihr Abbild. Das akustische Werk bleibt somit variabel, es lässt sich nicht wie das notentextliche Werk objektiv fixieren. Das Interpretatorische auf klanglicher Ebene unterliegt darüber hinaus ebenfalls einer Mehrschichtigkeit, denn Interpretation meint an ein und demselben Phänomen eine zweistufige Deutung, von denen die zweite Stufe sich sowohl auf die erste (die musikalische Interpretation durch Interpreten) als auch auf den Sockel der Interpretation

38

Karlheinz Stockhausens, Maurico Kagels oder György Ligetis belegen. Selbst Schnittke hatte für seine Komposition Cantus perpetuus (1975) eine grafische Partitur angefertigt. Da der Begriff ‚Notentext’ jedoch ein allgemein tradierter und verständlicher ist, soll er hier weiterhin gebraucht werden. Über die verschiedenen Formen der Notierung von Musik im 20. Jahrhundert vgl. Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez, Musik und Graphik (= Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik 3), Mainz 1960, S. 5–25. Rainer Marten, „Ensemble der Freiheiten. Philosophische Bemerkungen zum musikalischen Werkbegriff“, in: Musik und Ästhetik 11 (2007), Heft 43, S. 15.

Interpretation und ihre Grenzen

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(die Partitur) bezieht: Zunächst beginnen Interpreten, eine Partitur durch In-KlangSetzung musikalisch zu interpretieren. Dies ist die erste Stufe. Die zweite Stufe ist ein phänomenologisch gewandelter Interpretationsbegriff, er betrifft nun die Deutung sowohl der ersten Stufe als auch des Sockels durch den Rezipienten des klanglichen Werkes. Damit scheint durch, was in Kapitel II.2.3 näher untersucht wird und was als Grundlage das poststrukturalistische Denken Michel Foucaults und Roland Barthes‘ geprägt hat: die Betrachtung des Rezipienten als weiteren Co-Autor des akustischen Werkes. Marten schreibt: Urheber des musikalischen Werkes ist initial der Komponist. Er ist es insoweit, als er durch Zeichennotierung die Vorgabe zur Aufführung von Klangereignissen macht. Urheber des dank der Vorgabe für zu erzeugende Musik aufgeführten Werkes sind die aufführenden Musiker. Die Begegnung mit dem Werk hat sich vom Lesen von Zeichen zum Hören von Klangereignissen verändert. Damit ist auch schon der Hörer im Spiel. Er ist der Urheber des zu hörenden Werkes, insofern es gehört wird. Dass dies alles Urheber sind, versteht sich nicht aus durchgesetzten Ansprüchen, sondern aus dem Werk. Es braucht agierende Selbste, weswegen es das Werk ‚selbst’ nicht gibt.39

Die Möglichkeit einer Unterteilung des musikalischen Werkbegriffs in je ein separates textliches und ein akustisches Werk scheint nach Marten nicht gegeben zu sein. Seine Einwände, dass das akustische Werk aus zwei Ebenen, der interpretatorischen und der rezeptiven, besteht, sind nachvollziehbar. Somit lässt sich die Erkenntnis aus Lotte Thalers Aussage um die Feststellung erweitern, dass sich das akustische Werk nicht allein während des Erklingens, Klingens und Verklingens von Musik konstituiert, sondern auch auf mehreren Ebenen konstruiert wird. Schließlich ist erkennbar, dass die Absenz eines haptischen Moments des akustischen Werkes eine Konstantierung desselben unmöglich macht. Der musikalische Werkbegriff, den es in einer definierten Eindeutigkeit nicht gibt, bleibt eine Variable, was dazu führt, dass während des nun folgenden auktorialen Diskurses über Alfred Schnittkes Klavierkonzerte immer ein symbiotischer Werkbegriff erschlossen und mitgedacht werden muss. Mit dieser Mehrdeutigkeit bewaffnet muss jedoch vor dem endgültigen Eintauchen in das große Meer des Autor-Werk-Verhältnisses geklärt (und damit eine neue Unsicherheit heraufbeschworen) werden, mit wie vielen Autoren wir es eigentlich zu tun haben, wenn Marten doch schon drei Urheber des Werkes ausgemacht hat und damit die eindeutige Identität des Autors bereits a priori nicht existent zu sein scheint.

1.2

Der Interpret als Co-Autor. Gemeinsamkeiten zwischen Sprechtheater- und Musikaufführung

Das Phänomen der Co-Autorschaft kann auf zwei Ebenen ablaufen, die sich gegenseitig durchdringen: der vorinterpretatorischen Ebene und der interpretatorischen 39

Ebd., S. 6.

108

Der auktoriale Diskurs

Ebene. D.h. der Interpret eines notentextlichen Werkes kann während des Einstudierens an den Komponisten (den Autor des notentextlichen Werkes) Hinweise und Vorschläge geben, die diesen dann dazu veranlassen, die Partitur noch einmal zu überarbeiten, so dass am Ende des Erschaffens eines Notentextes (einer Fassung letzter Hand sozusagen) bereits der Interpret als Co-Autor beteiligt war, noch bevor die In-Klang-Setzung das zweite, auditive Werk erzeugt.40 Dasselbe gilt für den etwaigen Einfluss des Verlegers. An dieser Stelle nun setzt die Co-Autorschaft, wie sie Marten im vorangegangenen Kapitel als zweiten Urheber des musikalischen Werkes definiert hat, ein.41 Es zeigt sich zugleich, dass es gewisse Ähnlichkeiten mit der Inszenierung eines Theaterstückes gibt, auch wenn die literarische Vorlage desselben in der Regel mehr Freiraum zur Interpretation lässt als die Notentext-Vorlage. Eine Ausnahme bildet in der Musik unter anderem die Kadenz im Solokonzert, die bis Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Nr. 5 op. 73 mehr oder minder Raum zur freien Improvisation des Solisten ließ, aber auch schon vorher durch Carl Philipp Emanuel Bach oder Wolfgang Amadeus Mozart auskomponiert wurde. Der Vergleich mit dem Sprechtheater ist dennoch zulässig, da beide Aufführungsarten ähnlicher Bedingungen und Operationen bedürfen, die an der Konstituierung des auditiven (im Theater auditivvisuellen) Werkes beteiligt sind. Zunächst tritt im Sprechtheater der Regisseur in Erscheinung, der sich auf erster Ebene die textliche Vorlage zu Eigen macht. Das setzt allerdings einen ahistorischen Inszenierungsbegriff von Theater voraus, der den Regisseur als solchen benennt und damit frühestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts aufgrund der Theaterreformen Herzog Georgs II. von Sachsen-Meiningen gilt. In der Musik übernimmt der Dirigent, sofern er notwendig ist, die Funktion des Regisseurs. Hinzu kommt dann eine entweder den Vorgaben des Textes und/oder aber der Vorinterpretation des Regisseurs folgende Anzahl von Schauspielern. Hier tritt nun ein Unterschied in beiden Kunstformen auf, der zum Einen die größere Freiheit des Regisseurs offenbart, andererseits aber auch in der Musik die Frage nach der Historizität von Interpretation aufwirft. Die Frage nach der sogenannten Werktreue einer Inszenierung tritt hier in den Vordergrund, die in instrumentaler und vokaler Musik (lässt man das Musiktheater als Sonderform außen vor) allein durch die enge Orientierung an den Besetzungsvorgaben der Partitur eher zu bejahen ist als in der Inszenierung eines Theaterstückes, wenngleich hier sofort die Unzulänglichkeit des Begriffs ‚Werktreue’ auf das vorangehende Kapitel verweist.

40 41

Vgl. zu dieser Problematik auch Michael Kube, „Der Interpret als Autor. Zur Genese und Ausgabengeschichte von Max Bruchs Violinkonzert g-Moll op. 26“, in: Bein, Nutt-Kofoth und Plachta (Hrsg,), Autor – Autorisation – Authentizität (wie Anm. 33), S. 307–314. Arnold Schönberg bezeichnet den Interpreten nicht als Co-Autor, sondern als ‚Diener‘ des Komponisten. Vgl. Arnold Schönberg, Handschriftliche Anmerkungen zu Ferruccio Busonis Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, transkribiert von Eleonore Vondenhoff, in: Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (= Bibliothek Suhrkamp 397), Frankfurt am Main 1974, S. 64.

Interpretation und ihre Grenzen

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Mit Historizität ist aber die Abweichung von Besetzungsvorgaben im musikhistorischen Kontext angesprochen, die bis ins 19. Jahrhundert hinein Usus war, größtenteils aus personellen Engpässen oder aufführungsörtlichen Gegebenheiten. Zwar trifft dies auch für das Theater zu, jedoch hat sich auf der ahistorischen, d.h. der ästhetischen Ebene der Zugang zur Textvorlage gewandelt, so dass eine ‚werkgetreue’ Inszenierung zwar möglich (und von manchen Theaterkritikern sowie einem nicht unerheblichen Teil des Bildungspublikums auch gefordert wird), aber eben nur eine Spielart des Umgangs mit Literatur ist. In der Musik ist dieser Zugang heute weit enger gefasst, Abweichungen von den in der Partitur verzeichneten Vorgaben werden nur selten und dann auch eher aus aufführungspraktischen denn aus ästhetischen Gründen vorgenommen. Eine Ausnahme bildet die Uminstrumentierung eines Werkes, als berühmtes Beispiel seien hier Modest Mussorgskis Bilder einer Ausstellung genannt. Die Musikwissenschaftlerin Helga de la Motte-Haber bespricht Maurice Ravels Instrumentierung dieser Komposition (als Notentext) unter dem Aspekt der ‚musikalischen Übersetzung’ und kommt zum selben Ergebnis, dass nämlich Ravels Fassung, auch wenn dort „auf satztechnischer Ebene [nur] ein Minimum an Veränderungen vorliegt“, einen „eigenständigen Text mach[t]“42. Doch werden derartige Interpretationen zumeist von Komponisten durchgeführt, die damit wieder auf der notentextlichen Ebene ein neues, vom Ursprung abgewandeltes Werk erschaffen, das bei dessen In-Klang-Setzung wiederum ein neues, vom ursprünglichen notentextlichen Werk unabhängiges auditives Werk konstituiert. So wie im Sprechtheater Schauspieler als Interpreten für die Inszenierung die Vorgaben des Regisseurs umsetzen, so treten dem Dirigenten, der sich die Partitur eines Komponisten zu Eigen macht, Musiker bei, die den Notentext nach seinen Vorgaben in Klang setzen. Auch an dieser Stelle kommen Gemeinsamkeiten zwischen der Theaterinszenierung und dem Einstudieren eines musikalischen Werkes zum Vorschein, da nach dieser Stufe der Co-Autorschaft durch Aneignung des Regisseurs bzw. Dirigenten eine zweite Stufe einsetzt: die interpretatorische Individualität und Kollektivität der Schauspieler bzw. Musiker, die in ihren Charakter bzw. in ihre Stimme eigene Interpretationsansätze hineinlegen und so maßgeblich an der Konstitution des auditiven bzw. auditiv-visuellen Werkes beteiligt sind. Die eigene Individualität der Ausführenden wird jedoch begrenzt durch die Interaktion mit dem Regisseur bzw. dem Dirigenten, wobei im Theater der Gestaltungsraum grundsätzlich sowohl von der Textartikulation als auch vom schauspielerischen Moment (Gestik, Mimik) abhängt, in der Musik jedoch eher auf die Artikulation des vorgegebenen Notentextes begrenzt ist. Ausnahmen bestätigen aber auch hier die Regel: In Schnittkes Violinkonzert Nr. 4 hat der Solist im zweiten und vierten Satz die Aufgabe, seine Kadenz visuell durch Gestik und Mimik zu verdeutlichen (Cadenza visuale). In Maurico Kagels exotica haben die Musiker in den E-Abschnitten die Möglichkeit, auf Tonband eingespielte authentische außereuropäische Musik von „sehr schlecht“ 42

Vgl. Helga de la Motte-Haber, „Musikalische Übersetzungen“, in: Danuser und Plebuch (Hrsg.), Musik als Text (wie Anm. 34), S. 55 und 57.

110

Der auktoriale Diskurs

bis „ausgezeichnet“43 nachzuahmen. Beiden Beispielen ist jedoch gemein, dass sie die relative Freiheit der Interpreten schon durch den Komponisten als Autor des notentextlichen Werkes erlangen, nicht erst auf der ersten Stufe der Interpretation durch den Dirigenten. Schließlich kommt das Theaterstück nach interpretatorischer Aneignung so oder anders auf die Bühne, ebenso der in Klang gesetzte Notentext. Somit sind zwei Arten der Co-Autorschaft auf der interpretatorischen Ebene der ersten Stufe auszumachen, die im Fall Alfred Schnittke auch immer wieder den Komponisten des notentextlichen Werkes als Haupt-Autor in den Entstehungsprozess des auditiven Werkes integrieren und ihn damit zum Co-Autor des auditiven Werkes machen. Berücksichtigt man jedoch die Sprachlichkeit der Texte als Vorlagen für die Inszenierung bzw. Aufführung, so werden die Unterschiede zwischen beiden Kunstgattungen offenbar, die bereits weiter oben aufgezeigt wurden. Ein literarischer Text weist eine wesentlich eindeutigere Sprachlichkeit auf als ein Notentext. Ferner basiert die Inszenierung eines literarischen Textes auf dem identischen Aussprechen der Worte eben dieses Textes, wie sie auch in dieser Form gelesen werden. Aus diesem Grund nennt Christine Damis die Inszenierung eines literarischen Textes auch den „Text der Inszenierung“ (ohne Berücksichtigung des Bühnenbildes, des Lichts etc.).44 Ob eine derartige Separierung des Sprachlichen möglich ist und überhaupt die Bezeichnung ‚Text’ für gesprochene Sprache als Zugang zum Diskurs der Textualität funktioniert, sei dahingestellt. Wesentlich ist an dieser Stelle, auf den Unterschied zur Musik hinzuweisen, die nicht die identische Umsetzung des Notentextes ist, sondern eine Übersetzung in Klang, eine Decodierung oder Dechiffrierung einer Partitur, im Falle von Instrumentalmusik lediglich mit Hilfe von Instrumenten. Insofern funktioniert der Terminus ‚Text der Inszenierung’ für das klangliche Werk nicht, ja eigentlich funktioniert der Terminus ‚Text’ an sich für Musik als klangliches Phänomen nicht. Die Frage ist deshalb, ob es bestimmte Charakteristika und Phänomene, die auf einer textlichen Ebene funktionieren wie z.B. die sogenannte Intertextualität, auch auf der auditiven Werkebene geben kann oder ob diese (z.B. als Zitat, Plagiat oder Allusion bzw. Anspielung)45 lediglich der notentextlichen Werkebene vorbehalten sind. Tatsächlich wird nur im Zusammenhang mit dem Autorschaftsdiskurs eine Antwort darauf möglich sein und positiv ausfallen, nämlich dann, wenn der Komponist (intentional oder aus Versehen, aus Gewohnheit, aus Dilettantismus etc.) die notentextliche Ebene verwendet, um auf der auditiven Werkebene, bewusst oder unbewusst, Intertextualität herzustellen. Die notentextliche Werkebene als praeconditio 43 44 45

Mauricio Kagel, Exotica für außereuropäische Instrumente, London: Universal Edition 1974, UE 15195, S. 31. Vgl. Christine Damis, „Das Theaterstück und seine intertextuellen Relationen“, in: Texte im Text. Untersuchungen zur Intertextualität und ihren sprachlichen Formen, hrsg. von Gerda Haßler (= Studium Sprachwissenschaft Beiheft 29), Münster 1997, S. 231. Vgl. Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, aus dem Französischen übersetzt von Wolfram Bayer und Dieter Hornig (= Aesthetica. Edition Suhrkamp 1683), Frankfurt am Main 1993, S. 10.

Interpretation und ihre Grenzen

111

der auditiven Werkebene fungiert dabei als Träger des textuellen Moments zwischen dem sogenannten Hypotext (dem zitierten, plagiierten oder alludierten Werk als Partitur) und dem Hypertext (bei dem zwar auf der notentextlichen Ebene das Zitat, das Plagiat oder die Allusion notiert sind, der Zitat-, Plagiat- oder Allusionscharakter allerdings erst auf der klanglichen Ebene offenbart wird, z.B. in einem bestimmten klanglichen Kontext, der die Referenz eindeutig werden lässt).46 Eine weitere Form von Co-Autorschaft betrifft die Stufe der Rezeption, auf der Marten den Rezipient als Urheber des gehörten Werkes definiert. Diese Form von Co-Autorschaft setzt am auditiven Werk an. Dass es jedoch unterschiedliche Rezipientengruppen gibt, die ein relatives Verständnis sowohl des auditiven Werkes als auch des notentextlichen Werkes aufbringen, wurde bereits erörtert und als Subjektivität des rezeptiven Prozesses benannt. Das Verhältnis des Werkes (als symbiotischer Werkbegriff) zum Rezipienten wird im folgenden Kapitel eingehender beleuchtet. Mit der Rezeptionsebene geht auch der Konstruktionsgedanke einher, nämlich inwieweit der Komponist selbst die Rezeptionsebene bedient und damit Autorschaft auf dieser beeinflusst, indem er sich gegenüber dem Publikum so oder anders inszeniert. Dieser Aspekt wird in Kapitel II.3 diskutiert. Im letzten Punkt dieses Kapitels soll dem Charakter des Autors Alfred Schnittke, der in einen Haupt-Autor und mehrere Co-Autoren seziert wurde und damit von nun an besser und vorläufig als Autorschaftsfigur bezeichnet werden soll, nachgespürt werden. Es wurde bereits auf die Notwendigkeit dieser Charakterbestimmung hingewiesen, die mit dem Begriff der Autorisation umrissen ist. Im Detail stellen sich bezüglich der folgenden Debatte mehrere Fragen, die aus musikhistorischer Sicht entstehen, dabei aber nicht immer für den vorliegenden Diskurs besondere Relevanz besitzen.47 Zunächst sei auf das Phänomen der Musiktranskription verwiesen, das zwar Schnittkes Klavierkonzerte nicht tangiert, aber schon bei seiner Symphonie Nr. 9, die vom russischen Musikwissenschaftler und Komponisten Alexander Raskatow [Aleksandr Raskatov] aus einem unleserlichen Autograph in aufführungsfähiges Material übertragen wurde, aufscheint und die Frage nach der Autorität über die transkribierte Partitur stellt. Wer ist der Autor eines solchen notentextlichen Werkes? Der Komponist oder der Übersetzer? Musikhistorisch betrifft dieses Problem nicht nur die Übertragung schlecht leserlicher Handschriften, sondern auch die gesamte Transkription bspw. mensuralnotierter Kompositionen in heutige Notenschrift. Darüber hinaus gibt Christoph Wolff zu bedenken, dass: […] für die Komponisten zumindest des 17. und 18. Jahrhunderts [...] allgemein [gilt], dass das einmal geschaffene Werk – im Umgang des Komponisten mit diesem – ‚work in progress‘ bleibt, d.h. ein prinzipiell unabgeschlossenes, den veränderten Absichten oder Einsichten des Autors sich anpassendes Gebilde. Selbst die vermeintliche Endgültigkeit einer ‚Fassung letzter

46 47

Vgl. ebd., S. 14ff. Vgl. Silke Leopold (Hrsg.), Musikalische Metamorphosen. Formen und Geschichte der Bearbeitung (= Bärenreiter Studienbücher Musik 2), Kassel u.a. 1992.

112

Der auktoriale Diskurs

Hand‘ – soweit als solche überhaupt eruierbar – relativiert sich unter dem Aspekt, dass sich dem Autor keine Gelegenheit geboten haben mag, erneut Hand anzulegen.48

Hier stellt sich die Frage nach der Autorisation eines Autors auf noch ganz andere Weise, nämlich in der Form, als es das Werk nicht mal auf notentextlicher Ebene geben muss, sondern dass dieses aus mehreren Fassungen besteht. Der Komponist hat damit auch keine absolute Autorität über sein Werk (als Partitur). Vielmehr zirkuliert dieses in einer unendlichen Annäherung an Autorisation als permanente Variation eines nicht erreichbaren absolutum. Zwar gibt auch Wolff zu, dass spätestens mit der Druckfreigabe des Komponisten ein notentextliches Werk aus seinen Händen „[...] in die Öffentlichkeit entlassen [wird] und [...] damit ein Eigenleben entwickel[t], das sich der Kontrolle des Autors entzieht“49. Dennoch muss selbst das nicht eine ‚Fassung letzter Hand’ bedeuten. Dort, wo selbst die gedruckte Partitur offenbar nicht der Weisheit letzter Schluss ist, bleibt die Suche nach einem Autorität innehabenden Autor bestehen, sowohl von ihm selbst als auch vom notentextlichen Werk und seinen Fassungen ausgehend. Als zweites sei der Begriff der Autorisation auf der Interpretationsebene angewendet. Dass durch die Aneignung einer Partitur, durch das Proben und Aufführen, der Interpret in gewisser Hinsicht zum Co-Autor zumindest des auditiven Werkes wird, wurde bereits dargelegt. Damit erhält er aber auch Autorisation über das Werk, es wird ihm zumindest zum Teil eigen. Ebenso passiert dies vorher auf der ersten Stufe der Interpretation, wenn sich der Dirigent mit der Partitur beschäftigt. Auf der rezeptiven Ebene erfährt eine Komposition ebenfalls einen Autorisationswandel, der allein schon in der Subjektivität des hermeneutischen Prozesses begründet ist. Der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Umberto Eco begreift diese Subjektivität als „komplexe Strategie von Interaktionen“50 und spielt damit auf die Horizontale der Rezeption an, in der sich Rezipienten untereinander über ein Werk austauschen und somit außerhalb des Autors Autorität über das rezipierte Werk selbst verschaffen. Schließlich führt der Philosoph Hans-Georg Gadamer diesbezüglich einen weiteren Autoritätsbegriff ein, der weniger eine aktive Autorisation durch Aneignung ist, sondern das mittelbare Anerkennen der Autorität des Anderen im Eigenen – passive Autorisation sozusagen: Die Autorität von Personen hat ihren letzten Grund nicht in einem Akte der Unterwerfung und der Abdikation der Vernunft, sondern in einem Akt der Anerkennung und der Erkenntnis – der Erkenntnis nämlich, daß der andere einem an Urteil und Erfahrung überlegen ist und daher sein Urteil vorgeht, d.h. vor dem eigenen Urteil den Vorrang hat. Damit hängt zusam48 49 50

Christoph Wolff, „Zwischen klassischem Werkbegriff und überlieferter Werkgestalt: Der musikalische Text als Vermittler“, in: Danuser und Plebuch (Hrsg.), Musik als Text (wie Anm. 34), S. 263. Ebd. Wolff rekurriert hier auf die Theorien Roland Barthes’ und Michel Foucaults, siehe Kapitel 2.2.3 der vorliegenden Arbeit. Umberto Eco, Die Grenzen der Interpretation, aus dem Italienischen übersetzt von Günter Memmert, München 1992, S. 148.

Interpretation und ihre Grenzen

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men, dass Autorität nicht eigentlich verliehen, sondern erworben wird und erworben sein muss, wenn einer sie in Anspruch nehmen will. Sie beruht auf Anerkennung und insofern auf einer Handlung der Vernunft selbst, die, ihrer Grenzen inne, anderen bessere Einsichten zutraut. Mit blindem Kommandogehorsam hat dieser richtig verstandene Sinn von Autorität nichts zu tun. Ja, unmittelbar hat Autorität überhaupt nichts mit Gehorsam, sondern mit Erkenntnis zu tun.51

Aus dieser Aussage gehen mehrere Punkte hervor, die im Kapitel II.3.3 näher erläutert werden. Herausgegriffen sei hier der Fakt, dass Gadamer Autorität des Anderen über das Eigene (oder das Selbst) als Erkenntnis und Anerkennung der Überlegenheit des Anderen betrachtet. Diese Überlegenheit durchdringt damit das Eigene und verschafft sich so Autorität über das Eigene oder durch das Eigene hindurch – das Andere autorisiert sich mit Hilfe des Eigenen. Damit wird das Eigene medial, das überlegene Andere spricht durch das Eigene. In Bezug auf Schnittkes Klavierkonzerte kommt hier ein weiterer Co-Autorschafts-Gedanke auf der Ebene der Interpretation als Deutung zum Vorschein, der der Interauktorialität. Durch diese transportieren etwa im Konzert für Klavier und Streicher ein B-A-C-H-Motiv die Überlegenheit Johann Sebastian Bachs oder ein Bruckner-Zitat die Überlegenheit und die Autorität Bruckners durch das eigene Material hindurch. Beide Referenzen werden im nachfolgenden Kapitel näher bestimmt. Die Frage ist freilich, ob, auch wenn ein Werk (als Hypotext) oder dessen Teil eines Anderen durch das Eigene hindurchscheint, die Bezeichnung Co-Autor als Titel geeignet ist. Wir sprachen in diesem Zusammenhang von passiver Autorisation, die einer kurzen Erklärung bedarf, da die bisher formulierte auctoritas nur Individuen als aktive Aneignung zugeschrieben wurde. Tatsächlich werden zitierte, plagiierte oder alludierte Komponisten, selbst wenn sie als Individuen schon längst der Vergangenheit angehören, über die verwendeten Zitate, Plagiate oder Allusionen in den nachzeitigen Werken autorisiert. Denn Autorität ist keine Eigenzuschreibung, sondern geschieht immer von außen, indem z.B. ein nachzeitiger Komponist (als Rezipient) die Autorität eines vor- oder gleichzeitigen Komponisten oder eines anderen Künstlers über sein Werk durch Verwendung einer oder mehrerer Referenzen an diesen akzeptiert. Selbst die Signatur eines Autors unter ‚sein’ Werk als eine Form des Paratextes52 eines Textes ergibt noch keine Autorität. Am einfachsten lässt sich dieser Sachverhalt mit einer alten Weisheit erklären, dass ein König nicht deshalb König ist, weil er sich dazu macht oder sich so nennt, sondern weil andere ihn in dieser Rolle akzeptieren bzw. autorisieren: Autorität wird zugeschrieben. Jemand ‚hat‘ oder ‚ist‘ nur dann Autorität, wenn andere sie ihm zuerkennen. Autoritäten sind Autoritäten durch andere. […] Die Autoritätsgeltung des einen ist der Autoritätsglaube der anderen, diese ist ohne jenen nicht denkbar. (S. 22) […] 51 52

Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (= Gesammelte Werke 1), Tübingen 61990, S. 284. Genette, Paratexte (wie Anm. 30), S. 9.

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Der auktoriale Diskurs

Autorität beruht auf Anerkennung. Eine Autorität ist jemand dann, wenn andere ihn als Autorität anerkennen. (S 24)53

Insofern erlangen die Autoren von Schnittkes Zitaten, Plagiaten oder Allusionen erst dadurch ihre Autorität über eben diese Wendungen, Stile etc., dass Schnittke sie zitiert, plagiiert oder alludiert, kurz, indem er sie rezipiert und ihnen damit Autorität zuschreibt. Damit erhalten die Autoren des Anderen Autorität über ihr Eigenes, das Schnittke sich als das Andere in seinem Eigenen aneignet, d.h. die z.B. Zitierten werden zu auctores des von ihnen durch Schnittke Zitierten und damit zu Co-Autoren im Geiste von Schnittkes Werken. Somit erhält das zitierte, plagiierte oder alludierte Andere ebenso Autorität über das Eigene, wie der Interpret Autorität über das notentextliche Werk und der Rezipient Autorität über das klangliche Werk erhält. Mit dieser Einführung in das Verhältnis von Autor und Werk und der Erörterung der diskutablen Begriffe soll im Folgenden dieses Verhältnis in unterschiedlichen Kontexten untersucht werden. Der Fokus liegt dabei zunächst auf dem Phänomen der sogenannten Interauktorialität in Bezug auf Schnittkes Klavierkonzerte.

53

Wolfgang Sofsky und Rainer Paris, Figurationen sozialer Macht. Autorität – Stellvertretung – Koalition (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1135), Frankfurt am Main 1994, S. 22 & 24.

Interpretation und ihre Grenzen

2. 2.1

115

Interpretation und ihre Grenzen Interauktorialität – die Autorschaftsfigur als Palimpsest

Das folgende Kapitel ist weniger als biographischer Abriss zu verstehen denn als kritischer Kommentar, der die bereits erlangten Erkenntnisse aus der Erschließung einer multiplen Autorschaftsfigur und den Analyseergebnissen aus dem ersten Teil dieser Abhandlung in einen interauktorialen Diskurs stellt. Der Begriff der Interauktorialität geht zurück auf die Literaturwissenschaftlerin Ina Schabert und benennt ursprünglich einen anderen Kontext: den der fiktionalen Dichterbiographie. Im Abstract zu ihrem Aufsatz gibt Schabert die Bedeutung des von ihr gewählten Terminus wie folgt an: Der Begriff kontrastiert dem der ‚Intertextualität‘. Er erfaßt eine literarisch dokumentierte Textrezeption, die sich als menschliche Begegnung zwischen dem in einem gelesenen Text wahrgenommenen Autor und dem Autor eines nachzeitigen Werks vollzieht. Interauktorialität ist das erzählerische Äquivalent zum literaturwissenschaftlichen Postulat eines humanen Lesens.54

Hieraus lässt sich erkennen, dass Schabert den Begriff nicht allein auf Dichterbiographien verengt, wenngleich sie lediglich solche Texte als Beispiele für Interauktorialität heranzieht. Vielmehr stellt sie auch die Möglichkeit in Aussicht – analog zu Genettes nichtsatirischer Ableitung als Nachahmung55 –, dass „die Autorenbegegnung bis zu einem überzeugenden Pastiche des fremden Stils vorzutreiben“56 sein kann, dass also die Interauktorialität bis zum Stil des zitierten Autors reichen und schlussendlich auch die Konvention einer Zeit als Co-Autor in Betracht kommen kann. Diese Problematik wird uns gleich zu Beginn am Konzert für Klavier und Orchester begegnen, denn es muss grundsätzlich gefragt werden, ob Komponieren in einer bestimmten Konvention als Interauktorialität begriffen werden sollte oder ob diese erst beim bewussten Rückgriff auf Konventionen, die nur einen Teil des Werkes ausmachen, als solche definierbar ist. Schabert gibt zu bedenken – hier kommt Gadamers Autorisationsgedanke zum Tragen –, dass der Rückgriff auf vorzeitige Autoren, deren Werke oder Stile immer auch deren Autorisierung ist und somit das Eigene Teil eines größeren Ganzen wird, ganz so, wie Schnittke es mit seinem Mittel der sogenannten Polystilistik selbst postuliert hat:

54 55 56

Ina Schabert, „Interauktorialität“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 57 (1983), Heft 4, S. 679. Vgl. Genette, Palimpseste (wie Anm. 45), S. 130–139. Schabert, „Interauktorialität“ (wie Anm. 54), S. 692.

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Der auktoriale Diskurs

Die individuelle Imagination transzendiert, wenn sie die fremde, historisch vergangene, innere Erfahrung nachvollzieht, ihre eigene Begrenztheit und wird der menschlichen Imagination schlechthin, wird eines zeitübergreifenden geistigen Raums teilhaft.57

Gleichzeitig bleibt „[d]as Persönlichkeitsbild des rezipierten Autors [...] als kreative Vision des rezipierenden Autors erkennbar“58, d.h. die Dichterbiographie ist immer eine nachzeitig konstruierte, selbst wenn sie keine fiktionale ist. Ergänzend muss hinzugefügt werden, dass auch das Zitieren, Plagiieren oder Alludieren eines Autors, eines seiner Werke oder eines Stils immer ein Konstrukt dessen ist, der diesen Autor, dessen Werk oder diesen Stil rezipiert und durch das eigene Werk hindurch autorisiert. Gleichwohl bleibt Gadamers These der Autorisation des Anderen im Eigenen bestehen, denn dem Zitieren, Plagiieren oder Alludieren eines Autors als Konstrukt geht immer die Rezeption eines realen biographischen Individuums voraus, was dazu führt, dass, obwohl am Ende nunmehr eine ‚kreative Vision’ des rezipierten Autors erkennbar bleibt, im dialektischen Prinzip die Interauktorialität zum Tragen kommt, dass also ein nachzeitiger Autor einen vorzeitigen Autor rezipiert, ihn zitiert, plagiiert oder alludiert und damit ein Konstrukt des rezipierten Autors erschafft. Das Zitat, Plagiat oder die Allusion als Konstrukt des rezipierten Autors autorisiert diesen im Werk des rezipierenden Autors. Die Konstrukte des rezipierten Autors haben ihren Ursprung (als Originale) jedoch beim rezipierten Autor selbst, der somit ebenfalls in Erscheinung tritt und mit dem rezipierenden Autor über dessen Werk interagiert, was zum Phänomen der Interauktorialität und schließlich zur Autorisation des vorzeitigen Autors im Werk des nachzeitigen Autors führt. Insofern ist Schaberts Terminus ein glücklicher, wenngleich seine Verengung lediglich auf fiktionale Dichterbiographien die Möglichkeit des Diskurses verschleiert, da der Begriff der Interauktorialität analog zu dem der Intertextualität steht, so wie ihn der Literaturwissenschaftler Peter Stocker dahingehend erweitert: „In diesem Sinn verstanden als ‚Interauktorialität’ hat Autorschaft auch im Verhältnis zur Intertextualität durchaus Bestand.“59 Bevor die Untersuchung der Klavierkonzerte Schnittkes auf interauktoriale Momente beginnt, sollte ich den Begriff des Plagiats, wie ich ihn verwende, kurz erläutern. Genette benutzt den Terminus im herkömmlichen ethymologischen Sinn als unrechtmäßige Nachahmung. Ich möchte diesen Begriff für die Musik um die Unbewusstheit der Nachahmung erweitern und gleichzeitig um deren Unrechtmäßigkeit verkürzen. In kaum einer Partitur werden sich, so wie Genette es für das Zitat beschreibt, Anführungszeichen als Beweis für Zitation finden lassen, ebenso wenig Quellenangaben.60 Das musikalische Zitat wäre demzufolge immer ein Plagiat, außer der Autor gibt im Epitext61 Auskunft über den bewussten Akt des Zitierens. Inso57 58 59 60 61

Ebd., S. 693. Ebd., S. 686. Peter Stocker, Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien (= Explicatio), Paderborn u.a. 1998, S. 43. Vgl. Genette, Palimpseste (wie Anm. 45), S. 10. Vgl. Genette, Paratexte (wie Anm. 30), S. 354–384.

Interpretation und ihre Grenzen

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fern hat sich in der Musikwissenschaft ein eigenständiger Begriff des Zitats etabliert, der bewusstes Nachahmen auch ohne Quellenangaben und Anführungszeichen meint. Demgegenüber stelle ich das musikalische Plagiat, das ebenso auf Angaben zur Herkunft der Nachahmung verzichtet, gleichzeitig aber vom Komponisten unbewusst verwendet wird. 2.1.1 Konzert für Klavier und Orchester Im Jahr 1960, als das Konzert für Klavier und Orchester entstand, war Schnittke Aspirant am Moskauer Konservatorium bei seinem ehemaligen Kompositionslehrer Jewgeni Golubew. Golubews eigener kompositorischer Anspruch, seine ästhetischen Anschauungen und sein formelles Konzept sind in einer Tradition verwurzelt, die, unter anderem durch den Unterricht bei dem Komponisten Nikolai Mjaskowski [Nikoilaj Mjaskovski], zu einem Œuvre von 24 Streichquartetten, sieben Symphonien, drei Klavierkonzerten, zwei Oratorien, einem Requiem sowie weiteren Solokonzerten und Kammermusik geführt haben: Golubev’s connections with the musical traditions of both Russia and Western Europe determined the aesthetic values of his music. Skill in polyphony, taste and professionalism were important qualities to this composer, for whom classical logic was essential to his musical thinking.62

Während seines Studiums bei Golubew komponierte Schnittke eine Symphonie (sie wird allgemein als Symphonie Nr. 0 bezeichnet), das Violinkonzert Nr. 1 und als Abschlussarbeit das Oratorium Nagasaki, allesamt Kompositionen in ebensolch tradierten Gattungen. Golubews ‚klassisch geprägte Logik‘, die unter anderem in seinen drei Klavierkonzerten op. 24 (1944), op. 30 (1948) und op. 40 (1954) verifizierbar ist, hat deshalb bei Schnittke, auch in Bezug zu den Analysen der vier Klavierkonzerte, ihre Spuren hinterlassen. Denn wie eingangs dieser Arbeit konstatiert, zieht sich die Sonatenhauptsatzform als gedankliches Grundmodell durch alle vier Kompositionen. Die Absenz des Komponisten Jewgeni Golubew im musikwissenschaftlichen Fortschreiten macht es freilich schwierig, diese Tatsache auf seinen Einfluss zurückzuführen. Selbst in der Sovetskaja Muzyka (SM), dem zentralen Presseorgan des Komponistenverbandes der UdSSR, taucht sein Name nur hin und wieder auf; 1958 gab es ihm zu Ehren ein Autorenkonzert.63 Sofia Gubaidulina hatte ihr erstes offizielles Autorenkonzert bereits im Alter von 32 Jahren.64 Auch tritt Golubew in der SM als Verfasser von Artikeln und Rezensionen nur selten in Erscheinung, ganz im Gegenteil zu 62 63 64

Alla Vladimirovna Grigor’yeva [Wladimirowna Grigorjewa], Art. „Golubev, Yevgeny Kirillovich”, in: NG, Bd. 10, London 2001, S. 118. Vgl. G.M. [der Name des Autors ist nicht mehr ermittelbar, Anm. d. Verf.], „Avtorski concert E. Golubeva” [Autorenkonzert . Golubew], in: SM 22 (1958), Heft 7, S. 111f. R. Šaverdjan [Schawerdjan], „Avtorski koncert S. Gubaidulinoj i A. Nikolaeva“ [Autorenkonzert S. Gubaidulina und A. Nikolajew], in: SM 27 (1963), Heft 3, S. 78–80.

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Der auktoriale Diskurs

Dmitri Schostakowitsch und Dmitri Kabalewski [Dmitrij Kabalevskij], beide einst verfemte Komponisten, die und deren Werke in den 1950er Jahren verstärkt in der Öffentlichkeit auftraten bzw. auftreten durften. Nun lässt sich von der Präsenz eines Komponisten in der SM nicht gleich auf die Qualität bzw. Modernität seiner Werke schließen, jedoch wird deutlich, dass – entweder gewollt oder ‚gemusst’ – Golubew ein eher unverdächtiger und unscheinbarer Komponist gewesen sein muss, der nicht im Rampenlicht des sowjetischen Musiklebens stand, genauso wenig aber Opfer parteilicher Kritik wurde. Zumindest lassen sich hierüber keine Indizien finden. Im Gegensatz zu Golubews mangelnder Präsenz auf der Bühne des sowjetischen Musiklebens steht die hohe Präsenz Dmitri Schostakowitschs. Die Urfassung des oben erwähnten Violinkonzertes von Alfred Schnittke weist gerade am Beginn eine große Ähnlichkeit, ja fast schon Kongruenz mit Schostakowitschs Violinkonzert Nr. 1 op. 77 auf. (Abb. 66 & Abb. 67) Auch die Symphonie (Nr. 0) ist an das Vorbild Schostakowitsch, vor allem an seine Symphonie Nr. 10 op. 93, die im Jahr 1953, also vier Jahre vor Schnittkes Symphonie uraufgeführt wurde, angelehnt. Dass Alfred Schnittke oft als der Erbe Dmitri Schostakowitschs bezeichnet wird, wurde bereits in der Einführung zu dieser Abhandlung erwähnt und sei an dieser Stelle mit zwei Zitaten belegt: „Alfred Schnittke: Shostakovich’s Heir“65 und „Alfred Schnittke as the successor to Dmitri Shostakovich“66. Diese Zitate stammen aus den Jahren 1990 bzw. 2003. Sie offenbaren, dass Schostakowitsch nicht nur in Schnittkes jungen Jahren als Co-Autor in Erscheinung tritt, sondern über fast sein ganzes kompositorisches Leben hinweg als dauerhafter Einfluss auf Schnittke präsent bleibt und überdies von der rezeptiven Seite als dieser anerkannt wird. Es wird an späterer Stelle genauer exploriert werden, wie mit dieser Form von Interauktorialität umzugehen ist.

65 66

Laurel E. Fay, „Alfred Schnittke: Shostakovich’s Heir“, in: Upbeat for the Los Angeles Philharmonic, Bd. 7, Nr. 3, Los Angeles 1990, S. 8f. Yulia Kreinin, „Alfred Schnittke as the successor to Dmitri Shostakovich: to be yourself in Soviet Russia”, in: Schostakowitsch und die Folgen. Russische Musik zwischen Anpassung und Protest, hrsg. von Ernst Kuhn, Jascha Nemtsov und Andreas Wehrmeyer (= Schostakowitsch-Studien 6; zugleich Studia slavica musicologica 32), Berlin 2003, S. 161.

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Abb. 66: Alfred Schnittke, Violinkonzert Nr. 1, Urfassung, 1. Satz, Beginn.

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Der auktoriale Diskurs

Abb. 67: Dmitri Schostakowitsch, Violinkonzert Nr. 1 op. 77, 1. Satz, Beginn.

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In Gesprächen und Interviews mit dem Musikwissenschaftler Dmitri Schulgin [Dmitrij Šul’gin] erwähnt Schnittke Paul Hindemith als einen wesentlichen geistigen Mentor in den späten 1950er Jahren: „Ich begeisterte mich in dieser Zeit für Hindemith […]“67. In dieser Zeit wurde, nach dem Einsetzen des vorsichtigen ‚Tauwetters’ Nikita Chruschtschows [Chruščëv], des Partei- und Regierungschefs der KPdSU bzw. der UdSSR, Musik aus dem sogenannten Westen häufiger und intensiver rezipiert, so dass es u.a. zum künstlerischen Austausch mit englischen und amerikanischen Musikern kam. So fand am 19.04.1956 im Großen Saal des TschaikowskiKonservatoriums ein Sinfoniekonzert mit Werken der zeitgenössischen englischen Komponisten Benjamin Britten, Arnold Bax, William Walton, Ralph Vaughan Williams und Arthur Bliss statt. Es spielte das staatliche Symphonieorchester der UdSSR unter der Leitung von Clarence Raybould.68 Am 07.05.1957 gastierte Glenn Gould ebenfalls im Großen Saal des Konservatoriums mit Werken von Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven und Alban Berg.69 In der Ausgabe 10/1959 berichtet David Rabinowitsch von „Konzerte[n] des New Yorker Orchesters“ unter der Leitung von Leonard Bernstein mit Werken von Schostakowitsch, Johannes Brahms, Hector Berlioz, Aaron Copland, Beethoven, Sergej Prokofjew [Prokof’ev], Bernstein, Walter Piston und Paul Creston.70 Aber auch Hindemiths Musik wurde rezipiert: Seine 1943 entstandenen Symphonischen Metamorphosen über ein Thema von Weber wurden Ende 1957 im Großen Saal des Tschaikowski-Konservatoriums aufgeführt.71 Allerdings ist ein Bezug zu dem Werk Hindemiths problematisch. Den stilistischen Wandel, den Hindemith im Laufe der Jahrzehnte vollzog, haben Musikwissenschaftler auch heute noch nicht eindeutig definieren und beurteilen können.72 Umso fraglicher ist, welche Werke, außer möglicherweise den Symphonischen Metamorphosen, Schnittke zu dieser Zeit in Moskau zugänglich waren, da, „[…] if anyone wanted to listen to the music of Stravinsky [Stravinskij] or Hindemith, he or she would have to get special approval from the rector“73. Andererseits ließe sich, wie später noch festzustellen sein wird, anhand des 67 68 69 70 71 72

73

Vgl. Dmitrij Šul’gin [Dmitri Schulgin], Gody neistvestnosti Al’freda Šnitke. Besedy s kompositorom [Die unbekannten Jahre Alfred Schnittkes. Gespräche mit dem Komponisten], Moskau 2004, S. 36. Vgl. Aleksandr Medvedev [Alexander Medwedjew], „Angliskie muzykanty v Moskve. Večer simfoničeskoj muzyki“ [Englische Musiker in Moskau. Ein Abend symphonischer Musik], in: SM 20 (1956), Heft 6, S. 122f. Vgl. SM 21 (1957), Heft 7, S. 106. Vgl. David Rabinovič [Rabinowitsch], „Konzerty N’ju-Jorkskovo orkestra” [Konzerte des New Yorker Orchesters], in: SM 23 (1959), Heft 10, S. 141–146. Vgl. SM 22 (1958), Heft 1, S. 111. Vgl. hierzu Susanne Schaal und Luitgard Schader (Hrsg.): Über Hindemith. Aufsätze zu Werk, Ästhetik und Interpretation (= Edition Schott 8286), Mainz u.a. 1996; darin vor allem die Aufsätze von Ludwig Finscher („Der späte Hindemith“, S. 314–320) und Günther Metz („Ein Spätstil Hindemiths?“, S. 321–333); außerdem Giselher Schubert (Hrsg.): Der späte Hindemith (= MusikKonzepte 125/126), München 2004 und eine frühe Betrachtung bei Hans Kleemann: „Das Kompositionsprinzip Paul Hindemiths und sein Verhältnis zur Atonalität“, in: Gedenkschrift an Hermann Abert. Von seinen Schülern, hrsg. von Friedrich Blume, Halle (Saale) 1928, S. 80–92. Ivashkin [Iwaschkin], Alfred Schnittke (wie Anm. 2), S. 56.

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späten Hindemith eine Kompositionsästhetik und Musikanschauung Schnittkes beweisen, die auf einen nicht unerheblichen Einfluss womöglich in frühen Jahren zurückzuführen sind, wenngleich offenbar Schnittke selbst diese von Hindemith abgeschaute Ästhetik für einige Jahre vernachlässigte: Hindemith hatte die Hoffnung, durch eine gehobene ‚Gemeinschaftsmusik‘ die Kunstmusik und Neue Musik aus ihrer elitären Isolation befreien zu können, indem die Grenzen zwischen der sogenannten U- und E-Musik durch eine mittlere Musik verfließen.74

Wir sollten uns deshalb Paul Hindemith für die interauktoriale Lokalisierung von Schnittkes Stil vormerken, vor allem für das Konzert für Klavier und Streicher, das Schnittke in einer Collagetechnik komponierte, die er selbst Polystilistik nannte.75 Neben der verstärkt einsetzenden Rezeption ausländischer Musik lag der Hauptfokus des Konzertlebens in den 1950er Jahren jedoch weiterhin auf der traditionellen als auch zeitgenössischen sowjetischen Musik.76 Besonders die Pflege der russischen und sowjetischen Musik war sowohl dem Komponistenverband als auch den Konzertveranstaltern innerhalb der UdSSR ein wichtiges Anliegen, wie die vielen Konzerte und Beiträge in der SM beweisen. So verfasste der Komponist Boris Assafjew [Assafev] in der Augustausgabe der Sovetskaja Muzyka im Jahr 1955 einen längeren Beitrag über „Nikolaj Mjaskovski“ [Nikolai Mjaskowski] (S. 3–8), Swjatoslaw [Svjatoslav] Richter äußert „Neskol’ko myzlej o sovetskoj muzyke“ [Einige Worte über die sowjetische Musik] (SM 20 (1956), Heft 1, S. 39–41) und erwähnt dabei Prokofjew, Schostakowitsch, Kabalewski, Sergej Tanejew [Tanejev], Sergej Rachmaninow [Rachmaninov], Alexander Glasunow [Aleksandr Glazunov], Wissarion Schebalin [Vissarion Šebalin], Juri Schaporin [Šaporin], Aram Chatschaturjan [Chačaturjan] und Mjaskowski, nicht aber Golubew (!). In der Oktoberausgabe der SM 1956 porträtiert der ukrainische Komponist Boris Ljatoschinksi [Ljatošinski] seinen verstorbenen Kollegen Reinhold Glière (SM 20 (1956), Heft 10, S. 12–18); in Heft 7 (1957) schreibt Michail Pekelis „Ob avtobiografii Dargomyšskogo“ [Über die Autobiographie Dargomyschskis] (SM 21 (1957), Heft 7, S. 89–97) und schließlich werden zum 125. Geburtstag Alexander [Aleksandr] Borodins im Jahr 1958 diesem Jubiläum mehrere Artikel gewidmet (SM 22 (1958), Heft 11, S. 40–60). Für die angrenzenden Sowjetrepubliken galt dasselbe für ihre eigene Kultur. Hier wurde offenbar auch nach Stalins Tod von offizieller Seite weiterhin der sozialis74 75

76

Ulrich Tadday: „Zur Ästhetik nicht nur des späten Hindemith“, in: Der späte Hindemith (wie Anm. 69), S. 35. Der Aufsatz „Paul Hindemiths Suite 1922 op. 26“ stammt allerdings nicht von Alfred Schnittke, sondern von der St. Petersburger Musikwissenschaftlerin Ada Schnittke. Hier ist den Herausgebern des Hindemith-Jahrbuchs ein Fehler unterlaufen. Vgl. Alfred [bzw. Ada] Schnittke, „Paul Hindemiths Suite 1922 op. 26“, aus dem Russischen übersetzt von Kara-Kusan Windweh, in: Hindemith-Jahrbuch, hrsg. von Giselher Schubert (Red.), Bd. 32, Mainz 2003, S. 9–35. Zum Beispiel Ende 1957 im Großen Saal des Tschaikowski-Konservatoriums mit Werken von Schostakowitsch, Aram Chatschaturjan [Chačaturjan] und Aram Babadschanjan [Babadšanjan]. Vgl. SM 22 (1958), Heft 1, S. 109–111.

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tisch-realistischen Ideologie gefolgt, dass „[…] realistische Kunst, wenn sie somit demokratisch und sozialistisch im Inhalt sein wird, national in der Form sein [muss]. Der Künstler ist dem Volk verantwortlich – gewiss – aber seinem Volk“77. In der SM liest man deshalb in der Rubrik „Aus dem Konzertsaal“ Monat für Monat über Konzerte mit Musik der einzelnen Sowjetrepubliken in deren (Haupt)Städten, ein Brauch, der sich bin zum Ende der Sowjetunion fortsetzen wird. Schnittke war demzufolge bereits zu Beginn seiner kompositorischen Laufbahn im Zentrum des sowjetischen Musiklebens einer Vielzahl von Einflüssen ausgesetzt, bei denen es schwierig ist, sie alle auf eine bestehende Interauktorialität mit Schnittke zu überprüfen. Im Sinne von Schaberts globalem Interauktorialitätsgedanken ließe sich ein Bezug zur historischen Form- und Materialbehandlung im Konzert für Klavier und Orchester finden. Inwieweit allerdings der Begriff der globalen Interauktorialität überhaupt möglich ist und wo seine Grenzen liegen, wird im Laufe dieses Kapitels geklärt werden. 2.1.2 Musik für Klavier und Kammerorchester Als Resultat der Öffnung der Sowjetunion gegenüber westlichen Kontakten in den 1950er Jahren gelangten mit der Zeit auch avantgardistische Strömungen vor allem in die Zentren Moskau (z.B. durch den Besuch Luigi Nonos Ende 1963) und St. Petersburg, wobei gerade dort auch die politische Kontrolle am größten war. Nach früher Ablehnung der atonalen Kompositionsart Schönbergs (Vgl. SM 22 (1958), Heft 11, S. 119–126) und Übernahme kritischer Beiträge aus der DDRMusikwissenschaft (SM 23 (1959), Heft 8, S. 188–190) ließ sich die Einwirkung westlicher Strömungen auf die sowjetische Musik kaum noch unterbinden. Soll deshalb die Musik für Klavier und Kammerorchester auf interauktoriale Einflüsse untersucht werden, so bieten hierfür sowohl der eben genannte Kontext als auch die Partituranalyse der Musik Anhaltspunkte. Dabei steht diese Lokalisierung vor einem Phänomen, das als stilistische Palimpsestierung bezeichnet werden soll, wobei der virtuellen Schrifttafel der Text zunächst nicht komplett abgekratzt wird, sondern als historische Mehrschichtigkeit weiterhin bestehen bleibt.78 Nichtsdestoweniger kann der neue Text auf dem entstehenden Palimpsest Vorhergehendes größtenteils überdecken, so dass z.B. von einer traditionellen Kompositionsweise, wie sie im Konzert für Klavier und Orchester vorliegt, im Jahr 1964 nichts oder kaum mehr etwas hindurchscheint. Das Vorhergehende bleibt dennoch erhalten und kommt vielleicht an späterer Stelle wieder zum Vorschein, z.B. als Sonatenhauptsatzform im Konzert für Klavier und Streicher oder erneut als Zwölftonreihe im späten Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester. 77 78

Ernst Hermann Meyer, „Realismus im Musikschaffen“, in: Musik und Gesellschaft 1 (1951), Heft 1, S. 23. Vgl. hierzu auch Marina Frolova-Walker, „‚National in Form, Socialist in Content‘. Musical Nation-Building in the Soviet Republics“, in: JAMS 51 (1998), Heft 2, S. 331–371. Der Terminus des Palimpsests in dieser Verwendung ist von dem Gérard Genettes unabhängig, sowohl in seiner Aussage als auch in seiner Entstehung.

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Der auktoriale Diskurs

Die Bedeutung des Palimpsest-Gedankens liegt darin, dass im Jahr 1964 ein stilistischer Ort Schnittkes vorliegt, an dem das Vorangehende, d.h. das Musikgeschichtliche in Schnittkes vorherigen Werken, schon Teil eben dieses (neuen) historischen Ortes ist. In der Analyse der Notentexte zur Musik für Klavier und Kammerorchester wurde bereits auf die traditionellen Satzbezeichnungen und Schnittkes Kompositionsansatz in diesem Werk hingewiesen, der das zuvor Inkorporierte mit dodekaphonen Stilmitteln kombiniert, damit aber immer noch ein gewisses Maß an Historizität (im syntaktischen Sinn) beibehält, so wie es unmittelbar nach der Uraufführung der Komposition am 28.09.1965 in Warschau der Musikkritiker Stefan Kisielewski formuliert: Zum Ereignis wurde […] die Musik für Klavier und Kammerorchester von Alfred Schnittke (Moskau). Das Stück ist zwar zwölftönig komponiert, knüpft zugleich aber an die romantischexpressionistischen Traditionen, Skrjabin und Schönberg an und verbindet die Erfordernisse der neuen Technik sowohl mit einer assoziativ wirkenden Emotionalität und vertrauten Klangfülle als auch mit herausragender pianistischer Virtuosität. Es ist ein wahres Brücken-Werk, Synthese-Werk, Begegnungs-Werk.79

Da diese Historizität, wenn auch nicht als Synthese, bereits am Konzert für Klavier und Orchester dargestellt wurde, soll in diesem Unterkapitel auf interauktoriale Einflüsse bzw. Strömungen Bezug genommen werden, die den historisch-stilistischen Ort Schnittkes an der Musik für Klavier und Kammerorchester definieren. Als wesentliches Merkmal der vorliegenden Komposition nennt Schnittke selbst die sogenannte Baumstruktur, die zunächst als eine Form der entwickelnden Variation identifiziert wurde: In the second movement there is a device that interested me very much then, [a device] that one might choose to call a ‘tree’, with reference to the form of the composition. The trunk of the ‘tree’ is the chain of transpositions of the basic series, like a passacaglia where the theme changes tonality and rhythm. Extensions from it – the branches – would be the unison line that begins the series in a new transposition and moves in parallel to the remaining development, and from each of those ‘branches’ arise its own extensions, in some places thicker, in others more sparse.80

An dieser Stelle fällt ein Bezug zu Alban Berg, Arnold Schönberg und Anton Webern nicht schwer, benutzen doch alle Vertreter der sogenannten Zweiten Wiener Schule in mehreren Kompositionen das Prinzip der entwickelnden Variation, um aus dem Grundmaterial (einer Zwölftonreihe) Derivate zu gewinnen. Carl Dahlhaus hält diesen Begriff für problematisch, da: 79

80

Stefan Kisielewski, „O jesieni najrozmaiciej“ [Über den Herbst auf vielerlei Arten], in: Tygodnik Powszechny 42 (1965), S. 4, zitiert nach Bogumiła Mika, „Anwesend – abwesend. Zur Rezeption der Musik Alfred Schnittkes in Polen“, in: Amrei Flechsig und Christian Storch (Hrsg.), Alfred Schnittke. Analyse – Interpretation – Rezeption (= Schnittke-Studien 1), Hildesheim, Zürich und New York 2010, S. 51f. Alfred Schnittke zitiert nach Schmelz, Listening (wie Anm. 6), S. 203.

Interpretation und ihre Grenzen

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[…] der Ausdruck Variation einen [...] greifbaren kompositionstechnischen Sachverhalt [benennt], das Wort ‚Entwicklung‘ dagegen, das Schönberg mit ‚Wachstum‘ gleichsetzte, eine ästhetische Interpretation.81

In der Tat kann man schon im ersten Satz von Schnittkes zweitem Klavierkonzert nicht im engeren Sinne von einer derartigen Variation sprechen, wenn hier bereits der Grundreihe fremde Reihen, Cluster und Felder aufgebaut und deren Derivate gebildet werden. Auch hält Dahlhaus zu Recht den Begriff ‚Wachstum’ dahingehend für fragwürdig, da selten „[…] von einer durchgängigen Substanz die Rede sein [kann], wie sie ein Entwicklungsbegriff voraussetzt, der an ein Wachstum aus einem Keim denken lässt.“82 Andererseits verengt Dahlhaus den Wachstumsbegriff auf die Vergrößerung aus der Quelle eines Keims und lässt dabei ein potentiell diminuierendes Negativwachstum bzw. einen abstrahierten Wachstumsbegriff außen vor. Genau um diesen Begriff geht es jedoch, der besonders an der Baumstruktur als organischer Metapher deutlich gemacht werden kann: Der Keim des Wachstums ist nicht der Samen des Baumes, sondern ein bereits gewachsener Baumstamm (die konstruierte Reihe, insofern unterscheidet sich das artifizielle Konstrukt Reihe von der organisch gewachsenen Struktur Baum). Dieser Baumstamm wird an einer bestimmten Stelle seiner Entwicklung als Keim fixiert und dessen Äste und Zweige als Derivate definiert. Somit ist die Baumstruktur bei Schnittke ein statisches Modell für einen organischen Vorgang. Er erklärt einen technischen Vorgang – den der Derivatebildung aus einer Grundreihe R1 – mit der organischen Beschreibung eines Baumes. Schnittkes Kenntnis der dodekaphonen Technik durch seine Beschäftigung mit Schönberg, Berg und Webern legt einen potentiellen Einfluss dieser Komponisten auf die Musik für Klavier und Kammerorchester nahe. Tatsächlich lassen sich interauktoriale Momente verifizieren, vor allem in Kompositionen mit entwickelnder Variation. Als Beispiele solcher Werke seien zunächst Schönbergs Orchestervariationen op. 31 (1926-1928) sowie Bergs Kammerkonzert für Klavier und Geige mit 13 Bläsern (1923-1925) herausgegriffen. Der Kopfsatz aus Bergs Kammerkonzert ist mit Thema scherzoso con Variazioni überschrieben. Es handelt sich hier jedoch nicht um ein zusammenhängendes Thema, sondern um mehrere thematische Gedanken, die im ersten Teil des Kopfsatzes vorgestellt werden.83 (Abb. 68, Takte 21-24 (Klarinette in A) sowie in den Takten 75-80 (Oboe))

81 82 83

Carl Dahlhaus, „Was heißt ‚entwickelnde Variation‘?“, in: Carl Dahlhaus. Gesammelte Schriften, hrsg. von Hermann Danuser, Bd. 8, Laaber 2005, S. 738. Ebd., S. 738. Adorno nennt diese Gedanken ‚Motive‘, aus denen sich das Gesamtthema entwickelt. Vgl. Theodor W. Adorno, „Alban Bergs Kammerkonzert“, in: Alban Berg. Kammermusik II, hrsg. von HeinzKlaus Metzger und Rainer Riehn (= Musik-Konzepte 9), München 1979, S. 56f. Für eine profunde Analyse dieses Satzes vgl. Klaus Schweizer, Die Sonatensatzform im Schaffen Alban Bergs (= Freiburger Schriften zur Musikwissenschaft 1), Stuttgart 1970, S. 57–73.

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Der auktoriale Diskurs

Abb. 68: Alban Berg, Kammerkonzert für Klavier und Geige mit 13 Bläsern, 1. Satz, Takte 21-26.

Ab Takt 31 beginnen die Variationen, zunächst im Klavier (Takt 31-58, beginnend mit dem ursprünglichen Thema). Die zweite Variation beginnt ab Takt 61 als Umkehrung des thematischen Grundgedankens, die allerdings auch Material im Krebsgang enthält, das wiederum nicht zum Thema gehört. Bergs Variationsform ist der in Schnittkes Musik für Klavier und Kammerorchester sehr nahe, denn auch hier erscheint reihenfremdes Material und dessen Derivate, obwohl dieses zuvor in der Exposition nicht notiert war. Dennoch zeigt gerade diese Verquickung von Umkehrung thematischen Materials und Krebsgang nichtthematischen Materials bei Berg die Mehrschichtigkeit der Musik, wie sie auch bei Schnittke – sowohl in der Materialbehandlung als auch in der Form – vorliegt. Die dritte Variation in Bergs Kammerkonzert führt das thematische Material im Krebs (Takte 121-150), die vierte Variation in der Krebsumkehrung (Takte 151-180) und die fünfte und letzte Variation schließlich wieder in der Grundgestalt (Takte 181240). In Schnittkes Klavierkonzert sind die Variationen hingegen einerseits wesentlich uneindeutiger strukturiert (an sich nur durch die Instrumentation), andererseits in sich vielschichtiger in Bezug auf das Grundmaterial, die Reihe R1. Eine andere Komposition, die dem Prinzip der entwickelnden Variation gehorcht und nur drei Jahre nach Bergs Konzert entstand, sind Arnold Schönbergs Orchestervariationen op. 31. Schönberg steht mit seiner Variationstechnik in einem interauktorialen Verhältnis zu Johannes Brahms, der aber hier nicht besprochen werden soll. Sie folgt einem dreistufigen Modell, das in „genaue[...] Wiederholungen, modifizierte[...] Wiederholungen sowie entwickelnde[...] Wiederholungen“84 differenziert ist. Um Erkennungsschwierigkeiten vorzubeugen, ist die entwickelte Variante als Neubildung wie folgt definitorisch abgegrenzt:

84

Christian Martin Schmidt, Art. „Schönberg, Arnold“, in: MGG2, Personenteil Bd. 14, Kassel u.a. 2005, Sp. 1626.

Interpretation und ihre Grenzen

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Die durch die entwickelnde Variation gewonnene Neubildung ist somit definiert als eine Ableitung, welche aus einer die strukturelle Substanz der Gestalt betreffenden und im formalen Ablauf der Musik zur Darstellung kommenden Umformung hervorgeht.85

Hiermit wird die Ähnlichkeit zu Schnittkes Musik für Klavier und Kammerorchester offenbar, bei der die Derivate aus der Reihe R1 durch Umformung (z.B. Permutation) derselben oder ihrer Ableitungen (z.B. Abspaltungen) entstehen. In seinem Aufsatz „Komposition mit zwölf Tönen“ in der Sammlung Stil und Gedanke86 gibt Schönberg selbst eine Analyse der Orchestervariationen, auf die an dieser Stelle verwiesen und die in Ausschnitten zitiert sein soll, lässt sich doch daran die Äquivalenz zu Schnittkes Vorgehensweise deutlich erkennen. Schönberg gibt an, dass: […] [d]as Motiv der sechsten Variation [...] aus einer anderen Transposition der UMK [Umkehrung, Anm. d. Verf.] gebildet [ist] (UMK 6). Es ist als kontrapunktische Verbindung zweier melodischer Stimmen komponiert, wobei einige Töne der UMK 6 in der oberen und andere in der unteren Stimme vorkommen. Diese Kombination gestattet eine große Anzahl von Formen, die für jede Anforderung der Variationstechnik Material bereitstellen. Neue Formen ergeben sich aus der Umkehrung beider Stimmen [...] und anderer Veränderungen ihrer Stellung zueinander wie zum Beispiel kanonische Imitation [...].87

Bei einem Blick in die Partitur wird jedoch ersichtlich, dass es das Motiv in der sechsten Variation gar nicht geben kann, denn gleich zu Beginn erscheint das dritte Triplett der Umkehrung (UMK) (Abb. 69) nicht auf der sechsten Stufe, sondern als Umkehrung 3 (Unterterzstufe) in der 1. Flöte, dem Englischhorn sowie dem 1. Fagott. (Abb. 70, Takt 1 1.Fl., EH, 1.Fg.)

Abb. 69: Arnold Schönberg, Orchestervariationen op. 31, Umkehrung 6.

85 86 87

Ebd. Arnold Schönberg, „Komposition mit zwölf Tönen“, in: Arnold Schönberg. Stil und Gedanke, hrsg. von Ivan Vojtěch (= Fischer Taschenbücher 3616), Frankfurt am Main 1992, S. 128–137. Ebd., S. 132.

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Der auktoriale Diskurs

Abb. 70: Arnold Schönberg, Orchestervariationen op. 31, 6. Variation, Beginn.

Ebensolche Varianten, ob aus R1 destilliert und geschichtet oder verfremdet und damit neugebildet, treten auch in Schnittkes Musik für Klavier und Kammerorchester auf, in allen drei Sätzen. Die Vertikalität der Grundreihe in Schönbergs Orchestervariationen kommt bei Schnittke in den Zwölftonfeldern und Zwölftonclustern vor, wenngleich dort die eindeutige Zuschreibung nicht mehr funktioniert bzw. die Felder und Cluster sich nicht mehr zwangsläufig auf eine Grundreihe R1 zurückführen lassen. Schnittke hat hier entweder den dreistufigen Gedanken der entwickelnden Wiederholung auf die Spitze getrieben oder aber den Verlust der Materialzugehörigkeit nicht bedacht. In jedem Fall zeigen die Beispiele Berg und Schönberg den Gedanken der Variation, der Schnittke bei der ‚Programmierung’ seiner Musik vorgelegen haben muss. Christian Möllers gibt jedoch zu bedenken, dass – hiermit lässt sich der Kompositionsansatz Schönbergs mit dem Schnittkes analogisieren –:

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[...] gerade bei Schönbergs Zwölftonwerken [...] die Gestaltung der Reihenverläufe, die dauernd wechselnde Technik der Tonverteilung auf den Satz völlig planlos und beliebig [erscheint], wenn man das Stimmengeflecht als aus der Grundreihe abgeleitet verstehen will. Die Verwirrung klärt sich erst, wenn man die Stücke aus den kompositorischen Traditionen heraus analysiert, an die sie anknüpfen.88

Es wird deutlich, dass Schnittke von Schönberg wohl nicht nur Inspirationen zum Umgang mit einer Zwölftonreihe erhielt, sondern gleichsam den ästhetischen Überbau, innerhalb dessen sich die Variation bei Schönberg entwickelt. Betrachten wir Schnittkes Metapher der Baumstruktur etwas näher, so tritt im interauktorialen Diskurs besonders Anton Webern ins Rampenlicht. Gottfried Eberle gibt an, dass Schnittke im Jahr 1962 an „einer Übersetzung der Schriften Weberns“ gearbeitet und „in dessen Sinn serielle Musik geschrieben“ hatte.89 Ein besonders hervortretendes Merkmal Webernscher Ästhetik ist sein ständiger Bezug zu Johann Wolfgang von Goethe, zum Einen zu dessen Farbenlehre (u.a. in Der Weg zur Neuen Musik), zum Anderen – an dieser Stelle wird die Analogie zu Schnittke deutlich – zu Goethes Idee der sogenannten Urpflanze (u.a. in Der Weg zur Komposition in zwölf Tönen).90 Webern beschreibt in seiner sechsten Vorlesung zum Weg der Komposition in zwölf Tönen, was er unter Goethes Prinzip versteht: Goethes Urpflanze: Die Wurzel ist eigentlich nichts anderes als der Stengel, der Stengel nichts anderes als das Blatt, das Blatt wiederum nichts anderes als die Blüte: Variationen desselben Gedankens.91

Und weiter: Zuletzt hat uns – im Anschluß an Goethes ‚Urpflanze‘ – der ‚andere Weg‘ beschäftigt. Dasselbe Gesetz hat für alles Lebende Geltung: ‚Variationen über ein Thema‘ – das ist die Urform, die allem zugrunde liegt. Etwas, was scheinbar etwas ganz anderes ist, ist eigentlich dasselbe. Der weitestgehende Zusammenhang ergibt sich daraus.92

In einem Brief an Willi Reich vom 23.08.1941 greift Webern die Goethesche Idee erneut auf:

88 89 90

91 92

Christian Möllers, Reihentechnik und musikalische Gestalt bei Arnold Schönberg. Eine Untersuchung zum III. Streichquartett op. 30 (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 17), Wiesbaden 1977, S. 2. Vgl. Gottfried Eberle, „Die Stimme eines Vorsängers im Chor. Zu Alfred Schnittkes Violoncellokonzert“, in: MusikTexte 17 (1999), Heft 78, S. 49. Beide Vortragssammlungen sind enthalten in Anton Webern. Der Weg zur Neuen Musik, hrsg. von Willi Reich, Wien 1960. Vgl. auch Johann Wolfgang von Goethe, (Herzoglich Sachsen-Weimarischen Geheimraths) Versuch die Metamophose der Pflanzen zu erklären, Gotha 1790. Beachten: Es gibt mindestens eine weitere Druckfassung aus demselben Jahr beim selben Verlag, aber in anderem Format mit dem Verfassernamen ‚Göthe‘. Gehalten am 19.02.1932. Reich (Hrsg.), Webern (wie Anm. 90), S. 56. Gehalten am 26.02.1932. Ebd., S. 57.

