Aufklänge: Der Komponist und Dirigent Siegmund von Hausegger 3487163063, 9783487163062

Als Komponist, Dirigent und Pädagoge bewegte sich Siegmund von Hausegger im Umfeld von Richard Strauss und der bislang w

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Aufklänge: Der Komponist und Dirigent Siegmund von Hausegger
 3487163063, 9783487163062

Table of contents :
Florian Kleissle: Aufklänge. Der Komponist und Dirigent Siegmund von Hausegger (PARAPHRASEN - WEIMARER BEITRÄGE ZUR MUSIKTHEORIE, Band 7).
Inhalt
Geleitwort: Leben – Werk – Klang
Einleitung
zum Umgang mit den Quellen
1. zu Friedrich von Hausegger
Werdegang
Wiener Tradition
Graz
Pädagogik
Siegmunds Unterricht
Musik als Ausdruck
Mittelton-Konzeption
zur Melodie
zur Bedeutung der Form
Hausegger versus Hanslick
Programmmusik
Lebensphilosophie
Zusammenfassung
2. Siegmund von Hausegger
Jugend
Studienzeit
Verbindung nach München
Analyse-Voraussetzungen
Ziel und Zweck der Analysen
Allgemeines zu den theoretischen Lehrwerken
zur stilistischen Einordnung dieser Publikationen
relevante Inhalte der Lehrwerke
zur Form
Harmonik
zu Tonalität, Stimmführung und Akkorden
Übersicht der alterierten Skalenstufen
Dreiklänge
»Neapolitaner«
Vierklänge – diatonisch
Vierklänge – alteriert
übermäßige Sextakkorde
weitere Alterationen
Übersicht der wichtigsten alterierten Vierklänge
Nonakkorde und höhere (Terz-) Schichtung
sonstige Akkorderscheinungen
besondere Harmonieverbindungen: Sekundfolgen, Mediantik, Tritonusverhältnis
Sekundfolgen
Mediantik
Tritonusverhältnis
Sonstiges
phrygische Wendungen
Orgelpunkt
›moderne‹ Klangkonstellationen
Dionysische Phantasie (1896-97)
Formales
großer Aufbau
Themen und Motive
erster Teil (Takt 1–299)
zweiter Teil (Takt 299–491)
Umgang mit Motiv und Thema
Abschnittsbildung
rhythmische Besonderheiten
Formkonzepte im Großen
Harmonik
tonale Stationen
tonale Spannungsverhältnisse
Sekundverbindungen
Mediantik
Tritonusverbindungen
Sequenzbildung
sonstige Abfolgen
Orgelpunkte
besondere Akkorde
Ü 5
Dv und Hv
übermäßige Sextakkorde
sonstige alterierte Akkorde
Ganztonskala
Stilistisches
Rezensionen zur Dionysischen Phantasie
Barbarossa (1898-99)
1. Satz: »Die Not des Volkes«
Einleitung
Exposition – Hauptsatzgruppe
Exposition – Seitensatzgruppe
Durchführung (ab Takt 255/M)
Reprise
2. Satz »Der Zauberberg«
3. Satz »Das Erwachen«
Einleitung
»Schneller Satz«
Sonatenform?
Harmonik
tonale Stationen
1. Satz
2. Satz
3. Satz
tonale Spannungsverhältnisse
Sekundverbindungen
Mediantik
Tritonusverbindungen
Sequenzbildung
Phrygische Wendungen
Orgelpunkte
besondere Akkorde
Ü 5
Dv und Hv
übermäßige Sextakkorde
sonstige alterierte Akkorde
weitere harmonische Besonderheiten
Stilistisches
Instrumentierung
Streicher
Streicher in Kombination mit anderen Instrumenten
weitere Instrumente
Rezensionen zum Barbarossa
ADMV-Intermezzo I – die Entstehung einer Institution
3. München zum Ersten
Kaim-Orchester
Hertha Ritter
4. Frankfurt am Main
Museumsorchester
Aufgang
Wieland der Schmied (1903)
Formales
großformale Gliederung
Umgang mit Motiv und Thema
Kombinationen
Imitationen
Diminution und Augmentation
Taktwechsel
Harmonik
Tonarten
Sekundverbindungen
Mediantik
Tritonusverbindungen
harmonische Abschnittsbildung
Satz- und Sequenzmodelle
Orgelpunkte
besondere Akkorde
Ü 5
übermäßige Sextakkorde
sonstige alterierte Akkorde
weitere harmonische Besonderheiten
Stilistisches
Instrumentierung
Verbindungen zu Werken anderer Komponisten
Gemeinsamkeiten mit Barbarossa und Dionysischer Phantasie
Rezensionen zum Wieland
Abgang
5. München zum Zweiten / Obergrainau
die Kaim-Revolte
Vorspiel
Hauptteil
Schluss
ADMV-Intermezzo II – der »Querulant« und eine neue Verantwortung
6. Hamburg und Berlin
Natursymphonie (1905?–1911)
Besetzung
1. Satz
Motive, Themen, Abschnittsbildung
Kombinationen
weiteres Formales
Taktwechsel
Form im Großen
Taktgruppierungen
Harmonik
Tonarten
Mediantik
Tritonusverbindungen
Sequenzbildung
phrygische Wendungen
besondere Akkorde
Ü 5
übermäßige Sextakkorde
weitere harmonische Besonderheiten
Modulation
Instrumentierung
2. Satz
Motive, Themen, Abschnittsbildung
Kombinationen
weiteres Formales
Form im Großen
Harmonik
Tonarten
Mediantik
Tritonusverbindungen
Sequenzbildung
phrygische Wendungen
besondere Akkorde
Ü 5
übermäßige Sextakkorde
weitere harmonische Besonderheiten
Instrumentierung
3. Satz
Motive, Themen, Abschnittsbildung
erster Teil (bis Choreinsatz)
zweiter Teil (ab Choreinsatz)
weiteres Formales
Taktwechsel
Taktgruppierungen
Form im Großen
Fugato / »fugirter Satz«
Harmonik
Tonarten
erster Teil
zweiter Teil
Mediantik
Tritonusverbindungen
besondere Akkorde
Ü 5
übermäßige Sextakkorde
Harmonik im zweiten Teil
Sequenzbildung
weitere harmonische Besonderheiten
Text- und Chorbehandlung
Instrumentierung
Zusammenfassendes
das Werk als Ganzes
Form
Themen und Motive
Stimmführung/Harmonik und Rhythmik
Instrumentierung
Verbindungen zu anderen Komponisten
Programmmusik?
Rezensionen zur Natursymphonie
große Freude und schweres Leid
Helene Bronsart von Schellendorff
Erster Weltkrieg
Aufklänge (1917/18)
1. Hauptteil
Vorspiel/Einleitung
Formales
Harmonik
Mediantik
weitere Besonderheiten (Stimmführungsstrukturen)
Thema
Formales
Harmonik
Variation I
Variation II
Form
Rhythmik
Melodie
Harmonik
Variation III
Form
Rhythmik
Harmonik
Variation IV
Form
Rhythmik
Harmonik
Sequenzbildung
Variation V
Rhythmik
Form
Harmonik
Variation VI
Motivik
Form
Harmonik
Tonalität
weitere Besonderheiten
Variation VII
Melodie und Form
Harmonik
Variation VIII
Melodie, Rhythmik und Form
Harmonik
2. Hauptteil
Einleitung
Motivik, Metrik und Harmonik
»eigentlicher Schlußsatz«
Fugato 1
Formales (nebst Harmonik)
kurzer Zwischensatz
Motivik und Harmonik
fugierter Durchführungssatz
Fugato 1 als Reprise
»Abgesang«
Coda
Instrumentierung
Elemente des Kindlichen
Zusammenfassung Harmonik und Formales
noch einmal Leid und Freude
Rezensionen zu den Aufklängen
7. München zum Dritten
Leiter der Staatlichen Akademie der Tonkunst
Konzertverein
die ›goldenen‹ zwanziger und frühen dreißiger Jahre
Akademie/Staatliche Hochschule für Musik
Konzertverein/Philharmoniker
Bruckner-Mission
ADMV-Intermezzo III – schwere Zeiten und Auflösung
Der Anfang vom Ende?
Nationalsozialismus
Musikhochschule
Philharmoniker
Zweiter Weltkrieg
letzte Jahre
Nachklang
8. Hausegger als Dirigent und Pädagoge
Entwicklung
Dirigat
Akademie/Hochschule
Repertoire
9. Hausegger als Komponist und Musikästhet
Zusammenfassung der Analysen
Formales
Großformales
Abschnittsbildungen
Harmonik
tonale Spannungsverhältnisse
Sekundverbindung, Mediantik, Tritonusverhältnis
Sequenzbildung
phrygische Wendungen
Orgelpunkte
besondere Akkorde
Dv, Hv und ü5
übermäßige Sextakkorde
Septnonakkorde
Zusammenfassung ›alterierte Akkorde‹
Ganztonskala
Stilistik
Melodik und Linearität
Repräsentation/Bedeutung der Lehrwerke
Instrumentierung
Jugendstil?
Ästhetik
das Unvollendete oder: der sinkende Kompositionsstern
10. der Mensch Siegmund von Hausegger
politisches Weltbild
Antisemitismus
Kunst als das höchste gesellschaftliche Kulturgut
»Protest der Richard-Wagner-Stadt München«
der »Fall Furtwängler«
11. Resümee und Ausblick
Ausblick
Anhang
Mitgliedschaften
Ehrungen
Werkverzeichnis
zeitgenössische Komponist*innen der ADMV-Feste 1912–1929
Danksagung
Abkürzungsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
Archive
Primärliteratur
Noten
Musiklehrwerke, -ästhetik und -analyse
Biografie
periodisch erscheinende Schriften
Sekundärliteratur
periodisch erscheinende Schriften
Audio
Personenregister

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Florian Florian A. Florian Kleissle A. Kleissle A. Kleissle

Aufklänge Der Komponist und Dirigent Siegmund von Hausegger

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Florian A. Kleissle Aufklänge Der Komponist und Dirigent Siegmund von Hausegger

Paraphrasen – Weimarer Beiträge zur Musiktheorie Band 7 Aufklänge Der Komponist und Dirigent Siegmund von Hausegger

Georg Olms Verlag Hildesheim · Zürich · New York 2022

Florian A. Kleissle Aufklänge Der Komponist und Dirigent Siegmund von Hausegger

Georg Olms Verlag Hildesheim · Zürich · New York 2022

Herausgeber: Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar Redaktion: Jörn Arnecke Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für 9HUYLHOIlOWLJXQJHQhEHUVHW]XQJHQ0LNURYHUÀOPXQJHQ und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

%LEOLRJUDÀVFKH,QIRUPDWLRQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRWKHN Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen 1DWLRQDOELEOLRJUDÀHGHWDLOOLHUWHELEOLRJUDÀVFKH'DWHQ sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Georg Olms Verlag AG, Hildesheim 2022 www.olms.de Umschlagentwurf: Susanne Tutein ISBN 978-3-487-42347-0

Inhalt Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. zu Friedrich von Hausegger  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Pädagogik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Musik als Ausdruck  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2. Siegmund von Hausegger  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Verbindung nach München  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Analyse-Voraussetzungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .55 relevante Inhalte der Lehrwerke  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Dionysische Phantasie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Formales  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Harmonik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Stilistisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Rezensionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Barbarossa  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1. Satz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2. Satz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 3. Satz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Harmonik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .180 Stilistisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Instrumentierung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Rezensionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 ADMV-Intermezzo I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 3. München zum Ersten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Kaim-Orchester  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Hertha Ritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

4. Frankfurt am Main  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Museumsorchester  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Wieland der Schmied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Formales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Harmonik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Stilistisches  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Instrumentierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Verbindung zu Werken anderer Komponisten. . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Gemeinsamkeiten mit Barbarossa und Dionysischer Phantasie . . . 257 Rezensionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Biografie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 5. München zum Zweiten / Obergrainau  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 die Kaim-Revolte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 ADMV-Intermezzo II  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 6. Hamburg und Berlin  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Natursymphonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 1. Satz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 2. Satz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 3. Satz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Zusammenfassendes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Rezensionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 Biografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Helene Bronsart von Schellendorff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Erster Weltkrieg  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Aufklänge  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 1. Hauptteil  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 2. Hauptteil  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Instrumentierung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Elemente des Kindlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 Zusammenfassung Harmonik und Formales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Biografie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Rezensionen zu den Aufklängen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457

7. München zum Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Leiter der Staatlichen Akademie der Tonkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Konzertverein  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 Die ›goldenen‹ zwanziger und frühen dreißiger Jahre . . . . . . . . . . . 468 Akademie/Staatliche Hochschule für Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Konzertverein/Philharmoniker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Bruckner-Mission  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 ADMV-Intermezzo III  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 Der Anfang vom Ende?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 Nationalsozialismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .512 Musikhochschule  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 Philharmoniker  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Zweiter Weltkrieg  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 letzte Jahre  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .522 Nachklang  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .526 8. Hausegger als Dirigent und Pädagoge  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Dirigat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 Akademie/Hochschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 Repertoire  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 9. Hausegger als Komponist und Musikästhet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 Zusammenfassung der Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .547 Stilistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 Repräsentation/Bedeutung der Lehrwerke  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 Jugendstil?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .567 das Unvollendete oder: der sinkende Kompositionsstern . . . . . . . 576

10. der Mensch Siegmund von Hausegger  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 politisches Weltbild  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 Kunst als das höchste Kulturgut  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 »Protest der Richard-Wagner-Stadt München«  . . . . . . . . . . . . . . . 605 der »Fall Furtwängler«  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614 11. Resümee und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 Anhang  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 Mitgliedschaften und Ehrungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 Werkverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628 zeitgenössische Komponist*innen der ADMV-Feste 1912–1929 . . . 635 Danksagung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 Abkürzungsverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654 Personenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674

Leben – Werk – Klang Geleitwort zu Florian A. Kleissles Schrift »Siegmund von Hausegger« im Jubiläumsjahr der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar Am 24. Juni 1872 wurde in Weimar die erste Orchesterschule Deutschlands gegründet, aus der später die Hochschule für Musik wurde; am 16. August desselben Jahres kam in Graz Siegmund von Hausegger zur Welt. Genau 150 Jahre später legt Florian A. Kleissle diese umfassende Schrift vor, fundiert, detailreich und mit analytischem Blick. Indem er die fünf symphonischen Dichtungen Hauseggers in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt, wird deutlich, dass die Bezüge zwischen dem Komponisten und der Hochschule über das gemeinsame Geburtsjahr weit hinausgehen. Die symphonischen Dichtungen fußen auf einem ästhetischen Konzept, das Franz Liszt entwickelt hatte und das fest mit Weimar verbunden ist: Hier dirigierte er 1854 sein Werk Les Préludes; hier komponierte er bis 1861 einen Zyklus von zwölf Symphonischen Dichtungen. Zu dieser Zeit lebte er in der Weimarer Altenburg, in die passenderweise nun – im Jubiläumsjahr – die Leitung unserer Hochschule einzog. Die Eröffnung der Orchesterschule ging ebenfalls auf Anregungen Liszts zurück, auch wenn er zur Zeit der Gründung Weimar bereits wieder verlassen hatte. Franz Liszts Namen trägt unsere Hochschule seit dem Jahr 1956. Florian A. Kleissle stellt die symphonischen Dichtungen außerdem in einen engen biografischen Bezug. In die 76 Lebensjahre von Hauseggers fallen Kaiserreich, Erster Weltkrieg, Weimarer Republik, Nationalsozialismus. Für die Hochschule wären noch zu ergänzen: DDR, Wendezeit, Vereinigung. Hier sind problematische Haltungen zu nennen, zu beleuchten und kritisch zu hinterfragen – dies mag aus der Perspektive der Nachgeborenen einfach sein; erforderlich ist es trotzdem. Viele Bezugspunkte zwischen Siegmund von Hausegger und Franz Liszt veranschaulicht Florian A. Kleissle, auch hier in der Durchdringung von Leben und Werk. Durch eine Biografie ehrte von Hausegger seinen Schwiegervater Alexander Ritter, der unter Liszt in der Weimarer Hofkapelle gespielt hatte. Als Dirigent setzte er mit Liszt-Aufführungen Maßstäbe; als Komponist wollte er Liszts Erbe weiterentwickeln. Darüber