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Der auktoriale Diskurs

Im Sinne der Goetheschen ‚Urpflanze‘: ‚Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden... Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen.‘ – Ist das nicht im tiefsten der Sinn unseres Reihengesetzes?93

Man muss jedoch anmerken, dass es sich bei Goethes Idee zunächst nicht um das Potential der ‚Erfindung’ neuer Pflanzen aus der einen Urpflanze und damit um eine Perspektive des Anfangs handelt, sondern um eine Perspektive des Endes. Dieses Ende stellt die Entität aller Pflanzen dar, die bereits vorliegen bzw. existieren. Aus dieser Entität wiederum lässt sich, quasi als Rückführung aller Ableitungen, die eine Urpflanze induzieren, die allen Variationen zugrunde liegt. Gleichzeitig sind bei Goethe alle „[…] einzelnen Veränderungen verschiedene Äußerungen des Urorganismus, der in sich selbst die Fähigkeit hat, mannigfache Gestalten anzunehmen [...].“94 Goethe erläutert diese ‚Veränderungen‘ in einem Brief an Johann Gottfried Herder am 17.05.1787: Es war mir aufgegangen, dass in demjenigen Organ der Pflanze, welches wir als Blatt gewöhnlich anzusprechen pflegen, der wahre Proteus verborgen liege, der sich in allen Gestaltungen verstecken und offenbaren könnte.95

In Goethes Denken ist die Urpflanze zunächst sowohl das Abbild aller Pflanzen als auch aller Teile einer Pflanze und damit mehrschichtig. Die Veränderungen der Urpflanze können, wie Webern richtig erkennt, sowohl Stengel, Blatt und Blüte sein, als Derivate der Urpflanze, die dennoch immer die Urpflanze als Ganzes in sich tragen. Weiterhin zitiert Webern die Idee Goethes, das Prinzip der Urpflanze nicht nur als Empirie, sondern gleichzeitig bzw. darüber hinaus als Philosophie zu betrachten, d.h. die Möglichkeit der geistigen Erfindung immer neuer Pflanzen und/oder Pflanzenteile, die sich auf das Modell der Urpflanze zurückführen lassen. Diesen philosophischen Aspekt an Goethes Urpflanze sieht Webern als das der Reihentechnik und mithin dem Prinzip der entwickelnden Variation96 wesentliche analoge Merkmal – „Reihe = Urpflanze!“97

93 94 95

96

97

Brief Anton Weberns an Willi Reich am 23.08.1941. Ebd., S. 68. Rudolf Steiner, „Einleitung in Goethes Naturwissenschaftliche Schriften“, in: Johann Wolfgang von Goethe, Metamorphose der Pflanzen, Stuttgart 1960, S. 16. Aus einem Brief Goethes an Herder vom 17.05.1787, zitiert nach Christoph Michel und HansGeorg Dewitz (Hrsg.), Johann Wolfgang von Goethe. Italienische Reise, Teil 1 (= Johann Wolfgang von Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche 15/1; zugleich Bibliothek deutscher Klassiker 88), Frankfurt am Main 1993, S. 402, Zeile 16–20. „In Goethes Betrachtungen zur ‚Metamorphose der Pflanze‘ über die Idee der Urpflanze findet Webern Analogien zum Variationsprinzip und zum Geheimnis der Metamorphose im Sinne der entwickelnden Variation.“ Karlheinz Essl, Das synthetische Denken bei Anton Webern. Studien zur Musikauffassung des späten Webern unter besonderer Berücksichtigung seiner eigenen Analysen zu op. 28 und 30 (= Wiener Veröffentlichungen zur Musikwissenschaft 24), Tutzing 1991, S. 18. Aus einem Brief Weberns an Berg vom 05.06.1929, zitiert nach Angelika Abel, Die Zwölftontechnik Weberns und Goethes Methodik der Farbenlehre (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 14), Wiesbaden 1982, S. 173.

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Das Verhältnis Weberns zu Goethe ist in Bezug auf die Idee der Urpflanze im Buch von Karlheinz Essl umfangreich und profund dargelegt, weshalb an dieser Stelle auf die Analogie von Weberns Urpflanzen-Idee mit Schnittkes Baumstruktur eingegangen werden soll, bilden doch beide als Begriffe eines jeweils Organischen gegenüber der Dodekaphonie als artifiziellem Kompositionsprinzip scheinbar ein ästhetisches Oxymoron. Iwaschkin bezeichnet den Begriff und das Prinzip der Baumstruktur als „digital code for natural processes“98, was die Verknüpfung dieser Gegensätze mit dem Begriff ‚digital’ als Synonym für ‚artifiziell’ umso mehr verdeutlicht. Andererseits verweist die Erwähnung des Prozesshaften auf das Zeitliche der Musik, so dass hier das Prinzip Baumstruktur auf zwei Ebenen dargestellt wird, die allerdings so nicht kongruent sind: Zum Einen meint Baumstruktur ein plastisches bzw. plastiziertes Modell eines Baumes mit der Grundreihe als Baumstamm und ihren Derivaten als Äste, Zweige, Blätter etc. Andererseits ist Musik als zeitliches Phänomen (auf der Ebene der In-Klang-Setzung) ein Analogum zum Organischen als Metamorphose, so dass aus dem Baumstamm (der mit der Vorstellung der Grundreihe eher ‚entstanden’ als gewachsen ist) nun peu à peu Äste und Zweige wachsen, die Blätter tragen und verlieren. Hier allerdings hinkt die Analogie sowohl der Baumstruktur als auch der Urpflanzen-Idee, denn Äste entstehen aus Zweigen und Blätter wachsen erst aus den Zweigen, wenn diese bereits aus den Ästen, die vorher Zweige waren, gewachsen sind. Das hätte zur Folge, dass simultanes Erklingen von unterschiedlichen Derivaten aus einer Grundreihe weder bei Webern noch bei Schnittke möglich wäre, da sonst das Baum- bzw. Pflanzenprinzip als organischer Prozess nicht funktionierte. Somit beschränkt sich die Analogisierung des Kompositionsgedankens der Baumstruktur und der Urpflanzen-Idee sowohl auf der notentextlichen als auch auf der klanglichen Ebene auf ein Darstellungsmodell. Zu Beginn dieses Kapitels wurde der Besuch Luigi Nonos in Moskau im Jahr 1963 erwähnt. Nono traf dort mit jungen Komponisten zusammen, u.a. auch mit Alfred Schnittke, der den Einfluss Nonos auf sein dodekaphones Schaffen selbst bestätigt: 1964 [das stimmt nicht, es war im Oktober 1963, Anm. d. Verf.] war zum ersten Mal Luigi Nono im Lande. Das hatte einen so großen Einfluß. Es hat alle äußerst beeindruckt. Es war zum ersten Mal ein Komponist der Avantgarde-Entwicklung live da. Er war so spontan und so menschlich, daß alle Beschuldigungen gegen die Avantgarde ihren Sinn sofort verloren hatten. Durch ihn kam es zu brieflichen Kontakten mit Stockhausen, Boulez und Henri Pousseur[.] […] Dann entstanden Kontakte zu György Ligeti und seinem Biographen Ode Norwall, ein brieflicher Kontakt und es kamen damit auch Noten.99

98 99

Ivashkin [Iwaschkin], Alfred Schnittke (wie Anm. 2), S. 89. Alfred Schnittke zitiert nach Wolfgang Gratzer, „(K)eine Vorbereitung auf den Sozialismus. Zur Mozart-Rezeption in jüngerer sowjetischer Musik“, in: Mozart in der Musik des 20. Jahrhunderts. Formen ästhetischer und kompositionstechnischer Rezeption, hrsg. von Wolfgang Gratzer und Siegfried Mauser (= Schriften zur musikalischen Hermeneutik 2), Laaber 1992, S. 249.

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Der auktoriale Diskurs

Nonos Abkehr vom sogenannten ‚Darmstädter Kurs’, der hier nur ein paar Jahre zurückliegt, offenbart den späteren – in gewissem Sinne weiterentwickelten – Kompositionsansatz Schnittkes, Musik und musikalisches Material als historisch zu betrachten und abseits serieller ‚Trends’ eine allumfassende Musiksprache zu suchen. Insofern zeichnet Schnittke Nonos ästhetischen Weg der 1950er Jahr in den 1960er Jahren nach. Gleichwohl geht er den Umweg über die Musik, die zuvor in der Sowjetunion unerwünscht und deshalb kaum erhältlich war: Werke von Schönberg, Berg, Webern, Nono etc. Konnte der stilistische Ort Schnittkes als Komponist um das Jahr 1960 herum als gemäßigt modern beschrieben werden, so zeichnet sich nach der Begegnung mit westlicher dodekaphoner und serieller Musik sowie mit avantgardistischen Musikanschauungen ein Wandel in Schnittkes Materialbehandlung ab. Man kann fragen, ob Schnittke bereits zu diesem Zeitpunkt, wie in biograph(ist)ischen Zuschreibungen immer wieder kolportiert wird, eben diesen historisch offenen Kompositionsansatz bereits antizipiert hat oder ob, reziprok zu Nonos „perspektivischem Kontinuum“100, Schnittkes dodekaphone Phase (von dieser können wir um das Jahr 1964 herum sprechen) ein ‚retrospektives Kontinuum’ war, denn Schönbergs, Weberns und Bergs entwickelnde Variation lagen zeitlich ebenso weit zurück wie Nonos Erkenntnisse aus den 1950er Jahren. Andererseits zeigt ein Blick in die die Musik für Klavier und Kammerorchester umgebenden Werke, vor allem aber die dem Klavierkonzert vorangehende streng dodekaphon organisierte und Allusionen an historische Formvorbilder negierende Musik für Kammerorchester, dass das Einbetten dodekaphoner Reihen und deren Derivate in ein traditionelles Formenkorsett, wie es eben in der Musik für Klavier und Kammerorchester geschieht, möglicherweise doch die Keimzelle der späteren Polystilistik und der historisch offenen Kompositionsweise Schnittkes darstellt, dass also das retrospektive Kontinuum zumindest an dieser Komposition bereits ein Rekursum ist und als ästhetische Herangehensweise, ähnlich wie es Nono in den 1950er Jahren als Perspektivum antizipiert hat, nicht zu etwas zurückkehrt, sondern aus etwas Neuem als Perspektive ein Kontinuum konstituiert. Schnittke beginnt, etwas für ihn Neues mit etwas für ihn Altem zu verbinden, wobei das Neue an sich nicht mehr neu war, sondern, im Falle der entwickelnden Variation Bergs und Weberns, zum Teil mehrere Jahrzehnte zurücklag.101 Stefan Kisielewskis Begriffe der Brücke, Synthese und Begegnung102 sind deshalb für die Kompositions voll zutreffende Werkbeschreibungen. Insofern ist das retrospektive Rekursum ein Pleonasmus, der sich allerdings auf zwei Ebenen konstituiert und zum Einen dem stilistischen Palimpsest eine neue 100 Friedrich Spangemacher, „Luigi Nono: Vom Canto sospeso zur Intolleranza 1960”, in: Die Musik Luigi Nonos, hrsg. von Otto Kolleritsch (= Studien zur Wertungsforschung 24), Wien 1991, S. 58. 101 Deshalb müssen, auch vor dem Hintergrund des unmittelbaren Erkennens dieses Rekursums durch Kisielewski, Dorota Kryspins Äußerungen über Schnittkes angeblich „geschichtsvergessenes Spielen und Experimentieren mit Klängen (1963-1967)“ kritisch betrachtet werden. Vgl. Dorota Kryspin, „Alfred Schnittke – Integrierte Musikwelt“, in: Österreichische Musikzeitung 49 (1994), Heft 11, S. 689. 102 Vgl. Anm. 79.

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Ebene hinzufügt (Dodekaphonie), gleichzeitig aber eine andere Ebene wieder frei kratzt, die vorher schon vorhanden, aber in der Zwischenzeit überdeckt war (Form). Das Palimpsest, die Stilistik Schnittkes an der Musik für Klavier und Kammerorchester, wird durch die Berücksichtigung interauktorialer Aspekte zum Teil eines größeren Palimpsests, das die Stilistik der Musikgeschichte allgemein darstellt, in der unterschiedliche Komponisten unterschiedliche Stile mal überdecken, mal freilegen, Neues hinzufügen oder zu Altem zurückkehren, so dass sich auf diesem großen Palimpsest viele kleinere Palimpseste der einzelnen Komponisten überlagern, sich gegenseitig bedecken oder freilegen. Schnittkes stilistischer Ort an seinem zweiten Klavierkonzert verweist bereits auf etwas, das in den folgenden Jahren zu seinem hauptsächlichen Kompositionsansatz werden wird: Das Collagieren unterschiedlicher Stile, Zitate aus Werken der Vergangenheit, aus Stilen, Epochen, Gattungen und Quasizitate als Allusionen an eben diese musikalischen Konstituenten. Schnittke nennt diese Art der interauktorialen bzw. intertextuellen Collage Polystilistik, da sie nicht einfach bloßes Zusammenwürfeln unterschiedlicher Stile ist, sondern einem Konzept folgt, das aus eben diesen vielfältigen Elementen einen neuen, universalen Stil erschaffen soll. Die Analyse der Musik für Klavier und Kammerorchester sowie deren Diskussion im Kontext der Interauktorialität hat gezeigt, dass diese Form des Komponierens bereits in diesen Jahren ihren Anfang nimmt, bedingt durch eine politische und ästhetische Öffnung der Sowjetunion gegenüber westlichen avantgardistischen Strömungen, die jedoch für Schnittke schon bald zu einem „niedergetretenen Cliche [sic!]“103 werden sollten. 2.1.3 Konzert für Klavier und Streicher Die Lokalisierung interauktorialer Momente in Schnittkes Stil im dritten Klavierkonzert gestaltet sich etwas schwieriger als diejenige in den vorangehenden Kompositionen, nicht nur deshalb, da zwischen der Musik für Klavier und Kammerorchester und dem Konzert für Klavier und Streicher knapp 15 Jahre liegen, in denen Schnittke zu einem der berühmtesten zeitgenössischen sowjetischen Komponisten herangereift war. Auch aufgrund seiner zahlreichen Aufsätze und Vorträge zu Komponisten, Strömungen und Werken sowie der Äußerungen zu seinen in der Zwischenzeit entstandenen Kompositionen ist die Verortung eindeutiger interauktorialer Verweise schwierig. Darüber hinaus zählen mehrere der in diesen Jahren entstandenen Kompositionen zu Schnittkes Hauptwerken, so u.a. die Violinsonate Nr. 2 Quasi una Sonata aus dem Jahr 1968104, die Symphonie Nr. 1 aus den Jahren 1969-72, das Klavierquintett 103 Aus einem Brief Alfred Schnittkes an Tilo Medek vom 16.11.1968, in: „Sei mir nicht böse für mein langes Schweigen“. Der Briefwechsel zwischen Alfred Schnittke und Tilo Medek (1968-1989), hrsg. von Achim Hofer, Mainz 2010, S. 41. 104 Über die Quasi una sonata hat Schnittke an Tilo Medek geschrieben: „Ich entdeckte den verminderten Septakkord und den g-moll-Dreiklang, entdeckte ostinato und sogar ein fugato. Wäre ich nicht 34 Jahre alt […], würde ich jetzt op. 1 notieren.“ Aus einem Brief Alfred Schnittkes an Tilo Medek vom 05.05.1969, in: ebd., S. 53.

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Der auktoriale Diskurs

(1972-76) sowie die Symphonie Nr. 2 St. Florian aus dem Jahr 1979, dem Jahr, in dem auch das dritte Klavierkonzert entstand. Alexander Iwaschkin trennt in seiner Schnittke-Biographie diese 15 Jahre in zwei stilistische Abschnitte: „Towards a New Style“ (1964-1972) und „Velvet Depth of Meaning“ (1972-1979). Die Anspielung auf die Symphonie Nr. 1 als Spiegelachse dieser Abschnittsbildung ist eindeutig. Zweifellos ist Schnittkes erste Symphonie in seiner Stilaussage prägnant für das, was in den kommenden Jahren bis Ende der 1980er Jahre für ihn maßgeblich sein wird: Das Komponieren in unterschiedlichen Epochen und Stilen, die sogenannte Polystilistik. Der Begriff der Polystilistik geht offiziell zurück auf einen Vortrag Schnittkes aus dem Jahr 1971 mit dem Titel „Polistilističeskie tendencii v sovremmenoj muzyke“ [Polystilistische Tendenzen in der modernen Musik].105 In diesem Vortrag benennt Schnittke mehrere Komponisten und bestimmte Werke, die er zu dieser Form der Collage-Technik hinzuzählt, u.a. Krzysztof Pendereckis Stabat Mater, Karlheinz Stockhausens Hymnen als „Supercollage-Mosaik“106, Igor Strawinskis Pulcinella, Rodion Schtschedrins [Ščedrin] Carmen Suite, Henri Pousseurs Oper Votre Faust und nicht zuletzt Luciano Berios Sinfonia, auf die Schnittke in seinem Aufsatz mehrfach verweist. Tatsächlich benutzt Schnittke den Begriff ‚polystilistisch‘ bereits knapp drei Jahre zuvor in einem Brief an den Komponisten Tilo Medek.107 Als wesentliche Kriterien polystilistischen Komponierens nennt Schnittke zwei Prinzipien, die er für konstituierend hält, aber als zwei unterschiedliche Parameter der Collage verstanden wissen will: Zitat und Allusion. Es soll zwar an dieser Stelle Schnittkes Aufsatz nicht seziert und wiederholt werden, jedoch weist diese kurze Referenz dazu auf die vorliegende Komposition, die in genau diesem Polystil komponiert ist. Iwaschkins Gliederung dieser Jahre offenbart deshalb auch seine Perspektive auf Schnittkes Stil der Zeit: Die Entwicklung hin zur Polystilistik dauert von 1964 bis 1972 bzw. bis zur Uraufführung der Symphonie Nr. 1, die Jahre danach sind geprägt von eben dieser Stilistik in Schnittkes Werken, die Iwaschkin an anderer Stelle mit der Zuschreibung der „Faustischen Mehrdeutigkeit“108 kennzeichnet und damit weniger Materialverwendung im Musikalischen meint denn Materialausdeutung im hermeneutischen Kontext. 105 Al’fred Šnitke [Alfred Schnittke], „Polistilističeskie tendencii v sovremmenoj muzyke“ [Polystilistische Tendenzen in der modernen Musik], in: Muzyka v SSSR 5 (1988), Heft 2, S. 22–24. Eine Erörterung dieses Vortrags erschien jedoch schon eher im entsprechenden Kongressbericht. Vgl. Muzykal’nye kul’tury narodov (Nacion. muz. Komitet SSSR. Meždunar. muz. Kongress. VII Intern. Music Congress. 6-9 okt. 1971 g., Moskva). Tradicii i sovremennost’ [Musikalische Kulturen der Völker (Nation. Mus. Komitee der UdSSR. Internation. mus. Kongress. VII Intern. Music Congress 6.-9. Okt. 1971, Moskau). Tradition und Gegenwart], hrsg. von Boris Jarustovskij [Jarustowski] (Red.), Moskau 1973, S. 289–291. 106 Alfred Schnittke, „Polystilistische Tendenzen in der modernen Musik“, aus dem Russischen übersetzt von Irene Ueberwolf, in: ders., Über das Leben und die Musik. Gespräche mit Alexander Iwaschkin, München und Düsseldorf 1998, S. 184. 107 Vgl. den Brief Schnittkes an Medek vom 16.11.1968, in: Hofer (Hrsg.), Briefwechsel (wie Anm. 103), S. 41. 108 Alexander Iwaschkin, „Die Faustische Mehrdeutigkeit in Alfred Schnittkes Musik“, in: Köchel (Red.), Schnittke zum 60. Geburtstag (wie Anm. 1), S. 60–62.

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Unklar ist Iwaschkins Betitelung des folgenden Schaffensabschnitts von 1979 bis 1985, den er mit „A Christian Composing“ überschreibt. Zwar verweist Schnittkes Untertitel seiner zweiten Symphonie St. Florian ebenso wie das Sujet der vierten Symphonie auf einen religiösen Überbau des thematischen Materials. Andererseits entstehen zwischen 1972 und 1979 das religiös motivierte Klavierquintett und dessen Orchesterfassung In Memoriam, außerdem das Requiem (1975), der Sonnengesang des Franz von Assisi (1976), Stille Nacht für Violine und Klavier nach dem gleichnamigen Kirchenlied (1978) sowie weitere In-Memoriam-Kompositionen (u.a. für Dmitri Schostakowitsch (1976) sowie als Hommage à Igor Strawinsky, Sergej Prokofjew und Dmitri Schostakowitsch für Klavier zu sechs Händen (1979)), so dass bereits in diesen Jahren religiöse und sogar christliche Sujets in Schnittkes Werk Verwendung finden. Gleichzeitig durchdringen andere Topoi diese beiden Phasen, u.a. in der Nutzung von Zitaten und Allusionen, wodurch die Frage nach dem Sinn dieser von Iwaschkin vorgenommenen Untergliederung verstärkt wird. Außerdem beschäftigt sich Schnittke spätestens seit der Quasi una Sonata verstärkt mit dem klassischen Erbe, was mit Werken wie der Suite im alten Stil (1972), Moz-Art à la Haydn (1977) und Moz-Art (1980), aber auch der Pantomime (1975) nach Mozarts Fragment KV416d und dem Concerto grosso Nr. 1 aus dem Jahr 1977 deutlich wird. Es zeigt sich bereits an dieser Stelle, dass wir es im Jahr 1979 nicht nur mit einem Polystil auf der Materialebene zu tun haben, sondern ebenso mit heterogenen Stilzuschreibungen auf der ästhetischen Ebene, die für einen interauktorialen Interpretationsansatz opportun sind. Bevor auf die potenziellen interauktorialen Einflüsse auf Schnittkes Kompositionsstil dieser Zeit eingegangen wird, sollen zunächst die Kompositionen näher betrachtet werden, die in unmittelbarer Nachbarschaft zum Klavierkonzert stehen: die Symphonie Nr. 2 St. Florian und die Hommage à Igor Strawinsky, Sergej Prokofjew und Dmitri Schostakowitsch. Damit nähern wir uns dem Phänomen der Interauktorialität am dritten Klavierkonzert über zwei Umwege, was impliziert, dass eben diese Interauktorialität nicht kompositionsbezogen sein muss, sondern stilbildend sein kann, wenn sie an mehreren Kompositionen auftritt. Zunächst lässt sich feststellen, dass in der Hommage die Geschlossenheit der Form ebenso besteht wie im Klavierkonzert, wenn die Hauptmotive, die den drei Komponisten zugeordnet sind, am Ende wiederkehren. Gleichzeitig werden alle drei Schlussakkorde zusammengeführt und im Verklingen in C-Dur aufgelöst. (Abb. 71)

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Abb. 71: Alfred Schnittke, Hommage à Igor Strawinsky, Sergej Prokofjew und Dmitri Schostakowitsch, Schluss.

Damit kehrt Schnittke zu etwas zurück, was bereits am Anfang seines kompositorischen Schaffens stilbildend war und nun eine Brücke schlägt zu eben dieser Zeit, nämlich die Rückkehr zu grundlegend thematischem Material im Finale einer Komposition: Die Idee des geschlossenen Kreises, genauer gesagt, der Windung der Spirale, ist in allen wichtigsten Werken Schnittkes präsent. So kehrt die ‚Hauptfigur’ seiner Instrumentalkonzerte (gerade in diesem Genre sind die Kollisionen der Konfliktsphären wohl am schärfsten) am Ende des ‚Weges’ unbedingt zu dem Ursprünglichen, dem Hauptsächlichen zurück, um ihm einen neuen Sinn zu geben.109

In der Partituranalyse des Konzertes für Klavier und Orchester wurde an mehreren Stellen darauf hingewiesen. Die in Kapitel II.2.1 definierte stilistische Palimpsestierung tritt damit auch hier wieder zum Vorschein und legt bestimmte Bereich von Stilistik offen, die Teilaspekte der historischen Zuordnung, wie etwa die entwickelnde Variation an der Musik für Klavier und Kammerorchester, ausblendet, dafür aber ältere Charakteristika wie die eben beschriebene Rückkehr zu themati-

109 Schnittke, Leben (wie Anm. 106), S. 16.

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schem Material erneut offenbart und damit zur historischen Transparenz der Stilzuschreibung Alfred Schnittkes beiträgt. In ähnlicher Weise wie in der Hommage verfährt Schnittke auch in den Symphonien Nr. 2 und 3, wobei letztere hier nicht Gegenstand der Betrachtung sein soll. Eine konkrete Verbindung zwischen der Symphonie und Schnittkes drittem Klavierkonzert ergibt sich aus der Tatsache, dass der Untertitel St. Florian als Referenz an Anton Bruckners Wirkstätte gedacht ist und mit dem Aufbau als Messe Allusionen an dessen Requiem von 1849 beinhaltet. Demgegenüber steht ein Zitat aus Bruckners Symphonie Nr. 7 im Klavierkonzert, das in den beiden Höhepunkten in den Streichern erklingt und damit eine ausgewiesene und exponierte Referenz an Bruckner darstellt. (Abb. 72/1 und 72/2)

Abb. 72/1: Anton Bruckner, Symphonie Nr. 7, 2. Satz, Takte 4 und 5.

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Der auktoriale Diskurs

Abb. 72/2: Alfred Schnittke, Konzert für Klavier und Streicher, Takte 57 und 58.

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Die bei Bruckner erreichte Konsonanz wird in Schnittkes Klavierkonzert durch das Klavier simultan gestört, so dass ein Weitergehen, wie bei Bruckner in den Dominantseptakkord, unmöglich wird. Es zeichnet sich ab, dass Schnittke sich gleich an mehreren Kompositionen des Jahres 1979 in einem interauktorialen Verhältnis zu Anton Bruckner befindet – in der zweiten Symphonie auf der Paratextebene des Titels sowie auf der Ebene der Stilistik, im dritten Klavierkonzert auf der Ebene der In-Klang-Setzung, durch die das Zitat erst erkennbar wird. Allerdings gibt es über diese eher hermeneutischen Gemeinsamkeiten hinaus wenige rein musikalische Interreferenzen zwischen den drei betrachteten Kompositionen bis auf eine, die die Symphonie Nr. 2 und das dritte Klavierkonzert mit der Hommage verbindet und somit möglicherweise Rückschlüsse auf Schnittkes Tonsprache im Jahr 1979 zulässt: Alle drei Kompositionen schließen mit einem Akkord über C – dem Ton, mit dem auch der Finalsatz von Schnittkes erster Symphonie endet. Der Schlussakkord seiner zweiten Symphonie besteht aus Terzschichtungen über C, die Hommage endet mit einem Akkord-Cluster, aus dem im Verklingen beim Heben des Pedals ein C-Dur-Akkord hervortritt und das Konzert für Klavier und Streicher endet ebenso mit einem Akkord-Cluster über C in den Streichern, das allerdings nicht aufgelöst wird, sondern als solches verklingt. Hinzu kommt der Fakt, dass das Klavierkonzert in c-Moll beginnt. So undeutlich die Zugehörigkeit zur C-Skala in der Symphonie und im Klavierkonzert auf der auditiven Ebene ist, so klar tritt sie auf der notentextlichen Werkebene hervor und lässt die Frage aufkeimen, welche Bedeutung die Grundlegung von C im Finale aller drei Kompositionen hat. Am deutlichsten lässt sich diese Frage an der Hommage stellen. Kann es sein, dass Schnittke hier – und möglicherweise auch in den beiden anderen Kompositionen – auf den ‚alten Hut‘ der Tonartencharakteristik anspielt? Soll die Hommage „glänzend, strahlend, festlich“ enden oder vielleicht „weihevoll“ und „majestätisch“?110 Oder steht das C-Dur als Tonart ohne schwarze Tasten für das ‚Weiße’, also das Reine und Unschuldige?111 Welche Eintrübung erfährt dann die Terzschichtung in der Symphonie St. Florian? In Anspielung auf das nächste Unterkapitel dieser Abhandlung könnte man dem C die göttliche Reinheit und der Terzschichtung die Trinitätsentfaltung zuschreiben. Ist damit die Grenze der Interpretation bereits überschritten und begibt man sich auf das esoterische Glatteis des Biographismus, noch dazu, als sich die Idee der C-Gebundenheit im Finalakkord seit 1972 (Symphonie Nr. 1)112 gehalten hat? Im Klavierkonzert stellt sich überdies die Frage nach einer eindeutigen hermeneutischen Zuweisung, da wir es zum Einen mit dem ‚Grundton’ C (zumindest in den Kontrabässen) zu tun haben, sich darüber aber in den Violinen ein Zwölfton110 Paul Mies, Der Charakter der Tonarten. Eine Untersuchung, Köln und Krefeld 1935, S. 28. 111 Schnittke selbst bezeichnet den C-Dur-Akkord als eine ‚Naturerscheinung‘. Vgl. Schnittke, Leben (wie Anm. 106), S. 175. 112 „[E]s [ist] mir […] gelungen[,] das Finale der Sinfonie (‚Sinfonie C-dur!!!‘) zu Ende [zu] bringen […].“ Brief Alfred Schnittkes an Tilo Medek vom 02.09.1972, in: Hofer (Hrsg.), Briefwechsel (wie Anm. 103), S. 76.

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Cluster aufbaut (mit b1 und ais1 auf der notentextlichen Ebene sogar ein 13-TonCluster), über dem das Klavier den Ton gis’’ repetiert und damit zum ‚Grundton’ C im Intervall der übermäßigen Quinte spielt. Es scheint in der Tat ein Zusammenhang zwischen den drei Kompositionen in Bezug auf deren Finalakkorde bzw. -cluster zu bestehen. Ob dieser allerdings im Sinne der Tonartencharakteristik interpretiert werden kann, ist fraglich, zumal die Charakterzuschreibung einer Tonart erstens in sich differiert, abhängig von der Zeit, in der dazu Aussagen gemacht wurden, zweitens, zumindest gilt das für die Symphonie und das Klavierkonzert, keine Unterscheidung zwischen C-Dur und c-Moll gemacht werden kann, der Charakter beider Tonarten jedoch weit auseinander klafft und somit eine Zuschreibung zugunsten der einen oder der anderen Tonart a priori unmöglich ist.113 Wenn man von Polystilistik spricht, so muss auch einen Bereich in Schnittkes Schaffen beleuchtet werden, der ihm schon ab 1962 über viele Jahre ein Einkommen sicherte: Die Gattung der Filmmusik, die sich erst allmählich auf das Schaffen Schnittkes auswirkte, weshalb bei der Betrachtung der Musik für Klavier und Kammerorchester aus dem Jahr 1964 dieser Aspekt außen vorgelassen wurde. He [Schnittke] first became widely known in the West during the 1970s as a shadowy, semiunderground figure who divided his time between writing utilitarian film scores for a livelihood and unperformable masterworks ‘for the drawer’.114

Richard Taruskins hier zitierte Aussage lässt sich in der Form eigentlich gar nicht halten, denn für die ‚Schublade’ waren Schnittkes Kompositionen gewiss nicht, auch wenn z.B. seine Symphonie Nr. 1 nicht in Moskau, sondern im entlegenen Gorki uraufgeführt wurde. Dennoch zeigt diese vordergründige Trennung die unabdingbare Durchdringung beider Genres. Gerade in der Gattung der Filmmusik offenbart sich aber der Zwang, den Grat zwischen Banalität und künstlerischer Freiheit zu finden, auf dem sich das Auskomponieren visueller Sequenzen immer bewegen muss. Ob als Mickey-MousingTechnik oder Klangfläche, ständig muss die Musik das transportieren, was das Bild allein nur schwer aussagen kann, muss Stimmungen erzeugen, ohne kitschig zu sein, oder eben gerade das. In der Musik zum Film Kleine Tragödien (1978/79) begegnen uns Walzer, Polka, ein Lieder-Marsch und eine Barcarolle, die sich sowohl in ihrer Gestik als auch in der Besetzung an die Polystilistik in Schnittkes ‚ernsten’ Werken anlehnen. Auch wenn sich kein direkter Materialbezug zum Konzert für Klavier und Streicher feststellen lässt, so weist der Umgang mit Material aus solchen ‚Alltagsgattungen’ Parallelen zwischen Schnittkes Arbeit für den Film und seinem polystilisti113 Vgl. hierzu Mies, Der Charakter der Tonarten (wie Anm. 110); Wolfgang Auhagen, Studien zur Tonartencharakteristik in theoretischen Schriften und Kompositionen vom späten 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (= Europäische Hochschulschriften 36; Musikwissenschaft 6), Frankfurt am Main u.a. 1983; Sigismund von Gleich, Über die Wirkung der Tonarten in der Musik, Stuttgart 1993 sowie Jörg Jewanski, Ist C = Rot? Eine Kultur- und Wissenschaftsgeschichte zum Problem der wechselseitigen Beziehung zwischen Ton und Farbe. Von Aristoteles bis Goethe (= Berliner Musik-Studien 17), Sinzig 1999. 114 Richard Taruskin, Defining Russia Musically. Historical and Hermeneutical Essays, Princeton 1997, S. 99.

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schen Ansatz im vorliegenden Klavierkonzert auf. Schnittkes Œuvre für den Film wartet immer noch auf eine eingehende Betrachtung, sind doch knapp ein Viertel seines Gesamtwerkes Filmmusiken.115 Es wäre ein äußerst ergiebiges Unterfangen, diese Werke, sowohl als Partitur als auch In-Klang-Setzungen, den sogenannten ‚ernsten’ Kompositionen, den Symphonien, Concerti grossi, Solokonzerten und Kammermusikwerken gegenüberzustellen, ganz zu schweigen von seinen Opern, Balletten und geistlichen Werken, um über die gegenseitigen Wechselbeziehungen ein konkreteres Bild vom Schaffen Schnittkes zu erlangen. In dem bereits zitierten Aufsatz „Polystilistische Tendenzen in der modernen Musik“ benennt Schnittke Schostakowitsch und dessen Klaviertrio op. 67 und spricht es dem neoklassizistischen Allusionsprinzip zu, was an mehreren Stellen dieses Werkes belegbar ist. Schostakowitschs polystilistisches Arbeiten wurde bisher noch nicht ausführlich erforscht, jedoch zeigen viele Kompositionen (u.a. die Oper Lady Macbeth von Mzensk, fast alle Symphonien und sogar Filmmusik wie die Musik zum Stummfilm Das neue Babylon) Zitate und Allusionen auf, die Marco Frei als „Fremdreferenzialität“116 bezeichnet. Diese Fremdreferenzialität ist auch im dritten Klavierkonzert Schnittkes verifizierbar, verweist aber gleichzeitig auf andere Komponisten, die Schnittke in seinem Polystilistik-Aufsatz nennt. In seinen Gesprächen mit Alexander Iwaschkin bezeichnet Schnittke Gustav Mahler und Charles Ives als erste Komponisten im 20. Jahrhundert, die polystilistisch komponierten.117 In einem Interview mit Georg Borchardt im Jahr 1993 bemerkt Schnittke: Ich sehe den Anfang der Polystilistik bei Mahler in der Ersten Symphonie im dritten Satz in diesem Kanon – das scheint mir eine […] Gleichzeitigkeit von Ernst und Spott zu sein – eine Beerdigungsstimmung, die einige Male ganz unerwartet in etwas anderes umschlägt. Das hat mich schon beim ersten Hören beeindruckt, und ich bin immer noch unter diesem Eindruck.118

Auch wenn dieses Zitat aus dem Jahr 1993 stammt, so geht Schnittkes Bekanntschaft mit der Musik Mahlers bis in die 1950er Jahre zurück.119 Interessanterweise hatte Mahlers Ästhetik zu dieser Zeit keinen Widerhall in Schnittkes Schaffen gefunden. Dafür steht jene umso deutlicher im Fokus im Umfeld sowohl des dritten als auch des vierten Klavierkonzertes, wie noch zu klären sein wird, denn im Jahr 1988 kom115 Erste Arbeiten hierzu liefern Steffen Georgi, „Zwischen allen Stilen – Alfred Schnittke, der Filmkomponist“ und Michael Baumgartner, „Partisanenparabel / Passionsmusik: Alfred Schnittkes Filmmusik zu Larissa Schepitkos Die Erhöhung“, in: Flechsig und Storch (Hrsg.), Alfred Schnittke (wie Anm. 79), S. 174–194 bzw. S. 195–219. 116 Marco Frei, „Chaos statt Musik“. Dmitri Schostakowitsch, die Prawda-Kampagne von 1936 bis 1938 und der Sozialistische Realismus, Saarbrücken 2006, S. 195. 117 Schnittke, Leben (wie Anm. 106), S. 183. 118 Georg Borchardt, „Alfred Schnittke und Gustav Mahler“, in: Gustav Mahler. „Meine Zeit wird kommen“. Aspekte der Mahler-Rezeption, hrsg. von Georg Borchardt (Red.) (= Schriftenreihe der GustavMahler-Vereinigung Hamburg 1), Hamburg 1996, S. 61. 119 Vgl. ebd., S. 62.

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poniert Schnittke auch das Klavierquartett nach zwei Fragmenten für Klavierquartett von Mahler sowie die Symphonie Nr. 5, die gleichzeitig das Concerto grosso Nr. 4 und eine intensive Auseinandersetzung mit Mahlers Klavierquartett-Fragmenten ist. Wie viel Mahler steckt dann auch im Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester? Schnittke selbst nennt im Jahr 1984, knapp fünf Jahre nach Entstehen des Konzertes für Klavier und Streicher, Mahler als einen wesentlichen Einfluss auf seine polystilistische Denkweise: Von da an [ungefähr 1968, Anm. d. Verf.] und bis heute ist und bleibt Mahler für mich in diesem Sinne eine Zentralfigur, weil er es ähnlich wie Tschaikowski, aber noch viel kühner, gewagt hat, über den Purismus in Ästhetik und Technik hinwegzuschreiten. [...] Mahler ist nach wie vor die Zentralfigur in der Musik des 20. Jahrhunderts, wenngleich seine direkte Einflussnahme möglicherweise schon längst aufgehört hat. Und noch fühle ich mich zu Komponisten hingezogen, die sich mit allen möglichen stilistischen Synthesen oder Gegenüberstellungen beschäftigen, wie beispielsweise [Charles] Ives oder auch seit relativ kurzer Zeit B[ernd] A[lois] Zimmermann.120

Und weiter: [Alexander Iwaschkin:] Deine [Schnittkes] Musik weist sehr viele gemeinsame Züge mit Mahler auf. Hättest du dich mit ihm identifizieren können? A[lfred].S[chnittke]. Nein. Ich wünschte mir sehr, viel Gemeinsames mit ihm zu haben. Doch für mich ist Mahler eine derart große Figur, daß ich es nie wagen würde, mich an ihm zu messen.121

Der Nachweis für Mahlers Einfluss auf Schnittkes Ästhetik dieser Zeit ließ sich bereits erbringen. Interessanterweise hält er bis 1988 und darüber hinaus (etwa in den Symphonien Nr. 7 (1993) und Nr. 8 (1994), wobei hier auch Bruckner eine Rolle spielt) vor, was die Frage aufwirft, inwieweit Interauktorialität an einem bestimmten Werk zu einer permanenten Interauktorialität auf der allgemein ästhetischen Ebene des Kompositionsansatzes Schnittkes wird. Diese Frage ließe sich ebenso stellen bei Schostakowitsch, der einen unmittelbaren Werkeinfluss auf den jungen Studenten Schnittke innehatte (was u.a. an der Urfassung des Violinkonzertes Nr. 1 von Schnittke im direkten Vergleich mit Schostakowitschs Violinkonzert Nr. 1 op. 77 (bzw. op. 99) verifizierbar ist), später aber mehr und mehr zu einer allgemein ästhetischen Inspirationsquelle wurde. Darüber hinaus tritt auf der musikästhetischen Ebene erneut – und diesmal eindeutig – Paul Hindemith als geistiger Mentor auf, dessen Versuch, die sogenannte ernste Musik mit der Unterhaltungsmusik zu vereinen, von Schnittke adaptiert wurde:

120 Aus einem Interview mit Nana Schachnasarowa und Gregori Golowinski. Zitiert nach Schnittke, Leben (wie Anm. 106), S. 193. 121 Ebd., S. 241.

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Es ist eines meiner Lebensziele [...], den Graben zwischen ernster und unterhaltender Musik zu überwinden, und wenn es mir den Hals bricht.122

Eine weitere dauerhafte Inspirationsquelle schien für Schnittke Johann Sebastian Bach zu sein: Ich kann nicht sagen, wer von den deutschen Komponisten mich am stärksten beeinflußt hat. Vielleicht Berg. Vor ihm Mahler. Aus der Vergangenheit Schubert und in gewissem Maße Mozart. Und als fernes, unerreichbares Ideal Bach. Bach bildet für mich den Mittelpunkt von allem.123

Und weiter: Nehmen wir doch nur Bach, mein großes Vorbild. Ich werde Bach doch nicht nachahmen…124

Dass auch Wolfgang Amadeus Mozart eine dauerhafte inspirative Rolle für Schnittke spielte, lässt sich nicht nur an der Anlehnung an klassische Formvorgaben im dritten Klavierkonzert, sondern auch an der Reihe der Moz-Art-Kompositionen ablesen. Dennoch steht der Bezug zu Bach auf einem höheren Niveau, da die interauktoriale Referenz eine eindeutigere Zuschreibung im autorisierenden Sinne Gadamers ist als die Spielerei mit Mozarts Namen. Im Konzert für Klavier und Streicher bewahrheitet sich dieses interauktoriale Verhältnis durch das transponierte B-A-C-H-Motiv am Ende des Konzertes. (Abb. 73)

Abb. 73: Alfred Schnittke, Konzert für Klavier und Streicher, transponiertes B-A-C-H-Motiv, Takte 412-415.

Dieses Motiv taucht nicht nur hier auf, sondern in vielen Werken Schnittkes, u.a. – ebenfalls am Ende – in der Symphonie Nr. 3 sowie als Grundthema eines Walzers

122 Schnittke zitiert nach Alexander Iwaschkin, „‚...und wenn es mir den Hals bricht.‘ Zum Gedenken an Alfred Schnittke“, in: MusikTexte (wie Anm. 89), S. 27. 123 Schnittke, Leben (wie Anm. 106), S. 50. 124 Ebd., S. 228.

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im Klavierquintett.125 Gleichzeitig bildet dieses Motiv eine interauktoriale Referenz anderer Komponisten zu Bach, darunter auch Komponisten, die mit Schnittke in einem interauktorialen Verhältnis stehen. Der Palimpsest-Gedanke, der weiter oben entwickelt wurde, tritt hier erneut zutage und zeigt auf, wie vielschichtig der Begriff der Interauktorialität Anwendung finden kann. Gleichzeitig wird die Frage aufgeworfen, ob Schnittke nicht dann auch mit solchen Komponisten in einem interauktorialen Verhältnis steht, bei denen, bis auf die gemeinsame Verwendung des B-A-C-HMotivs als interauktoriales Moment zu Bach, sonst keinerlei direkte Interreferenzen auftreten? Um diese Problematik zu visualisieren, seien einige Komponisten, die das B-A-C-H-Motiv verwenden, schematisch zu Bach und Schnittke ins Verhältnis gesetzt (Abb. 74): Johann Sebastian Bach Max Reger (?) Ruth Zechlin (?)

Franz Liszt (?) Alfred Schnittke

Abb. 74: Schema potentieller Interauktorialität in Bezug auf die Verwendung des B-A-C-HMotivs.

Die Auswahl der Komponisten erfolgte aus gutem Grund. Zum Einen lässt sich, wie in der diesbezüglichen Betrachtung des Konzertes für Klavier vierhändig und Kammerorchester festzustellen sein wird, durchaus ein interauktoriales Verhältnis zu Franz Liszt in der Formfindung, die auch bei anderen Kompositionen Schnittkes auftritt, erkennen. Mit Max Reger und Ruth Zechlin sind hingegen ein Komponist und eine Komponistin genannt, die beide für sich Bach als ‚Zentrum‘ ihres Schaffens deklariert haben, was sich bei Zechlin u.a. in der Hommage à Bach und in der Musik zu Bach sowie der Aussage „Bachs Musik steht mir am nächsten“126 widerspiegelt, bei Reger hingegen u.a. über das Bonmot überliefert ist, Bach sei ‚Anfang und Ende aller Musik‘127. 125 Für eine ausführliche Analyse dieses Walzers siehe meinen Aufsatz „Tanz an die verstorbene Mutter? Der B-A-C-H-Walzer in Alfred Schnittkes Klavierquintett“, in: L’Art Macabre. Jahrbuch der Europäischen Totentanz-Vereinigung (9) 2008, S. 201–211. 126 Ruth Zechlin zitiert nach Annelore und Jürgen Mainka (Hrsg.), Ruth Zechlin. Situationen – Reflexionen. Gespräche, Erfahrungen, Gedanken, Berlin 1986, S. 23. Siehe auch das Kapitel „Bach ist mein Zentrum…“ in: Annäherung an sieben Komponistinnen. Mit Berichten, Interviews und Selbstdastellungen, hrsg. von Brunhilde Sonntag und Renate Matthei (= Furore-Edition 802), Kassel 1986, S. 57–64. 127 Vgl. Ulrich Prinz (Red.), 300 Jahre Johann Sebastian Bach. Sein Werk in Handschriften und Dokumenten. Musikinstrumente der Zeit. Seine Zeitgenossen. Eine Ausstellung der Internationalen Bachakademie in der Staatsgalerie Stuttgart 14.9. bis 27.10.1985, Tutzing 1985, S. 265. Vgl. zum Sachverhalt außerdem Frank Schneider, „Bach als Quelle im Strom der Moderne (Von Schoenberg bis zur Gegenwart)“, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung, Preußischer Kulturbesitz 4 (1994), S. 110–125 und

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Stehen deshalb Zechlin und Reger mit Schnittke in einem interauktorialen Verhältnis? Begreift man Interauktorialität im engeren Sinne als direkte Interreferenzen zwischen zwei oder mehreren Komponisten, so verliert der Begriff an dieser Stelle sicherlich seine Gültigkeit. Erweitert man den Terminus jedoch im Sinne der stilistischen Palimpsestierung, so betritt er eine Ebene, auf der er eine globale Interauktorialität erreicht, die insofern gültig ist, als sie den über interauktoriale Referenzen autorisierten Co-Autor Bach als gemeinsame Inspirationsquelle mehrerer Komponisten offenbart, die ästhetisch ähnliche Ansichten vermuten lässt. Gleichwohl bewegt man sich mit einer derartigen Dehnung des Interauktorialitätsbegriffs (die auch Ina Schabert für die Dichterbiographie vornimmt) auf ziemlich dünnem Eis, denn es besteht die Gefahr, dass man den Begriff, der meines Erachtens zur stilistischen Ortung eines Komponisten äußerst hilfreich ist, in seiner Definitionsweite ad absurdum führt. Insofern ist in der Verwendung des Terminus‘ Interauktorialität Vorsicht geboten. Mit dem Herausfiltern dauerhafter Einflüsse auf Schnittkes Kompositionsstil stellt sich deshalb die Frage, ob der Begriff der Interauktorialität unterschieden werden muss in referentielle Interauktorialität auf der Werk- oder besser Zeitebene, die mehrere Werke einer Phase umfasst, und stilistische Interauktorialität auf der stilbildenden Ebene, die zu einer Permanenz der potentiellen Co-Autorschaft mutiert und deshalb an jedem chronologisch nachfolgenden Werk mitgedacht bzw. hinterfragt werden muss. In der Tat nötigen uns die Analyseergebnisse und Selbstaussagen Schnittkes, die von Rezipienten aufgegriffen und bisweilen perpetuiert werden, die immer wieder kolportieren Namen von Vorbildern Schnittkes auf deren tatsächliche co-auktoriale Bedeutung zu prüfen. Gleichzeitig erweitert sich das stilistische Palimpsest der Autorschaftsfigur Alfred Schnittke um die potentiell (ab einem gewissen Punkt) permanenten Co-Autoren der Inspiration, die gleichsam um das Palimpsest herum platziert sind und bei gewissen Kompositionen neben dem Haupt-Autor Schnittke aufleuchten, um eine vorhandene Interauktorialität zu bezeugen. Es muss jedoch klar sein, dass an dieser Stelle der Begriff der Interauktorialität auf der stilbildenden Ebene nur dann ein Äquivalent auf der Ebene der Intertextualität hat, wenn man diesen Terminus zur Multitextualität erweitert. Dies ist zwar möglich (z.B. bei der übergreifenden Betrachtung eines mit mehreren anderen Texten interagierenden Textes), muss aber differenziert werden in Multitextualität, die verschiedene Texte verschiedener Autoren ins Verhältnis setzt und Multitextualität, die verschiedene Texte eines Autors (dessen Stilbildung sich darin nachvollziehen lässt) mit verschiedenen Texten eines anderen Autors (aus denen sich ja erst dessen Stil gebildet hatte, der zum Vorbild für ersteren Autor wurde) korrelieren lässt. Diese Problematik tangiert uns hier zwar nur am Rande, sei aber an dieser Stelle erwähnt. ferner Helmut Föller, B A C H. Verarbeitungen eines Motivs in der Orgelmusik des 19. Jahrhunderts (= Kirchenmusikalische Studien 9), Sinzig 2004.

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Ein Komponist, der für die Permanenz einer stilistischen Interauktorialität in Frage kommt, ist der im vorangehenden Zitat genannte amerikanische Autodidakt Charles Ives, der besonders aufgrund seiner Art des Umgangs mit Material immer wieder als Vorbild für Schnittkes Polystilistik bezeichnet wird, sowohl von Schnittke selbst als auch von seinem Biograph Iwaschkin und anderen Weggefährten. Wie durch die Analyse des Konzertes für Klavier und Orchester aus dem Jahr 1960 erkennbar ist, lehnte sich Schnittkes damalige Tonsprache bereits an Ives’ bi- und polytonale Verschlungenheit an, wenngleich eher unbewusst aus Gründen der Konvention. Im Konzert für Klavier und Streicher aus dem Jahr 1979 hingegen werden die Stilparallelen bewusst geschaffen, so unter anderem zu Ives’ „Stillosigkeit“, die „[…] nicht im Sinne von chaotischen Prozessen“ zu verstehen ist, sondern als das „[…] Umgehen von ihn [den Stil, Anm. d. Verf.] festlegenden traditionellen musikalischen Prinzipien“128. Innerhalb dieser Stillosigkeit spielen u.a. Zitate und Quasizitate eine große Rolle, bei denen für Ives „[…] die spontane Assoziation [...] entscheidend [ist]“129. Ebenso, wie in Schnittkes Klavierkonzert das Bruckner-Zitat nur ein Teil der Gesamtkadenz darstellt, die in Bruckners Symphonie in die Dominante wandert, ist bei Ives „[…] das Fragmentarische [...] ein zwangsläufiger Bestandteil der Musikauffassung“130. Andreas Liess nennt diese Art der Zitationstechnik in Bezug auf Claude Debussy „Partikelentlehnung“131. Gleichzeitig treten bei Ives kaum Zitate aus Werken anderer Komponisten auf, sondern öfters – hier kreuzt sich Ives’ Ästhetik mit der des jungen Paul Hindemith, zumindest in der Tonsprache – alltägliche Zitate oder Nachahmung, z.B. als Reise mit der Eisenbahn im zweiten Satz der Symphonie Nr. 4 oder die Komposition Three Places in New England an sich. Dass der ungezwungene Umgang mit vorfindbarem Material, das für Ives, wie in Teilen auch für Schnittke, nicht nur das Material anderer Komponisten – im Sinne der Autorisation nach Gadamer –, sondern explizit die Entität allen Materials darstellt, auf Schnittkes Kompositionsansatz durchaus inspirierend war, lässt sich an mehreren Werken feststellen, zum Beispiel als Ton-Anspielungen auf den Ort der Uraufführung seiner Symphonie Nr. 3, Leipzig.132 Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie mit dem Gedanken der Interauktorialität umzugehen ist, wenn er nicht auf der Ebene des Zitats, des Stilzitats oder der Stilallusion, die an Personen gekoppelt sind, entsteht, sondern wenn eben diese Fremdreferenzialität aus dem Alltäglichen oder Stilen entnommen ist, denen eine Personenbezogenheit abgeht, wie bspw. Walzer und Blues als gesellschaftlich deter128 Thomas Giebisch, Take-off als Kompositionsprinzip bei Charles Ives (= Kölner Beiträge zur Musikforschung 181), Kassel 1993, S. 1. 129 Ebd., S. 87. 130 Ebd. 131 Andreas Liess, „Der junge Debussy und die russische Musik“, in: Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongress (1962), hrsg. von Georg Reichert und Martin Just, Kassel u.a. 1963, S. 241–244. 132 Vgl. Lutz Lesle, „Das Mitschaffen am Turmbau der Gegenwartsmusik. Aus meinen Gesprächen mit Alfred Schnittke“, in: Köchel (Red.), Schnittke zum 60. Geburtstag (wie Anm. 1), S. 26.

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minierte Musikgattungen ohne konkreten Autorbezug. Das Prinzip der Interauktorialität erweitert sich im dritten Klavierkonzert deshalb um eine weitere Ebene, die gleichsam sowohl punktbezogen (auf der Zeitebene an einzelnen Werken) als auch permanent (auf der stilbildenden Ebene) in Erscheinung treten kann, allerdings ohne konkreten Subjektbezug. Sie wird aber damit zur Intertextualität, die ohne Subjekte bzw. agierende Individuen auskommt, sich jedoch in einem Spannungsverhältnis zur Interauktorialität befindet. D.h. das interauktoriale Moment einer Komposition wird zu einem intertextuellen Moment, das nicht auf ein Subjekt zurückgeht, sondern auf eine Konvention, die von vielen indefiniten Subjekten bzw. Individuen als Co-Autoren vorher determiniert wurde und damit ihren figürlichen Charakter zugunsten eines abstrakteren Intertextualitätsbegriffs aufgibt, sei es die Verwendung von Jazz in der Symphonie Nr. 1, Walzer und Blues im Konzert für Klavier und Streicher oder von Anagrammen deutscher Städtenamen (die dereinst von Autoren vergeben wurden) in der Symphonie Nr. 7. Darüber hinaus lassen sich Stilzitate im Sinne eines historischen Stils zwar mit bestimmten Komponisten konnotieren, verweisen aber im Hinblick auf die Sonatensatz- und Rondoform, die Besetzung und nicht zuletzt Werk- und Tempobezeichnungen auf Kompositions- bzw. Formkonventionen, die, am Beispiel des dritten Klavierkonzertes, in der Ära der Wiener Klassik stilbildend waren und damit abstrahiert eigenständig bestehen. Allerdings greift hier Ludwig Finschers „Technik des Zitierens von Stilsphären“133 zu kurz. Erstens handelt es sich nicht allein um Zitate im engeren Sinn, auch wenn Finscher diesen Begriff mit dem Terminus „Verfremdung“134 paart. Zweitens reicht die Stilsphäre nicht aus, um auf die Subjektlosigkeit abstrakter Intertextualität hinzuweisen, denn diese kann sowohl Stil (z.B. klassische Form) als auch Gattung (Walzer, Jazz etc.) oder gänzlich unmusikalisch sein (z.B. Eisenbahn). Die Untersuchung interauktorialer Momente an Schnittkes Konzert für Klavier und Streicher hat gezeigt, wie vielschichtig mit zunehmendem Alter des Komponisten und wachsendem Umfang seines Œuvres das Palimpsest der Autorschaftsfigur wird. Je mehr Einflüssen sich Schnittke im Zuge seiner Beschäftigung mit anderen Komponisten ausgesetzt hat, umso mehr potentielle Co-Autoren stehen zur Vervollkommnung der Autorschaftsfigur Alfred Schnittke zur Verfügung. Es wird deutlich, wie problematisch die Auswahl bestimmter Komponisten und Werke für die Lokalisierung des interauktorialen Prinzips ist. Einerseits gibt es konkrete Verweise auf andere Komponisten, Kompositionen oder Stile, andererseits spalten sich diese Einflüsse in zeitbezogene und permanente Co-Autorschaften auf, was nun dazu führt, dass die Ortung von Interauktorialität am Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester im Jahr 1988 unter noch komplexeren Bedingungen durchgeführt werden muss. Das sich weiterentwickelnde Palimpsest hat schon hier eine Vielschichtig-

133 Vgl. Ludwig Finscher, „Intertextualität in der Musikgeschichte“, in: Musik als Text (wie Anm. 34), S. 52. 134 Ebd.

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keit erreicht, die ein genaueres Bild der Autorschaftsfigur und ihres Haupt-Autors Alfred Schnittke möglicherweise eher vernebelt denn freilegt. 2.1.4 Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester Die Komplexität des erreichten Palimpsests ergibt sich jedoch nicht allein aus dem Hinzutreten immer neuer oder dem Freilegen älterer oder gleich alter Einflüsse im Laufe der Jahre auf den Haupt-Autor Alfred Schnittke, sondern auch aus der Vergrößerung des eigenen Œuvres, das mit der Zunahme der enthaltenen einzelnen Werke zu einer eigenen Quelle der Inspiration herangewachsen ist. Schnittke verweist im Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester auf mehrere seiner eigenen Kompositionen, deren stilistische Zuordnung inklusive interauktorialer Momente deshalb zur Komplexität des Palimpsests am vorliegenden Konzert beiträgt und damit die Frage stellt, ob die ehedem externen Einflüsse auf die vorangehenden Kompositionen nun durch Zitate, Plagiate und Allusionen hier am Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester ebenfalls hindurchscheinen. Im vierten Klavierkonzert sind zunächst die ersten drei Töne auffällig: eine fallende kleine Sekunde mit anschließend steigender großer Sekunde. Dieses kurze Motiv taucht nicht nur ständig im Konzert wieder auf, es verweist zudem auf eines der frühesten Werke Schnittkes: die Fuge für Violine solo aus dem Jahr 1953. Mit derselben melodischen Gestik beginnt diese Fuge, allerdings auf der Tonstufe es’ und in höherem Tempo. Darüber hinaus lassen sich Parallelen zum Beginn und Ende der Symphonie Nr. 4 aus dem Jahr 1984 finden. Anfangs- und Schlusskadenz (in der Symphonie mit denselben Akkorden) haben hier zwar einen etwas anderen melodischen Verlauf als die drei Anfangsnoten des Klavierkonzertes, jedoch weist die musikalische Aussage Ähnlichkeiten auf: Im Klavierkonzert beschließt die Kadenz des Anfangs den Höhepunkt, also die dramaturgische Kulmination am Ende des vierten Teilsatzes und beendet damit auch die Durchführung der im Konzert auftretenden Reihen R1 und R2, so wie die Kadenz der Symphonie diese beginnt und beendet. Ebenso verweist das Dreiklangs-Thema auf mehrere Werke Schnittkes, auch wenn es seinen Ursprung außerhalb dieses Autors hat. So beginnt die Coda des zweiten Satzes seiner Symphonie Nr. 3 mit arpeggierten Akkorden in der linken Hand des Klaviers, über der sich in der rechten Hand ein Thema ausbreitet, das zu Beginn des Satzes von den Streichern eingeleitet wurde. Auch das Konzert für Viola Nr. 1 und Orchester weist im mittleren Satz ab Takt 217 eine Sequenz auf, in der die Viola ein lyrisches Motiv auf verschiedenen Tonstufen wiederholt, während einzig das Klavier in sukzessiven Dreiklängen, hier allerdings mit Septimen, begleitet. Selbst im dritten Klavierkonzert erinnert das dortige Dreiklangs-Motiv an das DreiklangsThema im Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester. Ein Blick außerhalb Schnittkes Schaffen verrät eine gewisse Verwandtschaft mit der Begleitstimme in Beethovens Klaviersonate op. 27 Nr. 2. cis-Moll Sonata quasi una fantasia, besser bekannt unter dem Namen Mondscheinsonate. Mit den Zitaten (bei unbewusster Verwendung Plagiaten) und Allusionen auf das eigene Œuvre wird ein Phänomen offenbar, das Marco Frei als „Eigenreferen-

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zialität“135 bezeichnet, es an der gleichen Stelle benennt wie die Fremdreferenzialität und außerdem explizit auf Schnittke verweist.136 Gleichzeitig scheinen beide Begriffe an dieser Stelle nicht mehr voneinander getrennt werden zu können, bildet doch nun die Fremdreferenzialität (in den vorangehenden Werken, die zitiert und angedeutet werden) die Basis für die Eigenreferenzialität an der hier besprochenen Komposition. Der stilistische Ort Schnittkes im Jahr 1988 ist deshalb bereits – das beweist die Betrachtung des vierten Klavierkonzertes – auch ein eigenreferenzieller, was die Frage nach dem Vorhandensein von Interauktorialität aufwirft, wenn Schnittke – ob in jedem Fall bewusst oder unbewusst – beginnt, mit sich selbst und seinem Œuvre zu kommunizieren. Zunächst sei jedoch das Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester auf Momente von Interauktorialität untersucht. Im Jahr 1988 spielte für Schnittke der Name Gustav Mahler eine vordergründige Rolle, wie bereits im letzten Kapitel festgestellt wurde. Wie Schnittke selbst angibt, weisen vor allem zwei seiner Werke aus diesem Jahr eine intensive Auseinandersetzung mit Mahler und besonders mit dessen Fragmenten zweier Klavierquartett-Sätze aus dem Jahr 1876 auf.137 Diese beiden frühen Werkfragmente von Mahler sind die einzigen Hinweise auf Mahlers Schaffen während seiner Studienzeit, die somit genügend Raum für Spekulationen über deren Bezüge zu den späteren Werken liefern. Dabei muss der Terminus ‚Werk’, der in Kapitel II.1.1 ausführlich zerlegt wurde, an dieser Stelle scheitern, selbst als notentextlicher Werkbegriff. Deshalb wird er hier vermieden und stattdessen der adäquate Begriff des Werkfragments verwendet, der allerdings ebenso assoziativ ist wie der andere, da er ein (nicht geschafftes) Werk impliziert und damit im gewissen Sinne der Zuschreibung werkimmanenter Charakteristika ausgesetzt wird. Diese Problematik muss beachtet sein, gerade im Hinblick auf die Überinterpretation eines solchen Fragments, wie sie Schnittke selbst vornimmt, indem er Mahler die spätere Genialität und Unverwechselbarkeit schon an diesem Werkfragment zuschreibt: „Das ist unverwechselbar Mahler, den man bereits am ersten Takt erkennt. Dabei hat er dieses Werk mit sechzehn Jahren geschrieben!“138 Schnittke bezieht sich hier auf das Fragment des eigenständigen g-Moll-Satzes, den er als den Scherzo-Satz des Klavierquartetts versteht. Jüngere Forschungen be135 Frei, Chaos statt Musik (wie Anm. 116), S. 195. 136 Für eine ausführliche Betrachtung dieses Phänomens bei anderen Komponisten vgl. Martin Grabow, Untersuchungen zur inneren Verflochtenheit von Lebenswerken. Formen des Rückgriffs auf eigene Musik zur Schaffung neuer Werke bei Boulez, Berio und anderen Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Diss. Universität der Künste Berlin 2003. 137 Vgl. Köchel (Red.), Schnittke zum 60. Geburtstag (wie Anm. 1), S. 90 & 122. Das Jahr der Entstehung dieser beiden Klavierquartett-Fragmente ist nicht ganz sicher. Siehe hierzu Gustav Mahler: Klavierquartett 1. Satz, in: Sämtliche Werke, Supplement Bd. 3, hrsg. von der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft, Wien 2000, S. IXf. und Peter Ruzicka, „Gustav Mahlers Klavierquartett von 1876. Einige Anmerkungen zum nachgelassenen Werk“, in: Musica 28 (1974), Heft 5, S. 454– 457. 138 Schnittke, Leben (wie Anm. 106), S. 242.

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Der auktoriale Diskurs

zweifeln allerdings, dass es sich bei den beiden Blättern, die bei der Universal Edition im Faksimiledruck erschienen sind, tatsächlich um die Fortsetzung des Klavierquartetts handelt. In der vorliegenden Mahler-Gesamtausgabe (aus dem Jahr 2000) wird im Anhang, der diese beiden Faksimiles beinhaltet, auf diese Problematik hingewiesen, gleichzeitig aber Schnittkes Klavierquartett als einziges von mehreren Werken, die auf Mahlers Komposition rekurrieren, namentlich benannt. Schnittke scheint die Problematik um die Authentizität der Vorlage als dem Klavierquartett zugehörig nicht bekannt gewesen zu sein bzw. scheinen die Zweifel im Jahr 1988 noch nicht existiert zu haben. Selbst wenn Schnittke hier historisch falsch gelegen haben sollte, ändert dies nichts an der Tatsache, dass Mahlers zwei frühe Kompositionen ihn zu dieser Zeit faszinierten. Die Frage aus dem letzten Kapitel darf also wiederholt werden: Wie viel Mahler steckt dann auch im Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester? Gehen wir auf die einzelnen Kompositionen etwas genauer ein. Am deutlichsten sind Bezüge zwischen Mahlers Klavierquartett-Fragmenten und Schnittkes Klavierquartett (1988) herauszustellen. Schnittke sagt, dass das Thema von Mahlers g-Moll-Fragment erst am Ende zum Ausdruck kommt.139 Dies entspricht nicht der Wahrheit. Schon ab Takt 1 der zehntaktigen Einleitung zitiert Schnittke die Begleitung aus Mahlers g-Moll-Klavierquartett-Skizzen. In Takt 14 tritt der erste Teil des Themas ebenso in der Violine auf, jedoch nicht in g-Moll, sondern in a-Moll. (Abb. 75 & 76) Damit setzt Schnittke das Thema der g-Moll-Skizzen in die Tonart von Mahlers a-Moll-Klavierquartett-Satz und schafft schon an dieser Stelle eine Verbindung zwischen beiden Fragmenten. Diese Verbindung wird verstärkt, wenn er ab Takt 75 das erste Thema aus Mahlers Klavierquartett-Skizze stark variiert und in Umkehrung und Krebsvariation bringt. Ab Takt 179 schließlich kommt, wie Schnittke bemerkt, das Finale des Werkes als Zitat der kompletten g-Moll-Skizze inklusive der notierten Klavierfortschreitung am Ende des Fragments, die Schnittke in ein Akkordcluster ‚auflöst’, das jedoch stark dominantischen Charakter hat und am ehesten mit der Tonart A-Dur assoziiert werden kann. Damit stünde die dazugehörige Tonika in E-Dur (oder e-Moll), dem Gegenklang bzw. der Parallele zur Grundtonart g-Moll aus Mahlers Skizzen.

139 Ebd.

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Abb. 75: Gustav Mahler, Skizze zu einem Klavierquartett-Satz in g-Moll, Beginn.

Abb. 76: Alfred Schnittke, Klavierquartett, Takte 13-16.

So eindeutig die Verweise auf Mahlers Fragmente in Schnittkes Klavierquartett auch sind, gibt es interessanterweise einige Parallelen dieser Komposition, die am 29. Juli 1988 in Kuhmo uraufgeführt wurde, mit dem Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester, das als Autograph in der Universal Edition gedruckt und auf der

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Der auktoriale Diskurs

letzten Seite von Schnittke mit dem 29. Oktober 1988 datiert wurde.140 Besonders eine Sequenz tritt hier in Erscheinung, die offenbar Schnittkes Stilmittel, wie sie gehäuft bzw. vordergründig im Klavierkonzert vorhanden sind, antizipiert. Gemeint sind die Quart- bzw. Tritonusfälle in Takt 34 und die darauffolgende Zwölftonreihe R1, die jedoch durch den Ton Cis in der linken Hand des Klaviers bzw. durch das des2 in der rechten Hand negiert wird. (Abb. 77)

Abb. 77: Alfred Schnittke, Klavierquartett, Takte 34-38.

Diese vier Takte sind gleichsam eingeschoben in einen polyphonen Tutti-Satz, der einige Charakteristika aus Mahlers Fragmenten verarbeitet und damit in einem tonalen Zusammenhang steht, wenngleich immer wieder Zwölftonreihen und deren Abspaltungen in Erscheinung treten, z.B. ab Takt 63 in den Streichern. Schnittke vermengt hier Dodekaphonie und niederländische Imitation bzw. Kanontechnik und damit Stiltechniken aus unterschiedlichen Jahrhunderten. Gleichzeitig spielt er mit der Tonalität, wenn die Violine auf e2 einsetzt, die Viola auf fis1 und das Cello auf as. Im Prinzip beginnt so, wenn auch enharmonisch verwechselt, die E-Dur-Tonleiter – wir erinnern uns: das Klavierquartett endet dominantisch über einer Tonika E-Dur/e-Moll als Gegenklang bzw. Parallele zu Mahlers g-Moll-Fragment –, die jedoch durch den nach unten oktavierten Einsatz der einzelnen Instrumente ihren aufsteigenden Charakter verliert. Auch ab Takt 166, kurz vor Einsatz des Mahlerschen Fragments, erklingen im Klavier erneut zwei Zwölftonreihen, die an den Höhepunkt im Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester sowohl in der auseinanderstrebenden Gestik als auch in der Spiegelung des Materials erinnern. Denn die Zwölftonreihe in der linken Hand ist die Umkehrung der Reihe in der rechten Hand, so wie die Quartschichtungen an besagter Stelle im Klavierkonzert ebenso gespiegelt sind. (Abb. 78)

140 Die Uraufführung fand am 18. April 1990 in Moskau statt. Vgl. hierzu das Alfred Schnittke Werkverzeichnis, hrsg. von den Internationalen Musikverlagen Hans Sikorski, Hamburg 2008, S. 34 & 57.

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Abb. 78: Alfred Schnittke, Klavierquartett, Takte 166-168.

Trotz des mehrfachen Vorkommens dodekaphonen Materials im Klavierquartett weist jedoch die beschriebene Stelle mit dem Auftreten der Reihe R1, besonders aufgrund der zurückgenommenen Instrumentation, eine gewisse Solitärfunktion auf. Soll Schnittke etwa hier Material exponiert haben, das er erst später, nämlich im Klavierkonzert, als Grundmaterial verwenden wird? Hat diese Stelle deshalb eine so herausgehobene Position? Oder liefert man sich mit diesen Deutungen bereits einem konstruktivistischen Moment aus? Bedenkt man, dass Schnittke wahrscheinlich parallel an beiden Kompositionen gearbeitet hat, relativiert sich zumindest der letztgenannte Zweifel. In der Tat treten die Quartschichtungen (ob als Fälle oder Sprünge) durch das ganze Klavierquartett hindurch immer wieder auf. Hinzu kommen Clusterbildungen vor allem im Klavier, wie sie auch im Klavierkonzert im Soloinstrument präsent sind. Auch wenn zwischen den Reihen im Klavierkonzert und den Reihen im Klavierquartett nur mit sehr viel gutem Willen strukturelle Parallelen gefunden werden können, so weist doch an beiden Kompositionen die Korrespondenz dodekaphonen Materials mit tonalem Material – im Klavierkonzert das Dreiklangs-Thema, im Klavierquartett das MahlerThema – auf die Parallelität im Grundsatz des Kompositionsansatzes hin. Umso wichtiger ist deshalb die Frage, ob vielleicht eben dieses tonale Material im Klavierkonzert mit Mahlers Fragmenten in irgendeiner Weise korrespondiert, d.h. ob sich vielleicht in den beiden Kompositionen Mahlers Dreiklangsbrechungen finden las-

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Der auktoriale Diskurs

sen, auf die das Dreiklangs-Thema im Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester zurückzuführen ist. In der Tat lassen sich ab Takt 54 mit dem Einsatz des Seitenthemas derartige Dreiklangsbrechungen in Mahlers a-Moll-Fragment finden, die dazu einen ebensolch zurückgenommenen und lyrischen Charakter haben, wie er ähnlich die entsprechende Stelle in Schnittkes Klavierkonzert definiert. Eingangs dieses Kapitels wurde das Dreiklangs-Thema jedoch mit Eigenreferenzen und der Fremdreferenz Beethoven in Verbindung gebracht, so dass sich nun mehrere Fragen auftun: 1. Kann es sein, dass Schnittke Mahlers Klavierquartett schon im Konzert für Klavier und Streicher als Inspirationsquelle verwendet hat und damit Mahler als Co-Autor zumindest des Dreiklangs-Themas in Frage kommt? 2. Schließt das die anderen genannten Kompositionen, also die Symphonie Nr. 3 und das Konzert Nr. 1 für Viola und Orchester mit ein, so dass die Eigenreferenzialität am vierten Klavierkonzert nur die durchscheinende Fremdreferenzialität an den vorangehenden Kompositionen ist? 3. Besteht vielleicht schon zwischen Beethoven und Mahler Interauktorialität und wird Mahler dadurch zum Medium, durch das Beethoven bis zu Schnittkes Kompositionen als Co-Autor der Dreiklangsbrechungen hindurchblickt? 4. Sind diese Fragen vielleicht auch bloßer Humbug, da Dreiklangsbrechungen schon immer zum Einmaleins des Komponierens gehörten und somit die Verwendung eben dieser Motive bei Schnittke nichts anderes ist als das Aufgreifen einer klassisch-romantischen Kompositionstradition als Stilistik? Tatsächlich kann keine der vier Fragen so leicht beantwortet werden, ohne einen genaueren Blick in das Material selbst zu werfen. Während der Betrachtung des Konzertes für Klavier vierhändig und Kammerorchester wurde auf die anderen Kompositionen Schnittkes verwiesen, weil die Dreiklangsbrechungen dort einen ebenso exponierten Charakter wie im vorliegenden Klavierkonzert haben. Eine ebensolche Exponiertheit erfahren die Dreiklangsbrechungen als Begleitung des Seitenthemas in Mahlers Klavierquartett-Fragment. Den Bezug zu Beethovens Mondscheinsonate dadurch herzustellen ist deshalb – nicht aufgrund des Materials an sich, sondern aufgrund der Verwendung des Materials – zulässig, wenngleich das Konventionelle dabei durchaus auch eine Rolle spielt und eine fünfte Frage aufwirft, die fragt, ob vielleicht derartige Materialgestaltung bei Schnittke sich zu einer Konvention entwickelt, die irgendwann keine Fremdreferenzialität mehr ist, sondern bloße Stiltreue. Hier wäre dann ferner zu erörtern, ob das Dreiklangs-Thema im vierten Klavierkonzert tatsächlich eine Referenz an Mahlers Klavierquartett-Fragment ist oder nur besagte Stiltreue, die man auch als Eigenkonvention bezeichnen könnte.

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Setzt man beide Themen (das Dreiklangs-Thema Schnittkes und das Seitenthema in Mahlers Klavierquartett-Satz) nebeneinander, werden neben den Gemeinsamkeiten, die vor allem die Syntax betreffen, auch Unterschiede offenbar, die sowohl in der Ausarbeitung der Dreiklangsbrechungen als auch in dem lyrischen Thema, das darüber liegt, ihren Ursprung haben. Das relativiert die interauktoriale Kommunikation zwischen dem jungen Mahler, der das Werkfragment eines Klavierquartetts komponiert hat, und Schnittke als Komponist des Konzertes für Klavier vierhändig und Kammerorchester. Diese Formulierung impliziert jedoch bereits, dass es erstens nicht nur den jungen Mahler gegeben hat und zweitens, dass Interauktorialität, auch eine stilbildende, zwischen zwei Komponisten an manchen Werken direkt als Referenz erkennbar, an anderen Werken aber, die zur gleichen Zeit entstanden sind, weniger offensichtlich ist. Wie bereits erwähnt, spielt die Auseinandersetzung mit Mahlers KlavierquartettFragmenten für Schnittke nach eigenen Aussagen in zwei seiner eigenen Werke, die er im Jahr 1988 komponierte, eine große Rolle. Das erste ist das eben diskutierte Klavierquartett, das zweite das Concerto grosso Nr. 4–Symphonie Nr. 5. In diesem Werk, das, nach Schnittke, als Concerto grosso beginnt und als Symphonie endet und deshalb diesen Zwitternamen erhalten hat,141 verweist vor allem der zweite Satz Allegretto direkt auf das zweiseitige Fragment des Klavierquartett-Satzes von Gustav Mahler. Gleich zu Beginn spielen die Violoncelli die Sechzehntel-Begleitung, die auf derselben Tonstufe (b) auch in Mahlers Klavierquartett-Skizzen von der Viola ausgeführt wird. In Ziffer 4 des Concerto grosso setzen die Violinen und die Violen imitatorisch mit dem Thema aus Mahlers g-Moll-Skizzen ein. Ebenso wie in seinem Klavierquartett bezieht Schnittke auch im Concerto grosso Nr. 4–Symphonie Nr. 5 den a-Moll-Quartettsatz Mahlers mit ein. Ab Ziffer 7 beginnt zunächst in den Violinen I und II das erste Thema aus diesem Satz, in kürzeren Notenwerten und einem leicht abgewandeltem Rhythmus. (Abb. 79)

141 Vgl. Köchel (Red.), Schnittke zum 60. Geburtstag (wie Anm. 1), S. 90.

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Der auktoriale Diskurs

Abb. 79: Alfred Schnittke, Concerto grosso Nr. 4–Symphonie Nr. 5, 2. Satz, Ziffer 7.

Dennoch bleibt der Zitatcharakter hier erhalten, wenngleich diese Fremdreferenz an dieser Stelle als Quasizitat bezeichnet werden kann oder, wie Andreas Liess es bei Debussy getan hat, als Partikelentlehnung. In Ziffer 9 wechselt Schnittke wieder in die g-Moll-Skizzen. Die Trompeten intonieren imitatorisch deren erstes Thema. Der weitere Verlauf des Satzes bleibt eine Auseinandersetzung mit beiden Fragmenten. Immer wieder treten die Themen sowohl aus dem a-Moll-Satz als auch aus den gMoll-Skizzen Mahlers hervor. In Ziffer 19 beginnt, nach einem Akkordcluster im Forte-Fortissimo mit anschließend verklingendem Tamtam und ebenso wie in Schnittkes Klavierquartett, die komplette g-Moll-Skizze Mahlers. Der Unterschied zum Auftreten der Skizzen im Klavierquartett ist allerdings die Tatsache, dass hier im Concerto grosso Nr. 4–Symphonie Nr. 5 die Skizze nicht identisch, sondern leicht variiert wiedergegeben wird, also wieder als Quasizitat. Beiden Kompositionen ist gemein, dass sie, wie Georg Borchardt herausgestellt hat, mit den Tönen aus dem B-A-C-H-Motiv enden.142 Im Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester hingegen lässt sich nur mit viel Fantasie ein Bezug zum B-A-C-H-Motiv konstruieren, z.B. in der Kombination der Töne 10 und 11 der Reihe R1 mit den Tönen 6 und 7 im Klavier II. (Abb. 80) Jedoch funktioniert dieses ‚B-A-C-H-Feld’ nur visuell im Notentext, da zunächst das c’’ im Klavier II erklingt, danach b2, dann h1 und schließlich a2.

142 Vgl. Borchardt, „Schnittke und Mahler“ (wie Anm. 118), S. 65 & 69.

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Abb. 80: Alfred Schnittke, Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester, Takte 1-3, ‚B-A-C-H-Feld‘.

Um die Lokalisierung interauktorialer Momente am Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester abzuschließen, sei deshalb noch einmal auf die Formgebung rekurriert, die während der Analyse herausgefiltert und als Basis der Material(nicht)entwicklung dokumentiert wurde. Schnittke gibt in seinen Äußerungen über die einsätzige Mehrsätzigkeit des Konzertes Franz Liszt als Ursprung dieser Formbildung an: Nun ist es [das Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester] fertig, und es kam wieder zu der von mir (wie auch von anderen nach Liszt) mehrmals realisierten Form eines mehrsätzig-einsätzigen Werkes [...].143

Tatsächlich jedoch hat Liszt an dieser Stelle eigene Vorbilder gehabt, unter anderem Carl Maria von Webers Konzertstück f-Moll op. 73 oder Franz Schuberts WandererFantasie D 760. Über beide Stücke hat Liszt eigene Variationen komponiert bzw. Transkriptionen angelegt. Gleichzeitig sind Liszts Klavierkonzerte mehrsätzig angelegt, obwohl sie auf der Ebene der In-Klang-Setzung ihre Mehrsätzigkeit verlieren und damit einsätzig werden, auch wenn diese so entstandene „[…] Einsätzigkeit eine komplexe formale Struktur mit verkappter Mehrsätzigkeit aufweist“144. Schnittkes Bezug auf Liszt verweist demnach nicht auf die Klavierkonzerte – denn diese sind ja einsätzig-mehrsätzig – sondern eher auf die Symphonischen Dichtungen oder die h-Moll-Sonate, die adäquat zu Schnittkes Klavierkonzert mehrsätzigeinsätzig, d.h. einsätzig angelegt sind, aber innerhalb dieser Einsätzigkeit mehrsätzige Strukturmomente aufweisen. Wie in der Analyse des Konzertes für Klavier und Orchester aus dem Jahr 1960 bereits aufgezeigt wurde, war Schnittke die thematische 143 Alfred Schnittke über sein Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester, in: Köchel (Red.), Schnittke zum 60. Geburtstag (wie Anm. 1), S. 98. 144 Volker Scherliess, Art. „Konzert“, in: MGG2, Sachteil Bd. 5, Kassel u.a. 1996, Sp. 669.

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Der auktoriale Diskurs

Verknüpfung an sich selbstständiger Sätze zu einem strukturgebenden Ganzen bereits zu dieser Zeit vertraut. Der Rekurs auf Liszt bzw. auf dessen Klavierkonzerte, die in ihrer attacca-Satzverknüpfung das Vorbild Beethoven durchscheinen lassen, ist also am vierten Klavierkonzert nicht neu. Auch die einsätzige Mehrsätzigkeit wurde ja bereits am Konzert für Klavier und Streicher festgestellt, so dass die vorher beschriebene Komplexität des Palimpsests wieder hervortritt, auf der Ebene der Eigenkonvention, die im Prinzip der Interauktorialität als stilbildender Permanenz entspricht. Diese kommt jedoch nicht von außen (wie der stilbildende Einfluss Schostakowitschs, Mahlers oder Ives’), sondern setzt zunächst an einem Werk an (die erste mehrsätzig-einsätzige Komposition Schnittkes war das Konzert Nr. 2 für Violine und Orchester aus dem Jahr 1966), wird absorbiert und tritt immer wieder an verschiedenen Kompositionen (z.B. dem dritten Klavierkonzert oder der vierten Symphonie) zutage. Sie ist damit Eigenkonvention geworden, denn nicht jedes Mal besteht die Notwendigkeit, Formbezüge zu Liszt (als Haupt-Co-Autor) oder historischen Formkonventionen nach Liszt (als abstrakte Co-Autorschaft) herzustellen. Mit einer derartigen Dehnung des Begriffs der Interauktorialität müssten als Konsequenz auch andere formgebende Strukturmomente wie Sonaten- oder Rondoform und schließlich auch Dreiklänge, Akkorde, Dynamikbezeichnungen oder sogar einzelne Töne historischen und externen Co-Autoren zugeschrieben werden, was, wie bereits im vorangehenden Kapitel dargelegt wurde, absurd ist. Ein Komponist ist immer ein historischer Ort, selbst ahistorisches Komponieren – falls es das überhaupt jemals gegeben hat – verhält sich zur Musikgeschichte so oder anders und handelt doch immer von Klang, wenn auch nicht gleich von Tönen (Beispiele hierfür sind György Ligetis Atmosphères oder die Symphonien von Gloria Coates, besonders deren Kopfsätze). Insofern bleibt auch die Definition der Interauktorialität eine schwierige, weil sie sich immer dem Angriff der Beliebigkeit ausgesetzt sieht: Welche Aspekte einer Komposition ziehe ich zur Suche nach potentiellen Co-Autoren heran, welche lasse ich aus? Welche Co-Autoren kommen überhaupt in Frage, nur die vom Komponisten oder anderen genannten? Muss nicht die gesamte Musikgeschichte – mit allen Komponisten und allen deren Kompositionen – vorliegen, um Interauktorialität, auch auf der Ebene der Konvention als abstrahierter Interauktorialität, überhaupt feststellen zu können? Ist die Definition des Begriffs der Interauktorialität nicht sowieso absurd, da sie, um sie überhaupt klar benennen zu können, die Gesamtheit der Musikgeschichte als Inspiration voraussetzt und demzufolge der Nennung jeglicher Komponisten vorher als Co-Autoren bedarf? Versuchen wir, uns abschließend in einer Zusammenfassung dem Begriff der Interauktorialität und seiner Anwendbarkeit noch einmal zu nähern. 2.1.5 Zusammenfassung: Was ist Interauktorialität? In Bezug auf konkrete Interauktorialität zwischen Schnittke und bestimmten CoAutoren ließen diese sich an fast allen Klavierkonzerten eindeutig benennen, so u.a. Schönberg, Berg und vor allem Webern an der Musik für Klavier und Kammeror-

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chester oder Bruckner am Konzert für Klavier und Streicher. Am Ende eines interauktorialen Diskurses bleibt jedoch die Frage im Raum stehen, ob nicht immer alle Komponisten und alle Kompositionen vorher im Prinzip Co-Autoren einer bestimmten Komposition sind im Sinne einer globalen Interauktorialität, so wie letztlich das um die Musikgeschichte als Ganzes (kulturelles Umfeld) erweiterte Palimpsest bereits herausgefiltert wurde, das Schnittkes Stilistik nur als Teil-Palimpsest in sich trägt. Die Deduktion konkreter oder abstrakter Co-Autorschaften an bestimmten Kompositionen bleibt deshalb immer in gewisser Hinsicht spekulativ. Jedoch zeigt ein ebensolcher Diskurs Kontinuitäten, Neuerungen und Diskontinuitäten auf, die vielleicht keine konkreten Co-Autoren zulassen, jedoch auf der Ebene der Konvention Eigenheiten offenbaren, die entweder eine gewisse stilistische Zugehörigkeit untermauern (z.B. die Zugehörigkeit von Schnittkes erstem Klavierkonzert zu einer spätromantischen Tradition) oder aber widerlegen bzw. in Frage stellen (z.B. die Undeutlichkeit des Mahler-Bezugs im vierten Klavierkonzert). Der auktoriale Diskurs ist deshalb nicht allein die hermeneutische Diskussion einer Komposition in Bezug zu deren Autor und dessen Biographie, sondern immer auch der Zweifel an dem, was an Äußerungen vom Autor selbst und anderen über den Autor bzw. eine konstruierte Autorschaftsfigur und die spezifische Komposition bereits vorliegt. Insofern war die Untersuchung der vier Klavierkonzerte im Hinblick auf Interauktorialität notwendig, zumal mit dem Herausfiltern des stilistischen Palimpsests eine strukturelle Basis geschaffen wurde, die zwar auf den ersten Blick ob ihrer Komplexität Verwirrung stiften mag, am Ende jedoch hilft, den Komponisten als Autor stilistisch zu lokalisieren und damit das Fundament eines weitergehenden Autorschaftsdiskurses zu liefern. Problematisch bleibt jedoch die Frage nach der Konkretheit des externen Einflusses: Um wessen Einfluss geht es bzw. wer kommt im interauktorialen Diskurs als Co-Autor eigentlich in Frage? Der Komponist X, eines seiner auditiven Werke, eines seiner notentextlichen Werke, mehrere Werke beider Arten, die Summe beider, ein Konstrukt eines Komponisten als Autorschaftsfigur oder gar deren Teil, die potentiellen Co-Autoren im Geiste? Gleichzeitig wurde auf das Problem hingewiesen, dass nicht nur Komponisten und/oder Kompositionskonventionen (z.B. bestimmte Traditionen) als externe auctores in Frage kommen, sondern auch Interpreten, Dirigenten oder andere Personen, vielleicht sogar die Türklingel an Schnittkes Moskauer Wohnung, die nach Aussage Iwaschkins als Vorlage für das Vorschlag-Motiv im Konzert für Klavier und Streicher verwendet wurde.145 In diesem Kapitel ging es um die Untersuchung der Klavierkonzerte Schnittkes auf interauktoriale Momente, die, selbst wenn das Bruckner-Zitat anfänglich die Idee einer anderen Person X gewesen sein mag, sich primär an Komponisten und Kompositionskonventionen orientiert, der potentielle stilbeeinflussende Co-Autor (ob als konkrete Person oder abstrahiert als Konvention, im Sinne von Schaberts ‚Pastiche des fremden Stils‘) also dort zu suchen ist. So ist auch die Aussage aus Kapitel II.1.2 145 Vgl. E-Mail Iwaschkins an den Verfasser vom 16.06.2005 im Anhang 1.1, S. 264.

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Der auktoriale Diskurs

dahingehend zu erweitern, dass nicht nur auf der notentextlichen Werkebene die unendliche Annäherung an Autorisation besteht, nämlich dann, wenn der Komponist eine Komposition zum Druck freigegeben und sich damit die Chance einer weiteren Überarbeitung genommen hat, sondern auch auf der Ebene der Interauktorialität: Die Gesamtheit aller potentiellen Co-Autoren bildet nur die Basis für eine unendliche Annäherung an die eindeutig verifizierbaren Co-Autoren. Kehren wir abschließend noch einmal zum formulierten Palimpsest-Gedanken zurück. Begonnen hatte dieser Gedanke mit der stilistischen Lokalisierung der Musik für Klavier und Kammerorchester, in der die historische Mehrschichtigkeit aufgrund vorangehender Kompositionen wie des eher traditionell komponierten Konzertes für Klavier und Orchester bereits enthalten ist, auch wenn bestimmte stilistische Momente nicht vorkommen. Gleichzeitig rekurriert die Musik für Klavier und Kammerorchester auf andere historische Vorbilder, u.a. die entwickelnde Variation Schönbergs, Bergs und Weberns, so dass das Palimpsest plötzlich Stile aufweist, die von anderen Komponisten, die vorher keine Rolle gespielt hatten, stammen. Damit wird das stilistische Palimpsest eines Komponisten Teil eines Palimpsests als Musikgeschichte insgesamt, auf dem zu verschiedenen Zeiten Komponisten und deren Werke oder Teile derer an Schnittkes Klavierkonzerten als interauktoriale Momente zutage treten. Weiterhin wurde festgestellt, dass Interauktorialität nicht nur an einer Komposition stattfinden muss, sondern sich zu einer Permanenz von Interauktorialität im stilbildenden Sinn etablieren kann. Zu diesen Co-Autoren, die auf der stilbildenden Ebene an mehreren Kompositionen Schnittkes, auch über einen langen Zeitraum hinweg, hervortreten, gehören Johann Sebastian Bach, Dmitri Schostakowitsch, Gustav Mahler und etwas ferner Charles Ives. Gerade diese stilbildenden Einflüsse externer Co-Autoren tragen zur Genese der Autorschaftsfigur Alfred Schnittke in besonderem Maße bei, vor allem im Hinblick auf das Phänomen einer Autorinszenierung. Während der Betrachtung des Konzertes für Klavier und Streicher wurde mit Bezug auf Ives festgestellt, dass Fremdreferenzialität nicht zwangsläufig personenbezogen sein muss, sondern sich auch an Stilkonventionen oder gar an Alltagserscheinungen wie Städtenamen oder Türklingeln orientieren kann. Dass dieses Phänomen nicht mehr mit dem Begriff der Interauktorialität erklärt werden kann, liegt auf der Hand und wurde bereits erläutert. Am Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester wurde auf das Problem der Eigenreferenzialität hingewiesen. Der potentielle Co-Autor ist gar nicht mehr eine externe Person oder ein externer Stil, sondern das eigene Œuvre, aus dem zitiert und auf das mit Allusionen verwiesen wird. Dabei wurde jedoch ein Unterschied zwischen Eigenreferenzialität – als konkretes Zitat oder Allusion – und Eigenkonvention gemacht, der auch hier aufrechterhalten werden soll. Eigenkonvention meint nämlich im Gegensatz zu Eigenreferenzialität Stiltreue und ist auf gewisse Weise doch mit dieser verwandt, wenn z.B. aus einer Eigenreferenz als Selbstzitat eine Konvention wird, d.h. diese ehedem als Eigenreferenz erkannte Wendung im-

Interpretation und ihre Grenzen

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mer wieder an verschiedenen Kompositionen vorkommt. In Schnittkes Klavierkonzerten treten solche Eigenkonventionen, die aus Eigenreferenzen entstanden waren, nicht auf. Überhaupt funktioniert diese Metamorphose nur in seltenen Fällen, da das, zu dem der Komponist in seinem eigenen Œuvre referiert, entweder einem ursprünglich externen Co-Autor (ob konkret oder als Stilkonvention) zugeschrieben werden kann oder sich aber selten zu einer Eigenkonvention entwickelt, sondern an verschiedenen Kompositionen eher Selbstzitat als Form der Eigenreferenzialität bleibt, wie beispielsweise das Doppelsekundmotiv aus der Fuge für Violine solo an der Symphonie Nr. 4 und am Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester. Diesem Motiv den Habitus einer Eigenkonvention zuzuschreiben, liegt außerhalb des Bedeutungshorizontes des Begriffs ‚Konvention’. Das Phänomen der Fremdreferenzialität verweist hingegen auf einen noch ganz anderen Aspekt, nämlich den der Medialität des vermeintlichen Haupt-Autors Alfred Schnittke. Im Sinne von Gadamers Autorisationsgedanken wurde bereits auf die Durchsichtigkeit des stilistischen Palimpsests Alfred Schnittke verwiesen. Einerseits erlangt der zitierte oder durch Allusionen angedeutete Co-Autor Autorität über die Komposition, in der er als Fremdreferenz vertreten ist. Andererseits kann sich aus dieser Fremdreferenz eine Eigenkonvention bilden, wie die einsätzige Mehrsätzigkeit bei Schnittke, so dass in Kapitel II.3.2 die Frage beantwortet werden muss, ob Schnittke auch dann in gewissem Sinne medial bleibt, wenn er sich bestimmte Fremdreferenzen aneignet und zu einer Eigenkonvention entwickelt. Denn dann würde das stilistische Palimpsest, das wir bis hierher gebildet haben, den Namen Alfred Schnittke als Haupt-Autor verlieren, da einzig und allein die CoAutorschaften Konstituenten der diskutierten Komposition wären. Diese Problematik wird im eben genannten Kapitel ausführlich diskutiert werden. In diesem Kapitel wurde schon mehrfach auf die Problematik einer Überinterpretation sowohl der auktorialen als auch der Werkebene hingewiesen. Welche Möglichkeiten und Grenzen der hermeneutische Diskurs aufweist, sei nun am Beispiel von Schnittkes Klavierkonzerten erörtert.

2.2

Grenzen der Interpretation I – Biographie als Basis von Hermeneutik

Da die Phrase ‚Grenzen der Interpretation’ zunächst eine globale ist und damit nicht klar ist, um welche Grenzen welcher Interpretationsart es geht, sei angemerkt, dass wir uns den Grenzen der Interpretierbarkeit zum Einen von der Seite des Autors und konkret von seiner Biographie her nähern, zum Anderen von der Seite des Werkes her. Auf beiden Seiten hat es im Laufe der vergangenen Jahrzehnte, seit Autor und Werk überhaupt erst in einen kritischen Diskurs gelangten, Extrempositionen gegeben, die versucht haben, beide Konstituenten des auktorialen Diskurses gegeneinander auszuspielen. Freilich gilt diese Betrachtung eher für Diskurse im westlichen Europa. In der sozialistisch-realistischen Musikwissenschaft der Sowjetunion war ein Hinterfragen biographischer Bedeutungen nie vorgesehen, was bis heute

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Der auktoriale Diskurs

spürbar bleibt.146 Dabei ist zu beachten, dass es sich an dieser Stelle nicht um den musikalischen Interpretationsbegriff handelt, der die In-Klang-Setzung einer Partitur durch Interpreten meint, sondern um den phänomenologisch gewandelten Interpretationsbegriff der Deutung. Vor allem die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzende (in der Musik spätestens seit Johann Matthesons Grundlage einer Ehren-Pforte, Hamburg 1740)147 und sich im 19. Jahrhundert zur Monumentalform entwickelnde Biographik lieferte gleichermaßen Stoff für Apologeten wie auch Liquidatoren des Autor-Werk-Verhältnisses, so dass sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts der Strukturalismus vom Dogma des vormaligen Biographiebezugs endgültig befreite und die Unabhängigkeit des Kunstwerkes vom Autor apostrophierte: „The poem belongs to the public.“148 Auf den Punkt gebracht hatte diesen Denkansatz Roland Barthes, der in seinem 1968 erschienenen Aufsatz den „mort de l’auteur“149 postulierte. Später – und wohl bis heute anhaltend – kehrte der Autor wieder in den hermeneutischen Diskurs zurück, freilich durch Barthes, Michel Foucault und Co. geläutert, so dass uns heute die ganze Bandbreite eines Autor-Werk-Verhältnisses von der biographistischen Überpräsenz des Autors bis zu dessen totaler Absenz zur Verfügung steht. Es wurden bereits in der Einleitung zu diesem zweiten Teil der vorliegenden Arbeit mehrere Autoren auf der Ebene der In-Klang-Setzung eines notentextlichen Werkes ausgemacht. Hiernach erschienen unter interauktorialen Aspekten und in Bezug auf Gadamers Autorisationsgedanken mehrere Co-Autoren im Geiste auf beiden Werkebenen, so dass nun zunächst gefragt werden muss, welcher Autor auf welcher Werkebene denn nun stirbt, wenn man ein Kunstwerk aus seinem Verhältnis zu seinem ‚Autor‘ herauslösen wollte? Demgegenüber lässt sich im Umkehrschluss fragen, wie zuvor mit einer übertriebenen biographistischen Interpretation eines Kunstwerkes umgegangen werden muss, wenn plötzlich mehrere Biographien mehrerer Autoren auf mehreren Werkebenen berücksichtigt zu Tage treten?

146 Vgl. Christoph Flamm, „Das Problem sowjetische Musikgeschichte. Gedanken zu einer schwierigen Vergangenheitsbewältigung“, in: Music and Dictatorship in Europe and Latin America, hrsg. von Roberto Illiano und Massimiliano Sala (= Speculum Musicae 14), Turnhout 2009, S. 383–402. 147 Vgl. hierzu u.a. die Aufsätze von Joachim Kremer, „‚Leben und Werk‘ als biographisches Konzept der Musikwissenschaft: Überlegungen zur ‚Berufsbiographie‘, zu den ‚Komponisten von Amts wegen‘ und dem Begriff ‚Kleinmeister‘“; Michael Maurer, „Zur Theorie der Biographie im 18. Jahrhundert“ und Eckhard Roch, „Wozu Musikerbiographien? Georg Philipp Telemanns Autobiographie im Kontext von Johann Matthesons ‚Musikalischer Ehrenpforte‘“ in: Biographie und Kunst als historiographisches Problem. Bericht über die Internationale Wissenschaftliche Konferenz anläßlich der 16. Magdeburger Telemann-Festtage Magdeburg, 13. bis 15. März 2002, hrsg. von Joachim Kremer, Wolf Hobohm und Wolfgang Ruf (= Telemann-Konferenzberichte 14), Hildesheim, Zürich und New York 2004, S. 11–39, S. 40–45 und S. 101–111. 148 William K. Wimsatt und Monroe C. Beardsley, „The Intentional Fallacy“, in: Sewanee Review 54 (1946), S. 470. 149 Roland Barthes, „Le mort de l’auteur“, in: Manteia (1968), S. 12–17. Eine deutsche Übersetzung von Matias Martinez ist vorhanden in Texte zur Theorie der Autorschaft, hrsg. von Fotis Jannidis u.a. (= Universal-Bibliothek 18058), Stuttgart 2000, S. 185–193.

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Um sich diesen komplexen Fragestellungen zu nähern, hilft einerseits ein Blick auf den musikästhetischen Diskurs, der die kritische Betrachtung von Biographik seit einigen Jahrzehnten kennt und diskutiert. Die musikalische Biographik ist spätestens seit den 1970er Jahren Gegenstand zahlreicher Kolloquien und Teildiskurs von Konferenzen. In jüngster Zeit wurde auf einer internationalen Konferenz mit dem Titel (Auto)Biography as Musicological Discourse in Belgrad vom 19. bis zum 22. April 2008 sich dem Verhältnis von Autor, Werk und Biographie in der Musik gewidmet, auf der die ganze Bandbreite an Argumenten für und wider die biographische Interpretation als Deutung teils kontrovers diskutiert wurde. Andererseits ist ein Blick in die Literaturtheorie hilfreich, um diese in der Musikästhetik erkannten Phänomene strukturell und systematisiert benennen zu können. Dabei ist der Begriff Strukturalität hier nicht als Strukturalismus und damit einer historischen Betrachtungsweise opponierend zu verstehen. Vielmehr hatte die Musikästhetik es bisher nur versäumt, dem Kind einen Namen zu geben. Es sollen an dieser Stelle nicht Erkenntnisse und Diskussionen innerhalb der Musikästhetik wiederholt werden, denn es reicht für unsere Zwecke vollkommen aus, das, was sich bisher hinter der kritischen Betrachtung der Biographik im Verhältnis zur Hermeneutik verbarg, kurz zu benennen. Zunächst sei hier auf zwei Aufsätze hingewiesen, von denen einer die Antwort auf den anderen ist und die beide eine Biographik im Sinne einer Grundlage für Hermeneutik verteidigen: Carl Dahlhaus’ „Wozu noch Biographien?“ und Hermann Danusers „Kann Poetik die Biographik retten?“150. Dahlhaus’ polemisch betitelter Aufsatz fragt nach dem Sinn der Komponistenbiographie in einem: […] Zeitalter [...], das weniger nach der Vergangenheit fragt, aus der die heutige Wirklichkeit hervorgegangen ist, als nach der Zukunft, in der die Möglichkeiten der Gegenwart entweder verkümmern oder sich entfalten werden.151

Sein eigener Standpunkt wird am Ende des Aufsatzes deutlich, wenn er konstatiert, dass: […] [d]ie biographische Fundierung musikalischer Werke [...] auch dort, wo sie rekonstruierbar erscheint, für die Interpretation irrelevant [ist]. (Zudem zeigt die Trennung der Kapitel ‚Leben‘ und ‚Werk‘, die Trennung von positivistischer Forschung und formaler Musikanalyse, den Zerfall der Biographik von innen heraus.) Wenn aber die ästhetischen Voraussetzungen, von denen sie getragen wurden, zerbröckelt sind – wozu dann noch Komponisten-Biographien?152

Dahlhaus’ provokante und ironisch gemeinte Frage153 zielt auf den poststrukturalistischen Deutungsansatz, der Biographie eines Komponisten (bzw. eines Autors) kei150 Carl Dahlhaus, „Wozu noch Biographien?“, in: Melos/NZ 1 (1975), Heft 2, S. 82 und Hermann Danuser, „Kann Poetik die Biographik retten?“, in: Melos/NZ 1 (1975), Heft 4, S. 286f. 151 Dahlhaus, „Biographien?“ (wie Anm. 150), S. 82. 152 Ebd. 153 Für Peter Ahnsehl ist Dahlhaus‘ Beitrag ernstgemeint, was allerdings verneint werden muss. Vgl. Peter Ahnsehl, „Die Entschlüsselung der musikalischen und außermusikalischen Sinngebung eines

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Der auktoriale Diskurs

nerlei Bedeutung beizumessen, sondern das Werk selbst und seine Position innerhalb nichtauktorialer Strukturen zur Basis eines hermeneutischen Diskurses zu machen. Danuser greift diese Kritik auf und bietet einen Lösungsansatz, der das biographische Moment insofern relativiert, als nicht die Lebensgeschichte eines Komponisten selbst, mit all ihren Schicksalsmomenten und Banalitäten, als eine am Werk Bedeutung generierende Bedingung auftritt, sondern die poetologische Intention des Autors, die sich zwar aus den biographischen Momenten ergibt, diese jedoch damit nur mittelbar am hermeneutischen Diskurs beteiligt sind. Gleichzeitig greift Danuser mit dem Begriff der Autorintention, den er als poetologisch, d.h. auf die Selbstsicht des Autors und den darauffolgenden Werkentstehungsprozess bezogen, begreift, eine weitere Erkenntnis des literaturtheoretischen Diskurses auf und versucht so, die Komponistenbiographie als Vorbedingung eines nicht-biographistischen Deutungsansatzes zu retten. Die Interpretation eines Textes über die Autorintention wurde freilich vorher schon von Wimsatt und Beardsley angegriffen und negiert: The poem is not the critic’s own and not the author’s (it is detached from the author at birth and goes about the world beyond his power to intend about it or control it).154

Nach Danuser würde jedoch ein Kunstwerk nur durch Berücksichtigung der poetologischen Intention zum Kunstwerk: Als Kunstwerk im emphatischen Sinn darf nur gelten, was nicht als schiere Erfüllung eines poetologischen Programms erscheint – dies wäre, da virtuell im Voraus greifbar, in concreto überflüssig –, sondern was sich aus der Dialektik zwischen subjektiv poetologischer Intention und der Eigengesetzlichkeit des bestimmten musikalischen Materials entfaltet und dessen Formgesetz, statt a priori fixiert zu sein, aus diesem Prozeß erst entsteht.155

Um die Bedeutung eines Kunstwerkes gänzlich erfassen zu können, sei deshalb der wissenschaftlich-ästhetische Blick in die poetologische Intention unumgänglich. Diese wiederum kann nur mit Hilfe der Biographik herausgearbeitet werden: Zu postulieren wäre eine Biographik, die sich streng in der Funktion einer Hilfswissenschaft begreifen würde, deren Ziel vor allem in der genauen Darstellung der Entwicklung des kompositorischen Denkens läge, insoweit es sich explizit in Worten, unter Umständen auch in Taten äußert. Der prosaische Alltag, das Leben eines Komponisten dürfe von ihr nicht als Selbstzweck, die ihre Forschungen zu rechtfertigen vermöchte – ein Komponist überlebt allein in seinem Werk –, sondern einzig aus der Absicht heraus untersucht werden, bis ins Detail herauszuarbeiten, wie dieser Alltag, wozu auch alle künstlerischen und intellektuellen Anregungen sowie die Rezeptionserfahrungen des eigenen Werkes zu rechnen wären, sich zu dem

musikalischen Werkes durch biographische und entstehungsgeschtliche Forschungen“, in: Wozu Biographik? Zur Rolle biographischer Methoden in Vermittlungsprozessen und Musikanalyse, hrsg. von Andreas Waczkat, Rostock 2003, S. 13. 154 Wimsatt und Beardsley, „Intentional Fallacy“ (wie Anm. 148), S. 470. 155 Danuser, „Kann Poetik die Biographik retten?“ (wie Anm. 150), S. 287.

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geschichtlich wandelbaren Bewußtsein konkretisiert, das in den spezifischen poetologischen Intentionen die unmittelbare Voraussetzung für die kompositorische Gestaltung der Gebilde selbst darstellt.156

In einem 15 Jahre später veröffentlichten Aufsatz schränkt Danuser zwar die Relevanz der Biographie eines Komponisten für das Werkverständnis ein: Es ist im Gegenteil ein Bestimmungsmerkmal eines wirklichen Kunstwerks, daß es die genannte Funktion [eines biographischen Dokuments, Anm. d. Verf.] nicht erfüllt. Denn wenn die biographische Betrachtungsweise eines Werkes zwar durchaus eine Möglichkeit der historischen Annäherung darstellt, so gehört es doch konstitutiv zu einem Musikwerk, daß es die biographische Dimension übersteigt und erst dann, wenn es sich aus dieser lebenswirklichen Abhängigkeit vom Komponisten gelöst hat, wahrhaft zu einem Kunstwerk wird.157

Dennoch beharrt Danuser auf der Aussage, dass es ein vollständiges Werkverständnis nur geben kann, wenn die Biographie des Komponisten präsent ist. Denn es gibt seiner Meinung nach Fälle, […] bei denen die Kenntnis biographischer Fakten nicht allein wünschbar, sondern für ein unverkürztes Verstehen der Werke schlechterdings unabdingbar ist, nämlich all jene, in denen – auf dem Gebiet der autonomen Musik – Biographisches als Sujet oder Material so involviert ist, daß es als auktorial ausgewiesener Teil der Ästhetik (nicht allein der Genesis!) zu gelten hat.158

An dieser Stelle müssen wir eine Zäsur setzen und zunächst untersuchen, auf welcher Basis Danuser diese Aussagen macht und ob diese überhaupt so einfach hinnehmbar sind. Hierzu helfen uns die Erkenntnisse aus den vorangehenden Kapiteln. Zunächst sei auf das Kapitel II.1.1 verwiesen, in dem die Problematik einer Analogisierung des notentextlichen Werkes mit dem auditiven Werk aufgezeigt wurde. Allein hier stellt sich die Frage nach dem Ort des Verständnisses eines Werkes, geht es um das Verständnis der Partitur oder um das ihrer In-Klang-Setzung, oder gar um das Verständnis beider zur gleichen Zeit? Selbst wenn das der Fall sein sollte und Danuser hier als Werk einen symbiotischen Werkbegriff meint, kann ein ‚verkürztes’ oder erweitertes Verständnis dieses Werkes sowohl auf der notentextlichen als auch auf der klanglichen Ebene ansetzen. Gleichzeitig lässt Danuser offen, wann er Biographisches zur Werkhermeneutik heranziehen will und wann nicht. Somit läuft er Gefahr, dass der hermeneutische Prozess einer subjektiven Opportunität anheim fällt: Dann, wenn es mir nützlich erscheint, spielt der biographische Hintergrund eine so gewichtige Rolle, dass ich das Werk ohne diesen hermeneutisch nur verkürzt erfassen könnte. Gleichwohl könnte man einschränkend hinzufügen, dass 156 Ebd. 157 Hermann Danuser, „Biographik und musikalische Hermeneutik. Zum Verhältnis zweier Disziplinen der Musikwissenschaft“, in: Neue Musik und Tradition. Festschrift Rudolf Stephan zum 65. Geburtstag, hrsg. von Josef Kuckertz u.a., Laaber 1990, S. 581f. 158 Ebd., S. 594.

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„[…] [d]ie Intention des Verfassers [...] also nur insofern relevant [ist], als sie in der Konzeption und Zeichenfolge des Textes zum Ausdruck kommt“159. Sowohl Danusers Rhetorik als auch seine Werkbeispiele bleiben jedoch in dem Oppositionsgedanken von Biographie und Strukturalismus stecken, ohne den Versuch zu starten, beide Spielarten als zwei Teile von Hermeneutik, die auch separat zu ergiebigen Erkenntnissen führen können, zu begreifen, auch wenn er auf Harry Goldschmidt verweist, der bemerkt, dass: […] [i]hr Verhältnis [...] kein alternatives [...] ist, sondern ein komplementäres. [...] So unvertauschbar die Methoden, sollte man es auch nicht darauf ankommen lassen, sie gegeneinander auszuspielen.160

Gleichzeitig macht Goldschmidt – wenn auch aus der Perspektive einer marxistischen Ästhetik heraus, wie Danuser zu bedenken gibt – Folgendes deutlich: Das Kunstwerk steht nicht neben dem Leben; es partizipiert bestenfalls auch an ihm nicht bloß. Bei aller Verselbständigung zu einem zweiten, ideellen Dasein integriert es in das Leben zurück, weil das Leben alle Quelle der Kunst ist und bleibt.161

Dieselbe Position vertritt sieben Jahre später noch Hans-Dieter Schmidt, der in seinem Aufsatz „Biographik und musikalisches Kunstwerk – Möglichkeiten und Grenzen psychologischer Annäherung“162 eben diese Passage aus Goldschmidts Vortrag zitiert und als seine Position deklariert. Es wird deutlich, dass Danuser mit seiner Zuweisung des Kunstwerkes als „biographische[s] Dokument“163 zur marxistischen Musikwissenschaft Recht hat. Danuser weist diese unbedingte Zusammengehörigkeit zwar von sich, kehrt aber selbst über die poetologische Intention doch wieder zu ihr zurück. Dennoch lässt sich aus der von Danuser benannten ideologischen Position heraus das biographistische Moment in der Interpretation von Schnittkes Klavierkonzerten nachvollziehen und benennen. Insofern verwundert es nicht, dass auch in der musikwissenschaftlichen Betrachtung der Werke Alfred Schnittkes (nicht nur in der Sowjetunion bzw. in Russland) ein deutender Ansatz nie ohne den biographischen Hintergrund stattfindet, dass, 159 Tom Kindt und Hans-Harald Müller, „Was war eigentlich der Biographismus – und was ist aus ihm geworden? Eine Untersuchung“, in: Autorschaft. Positionen und Revisionen. DFG-Symposion 2001, hrsg. von Heinrich Detering (= Germanistische Symposien-Berichtsbände 24), Stuttgart und Weimar 2002, S. 358. 160 Harry Goldschmidt, „Kunstwerk und Biographie“, in: Bericht über den Internationalen BeethovenKongreß Berlin 1977, hrsg. von Harry Goldschmidt, Karl-Heinz Köhler und Konrad Niemann, Leipzig 1978, S. 440. 161 Ebd., S. 445. 162 Vgl. Hans-Dieter Schmidt, „Biographik und musikalisches Kunstwerk – Möglichkeiten und Grenzen psychologischer Annäherung“, in: Komponisten, auf Leben und Werk befragt. Ein Kolloquium, hrsg. von Harry Goldschmidt, Georg Knepler und Konrad Niemann, Leipzig 1985, S. 38–52. 163 Goldschmidt, „Kunstwerk und Biographie“ (wie Anm. 160), S. 440

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auch wenn Dahlhaus die Musiktheorie als autorenlos und strukturalistisch deklariert, selbst die analytische Betrachtung seiner Werke ohne ein biographisches Moment – sei es am Platz der Genese des Werkes oder auktorial ästhetisch – nicht auskommt. Im Gegenteil, gerade Alfred Schnittke ist ein gutes Beispiel dafür, wie Werk und Biographie untrennbar Hand in Hand durch den hermeneutischen Garten spazieren, wie Biographik einerseits, ob als Quelle poetologischer Intentionalität oder fatalistischer Medialität (diese wird uns im Kapitel II.3.2 noch begegnen), zur Genese der Werkbedeutungen beiträgt und wie im Umkehrschluss die Werke durch ihnen vermeintlich immanente biographische Sujets die Biographie einer konstruierten Autorschaftsfigur Alfred Schnittke konstituieren. In diesem Sinne ist dieses Kapitel eine Vorbereitung auf den letzten großen Teil dieser Arbeit, das Phänomen der Eigen- und Fremdinszenierung, durch die das Verhältnis des Autors und seiner Biographie zu seinen Werken aus einem konstruktivistischen Blickwinkel betrachtet wird. Was nun die Grenze der Interpretation innerhalb der biographischen Methode angeht, so lassen sich zunächst anhand der Geschichte des Biographismus’ drei Formen der „Übertreibung des im Grundwort angezeigten Prinzips“164 benennen, die im Laufe der Jahrhunderte vor allem in der Literaturwissenschaft entstanden waren: a) die Suche nach literarischen Reminiszenzen, b) die Suche nach Vorbildern aus dem Leben eines Autors für seine literarischen Gestalten sowie c) eine kulturgeschichtliche Betrachtung, bei der „[…] die Individualität des Künstlers als Ausfluß der ganzen Zeit verstanden wird“165. Analog dazu teilt Hans-Dieter Schmidt das Verhältnis von Biographie und Kunstwerk in drei Schichten als Relation von Ereignissen: 1. das Ereignis des individuellen Schaffensprozesses, 2. Ereignisse in der individuellen Lebenspraxis und 3. Ereignisse in der umfassenden gesellschaftlichen Praxis.166 Tom Kindt und Hans-Harald Müller geben allerdings zu bedenken, dass diese drei historischen Formen biographistischer Übertreibung eben historisch betrachtet werden sollten und deshalb nicht zwangsläufig aus einer biographischen Methode als Teil der Hermeneutik ausgeschlossen sein müssen: Als ‚mißbräuchlich’ und also ‚biographistisch’ sollten vielmehr nur solche Anwendungen des biographischen Prinzips charakterisiert werden, die isolierte Teile von Werken auf das Leben 164 Kindt und Müller, „Biographismus“ (wie Anm. 159), S. 355. 165 Max Dessoir, Systematik und Geschichte der Künste, Sonderabdruck aus der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Band 9, Heft 1, hrsg. von Max Dessoir, Stuttgart 1913, S. 10. 166 Vgl. Schmidt, „Biographik und musikalisches Kunstwerk“ (wie Anm. 148), S. 44.

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ihrer Verfasser zurückführen, ohne die Relevanz solcher Verknüpfungen für die Konzeption und integrative Deutung des Werks auszuweisen.167

Diese Einschränkung einer biographischen Herangehensweise an ein Kunstwerk leuchtet ein, wenngleich wir nochmalig einschränken müssen, um welche isolierten Teile welcher Werkebene es geht und ob diese auf das Leben des Haupt-Autors oder das seiner Co-Autoren zurückführen; d.h. ob sich Alfred Schnittke womöglich das Leben seines Co-Autors zunutze macht, um eigenes Biographisches in seinem Werk (ob auf notentextlicher oder auditiver Werkebene) zu konstruieren. Um auf die in der Überschrift dieses Kapitels bemühten Grenzen der Interpretation in Bezug auf die biographische Methode hinzuweisen, sei auf Umberto Ecos gleichnamiges Buch verwiesen, das einen strukturellen epistemologischen Ansatz zur Heuristik des Begriffs Interpretation und seiner Grenzen bietet, beschränkt natürlich auf literarische Texte. Eco geht zunächst von drei Intentionstypen aus, von denen einer auch bei Danuser auftaucht, um ein Werk zu interpretieren: die intentio auctoris, die intentio operis und die intentio lectoris.168 Wir haben bereits in der Einleitung des vorangehenden Kapitels mit Hilfe von Martens Sezierung der Autorschaftsfigur klargestellt, dass es von der notentextlichen Partitur bis zur Interpretation eines auditiven Werkes durch Rezipienten mehrere auctores gibt, die zum Urheber jeweils eigener Werke werden. Insofern generieren die intentio auctoris und die intentio lectoris ein jeweils eigenständiges Werk, das sich von der intentio operis, die nur mit Hilfe strukturell-analytischer Kriterien herausgefiltert wird, unterscheiden kann (aber nicht muss). Nun steht in der Musik zwischen der Intention des Autors und der Intention des Lesers (bzw. des Rezipienten) nicht allein die Intention des Textes. Es wurde geklärt, dass die zur In-Klang-Setzung benötigten Interpreten ebenfalls an der Genese des Werkes (ihres eigenen als Urheber) beteiligt sind, dass also eine intentio interpretis der intentio auditoris vorgeschaltet und der intentio operis nachgeschaltet ist, da die musikalische Interpretation eines Notentextes durch Interpreten der deutenden Interpretation des auditiven Werkes durch Rezipienten vorangeht. Gleichzeitig muss man, wie im selben Kapitel angemerkt, von zwei in der Interpretation voneinander getrennten Werkbegriffen ausgehen, so dass der Begriff intentio operis in zwei Teile untergliedert werden muss: die intentio textus notarum und die intentio soni. Jedoch bleibt das Werk als Symbiose aus dem notentextlichen und auditiven Werk in der Interpretation bestehen, da durchaus die Möglichkeit besteht, dass sich aus der Analyse eines Notentextes und der Höranalyse eines auditiven Werkes eine übergeordnete allgemeine intentio operis generiert, die ohne beide Teilintentionen nicht feststellbar wäre. Ferner müssen wir drei Rezipientengruppen unterscheiden, die ihre jeweils eigene Intention im Herangehen an das entsprechende Werk (als textus notarum und sonus oder beide zusammen als opus) innehaben, so dass wir gezwungen sind, von einer intentio lectoris (des Lesers der Partitur), einer intentio auditoris (des Hörers des auditiven Werkes) und einer intentio recipientis (beider Werkebenen) zu sprechen. Damit erreicht Ecos Typo167 Kindt und Müller, „Biographismus“ (wie Anm. 159), S. 374f. 168 Eco, Grenzen der Interpretation (wie Anm. 50) S. 35–39.

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logie neben der horizontalen Ebene auch eine vertikale, die noch dazu die horizontale Ebene an unterschiedlichen Punkten durchdringen kann und somit differente Interpretationsansätze zulässt. In diesem Sinne der Durchdringung verschiedener Intentionen bzw. dem Missverhältnis einzelner Intentionstypen zueinander (sowohl auf der horizontalen, der vertikalen als auch der diagonalen, der Durchdringungsebene) ist das Übertreten von Interpretationsgrenzen erst möglich. An dieser Stelle muss Eco jedoch kritisch betrachtet werden, denn er behauptet, dass: […] [z]wischen der unerreichbaren Intention des Autors und der fragwürdigen Intention des Lesers [...] die klare Intention des Textes [steht], die eine unhaltbare Interpretation widerlegt.169

Da wir es, im Unterschied zur Literatur, wo dies zutreffen mag, in der Musik mit zwei Werktypen zu tun haben, von denen einer der Text ist, der andere dessen InKlang-Setzung, kann von ‚klarer Intention‘ nicht gesprochen werden, zumal nicht nur der In-Klang-Setzung die Evidenz der literarischen Sprache abgeht, wie in Kapitel II.1.1 bemerkt wurde. Vielmehr können die Notentextanalyse und die Höranalyse ein und derselben Stelle einer Komposition oder einer Komposition insgesamt unterschiedliche Intentionen offenbaren, die dann wiederum nur mit der Intention des Autors erklärt werden können. Dabei basiert die Übertretung der Interpretationsgrenze im biographistischen Sinne hauptsächlich auf der intentio der rezeptiven Seite, also auf der Seite des lectoris, des auditoris und des recipientis. Der Rezipient setzt analytische Ergebnisse (sowohl der Notentext- als auch der Höranalyse oder beider) ins Verhältnis zur Biographie des Haupt-Autors der Komposition und sucht nach eindeutigen Zusammenhängen, die sowohl das Werk aus der Biographie des Komponisten als auch die Biographie des Komponisten mit Hilfe des Werkes interpretieren wollen, ‚ohne die Relevanz solcher Verknüpfungen für die Konzeption und integrative Deutung des Werkes auszuweisen‘ und somit die „Rechte des Textes“170 übergehend. Dennoch muss Kindts und Müllers Definition der biographistischen Methode um ein Problem erweitert werden, das sich erst ex negativo konstituiert und was als Alternativdeutung benannt sein soll. Danuser gibt an, dass ein Werk „[…] im Lichte der Biographie [...] um so differenzierter und reicher erkennbar wird“171. Das unterbindet freilich einen Interpretationsansatz, der ohne das Licht der Biographie ganz andere Erkenntnisse liefern würde. Die Frage ist, ob ein Werk unter Einbeziehung der Biographie tatsächlich ‚reicher‘ wird oder vielleicht nicht doch ärmer, da durch das Potential einer Konzentration auf die Biographie oder biographische Momente des Komponisten innerhalb des hermeneutischen Prozesses die Gefahr einer unwiederbringlich absolut gesetzten Beziehung zwischen der Biographie eines Komponisten und dessen Werk besteht und damit andere Deutungsmomente in den Hinter169 Ebd., S. 158. 170 Ebd., S. 22. 171 Danuser, „Biographik und musikalische Hermeneutik“ (wie Anm. 157), S. 573.

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grund treten, die in einer anderen Interpretationsrichtung anders, aber nicht minder schlüssig und ergiebig wären. Sowohl Kindt und Müller als auch Danuser halten es für möglich, dass biographische Momente eines Komponisten in den Interpretationsansatz eines Werkes integriert werden. Damit wird aber deutlich, dass eben diese Verknüpfung nur vom Rezipienten und dessen intentio ausgehen kann, selbst wenn sich aus dem Werk eine intentio auctoris ablesen lässt, z.B. durch Eigenreferenzen in Schnittkes Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester. Denn erst er setzt das Werk (das ja ohne den Komponisten existieren kann) und die Biographie des Komponisten (die ohne die Werkausdeutung Bestand hat) in jenes Verhältnis, das die biographische Methode erlaubt. Selbst wenn Schnittke, wie im Klavierquintett, einigen seiner Werke biographische Momente als Kompositionsgrundlage zuweist, liegt die Akzeptanz dieser intentio auctoris beim Rezipienten. In der Rezeption der Musik Alfred Schnittkes ist der Hang zu einer übertrieben biographistischen Interpretationsweise seiner Kompositionen besonders groß, was unter anderen ein Grund dafür ist, weshalb Schnittke für einen auktorialen Diskurs prädestiniert ist. Im Folgenden seien deshalb die Zuschreibungen, die Schnittkes Musik im Allgemeinen und seine Klavierkonzerte im Besonderen in der Rezeption bisher erfahren haben, genannt und auf deren interpretatorische Erkenntnisse für Schnittkes Biographie einerseits und für seine Klavierkonzerte andererseits untersucht. Wurde im vergangenen Kapitel die Autorschaftsfigur als Ort interauktorialer Kommunikation ausdifferenziert sowie mit dem Modell des stilistischen Palimpsests die Grundlage einer kontextuellen Ortung des Haupt-Autors Alfred Schnittke geschaffen, die noch dazu aufgrund des chronologischen Charakters der Palimpsestbeschaffenheit biographische Zuweisungen in der Werkinterpretation unterstützt, so müssen nun die Grenzen einer derartigen Interpretation aufgezeigt werden. Schnittkes Klavierkonzerte bieten dahingehend Potential, nicht nur einen Ausschnitt aus seiner Biographie zu beleuchten und dessen (übertriebene) Interpretation am Werk zu hinterfragen, sondern gleichsam nahezu Schnittkes gesamte Schaffenszeit von den Studienjahren bis zum späten Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester zumindest punktuell ausleuchten zu können. Damit ergibt sich die Möglichkeit, bestimmte Stilzuschreibungen an bestimmten Orten in Schnittkes Biographie mit den Analyseergebnissen aus dem ersten Teil dieser Arbeit und den interauktorialen Erkenntnissen zu vergleichen und so biographistische Tendenzen in der Rezeption aufzudecken. Gleichzeitig wird dadurch deutlich, wie grundlegend wichtig die intentio recipientis ist und wie gleichzeitig auch die intentio auctoris hilft, die Grenzen der Interpretation zu übertreten, wenn beide Intentionen im Widerspruch zur intentio operis stehen. Als Beispiel seien hier zunächst zwei Kompositionen genannt, die mit den vier Klavierkonzerten vordergründig nichts zu tun haben, gleichzeitig aber – zum Einen über ihren Charakter als Solokonzerte, zum Anderen aufgrund der Verabsolutierung des Biographischen in diesen Werken und darüber hinaus durch die damit einhergehende Oktroyierung dieses Biographischen auf des Gesamtwerk – sinnbildlich für die Interpretation von Schnittkes Œuvre insgesamt stehen: das Violakonzert Nr. 1

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und das Cellokonzert Nr. 1. Beide Werke (als Notentexte) wurden von Schnittke im Jahr 1985 komponiert, zwischen beiden Werken hatte Schnittke seinen ersten Schlaganfall. Soweit lässt die biographische Methode eine Korrelation zwischen Werk und Biographie zu. Die Auswahl beider Kompositionen und der Verweis auf das Biographische jedoch lassen bereits vermuten, dass über das bloße Faktum hinaus, dass zwischen der Fertigstellung beider Kompositionen Schnittkes erster Schlaganfall passierte, ein innerer Zusammenhang zwischen den beiden Konzerten und dem Schlaganfall selbst liegt, dass sich zumindest im Cellokonzert der Schlaganfall in irgendeiner Form als biographisches Moment feststellen lässt und somit die Interpretation um eben dieses Moment ‚bereichert’ würde. Fakt ist allerdings eine ganz andere Interpretation, die zum Einen von Schnittke selbst lanciert wurde (und deshalb auch noch bis zum vierten Klavierkonzert nachwirkt) und demzufolge auch die Rezeption beeinflusst hat, dass andererseits aber auch der Werkcharakter des Violakonzertes selbst eine dahingehend biographistische Interpretation zulässt. Schnittke gibt an, dass das Violakonzert: […] [i]n gewisser Hinsicht [...] einen (vorläufig) abschließenden Sinn [hat] – denn zehn Tage nach Beendigung der Arbeit kam der ausweglose Schlaganfall, und ich konnte erst langsam in einen zweiten Lebenskreis eintreten, den ich jetzt durchschreite. Wie in einer Vorahnung des Kommenden entstand eine Musik mit hastigem Durchs-Leben-Jagen im 2. Satz und langsamer und trauriger Lebensüberschau an der Todesschwelle im 3. Satz.172

Die russische Musikwissenschaftlerin Maria Kostakeva nimmt diese Aussage auf und beginnt, das Violakonzert dahingehend zu interpretieren: Das Violakonzert, welches im Jahr seines [Schnittkes, Anm. d. Verf.] ersten Schlaganfalls 1985 erschien, nimmt in Schnittkes Schaffen eine Schlüsselrolle ein. Es ist das Ende und gleichzeitig der Anfang eines neuen Wegs der Weisheit und der Versöhnung mit dem Schicksal. Die Einsamkeit und die Traurigkeit, die das ganze Konzert, vor allem aber das Finale prägen, sind die Vorahnung einer dramatischen Lebenskurve, die der Komponist glücklicherweise überstehen konnte.173

Das biographistische Moment dieser Interpretationsart ist eindeutig. Die intentio recipientis (eines symbiotischen Werkes) basiert hier auf der intentio auctoris, ohne zu hinterfragen, inwieweit die intentio operis (sowohl des textus notarum als auch des soni) diese Interpretation zulassen. Wie bereits eingangs des vorangehenden Kapitels bemerkt wurde, kann ein in Klang gesetztes Instrumentalstück keine konkreten sprachlichen Aussagen treffen, da seine Sprache zu abstrakt ist. Weder das Soloinstrument noch das Orchester oder beider Interagieren ist in der Lage zu sagen, dass das musikalische Material oder deren klangliche Ausdeutung in irgendeiner Weise als Prophezeiung eines Schlaganfalls zu deuten sind. Erst die intentio recipientis (oder eine ihrer 172 Alfred Schnittke über das Konzert für Viola und Orchester, in: Köchel (Red.), Schnittke zum 60. Geburtstag (wie Anm. 1), S. 96f. 173 Maria Kostakeva, „Die stille Traurigkeit des Seins. Über die Instrumentalkonzerte Alfred Schnittkes“, in: Das Orchester 46 (1998), Heft 2, S. 17f.

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Teile, dann vornehmlich die intentio auditoris, da Klangliches leichter korruptibel ist) kann in den Notentext oder das auditive Werk eine derart biographische Konnexion hineininterpretieren. Offenbar entspricht aber diese intentio recipientis der intentio auctoris, wie aus Schnittkes Äußerung hervorgeht, so dass zumindest zwei der von Eco aufgestellten Intentionstypen miteinander korrelieren. Tatsächlich jedoch ist Schnittkes Eigenaussage, also die intentio auctoris, eine im Nachhinein konstruierte, wie aus dem Zitat hervorgeht, was ihren Geltungsanspruch als der Entstehung des Notentextes vorgelagerte Intention – im Kompositionsprozess – negiert. Schnittkes Äußerung ist deshalb keine intentio auctoris im eigentlichen Sinne, sondern eine intentio auctoris recipiente operis sui. Dennoch zeigt dieses Beispiel, wie ein biographisches Moment sowohl vom Autor selbst als auch von der Rezeption dazu benutzt wird, ein Werk zu interpretieren, das sogar noch kurz vor dem eigentlichen biographischen Moment geschaffen wurde. Die Musikwissenschaftlerin Dorothea Redepenning erwähnt den Schlaganfall ebenfalls, wenngleich sie in ihrer Ausdeutung dahingehend etwas subtiler vorgeht: Im Bratschenkonzert, das Schnittke 1985 kurz vor seinem ersten Schlaganfall vollendete, gibt es im zweiten Satz eine Passage, die offenkundig an das Mephisto-Duett anknüpft [...]. Dieser Satz ist ein toccatenhaftes Perpetuum mobile, vielleicht das Sinnbild eines dahinhetzenden Lebens, das nach einer Weile [...] zur Ruhe kommt.174

Nicht weit davon entfernt ist die Einschätzung des Violinisten und SchnittkeFreundes Gidon Kremer: Es mag stimmen, daß jede Krankheit eine gewisse Etappe darstellt, die eine Änderung herbeiführt; bei Alfred jedoch war die Krankheit bereits zu spüren, ehe sie ausbrach. Das erkennt man sowohl an dem Streichtrio als auch an Passagen des Zweiten Streichquartetts.175

Wie der Titel von Kostakevas Beitrag bereits verrät, handelt er nicht allein vom Violakonzert Nr. 1, sondern auch von anderen Instrumentalkonzerten. Als Beispiel bringt sie jedoch das Violakonzert und geht eingehender auf dessen Kadenzen ein. Folgende Bemerkungen sind für uns von Relevanz: Die Kadenzen im Violakonzert – ähnlich wie jene im folgenden ersten und zweiten (1989-90) Cellokonzert – kann man metaphorisch mit der Hauptfigur Peer Gynt aus dem gleichnamigen Ballett vergleichen: Sie agieren in einem Leben-Tod-Zyklus. [...] Die ewige Wiederkehr der Ich-Figur, die in den Kadenzen des Violakonzerts symbolisiert ist, ist nichts anderes als Schnittkes Idee der kreisenden Zeit, welche den meisten seiner Konzerte zugrunde liegt.176

Und weiter:

174 Dorothea Redepenning, „Eine zerbrochene Spieluhr“, in: MusikTexte (wie Anm. 89), S. 46. 175 Gidon Kremer im Gespräch mit Alexander Iwaschkin, in: Schnittke, Leben (wie Anm. 106), S. 326. 176 Kostakeva, „Traurigkeit“ (wie Anm. 173), S. 18.

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Das ist ein autobiographischer Tod-Leben-Zyklus, in dem eine Reise zwischen den Welten, Räumen und Zeiten stattfindet und in dem man gleichzeitig ‚hier‘ und ‚dort‘ existiert. In dieser wahnsinnigen Reise erscheint das Triviale oft in der Gestalt des Erhabenen und das Makabre in der Gestalt des Lyrischen. Die ständigen Zusammenstöße der lyrischen Figur mit den fremden, feindseligen Welten setzen laute und stille Katastrophen voraus. Man spürt eine sich ausbreitende Traurigkeit, die nicht verschwinden kann, denn sie ist in der Ewigkeit zerflossen. Das ist die unerträgliche Traurigkeit eines Seins, das auf der Suche nach einer unerreichbaren Schönheit ist. Die fein gesponnenen, improvisationsartigen Episoden der Solopartien in Schnittkes Konzerten weisen ohne Worte und deswegen noch ausdrucksvoller darauf hin.177

Aus Kostakevas Gedanken, die im Einzelnen nicht diskutiert werden sollen, kann man die Grenzüberschreitung zwischen einer biographischen und einer biographistischen Methode leicht erkennen. Die Kadenzen des Violakonzertes stehen ihr zufolge eindeutig in einem Leben-Tod- bzw. Tod-Leben-Zyklus (ob die Permutation hier etwas zu bedeuten hat, sei dahingestellt), den sie am Ende ihrer Gedankenspiele auch allen anderen Solokonzerten und darüber hinaus auch den Concerti grossi zuweist. Hieraus wird deutlich, wie ein durchaus einschneidendes biographisches Moment (der Schlaganfall soll ja als solcher nicht relativiert werden) sich mit Hilfe von Schnittkes eigenen Äußerungen zu einer biographistischen Grundlage der Interpretation sämtlicher Werke einer Gattung entwickeln kann, ohne dass die Werke (als Notentexte und In-Klang-Setzungen) selbst (z.B. das erste Klavierkonzert, das 25 Jahre vor diesem Schlaganfall komponiert wurde) einer werkimmanenten Interpretation im Sinne der Erforschung der intentio operis unterzogen werden. Beim Cellokonzert Nr. 1 verhält es sich etwas anders. Hier liegt das biographische Moment tatsächlich vor der Entstehung der Komposition bzw. ist fast Teil davon, da Schnittke bereits an diesem Konzert arbeitete, als ihn der Schlaganfall ereilte. Insofern scheint die biographische Methode hier durchaus ihre Berechtigung zu haben, d.h. das Hinzuziehen des biographischen Moments kann unter Umständen den hermeneutischen Prozess bereichern und die ‚integrative Deutung des Werks ausweisen’. Zwar wissen wir wenig über die intentio operis, ob Schnittke selbst dieses Werk im biographischen Sinne gedeutet hat, aber dafür umso mehr über die intentio recipientis, die sich hier in eine intentio recipientis (die sowohl das Lesen der Partitur als auch das Hören der In-Klang-Setzung beinhaltet) und eine intentio auditoris aufspaltet. In der Münchner Tageszeitung vom 9. Mai 1986 (die Uraufführung fand dort am 7. Mai 1986 statt) trägt die Rezension den Titel „Eine Partitur mit Schicksal“. Der Autor Karl-Robert Danler schreibt: Das Werk ist eine Auftragsarbeit der Münchner Philharmoniker und hat eine dramatische Entstehungsgeschichte: Während seiner Arbeit an diesem Konzert erlitt der 52jährige [was nicht stimmt, Schnittke wäre erst am 24.11.1986 52 Jahre alt geworden, Anm. d. Verf.] Komponist einen Schlaganfall und war längere Zeit ohne Bewußtsein. Diese Tatsache sollte nicht zu voreiligen Schlüssen verführen, aber es ist festzustellen, daß sich viel Schicksalhaftes in dieser Partitur abzeichnet. Mit einer Kantilene des Solocellos beginnt der 1. Satz ungewöhnlich ernst für 177 Ebd.