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Geleitwort

hinaus bildet das Werk Richard Wagners ein gemeinsames Kraftzentrum, in dem sich das Ineinander von Leben und Werk besonders deutlich zeigt: bei Liszt dadurch, dass er 1870 zum Schwiegervater Wagners wurde – bei von Hausegger durch seine erste Ehefrau, deren Mutter eine Nichte Wagners war, und durch seinen Vater, den Privatdozenten für Musikwissenschaft Friedrich Edler von Hausegger, einen Streiter für Wagner und Unterstützer der Ausdrucksästhetik Franz Liszts. So stellt es ein beziehungsreiches Geflecht dar, in dem Florian A. Kleissle, doppelter Master-Absolvent der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar (in Schulmusik und Musiktheorie), seine Dissertationsschrift veröffentlicht. Siegmund von Hausegger wird in den engeren Kreis um die Münchner Schule eingeordnet, und doch laufen viele Linien nach Weimar zurück, in den Ort, an dem Franz Liszt seine kompositorisch produktivsten Jahre verbrachte und in dem 1861 unter seiner Beteiligung der Allgemeine Deutsche Musikverein (ADMV) gegründet wurde. So setzt die Reihe »Paraphrasen – Weimarer Beiträge zur Musiktheorie« ihr Konzept fort, aus einer Weimarer Perspektive die Diskurse des Faches zu schärfen. Dem Olms-Verlag und der Lektorin Ulrike Böhmer danke ich herzlich für die engagierte Betreuung dieses Bandes. Die Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar ermöglicht diese Schriftenreihe und sorgt zugleich für die Einbindung ins Jubiläumsprogramm, indem das Buch in Verbindung mit einem Konzert vorgestellt werden kann: Leben und Werk in Klang gesetzt. Oder auch, bezogen auf Florian A. Kleissles verdienstvolle Arbeit: Klang und Leben – ins Werk gesetzt. Weimar, im Oktober 2022 Jörn Arnecke, Leiter des Zentrums für Musiktheorie

Meinen Eltern

Siegmund von Hausegger Dieses und alle weiteren Bilder im Privatbesitz Prof. S. v. Hauseggers. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

Einleitung Fragt man heutzutage ein Orchester- oder Chormitglied, welche deutschsprachigen Zeitgenossen von Richard Strauss (1864–1949) ihm bekannt sind, werden zumeist lediglich Gustav Mahler (1860–1911) und Arnold Schönberg (1874–1951) nebst seine beiden bekanntesten Schüler Alban Berg (1885–1935) und Anton Webern (1883–1945) genannt. Manchmal fällt auch der Name Max Reger (1873–1916); seltener ist vom deutlich jüngeren Paul Hindemith (1895–1963) die Rede. Kaum jedoch hört man den Namen eines Mitglieds der überaus berühmten Kompositionsschule, die um die Jahrhundertwende im Umfeld von Strauss bestand – der sogenannten Münchner Schule. Aber es findet derzeit ein Wandel statt. Sowohl im praktischen Musikleben als auch in der Forschung rücken insbesondere mit und durch neue Veröffentlichungen auf dem Tonträgermarkt einige der bis dahin weitgehend unbekannten Komponisten jener Zeit zusehends in den Blickpunkt des Interesses, ja, es scheint, als könne man von der allmählichen Wiederentdeckung einer vergessenen Komponisten-Generation sprechen. Zu dieser Generation gehört der mit Richard Strauss eng verbundene, aus Österreich stammende Siegmund von Hausegger (1872–1948). Seine künstlerische Wiederentdeckung begann vornehmlich mit der 2008 veröffentlichten Natursymphonie.1 Es folgten 2017 die Orchesterlieder Drei Hymnen an die Nacht und die Symphonischen Dichtungen Barbarossa, Dionysische Phantasie, Wieland der Schmied und Aufklänge.2 Ein Jahr darauf erschien eine CD mit Klavierliedern.3 Die vorliegende Studie soll eine (erste) wissenschaftlich-historische Ergänzung zur bisherigen künstlerischen Erschließung sein. Sie will mit ihrem Fokus auf die Symphonischen Dichtungen einen analytischen Beitrag innerhalb der deutsch-österreichischen Kompositionsgeschichte zur   Erschienen beim Label cpo, eingespielt 2005–2006 mit dem WDR Rundfunkchor und dem WDR Symphonieorchester unter Ari Rasilainen (*1959). 2   Ebenfalls bei cpo, eingespielt unter Antony Hermus (*1973): die Hymnen – mit Hans Christoph Begemann (*1962) – und Barbarossa mit dem Norrköping Symphony Orchestra 2011; Dionysische Phantasie, Wieland der Schmied und Aufklänge mit den Bamberger Symphonikern 2013–2014. 3  Cpo, aufgenommen 2010, interpretiert von Roman Trekel (*1963) in Begleitung von Cord Garben (*1943). 1

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Einleitung

deutschen National-Symphonik der Jahrhundertwende leisten und dabei die signum- und zeittypische Einordnung von Hauseggers Personalstil vornehmen. Zugleich soll sie aber auch in ausführlicher Form die Biographie jener einflussreichen Persönlichkeit nacherzählen – wofür im Hinblick auf die grundsätzliche Problematik (nicht nur) musikwissenschaftlicher Biographik4 hier eingangs zwei Legitimationsgründe genannt sein mögen: Einerseits ist die Entstehung aller fünf Symphonischen Dichtungen auf besonders enge und für das Verständnis der Werke relevante Art und Weise in die jeweiligen Lebensumstände Hauseggers eingebunden,5 andererseits kann aufgrund der oben genannten wachsenden Popularität – mindestens außerhalb der Forschung – und der derzeitigen Forschungslage von einem bestehenden Interesse an einer klassischen ›Leben und Werk‹-Arbeit ausgegangen werden. Wenngleich der Analyseanteil quantitativ überwiegt, lag es aufgrund jener Verflechtung nahe, eine wechselweise Anordnung der einzelnen Teile des Buches vorzunehmen. Diesem Umstand folgend werden dem Leser hautpsächlich zwei verschiedene Kapitelarten begegnen: musiktheoretischwissenschaftliche (die Werk-Analysen nebst ihrer theoretischen Grundlagen) und biographische Kapitelarten. Lediglich zu Beginn kommt es zu einer Vermischung der beiden Bereiche, da Hauseggers kompositorische Schulung durch seinen Vater, den Musikästheten Friedrich von Hausegger (1837–1899), erfolgte. Mit Beginn des ersten Kapitels wird deshalb ein kurzer Blick auf die sich darbietende Situation Mitte des 19. Jahrhunderts geworfen; darüber hinaus werden für die Analysen die von Friedrich von Hausegger genannten musiktheoretischen-kompositionstechnischen Quellen beziehungsweise (im Sinne einer historisch informierten Analyse) zentrale Lehrwerke der Zeit insbesondere aus dem Umfeld des Komponisten bevorzugte Berücksichtigung finden. Entsprechend dem Inhalt wird auch die Darstellungsform variieren, die in den biographischen Abschnitten zuweilen erzählerische Züge annehmen kann. Jede Werkanalyse wendet sich neben formalen und harmonischen Aspekten auch besonderen Stellen der Instrumentation zu: einerseits im Hinblick auf die besondere (semantische) Relevanz für das außermusikalische Sujet, andererseits als Anregung für die heutige kompositorische Praxis. 4  Vgl. Unseld 2009. 5  Vgl. ebd., 363f.

Einleitung

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zum Umgang mit den Quellen Damit die Fußnoten den Lesefluss nicht zu sehr unterbrechen, sind im Folgenden jene mit weiterführenden Inhalten unterstrichen; die anderen fungieren als bloße Quellenangaben. Für Zitate aus Tages- und Wochenzeitungen ist in den Fußnoten für die chronologische Nachvollziehbarkeit das Datum (nebst Seitenzahl) angegeben, während Jahrgangs- und Ausgabennummern im Literaturverzeichnis zu finden sind. Generell wird bei Ziaten aus Primärquellen die gesperrte Setzweise der Wörter nur bei einer damit verbundenen Emphasis übernommen, nicht jedoch für Namen und Orte (wie dies vor allem in Zeitungsartikeln zur besseren Leseorientierung gehandhabt wurde). Zudem wird bei ausschließlicher Nennung eines Nachnamens zur leichteren Lesbarkeit der Adelszusatz »von« weggelassen. Die biographischen Inhalte zu Siegmund von Hausegger erschlossen sich aus hauptsächlich vier unterschiedlichen Quellenkategorien: den überlieferten Briefwechseln Hauseggers mit musikschaffenden Freunden und Kollegen,6 dem zugänglichen Archivmaterial zu seinem institutionellen Wirken, den zeitgenössischen Zeitschriftenartikeln beziehungsweise -notizen und nicht zuletzt den Darlegungen und historischen Einordnungen bestimmter Ereignisse in der Sekundärliteratur. Je nach Relevanz und Kontext erhalten die in der vorliegenden Arbeit wiedergegebenen (Lebens-)Ereignisse eine kommentierte und damit verbunden (neue) bewertende historische Einordung. Generell stand aber auch die Absicht im Vordergrund, Hauseggers eigener subjektiven Wahrnehmung der Ereignisse im Vergleich mit der seiner Zeitgenossen – inbesondere den in den Zeitungen vorgenommenen Einschätzungen – größeren Raum zu geben, um zumindest ansatzweise einen authentischen, nachfühlbaren Einblick in das Geschehen jener Zeiten zu ermöglichen. Aus dieser Absicht heraus ergibt sich der Umstand, dass dem Leser (vor allem in den Fußnoten) viele teilweise recht ausführliche Zitate aus zeitgenössischen Quellen begegnen.

 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen und dafür entschuldigt, dass gerade Hauseggers Briefe aufgrund seiner ausgesprochen unordentlichen Kurrentschrift leider nicht immer vollständig zu enträtseln waren.

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1. zu Friedrich von Hausegger Zunehmende Zergliederung kennzeichnete das deutschsprachige Musikgeschehen ab Mitte des 19. Jahrhunderts: sowohl praktisch in der Abgrenzung progressiver Kompositionsbestrebungen durch das Konstituieren einer Neudeutschen Schule als auch im Auseinandergleiten theoretisch-ästhetischer Positionen und Lehrmeinungen. Insbesondere das Jahr 1853 hielt für die Musiktheorie mit Moritz Hauptmanns vielzitierter Natur der Harmonik und der Metrik, der meistverkauften Harmonielehre aller Zeiten – Lehrbuch der Harmonie – von Ernst Friedrich Richter und den für die österreichische Unterrichtstradition über Jahrzehnte maßgeblichen Grundsätzen der musikalischen Komposition Simon Sechters drei völlig unterschiedliche, enorm einflussreiche Veröffentlichungen bereit.7 Nur ein Jahr darauf erschien unter dem Titel Vom Musikalisch-Schönen die provokante (Habilitations-)Schrift des 29-jährigen Wiener Musikästheten und -kritikers Eduard Hanslick, die noch lange nachwirken sollte.8 Erst drei Jahrzehnte später würde sich Friedrich von Hausegger in den Diskurs wirksam einbringen. Zu jener Zeit dürften sich seine Interessen um das Ablegen der Matura und die Wahl eines Berufes bewegt haben. Werdegang 9 Am 26. April 1837 ist Friedrich von Hausegger10 als erstes von sechs Kindern des zum Hofrat ernannten Forstverwalters Siegmund11 Edler von Hausegger und dessen Frau Wilhelmine zur Welt gekommen. Die Vorliebe seines Vaters für das Singen und häusliches Musizieren führten dazu, dass er in seiner Jugendzeit Klavier- und Generalbassunterricht12 erhielt. Nach dem 7  Vgl. Holtmeier 2005c.

 Allein zu Hanslicks Lebzeiten würde das Buch zehn Mal neu aufgelegt werden. Aus der Fülle der darüber hinaus aufzählbaren bedeutenden Traktate sei an dieser Stelle zumindest noch Richard Wagners Oper und Drama von 1852 erwähnt. 9  Die folgenden biographischen Inhalte sind – sofern nicht gesondert vermerkt – übernommen und zusammengefasst aus Danz (1981). 10  In St. Andrä im Lavanttal (Kärnten) als Friedrich Johann Thomas von Hausegger. 11  Eine andere Lesart des Namens ist Sigismund. 12   Bei einem mit Siegmund befreundeten Eduard Uffenheimer (Klavier, Lebensdaten unbekannt) und einem Elias Glaunach (Generalbass, Lebensdaten unbekannt). 8

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zu Friedrich von Hausegger

Schulabschluss entschied er sich für den bürgerlich sicheren Weg eines Jurastudiums, trug sich jedoch lange mit dem Vorhaben, professioneller Musiker zu werden. Hierzu nahm er während seiner Wiener Studienzeit ab 1858 Unterricht in Komposition bei dem ehemaligen Salieri-Schüler und Klaviervirtuosen Karl Gottfried Salzmann (1797–1871) und ab 1861 – während seiner Promotion – beim berühmteren Hofopernkapellmeister Felix Otto Dessoff (1835–1892). Da – wie eingangs erwähnt – sein Sohn später ausschließlich von ihm kompositorisch geschult werden wird, soll zunächst ein kurzer Blick auf die Wiener Unterrichtstradition geworfen werden, um eine Vorstellung von den möglichen Ausbildungsinhalten Friedrich von Hauseggers zu erhalten. Wiener Tradition Von zentraler Bedeutung für die Kompositionslehre im Wien des 19. Jahrhunderts war die enge Verbindung zur Kirchenmusik:13 Nahezu alle wichtigen Lehrpersönlichkeiten der Stadt, von Johann Georg Albrechtsberger (1736–1809) bis Anton Bruckner (1824–1896), kamen von der Orgel.14 Diesem Umstand verdankte die Ausbildung eine traditionsorientierte Ausrichtung mit Fokus auf Generalbass und Kontrapunkt und die daran anknüpfenden Improvisationstechniken in Form der Präludier- und Partimentopraxis.15 Die wachsende Diskrepanz zwischen der an Stimmführungskonventionen aus vergangenen Jahrhunderten orientierten Lehre und der fortschreitenden Entwicklung des Tonsatzes zeitgenössischer Komposition dürfte zu manch kurioser Begebenheit geführt haben – und wird auch Hausegger nicht verborgen geblieben sein: Schon vor seiner Promotion hatte er sich dem Verfassen von Musikrezensionen gewidmet und darin eine vehemente Begeisterung für die avantgardistischen Opern Richard Wagners gezeigt.16 So mag wohl in jenem historisch-biographischen Zusammenhang sein Beweggrund gelegen haben, nach Salzmann keinen Kirchenmusiker mehr, sondern einen Kapellmeister für den weiteren Kompositionsunterricht 13  Vgl. Tittel 1966; Wagner, M. 1974; Wason 1982;

Wason 72010; Bernstein 72010.   Eine erwähnenswerte Ausnahme hiervon ist der Kompositionslehrer und Komponist Emanuel Aloys Förster (1748–1823). Vgl. Wagner, M. 1974, 14. 15  Vgl. dazu auch Holtmeier 2008 a, 284ff. sowie ders. 2008 b, 777–780. 16  Der Person Wagner stand Hausegger jedoch bis etwa Anfang der 1880er Jahre distanziert gegenüber. Vgl. Flotzinger 1986, 203ff. 14

Wiener Tradition

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aufzusuchen. Beinahe symptomatisch für die Kluft zwischen Theorie und Praxis erscheint eine ungewöhnliche Wendung in der Vita Salzmanns: Nach fast 20-jährigem Wirken als Theorie- und Kompositionslehrer am Wiener Konservatorium sah er sich – eventuell ausgelöst von einer missglückten und entsprechend rezensierten Aufführung eigener Werke17 – dazu veranlasst, seine Stelle zu kündigen und eine eigene, nunmehr der Grundausbildung verpflichtete »öffentliche Musikschule für Gesang, Violine, Pianoforte wie Generalbaß und Compositionslehre« zu eröffnen.18 An dieser dürfte Hausegger vorstellig geworden sein. Doch auch der Unterricht bei Dessoff fand nicht im Rahmen von dessen Konservatoriumstätigkeit statt,19 sondern wurde privat erteilt – die Gründe sind derzeit noch offen.20 Von Dessoff ließen sich keine Unterrichtsinhalte und -materialien ausfindig machen;21 von Salzmann jedoch existiert ein Lehrbuch der Tonkunst,22 auf welches später noch einmal genauer eingegangen werden soll. Sein über die Musik hinausgehendes Kunstinteresse bewegte Hausegger 1864 dazu, mit Gleichgesinnten die kurzlebige »Künstlerverbindung Wartburg« zu gründen. In einem dort gehaltenen Vortrag zu Palestrina23 und dem darin dargelegten cäcilianischen Standpunkt eines »Verfalls« der aktuellen Kirchenmusik stellte er die bemerkenswerte These auf, dass der Komponist des 16. Jahrhunderts in seiner Musik ausschließlich seine Andacht manifestiert habe, während sich dagegen die Zeitgenossen bemühten, historische Ideen zu exponieren – in gewisser Weise eine Vorausnahme von Hauseggers später in mehreren Büchern und Aufsätzen dargelegten »anthropologischen« Sichtweise auf die Entstehung von Musik. 17  Vgl. AmZ vom 14.8.1939, 649 und Wagner, M. 1974, 18. 18  Vgl. Wagner, M. 1974, 18.