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einen Komponisten mittleren Alters, abgesehen davon, daß sich hier schon ein Weg zu einer sehr harmonischeren, tonalitätsbezogeneren Schreibweise auftut, wie wir es nach früheren Werken Schnittkes nicht erwarten konnten. Das Finale, auf das der Komponist besonderen Wert legt, steigert sich zu einer Apotheose des Überlebens, eines neuen Erwachens. Die Nähe zu Mahlers ‚Auferstehungssymphonie‘ wird sehr deutlich.178

Eine ähnliche Rezension finden wir in der Abendzeitung vom 10. Mai 1986 mit dem Titel „Bekenntnishaftes in der Musik“: Man muß Schnittkes Cellokonzert aus seiner persönlichen Situation heraus verstehen. Im Sommer 1985 erlitt Schnittke (52) [Auch hier stimmt die Altersangabe nicht. Anm. d. Verf.] einen Schlaganfall, lag 20 Tage im Koma, war dreimal bereits klinisch tot. Um diese Zeit hatte er mit den Skizzen für das Konzert begonnen, nach der Genesung wurde es vollendet. Es ist also viel Bekenntnishaftes in dieser Musik. Der letzte Satz, aber auch schon die langsame Einleitung, erinnern an religiöse Choräle. Das tänzerische Moment in den Mittelteilen ist eher unwesentliches Beiwerk. Stilistisch bewegt sich das Stück in der Gegend um Hindemith. Der Orchestersatz ist bisweilen reichlich aufgedonnert. Ein ums andere Mal wird man beim Hören der vier ineinander übergehenden Sätze daran erinnert, daß Schnittke viel Filmmusik komponiert hat.179

Der Biographiebezug wird auch an diesen beiden Rezeptionen deutlich, wenngleich Danler, der angibt, auch die Partitur gelesen zu haben, wesentlich eindeutiger im biographistischen Sinne deutet als Boser, der dem auditiven Werk auch etwas Kritik zuträgt und zudem das Cellokonzert in seiner klanglichen Stilistik um einige Jahrzehnte zurückdatiert. Dennoch bleibt auch sein Bezug zum biographischen Moment und damit seine intentio auditoris deutlich erkennbar. Alexander Iwaschkin gibt in seiner Schnittke-Biographie zum Cellokonzert an, dass: […] [t]he profile of his ‘new’ music [nach dem Schlaganfall, Anm. d. Verf.] appears to be more expressionistic, without any lyrical rests at all. He uses more and more dissonances, apparently feeling quite comfortable in this disturbing, nervous and restless world of ‘disharmony’.180

In gewisser Hinsicht widerspricht diese retrospektive Sicht Iwaschkins der Rezeption Danlers, der noch von einer ‚harmonischeren, tonalitätsbezogeneren Schreibweise’ sprach. Hier zeigt sich die Problematik, wie ein biographisches Moment unterschiedliche Ausdeutungen erfahren kann aufgrund unterschiedlicher Intentionen verschiedener Rezipienten. Iwaschkin betrachtet das Cellokonzert in einem Abstand von knapp einem Jahrzehnt und schließt damit in seine Betrachtung andere Werke innerhalb dieser Zeitspanne mit ein. Infolge dessen entfernt sich aber das Cellokonzert vom Deutungsmoment Biographie, da diese nun, bzw. deren singuläres Moment, auf die Musik allgemein ab diesem Moment ausgeweitet wird, ein Phänomen, wie es 178 Karl-Robert Danler, „Eine Partitur mit Schicksal“, in: Münchner Tageszeitung, 09.05.1986, S. 13. 179 Volker Boser, „Bekenntnishaftes in der Musik“, in: Abendzeitung, 10.05.1986, S. 22. 180 Ivashkin [Iwaschkin], Alfred Schnittke (wie Anm. 2), S. 190f.

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auch schon bei Kostakeva auftrat. Somit werden nun aber auch werkimmanente Analyseergebnisse anderer Kompositionen einer derartigen Interpretation ausgesetzt, denn z.B. im Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester und in der Symphonie Nr. 6 lassen sich diese expressionistischen Dissonanzen und die Disharmonik durchaus feststellen. Somit erscheint am Ende nun plötzlich das Cellokonzert Nr. 1 im Lichte viel späterer Kompositionen bzw. wird dieses Konzert stilistisch mit späteren Kompositionen, die selbst Konsequenz des Schlaganfalls sein sollen, in einen Topf geworfen – das biographische Moment wird über Umwege zum biographistischen Charakterzug einer Komposition. Genau diese Problematik begegnet uns, wenn wir uns explizit den Klavierkonzerten zuwenden. Wie während der Analysen festgestellt wurde, haben alle vier Kompositionen sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede. In allen Kompositionen spielen traditionelle Formmuster eine Rolle, dennoch werden diese Formmuster so verbaut, dass man jeder dieser Kompositionen eine gewisse stilistische Eigenständigkeit zuschreiben kann: dem Konzert für Klavier und Orchester aus dem Jahr 1960 einen Traditionsbezug sowohl formal als auch materialbezogen, der Musik für Klavier und Kammerorchester aus dem Jahr 1964 eine avantgardistische Materialdisposition, die die als Rekursum auftretende traditionelle Form dominiert; das Komponieren in der sogenannten Polystilistik am Konzert für Klavier und Streicher im Jahr 1979 sowie eine gewisse Spätstilistik, die Atonalität und Polystilistik mit Eigenreferenzialität und Materialentrückung am Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester aus dem Jahre 1988 miteinander verbindet. Gleichzeitig konnten diese Erkenntnisse nur über eine strukturelle Interpretation erlangt werden, zu der in gewisser Hinsicht auch biographische Momente gehören, z.B. ist der Begriff der Polystilistik nicht ohne Schnittkes Aufsatz, den er zu einem bestimmten Moment seiner Biographie verfasst hat, möglich. Dennoch wurde bisher nur während des interauktorialen Diskurses versucht, biographische Momente mit den Kompositionen in Verbindung zu bringen. Lassen wir deshalb noch einmal diese Momente Revue passieren unter der Obacht, inwieweit diese zu einer Bereicherung der Interpretationserkenntnisse beitragen. Dabei sollte vorangeschickt werden, welche Zuschreibungen der Autor Schnittke aus seiner Biographie allgemein erhält und wie diese die intentio recipientis bei der Werkinterpretation a priori beeinflussen: 1. Schnittke war Russland-Deutscher mit jüdischen Vorfahren, damit aber, wie Mahler, nirgendwo wirklich zu Hause. 2. Schnittke wurde vom Komponistenverband gegängelt und fast 20 Jahre lang daran gehindert, Aufführungen seiner Werke im Ausland zu besuchen, was sein Verhältnis als Einzelner gegenüber der kommunistischen Gesellschaft beeinflusst hat.

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3. Schnittke war nie wirklich gesund; sein schwerer Schlaganfall im Juli 1985 war der erste von insgesamt fünf Schlaganfällen, von dessen letztem im Sommer 1998 er sich nicht mehr erholte. 4. Schnittke war ein sehr religiöser Mensch. 5. Schnittke fühlte sich als Medium; seine Musik stammte nicht von ihm, sondern kam von außen, vor allem aus der Geschichte, er schrieb sie nur auf. 6. Mit eben dieser Geschichte beschäftigte sich Schnittke sehr intensiv; er versuchte so viel Musik anderer Komponisten wie möglich zu rezipieren. 7. Schnittke war ein Philosoph-Komponist, d.h. er komponierte nicht nur, sondern äußerte sich zu seinen Werken (wenn auch weniger analytisch denn interpretierend) und darüber hinaus zu ästhetischen und philosophischen Themen des Lebens allgemein. 8. Um sich sein Brot verdienen zu können, musste Schnittke über viele Jahre Filmmusik komponieren. Diese Tätigkeit hat seine polystilistische Kompositionsweise nachhaltig geprägt und darüber hinaus den Weg zur Mehrdeutigkeit der Musik bereitet. Diese acht Zuschreibungen sind die Hauptmerkmale, in denen die einzelnen biographischen Momente von Schnittkes Leben betrachtet und interpretiert werden. Neben Alexander Iwaschkins Buch mit Gesprächen mit Schnittke bieten auch viele andere Artikel von Schnittke-Zeitgenossen die Quellen dieser Zuschreibungen, weshalb an dieser Stelle u.a. auf die Festschrift zum 60. Geburtstag, die SchnittkeBiographie Iwaschkins sowie die umfangreiche Artikelsammlung in den MusikTexten (Heft 78, 1999) verwiesen sein soll. Am besten lässt sich die Perpetuierung biographischer Zuschreibungen im MGG-Artikel zu Schnittke feststellen, der von Friederike Wißmann unter Zuhilfenahme eben dieser Literatur sowie persönlicher Informationen Hans-Ulrich Duffeks vom Sikorski-Verlag verfasst und bei dessen Erstellung ein Blick in die Werke selbst kaum vorgenommen wurde.181 Beginnen wir mit Schnittkes erstem Klavierkonzert, dem Konzert für Klavier und Orchester aus dem Jahr 1960, so scheint die Gefahr einer übertriebenen Interpretation im biographistischen Sinne zunächst absent, da innerhalb von Schnittkes Biographie aus dieser Zeit nur wenige Details bekannt sind und auch Schnittke selbst wenig über seine frühen Jahre als Komponist geäußert hat. Bekannt ist allerdings, dass Schnittke sich im Jahr 1959 von seiner ersten Frau Galina Koltsina hat scheiden lassen, um eine Beziehung mit Irina Katajewa zu beginnen, seiner späteren zweiten 181 Friederike Wißmann, Art. „Alfred Schnittke“, in: MGG2, Personenteil Bd. 14, Kassel u.a. 2005, Sp. 1534–1539.

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Ehefrau.182 Nach ihrer Aussage unterbrach Schnittke im Sommer 1960 die Arbeiten am Klavierkonzert, um mit ihr Urlaub am Schwarzen Meer zu verbringen. Erst nach seiner Rückkehr nach Moskau habe Schnittke am Klavierkonzert weitergearbeitet.183 Ob dieses biographische Moment jedoch ausreicht, um es einer biographischen Methode im Interpretationsprozess zuzuweisen, ist fraglich. Die Ansätze wären in der Tat zu willkürlich und würden einer Überinterpretation anheim fallen: Die klassischromantische Formgebundenheit und Materialbehandlung spiegeln das Glück zwischen Irina und Alfred wider. Oder: Schnittke wollte für seine Schülerin Irina, die Pianistin ist, ein Konzert für ihr Instrument komponieren, das nicht zu schwer und nicht zu ‚modern’ sein sollte. Letztere Mutmaßung ließe sich noch am ehesten vertreten, bliebe aber dennoch nur eine Mutmaßung. Ein anderer Ansatz der biographischen Methode erweitert diese selbst aus singulären biographischen Momenten heraus in biographische Bezüge innerhalb größerer Kontexte. So wurde eingangs des interauktorialen Diskurses darüber gesprochen, dass derartige Referenzen – ob als Inspiration oder konkrete Co-Autorschaften – immer nur die Möglichkeit einer biographischen Zuordnung sind. Es mussten deshalb auch Korrekturen vorgenommen werden, so u.a. bei der Frage nach dem Einfluss der Kompositionsästhetik Paul Hindemiths auf das erste Klavierkonzert. Hier wird wieder ein Moment deutlich, das bereits am Violakonzert Nr. 1 festgestellt wurde: die nachträgliche intentio auctoris recipiente operis sui. Schnittkes Gespräche mit Dmitri Schulgin fanden in den frühen 1970er Jahren statt. Es mag sein, dass Hindemith um das Jahr 1960 herum für Schnittke eine Bezugsquelle war. Sie war aber eben nur eine untergeordnete, die von anderen wesentlich evidenteren Co-Autoren dominiert wurde. Bestätigt werden konnte allerdings, sowohl durch das Herausfiltern der intentio operis (als intentio textus notarum), die mit der intentio lectoris korreliert, als auch durch die Beachtung der intentio auctoris (der tatsächlich vor- und gleichzeitigen, die aus den vorangehenden Kompositionen erschlossen werden muss) eine gewisse Traditionsgebundenheit des Konzertes sowohl in der Formgestaltung als auch in der Materialbehandlung an klassisch-romantische Vorbilder einerseits, andererseits aber auch ein Bezug zu zeitgenössischen Tendenzen in der Harmonik innerhalb der Grenzen der Tonalität. Diese Zuschreibungen lassen sich nicht nur auf der Notentextebene verifizieren, sondern auch auf der Ebene der In-Klang-Setzung. Mit den oben formulierten größeren Kontexten biographischer Bezüge rückt aber auch eine Tatsache in den Fokus der Interpretation, die uns im dritten Kapitel dieses zweiten Teils der vorliegenden Abhandlung begegnen wird. Im Jahr 1959 erhielt Schnittke seinen ersten Kompositionsauftrag des sowjetischen Komponistenverbandes. In den Jahren 1960 und 1961 arbeitete Schnittke zudem an zwei Opernprojekten, die beide nicht fertiggestellt wurden, jedoch beide auch Kompositionsaufträge waren. Im Jahr 1961 erfolgte ein weiterer Auftrag, mit dessen Vollzug Schnittke Mitglied im Komponistenverband wurde. Die Bedeutung dieser biographischen 182 Vgl. Ivashkin [Iwaschkin], Alfred Schnittke (wie Anm. 2), S. 76f. 183 Siehe E-Mail Iwaschkins an den Verfasser vom 18.02.2008 im Anhang 1.2, S. 265.

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Begebenheiten lässt die Form- und Materialbehandlung im Konzert für Klavier und Orchester in einem ganz eigenen Licht erscheinen, das mit Traditionalität nur schwer erklärbar ist. Bezüglich der nachzeitigen Eigeninterpretation, auf die weiter oben im Hinblick auf Hindemith verwiesen wurde, stellt dahingehend die Musik für Klavier und Kammerorchester ein ähnliches Problem dar. Das zweite Klavierkonzert Schnittkes wurde zum Warschauer Herbst 1965 uraufgeführt. Wie schon anhand der Rezeption des ersten Cellokonzertes aufgezeigt wurde, erhält auch die Musik in der retrospektiven Betrachtung (sowohl von Schnittke selbst als auch von dritten Personen) und über eine Allgemeinbetrachtung mehrerer Kompositionen dieser Zeit eine gewisse stilistische Zuschreibung, die jedoch a priori noch nichts mit einer biographistischen Übertreibung in der Interpretation zu tun haben muss. Die biographische Methode und ihre Überinterpretation kann zwar im weiteren Sinn auch nachzeitige Inszenierungen von Autorschaft als Eigen- und Fremdinszenierung (siehe Kapitel II.3) in ihren hermeneutischen Diskurs integrieren, orientiert sich aber im engeren Sinn an biographischen Momenten, die vor oder während der Zeit, in der eine Komposition entstanden ist, liegen und stellt Bezüge zwischen diesen Momenten und der Komposition her. Das Problem jener retrospektiven Überinterpretation wurde bereits am Cellokonzert aufgezeigt und wird auch wieder virulent, wenn Biographik nicht chronologisch arbeitet, sondern anachronistisch. Wurde bei der interauktorialen Betrachtung Schnittkes an der Musik für Klavier und Kammerorchester über die entwickelnde Variation ein enger Bezug zu Webern geknüpft, so lässt sich dieser anhand der Tatsache belegen, dass Schnittke seit 1962 zusammen mit seinem Bruder an einer Webern-Gesamtausgabe seiner Schriften gearbeitet hatte.184 Dennoch weisen diese biographischen Momente sowohl Schnittkes (seine Beschäftigung mit den Schriften Weberns) als auch Weberns selbst (seine Aufsätze über Goethes Urpflanze) auf das, was Schnittke selbst Baumstruktur nennt und doch nichts anderes ist als eine Form der entwickelnden Variation. Unter verschiedenen Aspekten kann man nun das Hinzuziehen biographischer Momente zu diesen hermeneutischen Erkenntnissen diskutieren. Einerseits lässt eine Interpretation, die sich allein auf werkimmanente (sowohl notentextliche als auch auditive) Phänomene konzentriert, lediglich die Erkenntnis der entwickelnden Variation (die zwar auch von einem oder mehreren Biographie innehabenden Autoren erfunden bzw. entwickelt wurde, im Jahr 1964 allerdings als Kompositionskonvention bereits Bestand hat und deshalb keiner biographischen Betrachtung dieser Autoren (als Schnittkes Co-Autoren) mehr bedarf) zu und blendet alle anderen, auch von Schnittke selbst benannten Charaktereigenschaften dieser Komposition aus. Eine zweite Stufe wäre das Hinzuziehen von Schnittkes Äußerungen zu dieser Komposition, die alle nachträglich entstanden und deshalb als intentio auctoris recipiente operis sui bezeichnet werden können. Eine biographische Methode, die an dieser Stel184 Das Buch wurde allerdings erst im Jahr 1975 gedruckt. Vgl. Anton Webern, Lekcii o muzyke, pis’ma [Vorlesungen über Musik, Briefe], aus dem Deutschen übersetzt von Viktor Schnittke, Moskau 1975.

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le verharrt und sich mit Schnittkes ‚Baumstruktur’ zufrieden gibt, ist deshalb eine Übertretung der Grenzen der Interpretation, da die intentio textus notarum (als entwickelnde Variation) in einem Missverhältnis zur intentio auctoris recipiente operis sui steht. Das wäre auf den ersten Blick nicht weiter schlimm, würde diese nachträgliche intentio auctoris nicht nachhaltig die intentio recipientis (sowohl des lectoris als auch des auditoris) beeinflussen, da auf der auditiven Werkebene die entwickelnde Variation nicht feststellbar ist, dafür aber die intentio auditoris sich von Schnittkes Metapher der Baumstruktur beeinflussen lässt und diese als genuin Schnittkesche Kompositionsästhetik betrachtet. Zum Beispiel bleibt Iwaschkin an dieser Stelle stehen, wenn er konstatiert: Sometimes Schnittke attempted to use serialism as a kind of digital code for natural processes. Thus, in Music for Piano and Chamber Orchestra, he used what he called a ‘tree’ structure; the formal serial development being shaped like a tree. In the second and third movements the trunk of the tree is represented by a basso ostinato (repeating bass line) while the different transpositions of the note-row represent the branches.185

Somit bliebe die Baumstruktur als das die Musik für Klavier und Kammerorchester determinierende Materialmodell bestehen, ohne die entwickelnde Variation als das eigentliche Modell (als die intentio textus notarum) zu berücksichtigen. Doch selbst hier könnte man noch ein Auge zudrücken und darauf verweisen, dass erst die Analyse des Notentextes Klarheit über das Modell der Materialbehandlung bringt und damit die von Schnittke formulierte Baumstruktur nichts anderes ist als eine kompositorische Konvention der entwickelnden Variation, wie sie auch schon bei Schönberg, Berg und Webern auftauchten. Gerade darin liegt aber die biographistische Übertreibung, die Schnittke den Genius einer Kombination kompositorischer Techniken mit organischen Bedeutungsmustern zuweist, also die entwickelnde Variation als eine Baumstruktur begreift. Tatsächlich stammt diese gedankliche Symbiose anorganischer und organischer Strukturen nicht von Schnittke selbst, sondern von Webern, dessen Einfluss erst über die biographische Methode herausgefiltert werden kann. Diese Interpretation bildet die dritte Stufe, die somit der von Kindt und Müller geforderten ‚integrativen Deutung des Werks‘ erst entspricht und deshalb nicht als Überinterpretation betrachtet werden sollte, sondern als für die Deutung der Komposition relevant und erkenntnisreich. Insofern kann die biographische Methode durchaus dazu beitragen, biographistische Deutungsmuster im weiteren Sinne – also nachträgliche Inszenierungen einschließend – auszuschalten und Erkenntnisse zu gewinnen, die ohne diese zur Überinterpretation führen würden, da der intentio auctoris recipiente operis sui von der Rezeptionsseite mehr Bedeutung beigemessen wird als der tatsächlichen intentio auctoris. Anders verhält es sich bei dem biographischen Moment des Besuchs Luigi Nonos in Moskau im Oktober 1963. Hier ist die Tatsache, dass interauktoriale Bezüge au185 Ivashkin [Iwaschkin], Alfred Schnittke (wie Anm. 2), S. 89.

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ßerhalb der konkreten Fremdreferenzialität (als Zitat, Plagiat oder Allusion) immer nur eine Möglichkeit potentieller Co-Autorschaft darstellen, dass also Nonos ‚perspektivisches Kontinuum‘ nur möglicherweise und nicht nachweislich Einfluss auf Schnittkes Kompositionsästhetik gehabt haben mag, virulent. Aber auch hier zeigt die biographische Methode Möglichkeiten auf, biographistische Interpretationen zu umgehen, indem zum Beispiel ein Blick in eine vorangehende Komposition gewagt wird. Gleichzeitig kann man aber auch fragen, warum Schnittke nach dem Besuch Nonos erst eine streng dodekaphone Komposition fertigstellt (die Musik für Kammerorchester), danach aber sich Nonos Ästhetik zuwendet und in der Musik für Klavier und Kammerorchester dodekaphones Material in traditionelle Formmodelle integriert. Insofern kann die biographische Methode an zwei Momenten – zum Einen am Besuch Nonos im Oktober 1963, zum Anderen an der Musik für Kammerorchester im Frühjahr 1964 – Möglichkeiten einer Interpretation aufzeigen. Dass diese Möglichkeit jedoch weniger stichhaltig ist als der Bezug zu Webern, spricht einmal mehr für die Obacht, die man beim Hinzuziehen biographischer Momente zur Werkinterpretation haben muss. Das bekannteste und demzufolge am meisten rezipierte Klavierkonzert Schnittkes ist das Konzert für Klavier und Streicher. In welchem stilistischen Umfeld das dritte Klavierkonzert zu positionieren ist, haben sowohl die Partituranalyse selbst als auch der interauktoriale Diskurs herausgestellt. Gleichzeitig wurden bereits einige biographische Momente herausgefiltert, die auf den Stil des Klavierkonzertes hindeuten: 1. Schnittkes Besuch in St. Florian, dem Ort, an dem Anton Bruckner seine Ausbildung erhielt und die damit einhergehende Auseinandersetzung mit ihm. 2. Das Komponieren in der sogenannten Polystilistik, das Mitte der 1960er Jahre mit einer Abkehr von westlichen avantgardistischen Strömungen seinen Anfang nahm und spätestens ab Schnittkes Aufsatz und der Symphonie Nr. 1 zu seinem allgemein anerkannten Personalstil wurde. Iwaschkin gibt in seiner Schnittke-Biographie an, dass dieser sich des Öfteren mit dem russisch-orthodoxen Priester Nikolai Wedernikow getroffen und mit ihm über den Dualismus von Gut und Böse gesprochen habe: Schnittke discussed issues and the problem of good and evil with an Orthodox priest, Father Nikolay Vedernikov [Nikolai Wedernikow], and came to understand that after one’s life is finished it is not merely the good in an individual that survives.186

Schnittke spricht in einer Äußerung über das Konzert für Klavier und Streicher konkret orthodoxe Kirchenmusik an:

186 Ivashkin [Iwaschkin], Alfred Schnittke (wie Anm. 2), S. 154.

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Aber wenn ich traumwandlerisch sage, dann meine ich damit auch ein gewisses Vorübergleiten von monotoner Rhythmik, die passive Abfolge sich wiederholender Akkorde, Schattengeflechte mehrstimmiger Kanons und surrealistische Sonnenaufgangsfetzen von orthodoxer Kirchenmusik.187

Hier wird offenbar, wie ein biographisches Moment Anlass dazu geben kann, eine Komposition aus einer bestimmten Intention heraus zu rezipieren. Einerseits liegt diese Intention auf der Seite des Autors (intentio auctoris recipiente operis sui; Schnittkes eigene Aussage über das Klavierkonzert bzgl. der ‚surrealistischen Sonnenaufgangsfetzen orthodoxer Kirchenmusik‘), andererseits auf der Seite des Rezipienten, wenn Iwaschkin in seiner Schnittke-Biographie das Kapitel der Jahre 1979 bis 1985 mit „A Christian Composing“ überschreibt (als intentio recipientis). Die Problematik der Kapiteleinteilung und -überschriften Iwaschkins wurde bereits an anderer Stelle erörtert. Eingangs der Betrachtung von Schnittkes Klavierkonzerten wurden acht generelle biographische Zuschreibungen, die Schnittkes Musik allgemein erfährt, aufgelistet. Punkt 4 wurde hier bereits genannt, wenngleich aus der Analyse selbst keine intentio textus notarum destilliert werden konnte, die das religiöse Moment dieser Komposition untermauern würde. Insofern korreliert hier die intentio auctoris (definitiv als recipiente operis sui, spekulativ als vorzeitige Intention) mit der intentio recipientis, nicht aber mit der intentio operis (weder als textus notarum noch als sonus). Die Zuschreibung, das Konzert für Klavier und Streicher sei ein religiöses Werk, wäre also eine Übertretung der Grenzen der Interpretation, wenn man nicht klarstellen würde, dass diese Religiosität, die Schnittke als ‚Fetzen’ begreift und Iwaschkin der Entstehungszeit dieses Konzertes allgemein zuweist, nur auf der Autoren- und Rezipientenseite konstruiert wird, nicht aber werkimmanent ist. Das gleiche gilt im Übrigen auch für die Terzschichtung über dem Grundton C in der Symphonie St. Florian. Hier wurde bereits im vorangehenden Kapitel gefragt, ob eine Zuschreibung der göttlichen Reinheit (C-Dur), gepaart mit der Terzschichtung als Trinitätsentfaltung nicht im biographistischen Sinne eine Übertretung der Interpretationsgrenzen wäre. Die Frage lässt sich nicht gänzlich bejahen, da der Gewinn einer solchen Interpretation abhängig vom Standpunkt des Rezipienten ist. Die intentio auctoris legt eine derartige Deutung nicht zwangsläufig nahe. Da jedoch die Symphonie an sich mit religiösen Idiomen arbeitet (sowohl als intentio textus notarum als auch als intentio soni) und noch dazu die intentio auctoris eine religiöse Deutung nahe legt, obliegt es der intentio recipientis (hier eher der intentio lectoris, da die Terzschichtung über C auditiv kaum wahrnehmbar ist), den Schlussakkord semantisch derart aufzuladen. Eindeutiger verhält es sich mit dem Bruckner-Zitat im Konzert für Klavier und Streicher. Hier hat der Besuch Schnittkes in St. Florian offenbar eine Wirkung erzielt, die nicht nur an der Symphonie Nr. 2 ihren Ausdruck findet, sondern ganz konkret als Zitat im dritten Klavierkonzert zu Tage tritt. An dieser Stelle bereichert die bio187 Alfred Schnittke über sein Konzert für Klavier und Streicher, in: Köchel (Red.), Schnittke zum 60. Geburtstag (wie Anm. 1), S. 96.

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graphische Methode die Interpretationserkenntnisse, zumal dann, wenn mehrere Kompositionen einer Zeit (oder, wie in diesem Falle, eines Jahres) in Verbindung gesetzt werden. Gleichzeitig könnte man dem Zitat unterstellen, dass es kein bewusst gewähltes Zitat ist, sondern ein Plagiat, d.h. dass Schnittke unbewusst auf Bruckners Symphonie rekurriert. Diese Frage lässt sich nicht endgültig klären, auch wenn Schnittke selbst in keiner seiner Äußerungen zum dritten Klavierkonzert auf Bruckner verweist und damit der Vorwurf des Plagiats erhärtet wird. Insofern ist eine intentio auctoris, die eine Beziehung der Kadenz zu Bruckner definiert und rezipiert haben will, nicht festzustellen. Allerdings könnte man dann fragen, ob ein Plagiat überhaupt als interauktoriale Fremdreferenz betrachtet werden kann. Immerhin besteht zwischen Plagiierendem und Plagiiertem keine aktive Interauktorialität. Gleichzeitig wird aber deutlich, dass erstens eine beiderseits aktive Interauktorialität auch bei Zitat und Allusion nicht vorliegt, da der zitierte oder alludierte Autor bzw. dessen Werke vorzeitige sind und demnach dieser vorzeitige Autor in kein interagens mit Schnittke eintreten kann. Zweitens haben wir an den beiden vorangehenden Kompositionen bereits festgestellt, dass interauktoriale Momente auch ohne die intentio auctoris feststellbar sind. Die Fremdreferenzen, die Bezüge zwischen Schnittke und anderen Co-Autoren herstellen, haben ihren Ursprung deshalb bei zwei Intentionstypen, von denen die erste fakultativ ist: bei der intentio auctoris und der intentio recipientis, die sowohl die notentextliche als auch klangliche Werkintention beinhaltet. Selbst die intentio operis für beide Werkbegriffe kann die Interauktorialität zwischen Schnittke und Bruckner nicht herstellen, da sowohl das notentextliche als auch das klangliche Werk der bewussten intentio recipientis bedürfen, um eine Verbindung zwischen beiden Autoren zu offenbaren, d.h. der Rezipient muss den zweiten Satz aus Bruckners siebenter Symphonie kennen, um hier ein interauktoriales Moment erkennen zu können. Insofern ist Interauktorialität auch immer ein von der Rezeptionsseite konstruiertes Verhältnis innerhalb des hermeneutischen Prozesses, das allerdings auch den Autor, der als auctor recipiente operis sui auftritt, mit einschließen kann, aber nicht muss. Bezogen auf den Vorwurf des Plagiats bei der Fremdreferenz zu Bruckners siebenter Symphonie lässt sich also das interauktoriale Moment insoweit einschränken, als es allein von der intentio recipientis (vor allem auf der Seite des opus sonus, des klanglichen Werkes) als solches definiert werden kann. Weder die intentio operis noch die intentio auctoris (als jeweils doppelte Intentionstypen) geben Hinweise auf diese Referenz, so dass deutlich wird, wie sich ein musikalisches Plagiat von einem Zitat im vorgeschlagenen Sinne konkret unterscheidet. Gleichwohl lässt sich jedoch, um zum Gegenstand dieses Kapitels zurückzukehren, über die biographische Methode die Legitimität der intentio recipientis verifizieren, da Schnittke sich zu dieser Zeit aktiv mit Bruckner beschäftigt hatte und dessen Kompositionsästhetik einerseits und konkrete Werkreferenzen andererseits Einzug in Schnittkes Kompositionen dieser Zeit gefunden haben. Insofern tritt Bruckner in der Tat als Co-Autor von Schnittkes drittem Klavierkonzert auf, auch wenn die intentio auctoris dies zunächst nicht offenbart.

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Ein letztes biographisches Moment, das direkt auf die Gattungsspezifik des Solokonzertes zielt, ist dem Punkt 2 der biographischen Zuschreibungen bzgl. Schnittkes Stilistik gewidmet: dem Charakter des Solokonzertes als mögliches Synonym einer Individuum-Gesellschaft-Beziehung. Schnittke gibt über das Potential einer derartigen Beziehung selbst Auskunft: Ich will versuchen, Klarheit zu schaffen. Concerto grossi folgen der Logik, die den Solisten nicht mit dem Orchester konfrontiert. Bei den Konzerten nehmen diese Beziehungen den Charakter eines Konflikts an.188

Der amerikanische Musikwissenschaftler Richard Taruskin beschreibt Schnittkes ästhetischen Ansatz in dessen Solokonzerten wie folgt: With a bluntness and an immodesty practically unseen since the days of Mahler, Mr. Schnittke tackles life-against-death, love-against-hate, good-against-evil and (especially in the concertos) I-against-the-world.189

An dieser Stelle soll dem letzten Kapitel der vorliegenden Arbeit, in dem es explizit um eine derartige Charakterzuschreibung als Teil des auktorialen Diskurses geht, nicht vorgegriffen werden. Deshalb sei hier im Rahmen der bisher aufgezeigten Parameter im Sinne von Ecos Grenzen der Interpretation das dritte Klavierkonzert betrachtet und die Frage formuliert, ob ein derartiges Individuum-GesellschaftVerhältnis tatsächlich in diese Komposition hineininterpretiert werden kann. Im Grunde wäre zu hinterfragen, ob außer der intentio recipientis, die, wie bei Cholopowa und Taruskin, aber auch bei Iwaschkin und vielen anderen Rezipienten festzustellen ist, in Schnittkes Solokonzerten eben diese Beziehung sieht, und der intentio auctoris, die sich zwar nicht konkret am Klavierkonzert dahingehend äußert, jedoch mit allgemeinen Äußerungen Schnittkes eine eben solche Opposition von Individuum und Gesellschaft unterstützt, auch die intentio operis (auf beiden Werkebenen) zu einem Individuum-Gesellschaft-Verhältnis im hermeneutischen Prozess beitragen kann. Hierzu ist es notwendig, zunächst das Klavier als Individuum und das Orchester als Vertreter einer wie auch immer gearteten Gesellschaft zu definieren. Dabei ist Gesellschaft a priori nicht als Modell einer Sozialisation von Menschen zu verstehen, sondern als interagens von Instrumenten, die allerdings insgesamt eine gewisse Homogenität aufweisen, zumindest jedoch als Gesamterscheinung sich vom Klavier als dem ihr gegenüberstehenden Individuum unterscheiden müssen. Aufgrund der Instrumentation des Konzertes für Klavier und Streicher scheint diese Polarisierung möglich, gehören doch die Orchesterinstrumente allesamt der Instrumentengruppe der Streicher an und sind damit von vornherein auf ein gewisses homogenes Klangspektrum ausgerichtet. Damit wird aber klar, auf welcher Werkebene sich eine potentielle Individuum-Gesellschaft-Beziehung generieren kann und welche Intention dieses Verhältnis unterstützt: die intentio soni. 188 Schnittke, Leben (wie Anm. 106), S. 75. 189 Richard Taruskin, „A Post-Everythingist Booms“, in: The New York Times, 12.07.1992, S. 20.

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Der auktoriale Diskurs

Das konkrete biographische Moment ist Iwaschkins Schnittke-Biographie zu entnehmen und bezieht sich vor allem auf einen Artikel in der Prawda am 11.03.1978, in dem unter dem Titel „Ein Verbrechen wird geplant“ ein Opernprojekt Schnittkes, Juri Ljubimows [Jurij Ljubimov] und Gennadi Roschdestwenskis [Rošdestvenski] attackiert wurde: Three months later, on 11 March 1978, by which time all the elaborate and expensive scenery had been constructed in Paris, the official Communist newspaper Pravda published an article by the conductor Algis Zhuraitis, attacking the project. The title of the article was ‘Planning an Outrage’, and it reminded many people of the attack on Dmitry Shostakovich’s opera Lady Macbeth of the Mtsensk District, ‘Muddle instead of Musik’, published in the same newspaper by order of Stalin on 28 February 1936. Although the attack on The Queen of Spades was printed forty-two years later, it was almost the same as the earlier one, and this was really frightening. The outcome was likely to be similar; a negative article in Pravda always meant the cancellation of the project attacked.190

Die russische Musikwissenschaftlerin Walentina Cholopowa notiert: Das schrecklichste Ereignis im Leben Schnittkes war damals die Absetzung der Pariser Aufführung der Oper ‚Pique Dame‘ in Paris (unter der Regie Juri von Ljubimow) [hier handelt es sich wohl um einen Wortdreher, es müsste eigentlich heißen ‚von Juri Ljubimow’, Anm. d. Verfassers], in seiner Bearbeitung. Die sowjetische Presse veranstaltete eine wilde Hetzjagd. Der Name Schnittke wurde von rechts wie links in den Schmutz gezogen.191

Nun kann man zunächst hinterfragen, ob dieses biographische Moment nahe genug an der Entstehungszeit des Klavierkonzertes liegt, um die Interpretation dessen in einem Individuum-Gesellschaft-Verhältnis zu rechtfertigen. Tatsächlich ist über die genaue Entstehungszeit des dritten Klavierkonzertes nichts bekannt, außer dass es am 10.12.1979 in Leningrad uraufgeführt wurde. Dennoch kann der Pravda-Artikel und der darauf folgende Abbruch des Opernprojektes, zu dem schon, nach Aussage Iwaschkins, die Requisiten angefertigt gewesen waren, zu einer Beschäftigung Schnittkes mit dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft geführt haben, wohlbemerkt – kann! Es lässt sich kein konkreter Bezug zwischen diesen Vorkommnissen und dem potentiellen Individuum-Gesellschaft-Verhältnis im Konzert für Klavier und Streicher herstellen. Allerdings ist anzumerken, dass der PravdaArtikel, der ja nichts weiter als reine Schikane war, in einer Serie von Attacken und Schikanierungen gegen Schnittke steht, die bereits bei der Rezeption seiner Abschlusskomposition, dem Oratorium Nagasaki, ihren Anfang nahm, damals allerdings noch als Versuch, die jungen Komponisten ‚auf Linie zu bringen‘192. 190 Ivashkin [Iwaschkin], Alfred Schnittke (wie Anm. 2), S. 147f. 191 Walentina Cholopowa, „Gerechtigkeit. Alfred Schnittke und die höheren Mächte“, übersetzt aus dem Russischen von Kristina Beierle, in: MusikTexte (wie Anm. 89), S. 29. 192 Vgl. hierzu den Artikel „Nagasaki“ von Juri Korew [Jurij Korev] in der SM 23 (1959), Heft 11, S. 35–39. Korew spricht sich für das Oratorium aus, erwähnt aber auch die Debatte, die innerhalb des Komponistenverbandes um dieses Werk geführt wurde.

Interpretation und ihre Grenzen

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Insofern besteht die Möglichkeit, die noch zudem dadurch unterstützt wird, als Schnittke zuvor bereits drei Violinkonzerte, zwei weitere Klavierkonzerte sowie ein Concerto grosso komponiert hatte, dass die biographische Situation insgesamt ihren Widerhall im vorliegenden Klavierkonzert gefunden hat. Es obliegt auch an dieser Stelle wieder der intentio recipientis, aus der Biographie Schnittkes diejenigen Momente oder sogar eine Reihe von Momenten ähnlicher Auswirkungen auszuwählen, die in Bezug zur intentio soni, die ja zunächst nur einen homogenen Streicherapparat einem Klavier als Soloinstrument gegenüberstellt, gesetzt werden. Hiernach lässt sich darüber streiten, ob eine Individuum-Gesellschaft-Beziehung im Konzert für Klavier und Streicher ein Übertreten der Grenzen der Interpretation ist oder gar der intentio operis am nächsten kommt. Zum Abschluss dieses Kapitels, das die Frage nach den Grenzen der Interpretation beim Anwenden der biographischen Methode exploriert, kommt bei der diesbezüglichen Untersuchung des Konzertes für Klavier vierhändig und Kammerorchester ein besonderes biographisches Moment zum Tragen, welches die Rezeption der Werke Schnittkes nachhaltig beeinflusst hat: sein erster Schlaganfall am 21.07.1985. Bereits eingangs dieses Kapitels wurde das Violakonzert Nr. 1 auf die Grenzübertretung im biographischen Kontext hin untersucht. Ein zweites Phänomen betrifft, ähnlich wie bei der Frage nach dem Individuum-Gesellschaft-Verhältnis am Konzert für Klavier und Streicher, nicht ein konkretes biographisches Moment, sondern die Methode der Eigenreferenzialität, indem Schnittke innerhalb des vierten Klavierkonzertes durch gezielte Eigenreferenzen auf seine eigene (kompositorische) Biographie verweist. Somit liegt die Problematik der Grenzziehung zwischen angemessener Interpretation mit Hilfe der biographischen Methode und einer Überinterpretation im biographistischen Sinne nicht bei einem unmittelbaren Moment, das die intentio auctoris beeinflusst haben kann, sondern einerseits bei einem mittelbaren Moment (dem Schlaganfall, der drei Jahre zuvor passierte) und andererseits bei dem Umweg anderer Kompositionen, die und deren Rezeption über Eigenreferenzen autorisiert werden, die Interpretation auch am vierten Klavierkonzert mitzubestimmen. Auf den Schlaganfall und seine Auswirkung auf die Rezeption der nachzeitigen Kompositionen wurde bereits eingegangen. Die intentio recipientis, vor allem deren eine Teil, die intentio auditoris, ist dabei, wie schon erläutert wurde, maßgeblich an der Genese einer übertriebenen Interpretation beteiligt. Gleichzeitig hilft die intentio auctoris, nicht konkret durch Äußerungen im Hinblick auf das Klavierkonzert, sondern durch allgemeine Bemerkungen zwischen dem Schlaganfall und der Entstehungszeit dieser Komposition, auch die intentio lectoris zu beeinflussen, um alle Werke nach Schnittkes Schlaganfall aus einer dieses biographische Moment zu Grunde legenden Perspektive zu interpretieren. Gemeint sind vor allem die Gespräche mit Alexander Iwaschkin, die im Jahr 1985 unterbrochen werden mussten und nach Schnittkes Genesung fortDie öffentliche Denunziation von ‚Chrennikows Sieben‘ im Herbst 1979 kam für die Genese des Konzertes für Klavier und Streicher und damit verbunden für eine mittelbar biographische Deutung ‚in Stellvertretung für Kollegen‘ jedoch zu spät. Vgl. Flamm, „Problem“ (wie Anm. 146), S. 397.

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Der auktoriale Diskurs

gesetzt wurden. Insofern liefern diese Aufzeichnungen eine unmittelbare Eigenbetrachtung Schnittkes, die zum Beispiel aus folgenden Bemerkungen besteht: Ich habe dir [Alexander Iwaschkin] schon oft erzählt, daß ich seit meinem Schlaganfall viel weniger behalten kann als früher, aber gleichzeitig mehr weiß. Ich verlasse mich jetzt nicht so sehr auf mein mentales Wissen, sondern vielmehr auf meine Spürnase. (S. 162) [...] Einen sehr großen Eindruck machte und macht immer noch auf mich mein verändertes Zeitgefühl – die Dauer ein und desselben Zeitabschnitts empfinde ich unterschiedlich. Die Zeit hat im Leben – jedenfalls in meinem – zwei Kreise der Entwicklung gezogen. Den ersten, den großen, der sich für mich 1985 geschlossen hat, und den zweiten, der danach begann. Vierundzwanzig Stunden nehme ich heute als einen sehr großen Zeitraum wahr, in den viel hineingeht. [...] Jede einzelne Sekunde nehme ich nicht als Sandkörnchen, nicht als Augenblick wahr. Für mich ist das ein Bruchteil der Zeit, ein gewisses Etwas. Das Empfinden für dieses Etwas hatte ich schon längst verloren. Auch jetzt bin ich oft und schnell erschöpft, doch diese Müdigkeit währt nicht mehr Jahrzehnte oder Jahrhunderte. Wenn ich zum Umsinken müde bin, tritt alles andere in den Hintergrund. Doch eine halbe Stunde reicht, und schon ist dieser Zustand vergessen. Mein Zeitgefühl hat sich wirklich grundlegend verändert. Ich spüre unter anderem auch, daß die Zeit nach ihrer Dauer und ihrem Tempo von ganz verschiedenen Menschen und sogar von ein und demselben Menschen in dem jeweiligen Lebensabschnitt völlig unterschiedlich empfunden wird. Diese Zeitdauer ist unendlich different, obwohl die Sekunden gleich lang sind. Die Uhren ticken völlig gleich, doch mal wird diese Strecke, mal jene zurückgelegt. Daraus wage ich zu schließen, daß die Zeit – nach Einstein – relativ ist. Ich begreife das jetzt besser, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, wie unterschiedlich die Sekunden in meinem Leben waren. Folglich habe ich mich ohne jegliche technische Hilfsmittel, ohne auf das Beispiel interplanetarer Raumflüge zurückzugreifen, dieser Auffassung von Zeit genähert. (S. 164f.)193

Auf Seite 145 des Buches Über das Leben und die Musik erzählt Schnittke davon, dass er zur Zeit am Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester arbeite; es ist deshalb anzunehmen, dass die zitierten Äußerungen in eben dieser Zeit entstanden und damit – biographisch gesehen – im unmittelbaren Umfeld des Klavierkonzertes liegen. In einem Interview mit Richard Steinitz am 24.11.1990 konkretisiert Schnittke, wie sich sein neues Zeitgefühl auf seinen Kompositionsstil ausgewirkt hat: There have been changes in style, they are really a return to myself, a return to what I actually am, rather than an attempt to construct something artificial, which may have been true earlier in my work. And this particularly applies to the problem of playing with different styles, which I did more self-consciously earlier, and now I’m able to do it and understand that it is not what I thought it might have been – a mistake.194

Während der Partituranalyse des vierten Klavierkonzertes wurde festgestellt, dass tatsächlich eine Veränderung sowohl in der Materialdisposition als auch in der Materialentwicklung gegenüber den vorangehenden Klavierkonzerten stattgefunden hat. 193 Schnittke, Leben (wie Anm. 106), S. 162 und 164f. 194 Richard Steinitz, „An Interview With Alfred Schnittke“, in: John Webb, Schnittke in Context, Bachelor-Arbeit Birmingham 1991 (masch.), S. 100.

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Das Dreiklangs-Thema als Quasi-Zitat tonaler Elemente innerhalb von Schnittkes eigenem Œuvre und gleichzeitig als Allusion an historische Vorbilder mischt sich hier mit dodekaphonen Reihen, die wiederum als Eigenreferenz im Hinblick auf Werke der 1960er Jahre gedeutet werden können. Gleichzeitig wurde im interauktorialen Diskurs festgestellt, dass Schnittke hier mit sich selbst interagiert, dass also die eigene Vorzeitigkeit zum Co-Autor des Klavierkonzertes wird. Wenn Schnittke nun in dem oben zitierten Interview, dass knapp zwei Jahre nach dem Entstehen des Klavierkonzertes gegeben wurde, konstatiert, dass die Werke nach dem Schlaganfall, in denen seinen eigenen Aussagen zufolge auch mehr Wissen enthalten sein soll, ehrlicher sind als die der rein polystilistischen Phase, so muss gefragt werden, inwieweit diese auf einer intentio auctoris recipiente operis sui basierende Bemerkung eine Übertretung der Interpretationsgrenzen ist. Immerhin lässt sich weder aus einer Partituranalyse noch aus einem interauktorialen Diskurs der Begriff ‚Ehrlichkeit’ innerhalb seines Bedeutungshorizontes verifizieren. Dafür scheint die nachzeitige intentio auctoris insofern mit der intentio textus notarum zu korrelieren, als die durch die Partituranalyse zumindest teilweise nachgewiesene Stiländerung tatsächlich der Eigeninterpretation Schnittkes entspricht. Gleichzeitig ist diese intentio auctoris eine intentio recipientis, wie bereits eingangs dieses Kapitels konstatiert wurde. Insofern ist ein Interpretationsakt, der Schnittkes verändertes Zeitverständnis mit den stilistischen Veränderungen z.B. am Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester in Verbindung bringen will, ein Bewegen auf der Grenze der Interpretation. Es lassen sich – hier verweise ich noch einmal zurück auf den Anfang dieses zweiten Teils der vorliegenden Abhandlung, in dem von der verminderten Sprachfähigkeit von Instrumentalmusik die Rede war – zwar keine konkreten Verweise auf eine Zeitverkürzung bzw. veränderte Zeitausfüllung finden: Das vierte Klavierkonzert ist nicht sehr viel kürzer als das dritte, es gibt sowohl Themen als auch den Versuch eines Formaufbaus. Gleichzeitig wurde aus der Analyse ebenfalls destilliert, dass innerhalb des dramaturgischen Verlaufs des Konzertes thematisches Material (sowohl den beiden Reihen als auch dem Dreiklangs-Thema zugehörig) mit nicht-thematischem Material korrespondiert, dass nicht-thematisches Material die vorhandenen Themen abbricht, stört und damit den Aufbau einer Sonatenform letztendlich verhindert. Diese Materialzersetzung funktioniert aber in Beziehung zum Faktor Zeit, das Erklingende korrespondiert mit dem Nicht-Erklingenden, dem, was von der Rezeptionsseite assoziativ hinzugedacht werden muss. Die Grenze der Interpretation, die dahingehend Schnittkes Eigenäußerungen in den hermeneutischen Diskurs integrieren will, verläuft deshalb auf beiden Werkebenen, sowohl auf der des textus notarum als auch auf der des sonus, da die intentio operis sowohl auf der notentextlichen (hier vor allem in der Korrespondenz bzw. im Konflikt zwischen thematischem und nicht-thematischem Material, da die Zwölftonreihen auditiv nicht immer als solche wahrgenommen werden können) als auch auf der klanglichen Ebene den Zeitfaktor als Deutungsmoment zulässt. Dieses Deutungsmoment der Biographie Schnittkes – bzw. des Schlaganfalls über den Umweg seiner nachträglichen Äußerungen hierzu – zuzuweisen, kann des-

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Der auktoriale Diskurs

halb nicht a priori als Übertretung der Interpretationsgrenze angesehen werden. Allerdings ist in einem solchen hermeneutischen Diskurs Obacht geboten, da nicht allen Werken Schnittkes nach seinem ersten Schlaganfall 1985 dieses Moment des Umgehens mit Zeit immanent ist: Schnittke’s course since 1985 is difficult to trace. The composer has told his friends that a ‚series B’ has commenced in which everything must be different. Even before his brush with death seven years ago, signs of a new direction were beginning to appear. The tremendously moving Concerto for Choir (1985), based on medieval Armenian poetry, seemed to indicate a tendency toward simplicity, a whittling down of musical means. Several new works conform to this trend, but others do not.195

Den Äußerungen Alex Ross’ nach zu urteilen, gehört das Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester nun gerade nicht zu den Werken, in denen eine neue ‚Einfachheit, ein Herabstutzen der musikalischen Mittel‘ erkennbar ist und das demzufolge auch nicht zu denjenigen Kompositionen gehört, die dieser veränderten Stilistik Schnittkes angehören. In der Tat wurde davon gesprochen, dass allen vier Klavierkonzerten bestimmte Eigenschaften gemein sind und dass sich zudem bestimmte historische Formmodelle, z.B. die Sonatenhauptsatzform, bis in Schnittkes Spätwerk erhalten. Die von Schnittke selbst am Schlaganfall festgemachte Stiländerung (das Überprüfen der ‚Ehrlichkeit’ wird im Schlusskapitel dieser Abhandlung unter dem Aspekt der Eigeninszenierung eingehender beleuchtet) wird sowohl von Ross als auch von Gerard McBurney schon einige Jahre vor 1985 festgestellt, so dass die Frage nach der Grenzwertigkeit einer biographischen Interpretation nicht nur des vierten Klavierkonzertes erneut aufgeworfen wird. In the early 1980s Schnittke’s music began to change. This curious quality of different styles turning out to sound the same became more pervasive; the old clashes and contrasts of the music’s surface were becoming less strident.196

Wie auch bei den vorhergehenden biographischen Momenten obliegt auch hier die Grenzziehung als auch ihr Übertreten der intentio recipientis. Es lässt sich aber erkennen, dass Rezipienten wie Ross und McBurney aus einem analytischen Wissen heraus Stilveränderungen festmachen und datieren, während die vorhergenannten Rezipienten oftmals sich mit Überlieferungen begnügen – ein Fehler, der nicht zuletzt durch seine Perpetuierung erst zum Phänomen des Biographismus geführt hat; bedeutet doch Biographie auch die „Lebensgeschichte eines Menschen“197, die a priori einer semantischen Auf- und nicht selten Überladung ausgesetzt ist. 195 Alex Ross, „The Connoisseur of Chaos. Who is Alfred Schnittke and why is his music so popular?”, in: The New Republic, 28.09.1992, S. 33. 196 Gerard McBurney, „Alfred Schnittke (born 1934). An introduction by Gerard McBurney”, in: Schnittke A Celebration, Programmheft zum Alfred-Schnittke-Festival in London vom 17.02. bis 08.03.1990, London 1990, S. 4. 197 Dieter Baer (Red.), Duden. Das große Fremdwörterbuch. Herkunft und Bedeutung der Fremdwörter, Mannheim u.a. 22000, S. 201.

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Bevor wir uns vorläufig vom Autor und seiner Biographie verabschieden, sei noch einmal auf die Eigenreferenzen im Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester hingewiesen. Bei der Betrachtung interauktorialer und eigenauktorialer Referenzen wurde ein biographisches Moment, das eher ein biographischer Prozess ist, noch nicht beachtet: das Phänomen eines einsetzenden Spätstils. Erinnern wir uns, im vorangehenden Kapitel ging es um die Frage, inwieweit Eigenreferenzen, die vormals Fremdreferenzen waren, Interauktorialität generieren und damit Co-Autoren am Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester durchscheinen lassen, obwohl diese Komposition auf Werke innerhalb von Schnittkes eigenem Œuvre rekurriert und damit die Fremdreferenzen nur mittelbar eine Rolle spielen. Gleichzeitig wurde, bis zu einem gewissen Grad, eine Veränderung in der Stilistik vor allem bzgl. der Material(nicht)entwicklung festgestellt. Alex Ross erkennt in vielen Kompositionen Schnittkes ab Mitte der 1980er Jahre eine Tendenz hin zu einer Reduktion der musikalischen Mittel. All diese Zuschreibungen, die sich sowohl aus der intentio auctoris (verändertes Zeitgefühl), der intentio textus notarum (am vierten Klavierkonzert die Korrespondenz von thematischem und außerthematischem Material), der intentio soni (eben diese Korrespondenz im Verhältnis zum Faktor Zeit, der das auditive Werk ausmacht) als auch aus der intentio recipientis (eine gewisse Stiländerung, die analytisch und auditiv wahrnehmbar ist) ergeben, weisen auf die sogenannte Spätstilistik hin, die bei vielen anderen Komponisten ebenfalls rezipierbar ist. Der retrospektive Blick auf das eigene Œuvre, der durch die Eigenreferenzen zum Ausdruck kommt, ist deshalb Teil dieser Spätstilistik. Insofern kann also eine intentio recipientis (sowohl den textus notarum als auch den sonus betreffend), die die vorangehenden Kompositionen Schnittkes (und hier auch wieder vorteilhaft auf beiden Werkebenen) kennt, aus den beiden Werktypen Eigenreferenzialität feststellen, die auf eine intentio auctoris schließen lässt. Sollte diese intentio auctoris nicht feststellbar sein, fungiert die Eigenreferenzialität als Plagiatismus, d.h. Schnittke plagiiert sich im vierten Klavierkonzert selbst, ohne dies bewusst zu tun. In beiden Fällen spricht die Eigenreferenzialität für eine Hermeneutik als Spätstil, denn zum Einen kann Eigenreferenzialität nur an späteren Werken festgestellt werden, da diese ja auf frühere verweisen, zum Anderen kann die biographische Methode – die hier als Bereicherung und nicht als Grenzübertrittsvehikel funktioniert – überhaupt erst Interreferenzen zwischen verschiedenen Werken eines Komponisten herstellen und in eine Chronologie bringen, aus der dann die rezeptive Seite anhand beider vorhandenen Werktypen und mit Hilfe der von Eco aufgezeigten und für die Musik erweiterten Intentionstypen stilistische Wandlungen, Überschneidungen, Palimpsestierungen oder Kontinuitäten aufzeigt. Die biographische Methode ist vor allem dazu geeignet, mehrere Kompositionen eines Autors ins Verhältnis zu setzen und in dessen Gesamtœuvre zu positionieren und zu interpretieren. Was allerdings eine strukturalistische Interpretation, die den Autor und all seine Co-Autoren ausblendet und bloß den Rezipienten und das Werk sprechen lässt, an Erkenntnissen leisten kann oder was für Grenzen sie überschreitet,

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Der auktoriale Diskurs

die der Interpretation eines musikalischen Werkes sowohl auf der notentextlichen als auch auf der auditiven Werkebene schaden, sei im nun folgenden Kapitel erörtert.

2.3

Grenzen der Interpretation II – Der Rezipient als Ursprung und Zielpunkt von Hermeneutik

Der von Wimsatt und Beardsley in der Einleitung zum vorangehenden Kapitel geformte Satz über die Absenz des Autors soll hier noch einmal wiederholt werden: ‚The poem belongs to the public.‘ Wimsatt und Beardsley geht es hier darum aufzuzeigen, dass die vermeintliche Intention eines Autors, legt man sie einer Werkinterpretation zugrunde, ein Trugschluss sein kann, da es von der Rezeptionsseite her keine stichhaltige Information darüber gibt, ob das entstandene Werk nun tatsächlich der auktorialen Intention entspricht oder nicht. Insofern postulieren beide die Abkehr von der auktorialen Intention und die Fokussierung auf die rezeptive Seite, da sie allein die Werkgenese konstituiert. In der Literaturtheorie hat sich diese Interpretationsströmung als Strukturalismus/Poststrukturalismus durchgesetzt, hauptsächlich verfochten von Michel Foucault und Roland Barthes. Barthes kommt in seinem Essay „Der Tod des Autors“ zu dem Schluss, dass: […] der Leser der Raum [ist], in dem sich alle Zitate, aus denen sich eine Schrift zusammensetzt, einschreiben, ohne dass ein einziges verloren ginge. Die Einheit eines Textes liegt nicht in seinem Ursprung, sondern in seinem Zielpunkt.198

Diese Aussage determiniert zum Einen den Text eines Autors als bloßen Zitatenschatz aus vorhergehenden Zitatenschätzen, die zwar alle einen Ursprung haben, dieser Ursprung jedoch nicht beim Autor des Textes zu suchen ist. Zweitens impliziert Barthes’ Aussage, dass für das Verständnis eines Textes, also dessen Deutung, der Autor selbst nicht mehr notwendig ist, sondern einzig und allein der Leser bzw. der Rezipient. Ebenso verfährt Michel Foucault, der der Frage „Was ist ein Autor?“ nachgeht und dabei versucht, selbigen als Ursprung eines Werkgehalts in Frage zu stellen: Nun definiert die moderne Literaturkritik, selbst wenn sie keine Beglaubigungssorgen hat (was der Regelfall ist), den Autor kaum anders: Autor ist derjenige, durch den gewisse Ereignisse in einem Werk ebenso wie deren Transformationen erklärt werden können, deren Deformationen, deren verschiedene Modifikationen (und dies durch die Autorbiographie, die Suche nach der individuellen Sichtweise, die Analyse seiner sozialen Zugehörigkeit oder seiner Klassenlage, die Entdeckung seines Grundentwurfs). (S. 215)

Und weiter: 198 Roland Barthes, „Der Tod des Autors“, aus dem Französischen übersetzt von Matias Martinez, in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hrsg. von Fotis Jannidis u.a. (= Universal-Bibliothek 18058), Stuttgart 2000, S. 192.

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Genau das Gegenteil ist wahr: Der Autor ist nicht die unendliche Quelle an Bedeutungen, die ein Werk füllen; der Autor geht den Werken nicht voran, er ist ein bestimmtes Funktionsprinzip, mit dem [...] man die freie Zirkulation, die freie Handhabung, die freie Komposition, Dekomposition und Rekomposition von Fiktion verhindert. (S. 228)199

Es wurden im vorangehenden Kapitel bereits an mehreren Stellen Missverhältnisse zwischen einer intentio auctoris, die die rezeptive Seite aus der Interpretation eines Werkes herausarbeiten will, und der intentio operis (sowohl auf notentextlicher als auch auf auditiver Ebene) aufgedeckt und benannt. Insofern wurde mit dem Diskurs über die biographische Methode – letztendlich besteht ein Autor als Subjekt aus seiner Biographie – der Autor Alfred Schnittke bereits in ein kritisches Licht gerückt. Andererseits hat die intentio auctoris, ob analytisch deduziert oder vom Autor selbst a priori, parallel zur Entstehungszeit einer Partitur und ihrer ersten In-Klang-Setzung oder a posteriori geäußert, die intentio operis mit der Biographie des Autors in Verbindung bringen können, ohne dass Grenzen einer Interpretation überschritten worden wären. Die Frage ist deshalb, was ein den Autor – sowohl als Biographie innehabendes Subjekt als auch durch seine intentio Autorisation über ‚sein’ Werk ausübend – negierender Ansatz an zusätzlichen, die ‚integrative Deutung des Werks‘ bereichernden Erkenntnissen liefert. Zunächst sei auf die Einleitung des vorangehenden Kapitels verwiesen, in dem gefragt werden musste, welcher Autor denn nun eigentlich stirbt, wenn an der Werkgenese, nach Marten, mindest drei Autoren beteiligt sind: Der eigentliche Haupt-Autor, d.h. der Komponist, der Interpret des Notentextes und der Rezipient, der sich noch einmal in drei Rezipientengruppen aufspaltet, nämlich den Rezipient des Notentextes, den des auditiven Werkes und den beider Werktypen. Letzteren wollen sowohl Barthes und Foucault als auch Wimsatt und Beardsley als alleinigen Ort einer Werkgenese verstanden wissen; nur im Rezipient generiert sich die gesamte Werkbedeutung. Der Autor, seine intentio und seine Biographie spielen für die Bedeutung eines Werkes keine Rolle. Für die Musik heißt das, dass auch der Interpret als Autor des auditiven Werkes aus dem hermeneutischen Diskurs ausgeschlossen wird, dass also die Werkgenese nur durch eine intentio lectoris, eine intentio auditoris und deren symbiotische intentio recipientis stattfindet, selbst wenn diese, wie Eco bemerkt, eine „Interpretation als Aufzwingen“200 ist. Über den interauktorialen Diskurs wurde herausgestellt, dass konkrete, abstrakte oder potentielle Co-Autoren der Klavierkonzerte Schnittkes vor der In-Klang-Setzung eines Notentextes auftreten, wenngleich Zitate, Plagiate oder Allusionen auf die klangliche Werkebene gerichtet sein können. Insofern würden, dem poststrukturalistischen Ansatz folgend, auch diese Co-Autoren in der Interpretation der Klavierkonzerte wegfallen. Gleichzeitig wurde jedoch festgestellt, dass sowohl die durch Interauktorialität generierte Fremdreferenzialität als auch die intentio auctoris inklusive biographischer 199 Michel Foucault, „Was ist ein Autor?“, aus dem Französischen übersetzt von Karin Hofer, in: Ebd., S. 215 und 228. 200 Eco, Grenzen der Interpretation (wie Anm. 50), S. 35.

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Der auktoriale Diskurs

Momente erst durch den Rezipienten interpretiert und damit konstruiert wird. Erst der Rezipient erkennt Fremdreferenzen, die auf andere Werke und deren Komponisten verweisen sowie Eigenreferenzen, die auf vorzeitige Kompositionen Schnittkes deuten und schließt biographische Momente in den Deutungsprozess der Kompositionen mit ein, ob innerhalb oder außerhalb der Grenzen der Interpretation. Was heißt es nun, wenn all diese inter- und eigenauktorialen Momente einer Komposition wegfallen? Beginnen wir beim notentextlichen Werk. Innerhalb des auktorialen Diskurses wurde geklärt, wo die Grenzen von Interauktorialität bestehen, dass nicht jeder gebrochene Akkord ein Verweis auf Beethoven und dessen Mondscheinsonate sein muss. Der Notentext folgt also in seiner Interpretierbarkeit auch werkimmanenten Regeln, die weder einen interauktorialen noch einen eigenauktorialen Bezug benötigen. Gleichwohl lassen sich zwischen Schnittkes Klavierkonzerten, die alsdann nur noch ‚die vier in dieser Abhandlung diskutierten Klavierkonzerte’ heißen dürften, ohne den Namen des Komponisten zu nennen, und anderen Partituren Gemeinsamkeiten finden, so z.B. die entwickelnde Variation in concreto oder Sonatensatzformen in abstracto. Diese Gemeinsamkeiten können dann in einem intertextuellen Diskurs gegenübergestellt und vom Rezipienten diskutiert werden. Dieser Diskurs wiederum kommt solange ohne einen Autor aus, bis es um die Frage einer historischen Einordnung zweier im intertextuellen Diskurs befindlicher Partituren geht. Allein schon die Frage, von wann eine Partitur stammt, lässt die Forderung nach Chronologie laut werden, die zumindest einen Ablauf von Zeit voraussetzt, ohne gleich eine semantische Aufladung biographischer Momente zu konstituieren. Nun muss nicht jede Interpretation historisch sein, Intertextualität vollzieht sich auch auf struktureller Ebene, sowohl lokal als global, sowohl typologisch (in der Beziehung eines Textes zu einem Texttyp oder Textmuster) als auch referentiell (in der Beziehung eines Textes zu einem bestimmten anderen Text).201 Insofern kann ein autorfreier hermeneutischer Ansatz durchaus Erkenntnisse erzielen, die – und dies wurde ja bereits im vorangehenden Kapitel angemahnt – eine verabsolutierte Beziehung zwischen Autor und Werk umgehen und somit die ‚integrative Deutung des Werks’ bereichern. Jedoch lässt erst eine historische Einordnung Progression oder Degression in der Entwicklung z.B. der Gattung Klavierkonzert erkennen. Bei einem Vergleich von vier Klavierkonzerten kann das Feststellen ebensolcher Entwicklungsmomente erst dann geschehen, wenn eine Chronologie dieser Konzerte gegeben ist. Die Chronologie ergibt sich aber erst aus dem Lebenslauf Alfred Schnittkes, des Autors. Insofern hilft uns der poststrukturalistische Ansatz bei einem Vergleich mehrerer Kompositionen und deren Positionierung innerhalb der Musikgeschichte nicht weiter, selbst wenn wir die Biographie des Autors bei der

201 Vgl. Henning Tegtmeyer, „Der Begriff der Intertextualität und seine Fassungen – Eine Kritik der Intertextualitätskonzepte Julia Kristevas und Susanne Holthuis’“, in: Textbeziehungen. Linguistische und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität, hrsg. von Josef Klein und Ulla Fix (= Stauffenburg Linguistik 5), Tübingen 1997, S. 59.

Interpretation und ihre Grenzen

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Interpretation weglassen und nur seine intentio in den (auch kritischen) Diskurs integrieren. Auf der Ebene des auditiven Werkes verhält es sich grundsätzlich anders. In der Einleitung zu diesem zweiten Teil der vorliegenden Abhandlung wurde bereits erwähnt, dass die Rezeption einer In-Klang-Setzung einer Partitur grundsätzlich sensitiv erfolgt, selbst wenn während dieser Rezeption die ratio eine Höranalyse durchführt, um halbwegs strukturisiert zu rezipieren. Gleichzeitig wage ich zu behaupten, dass die auditive Rezeption immer auch eine assoziative ist, egal ob diese Assoziationen zu anderen Kompositionen oder Komponisten (‚Das klingt wie...’), abstrakten Bildern oder aus dem Leben des Rezipienten stammenden Momenten gehören. Da jeder Rezipient aufgrund seiner Beschaffenheit als Individuum – und mithin Biographie und eine bestimmte Sozialisation innehabend – anders hört, ist sowohl das analytische als auch das assoziative Hören subjektiven Deutungsmomenten ausgeliefert. Insofern generiert jeder Rezipient bei jedem neuen Hören (Wir erinnern uns: Jede In-Klang-Setzung ist ein singuläres Ereignis.) ein einzelnes, neues Werk, das sich von allen vorher je generierten Werken unterscheidet. Analytisches Hören als Konstruktion eines bestimmten qualitativen Wertes kann, wollte man Barthes’ und Foucaults Theorie hier anwenden, nur im intertextuellen Kontext erfolgen, denn sowohl der Komponist als auch der Interpret oder die Interpreten auf der Bühne (bei einem Solisten wird es noch schwieriger), die ja wesentlich als Autoren des auditiven Werkes agieren, dürfen in der Interpretation keine Rolle spielen. Hier liegt aber schon die Crux verborgen – Musik als auditives Klangerlebnis funktioniert nur bedingt, wenn überhaupt, als Text. Auf das Problem einer Analogisierung von (klingender) Musik mit (gesprochener) Sprache wurde bereits hingewiesen. Selbst wenn man den Textbegriff als globalen verstehen würde, der über literarische Momente hinausgeht und letztendlich jegliches physische oder nichtphysische Element der Welt oder deren Kombinationen meint, z.B. ein Haus (als physischer Text), Homosexualität (als abstrakter nichtphysischer Text) oder den ADAC (als dynamischer physischer Text), bliebe die Frage nach der Autorschaft des Interpreten bestehen, es sei denn, der Rezipient schlösse beim Musikhören die Augen. Die visuelle Präsenz des Interpreten auf der Bühne ist jedoch ein wesentlicher Faktor für die Musikrezeption. Man könnte allerdings einschränken, dass die analytische Musikrezeption als intentio auditoris überprüfen will, ob die intentio interpretis der intentio operis (welcher auch immer, nicht jeder Rezipient kennt die Partitur) nahe kommt. Für Schnittkes Musik liegen bisher dahingehend noch keine Rezeptionsdokumente vor, da seine Werke noch nicht zum Kanon gehören, innerhalb dessen sich eine Rezeption etabliert hat, die glaubt die wahre intentio operis (z.B. von Beethovens Fünfter Symphonie) zu kennen, dabei aber nicht selten die intentio auctoris meint. Insofern kann Rezeption als Höranalyse in gewissem Maße strukturell sein und den Komponisten als Autor ausblenden. Problematisch wird es, wenn die intentio interpretis die intentio operis überdeckt, d.h. wenn es in der Rezeption mehr um den Interpreten geht als um das Werk. An dieser Stelle liegt die Problematik der autorfreien Interpretation

194

Der auktoriale Diskurs

auf auditiver Werkebene: Der Interpret als Co-Autor des auditiven Werkes lässt sich nie ganz ausblenden. Vielleicht kommt das Hören als Assoziation, die subjektivste aller Rezeptionsarten, dem Postulat des Poststrukturalismus am nächsten: „Wen kümmert’s, wer spricht?“202 Bereits im vorangehenden Kapitel wurde dahingehend von der sogenannten Alternativdeutung gesprochen, die zunächst nur auf den Verzicht der Biographie Schnittkes ausgerichtet war, nicht aber auf einzelne Kommentare von ihm selbst oder die intentio auctoris außerhalb biographischer Momente. Als erweiterte Alternativdeutung könnte man nun den gänzlichen Verzicht auf den Autor in jeglicher Hinsicht bezeichnen, ebenso das Ablehnen einer Berücksichtigung der intentio interpretis. Einzig und allein der Rezipient wäre Träger von Bedeutungsmomenten, die er in seiner intentio auditoris dem von ihm generierten Werk zuweist. Damit wird an dieser Stelle aber auch ein hermeneutischer Diskurs unterbunden, da die objektiv wahrnehmbaren Bezugspunkte Autor und Interpret wegfallen. Jeder Hörer hat das Recht, das in die In-Klang-Setzung einer Partitur hineinzuinterpretieren, was er will. An einem Tag hört er dieses aus dem auditiven Werk heraus, am anderen Tag jenes. Die Assoziationen sind frei, keiner Struktur unterstellt außer der des Rezipienten selbst. Hier liegt allerdings das grundlegende Problem der poststrukturalistischen Denkweise. Der Rezipient kann sicherlich frei assoziieren, ohne auf den Autor, seine Biographie oder seine intentio Rücksicht nehmen zu müssen. In vielen Fällen beeinträchtigt der Hintergrund Autor sogar die Interpretation, wie an Schnittkes Klavierkonzerten aufgezeigt wurde. Auch der Interpret muss nicht beachtet werden, wenngleich er als Decoder der Partitur überhaupt erst den ‚Text’ erstellt, den der Rezipient dann ohne ihn deuten soll. Gleichzeitig ist der Rezipient kein jungfräuliches Wesen, das jedes auditive Werk neu und unvoreingenommen interpretiert. Der Rezipient kann Vorkenntnisse haben, sowohl über Musik insgesamt als auch über den Komponisten oder die Interpreten. Er hat selbst eine Biographie, hat Vergangenheit, Fantasie und verknüpft mit dem, was er hört, bestimmte Assoziationen, die auf dieser Vorprägung beruhen. Nicht selten wird beim Hören neuer oder unbekannter Musik nach dem Motto verfahren: ‚Das klingt wie...’ oder ‚Das erinnert an...’ Der amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom beschreibt dies, bezogen auf die Poesie, als intertextuellen Bedeutungszwang: „[...] the meaning of a poem can only be another poem [...]“203, Damit wird die Rezeption eines auditiven Werkes in den Kontexten anderer auditiver Werke gestellt, deren Autoren bereits bekannt sind. Insofern kann Foucaults Frage nach der Notwendigkeit, zu wissen, wer spricht, auch ins Gegenteil verkehrt werden: Was kümmert’s, wer hört? Die Beliebigkeit der Interpretation mag zwar die vollkommene Freiheit von einem Autor-Werk-Verhältnis apostrophieren, führt aber auf der anderen Seite in die absolute Nutzlosigkeit von Interpretation an sich insofern, als sie keine Strömungen, Trends, Brüche, qualitative Differenzierungen etc. 202 Foucault, „Was ist ein Autor?“ (wie Anm. 199), S. 227. 203 Harold Bloom, The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry, New York und Oxford 21997, S. 95.

Interpretation und ihre Grenzen

195

aufzeigen kann, die doch maßgeblich für die Entwicklung von Kunst relevant sind. Die „Rückkehr des Autors“204 ließ deshalb nicht lange auf sich warten. Zusammengefasst lässt sich die Diskussion, wie eingangs des vorangehenden Kapitels bereits verdeutlicht wurde, wie folgt darstellen: The death of the author might be said to fulfill much the same function in our day as did the death of God for late nineteenth-century thought. Both deaths attest to a departure of belief in authority, presence, intention, omniscience and creativity. […] Roland Barthes in ‘The Death of the Author’ does not so much destroy the ‘Author-God’, but participates in its construction. […] Now that the author is dead, now that the lesson has been learnt, let us return the author to our circle as a guest whose past transgressions have been forgiven but not entirely forgotten. […] Two balls must be constantly kept up in the air: the author will return, but the death of the author must stand. […] A little like Dionysus, or Christ, the author must be dead before he can return. In a sense too, he must continue to be dead though he has returned.205

Mit dem Bezug zum Rezipienten, der in diesem Kapitel verstärkt als Co-Autor eines musikalischen Werkes in den Fokus rückte, wurde zugleich das nun nachfolgende letzte Kapitel dieser Abhandlung vorbereitet. In ihm wird es um das trichotomische Verhältnis von Autor, Werk und Rezipient gehen, vor allem unter dem Aspekt der Autorinszenierung und dem Streben nach Anerkennung. Außerdem wird die Frage gestellt werden, ob die Gattung Solokonzert besonders gut zur Inszenierung von Autorschaft geeignet und ob überdies der literaturtheoretische Diskurs dahingehend überhaupt auf Musik anwendbar ist. Einige der darauf zielenden Eigenschaften wurden bereits in diesem und den vorangehenden Kapiteln angesprochen. Ihre ausführliche Exploration und der Diskurs zwischen ihnen finden im nun folgenden Kapitel seine Fortsetzung.

204 Vgl. Fotis Jannidis u.a. (Hrsg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999. 205 Sean Burke, The Death and Return of the Author. Criticism and Subjectivity in Barthes, Foucault and Derrida, Edinburgh 1993, S. 22ff.

3.

Der Autor als Konstrukt

3.1

Eigeninszenierung des Autors und Fremdinszenierung der Autorschaftsfigur Ganze Abschnitte meines Lebens gehören zur Geschichte der Anderen: meiner Eltern, meiner Freunde, meiner Arbeits- und Freizeitkollegen.206

In den bisherigen Ausführungen wurde vereinzelt auf ein Phänomen hingewiesen, welches im Weiteren einer eingehenden Klärung bedarf: das Phänomen des Autors als Konstrukt. In diesem Zusammenhang seien die Fragestellungen, die sich unter dem Aspekt einer Autorkonstruktion bzw. -inszenierung bei Alfred Schnittke aufgetan haben, zunächst benannt, bevor das Phänomen selbst in seinen Facetten erläutert wird. Im interauktorialen Diskurs in Kapitel II.2.1 trat die Frage auf, wie evident interauktoriale Momente einer oder mehrerer Kompositionen sind, die auf Eigenaussagen Schnittkes oder Zuschreibungen von außen beruhen und demnach konstruierte Interauktorialität darstellen können. Dies galt ebenso für stilbildende Einflüsse, also auch Co-Autoren der Permanenz, wie sie nicht nur von Schnittke selbst in persona Johann Sebastian Bachs, Charles Ives’, Dmitri Schostakowitschs und Gustav Mahlers immer wieder lanciert wurden: Aber trotzdem: Wenn ich mir irgendein Leitbild vorstellen soll, dann bleibt für mich nur Gustav Mahler.207

Und: Ich kann nicht sagen, wer von den deutschen Komponisten mich am stärksten beeinflußt hat. Vielleicht Berg. Vor ihm Mahler. Aus der Vergangenheit Schubert und in gewissem Maße Mozart. Und als fernes, unerreichbares Ideal Bach. Bach bildet für mich den Mittelpunkt von allem.208

Schließlich bietet das biographische Moment des Schlaganfalls die Möglichkeit, nach einer intensiven Autorinszenierung sowohl auf der Seite des auctoris Alfred Schnittke als auch auf der Seite des recipientis zu suchen, d.h. die beiden Phänomene Eigen- und Fremdinszenierung, die ich hier auch synonym als interne und externe Autorkonstruktion benennen will, einander gegenüber zu stellen. 206 Paul Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, aus dem Französischen übersetzt von Jean Greisch (= Übergänge 26), München 22005, S. 197. 207 Joachim Hansberger, „Alfred Schnittke im Gespräch über sein Klavierquintett und andere Kompositionen“, in: Zur Geschichtlichkeit der Beziehungen von Glaube, Kunst und Umweltgestaltung, hrsg. von Claus Bussmann und Friedrich A. Uehlein (= Pommersfelder Beiträge 3), Frankfurt am Main 1982, S. 256. 208 Schnittke, Leben (wie Anm. 106), S. 50.

Der Autor als Konstrukt

197

Mit der Synonymisierung dieser beiden Begriffspaare sind wir direkt beim Erläuterungsprolog dieses Kapitels angelangt. Ich muss zugeben, dass ich zunächst lediglich die Begriffe interne und externe Autorkonstruktion verwendet hatte, bis ich auf die äußerst lehr- und aufschlussreiche Dissertation von Sandra Heinen stieß, deren Titel Literarische Inszenierung von Autorschaft. Geschlechterspezifische Autorschaftsmodelle in der englischen Romantik (Trier 2006) bereits eine andere Terminologie suggeriert. Es soll an dieser Stelle keine etymologische Zerlegung des Begriffs Inszenierung erfolgen, dies hat Heinen bereits getan und in ihren Anmerkungen zudem auf weitere Analysten dieses Begriffs verwiesen.209 Ich möchte jedoch darauf verweisen, dass es sich bei dem im Folgenden verwendeten Begriff der Inszenierung nicht um den der Theaterinszenierung handelt, auch wenn beide Typen miteinander verwandt sind. Das Begriffspaar Eigen- und Fremdinszenierung spricht im Prinzip für sich. Als Eigeninszenierung ist die bewusste Konstruktion des Autors selbst zu verstehen, als Fremdinszenierung die Konstruktion des Autors, oder besser der Autorschaftsfigur, von außen durch den Rezipienten. Im vorangehenden Kapitel wurde mit der erweiterten Handhabe von Ecos Intentionstypen bereits festgestellt, dass die intentio recipientis maßgeblich an der Konstruktion eines Autorbildes (als Image) beteiligt ist. In den weiteren Ausführungen wurde aber ebenso deutlich, dass in der Kombination der Interpretation als Suche nach der intentio auctoris (basierend auf Eigenaussagen Schnittkes zu seinen Kompositionen oder deren Umfeld) und als intentio recipientis (als Aufzwingen von Bedeutung) auch eine Kombination von Eigen- und Fremdinszenierung möglich ist, die ein konstruiertes Bild des Autors Alfred Schnittke generiert. Wobei wir an dieser Stelle wieder zurückkehren müssen zu der eingangs dieses zweiten Teils vorgestellten Autorschaftsfigur, denn in der Tat, wie noch zu zeigen sein wird, erschafft vor allem die intentio recipientis als Fremdinszenierung eine multiple Autorschaftsfigur bzw. ein Autorbild, in der bzw. in dem mehrere Co-Autoren aufgehen. Insofern trägt auch eine Kombination aus Eigen- und Fremdinszenierung dazu bei, eine Autorschaftsfigur Alfred Schnittke zu konstruieren. Heinen nähert sich der inszenierten Autorschaftsfigur über den sogenannten ‚impliziten Autor’, wie ihn Wayne C. Booth 1961 vorgestellt hatte.210 Über die Genese eines Autorkonstrukts durch den Leser schreibt Heinen: Die Konstruktion eines Autorbildes kann man sich parallel zum Prozeß der Figurenkonstruktion vorstellen. Der Leser hat meist ein gewisses Vorwissen über den Autor, kennt in der Regel zumindest seinen Namen, sein Geschlecht und seine Lebensdaten. Auch der Verlag, das Cover eines Buches, ein Vorwort oder ein Titel eines Werkes enthalten Informationen, die auf den Autor bezogen werden können oder bestimmte Rückschlüsse zulassen. Darüber hinaus vermittelt der Text durch seinen Stil, die Thematik und explizite oder implizite Wertungen einen Eindruck vom Autor. Auch Teile des Weltwissens wie allgemeine Klischees über Schriftsteller (z.B. das Stereotyp des romantischen, weltabgewandten Dichters oder jenes vom poli209 Vgl. Sandra Heinen, Literarische Inszenierung von Autorschaft. Geschlechtsspezifische Autorschaftsmodelle in der englischen Romantik (= ELCH Studien zur Englischen Literatur- und Kulturwissenschaft 17), Trier 2006, S. 24ff. 210 Wayne C. Booth, The Rhetoric of Fiction, Chicago 1961, S. 70ff.

198

Der Komponist als Autor

tisch-engagierten Vordenker der Nation) spielen im Prozeß der Autorkonstruktion eine nicht zu vernachlässigende Rolle.211

Die Parameter, die Heinen aufzählt, gelten im Prinzip auch für einen Komponisten, wenngleich in diesem Kontext zwischen verschiedenen Werk- und Rezeptionsebenen unterschieden werden muss. Es ist zu berücksichtigen, dass eine Fremdinszenierung auf drei Rezeptionsebenen erfolgt: erstens auf der Ebene des Lesers der Partitur, zweitens auf der Ebene des Hörers des auditiven Werkes und drittens auf der Ebene einer kombinierten Rezeption. Deshalb kann Heinens Leser nicht einfach mit dem Begriff des Hörers der Musik substituiert werden. Sowohl der Hörer der InKlang-Setzung als auch der Leser einer Partitur können ‚gewisses Vorwissen über den Autor‘ haben. Die folgenden Parameter wie Verlag (der Partitur), Cover (z.B. das Cover eines Programmheftes oder einer CD mit der Reproduktion eines auditiven Werkes), Vorwort (als Kurzkommentare eines Komponisten zu einem Werk) und Titel eines Notentextes als der zu ihr gehörende Paratext können sowohl vom Leser der Partitur als auch vom Hörer der In-Klang-Setzung rezipiert werden. Der Textstil, die Thematik und ‚explizite oder implizite Wertungen‘ sind getrennt auf notentextlicher und klanglicher Werkebene zu rezipieren und auf diesen beiden Ebenen nicht zwangsläufig kongruent. Daraus folgt, dass über die Rezeption eines Notentextes ein anderer Autor konstruiert werden kann als über die Rezeption eines auditiven Werkes, da verschiedene Parameter der Rezeption von unterschiedlichen Rezipientengruppen unterschiedlich wahrgenommen werden. Das allgemeine Weltwissen über Komponisten muss an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden, die Stereotypen von Komponisten variieren zwischen dem tragischen Gefühlshelden, der sich die ‚Seele aus dem Leib’ komponiert, und dem mathematisch-avantgardistischen Eisblock, dessen Kompositionen wahrhaft nur compositum bzw. ‚gar keine Musik mehr’ sind. Heinen bringt die vier Gruppen von „Informationen textuellen, paratextuellen und kontextuellen Ursprungs“212 in eine Stellung zum Leser, die sie in der folgenden Grafik verbildlicht. (Abb. 81)

211 Heinen, Literarische Inszenierung (wie Anm. 209), S. 46. 212 Ebd., S. 47.

199

Der Autor als Konstrukt

Vorannahmen über Autorschaft -Autorstereotype

nicht-literarische Texte des Autors (Briefe, Interviews) -Interessen -Meinungen etc. literarische Texte -formale und inhaltliche Aspekte -Selbstinszenierungen

Leser

weitere Informationen über den Autor (Presse, Gemälde, Dichterlesungen) -Aussehen -Verhalten -sozialer Hintergrund etc.

Abb. 81: „Konstituenten im Prozess der Autorbildkonstruktion“213.

213 Ebd., S. 47.

Autorkonstrukt

200

Der Komponist als Autor

Vorannahmen über Autorschaft -Komponistenstereotype

Äußerungen des Komponisten (Briefe, Interviews) -Komponistenkommentare -Analysen eigener Werke -Interessen -Meinungen etc.

Rezipient

Autorkonstrukt

notentextliche und auditive Werke -formale und inhaltliche Aspekte -Selbstinszenierungen weitere Informationen über den Komponisten (Presse, Gemälde, Fotos, Composer in Residence) -Aussehen -Verhalten -sozialer Hintergrund, Biographie etc.

Abb. 82: Konstituenten im Prozess der Autorbildkonstruktion in der Musik durch den Rezipienten des musikalischen Werkes.

Für den Fall einer getrennten Rezeption von notentextlichem und auditivem Werktypus (dann meistens eher letzterer) muss die Grafik entsprechend angepasst werden. Bisher wurde noch nicht darüber gesprochen, wie die zwischen notentextliches und auditives Werk geschaltete intentio interpretis das Autorkonstrukt ‚Komponist’ beeinflussen kann. Der Interpret, der selbst Rezipient des notentextlichen Werkes ist, trägt später dazu bei, dass seine In-Klang-Setzung der Partitur – eben seine Interpretation – von Hörern des auditiven Werkes im ästhetischen Sinne interpretiert bzw. gedeutet wird. Damit wird das Konstrukt eines Komponisten, das aus der Rezeption des Interpreten hervorgeht, später Teil der Konstituenten im Prozess der Autorbildkonstruktion durch den Hörer und damit Teil des Autorkonstrukts, das durch den Hörer eines auditiven Werkes generiert wird. Das Autorkonstrukt, das durch den Interpreten erschaffen wird, ist im ersten und letzten Konstituens der Grafik (Abb. 82) bei den ‚Vorannahmen über Autorschaft‘ und bei den ‚weiteren Informationen über den Komponisten‘ zu lokalisieren. Mit der Fremdinszenierung, die über den Interpreten eines Notentextes potenziert werden kann, nähern wir uns gleichzeitig der Eigeninszenierung eines Autors. Heinen bemerkt, dass die:

Der Autor als Konstrukt

201

[…] Untersuchung der Strategien zur Inszenierung von Autorschaft [...] notwendig in unverkennbare Nähe zu dem in der Literaturwissenschaft umstrittenen Konzept der Autorintention [rückt], denn eine Rekonstruktion von Inszenierungsstrategien ist nicht mehr sinnvoll von der Rekonstruktion einer Inszenierungsintention zu unterscheiden.214

Die Suche nach der intentio auctoris ist, nach Heinen, selbst schon immer eine Rekonstruktion als Konstruktion: Der reale Autor bleibt für die Literaturwissenschaft nur schwer zu fassen: auch wenn sie über den historischen Autor spricht (was ihr nicht abgesprochen sei), spricht sie über ein Konstrukt.215

In diesem Zusammenhang sei der Begriff der ‚Oughtabiography‘ erwähnt, der vom Literaturtheoretiker Chon Noriega geprägt und später von Julia Watson und Sidonie Smith im Glossar ihres Buches Reading Autobiography. A Guide for Interpreting Life Narratives mit folgender Definition verwendet wurde: Oughtabiography. Coined by Chon Noriega, this term designates life narratives focused on all the things one should have done (personal communication). As a discourse of regret and remorse, oughtabiography is woven through many narratives–of, for example, Rousseau, Henry Adams, Robert Burton. A sustained study, however, has not yet been undertaken.216

Leider lässt sich im Deutschen kein äquivalenter Begriff finden, der phonetisch die Ambivalenz der Autobiographie als Konstrukt des Eigenen herausstellt. Dennoch wird deutlich, dass eine Autobiographie als Konstrukt so erscheint, wie sie der Autor gern gehabt hätte bzw. wie sie hätte sein sollen (als wörtliche Übersetzung von ought to und mit der damit einhergehenden Konsequenz von ‚Bedauern‘ und ‚Reue‘ in dem Sinne, dass Dinge nicht stattgefunden haben, wie sie hätten stattfinden sollen) und sie damit zum Phänomen der Eigeninszenierung gehört. Nun muss der Verweis eines Komponisten auf eigene biographische Momente nicht immer derart semantisch aufgeladen sein, dass daraus gleich ein Konstrukt wird. Dennoch scheint dies in Autobiographien häufiger der Fall zu sein als das bloße Aufzählen biographischer Fakten. Selbst diese Fakten würden aus einer bestimmten Intention heraus aufgezählt, die auch als Intention für eine Inszenierung angesehen werden können. Insofern ist die Rezeption, die sich um die Erforschung der intentio auctoris bemüht, ein Umgehen mit einem Autor als Konstrukt, das sowohl aus einer Fremd- (basierend auf den von Heinen dargestellten Konstituenten) als auch aus einer Eigeninszenierung (z.B. als Konstrukt der Autobiographie im Sinne einer ‚Oughtabiography’) hervorgehen kann, oder aber aus einer Kombination beider Konstruktionsmöglichkeiten.

214 Ebd., S. 50f. 215 Ebd., S. 48. 216 Sidonie Smith and Julia Watson, Reading Autobiography. A Guide for Interpreting Life Narratives, Minneapolis 2001, S. 199.

202

Der Komponist als Autor

Die Rezeption einer Komposition, sowohl der Partitur als auch ihrer In-KlangSetzung, hat immer auch mit dem Potential einer inszenierten Autorschaft zu tun, die teils vom Komponisten selbst der Rezeption vorausgeschickt wurde und sich während dieser mit Hilfe der aufgezeigten Konstituenten entwickelt. Die Eigeninszenierung eines Autors wird jedoch auch von der Rezeption seiner Werke beeinflusst, so dass in jeder neuen Komposition das Resultat einer Rezeption der vorangehenden innewohnen kann. Mit jedem neuen Werk erweitert sich das Bild eines Rezipienten über den Autor durch das aus den vorangehenden Implikationen gewonnene Wissen: „Die umstrittene Autorität des Autors verwandelt sich so zur erschlichenen Selbstautorisierung des Interpretenkonstrukts.“217 Somit stünden in Bezug auf Schnittkes vier Klavierkonzerte am Ende mehrere Autorkonstrukte zur Verfügung, die allesamt aufeinander aufbauen, d.h. dass das letzte Konstrukt schließlich die drei vorangehenden in sich trägt, so wie es ähnlich auf der stilistischen Ebene der Palimpsest-Gedanke formuliert. Andererseits erweitert sich mit dem Rezeptionsbild eines Autors beim Rezipienten auch das Wissen des Autors um eben dieses, was der Eigeninszenierung entgegen kommt, indem nämlich der Autor zugunsten oder wider ein von ihm zirkulierendes Bild (Image) in der Öffentlichkeit bzw. beim Rezipienten in seinem künstlerischen Schaffen fortfährt. Die von Heinen in ihrer Grafik vorgeschlagenen vier Grundkonstituenten eines durch den Rezipienten (Leser) geschaffenen Autorkonstrukts müssen damit meiner Meinung nach in eine zirkulare Form erweitert werden, die zudem auch noch den Interpreten als Teil der Zirkularität dieses Prozesses integriert, so dass folgende Grafik entsteht. (Abb. 83) Konstituenten im Prozess der Autorbildkonstruktion

Autor

Rezipient Interpret Autorkonstrukt

Abb. 83: Zirkularität im Prozess der Autorbildkonstruktion.

Der französische Literaturwissenschaftler Gérard Genette betrachtet die vorliegende Zirkularität einer Autorkonstruktion unter einem anderen, aber ebenso ergiebigen Aspekt. Er unterscheidet im Paratext eines Werkes, dem sogenannten Beiwerk, den Namen des Autors in Onymität (Präsenz), Anonymität (Absenz) und Pseudonymität

217 Lutz Dannenberg, „Zum Autorkonstrukt und zu einem methodologischen Konzept der Autorintention“, in: Jannidis u.a. (Hrsg.), Rückkehr des Autors (wie Anm. 204), S. 105.

Der Autor als Konstrukt

203

(Präsenz eines falschen Autornamens). Bezugnehmend auf die Onymität eines Autors kann es passieren, dass: [...] eine bereits berühmte Person ein Buch hervorbringt, dessen Erfolg auf dieser Berühmtheit aufbauen kann. Der Name ist dann nicht ein bloßes Ausweisen der Identität [...], sondern stellt seine Identität in den Dienst des Buches [...].218

Und weiter: Der Autorenname ist beim Onym der Name eines putativen Verantwortlichen ohne Rücksicht auf seine tatsächliche Rolle bei der Herstellung des Werkes [...].219

Damit wird aber zum Einen das Werk Teil der Identität (und der Berühmtheit) des Autors bzw. der Autorschaftsfigur und damit einer konstruktivistischen Rezeption opportun, die den Autor so oder anders sieht und damit den Charakter, oder besser das Image des Autors auch dessen Werk zuschreibt: Der Autor vererbt eine nach dem Autorkonstrukt ihm zugeschriebene Eigenschaft in der Weise auf den Text, daß sie als Texteigenschaft, zum Beispiel die Wahrheit des Textes, ebenso gewiß besteht, wie sie den Autor auszeichnet.220

Zum Anderen überdeckt die Onymität des Autors, der dem Werk auf der Paratextebene seinen Namen gegeben hat, die tatsächliche Präsenz weiterer Co-Autoren, durch die eine ganzheitliche Hermeneutik erst möglich ist. Problematisch ist hingegen die Vermischung von noten- und paratextlicher Präsenz der Autorschaftsfigur mit deren Konstruktion auf der notentextlichen und der auditiven Werkebene durch die Rezeption. Womöglich muss die Onymität des Autors doppelt mitgedacht werden, auf der notentextlichen Werkebene als Paratext und auf der auditiven Werkebene als Komponist, denn auf der klanglichen Ebene kann der Autorname kein Paratext sein, da die In-Klang-Setzung eines Notentextes kein Hypertext mehr ist, sondern dessen Decodierung bzw. klangliche Interpretation durch Interpreten, Dirigenten etc. als Co-Autoren. Diese Unmöglichkeit der Analogisierung muss, wenn wir literaturtheoretische Aspekte auf Musik anwenden wollen, immer beachtet werden. In der Rezeption der Musik Schnittkes (auf beiden Werkebenen) lässt sich diese Tendenz der Autorinszenierung, die den Namen Alfred Schnittke (als konstruierte Autorschaftsfigur) in den Dienst seiner Kompositionen stellt, sehr gut beobachten. Zunächst seien die Konstituenten der Autorbildkonstruktion auf Alfred Schnittke und seine Klavierkonzerte angewendet. Dabei soll auf die Komponistenstereotype hier nicht näher eingegangen werden, da ihre Beweisführung nicht eindeutig vollzogen werden kann. Komponisten mögen für den einen als weltfremd, für den anderen als Reflektoren von Gesellschaft gelten. Sie können als Esoteriker betrachtet werden 218 Genette, Paratexte (wie Anm. 30), S. 43. 219 Ebd., S. 44. 220 Dannenberg, „Zum Autorkonstrukt“ (wie Anm. 217), S. 88.

204

Der Komponist als Autor

oder als der Komponistenkumpel von nebenan. Sie können Arbeitstiere sein oder Schöngeister, die Jahre an einer Komposition feilen, bevor sie in Druck geht. All diese Stereotype ließen sich mit Beispielen belegen und blieben doch Einzelzuschreibungen, von denen mal das eine, mal das andere auf Alfred Schnittke angewendet werden könnte. Anders verhält es sich mit dem Konstituens ‚Äußerungen des Komponisten‘, das auf der notentextlichen Werkebene, nach Genette, zu dessen Paratext gehört und in dem die Eigeninszenierung Schnittkes maßgeblich konstituiert wird: Das interne Autorkonstrukt, konstituiert u.a. aus der Rezeption des eigenen Œuvres, wird somit Konstituens der externen Autorkonstruktion, die dann wiederum die Eigeninszenierung beeinflusst. Für alle vier Klavierkonzerte Schnittkes liegen Kommentare von ihm selbst vor, die zum Teil sogar helfen, seine Werke analysieren zu können. Jedoch läuft eine Analyse unter Zuhilfenahme der Äußerungen Schnittkes Gefahr, einer Eigeninszenierung ausgesetzt zu sein. Um dem zu entgehen, müssen Schnittkes Kommentare kritisch betrachtet werden. Die Äußerungen Schnittkes zu seinen vier Klavierkonzerten sind folgende: Konzert für Klavier und Orchester Drei Sätze: Allegro, Andante, Allegro. Es wurde bis zum heutigen Tag nur einmal von Leonid Brumberg und dem zweiten Radioorchester unter der Leitung von Bacharew [Barachev] aufgeführt. In derselben Besetzung wurde es aufgezeichnet, aber nicht gedruckt. Das Konzert selbst ist traditionell: mit einem toccatenhaften ersten Satz; einem recht klassischen langsamen, relativ tragischen zweiten Satz (tragisch in Anführungsstrichen) und einem motorischen Finale. Ich begeisterte mich zu dieser Zeit für Hindemith – von daher die Quartverwendung und die Linearität der harmonischen Struktur. Von den für mich interessanten Momenten der Tonart blieb für mich die Ganzton-Halbton-Skala mit einem Fokus nicht auf dem verminderten Septakkord, sondern auf den darin enthaltenen Quarten und Quinten sowie dem Akkord Nummer eins aus dem Buch Cholopows [Cholopov] (der große TritonusSeptakkord – D[mitri] Sch[ulgin]). Das ist es, was in meinen Werken und bis zu diesen Zeiten zusammengekommen war.221

Musik für Klavier und Kammerorchester Schnittke verfasste für die Uraufführung im September 1965 beim Warschauer Herbst den Text für das Programmheft: Ich habe versucht, in diesem Stück die serielle Technik den Schwankungen von emotionaler und dynamischer Intensität unterzuordnen. Die Arbeitsmethode war folgende: 1. ein allgemeiner emotionaler und dynamischer Plan, 2. Erstellung eines mathematischen Formmodells durch Kombinationen von 16 melodischen Folgen, die Abhängigkeiten ausdrücken hinsichtlich der Intervalle der Töne, die in der jeweils ausgewählten Folge erscheinen, 3. Realisierung des Modells – der Notentext. 221 Šul’gin [Schulgin], Gody neistvestnosti (wie Anm. 67) S. 36. Russischer Originaltext siehe Anhang 2.1, S. 265.

Der Autor als Konstrukt

205

Das Modell könnte eine große Zahl von Realisierungsmöglichkeiten besitzen. In diesem Fall ist das gleiche Modell dreimal realisiert worden: in der Einführung zum 1. Satz, in der Kadenz des Klaviers vorm Finale und in der Coda des Finales. Die Einführung zum 1. Satz ist eine stufenweise Einführung aller Instrumente, aufsteigend nach der Intensität der Klangfarbe oder der Tonlage. Das Klavier setzt zuletzt ein, an dieser Stelle beginnt die wichtigste Episode dieses Satzes: Ein Dialog des Klaviers (in verschiedenen Klangfarben) mit dem Orchester (die eigentlichen Klänge der Instrumente nähern und entfernen sich wie klingende ‚Strahlen‘, die sich teilweise zu einem ‚Strahlengewebe‘ zusammenfügen). 2. Satz: Mittelpunkt des Stücks: seine Grundlage besteht aus einer fortgesetzten melodischen Linie (‚Stamm‘), die von verschiedenen kontrapunktischen Stimmen umgeben ist (‚Äste‘). Jeder ‚Ast‘ geht aus einem Ton des ‚Stammes‘ hervor, der sich dann auf eine autonome Art weiterentwickelt. Am Anfang sind diese zwei Elemente dem Piano-Solo anvertraut. Dann nimmt das Orchester sie auf, um sie zu einem Höhepunkt zu führen und dann dem Solisten zu überlassen. Die Coda des 2. Satzes ist ein Kontrapunkt aus den Klangfarben des Klaviers (‚Stamm‘) und des Orchesters (‚Äste‘). Aufsteigend führt die Klavierkadenz zum Finale. In diesem Abschnitt dominiert die Dynamik der motorischen Entwicklung, bis hierher nicht ausgenutzt (das Finale ist eine Kette aus Variationen der Grundstruktur, die auf einem ostinaten Bass basiert). Die Einführungen aller Instrumente mit verschiedenen Variationen der Folge (einer Art Fugato mit dem variierten Thema) enden in einem Höhepunkt: ein großer wellenförmiger Akkord (vertikale Reihe). In der Coda, wo das ‚Modell‘ der Einführung zum 1. Satz zum dritten Mal realisiert ist, lässt das melodische Element Platz für Glissandi, Triller und Tremoli. Das Werk verklingt in aufsteigendem Glissando.222

Einige Jahre später machte Schnittke im Interview mit Dmitri Schulgin folgende Bemerkungen, die sich zum Teil von den unmittelbar nach der Vollendung der Komposition verfassten Äußerungen unterscheiden: Die Musik für Klavier und Kammerorchester wurde im selben Jahr geschrieben wie die Musik für Kammerorchester – im Jahr 1964. In der Technik sind sie ähnlich. Jedoch ist das zweite Werk lebendiger. Hier gibt es drei Sätze: ein angespannter, aber nicht sonderlich schneller erster, ein langsamer zweiter und ein schneller dritter Satz. Zwischen den beiden letzten Sätzen gibt es eine große Klavierkadenz. Sie ist ebenso seriell, streng berechnet (die Reihe, so scheint es, ist eine Allintervallreihe, nicht symmetrisch, ohne den mittleren Tritonus). Im Werk sind einige formelle Methoden angewandt, die mich dieser Zeit interessierten. Zum Beispiel ein und dasselbe Strukturmodell, zusammengesetzt aus einem bestimmten Rhythmus des Auftretens der Stimmen und ihrer Anzahl, und ebenso bestimmter Intervalle, wurde von mir dreimal realisiert, in verschiedenem Material: in der Einleitung zum ersten Satz; danach, mit den selben Noten, doch in der Wiedergabe völlig anders – heterophon, was für das Klavier angenehm war – in der Kadenz des Klaviers, und dasselbe Modell wurde zum Schlüssel des Werkes, wo dieselbe Struktur keine Noten mehr, sondern Glissando und Cluster hervorbrachte. Im zweiten Satz gibt es eine mich damals sehr interessierende Methode, welche man symbolisch als ‚Baum‘ bezeichnen könnte, in Bezug auf die Form der Komposition. (Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich diese Methode nicht noch einmal wiederholt, aber vielleicht verwende 222 Alfred Schnittke über seine Musik für Klavier und Kammerorchester, in: Programmheft zum Festival Warschauer Herbst 1965, aus dem Französischen übersetzt von Sarah Baltes, ohne Seitenangabe. Französischer Originaltext siehe Anhang 2.2, S. 265f.

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Der Komponist als Autor

ich sie irgendwann.) Der Stamm des ‚Baumes‘ ist die Kette der Transpositionen der Grundreihe, wie eine Passacaglia, bei der das Thema Tonalität und Rhythmus ändert; Abzweigungen davon – die Äste – sind das Unisono, mit der die Reihe in neuen Transpositionen beginnt und parallel zur restlichen Entwicklung verläuft, und aus diesem ‚Ast‘ entstehen seine Verzweigungen, an manchen Stellen dicker, an anderen spärlicher. Im Resultat war die Form des ‚Baumes‘ in der Komposition sehr konsequent ausgeführt, ausgeführt auf der Basis einer strikt seriellen Kalkulation. Das heißt, dass absolut alles aus der numerischen Reihe entstand und exakt dass, so scheint es, war für mich das interessanteste daran. Im dritten Satz gibt es so etwas analoges. Hier ist der Ostinato-Bass, wie in einer Fuge. Er wird abwechselnd vom Kontrabass und vom Violoncello ausgeführt – er erscheint erneut als ‚Stamm‘, als Kern, als Grundstruktur, aber über ihm keimen kurze Motive, Linien, verschiedene einzelne Klangpunkte. Im Allgemeinen wurde das Musikstück im Ergebnis dynamisch und zufriedenstellend aufgenommen. Es wurde nur wenige Male aufgeführt: beim ‚Warschauer Herbst‘ 1965 und dann noch einmal mit Roschdestwenski in Leningrad, (zweimal hintereinander) zusammen mit der Pianistin Talrose. Diese Aufführung war sehr erfolgreich; danach irgendwo in den USA und außerdem in Belgien auf dem Festival zeitgenössischer Musik im Jahr 1963 [Druckfehler, die richtige Jahreszahl lautet 1968, Anm. d. Verf.]. In der DDR wurde das Musikstück aufgezeichnet. Jedoch verhalte ich mich ihm gegenüber nun etwas abweisender, weil es durch die dogmatische serielle Technik zu ausgetrocknet ist, allerdings scheint mir die formelle Idee des ‚Baumes‘ bis zum jetzigen Zeitpunkt sehr interessant zu sein. [Dmitri Schulgin:] Und gibt es in ‚Pianissimo‘ nicht ein Spiegelbild dieser Form? Das gibt es. Aber es ist nicht so sehr ein ‚Baum‘ als vielmehr ein sich verdichtendes Büschel – es ist nicht das gleiche Prinzip der Abzweigung. [Dmitri Schulgin:] Der ‚Stamm‘ dieses Büschels – ist das die Partie der Streicher? Ja, dort passt sich die Methode dem Verharren an, ähnlich der Spuren bis zum Ende der Bewegung, aber ohne ähnliche Abzweigungen. Die Form des ‚Baumes‘ ist, so scheint mir, sehr vielversprechend bzgl. bestimmter dramaturgischer Richtungen.223

Konzert für Klavier und Streicher Im Jahr 1979 versuchte ich, den langgehegten Wunsch zu realisieren, ein Klavierkonzert für Wladimir Krainjew [Vladimir Krajnev] zu schreiben (der den seltenen Vorzug besitzt, sich viel interessanter und individueller weiterzuentwickeln, als man dies ursprünglich von ihm annahm) – doch es gelang mir nicht. Ich war gezwungen, die Uraufführung zu verschieben. Erst später fand ich die erwünschte traumwandlerische Sicherheit in der Annäherung an Banales in Form und Dynamik – und in der sofortigen Vermeidung desselben. Aber wenn ich traumwandlerisch sage, dann meine ich damit auch ein gewisses Vorübergleiten von monotoner Rhythmik, die passive Abfolge sich wiederholender Akkorde, Schattengeflechte mehrstimmiger Kanons und surrealistische Sonnenaufgangsfetzen von orthodoxer Kirchenmusik. Hinzu kommt [sic!] noch eine falsche Prokofjew-Aktivität und ein Blues-Alptraum. Auch der erste, 223 Šul’gin [Schulgin], Gody neistvestnosti (wie Anm. 67) S. 40f. Russischer Originaltext siehe Anhang 2.3, S. 266f.

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äußerlich sehr aktive Höhepunkt verliert in gewissem Sinne an realer Wirkung durch seine Übermäßigkeit. Dann folgt die lang heranwachsende Solokadenz und danach der wirkliche Höhepunkt, wo alles – außerstande, das Gleichgewicht zwischen ‚Sonnenschein‘ und ‚Sturmwolken‘ herzustellen – endlich in tausend Stücke zerspringt... Die Coda besteht aus traumhaft leisen Erinnerungen an alles Vorhergehende. Erst am Ende entsteht eine neue Ungewissheit – vielleicht nicht ohne Hoffnung?224

Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester 1988 schrieb ich ein Werk, das mich vor einige Probleme stellte: das vierhändige Klavierkonzert. Eines dieser Probleme bestand in der Findung der Form. Zwei Pianisten mussten verschiedene Funktionen erfüllen. Nach langem Überlegen fand ich eine Lösung: Es beginnt äußerst kontrastreich und endet mit zeitweiliger Versöhnung. Vielleicht werde ich diesen Gedanken irgendwann weiterführen? Die Idee eines vierhändigen Klavierkonzerts ist nicht neu, aber sie wurde äußerst selten realisiert. Es gibt natürlich Gründe dafür – es ist vor allen Dingen eine undankbare Aufgabe, vierhändig (und sich dabei gegenseitig störend) auf einem Instrument zu spielen. Aber es hat auch Vorzüge – der Klang des Instruments wird vielschichtiger und umfangreicher, es ist sozusagen der Monolog eines Doppelwesens. Und dieses Empfinden, dass jemand immer dabei ‚weiterklingt‘ (wenn auch manchmal pausierend), hat von Anfang an die Klangillusion des entstehenden Doppelkonzertes beeinflusst. Nun ist es fertig, und es kam wieder zu der von mir (wie auch von anderen nach Liszt) mehrmals realisierten Form eines mehrsätzig-einsätzigen Werkes, das langsam beginnt und endet und in der Zwischenzeit sich bemüht, eine kontrastreiche Klangwelt darzustellen – aber es ist interessant, dass man auf die mehrmals wiederholte gleiche Frage immer wieder eine andere Antwort bekommt. Auch diesmal hat sich die Form anders gestaltet – mit überwiegend scherzo-hafter Entwicklung eines anfänglichen kaum dahin tendierenden lyrisch-rezitativischen Materials und einer surreal-dramatischen Kulmination. Was wäre wohl das Ergebnis einer nächsten Befragung – falls sie überhaupt käme?225

Nach Genette gehören solche Komponistenkommentare zum öffentlichen auktorialen Epitext eines Paratextes, der „[…] sich definitionsgemäß immer an das Publikum im allgemeinen [wendet]“226. Gleichzeitig zielt Schnittkes Aussage in Teilen auf die auditive Ebene des Werkes, das ja eigentlich kein Hypertext mit ihn umgebendem Paratext mehr ist. Genette teilt die Arten dieser Epitexte in fünf verschiedene Modelle, die sich nach der Art der Äußerungsebene (selbstständig oder durch Dialog vermittelt) und dem Zeitpunkt der Äußerung unterscheiden. (Abb. 84)

224 Alfred Schnittke über sein Konzert für Klavier und Streicher, in: Köchel (Red.), Schnittke zum 60. Geburtstag (wie Anm. 1), S. 96. 225 Alfred Schnittke über sein Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester, in: ebd., S. 98. 226 Genette, Paratexte (wie Anm. 30), S. 335.

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Der Komponist als Autor

Zeitpunkt

original

nachträglich

spät

selbstständig

1. Selbstbesprechung

2. öffentliche Antwort

5. Selbstkommentar

vermittelt

3. Interview

Ebene

4. Gespräche, Kolloquien

Abb. 84: Formen des öffentlichen Epitextes nach Gérard Genette.227

Die vorliegenden Äußerungen Schnittkes zu seinen Klavierkonzerten lassen sich diesen fünf Modellen leicht zuordnen: Äußerung zum Konzert für Klavier und Orchester – 4. Gespräch Äußerungen zur Musik für Klavier und Kammerorchester – 1. Selbstbesprechung (Programmhefttext); 4. Gespräch (mit Dmitri Schulgin) Äußerung zum Konzert für Klavier und Streicher – 5. Selbstkommentar Äußerung zum Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester – 5. Selbstkommentar Wie aus den Gesprächen mit Schulgin hervorgeht, stammen die beiden Äußerungen zum Konzert für Klavier und Orchester und zur Musik für Klavier und Kammerorchester aus den 1970er Jahren, in denen auch diese Gespräche geführt wurden. Genette gibt über dieses Modell des späten Gesprächs Folgendes zu bedenken: Aufgrund seiner späten zeitlichen Situation und mitunter der Neugier des Gesprächspartners oder aufgrund des schlechten Gedächtnisses des Autors oder seiner Abneigung gegen Selbstkommentare verläßt das Gespräch [...] oft den Boden des Werks zugunsten einer eher autobiographischen Rückbesinnung, deren paratextuelle Relevanz indirekter ist [...]. Dennoch bildet die heute beträchtliche Menge von Gesprächssammlungen einen Schatz an paratextuellen Zeugnissen insbesondere über die Arbeitsgewohnheiten von Schriftstellern: Orte, Zeitpunkte, Positionen, Umgebung, Instrumente, Rituale, Schnelligkeit oder Langsamkeit des Schreibens usw.; und über Interpretationen oder späte oder globale Bewertungen des Werks, die oft diejenigen eines späten Vorworts ersetzen [...] oder bestätigen und nuancieren [...].228

Aufgrund der hohen Zahl von Kommentaren Schnittkes zu seinen eigenen Werken ließe sich nun vermuten, dass er derartigen Gesprächen, die sich auf die Interpretati227 Ebd., S. 336. 228 Ebd., S. 347.

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on seiner Werke beziehen, nicht abgeneigt wäre. Tatsächlich jedoch gibt Schnittke in seinen Gesprächen mit Iwaschkin bekannt, dass „[…] [a]lle Versuche, die eigene Musik zu erklären, [...] von vornherein zum Scheitern verurteilt [sind]. Ich werde verlegen, sobald ich dazu aufgefordert werde“229. Diese Verlegenheit scheint allerdings nicht so groß gewesen zu sein, dass Schnittke nicht immer wieder über seine eigenen Werke gesprochen und selbst Anleitung zu Analyse und Deutung gegeben hätte. Die beiden aus Gesprächen entstandenen späten Äußerungen geben zum Teil auch Auskunft über biographische Eigenansichten, wie der Bezug zu Hindemith im ersten Klavierkonzert und die nachzeitige kritische Distanz gegenüber der seriellen (bzw. dodekaphonen) Technik im zweiten Klavierkonzert beweisen. Der Versuch einer nachträglichen Eigeninszenierung ist an diesen beiden Kompositionen mehr als evident, denn erstens ließ sich ein Einfluss Hindemiths in dem Ausmaß, dass er allein hätte erwähnt bleiben müssen, am Konzert für Klavier und Orchester nicht feststellen. Zweitens spricht die nachträgliche Distanzierung von der Musik für Klavier und Kammerorchester für ein eigenkonstruktivistisches Moment, umso mehr, als Schnittke diese Komposition in einem Gespräch mit Walentina Cholopowa als seiner ‚schwarzen Periode‘230 zugehörig und in einem Brief an Tilo Medek sämtliche Kompositionen als „brave serielle Stücke“231 bezeichnete. Ähnlich verhält es sich mit den beiden Selbstkommentaren, deren Entstehungszeit nicht bekannt ist, die jedoch aufgrund der Art der Äußerung einige Jahre nach der Entstehung der Kompositionen selbst geäußert worden sein dürften und damit zur Rubrik des späten Selbstkommentars gehören. Über den späten Selbstkommentar schreibt Genette: Also schlägt der Selbstkommentar oft einen anderen Weg ein, nämlich den des entstehungsgeschichtlichen Kommentars: Ich bin nicht besser (und vielleicht schlechter) qualifiziert, wenn es zu sagen gilt, was mein Werk bedeutet und warum ich es geschrieben habe; dafür bin ich besser gerüstet als sonst jemand, um zu sagen, wie ich es geschrieben habe, unter welchen Bedingungen, nach welcher Arbeitsweise, ja sogar mit welchen Verfahren.232

Die Allgemeinaussagen Genettes, die auf den Selbstkommentar eines Schriftstellers verweisen, lassen sich ohne Weiteres auf Schnittkes Äußerungen zu seinen letzten beiden Klavierkonzerten beziehen. In beiden Kommentaren spricht Schnittke von den schwierigen Bedingungen, unter denen er schließlich doch zwei passable Werke komponiert habe. Ebenso erläutert er in gewisser Hinsicht die Materialentwicklung und gibt Auskunft über die Formfindung, also das Verfahren des Komponierens. Schließlich gibt Schnittke einen Ausblick darauf, wie beide Kompositionen interpretiert werden könnten. Schnittkes Ansatz bezieht sich sowohl auf die notentextliche als auch auf die klangliche Werkebene und er beendet beide Aussagen mit einer Fra229 Schnittke, Leben (wie Anm. 106), S. 175. 230 Vgl. Schmelz, Listening (wie Anm. 6), S. 191f. 231 Brief Alfred Schnittkes an Tilo Medek vom 27.09.1970, in: Hofer (Hrsg.), Briefwechsel (wie Anm. 103), S. 64. 232 Genette, Paratexte (wie Anm. 30), S. 350.

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ge an das Publikum, sozusagen als Aufforderung, seine eigenen Interpretationsvorgaben weiter zu denken. Gerade der Selbstkommentar zum Konzert für Klavier und Streicher offenbart, dass Schnittke mit dieser Komposition einige Schwierigkeiten hatte. In einem Brief an Faradsch Karajew [Faradž Karaev] vom 29.04.1981 gesteht Schnittke ein: Ich bin froh [...], daß mein Klavierkonzert Ihr Interesse fand (obwohl, ich will es nicht verbergen, es nicht gerade zu meinen Lieblingswerken gehört.[)] Der Stoff ist hier nicht glatt, besonders ist die motorische Episode à la Prokofjew, die ich zweimal ohne ein befriedigendes Ergebnis überarbeitet habe, nicht gelungen.233

Alexander Iwaschkin bestätigt (in einer E-Mail an den Verfasser vom 27.06.2008), dass Schnittke tatsächlich mit diesem Klavierkonzert ziemlich unzufrieden war, auch weil es unter anderem in einer für Schnittke sehr hektischen Zeit entstand. Gleichzeitig muss von einem analytischen Standpunkt aus Schnittkes eigener Kommentar widerlegt werden, denn gerade das Konzert für Klavier und Streicher ist sowohl in Bezug auf die Disposition und Durchführung des Materials als auch die Formgestaltung eine der ‚glättesten’ Kompositionen Schnittkes. Zum Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester lässt sich sagen, dass Schnittke hier nachträglich den Prozess des Komponierens konstruiert. Die Aussage ‚Auch diesmal hat sich die Form anders gestaltet – mit überwiegend scherzo-hafter Entwicklung eines anfänglichen kaum dahin tendierenden lyrisch-rezitativischen Materials‘ offenbart, dass Schnittke sich hier als unbewusst komponierender Autor in Szene setzt – das Material entwickelt sich anscheinend von alleine, ohne dass der Komponist eingreift. Wir werden unter dem Aspekt der Inszenierung von (Nicht)Autorschaft noch sehen, warum Schnittke derartige Äußerungen nur halb versteckt preisgibt. Es sei an dieser Stelle auf die Selbstbesprechung verwiesen, die im Programmheft zur Uraufführung der Musik für Klavier und Kammerorchester abgedruckt ist. Hier wird deutlich, dass Schnittke zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Komposition durchaus die Dodekaphonie und das, was er Baumstruktur genannt hat, mit Methoden herkömmlichen Komponierens, zu denen die ‚Schwankungen von emotionaler und dynamischer Intensität‘ als ästhetische Komponenten gehören, in Verbindung zu bringen versucht hat. Die Selbstbesprechung Schnittkes korreliert mit den Analyseergebnissen und den Erkenntnissen aus dem interauktorialen Diskurs insoweit, als diese Verbindung herkömmlicher und avantgardistischer Kompositionsästhetik zu diesem Zeitpunkt eine ästhetische Neuausrichtung Schnittkes markierte, von der es sich später verbal distanzierte. Auf diese Weise hilft eine Selbstbesprechung, eigenkonstruktivistische Momente in späteren Epitext-Teilen herauszustellen, wenngleich die Metaphern des Baumes und der Äste auch in gewisser Weise eine Eigeninszenie-

233 Alfred Schnittke zitiert nach Faradsch Karajew, „Über Alfred...“, in: MusikTexte (wie Anm. 89), S. 33f.

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rung sind, da sie auf eine Originalität schließen lassen, die, wie festgestellt wurde, so nicht belegbar ist. Über die Kommentare zu einer konkreten Komposition hinaus gehören zum zweiten Konstituens der Autorbildkonstruktion auch Kommentare und Äußerungen, die der Komponist allgemein zu seiner Musik oder im näheren Umfeld der betreffenden Komposition macht, z.B. über seine Stilistik, kompositorische Vorbilder oder einen Gattungstypus. An dieser Stelle sämtliche Eigenaussagen Schnittkes in diesem Kontext aufzuführen, ist nicht möglich. Ich beschränke mich deshalb auf die bereits erbrachten Kommentare, durch die die Problematik der Autorbildkonstruktion in Schnittkes Klavierkonzerten evident wird. Als Elemente des dritten Konstituens im Prozess der Autorbildkonstruktion rangieren das notentextliche Werk und das auditive Werk auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Wie zu Beginn des vorangehenden Kapitels ausführlich diskutiert wurde, ist das auditive Werk ein temporales, das gleichzeitig ein Konstrukt mehrerer Beteiligter ist: des Komponisten als Autor des notentextlichen Werkes, das die Vorlage für die In-Klang-Setzung liefert, des Interpreten als Decoder der Partitur, der diese in Klang setzt, und des Hörers, der das auditive Werk als solches wahrnimmt und damit auf dritter Stufe am Prozess der Werkgenese beteiligt ist. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, dass sich die Ergebnisse der Analyse eines notentextlichen Werkes von denen eines auditiven Werkes grundlegend unterscheiden. Die Frage an dieser Stelle ist also, inwieweit Schnittke bewusst zu solchen Missverhältnissen beitragen kann. Im letzten Kapitel haben wir von Ecos Intentionstypen und von potentiellen Missverhältnissen zwischen der intentio recipientis, der intentio operis und der intentio auctoris gesprochen. Ein Missverhältnis kann jedoch auch innerhalb der Werkintention zwischen der intentio textus notarum und der intentio soni bestehen, wobei letzteres noch stärker dem Ausmaß der intentio recipientis unterliegt, die beide Werke so oder anders rezipiert. Als Beispiel sei hier aus Schnittkes Konzert für Klavier und Streicher Takt 346 herausgegriffen, in dem auf der notentextlichen Werkebene ein Elftoncluster herausanalysiert werden kann. Es obliegt nun der intentio lectoris, diesem Elftoncluster den Charakter eines imperfekten Zwölftonakkordes zuzuweisen. Dies funktioniert dann, wenn man um den Autor bzw. den Komponisten Alfred Schnittke und seinen Stil, der solche Akkordbenennungen zulässt, weiß, noch dazu, als der Anfangston des Konzertes g genau der Ton ist, der im Elftoncluster fehlt. Gleichzeitig setzt man sich mit diesem Wissen und einer Interpretation dieses Taktes aus diesem Wissen heraus der Gefahr aus, die Grenzen der Interpretation zu übertreten bzw. den Komponisten und sein Werk in eine Korrelation zu stellen, die ohne die Interpretation aus dem Wissen um den Autor heraus lediglich zu einem Elftoncluster käme, das womöglich andere Interpretationen zuließe (z.B. in Bezug auf die Zahl 11). Die intentio lectoris entscheidet also, ob das Wissen um den Autor und seinen Stil, der ebenso eine von außen konstruierte Stilzuschreibung sein kann, der Interpretation dieses Taktes förderlich oder hinderlich ist.

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Ebenso muss die intentio auditoris entscheiden, wie sie die In-Klang-Setzung dieses Elftonclusters in der Umgebung des Bruckner-Zitats deutet. Denn auditiv lässt sich dieses Elftoncluster nicht als solches rezipieren. Es erklingt als Cluster aus einer unbestimmten Anzahl von Tönen im Fortissimo, das vor allem durch sein mehrmaliges Repetieren einen radikalen Kontrapunkt zum tonalen Streicherteppich bildet und damit diese Stelle als den Höhepunkt des auditiven Werkes auszeichnet. In der Wahrnehmung dieser Stelle besteht das Missverhältnis zwischen notentextlicher und auditiver Werkebene, das direkt auf Schnittke und die intentio auctoris verweist. Die Frage ist, wie weiter oben schon formuliert, inwieweit Schnittke bewusst zu solchen Missverhältnissen beiträgt und somit seiner Komposition (als symbiotisches Werk) ein eigeninszenatorisches Moment immanent ist. Die Frage erweitert sich auch dahingehend, welches der beiden Phänomene das Konstrukt ist: das Elftoncluster als imperfektes Zwölftoncluster oder die Tatsache, dass man auf der auditiven Ebene nur einen Haufen Töne hört, als ob der Pianist seiner Wut freien Lauf ließe und versuche, mit seinem Ellbogen die tiefsten Register der Klaviatur zu zerstören. Diese Fragen lassen sich im Grunde genommen nicht beantworten, da sie zum Einen verbaler Äußerungen Schnittkes zu diesen Phänomenen bedürften. Zum Anderen erfordert die intentio auctoris, die man als Konstrukt aus der Interpretation beider Werkebenen herausfiltern kann, immer den Rezipienten, der sie überhaupt aus der Interpretation einer oder beider Werkebenen destillieren möchte. Insofern ist das Herausfiltern eines auktorialen Eigenkonstrukts sowohl aus der Partitur, dem auditiven Werk als auch dem symbiotischen Werk ein Resultat eines Interpretierens, das aufgrund der Undeutlichkeit beider musikalischer Werktypen selbst als Fremdinszenierung fungieren kann, in dem es dem Komponisten Eigeninszenierung in seinen Werken unterstellt. Es sei in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Einleitung zu Kapitel II.1 verwiesen, in der konstatiert wurde, dass Musik als Sprache nur bedingt funktionieren kann und der Notentext sich nur unter bestimmten Bedingungen mit einem literarischen Text analogisieren lässt. Insofern ist das Potential der Eigeninszenierung mit Hilfe einer Komposition bzw. ausschließlich durch diese gering, da es des Rezipienten bedarf, der diese als solche wahrnehmen kann, er aber selbst in den seltensten Fällen nicht um die Konstituenten 1, 2 und 4 im Prozess der Autorbildkonstruktion weiß und somit der Gefahr einer Fremdinszenierung ausgesetzt ist. Dennoch bleibt das Potential der Eigeninszenierung eines Autors in gewisser Hinsicht auch innerhalb des Konstituens des Werkes bestehen, zumindest in der Suche nach der Ursache eines bestehenden Missverhältnisses zwischen notentextlicher und klanglicher Werkebene. Dass diese Ursachenforschung als Suche nach der intentio auctoris immer auch der Umgang mit einem Konstrukt ist, wurde weiter oben bereits mit dem Verweis auf Sandra Heinens Analysen bestätigt. Als letztes sei der Blick auf das vierte und letzte Konstituens im Prozess der Autorbildkonstruktion gelenkt, auf die ‚weiteren Informationen über den Komponisten‘. Gerade hier ist, auch in Bezug auf die eben besprochenen Phänomene, das Potential von Eigen- und Fremdinszenierung am größten. Zunächst seien die Zuschreibungen zu Schnittkes biographischem Hintergrund, die bei der Konstruktion der

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Autorschaftsfigur Alfred Schnittke eine wesentliche Rolle spielen und die schon einmal in Kapitel II.2.2 benannt wurden, noch einmal aufgezählt. 1. Schnittke war Russland-Deutscher und hatte darüber hinaus väterlicherseits jüdische Vorfahren, war damit aber, wie Mahler, nirgendwo wirklich zu Hause. 2. Schnittke wurde vom Komponistenverband gegängelt und fast 20 Jahre lang daran gehindert, Aufführungen seiner Werke im Ausland zu besuchen, was sein Verhältnis als Einzelner gegenüber der kommunistischen Gesellschaft beeinflusst hat. 3. Schnittke war nie wirklich gesund; sein schwerer Schlaganfall im Juli 1985 war der erste von insgesamt fünf Schlaganfällen, von dessen letztem im Sommer 1998 er sich nicht mehr erholte. 4. Schnittke war ein sehr religiöser Mensch. 5. Schnittke fühlte sich als Medium; seine Musik stammte nicht von ihm, sondern kam von außen, vor allem aus der Geschichte, er schrieb sie nur auf. 6. Mit eben dieser Geschichte beschäftigte sich Schnittke sehr intensiv; er versuchte so viel Musik anderer Komponisten wie möglich zu rezipieren. 7. Schnittke war ein Philosoph-Komponist, d.h. er komponierte nicht nur, sondern äußerte sich zu seinen Werken (wenn auch weniger analytisch denn interpretierend) und darüber hinaus zu ästhetischen und philosophischen Themen des Lebens allgemein. 8. Um sich sein Brot verdienen zu können, musste Schnittke über viele Jahre Filmmusik komponieren. Diese Tätigkeit hat seine polystilistische Kompositionsweise nachhaltig geprägt und darüber hinaus den Weg zur Mehrdeutigkeit der Musik bereitet. Diese acht Zuschreibungen sind die hauptsächlichen Merkmale in Schnittkes Biographie bzw. in seinem sozialen und persönlichen Hintergrund, aus denen innerhalb der Rezeption, ob als intentio lectoris, als intentio auditoris oder als symbiotische intentio recipientis, das Potential des Autorkonstrukts entsteht. Dabei gehen einige dieser Zuschreibungen auf Eigenaussagen Schnittkes zurück, die eigentlich in das Konstituens der ‚Äußerungen des Komponisten‘ gehören bzw. dort ihren Ursprung haben: zu 1. Die Tatsache, dass sich Schnittke als Mensch mit jüdischen Vorfahren nirgendwo zu Hause gefühlt hat:

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Also: Ich gehöre zu niemandem, weder zu den Russen noch zu den Deutschen aller Art, noch zu den Juden. Ich habe kein Land, ich habe keinen Platz.234

zu 3. Der Schlaganfall im Juli 1985 markierte für Schnittke persönlich eine Zäsur, die ihm nach eigenen Aussagen ein neues Zeitgefühl gaben, das wiederum Einfluss auf seine Art des Komponierens hatte: Einen sehr großen Eindruck machte und macht immer noch auf mich mein verändertes Zeitgefühl – die Dauer ein und desselben Zeitabschnitts empfinde ich unterschiedlich. Die Zeit hat im Leben – jedenfalls in meinem – zwei Kreise der Entwicklung gezogen. Den ersten, den großen, der sich für mich 1985 geschlossen hat, und den zweiten, der danach begann. Vierundzwanzig Stunden nehme ich heute als einen sehr großen Zeitraum wahr, in den viel hineingeht.235

zu 4. Dass Schnittke ein religiöser Mensch war, lässt sich nicht allein aus seinen religiösen Kompositionen ablesen. Diese Lesart ist bereits eine Interpretation zugunsten der Religiosität des Komponisten. Es bedarf der Eigenaussagen Schnittkes, dies zu belegen: Nach der Sprache meiner Gebete, nach der Sprache meiner Wahrnehmungen gehöre ich nicht zur deutschen Welt, sondern zur russischen. Der gesamte geistige Aspekt meines Lebens ist durch die russische Sprache geprägt. Aber gleichzeitig bin ich Katholik. [...] Ich stehe dazu und will es weiterführen.236

zu 5. Schnittkes Selbstverständnis als Medium, auf das im nachfolgenden Kapitel noch vertieft eingegangen werden wird: When I write music I don’t really compose ...... I have the impression that the music that I write is not composed by me, but it exists already outside me.237

zu 7. Hier alle Äußerungen Schnittkes aufzuzählen, führte zu weit. Im Prinzip können die Punkte 6 und 7 über die Tatsache verifiziert werden, dass von Schnittke derartige Äußerungen zu anderen Komponisten (in Form von Aufsätzen oder Anmerkungen), eigenen Werken (als die oben beschriebenen Epitexttypen) oder zu allgemeinen ästhetischen Fragen (als alle Arten von Bemerkungen) vorhanden sind. 234 Hannelore Gerlach, „Alfred Schnittke im Gespräch mit Hannelore Gerlach“, in: Musik für die Oper? Mit Komponisten im Gespräch, hrsg. von Gerd Belkius und Ulrike Liedtke, Berlin 1990, S. 251. 235 Schnittke, Leben (wie Anm. 106), S. 164f. 236 Ebd., S. 53. Ausführliche Arbeiten über Schnittkes Religiosität anhand von Werkbetrachungen liegen vor u.a. von Mark D. Jennings, Alfred Schnittke’s Concerto for Choir. Musical Analysis and Historical Perspectives, PhD Diss. Florida State University 2002 und von Melanie Turgeon, Composing the Sacred in the Soviet and Post-Soviet Russia. History and Christianity in Alfred Schnittke’s Concerto for Choir, Saarbrücken 2008. 237 Alfred Schnittke zitiert nach Steinitz, „Interview with Alfred Schnittke“ (wie Anm. 194), S. 104.

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In dem Moment, in dem diese Äußerungen Schnittkes als erweiterte Formen des Epitextes in die Interpretation mit einfließen, bilden sie auf der einen Seite das Potential eines Eigenkonstrukts, das Schnittke bewusst generiert, damit er selbst und seine Werke so oder anders rezipiert werden. Auf der anderen Seite wird dieses Eigenkonstrukt Teil der Konstituenten im Prozess der Fremdinszenierung der Autorschaftsfigur Alfred Schnittke. Die Äußerungen Schnittkes werden zum Ursprung einer Informationskette, in der aus eben diesen Selbstaussagen allgemeingültige Zuschreibungen werden, die am Ende auch ohne ihren Ursprung zur Hermeneutik der Werke Schnittkes herangezogen werden. Insofern gehören die ‚Äußerungen des Komponisten‘, die als einzelnes Konstituens im Prozess der Autorbildkonstruktion notiert sind, auch zum sozialen und biographischen Hintergrund als Zuschreibung von außen, somit zu den (perpetuierten) ‚weiteren Informationen über den Komponisten‘. Darüber hinaus zählen auch das Aussehen des Komponisten, sein Verhalten, seine Pressepräsenz, Gemälde, Fotos oder auch das, was analog zu Dichterlesungen in der Musik als Composer in Residence funktioniert, zum vierten Konstituens. Inwieweit Fotos oder Schnittkes äußeres Erscheinungsbild an der Konstruktion der Autorschaftsfigur beteiligt sind, soll an dieser Stelle nicht weiter beachtet werden, da es diesbezüglich kaum Rezeptionsdokumente gibt, außer Referenzen zu Schnittkes Eigenaussagen: „Ich wurde mir meiner doppelten Fremdartigkeit als Halbdeutscher und als Halbjude bewußt. Äußerlich manifestierte sich das darin, daß ich eben Jude war – jeder Lausbub auf der Straße sah es doch.“238 Diese Äußerung gehört jedoch zum zweiten Konstituens und soll an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben. Auch der Composer in Residence gehört eigentlich zu mehreren Konstituenten. Die ‚weiteren Informationen‘ werden aus der Tatsache heraus gewonnen, dass von einem solchen Composer in Residence (hierzu zähle ich auch Schnittke-Festivals wie in Berlin 1988 oder in London 1990) Werke aufgeführt und diese von Rezipienten, u.a. der Presse, rezipiert werden. D.h. wir haben es hier mindestens sowohl mit der Werkebene als auch mit der vierten Ebene der Konstituenten im Prozess der Autorbildkonstruktion zu tun. Das wichtigste Teilkonstituens der ‚weiteren Informationen über den Komponisten‘ innerhalb der Genese eines externen Autorkonstrukts stellt allerdings die Pressepräsenz Schnittkes dar. Schnittke war zu Lebzeiten einer der meistaufgeführten zeitgenössischen Komponisten der Welt, so dass unzählige Pressedokumente in Form von Interviews, Rezensionen von (Ur-)Aufführungen seiner Werke oder Porträts vorliegen. Da hier nicht auf alle eingegangen werden kann, sei zum Einen darauf fokussiert, wie vor allem die Sovetskaja Muzyka dazu beigetragen hat, ein bestimmtes Image Schnittkes zu Beginn seiner kompositorischen Laufbahn zu konstruieren, mal negativ, mal positiv. Zum Anderen spiegeln Pressedokumente aus den 1980er und 1990er Jahren den Höhepunkt von Schnittkes Karriere schon in den Artikelüberschriften wider. 238 Schnittke, Leben (wie Anm. 106), S. 28.