 Von seinem Sohn Siegmund später vermutlich aus ungenauer Erinnerung heraus anders angegeben (vgl. Brief an Theodor Kroyer (1873–1945) für das Herder Konversations-Lexikon von 1902, Münchner Stadtbibliothek/Monacensia, Signatur: Hausegger, Friedrich von A III/1). 20  Nach Danz (1981, 22f.) könnte die Altersgrenze am Konservatorium den Ausschlag gegeben haben. 21   Angefragt wurde hierfür das Archiv der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien und das Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde Wien. 22  Erschienen 1842 in Wien. 23  Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525–1594) gilt als einer der wichtigsten Komponisten der Renaissance: Seine vergleichsweise konsequent streng und sehr sanglich konzipierte Satztechnik hat im 20. Jahrhundert zum Fachbegriff Palestrina-Stil geführt. 19

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zu Friedrich von Hausegger

Graz Im Jahr 1865 zog Hausegger aus beruflichen Gründen nach Graz. An der dortigen Universität war er vier Jahre zuvor zum Doctor iuris promoviert worden. Neben seiner Tätigkeit als Konzipient des ortsansässigen Gerichtsadvokaten24 publizierte er weiterhin als Musikreferent sowohl für den Wiener Volksfreund als auch für zwei Grazer Tageszeitungen und überregional unter anderen für die von Robert Schumann gegründete Neue Zeitschrift für Musik unter der Redaktion Franz Brendels (1811–1868) – jenes Mannes, der den Begriff »neudeutsche Schule« (wohl spätestens) 1859 eingeführt hatte.25 1869 eröffnete Hausegger eine eigene Rechtsanwaltskanzlei. Trotz seiner eigentlichen Leidenschaft für die Musik übte er den Beruf des Advokaten nicht nur zum reinen Broterwerb aus, sondern engagierte sich auch gegen soziale Ungerechtigkeiten26 – was ihm bald den Beinamen »Armendoktor« verschaffte. Zwei Jahre später heiratete er die im Juni 1843 geborene Hedwig Goedel. Am 16. August 1872 bringt sie ihren ersten Sohn zur Welt, der von Friedrich den Namen eines seiner jüngeren Brüder erhält: des bereits im Alter von 25 Jahren verstorbenen Siegmund27 (und somit auch den Namen des Vaters).28 Wann Hausegger sich dazu entschlossen hatte, sich nicht nur auf seine Rezensionstätigkeit zu beschränken, sondern eine wissenschaftliche Akkreditierung zu verfolgen, bleibt offen; jedenfalls hatte er sich bereits vor der Eröffnung seiner Kanzlei mit der Schrift Die Instrumentalmusik und das Programm vergeblich um eine Lehrbefugnis an der Grazer Universität 24  Vgl. Marsoner o. J. und Danz 1981, 23. 25  Vgl. Roth und Roesler 2020, VII und 1555–1576 sowie Altenburg 1997, 66. 26 Darunter durch die Gründung einer Finanzinstitution mit dem Namen »Erste Steiermärk-

ische Selbsthilfsgenossenschaft« im Jahr 1881 oder 1889. Entnommen aus S. v. Hauseggers unveröffentlichten »Angaben zur Lebensgeschichte« (ohne Datum), im Privatbesitz Prof. S. v. Hauseggers. 27  Der ein Jahr jüngere Bruder galt als großes Malertalent und war ebenfalls Mitglied in der »Künstlerverbindung Wartburg« gewesen; die erhaltenen Gemälde thematisieren überwiegend Szenen aus der germanischen Mythologie. 28  Die weiteren Vornamen lauten Konrad Friedrich. Vgl. Einwohnermeldekarte im Stadtarchiv München, Signatur: EWK 76 H 509.

Graz

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bemüht.29 Mit Musik und Sprache würde ihm 1872 schließlich die venia legendi als »Privatdocent für Geschichte und Theorie der Musik«30 erteilt werden. Das Ereignis erhält über Hauseggers Vita hinaus historische Bedeutung, da es den Beginn der Musikwissenschaft an der Karl-Franzens-Universität Graz markiert. Nach dem erfolgreichen Gesuch würde auch Eduard Hanslick (1825–1904) die Schrift zur Beurteilung vorgelegt werden, der anmerkte, dass sie »zwar Fleiss und Talent, nicht aber Originalität oder tieferes Studium des Gegenstandes verrathe«.31 Trotz initialen Urteils und der konträren musikästhetischen Haltungen, die die beiden zeitlebens vertreten sollten, würde Hausegger bei seiner – allerdings vergeblich bleibenden – Bemühung um eine Professur auf Hanslicks Fürsprache zählen können.32 Nicht nur im universitären Bereich, auch in der städtischen Musikpflege nahm Hausegger mit und neben seiner umfangreichen Publikationstätigkeit nachhaltig Einfluss. So wurde er zum initiierenden Gründungsmitglied zweier bedeutender Bürgervereine: des Singvereins (ab 1866) und des Wagnervereins (von 1873–1876 zum Zweck der Förderung des Bayreuther Festspielhauses und ab 1883 aus persönlicher Verehrung des Komponisten)33.34 Neben der Anerkennung Hans von Wolzogens (1848–1938), für dessen Bayreuther Blätter Hausegger einige Beiträge verfasste, erhielt er zum 10-jährigen Bestehen auch einen Dankesbrief von Cosima Wagner (1837–1938).35 Hauseggers Engagement bildete den Grundstein dafür, dass Graz sich in der Folge zum Zentrum der Wagnerpflege in Österreich entwickelte.36 29  Vgl. Flotzinger 2010, 78 und Scholz 2011. 30  Siehe das Vorlesungsverzeichnis (Akademische Behörden, Personalstand und Ordnung der

Vorlesungen) der Karl-Franzens-Universität für das Sommersemester 1872, 14. 31  Zitiert nach Danz 1981, 36. 32  Vgl. Flotzinger 2010, 83. 33  Vgl. Flotzinger 1986, 203f. 34 Außerdem gründet Hausegger 1887 den »Advokatenverein, den Deutschen Sprachverein Graz«. Entnommen aus S. v. Hauseggers unveröffentlichten »Angaben zur Lebensgeschichte« (ohne Datum), im Privatbesitz Prof. S. v. Hauseggers. 35   »Durch Mr. [Houston Stewart] Chamberlain [1855–1927] habe ich viel von seinen schönen Tagen in Graz gehört, u. ich denke stets an diese Stadt als an das Heim der besten Freunde u. Vertreter Bayreuths.« (Danz 1981, 48). 36  Dort gründete sich 1961 die »Österreichische Richard Wagner-Gesellschaft«.

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Darüber hinaus engagierte er sich maßgeblich im »Steiermärkischen Musikverein«, dessen Direktorium er ab 1886 angehörte und dessen Musikschule er von da an leitete. Sein Bestreben, Reformen nach den bekannten Konzepten Richard Wagners (die dieser seinerzeit an Ludwig II. skizziert hatte) durchzusetzen, stieß allerdings auf massiven Protest: So hatte beispielsweise die Berufung seines ehemaligen Studenten, des Komponisten und erklärten Wagnerianers Wilhelm Kienzl (1857–1941),37 zum künstlerischen Leiter der Schule den Rücktritt von fünf Direktionsmitgliedern zur Folge. Als Klavierlehrer konnte er den renommierten Karl Pohlig (1858– 1928) verpflichten, bei dem später auch Siegmund Unterricht nehmen würde. Geschickt nutzte er den Mangel an geeigneten Räumlichkeiten zur Realisierung eines Neubaus, der 1891 fertiggestellt wurde und dem Bayreuther Vorbild entsprechend über einen Saal mit verdecktem Orchestergraben für 60 Musiker verfügte. Der an Wagner orientierte Plan, die Musikschule zu einer professionellen Singakademie mit Anbindung an die Opernschule zu erweitern, scheiterte letztlich – trotz großen Engagements des renommierten Gesangslehrers und Balladenkomponisten Martin Plüddemann (1854– 1897). Mit dessen Weggang 1894 verließ auch Hausegger das Direktorium. Pädagogik Friedrich von Hauseggers pädagogische Reformen sollten hingegen länger Bestand haben. Sie würden nicht nur vor Ort weiter praktiziert werden, sondern sogar landesweit vom Wiener Ministerium den anderen Musikschulen als Vorbild anempfohlen werden.38 Eine der Neuerungen dieses Konzepts waren Hauseggers wöchentliche offene Vorträge für interessierte Schüler in Harmonielehre, Kontrapunkt und Formenlehre.39 Andere Neuerungen betrafen das Vermitteln der Inhalte durch aktive Teilnahme im Sinne grundlegender praktischer Musiziererfahrung – dazu heißt es bei ihm:

  Kienzl war auch einer der Mitgründer des Wagnervereins. Bemerkenswerterweise schloss er seine in Graz begonnenen Studien mit einer Promotion bei Hanslick in Wien ab. Vgl. Sittner 1958, 887. 38  Vgl. Danz 1981, 53. 39  Vgl. ebd. 51. 37

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Die Grundlage jedes musikalischen Unterrichts muss der Gesang sein. […] Die Chorübungen von Franz Wüllner [1832–1902]40 sind, wie kaum sonst eine Schule, geeignet, die Elemente der Musik in fruchtbringender Weise zu vermitteln. Das Studium ihrer ersten Abteilung soll (wie dies z. B. bereits im steiermärkischen Musikvereine mit Erfolg der Fall ist) jedem Unterrichte auf einem Instrumente vorhergehen.41

Die für das Unterrichten seines Sohnes maßgeblichen pädagogischen Überzeugungen und Grundsätze hat Friedrich in zwei Aufsätzen hinterlegt;42 ein geplantes Buchprojekt mit dem Titel Die künstlerische Erziehung des Menschen konnte er vor seinem Tod jedoch nicht mehr verwirklichen.43 Siegmunds Unterricht Der Gesang wird daher dem Unterrichte in der Musik zur Grundlage dienen müssen, und zwar ein Gesang, welcher dem Kinde Freude macht, und der es zur Entäußerung seiner Lust drängt. Entsprechende rhythmische Körperbewegungen sind damit zu verbinden. Erst wenn dem Kinde Rhythmus und tonische Verhältnisse in einer Weise beigebracht worden sind, welche seine seelische Teilnahme sichern und ihm so das Verständnis für ihre Bedeutung als Ausdrucksmittel wecken und wach erhalten, darf zu weiteren Aufgaben geschritten werden. Mit den beginnenden technischen Übungen auf einem Instrumente müssen stets Übungen des Gehöres Hand in Hand gehen. […] Der Schüler muss, was er singt, spielen und bezeichnen, was ihm bezeichnet wird, spielen und singen können; er muss fortschreitend immer verwickeltere Tongebilde zweifellos, rhythmisch und tonisch erfassen und in Noten aufschreiben lernen.44

In diesem Zitat deutet sich an, dass Hauseggers pädagogischer Ansatz auf die körperliche und seelische Empfindung des Schülers – als direktestem und unmittelbarstem Zugang zur Musik – zielt. In dieser Erziehung zur »seelischen Teilnahme« nimmt das Rhythmische eine herausgehobene Position ein, das sowohl hinsichtlich des Singens eine wichtige Rolle zu spielen 40  Franz Wüllner war jener Dirigent, der auf Anweisung von Ludwig II. und gegen den Willen Richard Wagners in München die Uraufführungen des Rheingolds und der Walküre geleitet hatte. Gemeinsam mit Josef Gabriel Rheinberger (1839–1901) stand er seit 1867 der »Königlich bayerischen Musikschule« vor und fasste nach rund zehn Jahren erfolgreicher Chorschultätigkeit diese in der zweibändigen Publikation Chorübungen der Münchner Musikschule zusammen. Dass Hausegger hier ein gutes Gespür besaß, zeigt die später einsetzende ungeheure Verbreitung der Chorübungen. Vgl. hierzu auch Edelmann 2005, 155. 41  Hausegger, F. v. 1903 a, 529. 42  Hausegger, F. v. 1903 b. Vgl. Danz 1981, 53f. (Fußnote): publiziert in der Allgemeinen Deutschen Musik-Zeitung XI, Nr. 40 und 41, 3. und 4. Oktober 1884, 339f. und 349f., außerdem Hausegger, F. v. 1903 b, 519–531. 43  Vgl. Hausegger, S. v. 1903, IX. 44  Hausegger, F. v. 1903 a, 521.

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hat (die Chorübungen Wüllners wurden von diesem explizit mit Blick auf Rhythmik konzipiert)45 als auch für die Erlernung des Generalbasses.46 Selbst die Vermittlung von Stimmführungs- und Tonsatzregeln dürfe nicht »zur trockenen Theorie« verkommen, sondern es müsse durch Sensibilisierung des Gehörs ihr Sinn bewusst und nachhaltig verankert werden.47 Den eigentlichen Tonsatzunterricht gibt Siegmund einige Jahre später mit folgenden Worten wieder: Von einem Tag auf den andern hatte ich eine kleine theoretische Aufgabe zu schreiben, welche in der Stunde durchgespielt und besprochen wurde. Der Unterricht war ein sehr genauer und gründlicher. In den schwierigsten kanonischen Formen und vor allem in der Fuge mußte ich mich vollständig zu Hause fühlen. Ich erinnere mich, mit wahrer Leidenschaft eine Unzahl Fugen geschrieben zu haben.48

Einzelne Aufgaben sind nicht überliefert, doch kann davon ausgegangen werden, dass Friedrich nicht nur die Inhalte und Methoden der eigenen Ausbildung einfach übernahm und weitergab, sondern sich – auch im Hinblick auf seine Universitätslehre49 – zudem (oder insbesondere) an zentralen 45   »Was denselben [= Gesangsübungen] vielleicht eigen sein dürfte, ist die gleichzeitige Entwickelung des rhythmischen und tonlichen Elements. Gerade die Ausbildung des ersteren ist fast noch wichtiger als die des letzteren.« (Wüllner 21878, 4). 46   »Das Studium des Generalbasses wird dadurch zur trockenen Theorie, dass dabei der Rhythmus keine Berücksichtigung erfährt. Tonfolgen offenbaren ihre Gesetze dem Ohre nur dann vollständig, wenn sie auch in ihrer rhythmischen Anordnung erkannt und als Melodien erfasst werden können.« (Hausegger, F. v. 1903 a, 530). 47  »Der Wust von Regeln, mit welchen das Gedächtnis belastet wird, führt dem Schüler auf Umwegen das zu, was ihm ein durch entsprechende Übung geläutertes Gehör und rhythmisches Gefühl in ebenso leichter wie fruchtbarer Weise lehren. Auch auf dem Gebiete des Unterrichtes soll die Regel der Erfahrung folgen. Unzulässigkeiten, welche sich dem sich immer mehr schärfenden tonischen und rhythmischen Gefühle des Schülers offenbaren, werden in gleichem Maße in ihm die Frage nach den Regeln zu ihrer Vermeidung erwecken. Dann aber wird ihm die Bedeutung dieser Regeln auch wirklich verständlich werden.« (ebd.). 48  Hausegger, S. v. 1920, 14f. 49  Hier finden sich neben musikgeschichtlichen Vorlesungen auch folgende Veranstaltungen: »Harmonie, Contrapunkt und Form [–] entwickelt und praktisch erläutert« (Sommersemester 1878); »Die Grundzüge der Harmonielehre des Contrapunctes und der Formenlehre« (SS 1880); »Harmonie, Contrapunkt und Form« (SS 1886); »Übungen in der angewandten Harmonielehre (Generalbass). Voraussetzung: Kenntnis der Tonarten« (SS 1888); »Melodie- und Harmonielehre« (Sommer- und Wintersemester 1894/95); »Praktische Übungen in der Harmonielehre (Generalbass)« (SS 1895), »Contrapunkt und musikalische Form (Verbunden mit Übungen)« (WS 1895/96); »Die musikalische Form« (WS 1896/97). Siehe die Vorlesungsverzeichnisse der Karl-Franzens-Universität jener Jahre.