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Die Sovetskaja Muzyka befasst sich erstmals in ihrer April-Ausgabe 1957 mit Alfred Schnittke und der Uraufführung seiner Symphonie (heute allgemein als Nr. 0 benannt). Diese fand am 7. Februar 1957 im Großen Saal des TschaikowskiKonservatoriums statt: Der erste Satz der Symphonie A[lfred] Schnittkes (Klasse J[ewgeni] Golubew) beeindruckt in der Ernsthaftigkeit der schöpferischen Absicht. Bei ihm spürt man das Streben nach Verwirklichung größerer Empfindungen und Ideen. Es gibt hier sowohl Nachdenkliches als auch einen heroisch-dramatischen Anfang. A. Schnittke spricht über die Nähe der Konzeption zur sowjetischen zeitgenössischen Symphonie und den Schlussteil des Satzes, der zum Maßstab eines Massenumzugs anwächst (dies ist eine der ganz interessanten Episoden in der Partitur). Das Werk legt Zeugnis ab von der zweifelsfreien Begabung des jungen Autors. Strukturell ist der erste Satz der Symphonie vollkommen logisch. Gut beherrscht der Komponist auch die orchestralen Mittel, wenn man einen gewissen Missgriff im ‚Posaunenchor‘ nicht beachtet. Die musikalische Sprache A. Schnittkes gab noch keine notwendige schöpferische Eigenständigkeit preis. Bisweilen macht sich das bei ihm allzu deutlich bemerkbar, anscheinend kommt das durch J. Golubew, der unter dem Einfluss des Stils von N[ikolai] Mjaskowski [Nikolaij Mjaskovskij] steht: graues, ‚aschblondes‘ Kolorit in den lyrischen Teilen des Nachdenkens, betont eigenwillige Dissonanzen der harmonischen Komplexe. Zusammengefasst schöpft der junge Komponist aus einer sehr guten Quelle, man kann ihm aber dennoch Erfolg wünschen bei der Suche nach eigenen ausdrucksvollen Mitteln.239

Es ist offensichtlich, dass aus der Feder des jüdischen Kritikers David Rabinowitsch ein bestimmtes Moment von (negativer) Autorkonstruktion spricht, das aus der einen oder anderen Perspektive Schnittkes symphonisches Debüt kritisiert, um ihn so oder anders darzustellen. Sicherlich müssen wir dieses Konstruierte bedenken, noch dazu, als der Kritiker Rabinowitsch sich selbst aufgrund seiner Religionszugehörigkeit immer wieder politisch motivierten Anfeindungen ausgesetzt sah. Mark Lubotsky äußerte mir gegenüber in einem Telefoninterview, dass Rabinowitsch ein berühmter und intelligenter Kritiker gewesen sei, dessen Kritik an Schnittkes Musik für die weitere Entwicklung von Schnittkes kompositorischem Schaffen durchaus produktiv war.240 Es zeigt sich in der zitierten Kritik deshalb auch, dass dem Rezensenten an der Symphonie zwei Dinge aufgefallen sind, die weniger mit Wertung als mit Feststellung zu tun haben: Eine gewisse kompositorische Nähe zu Golubew und Mjaskowski einerseits, andererseits eine beginnende selbstständige Tonsprache, die Rabinowitsch abwertend als ‚eigenwillige Dissonanzen‘ bezeichnet. Dennoch lässt sich aus der zitierten Rezension eine offizielle Haltung der sowjetischen Kulturpolitik herauslesen, die immer noch dem sozialistischen Realismus verpflichtet ist, wie er von Andrej Schdanow [Ždanov] im Jahr 1948 als Staatsziel postuliert wurde241: Die Metapher des Massenumzugs, die – gewollt oder ‚gemusst‘ – für 239 David Rabinovič [Rabinowitsch] über Alfred Schnittkes Symphonie [Nr. 0], in: SM 21 (1957), Heft 4, S. 154. Russischer Originaltext im Anhang 2.4, S. 267. 240 Das Telefoninterview mit Mark Lubotsky fand am 30.10.2008 statt. 241 Vgl. Andrej Ždanov [Schdanow], „Fragen der sowjetischen Musikkultur“, in: Neue Welt 3 (1948), Heft 11, S. 3–18.

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Rabinowitsch einerseits zu den Stärken der Partitur gehört, andererseits die Kritik an den ‚eigenwilligen Dissonanzen‘, die mit dem apotheotischen Dogma nicht in Einklang zu bringen waren. Das Wünschen von Erfolg bei der Suche nach ‚eigenen ausdrucksvollen Mitteln‘ kann gleichzeitig auch als Warnung verstanden werden. Ein knappes Jahr später wird, zur Uraufführung der ersten beiden Sätze der Urfassung von Schnittkes erstem Violinkonzert, die Kritik an seiner eigenwilligen Harmonik wie folgt intensiviert: Nach dem Andante und Scherzo aus dem Violinkonzert Schnittkes hat sich bei uns der Eindruck gebildet, dass sich auch dieser Autor vor allen Dingen um die ‚Erfindung‘ der Musik sorgt, um die Suche nach eigenständigen harmonischen und orchestralen Methoden. Alles in allem zeigt Schnittke, ebenso wie in den Solopartien der Geige, ein außergewöhnliches Talent und eine genügend ungezwungene Technik des Schreibens. Jedoch leitet ein bildlich sonderbarer Eindruck von der Anlage der Musik her, in der die Emotionen seiner Generation – exaltierte Melancholie (Andante) und launenhafte Phantasterei (Scherzo) – überwiegen. Wir wären froh, könnten uns die Kantate ‚Ein Wort über das Heer Igors‘ [von Roman Ledenjow (Ledenjov), Anm. d. Verf.] und das Violinkonzert, ganz aufgeführt, von der Verfrühtheit unseres Urteils überzeugen.242

Auch hier lässt sich wieder die offizielle Staatspolitik ex negativo herausfiltern, die die ‚Erfindung der Musik‘ ablehnt und stattdessen darauf beharrt, sich bei den großen Meistern der Musikgeschichte eine Ästhetik abzuschauen, die dem sozialistischrealistischen Postulat am nächsten kommt. Gleichzeitig offenbart diese Kritik, dass Schnittkes Kompositionsästhetik kein Unikum ist, sondern sich bei mehreren jungen Komponisten eingestellt hat, so dass Ikonnikow gleich die ‚Emotionen seiner [gesamten] Generation‘ an den Pranger stellt. Mit diesem Rundumschlag bezeugt Ikonnikow aber auch, wie wichtig dem Komponistenverband (dessen Publikation die SM ja ist) die ‚positive’ Entwicklung des Nachwuchses ist. In diesem Sinne stellt die Kritik an Schnittke und anderen Komponisten auch eine Art Erziehungsmaßnahme dar, die vor allem durch die Wortwahl auch in den nachfolgenden Artikeln evident ist: Such statements were colored by the characteristically paternalistic tone adopted in critiques of young Soviet composers, which generally claimed that all hostile comments were made only to help properly mold the still growing, still maturing, and only temporarily misguided youths.243

Schnittkes Abschlussarbeit, das Oratorium Nagasaki, wurde, nach Aussagen Iwaschkins und Juri Korews, von Vertretern des Komponistenverbandes scharf kritisiert:

242 Aleksandr Ikonnikov [Alexander Ikonnikow] über Schnittkes Violinkonzert [Nr. 1] und die Kantate Ein Wort über das Heer Igors von Roman Ledenjov [Ledenjow], in: SM 22 (1958), Heft 5, S. 96f. Russischer Originaltext im Anhang 2.5, S. 267. 243 Peter J. Schmelz, „Alfred Schnittke’s Nagasaki: Soviet Nuclear Culture, Radio Moscow, and the Global Cold War“, in: JAMS 62 (2009), Heft 2, S. 425.

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Der Komponist als Autor

The final exam was successful, and Schnittke was invited to submit the score of Nagasaki for a forthcoming Festival for Young Composers organized by the Soviet Composers’ Union. However, the so-called experts in this extremely conservative, mafia-like organization did not like Nagasaki. […] It was not surprising, therefore, that Schnittke’s oratorio was severely criticized. Most outrageous to the ears of the Composers’ Union officials was, of course, the central episode, which was an attempt to imitate the explosion of the atom bomb, with howling trombones, an atonal structure and tone clusters.244

Iwaschkins Aussagen beziehen sich u.a. auf die öffentliche Kritik des Komponisten, Musikwissenschaftlers und stellvertretendem Generalsekretärs des Komponistenverbandes, Sergej Aksjuk, der in seinem Aufsatz „Gedanken des Komponisten“ seine abwertende Haltung über Nagasaki wie folgt äußert: Immer wieder kommen im Werk der jungen mal hässliche Grimassen, mal dekadente Gebärden zum Vorschein, worauf das Gefühl schmutzig wird und der Gedanke sich trübt. Der junge und begabte Komponist A[lfred] Schnittke (Moskau) führte im Verband sein Oratorium Nagasaki vor, in dessen Musik Panik, Angst und ein hysterisches Aufbrausen des Gefühls vermittelt werden. Alte Verfahren und Ideen des ‚Kaspers‘ und expressionistische ‚Horrordramen‘ kommen bei den jungen sowjetischen Komponisten von neuem wieder auf und verstehen die Tragödie Nakasakis als bloßen Schrei der Verzweiflung.245

Juri Korew hingegen, der Schnittkes Oratorium in der November-Ausgabe der SM 1959 einen fünfseitigen Beitrag widmet, kommt zu dem Schluss, dass: [...] die Konzertorganisatoren keine misslungene, fade und ideenlose Musik propagieren [sollen]. Wir sind jedoch überzeugt, dass keine dieser Definitionen auf das Werk A[lfred] Schnittkes passt. Es ist unbedingt notwendig, die Hörer damit vertraut zu machen, mögen sie auch ihre endgültige Meinung über das Oratorium gefällt haben.246

Gleich zu Beginn seiner Ausführungen attestiert Korew Schnittke eine professionelle künstlerische Reife, wie sie zum ersten Mal öffentlich formuliert wird: Wir weisen auch auf die professionell reife, feste kompositorische Handschrift Schnittkes hin. Die bei ihm gefundenen schlichten und zur gleichen Zeit originellen orchestralen Mittel (in den Streichern, im Klavier und in der Orgel) sowie das harmonische Kolorit sind in der Aufeinanderfolge von natürlichen Klangkombinationen begründet.247

Trotz einiger Kritik am dritten Satz V ÷tot tjagostnyj den‘ [An diesem schrecklichen Tag] ob seiner „Trägheit!“ (S. 37) und seines „atonalen Umherirrens“ (Ebd.) hält Korew das Oratorium insgesamt für ein gelungenes Werk und fordert dessen Prä244 Ivashkin [Iwaschkin], Alfred Schnittke (wie Anm. 2), S. 68f. Für eine ausführliche Betrachtung der unmittelbaren Rezeptionsgeschichte des Oratoriums vgl. Schmelz, „Schnittke’s Nagasaki“ (wie Anm. 243) S. 417ff. 245 Sergej Aksjuk, „Mysli kompozitora“ [Gedanken des Komponisten], in: SM 23 (1959), Heft 1, S. 27. Russischer Originaltext im Anhang 2.6, S. 267. 246 Korew, „Nagasaki“ (wie Anm. 192), S. 39. Russischer Originaltext im Anhang 2.7, S. 268. 247 Ebd., S. 35f.

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senz in den Konzertsälen, da in ihm „gute Musik“ (Ebd.) enthalten ist. Es zeigt sich, dass trotz der von offizieller Seite verpönten Atonalität im dritten Satz von Nagasaki ein ästhetisches Urteil durchaus positiv ausfallen kann, was umso mehr verwundert, als genau ein Jahr zuvor, in der November-Ausgabe 1958, in einer Übersetzung eines Aufsatzes des DDR-Komponisten und Musikwissenschaftlers Johannes Paul Thilmann mit dem Titel „Über die dodekaphone Kompositionsmethode“ die Zwölftonmusik Schönbergs mit Hilfe von Aussagen Hindemiths, Frank Martins und Darius Milhauds kritisiert wird – nachdem sie auf fünf Seiten vollständig und anschaulich erklärt wurde.248 Zwar kam diese pure Subversion für Schnittkes Oratorium zu spät, sie zeigt aber gleichzeitig, dass dodekaphones Komponieren bereits bei den jungen Komponisten in einem gewissen Maße angekommen war, wenngleich, wie während der Analyse von Schnittkes Konzert für Klavier und Orchester herausgestellt wurde, in dieser Komposition atonale oder dodekaphone Ansätze absent sind. Die Musikwissenschaftlerin Christiane Tewinkel gibt in ihrer Rezension zur CDEinspielung der Klavierkonzerte mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Frank Strobel eben diese Tatsache zu bedenken: Mitte zwanzig war Schnittke, ein Aspirant an der Musikhochschule, als er sein erstes Klavierkonzert schrieb: ein vollmundiges Stück, halb geschlagen und halb gespielt, im Ganzen kaum an die Transparenz und Intrikatheit der zeitgleich entstandenen seriellen Musik erinnernd.249

Im übernächsten Satz allerdings begeht sie denselben Fehler, den auch Maria Kostakeva macht, indem sie von einem Werk auf alle schließt bzw. unter einer Interpretationsart ‚typisch Schnittke’ sämtliche Werke von den frühen bis zu den späten Jahren subsumiert: Sie [Ewa Kupiec, die Pianistin der CD-Einspielung, Anm. d. Verf.] beherrscht die verschiedenen Tonlagen, die Schnittkes Musik erfordert, perfekt: das Grobmotorische, die poetische Farbe, die hochvirtuosen Passagen.250

Davon abgesehen, dass nicht ganz klar ist, wo genau sich in Schnittkes erstem Klavierkonzert ‚hochvirtuose Passagen‘ befinden, wird das inszenierende Moment dieser Aussage deutlich. Tewinkel weist dem Konzert für Klavier und Orchester dieselbe Stilistik zu, die auch die späteren Werke Schnittkes kennzeichnet, wenn sie von 248 Ioganes Paul‘ Til’man [Johannes Paul Thilmann], „O dodekafonnom metode komposicii“ [Über die dodekaphone Kompositionsmethode], in: SM 22 (1958), Heft 11, S. 119–126. Der Originaltext erschien in zwei Teilen als „Die Kompositionsweise mit zwölf Tönen“ in: Musik und Gesellschaft 6 (1956), Heft 7 (Teil I) und 8 (Teil II), S. 7–10 bzw. 8–11. Eine ähnlich – unbewusst – subversive Publikation mit ausführlicher Erläuterung des dodekaphonen Komponierens erschien im Jahr 1960 von Grigorij Šneerson [Grigori Schneerson], O muzyke živoj i mërtvoj [Über lebendige und tote Musik], Moskau 1960. Bereits im Jahr 1964 wurde eine Zweitauflage veröffentlicht! Vgl. Dorothea Redepenning, „Inszenierungen von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ in Alfred Schnittkes Instrumentalmusik“, in: Flechsig und Storch (Hrsg.), Alfred Schnittke (wie Anm. 79), S. 79f. 249 Christiane Tewinkel, „Vorboten einer Abschweifung“, in: FAZ, 26.08.2008, S. 38. 250 Ebd.

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Der Komponist als Autor

‚Schnittkes Musik‘ spricht. Gerade Schnittke, der, wie (nicht nur) an den Klavierkonzerten evident ist, mehrfache Stilwechsel vollzogen hat, wird nur ein Stil, die sogenannte Polystilistik, zugeschrieben: Dabei war die Verfahrensweise Schnittkes, dessen zehnter Todestag sich kürzlich jährte, durchaus originell, gerade in ihrer vermeintlichen Unoriginalität: er gilt als ein Komponist tiefster Entfremdung, als Collagenhandwerker und Herr über eine Vielzahl von Stilen und Techniken, allerdings auch als Schöpfer einer epigonalen Musik, die auf freie Tonalität und auf Rhythmus setzt, jedoch die (auch intellektuelle) Schärfe eines Schostakowitsch oder Prokofjew nicht erreicht.251

Dass Tewinkels Rezension aus einer nachzeitigen Perspektive, die darüber hinaus lange nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion liegt, heraus geschrieben ist, ist klar. Iwaschkin gibt selbst zu bedenken, dass Schnittke Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre „a transient romance with the Composers’ Union“252 hatte, so dass die Kantate Lieder von Krieg und Frieden (1959) durchweg positiv aufgenommen wurde, auch weil sie ein Auftragswerk des Komponistenverbandes war.253 Diesem Auftrag folgten weitere, u.a. das Poem über den Kosmos (1961, durch das Kulturministerium), das allerdings nie aufgeführt wurde, die Oper Das elfte Gebot (1962, durch das Bolschoi-Theater), das nur als Klavierauszug vorliegt sowie die Oper Die afrikanische Ballade, die vollmundig in der SM als Geheimtipp angekündigt wird, von der jedoch vermutlich nicht einmal Skizzen erhalten sind.254 Offenbar war es dem Komponistenverband und anderen, vornehmlich staatlich gesteuerten Stellen zunächst gelungen, aus dem jungen, aufmüpfigen Komponisten, der sich allzu gern in harmonischen Experimenten ausprobierte, u.a. über die öffentliche Pressekritik zumindest zeitweise einen getreuen Gefolgsmann zu machen, der sich willentlich zeigte, offizielle Aufträge anzunehmen. Dabei muss, wenn von einer Fremdinszenierung der Autorschaft gesprochen wird, die intentio recipientis genauer betrachtet werden. Die vorliegende Fremdinszenierung tritt nicht als Resultat einer Rezeption der vier Konstituenten im Prozess der Autorbildkonstruktion hervor. Vielmehr ist ein a priori angestrebtes Autorkonstrukt Mittel zum Zweck, nämlich die Rezeption von Schnittkes Kompositionen in eine bestimmte Richtung zu ‚lenken’. Eine dadurch generierte manipulierte Rezeption hat wiederum Auswirkungen auf Schnittkes Kompositionsästhetik selbst (als Rezipient der Rezeption der eigenen Werke). Insofern ist die Kritik an den frühen Kompositionen Schnittkes als Erziehungsmaßnahme zu verstehen, die das Bild eines unreifen 251 Ebd. 252 Ivashkin [Iwaschkin], Alfred Schnittke (wie Anm. 2), S. 75. 253 Vgl. Vladimir Zak [Wladimir Sak], „Pesni vojny i mira“ [Lieder von Krieg und Frieden], in: SM 25 (1961), Heft 3, S. 37–41. 254 Vgl. A. Veličko [Welitschko] und I. Strašenkova [Straschenkowa], „V muzykal’nom teatre im. K.S. Stanislavskogo i V.I. Nemiroviča-Dančenko“ [Im Musiktheater K.S. Stanislaus und W.I. Nemirowitsch-Dantschenko], in: SM 27 (1963), Heft 4, S. 156–158.

Der Autor als Konstrukt

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Komponisten konstruieren soll, der die Reife einer sowjetischen Kompositionsästhetik noch nicht gefunden hat. In der Tat nimmt Korews Artikel dahingehend eine Sonderrolle ein, da er, obwohl die atonalen Passagen im dritten Satz des Oratoriums ebenso kritisierend wie der Komponistenverband, dennoch alles in allem ein positives Urteil fällt, das sich aus einer relativ vorurteilsfreien Rezeption der Komposition begründen lässt. Zu Juri Korew muss gesagt werden, dass er im Jahr 1959 kein unbekannter Musikwissenschaftler mehr war, sondern bereits Autor mehrer Bücher, darunter u.a. Skripičny koncert Dvarionasa: Pojasnenie [Das Violinkonzert [Balis] Dvarionas’: Eine Erläuterung] (Moskau 1952), Sovetskaja massovaja p’esnja [Das sowjetische Massenlied] (Moskau 1956) und Russkaja professional’naja muzyka do 1917 goda [Die russische professionelle Musik bis zum Jahr 1917] (Moskau 1958). Im Jahr 1958 wird Korew, im Alter von knapp 30 Jahren, Abteilungsleiter in der Komission des Komponistenverbandes, die sich um die nationale Musik der UdSSR kümmert. Im Jahr 1961 wird er Redakteur, im Jahr 1970 Chefredakteur der Sovetskaja Muzyka. In der September-Ausgabe der SM 1981 verfasst Korew das Nachwort zu Swetlana Sawenkos [Svetlana Savenko] Schnittke-Artikel.255 Die Funktion des Chefredakteurs der SM behält Korew auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der damit verbundenen Umbenennung der SM in Muzykal’naja Akademija. Schnittke hatte hier in der Redaktion der SM von Anfang an einen kompetenten und einflussreichen Kritiker, der es allerdings auch nicht hätte verhindern können (zumindest nicht am Anfang), dass Schnittke in die politisch motivierte Kritik der offiziellen Kulturpolitik geriet. Nur ein paar Monate nach Korews Nagasaki-Artikel, im April 1960, wird Nagasaki vom Lied- und Operettenkomponisten Boris Terentjew [Terentev], der zudem Schüler von Reinhold Glière war, wieder kritisiert: Ein anderes Beispiel – das Oratorium ‚Nagasaki’ von A[lfred] Schnittke. Er ist ein talentierter Komponist, aber das Werk das er schrieb ist jammernd, in ihm gibt es kein Vertrauen in die Zukunft, keinen echten Optimismus. Mich befriedigte es ebenso wenig wie das Quartett von E[ino] Tamberg.256

Hier ist die ‚Kritik aus Prinzip’, die versetzt ist mit Vokabeln aus der Doktrin des sozialistischen Realismus und in diesem Fall auch den estnischen Komponisten Eino Tamberg und sein Streichquartett (1958) traf, evident. Hinzu kommt, dass Terentjew selbst komponierte. Die Tatsache, dass junge Komponisten ihre Werke gegenseitig in der SM rezensierten, war gängige Praxis. Neben einer politischen Motivation, die aus dem Vokabular ablesbar ist, tritt deshalb auch ein mögliches Konkurrenzdenken als Triebfeder der Kritik zutage. 255 Svetlana Savenko [Swetlana Sawenko], „Portret chudožnika v zrelosti” [Portät eines Künstlers in Reife], in: SM 45 (1981), Heft 9, S. 35–42. 256 Boris Terentev [Terentjew] über Nagasaki, in: SM 24 (1960), Heft 4, S. 72. Russischer Originaltext im Anhang 2.8, S. 268.

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Der Komponist als Autor

Es wird mit diesen Beispielen aus dem eigentlich vierten Konstituens der Autorbildkonstruktion deutlich, wie die Rezeption beeinflusst werden kann/soll, um ein bestimmtes Bild von einem Komponisten zu konstruieren. Die SM als offizielles Presseorgan des sowjetischen Komponistenverbandes war, neben der Tageszeitung Pravda, dazu auserkoren, arrivierte Komponisten, die sich zu weit von der sozialistisch-realistischen Ästhetik (was immer diese auch objektiv geheißen haben mag) entfernt hatten, entweder zu ‚züchtigen’, zu verstoßen oder aber vollends zu reanimieren. So geschah es Dmitri Schostakowitsch, der in Andrej Schdanows Rede auf der Beratung von Vertretern der sowjetischen Musik im ZK der KPdSU im Januar 1948 des Formalismus bezichtigt wurde.257 In der Sovetskaja Muzyka hingegen werden Schostakowitsch und seine Werke ab Mitte der 1950er Jahre (allen voran seine Symphonie Nr. 10) hochgelobt. Er wird in fast jeder zweiten Ausgabe porträtiert oder kommt mit eigenen Artikeln selbst zu Wort. Zweifellos übte die Präsenz Schostakowitschs im wichtigsten musikkulturellen Presseorgan des Komponistenverbandes großen Einfluss auf die jungen Komponisten aus: Die Hefte der Sowjetischen Musik dürfen ohne Übertreibung die musikalischen Annalen des Landes genannt werden. Für die Periode der 1930er bis 1950er Jahre bleibt die Sowjetische Musik die Hauptquelle der Forschung zur Šostakovič-Rezeption.258

Bei diesen jungen Komponisten ging es hingegen vor allem darum, von Anfang an die Grenzen des Komponierens aufzuzeigen, wie ein verbaler Rundumschlag gegen Rodion Schtschedrin [Ščedrin], Edison Denissow [ödison Denisov], John TerTatewossjan [Džon Ter-Tatevosjan] und Alemdar Karamanow [Karamanov] auf dem 3. Plenum des Vorstands des Komponistenverbandes der UdSSR vom 3. bis 13. Dezember 1958 in Moskau verrät.259 Diese Art der manipulativen Autorkonstruktion unterscheidet sich wesentlich von der nun folgenden, die zum Einen wesentlich später einsetzt, dann nämlich, als Schnittke bereits ein arrivierter Komponist war, und zum Anderen durch die ‚weiteren Informationen über den Komponisten‘ aus der Presse konstituiert wird. Damit kehren wir wieder zu der Problematik der Zirkularität von Autorinszenierung zurück. Ein externes Autorkonstrukt kann vom Autor angenommen und als Eigenkonstrukt weiterentwickelt werden, welches wiederum von externen Rezipienten aufgenommen und perpetuiert werden kann, so dass am Ende ein Bild eines Autors existiert, dass weder der Realität des Autors noch der seiner Kompositionen in vollem Umfang entspricht. Im Prinzip ist diese Zirkularität, aber auch schon das 257 Vgl. Wilhelm Girnus (Hrsg.), Beiträge zum Sozialistischen Realismus. Grundsätzliches über Kunst und Literatur, Berlin 1953, S. 43ff. 258 Natalja Vlassova, „Die Šostakovič-Rezeption im Spiegel der Kritiken in der Zeitschrift Sowjetische Musik“, in: Dmitri Schostakowitsch. Das Spätwerk und sein zeitgeschichtlicher Kontext, hrsg. von Manuel Gervink und Jörn Peter Hiekel, Dresden 2006, S. 148. 259 Vgl. SM 23 (1959), Heft 2, S. 36f.

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Phänomen der Eigen- und Fremdinszenierung, dem Übertreten der Interpretationsgrenzen im Sinne Ecos verwandt, auch wenn diese bisher lediglich auf biographistische und poststrukturalistische Interpretationsweisen angewandt wurden. Gerade aber die übertriebene biographische Interpretation fungiert in vielfältiger Weise als Fremdinszenierung, die durch ‚Äußerungen des Komponisten‘ als zweites Konstituens weiter potenziert wird. Als Beispiel einer Fremdinszenierung als biographistische Übertreibung wurde die Rezeption des ersten Bratschenkonzertes bereits genannt. Im Folgenden seien Artikelüberschriften aufgelistet, die verdeutlichen, wie einfach und plakativ ein Autorkonstrukt erschaffen werden kann, wenn ein Journalist gleichzeitig sowohl als Rezipient unterschiedlicher Konstituenten, aus denen er sein Konstrukt formt, als auch als Mittler zum Rezipienten seines Textes, für den diese Informationen wiederum nur ein Teil weiterer Konstituenten innerhalb seines Rezeptionsprozesses darstellen, auftritt. Überschriften von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln: „The Connoisseur of Chaos. Who is Alfred Schnittke and why is his music so popular” (Alex Ross, The New Republic, 28.09.1992, S. 30–34) „The Composer as Seer, but not Prophet“ (Claire Polin, Programmheft zu The Schnittke Series, 11.-13.11.1994, London, S. 13–17) „Oščuščenie beskonečno prodolžajuščejsja žizni...” [Die Wahrnehmung eines unendlich dauernden Lebens] (Evgenija Čigarëva [Jewgenja Tschigarjowa], SM 55 (1991), Heft 8, S. 13–19.) „Portret chudožnika v zrelosti” [Porträt eines Künstlers in Reife] (Svetlana Savenko [Swetlana Sawenko], SM 45 (1981), Heft 9, S. 35–42) „Musikalische Trauerarbeit“ (Thomas Dézsy, Salzburger Nachrichten, 24.07.1990, ohne Seitenangabe) „A Post-Everythingist Booms“ (Richard Taruskin, The New York Times, 12.07.1990, S. 20 & 24) „Gerechtigkeit. Alfred Schnittke und die höheren Mächte“ (Walentina Cholopowa, MusikTexte 17 (1999), Heft 78, S. 29f.) „Eine Musik voller erregender Geheimnisse“ (Nikolaus Schaffer, Salzburger Volkszeitung, 24.07.1990, ohne Seitenangabe) „A tragic Russian at war with peace“ (David Cairns, Sunday Times, 11.03.1990, ohne Seitenangabe)

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„Eine Partitur mit Schicksal“ (Karl-Robert Danler, Münchner Tageszeitung, 09.05.1986, S. 13) „Vom Neujahrsscherz zur Serie. Der Komponist Alfred Schnittke und sein neuestes Werk“ (Ursula Hübner, Die Presse, 04.08.1990, S. 9) Bildunterschrift: „Alfred Schnittke: tiefernst und melodramatisch, ausgelassen und heiter“ „Die stille Traurigkeit des Seins. Über die Instrumentalkonzerte Alfred Schnittkes“ (Maria Kostakeva, Das Orchester 46 (1998), Heft 2, S. 14–18) „Poslednij genij železnogo veka“ [Das letzte Genie des eisernen Jahrhunderts] (mehrere Artikel, Kul’tura 60 (1998), Heft 29, S. 1) „‚Die Stimme eines Vorsängers im Chor.’ Zu Alfred Schnittkes Violoncellokonzert“ (Gottfried Eberle, MusikTexte 17 (1999), Heft 78, S. 49f.) „How Alfred burnt his bridges“ (Meirion Bowen, The Guardian, 19.12.1986, ohne Seitenangabe) „Alfred Schnittke: Shostakovich’s Heir“ (Laurel E. Fay, Upbeat for the Los Angeles Philharmonic, Bd. 7, Nr. 3, Los Angeles 1990, S. 8f.) „Alfred the great“ (Gerald Larner, The Guardian, 19.10.1989, ohne Seitenangabe) „A Shy, Frail Creator Of the Wildest Music“ (Alex Ross, The New York Times, 10.02.1994, S. 13 & 17) „Bausteine für eine neue musikalische Welt. Der Komponist Alfred Schnittke“ (Helmut Rohm, Programm Münchner Philharmoniker 1988/89, Seite 9) „Ein leiser Abschied von der Avantgarde. Erinnerung, Beschwörung und sinfonischer Atem: Alfred Schnittkes Werk in neuen Schallplatteneinspielungen“ (Hartmut Lück, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.05.1991, ohne Seitenangabe) „Vernetsja li v Rossiju muzyka Šnitke?“ [Kehrt die Musik Schnittkes heim nach Russland?] (Konstantin Kedrov [Kedrow], Isvestja, 11.08.1998, ohne Seitenangabe) „Zwischen zwei Kulturen. Der Komponist Alfred Schnittke im Gespräch mit Hartmut Lück“ (Hartmut Lück, FonoForum (1991), Heft 9, S. 28–31)

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„Uneasy-Listening Music. ‘… The Sounds Alfred Schnittke dreams up apparently cannot be listened to impassively, and reactions are often extreme…’” (Peter G. Davis, New York Magazine, 28.02.1994, S. 125f.) Besonders Nikolaus Schaffers Artikel ist für die vorliegende Abhandlung interessant, da in dem von ihm rezensierten Konzert auch Schnittkes Konzert für Klavier und Streicher aufgeführt wurde. Schaffer schreibt: Verdichtet sich hier [in der Triosonate, Anm. d. Verf.] das Assoziationsfeld Gustav Mahler– Alban Berg zum gespenstischen Klangerlebnis, so werden in dem griffiger durchkomponierten Klavierkonzert mitunter auch recht gewaltsame Kräfte spürbar. Die offensiv eingesetzte Exzentrik stürzt sich hier teilweise in Dreschorgien, nimmt Pathos für Geheimnisreichtum in Kauf. [...] Auch beim Publikum eine überwältigende Erfolgsbilanz für den postmodernen Klangmagier Schnittke, dessen Musik sich, wenn man den Einstieg einmal gefunden hat, sich wie eine ziemlich starke Droge verköstigen läßt.260

Aus den vorangehenden Artikelüberschriften lassen sich mehrere Konstrukte ablesen, die im nachfolgenden Kapitel genauer exploriert werden sollen. Wichtig ist an dieser Stelle, dass es hier nicht um die Genese eines einzelnen Autorkonstrukts geht, ja gar nicht gehen kann, sondern dass unterschiedliche Rezipienten (welche auch die Journalisten in erster Linie sind) zu teilweise deckungsgleichen, teilweise aber auch unterschiedlichen Konstrukten gelangen. Dabei lassen sich einige der Artikelüberschriften den weiter oben aufgelisteten biographischen Zuschreibungen zuordnen, so dass hier klar wird, mit welchen ‚Äußerungen des Komponisten‘ und ‚weiteren Informationen über den Komponisten‘ das entsprechende Autorbild generiert wurde. So beruht zum Beispiel Lücks Titel „Zwischen zwei Kulturen“ auf Schnittkes Eigenaussage, dass er nirgendwo hingehöre. Cholopowas Titel über die ‚höheren Mächte‘ wiederum spielt auf Schnittkes Religiosität an. Somit stellen diese Artikelüberschriften, die eigentlich zum Konstituens der ‚weiteren Informationen über den Komponisten‘ gehören, mit dem sich beim Rezipient das Konstrukt eines Autors manifestiert, bereits selbst Konstrukte aus einer Rezeption heraus dar, die vorher aus unterschiedlichen Konstituenten bestand. Die Mehrheit der oben aufgezählten Artikelüberschriften hat eines gemeinsam: Sie inszeniert Schnittke als einen Star mit Hilfe von Metaphern, die für die Umschreibung des Habitus eines Komponisten nahezu ungewöhnlich sind – Seher, Genie, Kenner des Chaos, scheuer Schöpfer der wildesten Musik, tragischer Russe und, als fast schon zynische Zuspitzung Taruskins, der Nach-Allem-Seiende, der sogar die Postmoderne hinter sich gelassen habe. In manchen der Artikelüberschriften blickt deshalb auch so etwas wie Kritik durch, weniger an der Musik Schnittkes selbst als an seiner Berühmtheit, die fast unheimlich wirkt. Christiane Tewinkel, deren Rezension zur CD-Einspielung der Klavierkonzerte schon weiter oben zitiert wurde, weist

260 Nikolaus Schaffer, „Eine Musik voller erregender Geheimnisse“, in: Salzburger Volkszeitung, 24.07.1990, S. 12.

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darauf hin, dass das Konzert für Klavier und Streicher in seiner Stilistik einem Berühmtwerden opportun ist: Zugleich lässt dieses einsätzige Stück ahnen, warum Schnittkes Musik sich so überaus gut verkauft hat. Denn singulär unter den E-Musik-Komponisten dieser Zeit wird etwa das Wagnis gewesen sein, sich auf das meditative Sinnieren langsam gespielter Alberti-Bässe einzulassen – lange klingt das Konzert wie die Musik zu einem verregnetem Herbstfilm. Später setzt Schnittke die Repetitionen so eng, die Streicherklänge so dicht, dass das Orchester klingt wie ein großer Synthesizer, der dem Klavier immer wieder ans Bein fahren will, eigentümliche Variation jenes Dialogprinzips, das am Grund jeder Konzert-Idee steht.261

Andere der oben aufgeführten Überschriften vollziehen ihren Kotau vor dem Komponisten, zu dem letztendlich alle Autoren bis zu einem gewissen Grad neigen, ohne ein wesentliches Merkmal der Schnittkeschen Eigeninszenierung in Betracht gezogen zu haben, welches er in mehreren Interview immer wieder lanciert hat: Sein Eigenbild als Medium, durch das Musik von außen über seine Hand zu Papier gebracht wurde. Im Folgenden sei deshalb auf diese Form der Selbst-Negation als Inszenierung von (Nicht)Autorschaft eingegangen, da sie eigentlich einer Fremdinszenierung den Boden entzieht. Denn wenn der Autor seine eigene Autorschaft in Frage stellt, wie brauchbar ist dann für den auktorialen Diskurs eine Autorisation über ihr Werk innehabende Autorschaftsfigur, die von außen konstruiert wird?

3.2

Selbst-Negation als Inszenierung von (Nicht-)Autorschaft

Nach Meinung des Kulturhistorikers Felix Philipp Ingold vertrat der Schriftsteller Boris Pasternak die Auffassung, dass „[…] stets alle Autoren – von Homer bis heute – gleichzeitig an ihrer [der Kunst, Anm. d. Verf.] Entstehung und Fortdauer beteiligt seien, denn nur die über Generationen synthetisierte, angereicherte, weitergetragene Erinnerung könne die dazu notwendige Kraft freisetzen“262. Der Autor hätte also seine Autorität gegenüber dem Werk, das zu verfassen, gestalten, komponieren etc. er vorgibt getan zu haben, verloren, und zwar bereits während des Entstehungsprozesses. Vielmehr, so Ingold, reduziert sich die Funktion des Autors eines Werkes auf die eines Mediums, durch das ein Kunstwerk aus allen vorangehenden Autorschaften aller Kunstwerke einer Gattung hervorgeht. Ingold hält diesbezüglich fest, „[…] dass menschliches Schöpfertum schon immer eine hybride Illusion gewesen ist; dass es ‚den ‚Dichter’ nicht mehr gibt‘; dass Dichtung nicht gemacht, nur zugelassen werden 261 Tewinkel, „Vorboten“ (wie Anm. 249), S. 38. 262 Felix Philipp Ingold, Der Autor am Werk. Versuche über literarische Kreativität (= Edition Akzente), München 1992, S. 176. Originalzitat aus dem Brief Boris Pasternaks an Olga Freudenberg vom 17. Februar 1928: „Mir ist schwer zumute, Du meine Liebe, meine Teure, denn alle Kraft kommt aus der Erinnerung, aus den Nerven, und das führt in die Vergangenheit – und wird in der Gegenwart durch nichts Lebendiges kompensiert.“ Boris Pasternak und Olga Freudenberg, Briefwechsel 1910 – 1954, aus dem Russischen übersetzt von Rosemarie Tietze, eingeleitet und kommentiert von Johanna Renate Döring-Smirnow, Frankfurt am Main 1986, S. 142.

Der Autor als Konstrukt

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kann als das, worin – wodurch – die Wirklichkeit unter dem Namen des Autors sich ausspricht“263. Damit verlöre die Funktion des Autors aber nicht nur die eigene künstlerische Originalität, sondern ebenso ihre Absichtlichkeit des auszudrückenden künstlerischen Gedankens, das, nach Danuser, poetologische Moment. Denn einem Medium kann keine Absichtlichkeit unterstellt werden, sondern bloß das Empfangen und Weitersenden externer Stoffe. Jeder Autor, der vorgibt, originell zu sein und sich als Autor seines künstlerischen Werkes positioniert, gar konstruiert, hätte unter Pasternaks Theorie seine Autorität über sein Werk von vornherein verwirkt. In eben dieser Weise urteilt auch Barthes über den Autor, wie bereits erörtert wurde. Für Barthes ist „[…] ein Text [...] aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt, die verschiedenen Kulturen entstammen und miteinander in Dialog treten, sich parodieren, einander in Frage stellen“264. Er ist „[…] ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur“265. Freilich bezieht Barthes seine Ausführungen auf die Schrift als sinngebendes Konstituens eines Werkes, die zwar „nur entwirrt, nicht entziffert werden“ kann, da sie „[…] ohne Anfang und ohne Ende [...] unentwegt Sinn [bildet], aber nur, um ihn wieder aufzulösen“266. Im Klartext heißt das, dass erstens der Autor überflüssig ist (das wurde ja schon diskutiert) und dass zweitens die Schrift der Performanz des Lesens und damit der Temporalität des Interpretierens unterliegt, d.h. die Schrift stellt unterschiedlichen Lesern zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Assoziationen und Interpretationen zur Verfügung, so dass es keinen absoluten Sinn eines Textes geben kann. Worum es Barthes in seinen Äußerungen geht, ist die Abschaffung des Autors als einem Text sinngebender Ursprung und die Verlagerung der Textkritik und Texthermeneutik auf den Zielpunkt, den Rezipienten. In gewissem Sinne spielt dies auch dem Konzept der Intertextualität in die Hände, das als strukturalistische Interpretation konstatiert, dass: […] [k]ein Text [...] aus sich selbst heraus verstanden werden [kann]. Ein Text, auf den dies zuträfe, wäre ein hermetischer Text, der seine Bedeutung nicht kommunizieren könnte und der die Bedeutungen seiner Zeichen nicht mit den Zeichen außerhalb seiner selbst teilte. Ein solcher Text wäre nicht lesbar, geschweige denn interpretierbar. [...] [J]eder Text verweist aufgrund seiner Zeichenhaftigkeit stets auf andere Zeichen und Texte außerhalb seiner selbst.267

Damit tritt der Autor eines Werkes als über dieses Autorisation innehabendes Subjekt hinter die sogenannten Hypotexte, die den vom Autor verfassten Hypertext konstituieren, zurück: 263 264 265 266 267

Ingold, Autor am Werk (wie Anm. 262), S. 179. Barthes, „Der Tod des Autors“ (wie Anm. 198), S. 192. Ebd., S. 190. Ebd., S. 191. Wolfgang Hallet, „Intertextualität als methodisches Konzept einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft“, in: Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur, hrsg. von Marion Gymnich, Birgit Neumann und Ansgar Nünning (= ELCH Studien zur Englischen Literatur- und Kulturwissenschaft 22), Trier 2006, S. 53.

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Der Komponist als Autor

[D]er Hypertext besteht nicht mehr aus einem einheitlichen sukzessive zu rezipierenden, eben linearen Text, sondern aus einem Konglomerat oder Komplex von Texten, zwischen denen sogenannte Referenzverknüpfungen [...] bestehen.268

Im Prinzip wird der Autor mit auctoritas zum scriptor ohne eigene auctoritas, der die Zitate aus anderen Texten kompiliert und niederschreibt. Der Begriff der Intertextualität geht dabei auf Julia Kristeva zurück, die in ihrem Aufsatz „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“ konstatiert, dass „[…] jeder Text [...] sich als Mosaik von Zitaten auf[baut], jeder Text [...] Absorption und Transformation eines anderen Textes [ist]“269. Die Negation des Autors (mit auctoritas) und die damit einhergehende Konzentration der Interpretation auf den Text bzw. das Werk als Hypertext entstanden vor allem als Konsequenz aus der übertriebenen Interpretation eines Werkes in dessen Verhältnis zu seinem Autor. Was aber, wenn ein Autor sich nicht als originärer auctor seines Werkes, sondern selbst als Medium inszeniert, durch das von einer höheren Macht (als Spekulativum könnte man diese als den Geist aller Autoren definieren) gesendete Gedanken zu Papier gebracht werden bzw. zu Notentext entstehen? Wäre dieser Autor dann ehrlich und würde eine Teil-Autorität über eben dieses ‚kompilierte’ Werk zurückerhalten, da er zugibt, gar kein Autor im auktorialen Sinne zu sein? Würde er dann wenigstens als Editor verschiedener Texte und Zeichen, aus denen seine Hypertexte bestehen, wahrgenommen und in den hermeneutischen Diskurs mit aufgenommen werden, da doch zum Arrangement unterschiedlicher Parameter, seien es Noten, Dynamikzeichen, die Instrumentation etc., ein Arrangeur präsent sein muss, der all diese ‚Zeichen’ in eine bestimmte Form bringt, die am Ende die Partitur ergeben, auch wenn man zunächst von einer unpoetologischen Kompilation ausgeht? Im Sinne von Gadamers Autorisations-Gedanken des Fremden im Eigenen, das ja primär zunächst das Eigene als einem Subjekt Zugehöriges bezeichnet, wird aber auch, wie bereits weiter oben erläutert, das Fremde zum Eigenen, im Umkehrschluss jedoch das Eigene medial, da das Fremde als Autorisiertes im Sinne eines stilistischen Palimpsests hindurchscheint. Damit tritt aber auch die eigene Autorisation schon auf einer unbewussten Ebene hinter die hindurchscheinende Autorisation des Fremden zurück. Wenn Schnittke sich als Medium sieht, durch das Musik, die bereits außerhalb seiner selbst existiert, über seine Hand zu Noten auf Papier wird, dann wird entweder die eigene Nichtexistenz als Autor potenziert oder aber genau das Gegenteil affirmiert, nämlich die Autorität Schnittkes über die eigene Negation. Schnittke gibt in mehreren Interviews und Gesprächen über sein Selbstverständnis als Medium Auskunft, von denen hier einige zitiert sein sollen:

268 Sven F. Sager, „Intertextualität und die Interaktivität von Hypertexten“, in: Klein und Fix (Hrsg.), Textbeziehungen (wie Anm. 201), S. 116. 269 Julia Kristeva, „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“, aus dem Französischen übersetzt von Michel Korinman und Heiner Stück, in: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Band 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, II, hrsg. von Jens Ihwe (= Ars poetica 8), Frankfurt am Main 1972, S. 348.

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Wenn ich fertig bin, und ich erlebe meine Kompositionen als Hörer, bin ich mir sicher: sie waren nur bei mir zu Gast. Jetzt sind sie selbständig.270 When I write music I don’t really compose ..... I have the impression that the music that I write is not composed by me, but it exists already outside me. My problem then is to listen with enough attentiveness to write down this thing which exists outside me and all my technical problems and so on, spring from this fact; they’re not strictly compositional problems, they’re problems of how to be faithful to this thing which is outside me.271 Eigentlich ist das ganze Komponieren ja ein Weiterarbeiten mit dem, was man aufgenommen hat, und das ist auch so ein Fall.272 Ich habe ihn [den Stoff, Anm. d. Verf.] gar nicht gewählt, er hat mich gewählt. Es ist ja meistens so, daß man etwas macht, weil man gar nicht anders kann. Ich mußte das machen. Was ich bis jetzt schrieb, die Faust-Kantate, damit war alles irgendwie – ich weiß nicht, wie ich das nennen soll – nicht: geheimnisvoll, aber auch nicht ganz real. [...] Sicher wollte man mir nicht glauben, daß meine Stoff-Wahl ein Zufall war. Irgendwie schien das mysteriös. Aber es war so!273 Es ist so, daß ein Stück zwar real von mir niedergeschrieben wird, aber ich habe das Gefühl, daß mir diktiert wird. Es kommt sozusagen von irgendwoher über mich. Das ist natürlich eine Illusion, aber ich empfinde es so. Diese Einstellung ist auch viel besser für das Ergebnis der Arbeit, wenn ich so gestimmt bin und nicht logisch nachdenke, woher irgend etwas kommt, wie das zitiert wurde und welchen Veränderungen es unterzogen wurde. Ich muß mich sozusagen immer ergeben. Ich muß wissen, daß mir mein Verstand nicht die höchste Stufe garantiert, die ich haben möchte. Es ist etwas anderes, worauf ich hoffe, was Ergebnisse bringen kann und sie manchmal auch bringt. Diesen Weg gehe ich, ich kann das nicht genau erklären.274 Daß man nicht die Musik komponiert, sondern mitkomponiert. Das ist nicht nur ein bewußtes Gestalten der Musik, sondern sie gestaltet sich von selbst. Komponisten hören die Gestaltung der Musik und machen da mit. Aber die Entscheidung kommt nicht nur von ihnen, sie kommt auch von der Musik an sich und für sich. Es ist sehr schwer, dieses Verhältnis genau abzumessen, aber es ist bestimmt da.275 Wenn dir ursprünglich ein solches inneres irrationales Modell eigen ist, mußt du dich selbst in zwei Sphären spalten: Die eine Sphäre bist du in engerem Sinne, und die andere ist das, was sich dir durch dich öffnet, und wesentlich größer ist als du selbst. Nicht du bist dein Gebieter, sondern das wesentlich Größere, das sich dir öffnet... Eigentlich ist das ganze Leben ein Versuch, nicht der zu sein, der man ist, sondern ein Werkzeug dessen, das sich außerhalb von dir befindet. Und gerade das diktiert sowohl die Form und den Text als auch die Motivation, die 270 Alfred Schnittke zitiert nacht Lutz Lesle, „Komponieren in Schichten. Begegnung mit Alfred Schnittke“, in: NZfM 148 (1987), Heft 7, S. 29. 271 Alfred Schnittke zitiert nach Steinitz, „Interview with Alfred Schnittke“ (wie Anm. 194), S. 104. 272 Hansberger, „Alfred Schnittke im Gespräch“ (wie Anm. 207), S. 233. 273 Gerlach, „Alfred Schnittke im Gespräch“ (wie Anm. 234), S. 244f. 274 Ebd., S. 251. 275 Hartmut Lück, „Zwischen zwei Kulturen. Der Komponist Alfred Schnittke im Gespräch mit Hartmut Lück“, in: FonoForum (1991), Heft 9, S. 29.

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Der Komponist als Autor

von außen kommt. Du scheinst dir gar nicht zu gehören. Solange du dieses Gefühl hast, empfindest du dein Arbeit nicht als Last. Schließlich machst du dir keine Vorwürfe, sondern führst lediglich das aus, was dir jemand auferlegt hat. ‚Jemand‘ klingt hier sehr grob – eher ist es etwas, das wichtiger ist als du. [...] Nichtsdestoweniger ist deine Arbeit keine technische Anleitung oder Gebrauchsanweisung, sondern ein Hineinhören in das, was bereits existiert. Dadurch ist alles vorausbestimmt – sowohl die Bedeutung der Details als auch die rationale Motivation.276

Im Prinzip ist es möglich, dass Schnittkes hier evidente Eigeninszenierung ein Resultat seiner Beschäftigung mit anderen Komponisten, Kompositionen und der Musikgeschichte insgesamt ist. In der Weise, in der sich Schnittke als auctor zurücknimmt und selbst etwas Abstraktes außerhalb seiner selbst in seine Kompositionen autorisiert, konstruiert ihn dieses im selben Augenblick als denjenigen, der sich erstens dieser Medialität bewusst ist und der gleichsam außerhalb dieser, weil darüber steht. Insofern wird Schnittke zum Autor seiner Medialität, die das Fremde im Eigenen – seien es konkrete Zitate, Plagiate und Allusionen anderer Kompositionen oder Stile oder ein Abstraktum als ‚das Größere‘ – als Ausdruck eines Größeren und Mächtigeren, als es der Autor Alfred Schnittke selbst jemals sein kann, inszeniert. Damit wird nun auch deutlich, dass die Fremdreferenzen in Schnittkes Kompositionen (sowohl auf die notentextliche als auch auf die klangliche Werkebene gerichtet) als Metaphern dieser Eigeninszenierung zu gelten haben. Diese Metaphern, als drittes Konstituens der externen Autorkonstruktion, forcieren zusammen mit den Eigenaussagen Schnittkes als deren zweites Konstituens die Rezeption Schnittkes als (nunmehr) Nicht-Autor seiner Werke, da diese Teil eines Größeren sind. Gleichzeitig autorisiert das Fremde, Höhere und Größere Schnittke in sich selbst und macht ihn sowohl zum auctor seiner Medialität als auch zum scriptor eines Größeren, wie die Artikelüberschriften aus den zitierten Printmedien beweisen. In den bisherigen Ausführungen, die sich mit dem Phänomen der Eigen- und Fremdinszenierung des Autors Alfred Schnittke beschäftigt haben, wurden diese Erscheinungen vor allem benannt und epistemologisch ausgewertet. Zugleich konnte ein struktureller Ansatz, basierend auf Sandra Heinens und Gérard Genettes Theorien, für die Destillation inszenatorischer Momente angewendet werden. Eine Frage wurde bisher jedoch im Diskurs der Autorinszenierung noch nicht bemüht: die Frage nach dem Warum und den Adressaten der Eigen- und Fremdinszenierung.

3.3

Streben nach Anerkennung. Adressaten der Eigeninszenierung. Reflexionen des Anderen im Eigenen und umgekehrt

Der deutsche Soziologe Axel Honneth und der französische Philosoph Paul Ricœur haben das Streben des Menschen nach Anerkennung bisher am intensivsten untersucht. Ricœurs Schrift Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein 276 Schnittke, Leben (wie Anm. 106), S. 176f.

Der Autor als Konstrukt

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unterscheidet drei Stadien der gegenseitigen Anerkennung, die bei der „Reconnaissance [Wiedererkennen, Erkennen, Anm. d. Verf.] als Identifizieren“ beginnt und über „Sich selbst erkennen“ schließlich bei der „wechselseitigen Anerkennung“ endet.277 Für Ricœur beginnt die Frage nach der Anerkennung eines Menschen, damit auch eines Autors, beim Erkennen des Autors seiner selbst. Sein Bezug zu René Descartes und Immanuel Kant ist deshalb logisch. Im dritten Kapitel seines Buches, „Die wechselseitige Anerkennung“, beschäftigt sich Ricœur, von Georg Wilhelm Friedrich Hegel ausgehend, mit den Wechselwirkungen gegenseitiger Anerkennung, ohne dabei auf den Bezug zu Honneths Buch, dass bereits dreizehn Jahre früher im Jahre 1992 erschien, zu verzichten. Für Ricœur allerdings stehen normative Gesichtspunkte im Streben nach Anerkennung im Vordergrund: Welchem normativen Anspruch soll die soziale Wertschätzung genügen? Welche Konfliktformen sind mit den Vermittlungen in der Sphäre jenseits der Rechtsbeziehungen verbunden? Welche persönlichen Fähigkeiten entsprechen diesen Formen wechselseitiger Anerkennung?278

Für Ricœur ist das Streben nach Anerkennung immer auch ein globales Phänomen, das seine mögliche zwischenmenschliche Ursache auf die Welt als Ganzes projiziert: Die Konfrontation zwischen zwei Welten kann so weit führen, daß die eine die andere für ungültig erklärt. Mangels einer demselben Legitimierungssystem angehörenden Argumentationsbasis nimmt der Protest dann die Form eines Zwistes – eines Widerstreits – an, der nicht nur die Kriterien der Größe in einer gegebenen Welt affiziert, sondern den Begriff der Größe selbst: Was wiegt ein Großindustrieller in den Augen eines großen Orchesterchefs? Der Erfolg in der einen Welt kann die Möglichkeit verschleiern, auch in einer anderen Welt groß zu werden. Von hier aus läßt sich eine Typologie der Kriterien entwickeln, die eine Welt als Beschuldigung an die andere adressiert. Interessant ist meines Erachtens aber etwas anderes, nämlich die Möglichkeit, durch die Kritik jeden Akteur der einen Welt für die Werte einer anderen Welt empfänglich zu machen, selbst auf die Gefahr hin, daß er die Welt wechselt. Damit offenbart sich eine neue Dimension der Person, die nämlich, eine andere Welt als ihre verstehen zu können, eine ähnliche Fähigkeit wie die, eine fremde Sprache so gut zu erlernen, daß man die eigene als andere unter anderen wahrnehmen kann. Wie ja das Übersetzen, um einen Titel von Marcel Détienne aufzunehmen, als eine Art Vergleich zwischen Unvergleichlichem verstanden werden kann, so ist es die Fähigkeit zum Kompromiß, die den besten Zugang zum Gemeinwohl eröffne: ‚Im Kompromiß‘, schreiben die Autoren, ‚verständigt man sich, um sich zu einigen, das heißt den Zwist auszusetzen, ohne daß er mittels Prüfung in einer einzigen Welt gelöst worden wäre.‘ (S. 337) [gemeint ist hier Marcel Détienne, Comparer l’incomparable, Paris 2000, Anm. d. Verf.] Die Fragilität des Kompromisses sagt genug über die des Gemeinwohls aus, das selbst nach einer Begründung sucht. Der Kompromiß ist stets in Gefahr, von Pamphletisten aller Couleur als Verrat denunziert zu werden. Auch die Kompromisse können in eine Typologie gebracht werden, die wiederum dazu einlädt, die im vorigen Abschnitt beschriebene Erweiterung der subjektiven Rechte neu zu lesen. Der Kompromiß kann als die

277 Paul Ricœur, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, aus dem Französischen übersetzt von Ulrike Bokelmann und Barbara Heber-Schärer (= IWM Vorlesungen zu den Wissenschaften vom Menschen), Frankfurt am Main 2006. 278 Ebd., S. 253.

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Der Komponist als Autor

Gestalt gelten, die die wechselseitige Anerkennung in den aus der Vielzahl der Ökonomien der Größe resultierenden Konflikt- und Streitsituationen annimmt. Die Frage, die sich am Ende dieses Durchgangs stellt, ist, ob das Gemeinwohl als Voraussetzung oder als Ergebnis der Kompromisse zu verstehen ist.279

Besonders aus diesem letzten Satz wird die Ambiguität einer Ambition zum Streben nach Anerkennung deutlich. Einerseits kann der Wunsch nach Kompromissen und damit nach Anerkennung in einer anderen als der eigenen Welt Vater des Gedankens sein. Zum Anderen kann das Handeln einer Person Zeichen einer Kompromissfähigkeit enthalten, so dass sich am Ende der Kompromiss von selbst ergibt. Für Ricœur ist in jedem Fall der Kompromiss in erster Linie eine Möglichkeit, konträr scheinende Welten zu versöhnen und damit eine wechselseitige Anerkennung zu ermöglichen. Darüber hinaus entsteht ein Kompromiss erst nach Anerkennung der gegenseitigen Konflikt- und Streitsituationen und ist damit auch der Verlust der eigenen Größe, nicht in der eigenen Welt, sondern, wie Ricœur schreibt, innerhalb des Begriffs der Größe selbst. In Bezug auf das Phänomen der Eigen- und Fremdinszenierung kann dies heißen, dass ein Komponist, ungeachtet seiner Größe unter seinesgleichen, a priori Maßnahmen zum Kompromiss ergreift, um von der einen, also der seinigen Welt in eine andere Welt, die zuvor nur eine Beschuldigung der eigenen war, wechseln zu können. Andererseits könnte es heißen, dass im Handeln des Komponisten, d.h. im Akt des Komponierens (bzw. des Kompilierens, je nach Standpunkt) an sich, unbewusst bereits Kompromissfähigkeit enthalten ist, die zur Anerkennung in einer anderen Welt, sei es die des Musikkritikers, des gemeinen Musikrezipienten oder gar des politischen Zensors, führt. Besonders plastisch werden Ricœurs Thesen, wenn sie im Zusammenhang mit seinem im Jahr 1996 verfassten Buch Das Selbst als ein Anderer in Verbindung gesetzt werden. Wie der Titel des Buches verrät, widmet er sich darin dem Verhältnis des individuellen Selbst zum individuellen oder kollektiven Anderen. Damit befindet sich Ricœur zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf der in den Wegen der Anerkennung erscheinenden Ebene der Globalität der Beziehungen. Ricœur schreibt: In dem Augenblick, in dem das Werk sich von seinem Urheber ablöst, wird sein ganzes Wesen in die Bedeutung, die der Andere ihm verleiht, aufgenommen. Für den Urheber wird das Werk, insofern es Anzeichen seiner Individualität und nicht seiner allgemeinen Bestimmung ist, schlicht und einfach der Vergänglichkeit übergeben. Dass das Werk seine Bedeutung, ja sogar seine Existenz als Werk, nur vom Anderen erhält, unterstreicht, wie außerordentlich prekär das Verhältnis zwischen Werk und Autor ist. So sehr ist die Vermittlung des Anderen konstitutiv für seine Bedeutung.280

So sehr Ricœurs Äußerungen hier dem Ausruf Wimsatts und Beardsleys, ‚The Poem belongs to the public‘, folgen, so wenig verzichtet er auf den Autor als Urheber. Dennoch ergibt sich aus der wechselseitigen Betrachtung der beiden genannten und 279 Ebd., S. 263f. 280 Ricœur, Selbst (wie Anm. 206), S. 192.

Der Autor als Konstrukt

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zitierten Bücher Ricœurs ein fruchtbarer Dialog. Denn in Das Selbst als ein Anderer geht er explizit auf das Verhältnis von Sprechendem (im Sinne des sich Äußerenden) und Angesprochenem (im Sinne des Empfangenden) ein: „Eigentlich hat jede Handlung ihre Vollzieher und ihre Erleidenden.“281 Ricœur widmet sich dem Verhältnis von Sprechakt sowie dem Subjekt des Sprechaktes und dessen Objekt, dem Angesprochenen. Seine Konzentration gilt dem Imperativ, der sich als Befehl und Gehorsam im Sprechakt und seiner Rezeption äußert: Nun ist bemerkenswert, dass diese Art von Redeakt [Befehl und Gehorsam, Anm. d. Verf.] in der Umgangssprache verlangt, daß Sprecher und Angesprochener voneinander verschieden sind: Einer befiehlt, und der andere ist aufgrund der Erfüllungsbedingung des Imperativs genötigt zu gehorchen.282

An dieser Stelle können wir wieder zum eigentlichen Gegenstand der Analyse zurückkehren und in Ricœurs Ausführungen hierzu eine weitere, vierte Ebene von Anerkennung ausmachen. Neben dem Streben nach Anerkennung seiner selbst kann der Mensch auch die Autorität anderer anerkennen. Ricœur verweist damit auf Gadamers Wahrheit und Methode, aus dem das betreffende Zitat bereits in Kapitel II.1.2 gebracht wurde. Aus diesem Zitat wurde destilliert, dass mit einer so verstandenen Art der Anerkennung eines Anderen dieses Andere – oder auch Fremde – im Eigenen und als das Eigene autorisiert, damit aber das eigentlich Eigene medial wird. Darüber hinaus lässt sich aus Gadamers Autorisations-Gedanken herauslesen, dass die Form der Autorität des Einen (als Fremdes) über ein Anderes (als Eigenes) erworben sein muss. Freilich betrachtet Gadamer nicht das Streben nach Anerkennung als soziales Agens, sondern Anerkennung als Status sowohl aus dem Blickwinkel des Anerkennung Verleihenden – der Erkennende – als auch aus der Perspektive des Anerkennung verliehen Bekommenen – der durch Erkenntnis des Anderen Erkannte –, im Sinne von Honneths „Unsichtbarkeit“: Die Anerkennung ist im Unterschied zum Erkennen, das ein nicht-öffentlicher, kognitiver Akt ist, auf Medien angewiesen, in denen zum Ausdruck kommt, daß die andere Person ‚Geltung‘ besitzen soll; und auf der elementaren Stufe, auf der wir mit dem Phänomen der sozialen ‚Unsichtbarkeit‘ bislang operieren, sind solche Medien noch gleichzusetzen mit körpergebundenen Expressionen. [...] Diese Rückverwiesenheit der Anerkennung auf Expressionen ergibt sich daraus, daß nur solche körperlichen Gesten öffentlich die Zustimmung zu artikulieren vermögen, deren Zusatz den Unterschied zwischen Erkennen und Anerkennen ausmacht: nur derjenige, der sich im Spiegel der expressiven Verhaltensweisen seines Gegenübers positiv zur Kenntnis genommen sieht, weiß sich in elementarer Form sozial anerkannt.283

281 Ebd., S. 193. 282 Ebd., S. 253. 283 Axel Honneth, Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1616), Frankfurt am Main 2003, S. 14 und 20.

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Der Komponist als Autor

In diesem Sinne ist Schnittkes Fremdreferenzialität zu verstehen, die auf der interauktorialen Ebene die Anderen im Eigenen autorisiert. Gleichzeitig wird die Frage nach dem Adressaten eines Strebens nach Anerkennung aufgeworfen, vor dem die Anerkennung und damit Autorisation eines Fremden im Eigenen sich erklären muss: Für wen erkenne ich Andere im Eigenen an, wenn diese selbst doch gar nichts mehr davon haben? Es lässt sich feststellen, dass Anerkennung sowohl auf das handelnde Individuum selbst als auch auf andere, Autorität über das eigentlich Eigene innehabende Individuen projiziert sein kann und damit auch dem vorliegenden Diskurs auf mehreren Ebenen dient. Für Axel Honneth hingegen ist der Anerkennungsbegriff kein globaler, sondern ein intersubjektiver. In seinem Buch Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Begriffe geht er zwar auch von Hegel aus, destilliert aber aus dem globalen Begriff sogleich drei Formen der Anerkennung, nämlich Liebe, Recht und Wertschätzung. In einem zweiten Essay stellt er diesen positivistischen Formen der Anerkennung ihre Aberkennung gegenüber: Vergewaltigung, Entrechtung, Entwürdigung. Für den Diskurs der Autorinszenierung sind besonders die Wertschätzung und ihr Negativum, die Entwürdigung, von besonderem Interesse. Honneth schreibt, dass: [...] ein derartiges Muster der Anerkennung [gemeint ist die soziale Wertschätzung, Anm. d. Verf.] überhaupt nur angemessen zu begreifen ist, wenn als seine Voraussetzung die Existenz eines intersubjektiv geteilten Werthorizontes hinzugedacht wird; denn Ego und Alter können sich wechselseitig als individuierte Personen nur unter der Bedingung wertschätzen, dass sie die Orientierung an solchen Werten und Zielen teilen, die ihnen reziprok die Bedeutung oder den Beitrag ihrer persönlichen Eigenschaften für das Leben des jeweils anderen signalisieren.284

Für Honneth ist damit, teilweise analog zu Ricœur, nicht der Wille zum Kompromiss ausschlaggebend für gegenseitige Anerkennung, sondern das apriorische Vorhandensein einer immanenten Kompromissfähigkeit. Das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft gibt die Kriterien vor, an denen sich die soziale Wertschätzung von Personen orientiert, weil deren Fähigkeiten und Leistungen intersubjektiv danach beurteilt werden, in welchem Maße sie an der Umsetzung der kulturell definierten Werte mitwirken können; insofern ist diese Form der wechselseitigen Anerkennung auch an die Voraussetzung eines sozialen Lebenszusammenhangs gebunden, dessen Mitglieder durch die Orientierung an gemeinsamen Zielvorstellungen eine Wertgemeinschaft bilden.285

In diesem Zusammenhang gibt jedoch der Soziologe Dieter Geulen zu bedenken, dass:

284 Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte (= SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft 1129), Frankfurt am Main 1994, S. 196. 285 Ebd., S. 198.

Der Autor als Konstrukt

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[…] [d]ie Normen [...] aber nur ein Bestandteil der sozialen Situation [sind], von vielleicht größerer Bedeutung für die Handlungsorientierung sind die Anderen als konkrete Subjekte, die selber eine verstehbare Handlungsorientierung erhalten.286

Honneth geht darüber hinaus auf hierarchische Beziehungen innerhalb bestimmter Wertegemeinschaften, die sich von anderen unterscheiden können, ein und schlägt damit den Bogen zu Ricœurs Theorie des intentionalen Kompromisses zur Erlangung von Anerkennung. In Honneths Äußerungen spielt aber ein Aspekt mit ein, den wir sowohl aus der Literaturwissenschaft als auch aus der Musikwissenschaft kennen, nämlich das Verhältnis von Individuum bzw. Subjekt und Gesellschaft, das bei Ricœur zwar letztendlich auch gemeint ist, allerdings nicht in dieser Deutlichkeit formuliert wird. Demzufolge kann ein Komponist dann nach Anerkennung streben, wenn er entweder so komponiert, wie es die Zielvorstellungen einer Wertegemeinschaft formulieren – was voraussetzt, dass der Komponist selbst a priori die Zugehörigkeit zu dieser Wertegemeinschaft für erstrebenswert hält – oder wenn er sich im Laufe seines Schaffens diejenigen Merkmale aneignet, die der Wertegemeinschaft immanent sind. Für Honneth kommt auch ein subversives Anerkennungs-Streben in Betracht, dann nämlich, wenn sich die eigene Wertegemeinschaft konträr zu einer anderen verhält und damit versucht, [...] eine als ungerechtfertigt empfundene Einschätzung des Wertes ihrer kollektiven Eigenschaften durch demonstrative Stilisierungen zu korrigieren.287

Dieses Subversionsverhalten gilt allerdings nicht allein für Wertegemeinschaften allgemein, sondern auch konkret für subjektive Wertvorstellungen. Die Ursache für das Aneignen der Werte einer Gemeinschaft als Streben nach Anerkennung einerseits und das Stilisieren von Werten als Subversion andererseits liegt in der vorherigen Missachtung von Anerkennung. Honneth geht außerdem der Frage nach, [...] wie nämlich die Erfahrung von Mißachtung so am affektiven Erleben menschlicher Subjekte verankert ist, daß sie motivational den Anstoß zu sozialem Widerstand und Konflikt, eben: zu einem Kampf um Anerkennung, geben kann?288

Ich möchte mich an dieser Stelle, wie oben bereits erwähnt, auf die dritte Form der Missachtung, die Entwürdigung konzentrieren, da sie für das, was gleich am Beispiel Alfred Schnittkes diskutiert werden soll, am bedeutsamsten ist. Den Begriff der Entwürdigung deriviert Honneth aus der „Würde“, die „[…] das Maß an sozialer Wertschätzung [meint], das ihrer Art der Selbstverwirklichung im kulturellen Überlie286 Dieter Geulen, Das vergesellschaftete Subjekt. Zur Grundlegung der Sozialisationstheorie (= SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft 586), Frankfurt am Main 1989, S. 253. 287 Honneth, Kampf um Anerkennung (wie Anm. 284), S. 200f. 288 Ebd., S. 213f.

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ferungshorizont einer Gesellschaft zugebilligt wird [...]“289. Demzufolge ist die Entwürdigung die Aberkennung von Würde und damit der Ausschluss aus dem ‚kulturellen Überlieferungshorizont einer Gesellschaft‘. Dieser Ausschluss wird aber nun dadurch determiniert, dass: [...] diese gesellschaftliche Werthierarchie so beschaffen [ist], daß sie einzelne Lebensformen und Überzeugungsweisen als minderwertig oder mangelhaft herabstuft, dann nimmt sie den davon betroffenen Subjekten jede Möglichkeit, ihren eigenen Fähigkeiten einen sozialen Wert beizumessen.290

Dieser soziale Wert ist jedoch nicht a priori vorhanden, sondern ergibt sich aus dem Verhältnis des Individuums bzw. Subjekts gegenüber einer Wertegemeinschaft. In seinem Aufsatzband Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie gibt Honneth drei Prämissen eines konstitutiven Zusammenhangs zwischen „moralischer Verletzung“ (auf der Seite des Subjekts) und „vorenthaltener Anerkennung“ (auf der Seite der Wertegemeinschaft) an: a) die Fähigkeit eines Lebewesens zur Reflexivität in Bezug auf das eigene Wohlsein als Vorbedingung von Verletzbarkeit an sich; b) Intersubjektivität als Vorbedingung der Erkennbarkeit einer Verletzung und c) die psychische Erschütterung des Subjekts als deren Konsequenz.291 Als Konsequenz einer Aberkennung von Anerkennung bzw. deren Verweigerung kann ein Komponist mit drei möglichen Verhaltensweisen reagieren: so zu komponieren, dass er die Anerkennung dieser Gesellschaft zurück erhält, einfach weitermachen wie bisher, bis sich vielleicht die Gesellschaft von allein auf ihn zu bewegt – was im Honnethschen Sinne der eigentliche Kampf um Anerkennung ist –, oder aber demonstrativ sich der Anerkennung dieser Gesellschaft verweigern. Die Verweigerung von Anerkennung und die Aberkennung von Anerkennung sind jedoch zwei verschiedene Formen der Missachtung. Erstere ist apriorisch, d.h. sie geht der Anerkennung voraus (nicht aber dem kognitiven Erkennen). Die zweite ist aposteriorisch, d.h. eine Anerkennung, die einem Subjekt vorher zugesprochen wurde, wird ihm wieder abgesprochen. In beiden Formen der Missachtung kann Entwürdigung stattfinden. Honneth synonymisiert den Begriff der Würde mit der Ehre und dem Status, was ich für problematisch halte im Hinblick auf den Begriff der Menschenwürde, die jedem Menschen a priori zugesprochen wird. Menschenwürde ist jedoch nicht gleich Status oder Ehre und kann deshalb auch vor der Anerkennung ‚im kulturellen Selbstverständnis einer Gesellschaft‘ aberkannt werden, was dann aber als Verweigerung einer sozialen Anerkennung zu verstehen ist.292 Wie bereits erläutert, stammen die vier Klavierkonzerte Schnittkes aus unterschiedlichen Stationen seiner Biographie, in denen dem Komponisten Alfred 289 Ebd., S. 217. 290 Ebd. 291 Vgl. Axel Honneth, „Zwischen Aristoteles und Kant. Skizze einer Moral der Anerkennung“, in: Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, hrsg. von Axel Honneth (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1491), Frankfurt am Main 2000, S. 180f. 292 Vgl. ebd., S. 176.

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Schnittke ein jeweils eigener sozialer Status immanent war. Es lassen sich deshalb für alle vier Klavierkonzerte unterschiedliche Adressaten eines Komponierens destillieren. Mit potentiellen Eigeninszenierungen versehen, wird ein Streben nach Anerkennung offenbar, da „[…] [d]urch das Anerkennen [...] etwas erst zu dem [wird], als das es anerkannt wird“293. Gleichzeitig wurde bereits auf Fremdinszenierungen verwiesen, die auf dieses Streben nach Anerkennung geantwortet haben und bei der Konstruktion der Autorschaftsfigur Alfred Schnittke maßgeblich beteiligt waren. Innerhalb dieses Interkonstruktionsprozesses befinden sich das Streben nach Anerkennung und die Reaktion als ihre Verleihung oder ihre Missachtung in Form der Verweigerung oder Aberkennung. Wie in den vorangehenden Kapiteln immer wieder festgestellt wurde, können sowohl Eigen- als auch Fremdinszenierungen vorzeitig und nachzeitig sein. Sie können einer Komposition vorausgehen, um so oder anders rezipiert zu werden, oder aber während der Rezeption eines vorzeitigen Werkes ein Autorkonstrukt erschaffen, das dann im zirkularen Prozess wieder Einfluss auf nachzeitige Werke hat usw. usf. Im selben Maße muss das Streben nach Anerkennung betrachtet werden, das z.B. a posteriori (als intentio auctoris recipiente operis sui) dazu führt, überhaupt erst ein vorzeitiges Werk einer Eigeninszenierung zuzuführen. Beginnen wir zunächst mit dem apriorischen Streben nach Anerkennung. Hier lässt sich an Schnittkes Konzert für Klavier und Orchester erkennen, dass eine traditionelle Form- und Materialgebundenheit und eine Harmonik innerhalb der Grenzen der Tonalität vorliegt, die zunächst nur unter spekulativen Zuschreibungen als biographisch konstituiert interpretiert werden konnte. Gleichzeitig zeigte ein intertextueller Blick in vorangehende Kompositionen Schnittkes, dass bestimmte atonale Elemente dort vorhanden sind, im Klavierkonzert aber nicht. Die in Kapitel II.3.1 zitierte negative Kritik in der SM, die als Fremdinszenierung im Sinne einer Erziehungsmaßnahme zu verstehen ist, kann deshalb als Missachtung von Anerkennung betrachtet werden. Gerade die mangelnde Kontinuität im rezeptiven Diskurs (an dieser Stelle sei noch einmal auf Korews positive Rezension hingewiesen) und vor allem die durchweg negative Kritik an der Verwendung atonalen Materials im dritten Satz von Nagasaki hat seinen Beitrag dazu geleistet, dass Schnittke mit seinem nächsten Solokonzert, das genau zwischen den offiziellen Aufträgen, der Kantate Lieder von Krieg und Frieden (1959), dem Poem über den Kosmos (1961) und den Opern Das elfte Gebot (1962, nur Klavierauszug) sowie Die afrikanische Ballade (1963, unvollendet), lag, nicht wieder solch herbe Kritik einstecken wollte wie nach seiner Diplomarbeit; zumal es um die Aufnahme in den Komponistenverband ging, die 1961 erfolgte. Schnittke gibt dies in seinen Gesprächen mit Iwaschkin bzgl. der Kantate selbst zu: Nachdem Nagasaki so abwertend beurteilt worden war, meinte man, daß man mich doch etwas netter hätte behandeln können. Man beschloß, mit mir Nachsicht zu üben und mir einen Auftrag zu geben. Und ich bekam ihn: Es ging um irgend etwas Volkstümliches. […] Ich 293 Lutz Wingert, Gemeinsinn und Moral, Frankfurt am Main 1993, S. 179.

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schrieb eine Komposition ohne Text – Lieder von Krieg und Frieden. […] Anfangs schrieb ich einfach eine Orchestersuite, die ich Sergej Aksjuk zeigte, jenem Musikwissenschaftler, der zuvor mein Nagasaki höchst abwertend beurteilt hatte. Er war damals stellvertretender Generalsekretär des Komponistenverbandes, Chrennikows Stellvertreter also. Aksjuk spielte nun den Gönner und riet mir, noch einen Chor einzuführen, ausgehend von dem Charakter des jeweiligen Liedes. Ich schrieb zusätzlich zur Orchesterpartitur, die ich nicht anrührte, noch die Chorstimme, und so wurde es auch aufgezeichnet.294

Laut Recherchen Peter Schmelz‘ ging Schnittkes Antrag auf Mitgliedschaft im Komponistenverband am 6. April 1959 ein, wurde allerdings erst am 31. Mai 1960, also über ein Jahr später, von Juri Schaporin [Jurij Šaporin] unterzeichnet mit der Empfehlung, Schnittke in den Verband aufzunehmen. Offensichtlich lag eine herbe Kritik des Moskauer Kompositionsprofessors Heinrich Litinskis [Genrich Litinskij] am Oratorium Nagasaki vor, weshalb die Entscheidung solange aufgeschoben wurde.295 Auf dem fünften Plenum des Komponistenverbandes wurde Nagasaki vermutlich Anfang 1960 als Klavierauszug vorgestellt.296 Möglicherweise hatten Korews positive Äußerungen zu etwas Unsicherheit in der Bewertung Schnittkes und seines Oratoriums geführt. Mit der Veröffentlichung des Aufsatzes „Über das Werk Grant Grigorjans“ in der SM im Mai 1960 hatte Schnittke offenbar seine Linientreue soweit unter Beweise gestellt, so dass sein Antrag unterzeichnet werden konnte.297 Insofern wird der erste potentielle Adressat eines Strebens nach Anerkennung deutlich: die offizielle Gesellschaft, der Komponistenverband, kurz, die Obrigkeit der UdSSR als die anerkannte Wertegemeinschaft. Dabei geht diesem Streben des Subjekts oder Individuums nach Anerkennung eine apriorische und systematische Verweigerung der Wertegemeinschaft voraus, die dazu führte, dass die Anerkennung dieser Wertegemeinschaft als erstrebenswert angesehen wird. Solche Verweigerungen wurden in Bezug auf Schnittke im vorangehenden Kapitel als Erziehungsmaßnahme seitens der offiziellen Kritik definiert. Es bleibt an dieser Stelle jedoch spekulativ, ob dieses Streben nach Anerkennung lediglich eine Eigeninszenierung (als Subversion) seitens Schnittkes war, ob also die Traditionsgebundenheit, die in kurzen Momenten zuvor im Oratorium Nagasaki bereits aufgebrochen wurde, hier nur inszeniert war, um ‚dazu zu gehören’. Sowohl Schnittkes Eigenaussagen zu seinen frühen Jahren als auch die intertextuellen Betrachtungen der umgebenden Kompositionen (bis auf Nagasaki) widerlegen eine derartige Annahme. Viel eher scheinen die drei genannten Kompositionen Ricœurs Kompromisstheorie zuträglich zu sein, denn z.B. in der Rezension über die Uraufführung der Lieder von Krieg und Frieden wird ein Komponieren als kompromisssuchendes Streben nach Anerkennung deutlich:

294 295 296 297

Schnittke, Leben (wie Anm. 106), S. 112f. Vgl. Schmelz, „Schnittke’s Nagasaki“ (wie Anm. 243), S. 422f. Vgl. SM 24 (1960), Heft 3, S. 200. Vgl. Al’fred Šnitke [Alfred Schnittke], „O tvorčestve G. Grigorjana“ [Über das Werk Grant Grigorjans], in: SM 24 (1960), Heft 5, S. 30–35.

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Es war laut im Vestibül des Großen Saales des Konservatoriums. Nur weil ein Konzert zu Ende ging... Und inmitten der vielen unterschiedlichen Stimmen war deutlich zu hören: ‚Schnittke. ‚Lieder von Krieg und Frieden’ – ein talentiertes und inhaltsreiches Werk...’ Das ist in der Tat so! (S. 37) [...] Die kompositorische Handschrift A. Schnittkes wird insgesamt immer deutlicher. Klar zutage tritt der Hang des Autors nach einem bestimmten Typus russischer Melodik, üppigen tonartlichen Farben, einer charakteristischen harmonischen Kombination von Quarten und Sekunden sowie einer komplizierten und Capriccio-haften Kombination von Grundrhythmen. Jedoch, auch wenn man erfreut sein kann über die Kristallisation eines neuen, beruflich starken Talents, wünschte man den jungen Autor zur Vorsicht mahnen in seiner bisweilen überflüssigen Begeisterung für die Dissonanz seiner harmonischen Sprache. Bei aufmerksamem Zuhören lässt sich der Anfang der Kantate als eine Art absichtliche Herbheit der Harmonie wahrnehmen, als Begleiter fungiert ein Volkslied (über ein Thema der Heimat). Es lohnte sich hier kaum, parallel ‚einhöhige’ Toniken aufzustellen. Ist das nicht übermäßig rau für das lyrische Gesangsthema? Nicht ganz gelungen sind dem Autor die ‚feindlichen‘ Gestalten im zweiten Satz der Kantate. Offenbar befand er sich unter dem Einfluss des Invasions-Themas aus D. Schostakowitschs Siebter Symphonie. Aber o weh! Trotz der Groteskehaftigkeit der Darstellung (die ‚abgehackten’ Kontrafagotte mit den Klarinetten) erinnert die Musik eher an eine witzige Multiplikation, als Bilder eines grausamen und unerbittlichen Gegners neu zu erschaffen. Es scheint, als ob die Groteske hier nicht ohne Grund ‚nicht schrecklich‘ geworden ist. Und alles in allem lässt sich das herkömmliche sagen: ‚trotz einiger Fehler...’ Ja, dies ist zweifellos ein schöpferischer Erfolg des Komponisten. Und ein ganz bemerkenswerter – die Kantate beruht auf Material des zeitgenössischen Liedes, das aus den Herzen von Millionen unserer Landsmänner kommt. Die Kantate A. Schnittkes – sie ist wohl ein für die letzte Zeit einzigartiges vokalsymphonisches Werk, das fast vollständig auf zeitgenössischer Folklore basiert. Deshalb ist der Erfolg des Komponisten höchst lehrreich für alle jungen Komponisten. Und, an sie gerichtet, möchte man sagen: scheut nicht das zeitgenössische Lied! Lauscht, wie es in der Kantate Schnittkes erklingt! Schöpft mutiger aus den unerschöpflichen Quellen des musikalischen Werkes unserer Menschen – den Erbauern einer frohen Zukunft! (S. 41)298

Wie aus diesem und den vorherigen Zitaten herauslesbar ist, haben wir es bereits am Konzert für Klavier und Orchester mit drei Formen der Anerkennung zu tun: der Missachtung von Anerkennung als Verweigerung (a priori), dem Streben eines Individuums nach Anerkennung (als Konsequenz aus der Verweigerung) im Ricœurschen Sinne und dem Gewähren eines gewissen Maßes an Anerkennung als Resultat des vorangehenden Strebens, als Kompromiss und zumindest für kurze Zeit. Die eben zitierte Rezension von Schnittkes Liedern von Krieg und Frieden kann als beispielhaft für die Ambiguität der Musikkritik in der ehemaligen Sowjetunion betrachtet werden. Anerkennung wird zwar gewährt, jedoch unter Vorbehalt. Wladimir Saks Kritik gehorcht einer Doktrin, die mit der Wertschätzung – als, nach Honneth, höchster Form der Anerkennung – vorsichtig umgeht, da, wie der Philosoph Peter Sloterdijk bemerkt, „[…] Anerkennung – wie Aufmerksamkeit – eine Ressource ist,

298 Zak [Sak], „Pesni“ (wie Anm. 253), S. 37 & 41. Russischer Originaltext siehe Anhang 2.9, S. 268.

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deren Wert mit ihrer Knappheit korreliert“299. Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte lässt sich im System der Sowjetunion, aber nicht nur da, ein Aufbrechen dieser Vorsicht im Umgang mit der knappen Ressource Anerkennung besonders anhand der inflationären Verleihung von Orden und Auszeichnungen erkennen.300 Diese Form einer angestrebten Anerkennung als Kompromiss wird spätestens nach Schnittkes Brief an die Redaktion der SM mit dem Titel „Die Wissenschaft über die Harmonik weiterentwickeln“301 deutlich. Gleich zwei Ausgaben später wird Schnittkes mutiger Vorstoß – als Mitglied des Komponistenverbandes nun anerkannt – ausführlich diskutiert, als ziemlich eindeutige Bestätigung der offiziellen Anerkennung: In der Kolumne der vorletzten Ausgabe [der SM, Anm. d. Verf.] tadelt A[lfred] Schnittke einige Theoretiker für ihre Oberflächlichkeit, ihre Oberoberflächlichkeit, für das Hineindrängen der Musik ins Korsett der Funktionalität usw. usf. Man möchte fragen: wer sind sie, diese ‚einige’? Sie bleiben geheim. [...] Der Streit, die Polemik – er tut gut, besonders wenn er wichtige Fragen der zeitgenössischen Musiksprache berührt. Aber lasst uns aufzeigen, über was und zwischen wem der Streit geht. Lasst uns beweiskräftig und konkret streiten. Andernfalls verfehlt der gute Vorsatz A. Schnittkes – das Forschungstemperament der Musikwissenschaftler zu durchbrechen – sein Ziel. Mögen die Türen der neuen Musik geöffnet werden für unsere jungen Komponisten. Möge ihr Studium sich als neuer Ansporn in ihren Arbeiten erweisen.302

Aber was hatte Schnittke denn gesagt? Werfen wir einen Blick in Schnittkes zweiseitigen Brief an die Redaktion, so lassen sich auch hier Momente einer Kompromisssuche im Ricœurschen Sinne finden, aus denen deutlich wird, wie Schnittke sich die Anerkennung der offiziellen Kritik erhalten möchte: Ich habe natürlich nicht die verschiedenen Strömungen der westlichen Musikavantgarde, des Atonalismus usw. im Blick. Doch die traditionelle Harmonik ist selbst auch unfähig, die talentierte, überzeugende zeitgenössische Musik zu erläutern, die auf den ersten Blick völlig gewohnt klingt.303

299 Peter Sloterdijk, Die Verachtung der Massen. Versuch über Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 31. 300 Vgl. Aleksandr N. Volodin [Alexander N. Wolodin] und Nikolaj M. Merlaj [Nikolai M. Merlai], Medali SSSR = Medals of the USSR [Medaillen der UdSSR], St. Petersburg 1997 oder für die DDR Günter Tautz, Orden und Medaillen. Staatliche Auszeichnungen der Deutschen Demokratischen Republik, Leipzig 1983. 301 Al‘fred Šnitke [Alfred Schnittke], „Razvivat’ nauku o garmonii (Pis’mo v redakciju)“ [Die Wissenschaft über die Harmonik weiterentwickeln (Brief an die Redaktion)], in: SM 25 (1961), Heft 10, S. 44f. Eine ausführliche Besprechung dieses Briefes und seiner Resonanz findet sich in Christian Storch, „Schnittkes Brief an die Redaktion der Sovetskaja Muzyka. Ein Beitrag zu den Anfängen der Zweiten Sowjetischen Avantgarde“, in: Flechsig und Weiss (Hrsg.), Postmoderne (wie Anm. 3), noch keine Seitenangabe. 302 Abram Jusfin, „Davajte razberemsja“ [Lasst uns aufzeigen], in: SM 25 (1961), Heft 12, S. 47f. Russischer Originaltext im Anhang 2.10, S. 269. 303 Šnitke [Schnittke], „Razvivat’“ (wie Anm. 301), S. 44.

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In diesen beiden Sätzen wird nicht nur offenbar, wie Schnittke zunächst einen Kotau vor der offiziellen Zensur vollführt (natürlich spricht Schnittke nicht über westliche Musik!), um dann aber gleich im Anschluss Kritik an der Musikrezeption innerhalb seiner eigenen Wertegemeinschaft zu üben. Darüber hinaus sind diese beiden Sätze Synonym für das Verhalten der meisten Künstler in der UdSSR, die zwischen Anerkennungs-Streben und künstlerischer Freiheit nach Kompromissen suchten. Hier lässt sich der Bogen zurück zu Ricœur spannen, der dem Kompromiss den Verlust der eigenen Größe innerhalb des Begriffs der Größe beimisst. Denn einerseits gibt Schnittke seine eigene Größe als unabhängiger und freier Komponist mit seinem Beitritt zum Komponistenverband auf, andererseits gibt die Kritik ihre dogmatische Haltung gegenüber jeglichen Verbesserungsvorschlägen, die von außen kommen, auf. Dennoch bewahren beide ihr Gesicht durch den im Streben nach Anerkennung gefundenen Kompromiss. Einen Baustein dessen stellt Schnittkes Brief dar, der nach einer kurzen Betrachtung der Harmonik bei Carl Orff, Nikolai Rimski-Korsakow [Nikolaj Rimski-Korsakov], Prokofjew und Hindemith mit folgenden Sätzen endet: Die Musik steht nicht – sie geht voran in Siebenmeilenschritten, und jedes Jahr bringt neue künstlerische Entdeckungen. Auf euer Wort, Genossen Theoretiker!304

Schnittke begeht in diesem letzten Abschnitt seines Briefs einen Spagat, der die sozialistisch-realistische Kulturpolitik vor ein Dilemma stellt: Einerseits will sie vorgeben, was richtige – d.h. sozialistisch-realistische – Musik ist. Andererseits vergleicht Schnittke eine solche Haltung mit religiösem Fundamentalismus, der in einer atheistischen Gesellschaft wie der sowjetischen keinen Platz haben darf. Schnittke hat hier die reaktionären Kräfte mit ihren eigenen Waffen angegriffen und darüber hinaus eine Öffnung hin zu den gemäßigten westlichen Komponisten und deren Lehren gefordert. Dass damit auch die Tore zu den Komponisten geöffnet werden sollten, deren Namen unter den jungen Studierenden längst geläufig waren, lässt sich zwar nur vermuten. Schnittkes Hinweis auf das hohe Tempo der musikalischen Entwicklung ist allerdings ein deutlicher Hinweis, dass ihm Orff, Hindemith und Prokofjew lediglich als Vorlage dienten. Schnittkes Äußerungen können in ihrer Doppeldeutigkeit als sinnbildlich erachtet werden für den Spagatversuch vieler Komponisten, weder als offizieller Komponist anerkannt noch als Systemkritiker missachtet zu werden. Letztlich ist gerade diese Undeutlichkeit des potentiell selbstinszenierten ‚Weder-Noch’, die in einem politischen System wie dem der Sowjetunion nicht nur bei Schnittke zutage tritt, der Grund, weshalb ein auktorialer Diskurs unter dem Aspekt des Strebens nach Anerkennung notwendig ist. Dass sich Schnittke gegen eine Vereinnahmung durch den Komponistenverband zunächst gar nicht wehren konnte, zeigt die Erwähnung seines Kosmischen Poems in Tichon Chrennikows Artikel

304 Ebd., S. 45. Russischer Originaltext im Anhang 2.11, S. 269.

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„Auf dem Weg zu einer Musikkultur des Kommunismus“305. Möglicherweise kann eine Zurückweisung dieser Anerkennung nur künstlerisch ausfallen. Betrachten wir nun unter diesem Aspekt Schnittkes Verhalten in Bezug zur Musik für Klavier und Kammerorchester etwas genauer. Wie in Kapitel II.3.1 mit Hilfe von Genettes Texttheorie herausgefiltert wurde, können Selbstaussagen von Komponisten sowohl originaler (als Selbstbesprechung) als auch nachzeitiger (als später Selbstkommentar) Epitext sein. Dementsprechend können sowohl eine Eigen- als auch eine Fremdinszenierung entweder einer Komposition vorausgehen, während des Komponierens bzw. kurz danach oder aber wesentlich später als Rückblick konstituiert werden. Weiter oben wurde bereits die intentio auctoris recipiente operis sui als Bedingung für eine Eigeninszenierung als aposteriorisches Streben nach Anerkennung benannt. Schnittkes Eigenaussagen zur Musik für Klavier und Kammerorchester offenbaren zwei unterschiedliche Sichtweisen gegenüber dieser Komposition, denen unterschiedliche Adressaten eines Strebens nach Anerkennung zugesprochen werden können. Schnittkes Text zum Programmheft des Warschauer Herbstes betrachtet die Komposition unmittelbar vor ihrer In-Klang-Setzung aus einem wohlwollenden Blickwinkel. Gleichzeitig ist, wie schon erläutert wurde, die Musik für Klavier und Kammerorchester als Rekurs hin zu einer historisch offeneren Kompositionsweise zu verstehen, was sich auch an Schnittkes Vokabular (‚emotionale und dynamische Intensität‘) erkennen lässt und durch die unmittelbare Kritik im Tygodnik Powszechny mit dem Begriff ‚Brücken-‘ bzw. ‚Synthese-Werk‘ bestätigt wird.306 Dennoch wird, im Gegensatz zum Konzert für Klavier und Orchester und auch in Anbetracht biographischer Tatsachen wie der Arbeit an einer Webern-Gesamtausgabe und dem Treffen mit Luigi Nono, deutlich, dass ein neuer Adressat eines Strebens nach Anerkennung gefunden war, der nicht mehr aus der offiziellen Kulturpolitik bestand, sondern sich im Austausch mit westlichen zeitgenössischen Musikströmungen begründete: die Musikavantgarde und ihre Konstitution. Dies ist umso erstaunlicher, als sich die offizielle Kulturpolitik der Sowjetunion keineswegs von ihrer Aversion gegenüber dodekaphoner Musik verabschiedet hatte, wie ein Zitat Nikita Chruschtschows aus einer Rede vor Regierungs- und Parteivertretern sowie Kulturschaffenden am 8. März 1963 beweist: Wie sich erweist, gibt es unter den Geistesschaffenden junge Menschen, die zu beweisen suchen, die Melodie hätte in der Musik ihre Daseinsberechtigung verloren; sie werde von einer ‚neuen‘ Musik abgelöst, der ‚Dodekaphonie‘, einer Musik der Geräusche. Für einen normalen Menschen ist es schwer zu verstehen, was sich hinter dem Wort ‚Dodekaphonie‘ verbirgt; aber wahrscheinlich das gleiche, das hinter dem Wort ‚Kakophonie‘ steckt. Und eben diese ‚Kakophonie‘ werden wir in der Musik hinwegfegen, und zwar restlos. Unser Volk kann diesen Müll nicht in sein geistiges Rüstzeug aufnehmen.

305 Tichon Chrennikov [Chrennikow], „Na puti k muzykal’noj kul’ture kommunisma“ [Auf dem Weg zu einer Musikkultur des Kommunismus], in: SM 26 (1962), Heft 6, S. 3–26, hier S. 9. 306 Vgl. Anm. 79.

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Wir sind für eine begeisternde, zu kühnen Taten und zur Arbeit rufende Musik. Der Soldat nimmt, wenn er in den Kampf zieht, das mit, was er braucht; und er läßt das Orchester niemals zurück. Auf dem Marsch ist das Orchester eine Quelle der Begeisterung. Die Musik für solche Orchester können Komponisten schaffen und schaffen sie auch, die auf den Positionen des sozialistischen Realismus stehen, die nicht vom Leben und vom Kampf des Volkes losgelöst sind, die vom Volk unterstützt werden.307

Die Tatsache, dass Schnittke im Jahr 1963 (mit der Sonate Nr. 1 für Violine und Klavier) beginnt, zwölftönig zu komponieren, ist eine klare Absage an die vorher angenommene Wertegemeinschaft, die Aberkennung der eigenen, zuvor von jener verliehen bekommenen Anerkennung, jedoch ohne stilisierte Subversion. Dabei muss beachtet werden, dass der Impuls eines derartigen Verhaltens nicht von Schnittke ausging, sondern von Andrej Wolkonski [Volkonskij] und Denissow, die als die ersten der jüngeren Generation sich der Dodekaphonie und dem Serialismus schon Mitte bzw. gegen Ende der 1950er Jahre zuwandten.308 Nachzeitig zeichnet Schnittke ein völlig anderes Porträt dieser Zeit. Besonders im Hinblick auf seine Äußerungen gegenüber Walentina Cholopowa konstruiert Schnittke a posteriori ein negatives Bild dieser Komposition. Dennoch lässt sich auch hier ein Streben nach Anerkennung feststellen, und zwar – in abgewandelter Form – im Sinne von Honneths subversivem Anerkennungs-Streben: Im Nachhinein werden bestimmte Kompositionen, die Schnittke nun zu seiner ‚schwarzen‘ Periode zählt, missachtet, um in dieser Nachzeit sich Anerkennung zu verdienen. Damit aberkennt Schnittke sich selbst die Anerkennung, nach der er damals gestrebt hatte: „Mit der Avantgarde ist jetzt Schluß!“309 Schnittke hat mit der Zeit eine Wertegemeinschaft verlassen und ist in eine neue eingetreten, die mit der vorzeitigen in Konflikt geraten ist. Im selben Moment entwürdigt Schnittke, mit Honneth gesprochen, sein eigenes Schaffen einer bestimmten Zeit und schließt die darin enthaltenen Kompositionen sowie sich selbst aus dem ‚kulturellen Überlieferungshorizont‘ seiner damaligen Gesellschaft bzw. Wertegemeinschaft im Nachhinein aus: Ich war beim Warschauer Herbst, der mich enttäuschte nicht durch den Mangel an guten Werken, sondern durch das Niveau der mittelmäßigen. Jetzt weis [sic!] ich bestimmt, daß alles schon unmöglich ist: Reihenmusik, Aleatorik, Klangfarbenmusik etc. Scheinbar ist die Zeit […] wieder da, wo man nur dem eigenen Geschmack und Verstand vertrauen kann und kei-

307 Nikita Chruschtschow, „In hohem Ideengehalt und künstlerischer Meisterschaft liegt die Kraft der sowjetischen Literatur und Kunst. Rede auf dem Treffen führender Persönlichkeiten der Partei und Regierung mit Literatur- und Kunstschaffenden 8. März 1963“, in: ders., Reden zur Kulturpolitik 1956-1963, Berlin 1964, S. 226f. 308 Vgl. u.a. Peter J. Schmelz, „Andrey Volkonsky and the Beginnings of Unofficial Music in the Soviet Union”, in: JAMS 58 (2005), Heft 1, S. 139–207; ders., Listening (wie Anm. 6), S. 61–113; Dorothea Redepenning, Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik, Bd. 2, Laaber 2008, S. 650ff. sowie Marina Lobanova, Art. „Volkonskij, Andrej Michajlovič“, in: MGG2, Personenteil Bd. 17, Kassel u.a. 2007, Sp. 213f. und Valerija Cenova, Art. „Denisov, ödison Vasil’evič“, in: MGG2, Personenteil Bd. 5, Kassel u.a. 2001, Sp. 815. 309 Zitiert nach Schnittke, Leben (wie Anm. 106), S. 19.

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nen allgemeinen Konventionen – aber dann fällt man wieder in die Konvention der […] willkürlichen Romantik zurück. Schöne Aussichten für die Musik für die nächsten Jahre!“310

Aus diesem Briefzitat wird deutlich, dass für Schnittke die Wertegemeinschaft der (avantgardistischen) ‚allgemeinen Konventionen‘ nicht mehr den eigenen Wertvorstellungen entsprach, wenn er sämtliche Charakteristika der Neuen Musik dieser Zeit als ‚mittelmäßig‘ und ‚unmöglich‘ betrachtet. Im Laufe der Jahre hatte sich offenbar ein Überangebot gleichwertiger und gleicher Musik angehäuft, in dem Schnittke keinen Raum mehr zur eigenen Entfaltung und Profilierung finden konnte. Schnittkes Befürchtung, in Neo-Romantik zurückzufallen, schien sich jedoch in das genaue Gegenteil, nämlich die Propagierung der eigenen Historizität, umzuwandeln. Der große Erfolg der Symphonie Nr. 1 bei Publikum und Musikkritik führt in den vorliegenden Betrachtungen direkt zum Konzert für Klavier und Streicher, das in eben der Zeit entstand, in der Schnittke nach Anerkennung strebte, indem er sich unter anderem von früheren Kompositionen und der früheren Wertegemeinschaft distanzierte. Doch nicht nur das Missachten eines früheren Anerkennungs-Strebens war für das Komponieren in diesen Jahren bestimmend. Zwei weitere Konstituenten, die auch eine apriorische Funktion des Strebens nach Anerkennung innehaben, spielen eine noch größere Rolle, auch wenn letztere vor allem im Spätwerk evident wird: das Publikum und idem als ipse. Ricœur bezeichnet die Selbigkeit eines Individuums als idem, seine Selbstheit als ipse. Wir werden später auf diese Begriffe zurückkommen, es sei aber bereits hier exploriert, dass idem als ipse auftreten kann, selbst wenn idem ein alter (Andersheit) innewohnt, was, so Ricœur, für ipse problematisch ist. Da aber ipse als idem auftritt, kann somit auch alter enthalten sein.311 Wenden wir uns jedoch zunächst dem Streben nach Anerkennung beim Publikum zu. Spätestens seit der Aufführung des Concerto grosso Nr. 1 in Wien im Jahr 1977 war Schnittke im sogenannten Westen bekannt. Dabei war schon seine Symphonie Nr. 1, uraufgeführt am 09.02.1974 in Gorki, ein voller Erfolg, der in der SM auf 14 Seiten (!) besprochen wurde.312 Alexander Iwaschkin erinnert sich: Das Publikum [...] war begeistert; seitdem war man auf jede neue Komposition Schnittkes sehr gespannt. Schnittkes Erste Sinfonie ist nicht nur reine Musik. Sie klingt genau wie das Alltagsleben – Straßenmusik, klassische Zitate und leichte Walzerkost werden in diesem äußerst komplexen, heterogenen Kontext wie in einem Dokumentarfilm verschmolzen und vermischt.313

310 Brief Alfred Schnittkes an Tilo Medek vom 01.03.1969, in: Hofer (Hrsg.), Briefwechsel (wie Anm. 103), S. 47. 311 Vgl. Ricœur, Selbst (wie Anm. 206), S. 11f. und 173ff. 312 Mehrere Artikel unter der Überschrift „Obsuždaem simfoniju A. Šnitke“ [Wir besprechen die Sinfonie A. Schnittkes], in: SM 38 (1974), Heft 10, S. 12–26. Eine Analyse dieses Rundtischgesprächs ist zu finden bei Boris Belge, „Eruption in der Erosion – Alfred Schnittkes 1. Symphonie und der sowjetische Komponistenverband“, in: Flechsig und Storch (Hrsg.), Alfred Schnittke (wie Anm. 79), S. 27–49. 313 Iwaschkin, „‚...und wenn es mir den Hals bricht‘“ (wie Anm. 122), S. 27.

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Und weiter: Es ist eines meiner Lebensziele, sagte Schnittke über sein Concerto grosso Nummer 1, den Graben zwischen ernster und unterhaltender Musik zu überwinden, und wenn es mir den Hals bricht... Er hat dieses Ziel mehr als einmal mit Bravour erreicht.314

Dabei schien für Schnittke der Erfolg beim Publikum gar nicht relevant zu sein: „Sehen Sie, das Verständlichwerden ist nicht das Ziel, das ergibt sich vielleicht dabei“315 und „Dem Publikum begegne ich nur während des Konzertes, nicht früher und nicht später. Von fremden Meinungen [...] lasse ich mich nicht beeindrucken“316. Die erste dieser beiden Eigenaussagen Schnittkes, die am 08.12.1980, also fast genau ein Jahr nach der Uraufführung des Konzertes für Klavier und Streicher, gemacht wurde, ist wiederum als Versuch einer Kompromissfindung zu deuten, um nicht als gefälliger Komponist abgetitelt zu werden. Immerhin war Schnittke zu einem der berühmtesten Komponisten der Sowjetunion geworden, dessen Präsenz in der SM schon Ende der 1970er Jahre der Schostakowitschs in den 1950er und 1960er Jahren vergleichbar ist. Umso erstaunlicher ist Schnittkes Antwort auf folgende Frage Iwaschkins: [Alexander Iwaschkin] Ist für dich die Frage wichtig, für wen du schreibst? A[lfred] S[chnittke] Freilich ist das eine wichtige Frage für mich, jedoch beeinflußt sie nicht in entscheidendem Maße das, was ich mache. [...] Ich glaube, es wäre falsch, wenn ein Künstler gänzlich auf irgend etwas, darunter auch auf den Kompromiß, verzichten würde, obgleich es nichts Schlimmeres als den Kompromiß gibt. Das Leben stellt dem Künstler eine komplizierte Aufgabe und gibt ihm lediglich eine Chance, nicht aber das Rezept für die richtige Lösung. Aus diesem Grund würde ich mich nicht den strengen Verfechtern der Wahrheit anschließen, die schon allein die Möglichkeit eines Kompromisses von sich weisen. Aber ich geselle mich auch nicht zu denjenigen, die tagtäglich auf diesen höchst aktuellen, aber nie exakten Kompromiß hinarbeiten. Die Wahrheit liegt genau in der Mitte zwischen diesen beiden extremen Sphären. Sie vibriert und kennt keine Bindungen wie etwa die Kristalle.317

Im vorangehenden Kapitel wurden einige Artikelüberschriften aus Zeitungen und Zeitschriften zitiert, in denen die Anerkennung Alfred Schnittkes beim Publikum mehr als deutlich wurde. Richard Taruskin vermutet die Popularität der Autorschafts-figur Alfred Schnittke darin, dass „[…] [l]ike Shostakovich, Schnittke is very much the public orator”318. Für Alexander Wustin ist Schnittke „[…] vielleicht der letzte, wirklich organische Sinfoniker nach Mahler und Schostakowitsch“319. Sowohl 314 315 316 317 318 319

Ebd. Hansberger, „Alfred Schnittke im Gespräch“ (wie Anm. 207), S. 243. Schnittke, Leben (wie Anm. 106), S. 227. Ebd., S. 140 & 143. Taruskin, Defining Russia (wie Anm. 114), S. 100. Alexander Wustin, „In memoriam Alfred Schnittke“, in: MusikTexte (wie Anm. 89), S. 35.

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Taruskin als auch Alex Ross verweisen darauf, dass aufgrund semiotischer Aspekte320 und der polystilistischen Komponierweise Schnittkes Werke in ihrer In-KlangSetzung leicht zugänglich werden und, so Ross, sich gleichzeitig ein Personalstil mit einem eigenen Timbre entwickelt habe: If Schnittke were only an imp of the perverse, a composer of quasi-sonatas and nonsymphonies, he would be just another darling of the avant-garde. Since the mid-‘70s, however, he has approached the sacred genres of classical music more reverently: in the compact and emotionally intense Piano Quintet (1972/76), in the choral-orchestral Symphony No. 2 (1980), inspired by the St. Florian monastery where Bruckner performed and composed, and in the staggering two-movement String Trio (1985), dedicated to and worthy of the memory of Berg. And in writing a series of concertos for soloist and orchestra between 1978 and 1985, Schnittke has achieved and unusually accessible balance of competing styles with his own unmistakable timbre – an extension of the technique of Berg’s Violin Concerto, in which a progressive style served as frame for a rich and haunting succession of recollections and recombinations.321

Taruskin kommt zu dem Schluss, dass „[…] [n]o other composer writing today so fearlessly recycles clichés. The result is socialist realism minus socialism.”322 Auch in der Sovetskaja Muzyka wird nach den Ursachen für Schnittkes Erfolg gesucht. Juri Korew, dem wir an anderer Stelle schon einmal begegneten, kritisiert in einem Beitrag das Montagehafte in der ersten Symphonie, wünscht Schnittke und seiner Musik jedoch Erfolg, da er um deren Qualität weiß: [D]as Werk ist in den Traditionen der sowjetischen symphonischen Schule geplant, mit der für sie charakteristischen Großmaßstäblichkeit, als Empfindung des sozialen und als Weite des humanistischen Horizontes. [...] Von Herzen wünsche ich seiner Musik, dass sie sich durch die Masse der professionellen Traditionen hindurchschlägt und ins Leben eintritt.323

Jewgenja Tschigarjowa [Evgenija Čigarëva] bemerkt 1991, dass Schnittkes: [...] Name [...] ziemlich oft sowohl in der Allgemein- als auch in der Fachpresse auf[taucht]. Und das ist verständlich: heute ist er einer der berühmtesten und beliebtesten Komponisten. Ich wage sogar zu behaupten, dass für meine Generation Schnittke das ist, was Schostakowitsch für die vorangehende war. Seit Mitte der 70er Jahre (genauer gesagt, seit 1975 – dem Jahr des Todes Schostakowitschs und dem Jahr des ‚Requiems‘ Schnittkes) und bis in die heu-

320 321 322 323

Taruskin, Defining Russia (wie Anm. 114), S. 101. Alex Ross, „The Connoisseur of Chaos” (wie Anm. 195), S. 32f. Taruskin, Defining Russia (wie Anm. 114), S. 101. Jurij Korev über die Symphonie Nr. 1 von Alfred Schnittke, in: SM 38 (1974), Heft 10, S. 22 & 26. Russischer Originaltext im Anhang 2.12, S. 269.

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tigen Tage werden die Premieren Alfred Garrijewitschs wie ein persönliches Ereignis, wie ein Feiertag erlebt...324

Schnittke war im Laufe der Jahre zu einem international, wenn nicht gar weltweit berühmten Komponisten geworden. Er selbst hat, wie aus seinen Eigenaussagen hervorgeht, das bewusste publikumswirksame Komponieren als ein Streben nach Anerkennung abgestritten. Demzufolge scheint es, Ricœurs und Honneths Theorie folgend, sich hier um einen ‚geteilten Werthorizont‘ zu handeln, der die Anerkennung Schnittkes in einer internationalen Wertegemeinschaft, die offenbar bestehen muss, ermöglicht. Gleichzeitig müssen wir an dieser Stelle auf das vorangehende Kapitel verweisen, in dem von der Zirkularität der Autorkonstruktion als Prozess gesprochen wurde, was heißen soll, dass sich Schnittke seiner Berühmtheit bewusst war, noch dazu, als er aus der ganzen Welt Kompositionsaufträge erhielt. Er verfolgte auch die Presseberichte zumindest in der SM, wie aus seinen Gesprächen mit Alexander Iwaschkin hervorgeht. Demzufolge decken sich also Schnittkes eigene Wertvorstellungen in Bezug auf die Kompositionsästhetik mit den Wertvorstellungen eines weltweiten Publikums, wie moderne Musik klingen sollte, um innerhalb dieses eigenen Werthorizontes anerkannt zu werden. Der französische Kultursoziologe Pierre Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von verschlüsselten Codes, die beide Seiten, Komponist wie Publikum, zu entschlüsseln in der Lage sein müssen: Die Lesbarkeit eines Kunstwerkes hängt für ein bestimmtes Individuum von der Distanz zwischen dem Emissionsniveau (verstanden als Grad der immanenten Komplexität und Verfeinerung des vom Werk erforderten Codes) und dem Rezeptionsniveau ab (das sich daran bemißt, inwieweit das Individuum den sozialen Code beherrscht, der dem vom Werk erforderten Code mehr oder weniger angemessen sein kann).325

Für den israelischen Soziologen Moshe Zuckermann besteht, um die Lesbarkeit eines Kunstwerkes zu erhöhen, deshalb die Notwendigkeit: […] entweder die innere Komplexität des objektiven Kodes [zu] verminder[n] oder aber die Beherrschung des gesellschaftlichen Kodes [zu] erhöh[en] […]. Der einzige Weg, ersteres zu bewerkstelligen, besteht darin, mit dem Werk zugleich auch den Kode (etwa in verbaler oder graphischer Form) zu liefern, nach dem es kodiert ist.326

Was Zuckermann verschweigt, ist, dass der zu liefernde Code nicht nur verbal oder grafisch mitgeliefert werden, sondern aufgrund eines geteilten Wertehorizontes zwi324 Evgenija Čigareva [Jewgenja Tschigarjewa], „Oščuščenie beskonečno prodolžajuščejsja žizni“ [Die Wahrnehmung eines unendlich andauernden Lebens], in: SM 55 (1991), Heft 8, S. 13. Russischer Originaltext im Anhang 2.13, S. 269. 325 Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, aus dem Französischen übersetzt von Wolfgang Fietkau (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 107), Frankfurt am Main 51994, S. 176f. 326 Moshe Zuckermann, Kunst und Publikum. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner gesellschaftlichen Hintergehbarkeit, Göttingen 2002, S. 56.

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schen Emitent und Rezipient schon a priori im Kunstwerk enthalten sein kann. Auf dem Weg dahin jedoch offenbart sich die Zirkularität der Autorbildkonstruktion als Decoder, durch die es Emitent (Komponist) und Rezipient möglich ist, ihre Wertevorstellungen miteinander abzugleichen. Schnittke an dieser Stelle den Vorwurf zu machen, durch einen epigonalen Eklektizismus eben jenen Code mitzuliefern, der vom Publikum leicht verstanden werden kann, greift dennoch zu kurz. Wie die Partituranalyse des Konzertes für Klavier und Streicher und der bisherige Diskurs gezeigt haben, differieren die beiden Werkebenen als textus notarum und sonus teilweise so stark, dass ein Massenpublikum (das ja fast immer nur aus den auditores besteht) den im textus notarum encodierten Gehalt gar nicht decodieren kann, ohne ein hohes Maß an Kunstverständnis zu besitzen. Darüber hinaus ist Schnittke wenigstens der schöpferische Akt des Kompilierens zu unterstellen. Allerdings verweist Zuckermanns Ansatz auf die Selbstkommentare und Selbstbesprechungen Schnittkes, die zu zahlreichen seiner Werke vorliegen und damit, wenn auch nicht den Code zur Dechiffrierung des künstlerischen Gehalts seiner Werke, so doch eine oder mehrere Interpretationsoptionen liefern. Abschließend muss indes noch ein zweiter Aspekt der Autorinszenierung rekapituliert werden, der vor allem in Bezug zum Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester virulent wird und der weiter oben nur kurz und unzureichend angerissen wurde: die Frage nach der Selbstheit des Autors Alfred Schnittke. Paul Ricœur benennt in Das Selbst als ein Anderer zwei Identitäten des Selbst: die Selbstheit (ipse) und die Selbigkeit (idem). Wie oben schon ausgeführt wurde, kann die Selbigkeit als Selbstheit auftreten. Mit Selbigkeit ist das narrative Moment einer Identität gemeint, mit Selbstheit das personale.327 Die Selbigkeit eines Subjekts bzw. einer Figur, wie Ricœur es synonymisiert und damit auch die hier vorliegende Autorschaftsfigur meint, entsteht nicht aus sich selbst, sondern wird von außen konstruiert: Die Erzählung konstruiert die Identität der Figur, die man ihre narrative Identität nennen darf, indem sie die Identität der erzählten Geschichte konstruiert. Es ist die Identität der Geschichte, die die Identität der Figur bewirkt.328

In Bezug zur Autorschaftsfigur Alfred Schnittke werden hier die Unterschiede zwischen idem und ipse evident. Das Selbst Alfred Schnittke als ipse bezeichnet die Selbstheit im Sinne des Charakters, der Eigentreue als Vorstufe der Selbstbezogenheit, die sich im Vergleich mit idem ergibt und zu Eigeninszenierungen als Streben nach Anerkennung führen kann, die wiederum auf bestimmte Stufen von Selbstbezogenheit abzielt. Honneth führt dahingehend drei Formen von positiver Selbstbezogenheit eines Subjekts auf, gestaffelt nach der Art der Anerkennung: das Selbstver-

327 Vgl. Ricœur, Selbst (wie Anm. 206), S. 11. 328 Ebd., S. 182.

Der Autor als Konstrukt

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trauen (bei emotionaler Zuwendung), die Selbstachtung (bei kognitiver Achtung) und die Selbstschätzung (bei sozialer Wertschätzung).329 Das Selbst Alfred Schnittke als idem hingegen bezeichnet die Selbigkeit im Sinne seiner Wiedererkennbarkeit – als seine Autorschaftsfigur. Es muss ein gewisses Maß an ipse vorhanden sein, um idem überhaupt zu verifizieren, d.h. dass in der Selbigkeit Schnittkes auch immer ein Stück weit Selbstheit enthalten sein muss. Jedoch habe ich weiter oben formuliert, dass auch idem in ipse enthalten sein kann. Während der Analyse des Konzertes für Klavier vierhändig und Kammerorchester und dem interauktorialen Diskurs dazu wurde festgestellt, dass in dieser Komposition Eigenreferenzen enthalten sind, die auf frühere Werke Schnittkes verweisen und einen Personalstil formen. Dieser Personalstil bezieht sich sowohl auf die Selbigkeit der Autorschaftsfigur als auch auf die Selbstheit des Autors Alfred Schnittke. Der Personalstil, der am Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester vorliegt, umfasst, und hier war die Genese einer Theorie des stilistischen Palimpsests äußerst hilfreich, eine Fülle von früheren Stileigenschaften, so dass wir sagen können: Das ist typisch Schnittke! Er ist der derselbe, den wir auch aus früheren Werken kennen, selbst wenn wir seine Autorität über seine Werke aus strukturalistischer Sicht in Frage stellen wollten, da es sich ja hier um die Identifikation einer Autorschaftsfigur handelt. Dieser Derselbe als idem ist jedoch nicht gleich die Selbstheit Schnittkes, der Charakter und die Eigentreue als Vorstufe einer Selbstbezogenheit auf welcher Stufe auch immer. Ipse ist im Prinzip nur ein Teil von idem, aber eigentlich doch viel mehr als das, da idem immer auch auf ipse zurückverweist, ipse aber nicht zwangsläufig auf idem. Worum geht es aber an dieser Stelle genau? Es wurde davon gesprochen, dass Schnittkes Wertvorstellungen offenbar denen eines globalen Publikums entsprochen haben, so dass ihm weltweite Anerkennung widerfuhr. Gleichzeitig belegen Eigenaussagen Schnittkes eine Veränderung seiner Selbstbezogenheit, wie der folgende Satz verdeutlicht: „Deshalb musste man aus dem Kloster der Avantgarde fliehen, um sich treu zu bleiben.”330 Hier meint Schnittke seine Abkehr von der rein dodekaphonen Kompositionsweise, die schon an der Musik für Klavier und Kammerorchester festgestellt werden konnte. Im Interview mit Richard Steinitz im Jahr 1990 spricht Schnittke darüber, wie er sich seiner Ansicht nach gegenüber der offiziellen Kulturpolitik der Sowjetunion verhalten hat: I have never had any deliberate idea, for the sake of it, of writing against official music. It’s just that official music is completely uninteresting! It seems to me that if you do something in reaction against something else, then you cannot possibly be doing something for genuine reasons. If you are opposed to something, you do not like something, then the correct reaction is not to react at all, either positively or negatively, but to behave as though it wasn’t there. And then you will find your true self.331

329 Vgl. Honneth, Kampf um Anerkennung (wie Anm. 284), S. 211. 330 Alfred Schnittke zitiert nach Thomas Heyn, „Schreib-Art. Über Alfred Schnittke und sein Werk“, in: Musik und Gesellschaft 39 (1989), Heft 11, S. 595. 331 Alfred Schnittke zitiert nach Steinitz, „Interview with Alfred Schnittke“ (wie Anm. 194), S. 102.

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In seinen Gesprächen mit Alexander Iwaschkin Ende der 1980er Jahre konstatiert Schnittke: Ich werde niemanden nachahmen, ich will der bleiben, der ich bin… Ich habe mir gewahr gemacht, daß jeder das Recht hat, so zu sein, wie er ist, obwohl es zweifellos viele weitaus bedeutendere Persönlichkeiten gibt. Ansonsten würde man nur der Schatten anderer sein.332

Sich treu bleiben, das wahre Ich finden, der bleiben, der man ist: Korrelativ zu der sich im Laufe der Jahre entwickelnden Selbstbezogenheit mit Eigenreferenzen als Freilegung eines mehrdimensionalen Palimpsests auf der stilistischen Ebene ist Schnittke demnach nach eigener Überzeugung immer mehr zu seinem Selbst – seinem ipse – vorgedrungen. Damit wird aber deutlich, wie sich ein Streben nach Anerkennung aus einer intersubjektiven Konstellation in eine intrasubjektive verlagern kann, dass nämlich die Entdeckung und sukzessive Konturierung des ipse zwar zufälligerweise mit Kompromissfähigkeit mit anderen Wertegemeinschaften – in diesem Fall einem globalen Publikum – einhergeht, jedoch gleichzeitig ein Streben nach Anerkennung vor seiner Selbstheit bedeuten kann. Insofern wird der von Honneth benannte ‚intersubjektiv geteilte Werthorizont‘ zu einem intrasubjektiv reflexiven Werthorizont, bei dem die Anerkennung als soziale Wertschätzung hinter der Anerkennung als Selbstachtung zurücksteht. Nach Honneth steht allerdings auch die Selbstachtung als kognitive Ach-tung im intersubjektiven Disput. Hier jedoch schließt sich der Bogen zur Aussage des Eingangs. Das Selbst als ipse, das sich selbst achtet und diese Selbstachtung als Anerkennung aus seinem eigenen Werthorizont schöpft, schöpft in Wahrheit seine Selbstachtung aus seinem narrativen idem. Indem aber das narrative idem als Erzählung der Autorschaftsfigur Alfred Schnittke von außen konstruiert erzählt wird (Das ist Schnittke!), enthält also ipse, indem es idem enthält, immer auch das Andere – seien es Co-Autoren im Geiste, Fremdreferenzen anderer Art, Fremdkonstruktionen usw. usf. Insofern bleibt auch bei der Selbstbezogenheit der Anerkennung, die sich als Eigentreue und Sich-selbst-gefunden-haben vor sich selbst, also seinem ipse, ausdrückt, immer ein intersubjektives Moment enthalten, da die Selbstfindung als Exploration des ipse nur über den apriorischen Abgleich mit anderen Wertegemeinschaften funktioniert. Hier kann man Ricœurs Ausführungen über die Beschuldigung der einen Welt an eine andere anbringen. Denn die Frage ist hier, ob ipse noch ipse wäre, wenn aus dem Menschen, der Orchesterchef geworden ist, ein Industrieller geworden wäre. Hätte sich dann ipse nur als ein anderes idem ausgedrückt? Wir wollen dieser Frage nicht weiter nachgehen, müssen uns aber des Faktors Zeit in der Betrachtung von idem und ipse bewusst sein, da er in der Tat, wie Ricœur bemerkt, bei der Genese von idem konstitutiv ist.333

332 Schnittke, Leben (wie Anm. 106), S. 228. 333 Vgl. Ricœur, Selbst (wie Anm. 206), S. 11.

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Damit kehren wir zu dem zurück, was eingangs dieses Kapitels in Bezug auf Honneths Philosophie gesagt wurde, dass nämlich das Streben nach Anerkennung, ob vor anderen oder vor sich selbst, immer das Verhältnis eines Individuums gegenüber einer Gesellschaft bedeutet. In der Literaturwissenschaft sind unter diesem Aspekt Diskussionen geführt worden, die hinterfragen, ob und inwieweit ein Autor selbst implizit in sein Werk eingeschrieben sein kann. Da diese Frage für den vorliegenden Diskurs nicht nur unter dem Aspekt der Autorkonstruktion, sondern vor allem vor dem Hintergrund der Gattungsspezifik des Solokonzertes als Verhältnis eines Soloinstruments gegenüber einem Orchester und der Erkennbarkeit von ipse virulent ist, soll ihr im abschließenden Kapitel dieser Abhandlung nachgegangen werden.

3.4

Gattungsspezifik als Konstruktionshilfe. Das Soloinstrument als impliziter Autor?

Betrachten wir abschließend die Autorschaftsfigur Alfred Schnittke im Verhältnis zu seinen Klavierkonzerten unter der Prämisse ihrer Gattung, so offenbart diese Perspektive einen musikhistorischen Diskurs, der bis heute kontrovers geführt wird und analog zur literaturwissenschaftlichen Diskussion um den impliziten Autor funktioniert: die Spezifik der Gattung Solokonzert als Träger auktorialer Impliziertheit. Karol Berger geht selbstverständlich davon aus, dass „[...] [i]t is clear that also a musical voice can be thought to belong to a personage“334. Es soll an dieser Stelle kein historischer Abriss über die Debatte um die Implizitheit eines Komponisten im Soloinstrument innerhalb eines Solokonzertes vollzogen werden; hierfür verweise ich auf die entsprechende Literatur, die man gleichzeitig für eine historische Explanation der Inszenierung von Autorschaft heranziehen könnte.335 Jedoch weist dieser Diskurs, der ja immer auch Teil einer Rezeption ist, auf Schnittkes zahlreiche Solokonzerte im Allgemeinen und seine Klavierkonzerte im Besonderen hin. Einerseits können wir daher fragen, ob Schnittke sich selbst als Subjekt (im Sinne seiner Selbstheit, dem ipse) in seine Klavierkonzerte einschreibt, 334 Karol Berger, „The Text and Its Author”, in: Musik als Text (wie Anm. 34), S. 58f. 335 Einen historischen Überblick hierüber geben das Kapitel „Das Instrumentalkonzert von Beethoven bis auf die Gegenwart. Das Klavierkonzert“, in: Arnold Schering, Geschichte des Instrumentalkonzerts bis auf die Gegenwart, Leipzig 1905, S. 176–202; das Kapitel „Die künstlerische Intention“, in: Gerhard Heldt, Das deutsche nachromantische Violinkonzert von Brahms bis Pfitzner (Entstehung und Form) (= Kölner Beiträge zur Musikforschung 76), Regensburg 1973, S. 24–32; das Kapitel „Gefühle als Ausdruck des Subjekts im Sinne der Gefühlskundgabe und der Mitteilung an ein Gegenüber“, in: Gudrun Henneberg, Idee und Begriff des musikalischen Kunstwerks, Tutzing 1983, S. 96–101 sowie das Kapitel „Einsamkeit. Der Komponist am Clavier: Literarischer Topos und musikalische Wirklichkeit“, in: Laurenz Lütteken, Das Monologische als Denkform in der Musik zwischen 1760 und 1785 (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 24), Tübingen 1998, S. 279–286. Jeremy Norris sieht den Versuch, das Klavierkonzert als Träger persönlicher Emotionen seines Komponisten zu betrachten, kritisch. Vgl. Jeremy Norris, The Russian Piano Concerto. Volume I. The Nineteenth Century, Bloomington und Indianapolis 1994, S. 1ff.

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Der Komponist als Autor

indem er sich implizit als Soloinstrument gegenüber einer Gesellschaft inszeniert. Andererseits müssen wir in der Musik für Klavier und Kammerorchester auf gattungstransformierende Aspekte achten, ebenso im Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester auf die Duplizität des Soloinstruments. Drittens ist zu hinterfragen, ob Schnittke vielleicht extern als Autor in das Soloinstrument impliziert und damit – als Autorschaftsfigur bzw. idem – fremdinszeniert wird. Schließlich müssen wir zu Anfang diskutieren, ob es einen impliziten Autor in der Musik überhaupt geben kann, wurde doch in den vorangehenden Kapiteln immer betont, dass Theorien, die in der Literaturwissenschaft diskutiert werden, nicht so einfach auf Musik ob ihrer Andersartigkeit als Werk übertragen werden können. Beginnen wir deshalb zunächst mit der literaturtheoretischen Betrachtung eines impliziten Autors. Die Theorie vom impliziten Autor geht auf Wayne C. Booth zurück, der den Begriff ‚implied author‘ erstmals in seinem Buch The Rhetoric of Fiction prägte.336 Booths Ansatz geht davon aus, dass ein Autor aus einer kombinierten Implikation seitens des Lesers und des realen Autors selbst im Text implizit wird. Der implizite Autor erscheint sowohl als „des Autors ‚zweites Selbst’“ als auch „verschiedene offizielle Versionen seiner selbst“337. Damit wird der implizite Autor zum Bild eines realen Autors, das mithin von beiden Seiten, sowohl von der auktorialen als auch von der rezeptiven, konstruiert werden kann. Gérard Genette sieht den impliziten Autor kritisch und steht damit nicht allein. Auch Ansgar Nünning betrachtet die Diskussion um den ‚impliziten Autor’ insgesamt und schlägt ein Alternativmodell vor.338 Genette leuchtet zwar ein, dass der implizite Autor ein „[…] induzierter Autor [ist], wie ich ihn aus einem Text erschließe, ein Bild des Autors, das mir dessen Text suggeriert“339. Er fragt sich jedoch, wie „[…] ein Autor – in seinem Text – ein untreues Bild seiner selbst produzieren [kann]“340? Genette stellt zunächst zwei Arten von Erzählern eines narrativen Textes vor: den intradiegetischen Erzähler (Binnenerzähler) und den extradiegetischen Erzähler (Erzähler erster Stufe). Den intradiegetischen Erzähler schließt Genette als impliziten Autor aus. Er unterscheidet jedoch den extradiegetischen Erzähler vom realen Autor, der ersteren kommentierend unterwandern kann. Demzufolge lässt sich über den extradiegetischen Erzähler auf die Implizitheit des realen Autors in einem narrativen Text schließen. Fotis Jannidis schreibt dazu:

336 Vgl. Anm. 210. 337 Wayne C. Booth, „Der implizite Autor“, aus dem Englischen übersetzt von Alexander Polzin, in: Jannidis (Hrsg.), Theorie der Autorschaft (wie Anm. 149), S. 143. 338 Vgl. Ansgar Nünning, „Renaissance eines anthropomorphisierten Passeparouts oder Nachruf auf ein literaturkritisches Phantom? Überlegungen und Alternativen zum Konzept des ‚implied author’“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 67 (1993), Heft 1, S. 1–25. 339 Gérard Genette, „Implizierter Autor, implizierter Leser?“, in: ders., Die Erzählung, aus dem Französischen übersetzt von Andreas Knop (= UTB für Wissenschaft 8083: Literatur und Sprachwissenschaft), München 21998, S. 283–295. 340 Ebd., S. 287.

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Der (extradiegetische) Erzähler eines Textes wie Thomas Manns Joseph und seine Brüder kann eine andere Haltung gegenüber seiner Erzählung ausdrücken als die gestaltende Intelligenz des Autors, der als Urheber des Erzählers dessen Rede ironisch unterwandert und als primäre wertsetzende Instanz des Textes erkennbar ist. Um diesen Unterschied theoretisch erfassen zu können, erscheint es Genette notwendig, zwischen (extradiegetischem) Erzähler und Autor zu unterscheiden.341

Genette negiert andererseits die Unterscheidung zwischen implizitem und realem Autor. Er sieht in dem von einem Leser induzierten Bild eines Autors den für den Leser relevanten realen Autor: „So gesehen also ist der implizierte Autor der authentische reale Autor.“342 Meine Einstellung zum ‚implizierten Autor‘ bleibt also – in einem bestimmten Sinn – wesentlich negativ. In einem anderen Sinn ist sie wesentlich positiv. Alles hängt vom Status ab, den man diesem Begriff geben will. Meint man damit, dass der narrative Text, wie jeder andere auch, durch verschiedene punktuelle oder globale Anzeichen über den Erzähler (selbst den extradiegetischen) hinaus eine Vorstellung [idée] (ein besserer Ausdruck als ‚Bild‘) vom Autor induziert, so meint man damit etwas völlig Evidentes, dem ich nur zustimmen kann [...]. [...] Der implizierte Autor ist all das, was uns der Text über den Autor mitteilt, und sowenig wie jeder andere Leser sollte der Poetologe ihn vernachlässigen. [...] Jenseits des Erzählers gibt es jemanden, der schreibt und für alles, was diesseits von ihm liegt, verantwortlich ist. Dies ist, welche große Neuigkeit, schlicht und einfach der Autor, und mir scheint, wie schon Platon sagte, daß dies genügt.343

Bevor wir wieder zur Musik zurückkehren, fassen wir kurz Genettes Theorie zusammen: In narrativen Texten kann ein Erzähler erster Stufe auf einen impliziten Autor verweisen, der jedoch nichts anderes als der reale Autor ist. D.h. der reale Autor kann den von ihn geschaffenen extradiegetischen Erzähler kommentieren, um einem von ihm implizierten Leser (adäquat zu Umberto Ecos „Modell-Lesern“344) ein Bild seiner selbst zu vermitteln. Dabei ist der implizite Leser selbst auch nur ein Bild eines Lesers, für den Autor aber der für ihn reale Leser, so wie andererseits für den realen Leser ein impliziter Autor der für ihn reale Autor ist. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Implizitheit von Autorschaft in einem narrativen Text eine Inszenierung voraussetzt, die interdependent sowohl vom realen Autor als auch vom realen Leser ausgeht. Wir nähern uns hiermit wieder dem Inszenierungsphänomen bei Alfred Schnittke, wo wir doch dank Heinens Strukturationsmodell Eigen- und Fremdinszenierungen gegenübergestellt, potenziert und gegeneinander ausgespielt haben. Es hat sich bis hierher ein ganzes Knäuel von Fragen in sich verstrickt, das im Folgenden wieder etwas entflochten werden soll. Zunächst müssen die Erkenntnisse 341 Fotis Jannidis u.a., Einleitung zu Gérard Genette, „Implizierter Autor, implizierter Leser?“, in: Jannidis (Hrsg.), Theorie der Autorschaft (wie Anm. 149), S. 230f. 342 Genette, „Implizierter Autor, implizierter Leser?“ (wie Anm. 339), S. 288. 343 Ebd., S. 291. 344 Eco unterteilt den von ihm propagierten Modell-Leser in den „[…] naiven (semantischen) ModellLeser und den kritischen Modell-Leser“. Eco, Grenzen der Interpretation (wie Anm. 50), S. 43f.

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Der Komponist als Autor

bemüht werden, die in den vorangehenden Kapiteln bereits erzielt wurden. Es wurde festgestellt, dass ein musikalisches Werk nicht einfach einem literarischen Text gleichgesetzt werden kann, da das musikalische Werk eine doppelte, nämlich eine notentextliche und ein auditive Werkebene besitzt. Dies führt dazu, dass es auch nicht einfach einen realen Autor und einen realen Leser gibt, sondern dass der Komponist als Autorschaftsfigur mehrere Co-Autoren ‚mitschleppt’, der Rezipient hingegen sich in den Leser der Partitur, den Hörer ihrer In-Klang-Setzung und den Rezipienten beider Werktypen aufteilt. Marten wiederum spricht dem Komponisten als alleinigem Autor seine auctoritas über ein musikalisches Werk ab, da seiner Ansicht nach auch der Interpret und vor allem der Rezipient an der Genese eines Werkes beteiligt, also dessen Autoren sind. Damit wird nun, bevor überhaupt ein Blick in die Gattungsspezifik des Solokonzertes und dessen problematische Analogisierung mit einem narrativen Text gewagt werden kann, die ganze Crux des impliziten Autors in der Musik offenbar: Welcher Autor impliziert sich denn eigentlich, auf welcher Werkebene und für welchen impliziten Rezipienten? Welcher Rezipient impliziert welchen Autor auf welcher Werkebene? Kann es in Musik, zumal in Instrumentalmusik, überhaupt einen impliziten Autor geben? Die erste Problematik in der Beantwortung der letzten Frage wurde eben bereits angerissen. Instrumentalmusik kann, wie weiter oben schon mehrfach ausgeführt wurde, auf ihrer klanglichen Werkebene nur bedingt und wenn, vor allem nur abstrakt als Sprache funktionieren. Damit verliert sie aber, indem ihr dabei ihre Kompetenz des sprachlichen Ausdrucks verloren geht, gleichzeitig ein wesentliches Merkmal von Narrativität. Andererseits ist Musik als In-Klang-Setzung ein temporales Phänomen, das in seiner Zeitlichkeit dem Impetus des Narrativen analog ist, auch in einer gebrochenen Narrativität mit Rück- und Vorblenden usw. usf. durch Strukturationsmodelle, z.B. die Sonatenhauptsatz- oder Liedform. Was Musik im Gegensatz zur Literatur an Narrativität jedoch fehlt, ist die Differenz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit. Setzte man also den narrativen Text dem musikalischen Werk gleich, so ließen sich durch ‚verschiedene punktuelle oder globale Anzeichen‘, wie Genette sie nennt, Hinweise auf den impliziten bzw. einen dadurch implizierten Autor finden. Der Musikwissenschaftler Rainer Cadenbach unterstützt diese These: [W]eder fiktionale Literatur noch auch Musik bedarf zum Erweis ihrer Stimmigkeit, sozusagen zu ihrer ‚Sinnkonstitution’, ja sogar hinsichtlich ihrer inneren Konsistenz, der Stützung durch erkenntniskritische Theoreme und auch keiner Legitimation durch gattungsspezifische Systematisierungen des Materials oder der Techniken seiner Anwendung bzw. Bearbeitung. Die teilen Musik und Literatur, jedoch fehlt der Musik die für Sprache spezifische Sinnstruktur.345

Eine Analogisierung eines narrativen Textes mit einem musikalischen Werk würde allerdings eine, wie Sandra Heinen schreibt, gewisse Konvention der Deutungsfähig345 Rainer Cadenbach, „Der implizite Hörer? Zum Begriff einer ‚Rezeptionsästhetik’ als musikwissenschaftlicher Disziplin“, in: Danuser und Krummacher (Hrsg.), Rezeptionsästhetik (wie Anm. 31), S. 139.