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deutschsprachigen Lehrwerken der Zeit orientierte. Die im Folgenden aufgeführten Autoren (und Publikationen) finden in seinen Schriften Erwähnung; sie dürfen deshalb als Referenzquellen betrachtet werden und sollen dementsprechend bei den später durchgeführten Werkanalysen Berücksichtigung finden: Albrechtsberger, Johann Georg, Sämmtliche Schriften, 3. Bde., hg. von Ignaz von Seyfried, Wien: Haslinger 1837. Marx, Adolf Bernhard,50 Allgemeine Musiklehre (1839)51 und Die Lehre von der Komposition (1839–1847),52 Leipzig: Breitkopf & Härtel. Tappert, Wilhelm, Musikalische Studien (1868), Berlin: Guttentag; Das Verbot der Quinten-Parallelen (1869), Leipzig: Matthes.53 Riemann, Hugo (1877): Musikalische Syntaxis. Grundriß einer harmonischen Satzbildungslehre, Leipzig: Breitkopf & Härtel.54 In den Zeitraum von Hauseggers Kompositionsausbildung und seiner Lehrtätigkeit fällt eine kaum überschaubare Zahl von Veröffentlichungen theoretischer Abhandlungen und Übungen. Da außer den oben genannten Lehrwerken keine weiteren, konkreteren Hinweise vorliegen, welche musiktheoretischen Quellen und Traditionen für die Ausbildung seines Sohnes eine Rolle gespielt haben könnten, werden für die Werkanalysen nur die 50  Marx lebte von 1795–1866. 51  Vorliegend in der sechsten Auflage von 1857.

52  Erschienen in vier Bänden (auch unter dem Titel Musikalische Kompositionslehre) – hier vorliegend: 1. Band in der sechsten Auflage (1863), 2. Band in der fünften Auflage (1864), 3. Band und 4. Band in der vierten Auflage (1863). 53  Lediglich das hier von Tappert (1830–1907) genannte Bedürfnis, welches zu einem Verbot paralleler Quinten geführt habe, wird von Hausegger in einer späten Publikation als knappe Erwähnung am Rande bestätigt. Vgl. Hausegger, F. v. 1895, 72. 54   Diese relativ früh erschienene Schrift eines der einflussreichsten Theoretiker für das 20.  Jahrhundert taucht in Hauseggers Anfängen der Harmonie (1895) lediglich am Rande auf, wo es um ein altgriechisches ›Kadenzempfinden‹ gegenüber jenem der Dur-/Molltonalität geht. Vgl. ebd. 47 und 49. Es sei hier erwähnt, dass Riemann (1849–1919) in dieser Publikation auch explizit von Helligkeitscharakteristik hinsichtlich der Harmonien und ihrer Vorzeichen spricht, insofern also jene mit b »dunkel« usw. seien und mit Zunahme der Vorzeichen tiefer »hinab« sänken, während für die # -Tonarten entsprechend das Gegenteil gelte. Vgl. Riemann 1877, 117–120.

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verbreitetesten beziehungsweise jene in Betracht gezogen, die im spezifischen deutsch-österreichischen Kulturraum eine besondere Wirkung und Ausstrahlung entfaltet haben. Es handelt sich dabei um jene gedruckten und allgemein zugänglichen Werke (aufgrund der spezifischen Quellenlage kann es hier leider nur um diese allein gehen), die in der einschlägigen Forschung in großem Konsens als »relevant« betrachtet werden, ohne dass hier im Einzelnen der Nachweis dafür erbracht wird (beziehungsweise im Rahmen der Arbeit erbracht werden kann). In chronologischer Ordnung handelt es sich (neben den oben genannten) um folgende Quellen: Dehn, Siegfried Wilhelm, Theoretisch-praktische Harmonielehre mit angefügten Generalbassbeispielen (1840), Berlin: Schlesinger;55 Die Lehre vom Contrapunkt, dem Canon und der Fuge (1859), Berlin: Schneider.56 Dürrnberger, Johann August (1841),57 Elementar-Lehrbuch der Harmonieund Generalbaß-Lehre, Reprint Linz: Anton Bruckner Institut 2017. Salzmann, Karl Gottfried (1842), Lehrbuch der Tonkunst, Wien: Strauss. Lobe, Johann Christian (1850, 1855, 1860, 1867),58 Lehrbuch der musikalischen Komposition (4 Bde.), Leipzig: Breitkopf & Härtel; Vereinfachte Harmonielehre (1861), Leipzig: Siegel. Hauptmann, Moritz (1853),59 Die Natur der Harmonik und der Metrik, Leipzig: Breitkopf & Härtel. Richter, Ernst Friedrich,60 Lehrbuch der Harmonie (1853),61 Lehrbuch der Fuge (1859)62 und Lehrbuch des einfachen und doppelten Contrapunkts (1872), Leipzig: Breitkopf & Härtel. Sechter, Simon (1853),63 Die Grundsätze der musikalischen Komposition, Leipzig: Breitkopf & Härtel. 55  Vorliegend in der 2. Auflage von 1860. 56  Posthum herausgegeben von Dehns (1799–1858) Schüler Bernhard Scholz (1835–1916). 57  Dürrnberger lebte von 1800–1880. 58  Lobe lebte von 1797–1881. 59  Hauptmann lebte von 1792–1868. 60  E. F. Richter lebte von 1808–1879. 61  Vorliegend in der sechsten Auflage von 1866. 62  Vorliegend in der dritten Auflage von 1874. 63  Sechter lebte von 1788–1867.

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Bellermann, Heinrich (1862 und 1877), Contrapunct, Berlin: Springer.64 Helm, Johann (1872),65 Die Formen der musikalischen Composition in ihren Grundzügen, Erlangen: Deichert. Kistler, Cyrill (1879),66 Harmonielehre, München: Schmid in Comm. Weitzmann, Carl Friedrich, Der übermäßige Dreiklang (1853), Berlin: Guttentag; Der verminderte Septimenakkord (1854) Berlin: Peters; Harmoniesystem (1860) und Neue Harmonielehre im Streit mit der alten (1861), Leipzig: Kahnt; Handbuch der Theorie der Musik (1888), Berlin: Enslin.67 Jadassohn, Salomon, Musikalische Kompositionslehre (1883–1889)68 und Das Wesen der Melodie in der Tonkunst (1899), Leipzig: Breitkopf & Härtel. *** Im Jahre 1890 verließ ich das Gymnasium mit dem Hochgefühle, nun den freien akademischen Boden betreten zu dürfen. Bis zu diesem Zeitpunkte hatte ausschließlich der Vater meinen musikalischen Unterricht in der Hand, der sich auf Klavierspiel69 und Theorie erstreckte; nur für Violine besuchte ich die Schule des »Steiermärkischen Musikvereins«.70

64  Bellermann lebte von 1832–1903. In Hauseggers Anfängen der Harmonie taucht zwar am Rande ein »H. Bellermann« auf, doch handelt es sich hier offenbar um eine Verwechslung mit dessen Vater Johann Friedrich Bellermann (1795–1874; genannt werden dessen Publikationen Die Hymnen des Dionysos und Mesomedes von 1840 und Die Tonleitern und Musiknoten der Griechen von 1847). Vgl. Hausegger 1895, 29, 35f. und 40. 65  Helm lebte von 1842–1917. 66  Kistler lebte von 1848–1907. 67   Posthum herausgegeben von Weitzmanns (1808–1880) ehemaligem Schüler Felix Schmidt (1848–1927). 68  Dieses Lehrwerk Jadassohns (1831–1902) erstreckt sich auf fünf Bände: 1. Lehrbuch der Harmonie (1883), 2. Lehrbuch des Contrapunkts (1884 a), 3. Die Lehre vom Kanon und von der Fuge (1884 b), 4. Die Formen in den Werken der Tonkunst (1885) und 5. Lehrbuch der Instrumentation (1889). 69  In einem Aufsatz von Emil Krause (vermutlich 1840–1916) über Siegmund von Hausegger heißt es: »Das Klavierspiel stützte sich auf die Methode von Johann Buwa (Graz) in Verbindung mit Bertini, Cramer, Clementi, Tausig und Kullak.« (Krause 1908). 70  Hausegger, S. v. 1920, 13. Geigenunterricht erhält er hier von Ferdinand Casper/Kaspar (1821–1911). Entnommen aus S. v. Hauseggers unveröffentlichten »Angaben zur Lebensgeschichte« (ohne Datum), im Privatbesitz Prof. S. v. Hauseggers.

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Dem ist zu entnehmen, dass der heimische Unterricht über den umfangreichen Zeitraum von zwölf Jahren stattgefunden haben muss. Es mag deshalb durchaus überraschen, dass Siegmund in seinem Universitätsstudium sämtliche Veranstaltungen seines Vaters belegen wird – sogar die »Melodie- und Harmonielehre«-Vorlesung im Sommer- und Wintersemester 1894/95. Über die dort gelehrten Inhalte lässt sich allerdings nur spekulieren. Als bedeutsame Schriften, die in dieser Zeit zu diesem Thema veröffentlicht wurden und die vielleicht für diese Vorlesung eine Rolle gespielt haben könnten, kämen wohl am ehesten der Katechismus der Harmonielehre (von 1890)71 und die Vereinfachte Harmonielehre (von 1893)72 von Hugo Riemann73 infrage. Das Verhältnis von Vater und Sohn scheint generell ein außerordentlich gutes gewesen sein, was wohl nicht zuletzt an der geduldigen, besonnenen Persönlichkeit Friedrichs74 gelegen haben mag. Tatsächlich war Siegmund in seinen Kinderjahren ein »zartes, leicht Stimmungen unterworfenes« Kind, das der Mutter durch seinen »Eigensinn und Jähzorn« wiederholt Anlass zur Klage gab. Nach dem frühen Tod seines drei Jahre jüngeren Bruders »Fritz«75 Anfang 1882 blieb er Einzelkind.76 Zur ersten Berührung mit der Welt der Musik kam es bereits im frühen Kindesalter in der heimischen Wohnung,77 wo sich »regelmäßig ein stattlicher Kreis von Künstlern und 71  Riemann 1890.

 Riemann 21893. Darin finden sich u.a. die noch heute gelehrten Funktionszeichen (T, S, D) zur analytischen Bestimmung kadenzieller Klangabfolgen. 73  1889 war von Riemann außerdem der Johannes Brahms (1833–1897) gewidmete Katechismus der Kompositionslehre erschienen, bei dem es sich allerdings um eine reine Formenlehre handelt. Da Hausegger zwischen dem Sommersemester 1886 und dem Wintersemester 1895/96 keine dementsprechenden Veranstaltungen hielt, wird diese Schrift für die Analyse von Siegmund von Hauseggers Kompositionen nicht berücksichtigt werden. 74  Vgl. Danz 1981, 55. 75  Vgl. Hausegger, S. v. 1920, 10. Es sei an dieser Stelle auf die Koinzidenz des früh versterbenden jüngeren Bruders mit dem Namen des jeweiligen Vaters hingewiesen. 76 Entnommen aus S. v. Hauseggers unveröffentlichten »Angaben zur Lebensgeschichte« (ohne Datum), im Privatbesitz Prof. S. v. Hauseggers. 77  Bis 1880 in der Hofgasse 8, anschließend für zwei Jahre in der Herrengasse 5, dann für vier Jahre am Hauptplatz 12 und schließlich in der Postgasse 2. Vgl. Vorlesungsverzeichnis der Karl-Franzens-Universität. 72

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kunstverständigen Dilettanten zu zwanglosen musikalischen Veranstaltungen« zusammenfand, »bei welchen der Hausherr als vortrefflicher Klavierspieler, die Hausfrau mit einer schönen Stimme begabt mitwirkten«.78 Das baldige »allzu freie« Phantasieren am Klavier wurde durch Hedwig »in vernünftigere Bahnen« gelenkt, bevor seiner »leidenschaftlichen Liebe zur Musik Statt gebend« der Vater den Unterricht übernahm.79 Zur guten Beziehung zwischen Vater und Sohn dürften auch Friedrich von Hauseggers pädagogische Grundsätze beigetragen haben, die dieser in einem der bereits genannten Aufsätze wie folgt darlegt: Technische Übungen, welche Selbstüberwindung erfordern, sollen daher dem Kinde dadurch erleichtert werden, dass es sie in Gegenwart und unter dem Willenseinflusse des Lehrers zu machen hat. Dies gibt Bürgschaft für ihre Richtigkeit und erspart dem Kinde die Beschämung, welcher es ausgesetzt wäre, wenn es seiner Aufgabe allein nicht richtig oder nicht vollständig genug gerecht geworden wäre. […] Regt sich im begabten Kinde die Lust nach freieren Bethätigungen im Tonelemente, so ist es, wenn ernsteren Übungen in obiger Art genügt worden ist, nicht notwendig, allzu strenge Zügel anzulegen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass bei strenger Einhaltung des ernsten Unterrichts die Gestattung einer freieren Bethätigung etwa im freien Phantasieren am Klaviere, im Einstudieren von dem Kinde gefallenden, wenn auch zu schwierigen Tonstücken und namentlich im Ausdrucke seiner Empfindungen durch den Gesang durchaus nicht von Nachteil ist, sondern vielmehr im Gegenteile nicht selten einer ungeahnten Entwicklung der musikalischen Begabung Raum giebt. 80

Und entsprechend berichtet sein Sohn, dass [d]as rein mechanische Üben […], wenigstens während der ersten Unterrichtsjahre, auf die Stunde unter der Aufsicht meines Vaters beschränkt [war]; außerhalb dieser konnte ich spielen, was ich wollte, wenn es auch meine Technik weit überschritt. […] Meine Kompositionen beeinflußte der Vater hingegen in keiner Weise;81 darin sollte ich volle Freiheit genießen und scheinbar meinen Weg selbst finden. Scheinbar; denn, mir ganz unmerklich, wußte er mich auch hier dadurch zu leiten, daß er mir da und dort bestimmter geartete Anregungen zu neuem Schaffen gab oder meine Aufmerksamkeit auf vorbildliche Kunstwerke hinlenkte. Auch meinen Kunstgeschmack ließ er sich individuell entwickeln, von der Ansicht ausgehend, daß der Jünger nicht sofort

78  Vgl. Hausegger, S. v. 1920, 9. 79  Vgl. ebd., 10. Für eine weitere Einflussnahme der Mutter auf die musikalische Erziehung Siegmunds fanden sich keine Hinweise. 80  Hausegger, F. v. 1903 a, 529. 81  Damit sind nicht Siegmunds Kanon- und Fugenkompositionen gemeint, die aus seiner Sicht – und im Konsens seiner Zeit – lediglich als Tonsatzübungen verstanden wurden.

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zu Friedrich von Hausegger zu den großen Endresultaten einer Epoche gelenkt werden, sondern aus dem seelischen Bedürfnis und Fassungsvermögen des jeweiligen Alters sich seine Lieblingsmeister frei wählen solle.82

Musik als Ausdruck Wenngleich sich Hauseggers Pädagogik auch als autonomes, rein »praktisches« Konzept verstehen ließe, entstand sie doch vor dem Hintergrund eines umfassenden philosophisch-ästhetischen Überbaus: Musik begriff Friedrich von Hausegger als die in bewegte Töne und Klänge gebrachte seelische Empfindung83 des Komponisten – als Ausdruck eines individuellen Zugangs zu jenem metaphysischen Bereich, welcher die Quelle aller künstlerischen Tätigkeit sei.84 1885 legte er diese grundlegenden philosophisch-ästhetischen Ansichten in seiner Schrift Die Musik als Ausdruck dar.85 Von höchster Wichtigkeit für die Geschichte der Kunst überhaupt, und namentlich für die der Musik, wäre endlich eine Geschichte des Ausdruckes. […] Gewisse Ausdrucksformen sind […] unserer Natur so eigen, daß sie einer wesentlichen Veränderung im Laufe geschichtlicher Entwickelung nicht unterliegen, daher zu allen Zeiten und an allen Orten verstanden werden.86

Mittelton-Konzeption Hausegger beginnt seine Ausführungen zur Ausdruckserzeugung – wenig überraschend – bei der menschlichen Stimme, die je nach Stimmlage (Sopran, Alt, Tenor, Bass) einen ihr jeweils eigenen, vom Erregungszustand des Menschen abhängigen, »relativen Mittelton« besäße.87 Eine veränderte Erregung sorge für eine andere Tonhöhe dieses Mitteltons.88 Mit dem Aufkommen der Sprache und ihrer Deklamation bildeten sich neben Melodik und Phrasierung auch verfeinerte Betonungen und Rhythmen aus, deren Ursprung bereits im Herzschlag und in äußeren Bewegungen des 82  Hausegger, S. v. 1920, 14f. 83  Von Siegmund später verkürzt als »Ausdruck der Persönlichkeit« bezeichnet. Vgl. ebd., 14. 84  Vgl. Hausegger, F. v. 21887, 200 und 203. 85  Vorliegend in der zweiten Auflage von 1887. Den Begriff »Ausdruck« dürfte er von Wag-

ner übernommen haben. Ein Jahr zuvor hatte er die Inhalte des Buches als Aufsatzfolge in den Bayreuther Blättern publiziert. Vgl. Flotzinger 1986, 202 und 205. 86  Hausegger, F. v. 21887, 126f. 87  Vgl. ebd., 13f. 88  Vgl. ebd., 14.

Musik als Ausdruck – Mittelton-Konzeption

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menschlichen Körpers – insbesondere der Gebärde – liege. Für den musikalischen Ton resultierten und entwickelten sich die Tonhöhen aus der Naturtonreihe, ebenso wie die Harmonik.89 Dieses Verständnis von »Mittelton« übeträgt Hausegger in solcher Weise auf das Dur-/Mollsystem, dass Entspannung und Ruhe des Mitteltons sich melodisch als Grundton einer Tonart wiederfinden. Mit dem Hinzutreten der Harmonik wird diese Eigenschaft jedoch nicht gleichsam mechanisch für die Tonika übernommen (wie dies zum Beispiel von Moritz Hauptmann gelehrt wird), sondern die Einzeltonempfindung bleibt innerhalb des Ganzen bestehen, tritt aber je nach Zusammenstellung eines Klangs in unterschiedlicher Wirkung auf: Eine veränderte Intervallschichtung verweist auf einen anderen Mittel- alias Grundton – für Hausegger der eigentliche Grundgedanke modulatorischer Veränderung. Über konkrete ästhetische Wirkungen von Harmonik äußert er sich nicht. In seinem Aufsatz »Ästhetik von Innen« finden sich – mit Berufung auf die Schriften Richard Wagners90 – lediglich ein paar Worte zum Auftreten als Einzelakkord oder in Form einer rhythmisierten Abfolge: Die Harmonie ist ihm [Wagner] selbst dann eine durchaus geistige Offenbarung, wenn sie ohne Anspruch auf den Rhythmus nur als Accord in der ihm selbsteigenen Wirkung, ohne Zuhülfenahme der Gesetze der Zeit für das Verständnis, wie bei Palästrina, sich offenbaren will […]. Sie ist dann eben nichts Anderes, als der Ton in eine bestimmte   Ernst-Joachim Danz weist an dieser Stelle auf den vermeintlichen Widerspruch hin, dass der von Friedrich von Hausegger postulierte Ausschließlichkeitsanspruch der Unmittelbarkeit einer zum Ausdruck gebrachten Empfindung sich nicht mit dem Konzept einer vorgegebenen starren Struktur bzw. Systematik (der Naturtonreihe) vertrage: »Sobald aber der Ausdruck durch nicht gefühlsimmanente Kriterien bestimmt wird, verliert er durch die Ausrichtung auf gefühlsfremde Orientierungspunkte seine substantielle Eigenart der Unreflektiertheit. Im Moment des Hinzutretens eines ›Leitbildes‹ büßt der Ausdruck seine Spontanität ein und wird zur Darstellung.« (vgl. Danz 1981, 118–120). Diese und die an dortiger Stelle noch folgende Kritik wirkt etwas überspitzt, da schließlich die Naturtonreihe für die Musik eine sukzessive Veränderung erfuhr und sich erst innerhalb dieses Rahmens das künstlerische (im 19.  Jahrhundert »künstliche«!) Ausdrucksbedürfnis des Menschen zunehmend entfaltete. Hausegger geht mehrmals auf die Wechselwirkung des musikalischen Ausdrucksbedürfnisses mit dem Hören ein, durch die das konkrete Ausdrucksgebaren in seiner Genese eine zunehmende Verfeinerung erfahre – und damit erst die Voraussetzung, eine Kunstform auszubilden, erfülle. 90  Er hebt in diesem Zusammenhang insbesondere die 1871 erschienene Schrift Beethoven hervor. 89

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zu Friedrich von Hausegger Beziehung zum Mitteltone gebracht. Tritt in den Accordfolgen die Zeit bestimmend ein, so muss sie als Gebärdenrhythmus sich dem Ausdrucksbedürfnisse unterordnen, um so der eigentlichen Kunstaufgabe treu zu bleiben.91

Die in der Tonphysiologie aufkommende weitere Reduktion auf den separierten Einzelklang erachtet Hausegger für ein Begreifen musikalischer Gesetzmäßigkeiten als bedeutungslos, da singuläre akustische Erscheinungen ohne dahinter agierende Künstlerpersönlichkeit auch kein Mitempfinden – und damit keinen Ausdruck – übertrügen.92 Dieser Rahmen seiner Kunstanschauung mit dem starken Gewicht auf anthropologischer Empfindung und dem Ausschluss einer wissenschaftlich-akustischen Reizuntersuchung als möglichem musikalischen Experimentierfeld steht in auffälliger Nähe zu einer bestimmten philosophischen Strömung, auf die an späterer Stelle noch eingegangen werden soll. zur Melodie Folgerichtig wird der ursprünglich im Individuum erzeugte Ausdruck in seiner Übertragung auf die Musik für Hausegger durch das Melodische bestimmt (dessen bislang fehlende systematische Erschließung er 1885 beklagt)93 – und für dessen Gesetzmäßigkeiten er naheliegende Vergleiche zur Sprache zieht: Untersuchen wir das, was sich uns als Melodie, d[as]. i[st]. als eine unserem Verlangen entsprechende Tonverbindung darstellt, nach seinen wesentlichen Bedingungen, so kommen wir zu dem uns nicht mehr überraschenden Ergebnisse, dass die Gesetze, nach welchen eine Melodie sich in Beziehung auf Tonabstände und Zeitfolge bildet, zusammenfallen mit den im menschlichen Organismus waltenden Gesetzen, von welchen die körperlichen Ausdrucksarten bestimmt sind. Die in Melodien vorkommenden wirksamen Wendungen entsprechen den Tonfällen der ausdrucksvollen Sprache, Betonungsgesetze sind in der Musik und der Sprache gemeinsam, die rhythmische Anordnung der Melodie ist wie die der Sprache abhängig von der Organisation der menschlichen Organe. Die Abschnitte der Melodie entsprechen den Atembewegungen, 91  Hausegger, F. v. 1903 c, 450. 92  Vgl. Hausegger, F. v. 1903 d, 297f.; 1903 e, 319f.; 1903 c, 451 und 1903 f, 489. 93  »Man hat sich leider noch nicht die Mühe gegeben, die Gesetze der Melodik in gleich eingehender Weise zu ermitteln wie die der Harmonik. Die Ursache davon ist wohl Mangel an einem praktischen Bedürfnisse dazu.« (Hausegger, F. v. 21887, 161). Es bleibt zu überlegen, inwieweit diese auch in mancher damaliger Harmonielehre geäußerte Klage vielleicht auf den sehnlichen Wunsch, »melodisches Talent« zu »erlernen«, zurückzuführen ist.

Musik als Ausdruck – zur Bedeutung der Form

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ihr Rhythmus den den Lautausdruck begleitenden und bestimmenden Körpergebärden, ihr Zurückführen auf ein gleiches Maß im Takte dem Herzschlage. Analysiert man eine einen Erregungszustand treffend charakterisierende Melodie, so wird man finden, dass sie in ihren Tonwendungen, ihrem Rhythmus, ihrem Zeitmaße zusammenfällt mit den Äußerungen, welche sich im menschlichen Körper beim gleichen Erregungszustande kundgeben. Tonfolgen, welche sich vom menschlichen Ausdrucke in Laut und Gebärde entfernen, entziehen sich in gleichem Maße der Aufnahme ins Empfindungsleben und damit der der Musik eigenen, ihren Wert bestimmenden Wirkung.94

Entsprechend dieser ursprünglichen Ausdrucksdominanz des Melodischen kann die historisch später hinzutretende Harmonik für Hausegger nur eine ihm untergeordnete Rolle einnehmen.95 zur Bedeutung der Form ›Musikalischer Ausdruck‹ definiert sich für ihn somit in erster Linie durch eine nicht näher bestimmte innere Erregung des Komponisten, die dieser mit den ihm zur Verfügung stehenden künstlerischen Mitteln in Klangereignisse umsetzt: Je unmittelbarer diese Umsetzung erfolgt, desto wirkungsvoller (= ausdrucksvoller) ist sie.96 Da diese unmittelbare Wirkung für Hausegger höchste Priorität besitzt, bildet den Ausgangspunkt einer Komposition – auch hinsichtlich ihrer Form – ihr erster beziehungsweise ihr grundlegender Bewegungsimpuls. Um die Form für den Hörer empfindbar, sprich: unmittelbar erfahrbar zu machen, müsse der Impuls Rhythmik beinhalten97 (hier sei an deren Bedeutung in der Pädagogik erinnert). Dabei herrschten weder »starre 94  Hausegger, F. v. 1903 e, 323. 95  »Will die Harmonie künstlerische Bedeutung haben, so muss sie der Melodie dienen, d. h. sie muss dazu dienen, den Zusammenschluss der Melodietöne zu einer Einheit, demnach das Verhältnis jedes einzelnen zu dieser darzulegen.« (Hausegger, F. v. 1903 c, 450). 96   »Der Künstler schöpft aus den Tiefen seines eigenen Gemüthslebens, wenn er sich in Tönen und Formen äußert, die auch Andern die Befreiung wie eine eigene Ausdrucksäußerung gewähren soll, und je tiefer er in sein Inneres greift, je ursprünglicher, ungehemmter der Strom des Schaffens in ihm lebendig wird, desto besser wird er diese Absicht erreichen.« (Hausegger, F. v. 21887, 225f.). Und: »Die Musik ist als Ausdruck die unmittelbarste Übertragung von Erregungszuständen des Künstlers auf den Zuhörer.« (Hausegger, F. v. 1903 g, 536). Damit geht Friedrichs Ausdrucksdefinition über das heutige, musikhistorische Verständnis, der sich ab der ›Frühklassik‹ / dem ›Rokoko‹ abzeichnenden »Sprachfähigkeit« des Melodischen, hinaus bzw. lässt sich eher mit der Intensivierung durch (und ab) Beethoven verbinden. 97  »In ihrer Lebendigkeit ist die Form Rhythmus.« (Hausegger, F. v. 21887, 201).

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zu Friedrich von Hausegger

Gesetze«98 – eine Notwendigkeit von Takt-Symmetrie lehnt er explizit ab – noch reine Willkür: Als Voraussetzung gilt Hausegger das »Mitempfinden«, das sich im »Mitschwingen« des Körpers legitimiere.99 Obwohl jener Impuls Hauseggers Ausführungen zufolge ein komplettes musikalisches Thema umfassen kann, stellt sich vielleicht die Frage, wie aus diesem Mitschwingen eine umfassendere Formeinheit, wie zum Beispiel ein Sonatensatz konkret erwachsen soll. Hauseggers Antwort zeigt an dieser Stelle die Grenze einer rein gefühlsbasierten Begründung des Kompositionsprozesses auf: Wie das Lied (als dessen erweiterte dreiteilige Form er – wie auch andere Autoren seiner Zeit – die Sonatensatzform definiert), so sei auch der gesamte Satz Rhythmus, aus dem sich der Zusammenhang der einzelnen Teile ergebe. Und um diesen Zusammenhang zu gewährleisten, bedürfe es eines besonders wirkungsreichen Impulses im Hauptthema.100 Eine schwache Impulskraft könne nicht durch den noch so geschickten Umgang mit Motivik kompensiert werden.101 Zur Legitimation formaler Kriterien schreibt er: »Jede Form ist berechtigt, wenn sie der wahrhafte Ausfluß eines Bewegungsimpulses ist, als dessen nothwendige Stadien sich ihre Theile darstellen; keine Form ist berechtigt, die sich nur als Ausfüllung eines Schemas zeigt.«102 Im Aufsatz »Ästhetik von Innen« entwickelt er den Gedanken ins Extreme: »Die Form an sich hat – für uns wenigstens, die wir Anhänger der 98  Hausegger, F. v. 21887, 199. 99  Vgl. ebd., 198. 100  »Die Mächtigkeit des Impulses muß sich sogleich im Hauptthema zeigen. Dasselbe muß entwickelungsfähig sein, es muß den Anstoß zur ganzen folgenden Ausbreitung in fühlbarer Weise enthalten. Es genügt also nicht, daß es Motive bringe, die im Spiel der Töne zu mannigfaltiger Verwendung und Bearbeitung dienen.« (ebd., 201). Dieser Gedanke ist nicht als Umsturz bisheriger theoretisch-ästhetischer Ansichten zu werten, sondern als eine Verschärfung der z.B. bereits bei Marx (41863 (Bd. 3), 222) zu lesenden Aufforderung, für einen Satz in Sonatenform den Sätzen (Melodien) eine »tiefere Bedeutung« mit größerem Umgestaltungsspielraum zu geben als beispielsweise jenen für die leichtere und kürzere Form einer Sonatine. 101  »Die Gewandtheit, mit der Motive zum Gewebe einer großen Form verarbeitet werden, ersetzt die Macht des Impulses, welcher zu breiten Bewegungsformen führt, nicht.« (Hausegger, F. v. 21887, 202). Dies sieht Marx (41863 (Bd. 3), 222f.) anders, der, obwohl es »unkünstlerisch« erscheine, dazu auffordert, auch aus einem »an sich weniger bedeutenden Satz« eine größere Form zu gewinnen, um damit eine »Probe seines Kunstgeschicks abzulegen«. 102  Hausegger, F. v. 21887, 203.