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keit derartiger Anzeichen als solche Hinweise voraussetzen. Mit dem Verweis auf Heinen befinden wir uns wieder im Prozess der Fremdinszenierung von Autorschaft, die dadurch potenziert werden kann, als „[…] auch die Autoren um die Tendenz der Leser zur Konstruktion eines Autors wissen und sich deshalb so inszenieren, dass die Konstruktion des Lesers ‚ihren Absichten entspricht’“346. Ergänzend zu Heinens Kriterien der Differenzierung von Signalen einer Eigeninszenierung, die sie als „das Medium (1), die Häufigkeit (2) und die Explizitheit (3) von Signalen“347 definiert, können diese Aspekte auch im Hinblick auf den impliziten Autor bzw. Komponisten bemüht und damit die Frage aufgeworfen werden, wie explizit die Signale einer Implizitheit des Komponisten sein müssen, um ihn als im Solokonzert impliziert erkennen und interpretieren zu können, und vor allem auf welcher Werkebene. Im Prinzip spielt Heinens These der von Genette in die Hände, wenn ein Autor so schreiben kann, wie die Leser glauben, dass er schreiben würde, weil er weiß, dass die Leser so denken.348 Hier wäre eine Kongruenz von implizitem und realem Autor nahezu vollkommen und man würde Genettes Verdikt „Exit IA“349 [Impliziter Autor, Anm. d. Verf.] die Tür aufhalten. Doch sollten zunächst Genettes Erzählertypen genauer betrachtet und es sollte geklärt werden, ob – selbst wenn einem Solokonzert ein gewisses narratives Moment immanent ist – diese überhaupt für diese Gattung funktionieren. Denn es bleibt fraglich, wer der intradiegetische und/oder extradiegetische Erzähler sein soll. Das Soloinstrument als Gehalt transportierendes und damit der Erzählerfigur nahekommendes Individuum drängt sich dabei auf, doch kann das Orchester ob der ebenso rein instrumentalen Sprachlichkeit gleichermaßen als Erzähler gedeutet werden. In Schnittkes Musik für Klavier und Kammerorchester tritt das Klavier zudem als individuelles Soloinstrument zurück und erscheint als Einbettung in einem größeren klanglichen Kontext. Im Konzert für Klavier und Streicher wiederum steht dem exponierten Soloinstrument ein homogener Klangköper gegenüber, der damit genauso als Erzählerfigur taugt und aus dessen Perspektive sich die Dramaturgie der musikalischen Entwicklung ganz anders erzählen ließe. Schließlich deutet bereits der Titel des vierten Klavierkonzertes auf die Doppelgestalt des Soloinstruments in dieser Komposition hin, das somit – bei heterogenem Orchester – als zweifacher Erzähler auftreten müsste und die Frage nach der Eindeutigkeit oder besser Einzigartigkeit eines impliziten Autors aufwirft: Was, wenn es zwei implizite Autoren gäbe, die gegenseitig um die Vorherrschaft ihrer Impliziertheit konkurrieren?

346 Heinen, Literarische Inszenierung (wie Anm. 209), S. 16. Vgl. ebd., S. 44f. 347 Ebd., S. 54. 348 Zum Phänomen des ‚Impliziten Hörers‘ vgl. das Sonderheft des JRMA, hier besonders den Aufsatz von John Butt, „Do Musical Works Contain an Implied Listener? Towards a Theory of Musical Listening“, in: JRMA 135 (2010), Sonderheft 1, S. 5–18. Butt beschränkt sich hauptsächlich auf vokalinstrumentale Musik, die als Kirchenmusik oder Opernarie explizit auf bestimmte Hörergruppen ausgerichtet ist (Lehrcharakter bzw. Affekt). Auf Verweise zu Erkenntnissen der Literaturwissenschaft, aus der die Theorie des ‚impliziten Lesers‘ kommt, verzichtet Butt gänzlich. 349 Genette, „Implizierter Autor, implizierter Leser?“ (wie Anm. 339), S. 288.

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All diese Überlegungen setzen natürlich voraus, dass das Soloinstrument – falls es das überhaupt kann – als intradiegetischer und/oder extradiegetischer Erzähler funktioniert. Dabei ist die Unterscheidung zwischen intradiegetischem und extradiegetischem Erzähler in der Tat grundlegend, denn beides zugleich könnte das Soloinstrument, im vorliegenden Fall das Klavier, nicht sein. Eine Funktion als Binnenerzähler könnte das Klavier nur dann innehaben, wenn es in der Textur als eigenständiger Charakter erscheint. Dies ist in allen Klavierkonzerten und mithin in nahezu jedem Solokonzert der Fall. Nach Genette würde das Klavier dann aber als impliziter Autor und damit als konstruiertes Bild des Autors Alfred Schnittke ausscheiden. Die Frage wäre, was als extradiegetischer Erzähler funktioniert oder ob es diese Trennung zweier Erzählfiguren in der Musik, zumindest aber in der Gattung Solokonzert, überhaupt geben kann. Der Erzähler erster, zweiter etc. Stufe, also ein am unmittelbaren Geschehen nicht beteiligter Außenbetrachter, kann in instrumentaler Musik gar nicht erscheinen, da die Abstraktheit der musikalischen Sprache eine derartige Zuordnung sowohl in der Instrumentation als auch in der Verteilung des musikalischen Materials a priori negiert. Alle erklingenden Instrumente sind Teil der musikalischen Dramaturgie, lediglich eine Unterscheidung in Hauptakteure (Instrumente mit zentralem thematischem Material) und Nebenakteure (Instrumente mit Begleitfunktion) ist hier nachvollziehbar. Wollte man dahingehend eine Stimme oder ein bestimmtes Material als extradiegetischen Erzähler deuten, würde bereits die Auswahl des/der solchen die Absurdität dieses Aktes vorführen: Sollte es im Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester die Zwölftonreihe der Glocken sein, die das dramaturgische Geschehen einrahmt und durch das der reale Autor versucht, die Unmöglichkeit der Perfektion zu kommentieren? Oder sollte es das Doppelsekundmotiv sein, das als Quasizitat auf Schnittkes eigene Musikgeschichte rekurriert und dem Klavierkonzert damit die Perspektive einer biographischen Retrospektive verleiht, mit der sich der reale Autor als ipse impliziert? Allein diese beiden möglichen Erzählerzuweisungen zeigen, wie unmöglich die eindeutige Definition eines extradiegetischen Erzählers in instrumentaler Musik ist, der ja sowieso nie ein Erzähler erster, zweiter etc. Stufe sein kann. Somit ist eine Adaption der Genetteschen Theorie auf die (Instrumental-) Musik allgemein und Schnittkes Klavierkonzerte im Besonderen nicht möglich. Ein anderes Bild entsteht, wenn wir uns der Duplizität des musikalischen Werkbegriffs bewusst werden und Martens Postulat berücksichtigen, das von mehreren Autoren eines musikalischen Werkes ausgeht. Hier zeigt sich, dass der reale und eigentliche Autor, d.h. der Komponist, durch einen oder mehrere Interpreten auf der Bühne impliziert werden und damit ein intradiegetischer Erzähler konstruiert werden kann. Dass die Implizitheit eines Komponisten in seinem Werk auf der rezeptiven Seite erfolgt, wurde bereits erläutert. Nun muss dieser Sachverhalt etwas weiter differenziert werden, da eine potentielle Autorimplikation in der Musik auf einer mehrstufigen Struktur basiert. Zunächst eignen sich auf einer ersten Stufe der Interpret oder die Interpreten eine Partitur an. Ob sie dabei bereits einen Autor implizieren

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können, der nicht der reale Autor ist, sei dahingestellt, da sie sich im selben Moment selbst zu Autoren des auditiven Werkes konstituieren. Auf der zweiten Stufe treten der Interpret oder die Interpreten vor ein Publikum und führen ihre Interpretation einer Partitur, in die bereits ein Autor impliziert sein kann, auf. Hier kommt dem Solisten eine Sonderrolle zu, da er das herausgehobene Instrument – das aus dem Titel als Paratext der Partitur als solches erschlossen wird – bedient und somit a priori als Individuum wahrgenommen wird. Auf dieser zweiten Stufe kann ein Autor seitens des Publikums in das aufgeführte auditive Werk impliziert werden, während jenes gleichzeitig selbst ein Werk generiert (jeder einzelne Rezipient ein anderes). Bedingt durch die visuelle Präsenz des Solisten am Klavier, der noch dazu von einem Orchester unterstützt, konterkariert oder nicht beachtet wird – aber immer mit einer gewissen Hintergründigkeit – erscheint hier das Potential eines impliziten Autors (IA), der nicht der reale Autor (RA) ist: IA ≠ RA. Manet IA. Mit der Individualität und einer damit einhergehenden Subjekthaftigkeit des Soloinstruments und dessen Potential, auf der klanglichen Werkebene der Konstruktion eines impliziten Autors opportun zu sein, sind wir direkt in der Rezeption von Schnittkes Musik angelangt. Es soll hier keine Explikation des Subjektbegriffs in der Musik erfolgen, dies haben, aus unterschiedlicher Perspektive, unter anderem der Musikwissenschaftler Albrecht von Massow und der Psychoanalytiker Johannes Picht getan.350 Vielmehr soll betont werden, dass das musikalische Subjekt ein vom Rezipienten fiktiv konstruiertes ist, selbst wenn es vom Komponisten als solches intendiert gewesen war. Wie in Kapitel II.3.1 festgestellt wurde, basiert die Konstruktion einer Autorschaftsfigur auf vier Konstituenten, die gleichermaßen für die Konstruktion eines musikalisch fiktiven individuierten Subjekts gelten. Dieses wiederum gelangt als rezipiertes Konstrukt in den Inszenierungsprozess der Autorschaftsfigur, sowohl extern als auch intern, also vom Komponisten selbst ausgehend. Im Folgenden seien aus der Rezeption der Solokonzerte Schnittkes die adäquaten Zuschreibungen destilliert, die die vorliegende These untermauern. In Kapitel II.2.2 wurde kurz die Deutung des Solokonzertes als Synonym einer Individuum-Gesellschaft-Beziehung angerissen. Innerhalb dieser Zuschreibung wird durch die Rezeption der Werke Schnittkes eben diese Subjekthaftigkeit des Soloinstruments als Synonym des realen Autors Alfred Schnittke impliziert. Maria Kostakeva schreibt über Schnittkes Solokonzerte unter der Überschrift „Die Kadenz als Ich-Figur“: Die Idee der kreisenden und spiralförmigen Bewegung zeigt sich deutlich in den Kadenzen und kadenzartigen Episoden der Konzerte. Diese flüssigen und wandelbaren Gestaltungen haben mannigfaltige Funktionen: Einführung, Kommentar und Zusammenfassung von Ge350 Vgl. Albrecht von Massow, Musikalisches Subjekt. Idee und Erscheinung in der Moderne (= Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae 84), Freiburg im Breisgau 2001 und Johannes Picht, „Beethoven und die Krise des Subjekts, Teil I-IV“, in: Musik & Ästhetik 11 (2007), Heft 44, S. 5–26 sowie ders., „Beethoven und die Krise des Subjekts, Teil V-VI“, in: Musik & Ästhetik 12 (2008), Heft 45, S. 5–21.

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schehnissen, vor allem aber Nachdenken über die geistigen Werte, über das Leben und den Tod. Nicht zuletzt zeigen die Kadenzen in jedem Moment die diskrete Anwesenheit des Autors, der den unsichtbaren Faden der musikalischen Handlung zusammenhält.351

Gottfried Eberle betrachtet unter demselben Aspekt das Cellokonzert Nr. 1: ‚Unsere Wirklichkeit’, seine Wirklichkeit insbesondere, ist für Schnittke die Spannung zwischen Individuum und Umwelt. [...] Darum interessierte Schnittke von je die Gattung des Konzerts als eine Auseinandersetzung des oder der Einzelnen mit dem Kollektiv.352

Richard Taruskins Ausspruch wurde bereits zitiert, soll aber hier noch einmal exponiert werden: With a bluntness and an immodesty practically unseen since the days of Mahler, Mr. Schnittke tackles life-against-death, love-against-hate, good-against-evil and (especially in the concertos) I-against-the-world.353

Alexander Iwaschkin kommt noch einmal auf die Gattungsproblematik zurück. Auch dieses Zitat wurde schon gebracht: The music of Schnittke, especially his concertos and concerti grossi, is inseparable from personality – its bright content and delivery need a personal or subjective reading. The same kind of reading is needed on the part of the listener.354

Schließlich kehren wir zur Uraufführung von Schnittkes erstem Cellokonzert in München zurück. Hans Lehmann analogisiert nicht direkt das Soloinstrument mit dem realen Autor Schnittke, verweist aber damit umso stärker aus das Vorhandensein eines impliziten Autors, in dem er der Komposition die ‚Handschrift‘ des realen Autors zuspricht: Das Cello-Konzert Schnittkes trägt die Handschrift einer starken Persönlichkeit, die gelernt hat, Modeströmungen beiseitezulassen und eigene Wege zu gehen.355

Gerade die letzte Aussage macht deutlich, wie eine eindeutige Konnexion (Cellokonzert / Schnittke) zur Konstruktion einer Autorschaftsfigur führt, die nichts mit dem eigentlichen Autor aus der anfänglichen Verknüpfung zu tun haben muss. Denn vielleicht war Schnittke (als ipse) gar keine ‚starke Persönlichkeit‘? Durch die eben zitierten Rezeptionsdokumente wird deutlich, wie eine Subjekthaftigkeit des Soloinstruments so rezipiert wird, dass mit ihrer Hilfe ein Autor impliziert wird, der der reale Autor sein soll. Im Prinzip ist für den Rezipienten, der diesen 351 352 353 354 355

Kostakeva, „Traurigkeit“ (wie Anm. 173), S. 17. Eberle, „Stimme eines Vorsängers“ (wie Anm. 89), S. 49. Vgl. Anm. 189. Vgl. Anm. 2. Hans Lehmann, „Langsam und gemäßigt. Cello-Konzert Alfred Schnittkes in München uraufgeführt“, in: Kieler Nachrichten, 22.05.1986, S. 13.

Der Autor als Konstrukt

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Weg geht, der durch das Soloinstrument implizierte Autor der reale Autor. Um mit Genette zu sprechen: IA = RA. Exit IA. Gleichzeitig muss hier wiederum der Bogen zu vorangehenden Erkenntnissen gespannt werden, konkret zur Problematik von Interpretation und Überinterpretation. Da auf der notentextlichen Ebene ob des Mangels an diegesis, d.h. Erzählbarkeit, der implizite Autor gleich der reale Autor ist, auf der auditiven Ebene aber ein impliziter Autor aufgrund der Bühnenpräsenz des Pianisten und der ihn umgebenden weiteren Interpreten (nicht zu vergessen der Dirigent!) durchaus konstruiert werden kann, stehen die Interpretationen als Suche nach der intentio lectoris und nach der intentio auditoris in einem Missverhältnis. Das wäre nicht weiter schlimm, denn die Rezeption des auditiven Werkes könnte die Erkenntnisse aus einer Partituranalyse in die Implizitheit des gewünschten Autors hineinkonstruieren, so dass bei einer kombinierten Rezeption der Partitur und des auditiven Werkes die oben genannten Zuschreibungen durchaus logisch wären. Gleichwohl wurde eben darauf hingewiesen, dass die Konstituenten im Prozess der Autorinszenierung auch für die Konstruktion eines musikalischen Subjekts, das als Individuum die praeconditio für den impliziten Autor ist, gelten. Insofern fließt in die Rezeption eines auditiven Werkes, die sich um die intentio textus notarum wenig schert, nicht nur das Werk als drittes Konstituens ein, sondern auch die Annahmen und Vorurteile über Komponisten allgemein, die Eigenaussagen Schnittkes zu seinen Solokonzerten, anderen Kompositionen und der Welt als Ganzes als auch weitere Informationen über den Komponisten wie Biographie, sozialer Hintergrund und die mediale Vermittlung. Damit übersteigt der implizite Autor jedoch seine ursprüngliche Funktion als rein aus dem Text generierter Autor, der zwischen dem Erzähler und dem realen Autor steht. Es bleibt deshalb bis zum Schluss fraglich, ob die Gattung Solokonzert die Präsenz eines impliziten Autors unterstützt, der durch seine Subjekthaftigkeit Rückschlüsse auf den realen Autor Alfred Schnittke zulässt.

Zusammenfassung

Im dritten Kapitel dieser Abhandlung wurden einige Ansätze von Autorinszenierung in Bezug auf Alfred Schnittke und seine Klavierkonzerte besprochen und damit der Kreis, der mit der Analyse dieser Kompositionen (als Notentexte) begann und Möglichkeiten und Grenzen einer auktorialen Interpretation aufzeigte, wieder geschlossen. Abschließend soll deshalb ein Resümee dieses Diskurses gezogen werden. Die Analysen der Partituren der Klavierkonzerte haben Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede sowohl in der Formfindung als auch in der Materialbehandlung offenbart, die nach der Instanz des Komponisten rufen, der durch sein jeweiliges Verhältnis zu den einzelnen Konzerten diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede erklären soll. Die Synomymisierung des Begriffs des Komponisten mit dem des Autors ermöglichte die Interpretation der analysierten Notentexte in Bezug zu ihrem Autor, ihrer In-Klang-Setzung und deren Autoren sowie der Rezeption beider Werkebenen. Dabei wurde der Begriff der Interpretation in eine musikalische (Interpreten studieren ein Werk als Notentext ein und setzen es in Klang) und eine deutende (Rezipienten einer oder beider Werkebenen interpretieren das jeweilige Werk als Ausdeutung) Kategorie geteilt, die sich gegenseitig durchdringen können. Die zahlreichen Referenzen zu anderen Komponisten, sowohl in den Klavierkonzerten als auch in anderen Kompositionen durch Zitate, Plagiate oder Allusionen, verifizierten den Begriff der Interauktorialität, um zu überprüfen, inwieweit, im Sinne Gadamers, die vorliegenden interauktorialen Referenzen die Autorisierung des Anderen im Eigenen darstellen. Diesbezüglich musste jedoch der Begriff der Interauktorialität konturiert werden, um ihn nicht der Beliebigkeit in der Anwendung preiszugeben. Gleichzeitig teilte sich der konturierte Terminus in eine referentielle Interauktorialität, die auf der singulären Werkebene (notentextlich und/oder auditiv) auftritt, und eine stilistische Interauktorialität der Permanenz, die dauerhafte Referenzen zu anderen Komponisten meint, wie etwa die Verwendung des B-A-CH-Motivs oder polystilistische Kompositionsweisen mit Bezügen zu Mahler und Schostakowitsch. Im Zuge der Untersuchung der Klavierkonzerte auf interauktoriale Einflüsse wurde mit dem Begriff der Palimpsestierung eine Strukturationsebene geschaffen, die auf stilististische Kontinuitäten, Diskontinuitäten und Rekurse verweist. Die Erweiterung des Palimpsest-Gedankens auf die Musikgeschichte insgesamt verdeutlicht wiederum das Prinzip der Interauktorialität, die ab einem gewissen Zeitpunkt zum Maßstab von Schnittkes Komponieren wurde. In den Kapiteln II.2.2 und II.2.3 wurden die Grenzen der Interpretierbarkeit in zwei Richtungen aufgezeigt, zum Einen in die Richtung der biographischen Methode, zum Anderen in die Richtung der Absenz des Autors. Dabei wurde erkannt, dass

Zusammenfassung

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beide Methoden zu aufschlussreichen Erkenntnissen führen können, wenn eine gewisse Obacht in der Anwendung gewährleistet ist. Sowohl die Diskussion um Interauktorialität als auch die Auslotung der Grenzen der Interpretation ließen die Frage aufkommen, wieviel von dem, was von Schnittke selbst oder anderen über ihn und seine Kompositionen geäußert wird, auf Inszenierungsstrategien, die sowohl von Schnittke selbst als auch von anderen angewandt wurden, zurückgeht. In diesem Zusammenhang wurde auf Äußerungen Schnittkes zu seinen Klavierkonzerten hingewiesen, aus denen eine bestimmte Form der Eigeninterpretation hervorgeht, die mit dem Begriff der Inszenierung – der von dem der Theaterinszenierung zuvor klar abgegrenzt wurde – erklärbar ist. Darüber hinaus zeigten Rezeptionsdokumente von Schnittkes Musik auf, wie eine kombinierte Eigen- und Fremdsicht zur sogenannten Zirkularität der Autorbildkonstruktion beiträgt. Die Untersuchung von Inszenierungsstrategien an den Klavierkonzerten Schnittkes führte unweigerlich zu der Frage nach den Gründen für dieses Verhalten. Hier traten die Theorien von Paul Ricœur und Axel Honneth hervor, die sich mit dem Streben des Menschen nach Anerkennung, deren Gewährung sowie deren Verweigerung auseinandersetzen. Beim Diskurs über ein mögliches Anerkennungsstreben mit Hilfe des Konzertes für Klavier und Orchester wurde auf die kulturpolitische Situation um 1960 herum verwiesen, in der ein junger Komponist wie Alfred Schnittke am Beginn seiner Karriere stand, deren Verlauf maßgeblich durch sein Verhältnis zur offiziellen Kulturpolitik zu bestimmen war. Unter Anwendung der biographischen Methode wurde durch einen Blick in die umgebenden Kompositionen festgestellt, dass es sich hier tatsächlich um das Streben Schnittkes nach Anerkennung durch den Komponistenverband handeln konnte. Im Laufe der Jahre wandelten sich die Adressaten eines Strebens nach Anerkennung, bis am Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester das Streben Schnittkes nach Anerkennung offenbar vor sich selbst bzw. seiner Selbstheit in den Vordergrund rückte, was an anderer Stelle auch mit dem Einsetzen eines Spätstils begründet wurde, der auch bei anderen Komponisten zu ähnlichen Verhaltensmustern führt. Im Hinblick auf diese Eigenreferentialität musste abschließend ein Aspekt erörtert werden, der auch zuvor schon mehrmals angeklungen war, nun aber über ein literaturtheoretisches Motiv ausführlich diskutiert wurde: die Implizitheit des Autors Alfred Schnittke in seinen Klavierkonzerten. Auf Basis des impliziten Autors, den Gérard Genette destruiert, musste jedoch bis zum Schluss offenbleiben, ob das Soloinstrument als individuelles Instrument in der Lage ist, die Implizitheit Alfred Schnittkes in sich hervorzurufen und in einen gesellschaftlichen Kontrast mit dem Orchester zu stellen. Der vorliegende Diskurs, der an dieser Stelle beschlossen werden soll, war ein Weg, dessen Begehung aus sich selbst heraus entstanden ist. Das Ziel dieses Diskurses war es, Alfred Schnittke und seine Klavierkonzerte mit Hilfe literaturtheoretischer, soziologischer und philosophischer Theorien in ein Verhältnis zu ihrer beider Rezeption zu setzen. Aus dem Verhältnis sollten Interpretationsergebnisse erzielt

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werden, die über die musikwissenschaftliche Hermeneutik hinausgehen. Dieses Ziel wurde durch Erkenntnisse erreicht, die meiner Ansicht nach innerhalb der musikwissenschaftlichen Disziplin so nie hätten gewonnen werden können. Mit diesen Erkenntnissen ist es möglich, über die geschaffenen Strukturationsmodelle auch andere Werke Schnittkes sowie Werke anderer Komponisten zu ihrem jeweiligen Autor und ihrer Rezeption ins Verhältnis zu setzen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu offenbaren, die dem Gegenstand der historischen Musikwissenschaft mehr als dienlich sind. Die für den vorliegenden Diskurs ausgewählte Literatur sowie die Theorien zum Diskurs sind allerdings auch ein Teil des Diskurses um Autorschaft an sich, da diese von Autoren verfasst wurden, die man selbst innerhalb eines auktorialen Diskurses diskutieren und interpretieren kann. Darüber hinaus ist auch der Verfasser dieser Abhandlung bloß ein Autor, der sich so oder anders zu seinem ‚Werk‘ verhält. Das hat aber zur Folge, dass durch diese Mittelbarkeit des vorliegenden auktorialen Diskurses, dessen Rezeption sowie die Rezeption der hierin zugrunde liegenden Theorien, die selbst Teil eines Diskurses sind, die größtmögliche Distanz zum Thema der Abhandlung erreicht wird, vor der unerreichbaren Objektivität, die durch keinen Diskurs, welcher Art auch immer, eingenommen werden kann. Es war ferner ein Anliegen, den Satz ‚Das ist typisch Schnittke!‘ zu sezieren und auktorial zu hinterfragen, ein Satz, der auch für viele andere Komponisten so gerne adaptiert wird, ohne sich eingehender die Probleme und Fragen, die mit jedem einzelnen Lexem aufgeworfen werden, vor Augen zu führen: Das:

Der bestimmte Artikel als Neutrum verweist auf ein heterogenes Etwas, das mehrere Zuschreibungen in sich birgt, z.B. den Komponisten als auctor, die intentio auctoris, das Werk als Symbiose, den Stil, den Klang etc.

ist:

Etwas – das das – ist. Ist es als ipse oder als idem?

typisch:

Der Vergleich mehrerer Kompositionen Schnittkes innerhalb einer Gattung hat Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten in der Stilistik offenbart, die eine homogene Typologie unterbinden, wie sie in der Rezeption der Werke Schnittkes bis dato vorherrscht. Gleichzeitig pluralisieren die ermittelten Fremdreferenzen und interauktorialen Momente den Terminus ‚typisch’.

Schnittke:

Wofür steht ein Name? Für Biographie, für Stil, für die Implizitheit seines Trägers? Oder ist der Autor völlig überflüssig? Ist er bloß inszeniert, von innen, von außen? Wie viel Schnittke (als selbstbezogenes Subjekt, das ipse) steckt in Schnittke (als Autorschaftsfigur im Sinne seiner Wiedererkennbarkeit, dem idem)?

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Möglicherweise ist die Autorschaftsfigur bzw. das narrative idem der implizite Autor, der das Konstrukt eines realen Lesers ist, der wiederum durch seine intentio recipientis die Grenzen der Interpretation ein ums andere Mal überschreitet, in dem er aus dem realen Autor, der sich zugegebenermaßen gerne selbst in Szene setzt, um nach Anerkennung zu streben, dieses Konstrukt formt. Die gewonnenen Resultate legen nahe, den auktorialen Diskurs, wie er in der vorliegenden Arbeit am Beispiel Alfred Schnittkes und seiner Klavierkonzerte geführt wurde, auch bei anderen Komponisten und deren Werken zu führen.

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Anhang 1 – E-Mail-Korrespondenz 1.1 16.06.2005 von Alexander Iwaschkin [Christian Storch] Dear Mr Ivashkin, Thank you for email you sent me in May. I hope the exams of your students were quite successful. Unfortunately I don't live in UK, but in Germany. So it would be difficult for me to come over for a personal talk. I hope that you can help me via email. Recently I got the score of the Concerto for Piano four hands and Chamber Orchestra. While reading through it I recognized that Schnittke's approach to work on musical material hadn't changed much since his Concerto for Piano and Strings, written before his first stroke. Though all elements seem to be shorter and less "ready" and complete, e.g. harmonic clusters, polytonality, polystylistic elements and melodic themes. Especially the thematic material seldomly comes to an end, it seems that an idea always stops before its development is finished. Could this be traced back to Schnittke's new understanding of time, the fact that to him a minute had more time after his stroke than it had before? [Alexander Iwaschkin] I think this is typical for any of Schnittke works. I would call it 'negative' development. Schnittke takes us on board of say, sonata allegro form, which eventually collapses without any visible reason / result. It is a philosophical issue, rather than a technical 'fault'. I also think that the fourhand Concerto is quite different from the Concerto for piano / strings. The material itself is much more 'neutral', 'sterile', with no allusions, no extra-musical elements. [Christian Storch] Another question concerns the Concerto for Piano and Strings: What would you regard as thematic material, only the first piano sequence from bar 1 to 8, or, as Mrs Cholopowa calls it, the "unanswered question" in bars 9 to 12 as well? I have some problems with calling all these things "theme", I would rather use the term "motif" for three elements building up the whole concert: the "thematic motif" from bars 1 to 8; the "rhythmic motif" in bars 9 to 12 and the "chord motif" starting in bar 24. A friend of mine, who is much into Jazz and Blues, is currently analysing the blues part within the concerto. As he told me yesterday, even here Schnittke builds up clusters of polytonality and thus brings different musical styles together. [Alexander Iwaschkin] I think it is more important to say that there are different stylistic elements in the Piano concerto. Schnittke plays with stylistic elements, not with conventional 'themes'. One is the descending third - actually a replica of his door bell in Moscow flat in 1970s-1980s... The second is a 'chorale' and so on. Clusters are so typical for Schnittke, so you can find them anywhere. For him I think, it was a means of making a 'dirt' (in a positive sense, just as John Cage's statement about Ives' 'dirt') Are you writing a dissertation on Schnittke or what? If so, who is your supervisor? Kind regards Alexander Ivashkin

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1.2 18.02.2008 von Alexander Iwaschkin Dear Christian, Concerto was performed by Leonid Brumberg (piano) and the State SO of the USSR, conductor Vladimir Bakharev in the Great Hall of Moscow Conservatoire. (this info is from 'Besedy', do you have the book?) Irina, who is now here in London, thinks that the performance date might have been Spring 1961 as she remembers that Alfred was writing this Concerto over the summer of 1960, and went to join her on Black Sea resort. He then returned to Moscow and continued his work on the Concerto. Therefore, she thinks it is unlikely that the Concerto was performed in 1960, it would have been too soon. The date 1960 was given to me by Alfred himself, but he may have forgotten. Regards

Anhang 2 – Fremdsprachige Originaltexte 2.1 Dmitrij Šul’gin [Dmitri Schulgin], Gody neistvestnosti Al’freda Šnitke [Die unbekannten Jahre Alfred Schnittkes], S. 36. Три части: Allegro, Andante, Allegro. Исполнялся до сегодняшнего дня только один раз пианистом Леонидом Брумбергом и вторым оркестром Радио под управлением Бахарева. В этом же составе был записан, но не печатался. Концерт сам по себе традиционен: с токкатной первой частью; несколько классической медленной, условно трагической второй частью (трагической в кавычках) и моторным финалом. Я увлекался в этот период Хиндемитом — отсюда квартовость и линеарность гармонической структуры. Из ладово интересных для меня моментов осталась гамма тонполутон с опорой не на уменьшенный септаккорд, а на входящие в ее состав кварты и квинты и на аккорд номер один из книги Холопова (тритонсептаккорд большой. — Д.Ш.). Это то, что встречается в моих сочинениях и до сих пор.

2.2 Programmheft zum Festival Warschauer Herbst 1965, ohne Seitenangabe. J'ai essayé dans cette œuvre de soumettre la technique sérielle aux oscillations d'intensité émotionnelle et dynamique. La méthode de travail fut la suivante : l. plan général émotionnel et dynamique, 2. création d'un modèle-formule mathématique par les combinaisons de l6 suites mélodiques, exprimant des dépendances d'intervalle des sons appartenants à la série choisie, 3. réalisation du modèle – le texte noté. Le modèle pourrait posséder un grand nombre de variantes de réalisation. Dans le présent cas le même modèle est réalisé trois fois : dans l'introduction au 1er mouvement, dans la cadence du piano avant le final et dans la coda du final. L'introduction au 1er mouvement est une exposition graduelle de tous les instruments selon l'augmentation de leur intensité de timbre ou de registre. C'est le piano qui entre le dernier et là commence l’épisode principal de ce mouvement : un dialogue du piano (différents timbres) avec l'orchestre (les sons des instruments particuliers qui se rapprochent et s'éloignent comme des « rayons » sonores, en se liant parfois en des « faisceaux de rayons »). 2e mouvement - le centre de l'œuvre : sa base est constituée d'une ligne mélodique suivie (« tronc »), qui est enlacé de différentes voix en contrepoint (« branches »). Chaque « branche »

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provient d'un son du « tronc », se développant ensuite d'une façon autonome. Au début les deux éléments sont confiés au piano solo. Ensuite l'orchestre les reprend, tout en les conduisant vers un point culminant pour rendre après l'initiative au soliste. La coda du 2e mouvement est un contrepoint des timbres du piano ( « tronc » ) et de l'orchestre (« bronches »). En augmentant, la cadence du piano conduit ou final. La dynamique de l'évolution motorique, inexploitée jusqu'ici, domine dans ce passage (le final est une chaîne de variations de facture, basées sur un basso ostinato). Les introductions de tous les instruments avec de[s] différentes variantes de la série (une sorte de fugato avec le thème traité comme variation) aboutissent à la culmination : un large accord ondoyant (série verticale). Dans la coda, où le « modèle » de l'introduction au 1er mouvement est réalisé pour la troisième fois, l'é1ément mélodique laisse place libre aux glissé, aux trilles, aux tremolos. L'œuvre s'achève en des flux montants des glissés. Alfred Chnitke

2.3 Dmitrij Šul’gin [Dmitri Schulgin], Gody neistvestnosti Al’freda Šnitke, S. 40f. "Музыка для фортепиано и камерного оркестра" писалась в том же году, что и "Музыка для камерного оркестра" — в 1964. По технике они схожи. Но второе произведение более живое. Здесь три части: напряженная, но не очень быстрая первая; медленная — вторая и быстрая — третья. Между двумя последними частями — большая фортепианная каденция. Она также сериальная, строго рассчитанная (серия, кажется, всеинтервальная, не симметричная, без тритоновой середины). В сочинении применены интересовавшие меня в тот период некоторые формальные приемы. Например, одна и та же структурная модель, составленная из определенного ритма вступления голосов и их определенного числа, а также определенных интервалов, была мною реализована трижды, но на разном материале: во вступлении к первой части; затем, те же ноты, но изложенные совершенно иначе — гетерофонно, что было удобно для фортепиано — в каденции рояля, и эта же модель стала кодой сочинения, где та же структура дала уже не ноты, а глиссандо и кластеры. Во второй части есть очень интересовавший меня тогда прием, который условно можно назвать "деревом", имея в виду форму композиции. (До сих пор я еще не повторял этого приема, но, возможно, использую его когда-нибудь.) Ствол "дерева" — цепь транспозиций основной серии — как бы пассакалия, где тема меняет тональность и ритм, ответвления от него — ветви — это унисон, с которого начинается серия в новой транспозиции и движущаяся параллельно остальному развитию, а от этой "ветви" — свои ответвления, возникающие то гуще, то реже. В результате форма "дерева" была в произведении выполнена очень последовательно, выполнена на основе строгой серийной прочитанности, то есть абсолютно все исходило из цифрового ряда и именно это, очевидно, для меня там самое интересное.В третьей части — нечто аналогичное. Здесь остинатный бас, как в фуге. Исполняется он по очереди контрабасом и виолончелью — является опять же "стволом", стержнем, основой структуры, а поверх него прорастают краткие мотивы, линии, разные отдельные звуковые точки.В общем, пьеса получилась динамичной и воспринималась довольно хорошо. Ее сыграли несколько раз: на "Варшавской осени" в 65 году и тогда же она была исполнена Рождественским в Ленинграде, (два раза подряд) вместе с пианисткой Тальрозе. Это исполнение было очень удачным; затем, где-то в США и потом в Бельгии на фестивале современной музыки в 63 году. В ГДР пьесу записали. Но сейчас я отношусь к ней несколько прохладнее, потому что она чересчур пересушена серийной догматической техникой, однако формальная идея "дерева" кажется мне до сих пор интересной. — А в "Пианиссимо" нет отражения этой формы?

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— Есть. Но это не столько "дерево", сколько сгущающийся пучок, — нет самого принципа ответвления. — "Ствол" этого пучка — партия струнных? — Да, там применяется прием застревания каких-то следов до конца движения, но самих ответвлений нет. Форма "дерева" мне кажется очень перспективной в определенных драматургических направлениях.

2.4 David Rabinovič [Rabinowitsch] über Alfred Schnittkes frühe Symphonie, in: SM 21 (1957), Heft 4, S. 154. „Музыкальный язык А. Шнитке не обрел еще необходимой творческой самостоятельности. Порою в нем слишком отчетливо ощущаются, видимо, пришедшие через Е. Голубева, воздействия стиля Н. Мясковского: сумеречный, «пепельный» колорит в эпизодах лирических раздумий, подчеркнутый характерной диссонантностью гармонических комплексов. Разумеется, молодой композитор черпает из очень хорошего источника, но все же хочется пожелать ему успехов в поисках собственных выразительных средств.“

2.5 Aleksandr Ikonnikov [Alexander Ikonnikow] über Alfred Schnittkes Violinkonzert [Nr. 1] und die Kantate Ein Wort über das Heer Igors von Roman Ledenjov [Ledenjow], SM 22 (1958), Heft 5, S. 96f. После Andante и Скерцо из Скрипичного концерта Шнитке у нас сложилось впечатление, что и этот автор прежде всего озабочен «изобретением» музыки, поисками оригинальных гармонических и оркестровых приемов. Во всем этом, так же как и в изложении сольной партии скрипки А. Шнитке обнаруживает незаурадный строй музыки, в котором преобладают эмоции своего рода экзальтированной меланхолии (Andante) и придлучивой фантастики (Скерцо). Мы были бы рады, если бы кантата «Слово о полку Игореве» и Скипичный концерт, исполненные целиком, убедили нас в преждевременности наших замечаний.

2.6 Sergej Aksjuk, „Mysli kompozitora“ [Gedanken des Komponisten], in: SM 23 (1959), Heft 1, S. 27. Нет-нет да и проглянет в творчестве молодых то уродливая гримаса, то декадентская ужимка; тогда загрязняется чувстсо, мутнеет мысль. Молодой и одаренный композитор А. Шнитке (Москва) позакал недавно а Союзе свою ораторию «Нагасаки», в мызыке которой переданы паника, страх, истерическая взвинченность чувств. Старые приемы и идеи «гиньоля», экспрессионисткой «драмы ужасов» вновь возникают у молодого советского композитора, понявшего трагедию Нагасаки только как крик отчаяния.

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2.7 Jurij Korev [Juri Korew], „Nagasaki“, in: SM 23 (1959), Heft 11, S. 35f. & 39. Укажаем и на профессионально зрелый, уверенный композиторский почерк А. Шнитке. Просты и, в то же время, своеобразны найденные им оркестровые средства (струнные, фортепьяно и орган), гармонический колорит, создаваемый последовательностью натуральных звукосочетаний. (S. 35f.) […] Бесспорно, концертные организации не должны пропагандировать неудачную, серую, безыдейную музыку. Но мы убеждены, что ни одно из этих определений не подходит к произведению А. Шнитке. С ним непременно надо познакомить слушателей, и пусть они выскажут окончательное суждение об оратории. (S. 39)

2.8 Boris Terentev [Terentjew] über Nagasaki, in: SM 24 (1960), Heft 4, S. 72. Другой пример – оратория А. Шнитке «Нагасаки». Это талантливый автор, но сочинение он написал ноющее, в нем нет уверенности в будущем, подлинного оптимизма. Не удовлетворил меня и Квартет Э. Тамберга.

2.9 Vladimir Zak [Wladimir Sak], „Pesni vojny i mira“ [Lieder von Krieg und Frieden] SM 25 (1961), Heft 3, S. 37–41. Шумно в вестибюле Большого зала консерватории. Только что окончился концерт... И среди разных голосов внятно слышится: «Шнитке. «Песни войны и мира» - талантливое произведение, содержательное...» Действительно так! (S. 37) […] Композиторский почерк А. Шнитке становится все более отчетливым. Явственно обнаруживаются склонности автора к определенному типу русской мелодики, богатой ладовыми красками, характерным квартосекундовым гармоническим сочетаниям, сложным и «капризным» метроритмическим комбинациям. Но, радуясь кристаллизации нового профессионально крепкого таланта, хотелось бы предостеречь молодого автора от нарочитой терпкости гармонии, сопровождающей народную песню (тема Родины). Вряд ли стоило здесь параллельно монтировать «одновысотные» тоники. Не слишком ли это жестко для лирической распевной темы? Не вполне удались автору «враждебные» образы во второй части кантаты. Видно, он находился под влиянием темы нашествия из Седьмой симфонии Д. Шостаковича. Но увы! Несмотря на гротесковость изложения («отрывистые» контрафаготы с кларнетами), музыка напоминает скорее остроумную мультипликацию, нежели воссоздает образ жестокого и беспощадного врага. Думается, гротеск здесь не случайно получился «не страшный». И все же хочется сказать традиционное: «несмотря на некоторые недостатки...» Да, это несомненно творческая удача композитора. И самое примечательное – кантата создана на материале современной песни, идущей от сердец миллионов наших соотечественников. Кантата А. Шнитке – это, пожалуй, единственное за последнее время вокальносимфоническое сочинение, почти целиком основанное на современном фольклоре. Поэтому удача композитора глубоко поучительна для всей композиторской молодежи. И, обращаяась к ней, хочется сказать: не чурайтесь современной песни! Послушайте, как звучит она в кантате Шнитке! Смелее черпайте из неиссякаемых родников музыкального творчества наших людей – строителей светлого будущего. (S. 41)

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2.10 Abram Jusfin, „Davajte razberemsja“ [Lasst uns aufzeigen], in: SM 25 (1961), Heft 12, S. 47f. На протяжении двух журнальных полос А. Шнитке упрекает некоторых теоретиков за верхоглядство, поверхностность, втискивание музыки в корсет функциональности и т.д. и т.п. Хочется спросить: кто они, эти «некоторые»? Сие остается тайной. […] Спор, полемика – дело хорошее, особенно когда он затрагивает важнейшие вопросы современного музыкального языка. Но давайте разберемся, о чем и с кем идет спор. Иначе благое намерение А. Шнитке – пробудить исследовательский темперамент музыковедов – пробьет мимо цели. А намерение важное, своевременное, подсказанное жизнью. Пусть двери новой музыки будут открыты для наших молодых композиторов. Пусть ее изучение явится новым стимулом в их творческой работе.

2.11 Al‘fred Šnitke [Alfred Schnittke], „Razvivat’ nauku o garmonii (Pis’mo v redakciju)“ [Die Wissenschaft über die Harmonik weiterentwickeln (Brief an die Redak-tion)], in: SM 25 (1961), Heft 10, S. 44f. Я имею в виду, конечно, не различные течения западного музыкального авангардизма, атонализм и пр. Но ведь традиционная гармония неспособна объяснить даже талантливую, яркую современную музыку, на первый взгляд звучащую вполне прибычно. (S. 44) […] Музыка не ждет – она идет вперед семимильными шагами, и каждый год приносит новые художественные открытия. За вами слово, товарищи теоретики! (S. 45)

2.12 Jurij Korev [Juri Korew] über die Symphonie Nr. 1 von Alfred Schnittke, in: SM 38 (1974), Heft 10, S. 22 & 26. Так что и в самом деле можно сказать: произведение задумано в традициях советской симфонической школы, с характерными для нее крупномасштабностью, чувством социального, широтой гуманитарного кругозора. (S. 22) […] От души желаю его музыке всегда пробиваться сквозь толщу профессиональных традиций и выходить в жизнь. (S. 26)

2.13 Evgenija Čigarëva [Jewgenja Tschigarjewa], „Oščuščenie beskonečno prodolžajuščejsja žizni“ [Die Wahrnehmung eines unendlich andauernden Lebens], in: SM 55 (1991), Heft 8, S. 13. Его имя довольно часто мелькает в прессе, общей и специальной. И это понятно: сегодня он – один из самых популярных и любимых композиторов. Рискну даже сказать, что для моего поколения Шнитке то же, что Шостакович для предшествующего. Начиная с середины 70-х годов (кстати, 1975-й – год смерти Шостаковича и год «Реквиема» Шнитке) и до сегодняшнего дня премьеры Альфреда Гарриевича переживаются как личное событие, как праздник...

Bibliographie

Die folgende Bibliographie gibt einen Überblick über die in dieser Arbeit verwendeten Musikalien und die Sekundärliteratur. Aufsätze in Herausgeberschriften und Reihen, Artikel in Lexika sowie Beiträge in Zeitschriften und Zeitungen werden gesondert aufgeführt. Die Titel von Herausgeberschriften werden jedoch an dieser Stelle nur in Kurzform genannt, sind aber unter den Namen der jeweiligen Herausgeber mit vollständiger bibliographischer Angabe aufgelistet. Russische Verfassernamen erscheinen, sofern ihre Beiträge auf russisch verfasst sind, unter ihrer wissenschaftlich transliterierten Übersetzung, z.B. Šostakovič für Schostakowitsch.

I. Verzeichnis der verwendeten Musikalien I.1 Handschriften SCHNITTKE, Alfred: Musik für Klavier und Kammerorchester, Faksimile des Autographs, AlfredSchnittke-Archiv London, Mappe 21. SCHNITTKE, Alfred: Symphonie (Nr. 0, 1956/57), Faksimile des Autographs, Alfred-SchnittkeArchiv London, Mappe 35. SCHNITTKE, Alfred: Violinkonzert Nr. 1, Faksimile des Autographs der Urfassung, AlfredSchnittke-Archiv London, Mappe 78.

I.2 Drucke BERG, Alban: Kammerkonzert für Klavier und Geige mit dreizehn Bläsern, in: Musikalische Werke. Konzerte, Bd. 5, Teil 1, hrsg. von Douglas Jarman (= Sämtliche Werke I), Wien: Universal Edition 2004. BRUCKNER, Anton: 7. Symphonie E-Dur, in: Sämtliche Werke, Bd. 7, hrsg. von Leopold Nowak (= Kritische Gesamtausgabe 7), Wien: Musikwissenschaftlicher Verlag der Internationalen Bruckner-Gesellschaft 1954. KAGEL, Mauricio: Exotica für außereuropäische Instrumente, London: Universal Edition 1974, UE 15195. MAHLER, Gustav: Klavierquartett 1. Satz, in: Sämtliche Werke, Supplement Bd. 3, hrsg. von der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft (= Kritische Gesamtausgabe, Supplement, 3), Wien 2000. SCHNITTKE, Alfred: 2. Symphonie St. Florian für Kammerchor und großes Orchester, Wien: Universal Edition 1980, UE 17188. SCHNITTKE, Alfred: Concerto grosso Nr. 4–Sinfonie Nr. 5, Hamburg: Sikorski 2005, Exempla Nova 329. SCHNITTKE, Alfred: Hommage à Igor Strawinsky, Sergej Prokofjew und Dmitri Schostakowitsch, Hamburg: Sikorski 1998, Exempla Nova 118.

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SCHNITTKE, Alfred: Klavierquartett, Hamburg: Sikorski 1991, Exempla Nova 133. SCHNITTKE, Alfred: Konzert für Klavier und Orchester, Hamburg: Sikorski 1991. SCHNITTKE, Alfred: Konzert für Klavier und Streicher, Hamburg: Sikorski 1995, Exempla Nova 179. SCHNITTKE, Alfred: Konzert für Klavier vierhändig und Kammerorchester, Wien: Universal Edition 1989, UE 19288. SCHÖNBERG, Arnold: Variationen für Orchester op. 31, in: Orchesterwerke II, Bd. 13, hrsg. von Nikos Kokkinis und Jürgen Thym (= Sämtliche Werke IV, Reihe A, 13), Mainz: Schott’s Söhne, zugleich Wien: Universal Edition 1992. ŠOSTAKOVIČ [Schostakowitsch], Dmitrij [Dmitri]: Koncert dlja skripki s orkestrom Nr. 1 op. 99 (bzw. 77) [Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 op. 99 (bzw. 77)], Moskau: Sovetskij Kompozitor 1969.

II. Literaturverzeichnis II.1 Schriften von Alfred Schnittke oder unter dessen Mitarbeit Die Kommentare Schnittkes zu seinen Kompositionen, die in der Festschrift zum 60. Geburtstag (Jürgen Köchel (Red.)) abgedruckt sind, werden hier nicht extra genannt. Alfred Schnittke über seine Musik für Klavier und Kammerorchester, in: Programmheft zum Festival Warschauer Herbst 1965, Warschau 1965, ohne Seitenangabe. ŠNITKE [Schnittke], Al’fred [Alfred]: „Polistilističeskije tendencii v sovremmenoj muzyke“ [Polystilistische Tendenzen in der modernen Musik], in: Muzyka v SSSR 5 (1988), Heft 2, S. 22–24. SCHNITTKE, Alfred: „Polystilistische Tendenzen in der modernen Musik“, aus dem Russischen übersetzt von Irene Ueberwolf, in: Alfred Schnittke. Über das Leben und die Musik. Gespräche mit Alexander Iwaschkin, hrsg. von Alexander Iwaschkin, München und Düsseldorf 1998, S. 183– 189. ŠNITKE [Schnittke], Al’fred [Alfred]: „Razvivat’ nauku o garmonii (Pis’mo v redakciju)“ [Die Wissenschaft über die Harmonik weiterentwickeln (Brief an die Redaktion)], in: SM 25 (1961), Heft 10, S. 44f. SCHNITTKE, Alfred: Über das Leben und die Musik. Gespräche mit Alexander Iwaschkin, aus dem Russischen übersetzt von Irene Ueberwolf, München und Düsseldorf 1998. WEBERN, Anton: Lekcii o muzyke, pis’ma [Vorlesungen über Musik, Briefe], aus dem Deutschen übersetzt von Viktor Schnittke, Moskau 1975.

II.2 Literatur über Alfred Schnittke BELGE, Boris: „Eruption in der Erosion – Alfred Schnittkes 1. Symphonie und der sowjetische Komponistenverband“, in: Alfred Schnittke, hrsg. von Amrei Flechsig und Christian Storch, Hildesheim, Zürich und New York 2010, S. 27–49. BOGDANOVA [Bogdanowa], Alla und DOLINSKAJA, Elena [Jelena] (Hrsg.): Al’fredu Šnitke posvjaščaetsja (= Schnittke-Jahrbuch 5), Moskau 2006. BORCHARDT, Georg: „Alfred Schnittke und Gustav Mahler“, in: Gustav Mahler. „Meine Zeit wird kommen“, hrsg. von der Gustav Mahler Vereinigung Hamburg, Hamburg 1996, S. 60–73.

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Abkürzungsverzeichnis

A.-Th. Anm. Anm. d. Verf. Bd./Bde. bspw. Cb. d.h. ders. Ebd./ebd. Eh. evt. FAZ Fg. Fl. Hrsg. JAMS JRMA Kl. MGG2 NG N.N. Orch. NZfM S. SM Sp. Str. T. Tt. u.a. Vc. Vgl. Vl. Vle. z.B.

Andante-Thema Anmerkung Anmerkung des Verfassers Band/Bände beispielsweise Kontrabass das heißt Derselbe Ebenda/ebenda Englischhorn eventuell Frankfurter Allgemeine Zeitung Fagott Flöte Herausgeber Journal of the American Musicological Society Journal of the Royal Musical Association Klavier Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, hrsg. von Ludwig Finscher, 29 Bde., 2. Auflage, Kassel u.a. 1994-2008. The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hrsg. von Stanley Sadie, 29 Bde., 2. Auflage, 2001. nomen nescio, unbekannter Verfasser Orchester Neue Zeitschrift für Musik Seite Sovetskaja Muzyka Spalte Streicher Takt Tritonus unter anderem Violoncello Vergleiche Violine Viola zum Beispiel

Personenindex

Abel, Angelika 130 Abert, Hermann 121 Adams, Henry 201 Adorno, Theodor W. 125 Ahnsehl, Peter 163 Aksjuk, Sergej 218, 238, 268 Aristoteles 140, 236 Assafjew, Boris 122 Assisi, Franz von 135 Babadschanjan, Aram 122 Bach, Carl Philipp Emanuel 108 Bach, Johann Sebastian 113, 121, 143ff., 160, 196 Bacharew, Wladimir 204 Bachtin, Michail 228 Baer, Dieter 188 Baltes, Sarah 4, 205 Barthes, Roland 9, 107, 112, 162, 190f., 193, 195, 227 Baumgartner, Michael 141 Bax, Arnold 121 Bayer, Wolfram 110 Beardsley, Monroe C. 162, 164, 190f., 232 Beethoven, Ludwig van 108, 121, 148, 154, 158, 166, 192f., 251, 257 Beierle, Kristina 184 Bein, Thomas 104, 108 Belge, Boris 244 Belkius, Gerd 214 Berg, Alban 121, 124ff., 130, 132, 143, 158, 160, 179, 196, 225, 246 Berger, Karol 251 Berio, Luciano 134, 149 Berlioz, Hector 121 Bernstein, Leonard 121 Bliss, Arthur 121 Bloom, Harold 194 Blume, Friedrich 121 Bogdanowa, Alla 4, 54 Bokelmann, Ulrike 231 Booth, Wayne C. 197, 252 Borchardt, Georg 141, 156 Borodin, Alexander 122

Boser, Volker 174 Boulez, Pierre 106, 131, 149 Bourdieu, Pierre 247 Bowen, Meirion 224 Brahms, Johannes 46, 121, 126, 251 Britten, Benjamin 22, 121 Bruch, Max 108 Bruckner, Anton 6, 113, 137, 139, 142, 146, 159, 180ff., 212, 246 Brumberg, Leonid 204, 266 Burke, Jean 195 Burton, Robert 201 Busoni, Ferruccio 108 Bussmann, Claus 196 Butt, John 255 Cadenbach, Rainer 254 Cage, John 265 Cairns, David 223 Chatschaturjan, Aram 122 Cholopowa, Walentina 61f., 183f., 209, 223, 225, 243, 265 Chrennikow, Tichon 7, 185, 238, 241 Chruschtschow, Nikita 121, 242f. Cenova, Valerija 243 Coates, Gloria 158 Copland, Aaron 121 Creston, Paul 121 Dahlhaus, Carl 9, 124f., 163, 167 Damis, Christine 110 Danler, Karl-Robert 173f., 224 Dannenberg, Lutz 202f. Danuser, Hermann 9, 103f., 109, 112, 125, 163ff., 168ff., 227, 254 Dargomyschski, Alexander 122 Davis, Peter G. 225 Debussy, Claude 146, 156 Denissow, Edison 222, 243 Derrida, Jacques 195 Descartes, René 231 Dessoir, Max 167 Detering, Heinrich 166 Détienne, Marcel 231

285

Personenindex

Dewitz, Hans-Georg 130 Dézsy, Thomas 223 Dixon, Gavin 4 Dobbins, Bill 68ff. Döring-Smirnow, Johanna Renate 226 Dolinskaja, Jelena 4, 20 Duffek, Hans-Ulrich 4, 176 Dvarionas, Balis 221 Eberle, Gottfried 129, 224, 258 Eco, Umberto 9, 112, 168f., 172, 183, 189, 191, 197, 211, 223, 253 Einstein, Albert 186 Essl, Karlheinz 130f. Fay, Laurel E. 118, 224 Fietkau, Wolfgang 247 Finscher, Ludwig 121, 147 Fix, Ulla 192, 228 Flamm, Christoph 162, 185 Flechsig, Amrei 4, 7, 124, 141, 219, 240, 244 Föller, Helmut 145 Foucault, Michel 9, 107, 112, 162, 190f., 193ff. Frank, Bernd 68, 70 Frei, Marco 141, 148f. Freudenberg, Olga 226 Frolova-Walker, Marina 123 Gadamer, Hans-Georg 9, 112f., 115f., 143, 146, 161f., 228, 233, 260 Galden, Manfred Paul 68 Genette, Gérard 9, 103, 110, 113, 115f., 123, 202ff., 207ff., 230, 242, 252ff., 259, 261 Gervink, Manuel 222 Georgi, Steffen 141 Gerlach, Hannelore 214, 229 Geulen, Dieter 234f. Giebisch, Thomas 146 Girnus, Wilhelm 222 Glasunow, Alexander 122 Gleich, Sigismund von 140 Glière, Reinhold 22, 122, 221 Goethe, Johann Wolfgang von 129ff., 140, 178 Goldschmidt, Harry 166 Golowinski, Gregori 142 Golubew, Jewgeni 6, 117f., 122, 216, 281f. Gould, Glenn 121

Grabow, Martin 149 Gratzer, Wolfgang 131 Greisch, Jean 196 Grigorjan, Grant 238 Grigorjewa, Alla 117 Gubaidulina, Sofia 117 Gymnich, Marion 227 Hallet, Wolfgang 227 Hansberger, Joachim 196, 229, 245 Haßler, Gerda 110 Haydn, Joseph 135 Heber-Schärer, Barbara 231 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 231, 234 Heinen, Sandra 9, 197f., 200ff., 204, 212, 230, 253ff. Henneberg, Gudrun 251 Herder, Johann Gottfried 130 Heyn, Thomas 249 Hiekel, Jörn Peter 222 Hindemith, Paul 22, 121f., 142, 146, 174, 177f., 204, 209, 219, 241 Hobohm, Wolf 162 Hofer, Achim 133f., 139, 209, 244 Hofer, Karin 191 Holthuis, Susanne 192 Homer 226 Honneth, Axel 9, 230f., 233ff., 239, 243, 247ff., 261 Hornig, Dieter 103, 110 Hübner, Ursula 224 Ihwe, Jens 228 Ikonnikow, Alexander 217, 268 Illiano, Roberto 162 Ingold, Felix Philipp 9, 102, 226f. Irwin, William 8 Ives, Charles 141f., 146, 158, 160, 196, 265 Iwaschkin, Alexander 4, 6, 121, 131, 134f., 141ff., 146, 159, 172, 174, 176f., 179ff., 183ff., 209f., 217f., 220, 237, 244f., 247, 250, 258, 265f. Jannidis, Fotis 9, 162, 190, 195, 202, 252f. Jarustowski, Boris 134 Jennings, Mark D. 214 Jewanski, Jörg 140 Jusfin, Abram 240, 270 Just, Martin 146 Kabalewski, Dmitri 118, 122

286 Kagel, Mauricio 106, 109f. Kant, Immanuel 231, 236 Karajew, Faradsch 210 Karamanow, Alemdar 222 Katajewa, Irina siehe Schnittke, Irina Kedrow, Konstantin 224 Kindt, Tom 166ff., 179 Kisielewski, Stefan 124, 132 Kleemann, Hans 121 Klein, Josef 192, 228 Knepler, Georg 166 Knop, Andreas 252 Köchel, Jürgen 5, 134, 146, 149, 155, 157, 171, 181, 207 Köhler, Karl-Heinz 166 Kolleritsch, Otto 105, 132 Koltsina, Galina 176 Korew, Juri 184, 217f., 221, 237f., 246, 269f. Korinman, Michel 228 Kostakeva, Maria 171ff., 175, 219, 224, 257f. Krainjew, Wladimir 206 Kreinin, Yulia 118 Kremer, Gidon 172 Kremer, Joachim 162 Kristeva, Julia 192, 228 Kropfinger, Klaus 103 Krummacher, Friedhelm 103, 254 Kryspin, Dorota 132 Kube, Michael 108 Kuckertz, Josef 165 Kuhn, Ernst 118 Kupiec, Ewa 219 Lamarque, Peter 8 Larner, Gerald 224 Ledenjow, Roman 217, 268 Lehmann, Hans 258 Leopold, Silke 111 Lesle, Lutz 146, 229 Liedtke, Ulrike 214, 273 Liess, Andreas 146, 156 Ligeti, György 106, 131, 158 Liszt, Franz 46, 144, 157f., 207 Litinksi, Heinrich 238 Ljatoschinski, Boris 122 Ljubimow, Juri 184 Lobanova, Marina 243 Lubotsky, Mark 4, 216

Personenindex

Lück, Hartmut 224f., 229 Lühning, Helga 103f. Lütteken, Laurenz 251 Mackensen, Karsten 105 Mahler, Gustav 6, 22, 141ff., 149ff., 158ff., 174f., 183, 196, 213, 225, 245, 258, 260 Mainka, Annelore 144 Mainka, Jürgen 144 Mann, Thomas 253 Marten, Rainer 9, 106ff., 111, 168, 191, 254, 256 Martin, Frank 219 Martinez, Matias 162, 190 Massow, Albrecht von 4, 257 Matthei, Renate 144 Mattheson, Johann 162 Maurer, Michael 162 Mauser, Siegfried 104f., 131 McBurney, Gerard 188 Medek, Tilo 133f., 139, 209, 244 Medwedjew, Alexander 121 Memmert, Günter 112 Merlai, Nikolai 240 Metz, Günther 121 Metzger, Heinz-Klaus 125 Meyer, Ernst Hermann 123 Michel, Christoph 130 Mies, Paul 139f. Mika, Bogumiła 124 Milhaud, Darius 219 Mjaskowski, Nikolai 117, 122, 216 Möllers, Christian 128f. Motte-Haber, Helga de la 109 Mozart, Wolfgang Amadeus 108, 131, 135, 143, 196 Müller, Hans-Harald 166ff., 179 Mukařovský, Jan 103 Mussorgski, Modest 109 Nemtsov, Jascha 118 Neumann, Birgit 227 Niemann, Konrad 166 Nikolajew, A. 117 Nono, Luigi 123, 131f., 179f., 242 Noriega, Chon 201 Norris, Jeremy 251 Norwall, Ode 131 Nünning, Ansgar 227, 252 Nutt-Kofoth, Rüdiger 104, 108

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Personenindex

Orff, Carl 241 Paris, Rainer 114 Pasternak, Boris 226f. Pekelis, Michail 122 Penderecki, Krzysztof 134 Picht, Johannes 257 Piston, Walter 121 Plachta, Bodo 104, 108 Platon 253 Plebuch, Tobias 104, 109, 112 Polin, Claire 223 Polzin, Alexander 252 Pousseur, Henri 131, 134 Prinz, Ulrich 144 Prokofjew, Sergej 121f., 135f., 206, 210, 220, 241 Rabinowitsch, David 121, 216f., 268 Rachmaninow, Sergej 122 Raskatow, Alexander 111 Ravel, Maurice 109 Raybould, Clarence 121 Redepenning, Dorothea 172, 219, 243 Reger, Max 144f. Reich, Willi 129f. Reichert, Georg 146 Richter, Swjatoslaw 122 Ricœur, Paul 10, 196, 230ff., 238ff., 244, 247f., 250, 261 Riehn, Rainer 125 Rimski-Korsakow, Nikolai 241 Roch, Eckhard 147 Rohm, Helmut 224 Roschdestwenski, Gennadi 184, 206 Ross, Alex 188f., 223f., 246 Rousseau, Jean-Jacques 201 Ruf, Wolfgang 162 Ruzicka, Peter 149 Sachsen-Meiningen, Herzog Georg II. von 108 Sager, Sven F. 228 Sak, Wladimir 220, 239, 269 Sala, Massimiliano 162 Sawenko, Swetlana 221, 223 Schaal, Susanne 121 Schabert, Ina 9, 115f., 123, 145, 159 Schachnasarowa, Nana 142 Schader, Luitgard 121

Schaffer, Nikolaus 223, 225 Schamschula, Walter 103 Schaporin, Juri 122, 238 Schawerdjan, R. 117 Schdanow, Andrej 216, 222 Schebalin, Wissarion 122 Schepitko, Larissa 141 Schering, Arnold 251 Scherliess, Volker 157 Schmelz, Peter 4, 27ff., 31ff., 36, 39ff., 46f., 51, 124, 209, 217f., 238, 243 Schmidt, Christian Martin 126 Schmidt, Hans-Dieter 166f. Schneerson, Grigori 219 Schneider, Frank 144 Schnittke, Ada 122 Schnittke, Irina 176f., 266 Schnittke, Viktor 178 Schönberg, Arnold 22, 108, 123ff., 132, 158, 160, 179, 219 Schostakowitsch, Dmitri 5f., 22, 118, 120ff., 135f., 141f., 158, 160, 184, 196, 220, 222, 224, 239, 245f., 260 Schtschedrin, Rodion 134, 222 Schubert, Franz 143, 157, 196 Schubert, Giselher 121f. Schulgin, Dmitri 121, 177, 204ff., 208, 266f. Schweizer, Klaus 125 Seidel, Wilhelm 102, 105 Skrjabin, Alexander 22, 124 Sloterdijk, Peter 239f. Smith, Sidonie 201 Sofsky, Wolfgang 114 Sonntag, Brunhilde 144 Spangemacher, Friedrich 132 Steiner, Rudolf 130 Steinitz, Richard 186, 214, 229, 249 Stephan, Rudolf 165 Stocker, Peter 116 Stockhausen, Karlheinz 106, 131, 134 Storch, Christian 124, 141, 219, 240, 244, 265 Straschenkowa, I. 220 Strawinsky, Igor 121, 134ff. Strobel, Frank 219 Stück, Heiner 228 Tadday, Ulrich 122 Tamberg, Eino 221

288 Tanejew, Sergej 122 Taruskin, Richard 140, 183, 223, 225, 245f., 258 Tautz, Günter 240 Tegtmeyer, Henning 192 Telemann, Georg Philipp 162 Ter-Tatewossjan, John 222 Terentjew, Boris 221, 269 Tewinkel, Christiane 219f., 225f. Thaler, Lotte 102f., 107 Thilmann, Johannes Paul 219 Tietze, Rosemarie 226 Tschaikowski, Peter 142 Tschigarjowa, Jewgenja 61, 223, 246f., 270 Turgeon, Melanie 214 Ueberwolf, Irene 134 Uehlein, Friedrich A. 196 Vaughan Williams, Ralph 121 Vlassova, Natalja 222 Vojtêch, Ivan 127 Vondenhoff, Eleonore 108 Waczkat, Andreas 164 Walton, William 121 Watson, Julia 201 Webb, John 186 Weber, Carl Maria von 121, 157 Webern, Anton 124f., 129ff., 158, 160, 178ff., 242 Wedernikow, Nikolai 180 Wehrmeyer, Andreas 118 Weiss, Stefan 7, 240 Welitschko, A. 220 Wimsatt, William K. 162, 164, 190f., 232 Windweh, Kara-Kusan 122 Wingert, Lutz 237 Wißmann, Friederike 176 Wolff, Christoph 111ff. Wolkonski, Andrej 243 Wolodin, Alexander N. 240 Wunderlich, Werner 102 Wustin, Alexander 245 Zechlin, Ruth 144f. Zhuraitis, Algis 184 Zimmermann, Bernd Alois 142 Zuckermann, Moshe 247f.

Personenindex

KlangZeiten

Band 5:  Ruth Seehaber

Musik, Politik und ­Gesellschaft

Die »polnische Schule« in der Neuen Musik

Herausgegeben von ­Detlef Altenburg, Michael Berg, Helen Geyer und Albrecht von Massow

Band 1:  Michael Berg, Nina Noeske, Albrecht von Massow (Hg.)

Befragung eines musik­ historischen ­Topos

2009. 346 S. Mit zahlr. Noten­beispielen. Br. ISBN 978-3-412-20430-3

Zwischen Macht und ­Freiheit Neue Musik in der DDR

2004. VIII, 198 S. mit 2 Audio-CDs. Br. ISBN 978-3-412-10804-5

Band 2:  Michael Berg, Knut Holtsträter, Albrecht von ­Massow (Hg.) Die unerträgliche Leichtigkeit der Kunst Ästhetisches und politisches Handeln in der DDR

Band 6:  Matthias Tischer Komponieren für und ­wider den Staat Paul Dessau in der DDR

2007. XIV, 205 S. Br. ISBN 978-3-412-00906-9

2009. VIII, 344 S. Mit zahlr. Notenbeispielen. Br. ISBN 978-3-412-20459-4

Band 3:  Nina Noeske

Band 7:  Nina Noeske, Matthias Tischer (Hg.)

Musikalische Dekonstruktion Neue Instrumentalmusik in der DDR

Musikwissenschaft und Kalter Krieg Das Beispiel DDR

ISBN 978-3-412-20045-9

2010. VI, 195 S. Br. ISBN 978-3-412-20586-7

Band 4:  Matthias Nöther

Band 8:  Jörn Peter Hiekel (Hg.)

2007. XII, 435 S. Mit 2 Audio-CDs. Br.

»Als Bürger leben, als Halbgott sprechen«

Die Kunst des ­Überwinterns

Melodram, Deklamation und Sprechgesang im ­wilhelminischen Reich

2010. Ca. 160 S. Br. ISBN 978-3-412-20650-5

2008. X, 328 S. Mit einer Audio-CD. Br. ISBN 978-3-412-20097-8

Musik und Literatur um 1968

Band 9:  Irmgard Jungmann Kalter Krieg in der Musik Eine Geschichte deutsch-deut­ scher Musikideologien

TT167

2011. Ca. 200 S. Br. ISBN 978-3-412-20761-8

böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t :  + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau.de | köln weimar wien

schriftenreihe der hochschule für musik franz liszt Herausgegeben von Detlef Altenburg

Eine Auswahl. Band 1 vergriffen. Band 2 erscheint nicht.

Band 6:  Roman Hankeln Band 3:  Helen Geyer, Thomas Radecke (Hg.) Aufbrüche und Fluchtwege Musik in Weimar um 1800

2003. 220 S. Zahlreiche Notenbeispiele. Br. ISBN 978-3-412-16602-1

Band 4:  Helen Geyer, Wolfgang Osthoff (Hg.) Schiller und die Musik Unter Mitarbeit von Astrid Stäber 2007. X, 414 S. 106 Notenbeispiele und 9 s/w-Abb. im Text, 2 farb. und 1 s/w-Abb. auf 4 Taf. Br. ISBN 978-3-412-22706-7

Kompositionsproblem Klassik Antikeorientierte Versmetren im Liedschaffen J. F. Reichardts und einiger Zeitgenossen

2011. XVI, 331 S. Mit zahlr. Abb. und Notenbeispielen auf einer CD-ROM. Br. ISBN 978-3-412-20287-3

Band 7:  Martin Pfleiderer Populäre Musik und kulturelles Gedächtnis Geschichtsschreibung – Archiv – Internet

2011. Ca. 192 S. Ca. 40 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-20773-1

Band 8:  Christian Storch Band 5:  Knut Holtsträter Mauricio Kagels musikalisches Werk Der Komponist als Erzähler, Medienarrangeur und Sammler

Der Komponist als Autor Alfred Schnittkes Klavierkonzerte

2011. IV, 288 S. Mit zahlr. Notenbeispielen. ISBN 978-3-412-20762-5

RP888

2010. 322 S. Mit zahlr. Notenbeispielen. Br. ISBN 978-3-412-20245-3

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