Musik als Ausdruck – Hausegger vs. Hanslick

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Aesthetik von Innen sind – gar keine Bedeutung. Sie ist die entseelte Hülse, sobald der Vorgang fehlt, in welchem sie zum Schönen, d. i. zu einer eigenen Art des Selbstgenusses, führt […].«103 Hausegger versus Hanslick Da in den Werk-Analysen der Bedeutung formaler Prinzipien nachgegangen und der Konflikt »Empfindung versus Form« später noch einige Male eine Rolle spielen wird, soll im Folgenden ein kurzer Blick auf zentrale ästhetische Positionen der beiden Kontrahenten geworfen werden. In der Musik als Ausdruck widerspricht Hausegger drei maßgeblichen Punkten aus Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen: a) Dem Herabsetzen der Vokalmusik104 und daraus folgend der Oper105 (insbesondere der Musikdramen Richard Wagners);106 b) dem zwar nicht ausschließlich anzusprechenden, aber in seiner Bedeutung letztlich wichtigeren Reflexionsvermögen in der Perzeption der Musik107 und der sich daraus ergebenden c) formalen Konzeption als einem primären Wertkriterium.108 103  Hausegger, F. v. 1903 c, 445. 104   »Man sieht, daß die Vocalmusik, deren Theorie niemals das Wesen der Tonkunst bestimmen kann, auch praktisch nicht im Stande ist, die aus dem Begriff der Instrumentalmusik gewonnenen Grundsätze Lügen zu strafen.« (Hanslick 1854, 23). 105   Für Hanslick (ebd., 27f.) findet in der Oper ein Kampf zwischen den Prinzipien von »dramatischer Genauigkeit« und »musikalischer Schönheit« statt, der die Ursache für »alle Unzulänglichkeiten der Oper« sei. 106  »Denn eine Oper, in der die Musik immer und wirklich nur als Mittel zum dramatischen Ausdruck gebraucht wird, ist ein musikalisches Unding.« (ebd., 31). 107  »Ausschließliche Bethätigung des Verstandes durch das Schöne verhält sich logisch anstatt ästhetisch, eine vorherrschende Wirkung auf das Gefühl ist noch bedenklicher, nämlich geradezu pathologisch.« (ebd., 5). »Die Erkenntniß eines Gegenstandes und dessen unmittelbare Wirkung auf unsre Subjectivität sind himmelweit verschiedene Dinge, ja man muß der letzteren in eben dem Maße sich zu entwinden wissen, als man der ersteren nahe kommen will.« (ebd., 7). »Der wichtigste Factor in dem Seelenvorgang, welcher das Auffassen eines Tonwerks begleitet und zum Genusse macht, wird am häufigsten übersehen. Es ist die geistige Befriedigung, die der Hörer darin findet, den Absichten des Componisten fortwährend zu folgen und voran zu eilen, sich in seinen Vermuthungen hier bestätigt, dort angenehm getäuscht zu finden. […] Ohne geistige Thätigkeit gibt es überhaupt keinen ästhetischen Genuß.« (ebd., 78). 108  »Man pflegt nämlich das ein Tonstück durchwehende Gefühl als den Inhalt, die Idee,

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zu Friedrich von Hausegger

In einem Brief an den befreundeten Schriftsteller Peter Rosegger (1843– 1918) aus dem Jahr 1890 verdeutlicht sich anschaulich Hauseggers generelle Ablehnung eines ausschließlich rationalen Zugangs zur Musik mit der Klarstellung: »Insbesondere will ich nicht als trockener Theoretiker gelten, denn solche sind mir das Verhassteste.«109 Für viele Verehrer Wagners erschien mit der Musik als Ausdruck ein ersehntes Gegenkonzept zu Hanslicks Publikation, welche wiederum inhaltlich auch im Hinblick auf dessen gewichtige Kritiken an Wagners Opern nur zu gern auf »rational-formalistische« Wertmaßstäbe reduziert wurde.110 Entsprechend folgte von dieser Seite heftige Kritik an der Schrift Hauseggers: Doch nicht Hanslick selbst ergriff das Wort, sondern sein Schüler und späterer Leiter des Mozarteums Robert Hirschfeld (1857– 1914) – mit dem Hausegger sich daraufhin einen längeren argumentativen Schlagabtausch liefern sollte.111 Programmmusik112 Trotz der oben aufgezeigten unterschiedlichen Positionen von Hanslick und Hausegger (die Letzterer nicht müde wurde, immer wieder hervorzuden geistigen Gehalt desselben anzusehen, die künstlerisch geschaffenen, bestimmten Tonfolgen hingegen als die bloße Form, das Bild, die sinnliche Einkleidung jenes Übersinnlichen. Allein gerade der ›specifisch-musikalische‹ Theil ist Schöpfung des künstlerischen Geistes, mit welchem der anschauende Geist sich verständnisvoll vereinigt. In diesen concreten Tonbildungen liegt der geistige Gehalt der Composition, nicht in dem vagen Totaleindruck eines abstrahirten Gefühls. Die dem Gefühl, als vermeintlichem Inhalt, gegenübergestellte bloße Form (das Tongebilde) ist gerade der wahre Inhalt der Musik, ist die Musik selbst; während das erzeugte Gefühl weder Inhalt noch Form heißen kann, sondern factische Wirkung.« (ebd., 72 (Fußnote)). 109  Zitiert nach Danz 1981, 48f. Siegmund von Hausegger würde den Briefwechsel seines Vaters mit Rosegger 1924 als Buch herausgeben und eine lebenslange Freundschaft mit dessen Sohn Sepp ( Josef Peter, 1874–1948), Arzt und Komponist, pflegen. 110   Vgl. Hinrichsen 2017. Sehr positive Rezensionen erschienen u.a. von Bernhard Vogel (1847–1898) in der NZfM vom 17.7.1885, 301f. und deutlich umfangreicher von Arthur Seidl (1863–1928) im Musikalischen Wochenblatt vom 27.5., 4.6., 17.6. und 24.6.1886, 273ff., 287f., 303f. und 318–321. 111  Vgl. Danz 1981, 58–62. 112  Der Begriff wird in der vorliegenden Arbeit für selbstständige (Instrumental-)Musik mit einem außermusikalischen Sujet (vornehmlich für die programmatische Symphonik ab dem 19. Jahrhundert) und insbesondere in der Tradition entsprechender Kompositionen der Neudeutschen Schule gebraucht. Zur Begriffsproblematik siehe Altenburg 1997, 1821–1844.

Musik als Ausdruck – Programmmusik

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heben) besteht zwischen beiden auch eine Gemeinsamkeit: die kritische Haltung gegenüber der Programmmusik. Obwohl Hanslick in seiner differenzierten Kritik auch die positiven Aspekte der Programmmusik hervorhebt,113 sind für sein abwertendes Urteil zwei Argumente maßgeblich: dass der Hörer zum einen mit der Überschrift des Werks »genöthigt«114 sei, etwas außerhalb der Musik Liegendes in deren Bewertung einzubeziehen, zum anderen, dass dieses äußere Sujet bis zu einem gewissen Grad austauschbar sei. Hausegger hingegen sieht als Ausgangspunkt den Mangel an Ausdruckskraft. Zu dessen Kompensation suche man in der zeitgenössichen Musikproduktion entweder Zuflucht im Formalismus, oder man bediene sich einer außermusikalischen Assoziation, mit der man den Hörer fesseln zu können glaube.115 Während also Hanslick keine Notwendigkeit eines außermusikalischen Sujets sieht, führt Hausegger es jedoch gerade zum Nachvollziehen der Höreindrücke an. Ihm gilt als Urheber beider Erscheinungen (Formalismus und Programm) der in der Welt der Musik zwar verständige, jedoch des Ausdrucks nur unzureichend fähige »Kenner«.116 Somit begründen beide Autoren ihre scheinbar gemeinsame Kritik aus gänzlich verschiedenen Richtungen kommend: Hausegger beschränkt sich auf die Perzeption, Hanslick legt den Fokus auf die Poietik.117 113  Vgl. Hanslick 1854, 92ff. 114  Ebd., 93. 115  Vgl. Hausegger, F. v. 21887, 193–195. Dort konstatiert Hausegger einen Rollentausch von

Text und Musik: In der Programmmusik vermittle dieser nun die Stimmung und jene die konkreten Inhalte. 116  »Seine Ohnmacht, in den Tönen ein anderes, als das ihrer Natur eigene Leben zu entdecken, sein Drang andererseits, sich vor der unheimlichen Gewalt dieses seelenlosen Lebens zu retten und es mit einem ihm fremden Gehalte zu erfüllen – Beides findet in der Programmmusik den entsprechendsten Ausdruck. Das Ungetüm lechzt nach fremdem Blut.« (Hausegger, F. v. 1903 d, 299). Bereits in der Musik als Ausdruck spricht Friedrich von Hausegger – als Konsequenz seiner Ausführungen zur geringen Bedeutsamkeit der Form – dem »Laien« gegenüber dem »Kenner« hinsichtlich der Bewertung eines Kunstwerks die bessere Beurteilungsfähigkeit zu (vgl. Hausegger, F. v. 21887, 202). Mit dieser Bewertung des Publikums folgt er den bereits 150 Jahre zuvor auftretenden ersten Ansätzen der Empfindsamkeit bei Jean-Baptiste Dubos (auch Abbé Dubos (1670–1742), 1719 dargelegt in den Réflexions critiques sur la poésie et la peinture), die wiederum als eine Wurzel der Lebensphilosophie gesehen werden können. 117  Vgl. Nattiez 1990..

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zu Friedrich von Hausegger

Mit Blick auf das Schaffen von Franz Liszt (1811–1886) und Hector Berlioz (1803–1869) spricht Hausegger der Programmmusik jedoch keineswegs die Existenzberechtigung ab: Man mag über die ästhetische Bedeutung der Programmmusik wie immer denken, umgangen kann sie nicht werden. Wer sie nicht als Schlußergebnis anerkennen will, dem muß sie mindestens ein hochinteressantes Durchgangsstadium sein.118

Bedenken jener Gattung gegenüber, die wenige Jahre später von seinem Sohn um neue Schöpfungen bereichert werden wird, bleiben bestehen; doch begegnet er durchaus mit einer gewissen Aufgeschlossenheit den Werken jenes jungen Komponisten, der sich nur wenige Jahre vor Siegmund daran gemacht hatte, das Erbe der Neudeutschen anzutreten und weiterzuentwickeln: In Richard Strauss’ Symphonischen Dichtungen119 findet Hausegger eine Richtung eingeschlagen, der seine ursprüngliche Kritik nicht mehr gerecht wird: Sich den Programmmusikern nähernd, unterscheidet er [Strauss] sich doch dadurch von ihnen, daß er bei seiner Heranziehung dichterischer Anregungen dem Geiste der Musik nie untreu wird. Selbst wo er sich in abstrakte Gebiete verliert, wie in seiner symphonischen Dichtung Also sprach Zarathustra, ist es nicht so sehr ein durch philosophische Denkergebnisse als vielmehr durch den ihnen zu Grunde liegenden Gefühlsinhalt erweckter Drang, der ihn bestimmt, sich in Tönen auszusprechen.120

Lebensphilosophie Wie bereits angeklungen, zeigt sich in Hauseggers Musikauffassung ein starker Bezug zu den (erst später dargelegten) lebensreformatorischen Gedanken Wilhelm Diltheys (1833–1911) und Henri Bergsons (1859–1941). In der vornehmlich von diesen begründeten (insgesamt aber recht uneinheitlichen) Lebensphilosophie steht das Fühlen und Erleben (Dilthey), der Impuls des Lebens (der sog. élan vitale) und die Intuition (Bergson) über einem verstandes- und vernunftgesteuerten Zugang zur Welt – gewissermaßen als Gegenströmung zum (Neu-)Kantianismus.121 Angefangen bei Hauseggers 118  Hausegger, F. v. 1903 h, 257. »Während Liszt sich von den ihm vorschwebenden Bildern

zum Schaffen befeuern lässt, verleiht Berlioz den seinigen den Überschwang eigenen Empfindens.« (ebd., 258). 119  Vgl. hierzu auch Werbeck 2006. 120  Hausegger, F. v. 1903 i, 261. 121  Vgl. Albert 1995.

Musik als Ausdruck – Lebensphilosophie

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geistiger Verbindung zu Rousseau (in dessen Musikästhetik er zudem Gemeinsamkeiten zu jener Wagners sieht)122 und auch zu Schopenhauer,123 über die Pädagogik mit ihrem Ansatz der körperlichen Erfahrung und Empfindung, dem Fokus auf das Bewegt-Melodische als Herrscher über das Harmonische, der Kritik an einem auf das Formalistische abzielenden musikalischen Urteil und schließlich der Ablehnung der rational-wissenschaftlichen Tonphysiologie, ist er unverkennbar diesem Zeitgeist zuzuordnen – möglicherweise innerhalb der Musikästhetik durch den thematischen Umfang und die Stringenz seiner Ausführungen sogar in einer Vorreiterrolle. Nachvollziehbarerweise wurde an dieser radikal lebensreformatorischempfindsamen Auffassung seinerzeit starke Kritik geübt,124 und in der Tat ist Hauseggers Verständnis vom musikalischen ›Ausdruck‹ durch Impuls und Bewegung nicht leicht auf die Ebene einer konkreten praktischen Kompositionslehre zu übertragen. Dennoch mögen seine Ausführungen nicht vorschnell als rein abstrakt abgetan werden: In der Folge geht es auch darum, das Fortleben dieses Denkens in Siegmund von Hauseggers Werken aufzuzeigen. Einige Jahre nach der Musik als Ausdruck würde Hausegger in seiner deutlich umfangereicheren Arbeit Das Jenseits des Künstlers den Versuch unternehmen, auf empirische Weise dem konkreten Moment des Entstehens und des Schaffens, also jener zum Ausdruck führenden inneren Erregung des Künstlers, nachzugehen.125 Zusammenfassung Die Berührung mit Wagners Musik dürfte für Friedrich von Hausegger eine wichtige, wenn nicht die Weichenstellung gewesen sein, sich einer wissenschaftlichen Annäherung an musikalische Ausdruckskraft und -empfindung zu widmen. Ob die damit einhergehende starke Relativierung formaler 122  Vgl. Hausegger, F. v. 1902, 1909–1917 und ders. 1903 j, 37–47. 123  Vgl. Hausegger, F. v. 1878.

 Vgl. z.B. Hermann Kesser (1880–1952?) in der NZfM vom 13.7.1904, 527ff. und vom 27.7.1904, 547ff. 125   Hierzu bittet er Dichter und Komponisten zur Selbstbeobachtung und verbindet die Ergebnisse mit u.a. der Forschung Hermann von Helmholtz’ (1821–1894). Vgl. Hausegger, F. v. 1893. 124

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Ansprüche an ein Werk auch durch die frühe Schrift Eduard Hanslicks motiviert wurde, kann nur vermutet werden. Angeregt durch das Musikinteresse seines Sohnes entwickelte Hausegger zudem eine entsprechend orientierte Pädagogik. Im Zeitgeist der Lebensphilosophie stehend sieht ihr Konzept die menschliche Artikulation des Ausdrucks und die dahingehende Sensibilisierung des Lernenden in erster Linie (anthropologisch) durch Stimme und Gehör vor; erst im Anschluss daran soll eine rationale theoretische Legitimierung durch Vermittlung der Stimmführungsregeln erfolgen. Im Folgenden wird nun der Werdegang seines Sohnes beleuchtet werden; der Nachname »Hausegger« gilt fortan für ihn.

2. Siegmund von Hausegger Jugend 126 Zu seinen musikalischen Vorlieben während seiner Jugendjahre schreibt Siegmund: Es gab für mich eine Zeit, in der ich leidenschaftlich für Field’sche »Nokturno’s«,127 Mendelssohn’sche »Lieder ohne Worte« und Grieg’sche Sonaten schwärmte. Sie wurden verdrängt durch einen feurigen Schumann-kultus. Immer mächtiger aber wurde der Zauber der Wagner’schen Kunst, der endlich zugleich mit der schrankenlosen Begeisterung für Beethoven und Bach von meinem Wesen völlig Besitz nahm. (15)

In der Schule muss er aufgrund seiner geringeren Körpergröße manch »mutwillige Neckerei« (10) ertragen, die er aber durch Leistungen in anderen Bereichen zu kompensieren weiß. Mit Freunden bringt er selbstgedichtete »Trauerspiele nach der griechischen und römischen Geschichte« (10) zur Aufführung,128 bei denen insbesondere »das Verfertigen von Waffen und Kostümen, sowie nach glücklich gelungener Première ein allgemeiner Kampf mit antiken Holzschwertern und Pappschildern« (10f.) für Begeisterung sorgen.129 Zu diesen Dramen schreibt er seine ersten Ouvertüren und untermalt einzelne Szenen mit spontanen Improvisationen am Klavier.130 Als er vom Direktor des Gymnasiums die Aufforderung erhält, eine schülertaugliche Messe zu komponieren, steckt sich der Kanon- und Fugen-geschulte junge Hausegger hohe Ziele: »Mein Vorbild war kein 126  Die Ausführungen und Zitate in diesem Abschnitt stammen – sofern nicht gesondert vermerkt – alle aus einem Kapitel von Siegmund von Hauseggers Betrachtungen zur Kunst (9–23). Der Übersicht und Platzersparnis zuliebe wird daher auf weitere Fußnoten zu dieser Quelle verzichtet und stattdessen lediglich die jeweilige Seitenzahl hinter die Zitate gesetzt. 127  John Field (1782–1837) gilt als Begründer der Gattung. Im Vergleich zu den später entstehenden Nocturnes von Frédéric Chopin (1810–1849) fallen die Field’schen durch eine geringere Hervorhebung der Dissonanzen harmonisch zurückhaltender aus. Sie besitzen zudem eine insbesondere rhythmisch weniger ausgezierte Melodie und die tiefen Register des Klaviers werden noch nicht in Chopin’schem Maße ausgeschöpft. Somit bleibt der Charakter insgesamt weniger kontrastreich und weniger expressiv als bei seinem polnischen Kollegen. 128 Darunter die Dramen Julius Cäsar und Herakles (1883 od. 1884) – zu letzterem entsteht auch eine Ouvertüre. Entnommen aus S. v. Hauseggers unveröffentlichten »Angaben zur Lebensgeschichte« (ohne Datum), im Privatbesitz Prof. S. v. Hauseggers. 129 Ab 1884 erhält Siegmund Unterricht im »Rapier- und Säbelfechten«. Entnommen ebd. 130  Vgl. auch Noë 1906, 133f.

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Siegmund von Hausegger

geringeres als Bachs h-moll-Messe, die der 16 jährige Tonsetzer in glücklicher Ahnungslosigkeit an kontrapunktischer Kunst womöglich noch übertrumpfen wollte.« (11) Die hohen Ambitionen machen allerdings den ursprünglichen Plan zunichte: Ausufernde Länge und für die Schüler unüberwindbare gesangliche Hürden verhindern die vorgesehene Aufführung der Komposition. Doch Friedrich liegt viel daran, dass sein Sohn das Werk zu hören bekommt, und es gelingt ihm eine stattliche Anzahl professioneller und semiprofessioneller Musiker (inklusive eines 50-köpfigen Chors) heranzuziehen. Einige Proben später erklingt die Messe »im alten Musikvereinsaale vor etwa 200 Zuhörern« (12) – unter der persönlichen Leitung des stolzen Komponisten, der hier seine ersten Erfahrungen als Dirigent sammeln kann. »Die Hoffnung, welche ein Kritiker aussprach, daß in mir ein Kirchenkomponist heranwachsen könnte, erfüllte sich nicht.« (12) Die Elixiere des Teufels von E.T.A. Hoffmann (1776–1822) versetzen das »jugendliche Gemüt in wahren Fieberparoxismus« (12) und regen zur Komposition einer Klavierfantasie an. Weitere Kompositionen dieser Gattung folgen, außerdem Sonaten und Lieder ohne Worte – und darüber hinaus ein Klavierquartett als »seltsames Gemisch von klassischem und modernem Style« (12). Hauseggers Vorlieben in der Schule sind »in fast bedenklicher Weise« (12) deutsche Literatur und Geschichte. In Grenzen hält sich seine Faszination für Mathematik und Physik, während die Fächer Logik und Psychologie aufgrund der »stark pedantischen Art des Gymnasiallehrplanes« eine »eher abschreckend[e] als fördernd[e]« (13) Wirkung ausüben. Die von Hausegger und einigen Mitschülern bedauerte »stiefmütterlich[e]« (13) Behandlung der Kunst führt zur Gründung einer »Wissenschaftlichen Gesellschaft« (13). Allwöchentlich trifft man sich, um »in hitzigen Debatten« über »die fundamentalsten Themen, wie ›Das Wesen der Kunst‹, ›Endlich und unendlich in ihrer philosophischen Bedeutung‹« und »›Was ist Liebe?‹« (13) zu diskutieren. Sogar eine geheime Vereinszeitung wird herausgegeben »in beständiger Angst vor der Polizei« und mit einem dramatischen Ende »vor den Schranken des Gerichts« (13) vor Augen.

Studienzeit

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In der Oberstufe verschiebt sich seine Begeisterung von der Antike zum alten Germanentum und inspiriert ihn – unter stilistischem Einfluss von Wagner – zur Komposition einer Ouvertüre zum abermals selbstgedichteten Ermenrich131 im »modernsten Orchestergewande« (11).132 Die nachhaltig beeindruckenden Konzerte, die Hausegger in seiner Jugend in Graz erlebt, sind mit elf Jahren Der fliegende Holländer, 1885 Die Meistersinger von Nürnberg und ein Jahr darauf die Erstaufführung der 7. Symphonie von Anton Bruckner unter dessen eigener Leitung: Einen Kunstgenuß eigener Art bot eine freie Improvisation auf der trefflichen Orgel des Stephaniensaales, die Bruckner vor einem kleinen Kreise von Zuhörern dem Konzerte folgen ließ. Damals erwachte in mir jene warme Verehrung für Bruckners Schöpfungen […]. (16)133

Im selben Jahr erlebt Hausegger auch zum ersten Mal die Festspiele in Bayreuth mit Tristan und Isolde und Parsifal auf dem Programm: »Dieser Bayreuther Fahrt folgten in den nächsten Jahren noch weitere, welche für meine künstlerische Entwicklung von einschneidender Bedeutung waren.« (17) Studienzeit134 Entsprechend seinen schulischen Interessen, die insbesondere durch seinen Deutschlehrer Ferdinand Khull (Lebensdaten unbekannt) und den Geschichtsunterricht bei Heinrich Noë (Lebensdaten unbekannt), dem Vater seines Freundes Oskar,135 bestärkt wurden, belegt Hausegger an der Universität die Fächer Literatur-, Kunst- und Musikgeschichte sowie Philosophie und Geschichte. Veranstaltungen des noch jungen Kunsthistorikers Josef Strzygowski (1862–1941) faszinieren ihn in besonderer Weise, so dass 131  Höchstwahrscheinlich handelt es sich dabei um Ermanarich den Goten und nicht um Ermenrich den Sueben/Schwaben. 132 1886 – und somit zwei Jahre vor Ermenrich – entsteht noch das Drama Arminius. Entnommen aus S. v. Hauseggers unveröffentlichten »Angaben zur Lebensgeschichte« (ohne Datum), im Privatbesitz Prof. S. v. Hauseggers. 133  Weiter gefestigt wurde Siegmund von Hauseggers Vorliebe durch die 1894 in Graz gegebene Uraufführung von Bruckners 5. Symphonie unter Franz Schalk (1863–1931). 134  Es gilt für Inhalte und Zitate dasselbe wie für den vorangegangenen Abschnitt. 135  Späterer Widmungsträger der Dionysischen Phantasie.

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er sich einige Zeit mit dem Gedanken trägt, das Fach zu seinem Beruf zu erwählen.136 Vorwiegend musikgeschichtlich bleibt während Hauseggers Studienzeit das Vorlesungsangebot seines Vaters: »Richard Wagner als Schriftsteller« (Wintersemester und Sommersemester 1890/91), »Die Musik in ihrem Verhältnis zur Sprache und zu den übrigen Künsten« (WS 1892/93), »Geschichte der abendländischen Musik« (WS 1893/94), »Geschichte der abendländischen Musik von Palestrina an« (SS 1894), »Melodie- und Harmonielehre« (SS und WS 1894/95 – wie bereits erwähnt) und in diesem letzten Semester außerdem »Geschichte der neueren und neuesten Musik«, lauten die Titel der Veranstaltungen.137 Trotz der vielen Vorlesungen, die auf seinem Stundenplan stehen,138 geht Hausegger zahlreichen musikalischen Interessen nach. Mit Freunden widmet er sich in »sehr lauten Zusammenkünfte[n]« (17) nicht nur der Kammermusik, auch Richard Wagner wird enthusiastisch »gepflegt« – Hauseggers Ausführungen sprechen für sich: »Aktweise wurde der ›Ring‹ und ›Tristan‹ durchgerast und gebrüllt; gewöhnlich schlichen wir uns dann in wortloser Ergriffenheit zum Frühschoppen, wo sich die erschütterten Gemüter wieder rasch faßten.« (17) Häufiger verkehrt er im Hause der befreundeten Architekten-Familie Hofmann,139 wo sich unter anderen auch Wilhelm Kienzl, der Komponist und Hauseggers späterer Dirigentenkollege Felix Weingartner (1863–1942) und Hugo Wolf (1860–1903) einfinden: »Unvergeßlich wird mir bleiben, wie Wolf seine eigenen Lieder, ohne jede Stimme, aber mit ergreifendem Ausdruck und der unvergleichlichen Poesie seines Klavierspieles vortrug.« (17) Ob Friedrich vielleicht von dem Gedanken angetrieben wurde, sein Sohn könnte auf eine Laufbahn als Musiker verzichten, bleibt Vermutung; 136  Seine Dozenten sind neben Friedrich u.a. der Germanist Bernhard Seuffert (1853–1938), der Philosoph Alexius Meinong Ritter von Handschuchsheim (1853–1920), der Historiker Franz Krones Ritter von Marchland (1835–1902), der Archäologe Wilhelm Gurlitt (1844– 1905) und der klassische Philologe Max Theodor von Karajan (1833–1914; neben Friedrich von Hausegger ein Mitbegründer des Grazer Singvereins). Vgl. Vorlesungsverzeichnisse der Karl-Franzens-Universität. 137 Vgl. ebd. 138 Vgl. Siegmund von Hauseggers Studentenakte (Karl-Franzens-Universität). 139  Konkretere Hinweise zum Familienoberhaupt konnten nicht ausfindig gemacht werden.

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jedenfalls lässt er seine Kontakte nach Wien spielen, um ihm die Möglichkeit zu verschaffen, sich mit seinen Kompositionen dem dortigen Publikum vorzustellen. Im Winter des Jahres 1891 begeben sich Vater und Sohn auf die Reise in die nördlicher gelegene Hauptstadt Österreich-Ungarns. Während Siegmunds im »Wagnerverein« vorgetragenen Werke mit »freundlichem Beifalle« (18) aufgenommen werden, fällt der Ratschlag des mit Friedrich noch aus gemeinsamen Wiener Tagen gut bekannten Johannes Brahms140 weniger anregend aus: Als der Meister hörte, daß ich komponiere, riet er mir davon ab mit dem Hinweise darauf, daß »schon alles besetzt sei«. Ich solle tüchtig Geige studieren, dann könne ich als zweiter Geiger in einem Orchester unterkommen und, wenn es schon sein müsse, nebstbei komponieren. Wenig erbaut empfahl ich mich. (18)

Doch entmutigen lässt Siegmund sich nicht. Zurück in Graz komponiert er »dickköpfig weiter drauf los« (18): Es entsteht eine dreisätzige »Frühlingsymphonie« (für deren »ganz unmögliche« Besetzung er »eigens 40 liniges Notenpapier« drucken lässt) (18); anschließend nimmt er seine erste Oper in Angriff. Die Inspiration hierzu veranschaulicht noch einmal das außergewöhnliche, enge Verhältnis von Vater und Sohn: »Einem Traume, den mir mein Vater erzählte, entsprang die Anregung zu einem musikalischen Märchen ›Helfrid‹, dessen Text ich recht und schlecht selbst dichtete.« (18) Zur großen Freude der Hauseggers kommt die einaktige Komposition am Grazer Landestheater unter der Leitung Karl Pohligs zu erfolgreicher Aufführung.141 Davon angespornt macht Siegmund sich sogleich an sein nächstes Werk: Die Freuden des Studentenlebens, sowie den Kampf des ideal gesinnten Jünglings gegen materialistische Weltauffassung und verknöchertes Philistertum galt es in einer dreiaktigen, humoristisch-phantastischen Oper dramatisch darzustellen. (18f.)

140  Als Brahms sich 1862 um die Stelle als »Chormeister« der Wiener Singakademie bewor-

ben hatte, war dort auch Friedrich von Hausegger stimmberechtigtes Mitglied – und votierte in der knappen Entscheidung für den Norddeutschen. Gemeinsame Abende festigten das Verhältnis, und einige Jahre später konzertiert Brahms auf Hauseggers Einladung hin zwei Mal in Graz (vgl. Hausegger, F. v. 1903 k, 234f.; im Oktober 1882 würden beide zudem vor Ort eine Tannhäuser-Aufführung besuchen (entnommen aus S. v. Hauseggers unveröffentlichten »Angaben zur Lebensgeschichte« (ohne Datum), im Privatbesitz Prof. S. v. Hauseggers). 141  Am 22. März 1893.

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Wieder dichtet er den Text selbst, nun allerdings nach einer literarischen Vorlage: der Erzählung Klein Zaches, genannt Zinnober von E.T.A. Hoffmann.142 Im Januar 1895, kurz vor seinem Studienabschluss, hat Hausegger die Partitur fertiggestellt. Dieses Mal führt die Reise zur Begutachtung des Werks jedoch nicht nach Wien, sondern in die deutsche Hauptstadt zu Richard Strauss,143 Felix Weingartner, dem Dirigenten Karl Muck (1859– 1940) und dem Musikschriftsteller Oscar Bie (1864–1938). Ermutigt durch die »beifälligen Urteile« (19), und Strauss’ Aufforderung folgend, reicht Hausegger seine Komposition an der Münchner Hofoper ein, die diese auch umgehend annimmt. Doch würde es noch drei Jahre dauern, ehe sich sein Wunsch, das Werk unter der Leitung von Strauss der Öffentlichkeit vorzustellen, endlich erfüllt: Erst am 19. Juni 1898 geht die erfolgreiche Uraufführung des Zinnober über die Bühne. »Der äußere Erfolg war ein außerordentlich lebhafter, und ich hatte begründete Hoffnung, daß die Oper im Herbste wieder in’s Repertoire aufgenommen würde« (19),144 erinnert sich Hausegger. Es sollte jedoch anders kommen: Strauss, der sich vergeblich um   Es liegt nahe, dass die Anregung zu dem Stoff abermals von seinem Vater kam, da Friedrich von Hausegger rund 15 Jahre zuvor selbst mit dem Gedanken gespielt hatte, aus jener Erzählung ein Libretto zu dichten. Vgl. Danz 1981, 28. 143  Richard Strauss hatte in dieser Zeit neben seinem Münchner Engagement auch die von seinem verstorbenen Mentor Hans von Bülow (1830–1894) geleiteten Berliner Philharmoniker übernommen. Der persönliche Kontakt dürfte sich im Zuge von Friedrich von Hauseggers Recherche zum Jenseits des Künstlers gefestigt haben. 144  Durch »oftmalige Hervorrufe« vom Publikum ausgezeichnet, äußerte man sich hingegen in den überregionalen Besprechungen durchweg kritisch zu Hauseggers nicht immer nachvollziehbarer dramaturgischer Bearbeitung der Hoffmann’schen Vorlage (vgl. Signale vom 8.8.1898 und NZfM vom 6.7.1898), während die Musik selbst zu großer Anerkennung gelangt: »In musikalischer Hinsicht läßt das Werk in Hausegger einen an dem Studium der Partituren moderner Meister herangereiften Komponisten erkennen; mit bewundernswertem Geschick sind die modernen orchestralen Errungenschaften verwendet. Entzückende Klangwirkungen bieten sich dem Ohre dar; manchmal jedoch hätte der Komponist mit der Verwendung des Bleches, insbesondere der Trompeten ein wenig sparsamer sein können. Hausegger bedient sich des Leitmotives nach Wagner’scher Art […]. In der melodischen Linie zeigt sich keine stark hervortretende Individualität, und die Reminiscenzenjägerei würde in diesem Werke ein ergiebiges Feld der Thätigkeit finden. […] Die Beweise selbstständiger produktiver Thätigkeit lassen mit Recht Vortreffliches von dem weiteren Wachsthum des Dichter-Komponisten […] erwarten. Die Aufführung verdient volles Lob. Insbesondere war die orchestrale Wiedergabe der schwierigen Partitur unter der von liebevoller künstlerischer Hingabe Zeugniß ablegenden Leitung des Hofkapellmeisters Richard Strauß eine durchaus vortreffliche.« (Karl Pottgiesser (1861–1941) in der AmZ vom 8.7.1898, 408). 142

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die Nachfolge des berühmten Hermann Levi (1839–1900)145 beworben hatte, verlässt München. So »war auch das Schicksal des Werks besiegelt, es wurde ›der Bibliothek einverleibt‹« (19).146 Nichtsdestoweniger entwickelt sich aus der erfolgreichen Zusammenarbeit eine bleibende freundschaftliche Verbindung zwischen Richard Strauss und dem nun auch als Komponisten beachteten Siegmund von Hausegger.147 Während des frustrierenden Hin und Her im jahrelangen Bemühen um die Aufführung der Oper hatte sich Hausegger zwischenzeitlich der Gattung der Symphonischen Dichtung zugewandt, und es war zwischen Weihnachten 1896 und Pfingsten 1897 die Dionysische Phantasie entstanden.148 Dazu angeregt worden war er durch die Richard Wagner gewidmete Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik149 von Friedrich Nietzsche (1844–1900)150: Die darin formulierte Idee eines antipodischen apollinischen und dionysischen Kulturverständnisses hatte Hausegger aufgegriffen, um in seiner Komposition »noch einmal […] allen jugendlichen Überschwang schrankenlos austoben[d…] begeisterte Lebensbejahung […zu] predigen« (20f.). 145  Dirigent der Uraufführung von Wagners Parsifal.

146  Grundlegende Ursache wird wohl eine Unstimmigkeit zwischen Friedrich von Hausegger und dem Intendanten der Münchner Hofoper, Ernst von Possart (1841–1921), gewesen sein, welcher im Folgenden eine Wiederaufnahme verhinderte. Andere Bühnen dürften sich von der lediglich zweimaligen Darbietung nicht genug Erfolg versprochen haben, um ihrerseits die Oper ins Programm zu nehmen. Vgl. Krause 1908, 291. 147  Auch für Friedrich von Hausegger erfüllte sich bereits während der Proben manche Hoffnung, die er hinsichtlich seines Sohnes gehegt hatte – wie aus einem Brief an Strauss vom 28. Mai 1898 hervorgeht: »Ich sage Ihnen meinen allerherzlichsten Dank für alle Freundschaft, die Sie meinem Sohne angedeihen lassen [Strauss hatte ihn zu sich nach Hause eingeladen] und für alle Mühe, welche Sie sich mit seinem Werk geben. Ich weiß es wohl zu schätzen, was er Ihnen zu danken hat. Vor allem aber, daß mitten unter dem Treiben, welches geeignet sein könnte, dem Künstler seinen Beruf zu verleiden, sein Glaube an ein größtes Künstler- und Menschheitsideal ihm durch Ihre Persönlichkeit aufrecht erhalten bleibt. Gestatten Sie mir, Ihnen dafür im Geiste die Hand zu drücken!« (unveröffentlicht und im Besitz der Strauss-Familie). 148 Abschluss der Instrumentierung am 5.6.1897. 149   Erstveröffentlichung 1872. Diese hat insbesondere auf das Kunstverständnis der Wagner-Bewunderer nachhaltig Einfluss ausgeübt. 150 Mit ihm hatte Friedrich von Hausegger 1876 in Bayreuth Bekanntschaft geschlossen, nicht jedoch mit Richard Wagner. Entnommen aus S. v. Hauseggers unveröffentlichten »Angaben zur Lebensgeschichte« (ohne Datum), im Privatbesitz Prof. S. v. Hauseggers.

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(Die Besprechung der einsätzigen, knapp 20-minütigen Komposition erfolgt in einem späteren Kapitel.) Die Realisierung des darauffolgenden Werks war bereits in der Planungsphase durch äußere Umstände gravierend beeinflusst worden. Ursprünglich zu Barbarossa inspiriert worden war Hausegger durch die Ballade Emanuel Geibels (1815–1884).151 Doch im Herbst 1897 flammten sowohl in Wien und Prag als auch in Graz heftige Proteste der deutschen Bevölkerung auf, verursacht durch die neue Sprachenverordnung des aus Galizien152 stammenden Ministerpräsidenten Kasimir Felix Badeni (1846–1909).153 Aufgewühlt fasst Hausegger das Geschehen vor Ort in emotionale Worte: Die Kundgebungen gegen die Gewaltmaßregeln des Ministeriums Badeni nahmen revolutionären Charakter an. Von den Fenstern unserer Wohnung konnte ich beobachten, wie eine tausendköpfige Volksmenge schreiend vor der ansprengenden Reiterei zerstob, um im nächsten Augenblicke sich wieder zu sammeln und in höchster Erbitterung gegen das Polizeigebäude zu stürmen. Die aufregendsten Berichte über blutige Kämpfe und das Eindringen der bewaffneten Macht in’s Parlament-Gebäude wurden auf der Straße verlesen und mit Ohren betäubendem Pfeifen und Schreien beantwortet. Es schien, als handle es sich um Leben und Tod für die Deutschen. Die rings so wild aufflammende Volkswut mußte auch in meinem Herzen zünden. (21)

151  Friedrich Rotbart von 1837.

152  Nicht zu verwechseln mit dem iberischen Galicien. Geographisch heute ein Bereich Süd-

polens und der Westukraine, politisch als Königreich »Galizien und Lodomerien« damals Teil der Doppelmonarchie Österreich-Ungarns. (Die Namensgleichheit geht indes auf die enorm weite Verbreitung der sich selbst als »Gali« bezeichnenden Kelten zurück.) 153  Badenis Vorfahren kamen aus Italien. Die Verordnung war Teil der Regierungsbestrebungen, die slawischen Minderheiten stärker miteinzubeziehen, und sah vor, dass im nordwestlichen Reichsteil Österreich-Ungarns (Cisleithanien) Tschechisch dem Deutschen gleichgestellte Beamtensprache wird, und dass ab Juli 1901 ausschließlich zweisprachige Anwärter für ein Amt berücksichtigt werden sollten. Tatsächlich war es in der südlich gelegenen Steiermark trotz des insgesamt friedlichen Zusammenlebens zwischen Deutsch-Österreichern und Slowenen vereinzelt immer wieder zu Spannungen gekommen – was auch in den bürgerlichen Zusammenkünften thematisiert wurde. Es scheint äußerst naheliegend, dass Friedrich von Hausegger – insbesondere im von ihm gegründeten Wagner-Verein und dem Deutschen Sprachverein– eine ablehnende Haltung gegenüber der Habsburger-Herrschaft vertrat und entsprechend Sympathien für das Deutsche Reich hegte. Nicht auszuschließen ist eine aktive Beteiligung Siegmund von Hauseggers an den Aufständen, die heute zumindest im Hinblick auf Graz als deutlich überzogene Reaktion bewertet werden können. Vgl. Eichner 2012, 255ff., 266 und 271.

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Und so verwirft er den Gedanken an eine kleinbesetzte Balladenkomposition und wendet sich stattdessen in »leidenschaftlich erregte[m] Empfinden« (21) abermals der Symphonischen Dichtung zu – dieses Mal jedoch in drei großangelegten und in sich geschlossenen Sätzen. (Die Besprechung des Werks erfolgt ebenfalls in einem späteren Kapitel.) Vertraut gemacht worden mit der Gattung der Ballade war er bereits durch die gemeinsamen Stunden mit dem von Friedrich 1890 für die Schule des Musikvereins verpflichteten Martin Plüddemann, dessen Kompositionen er in jener Zeit zu schätzen gelernt hatte. Gleichsam hatte er durch ihn auch seine ersten Anregungen zur Liedkomposition gefunden: vorzugsweise in Gedichten von Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898) und Otto Julius Bierbaum (1865–1910), die »eine Naturstimmung zum Gegenstande hatten« (20). Sein musikalisches Handwerk hält Hausegger auch nach Beenden der Schule noch für ausbaufähig und nimmt zu diesem Zweck Unterricht im Partiturspiel und Dirigieren bei Erich Wolf Degner (1858–1908),154 dem Nachfolger Kienzls als künstlerischer Leiter der Vereinsschule, und im Klavierspiel bei Karl Pohlig. Die ersten weiterführenden Schritte als Dirigent vollzieht er »im intimen Rahmen des Grazer ›Wagner-Vereins‹« (22) mit szenischen Aufführungen von Jean-Jacques Rousseaus (1712–1748) Le devin du village (von seinem Vater ins Deutsche übersetzt und von Siegmund in der Instrumentierung bearbeitet) und L’ épreuve villageoise von André-Ernest-Modeste Grétry (1741–1813).155 Gefestigt durch die bereits mit den Kommilitonen zelebrierten Darbietungen von Wagner-Opern macht sich Hausegger 1896 als Vorbereitung auf die Bayreuther Festspiele daran, den kompletten Ring des Nibelungen konzertant aufzuführen – allerdings nur mit Klavierbegleitung. Die gelungenen Vorstellungen mit dem seinerzeit von Wagner eigens nach Bayreuth geholten, hochangesehenen Ferdinand Jäger (1839–1902)  Degner war u.a. in Weimar ausgebildet worden und würde dort 1902 die Nachfolge von Carl Müllerhartung (1834–1908) als Leiter der Musikschule – der Vorläuferin der späteren Hochschule für Musik »Franz Liszt« – antreten. 155  Das bearbeitete Material beider Werke befindet sich im Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek unter der Signatur Mus.N. 111. 154

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als Siegfried und Friedrichs Schwager Alfred Goedel156 als Wotan erregen die Aufmerksamkeit von Heinrich Gottinger (1860–1929), dem Direktor des Grazer Landestheaters. Er engagiert Hausegger für die Leitung diverser Opern157 über die folgenden zwei Jahre hinweg. Doch auch außerhalb der Heimat wird man seines Talents gewahr: 1897 erhält er eine Assistenz in Bayreuth, die ihm die »freudige Genugtuung« verschafft, »daß dort, im Gegensatze zum Geschäftsgeist, wie er fast allgemein in den Kunsttempeln herrscht, der stolze Ausspruch: ›Deutsch sein heißt[,] eine Sache um ihrer selbst willen tun‹158 in tatenfroher Weise lebendig« (23) werde. Knapp zwei Jahre später nimmt er eine folgenreiche Einladung des namhaften Konzertveranstalters und Orchestergründers Franz Kaim (1865–1935) nach München an: Die hier gegebene Darbietung der Coriolan-Ouvertüre von Beethoven, der Dionysischen Phantasie und der 7. Symphonie von Bruckner wird für ihn zu einem regelrechten Triumph.159 Noch »berauscht von den glänzend verlaufenen Münchner Tagen« (23) ereilt den aufstrebenden 26-jährigen bei seiner Rückkehr nach Graz jedoch ein erster schwerer Schicksalsschlag: Völlig unerwartet findet er seinen Vater auf dem Sterbebett liegend vor. Am 23. Februar 1899 endet Friedrich von Hauseggers Leben im Alter von nicht ganz 62 Jahren.160 156  Widmungsträger des Barbarossa.

 Darunter das Heimchen am Herd von Karl Goldmark (1830–1915), Donna Diana von Emil Nikolaus von Reznicek (1860–1945) und die Grazer Erstaufführung von Kienzls Evangelimann. Vgl. Hausegger, S. v. 1920, 22f. 158  Dieses Zitat war bald nach Richard Wagners Tod eine geläufige Verkürzung einer ähnlich lautenden Stelle aus seinen Gesammelten Schriften und Dichtungen (1873, 124). 159  »Das Werk [Dionysische Phantasie] wurde vom Kaim-Orchester mit echt künstlerischer Hingabe ganz ausgezeichnet vorgetragen. Die Spieler waren bemüht, alle Intentionen des dirigierenden Komponisten zu verkörpern. Ihre Leistung verfehlte auch ihre Wirkung nicht, und die Hörer brachen am Schlusse in stürmischen Beifall aus. […] Das in den Violinen, wie es scheint, verstärkte Orchester überwand die außerordentlichen technischen und rhythmischen Schwierigkeiten der Symphonie [Bruckners] in tadelloser Weise und entfaltete eine oft bestrickend wirkende Klangschönheit. Nach jedem Satze dankten die Hörer durch reiche Kundgebungen des Beifalls.« (Münchner Neueste Nachrichten vom 12.2.1899, 2). 160  Als Ursache könnte einerseits ein Herzfehler (»Brustleiden«) verantwortlich gewesen sein, das ihn zeitlebens verfolgte und wahrscheinlich schon am Ergreifen eines praktisch-ausübenden Musikerberufs gehindert hatte (vgl. Danz 1981, 23). Andererseits gibt Siegmund von Hausegger an, die Familie habe sich aufgrund einer Lungenkrankheit Friedrichs schon ab 1881 vegetarisch ernährt (entnommen aus S. v. Hauseggers unveröffentlichten »Angaben zur Lebensgeschichte« (ohne Datum), im Privatbesitz Prof. S. v. Hauseggers). 157

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Nur anzudeuten vermag Siegmund in seinen Dankeszeilen an Richard Strauss für dessen Kondolenz den gewaltigen Verlust: »Was ich an meinem Vater verloren habe, kann ich noch gar nicht ermessen. Einzig und allein das Bewußtsein, dass es meine Pflicht sei, nicht durch passives Trauern, sondern durch positive Thätigkeit sein Andenken zu ehren, hält mich aufrecht.«161 Mit dem Tod des Vaters beginnt für Hausegger ein neuer Lebensabschnitt: Dem reichen Vermächtnisse vertrauend, das mir die stets mit unverminderter Lebensfülle in meiner Erinnerung fortwirkende Persönlichkeit des Vaters schuf, verließ ich im Herbst 1899 mit meiner Mutter die Heimat, um die Stellung eines zweiten Dirigenten des ›Kaimorchesters‹ anzutreten. (23)

Den noch in Graz am 3. Oktober vollendeten Barbarossa wird er erst in München instrumentatorisch zum Abschluss bringen.162 Zu welchem Zeitpunkt sich Siegmund von Hausegger endgültig für den Musikerberuf entschieden hat, ist schwer zu bestimmen. Es darf angenommen werden, dass ihm das Komponieren von Beginn an ein Herzensbedürfnis Oscar Bie geht in seinem würdigenden Nachruf noch einmal anschaulich auf die Bedeutsamkeit der Forschung Friedrich von Hauseggers ein: »Was Hanslick uns Jungen nicht erfüllt hatte, das gab uns Hausegger – die theoretische Beruhigung über Berlioz, Liszt, Wagner. Und was uns an Hanslick zu oberflächlich war, das bewunderten wir an Hausegger: das Organ für die Kunst. […] Wenn Künstler die Schriften Hanslicks lasen, so kamen sie sich vielleicht gelehrt vor. Wenn sie Hausegger lasen, so sagten sie: das lebt in uns. […] Er that den Schritt, den Wagner praktisch machte, theoretisch: er gewann wieder Fühlung mit der Musik, als undifferenzierter Kunst des Ausdrucks im Laut, im Rhythmus und im Ton. […] Die Geschichte hat die Musik bald zur Architektur, bald zur Psyche gemacht. Ihr Anfang aber und ihr Wesen ist diese elementare Ausdruckskraft […]. Dies ungefähr ist die Bahn, auf der Hausegger sich bewegte. Eine Psychologie des Künstlers und auch der Kunst; eine ›Aesthetik von innen‹, die das Schöne nicht als Eigenschaft eines Objekts, sondern als Produkt eines seelischen Vorgangs nimmt. Je tiefer er ging, desto schwerer war ein Ende abzusehen. Aber nur das Beschränkte findet seine Formen, das Seelisch-Tiefe muss vielleicht fragmentarisch bleiben, zumal, wenn man wie dieser treffliche Mann nur die Sonntage zu solcher Arbeit benutzen kann, weil man von Montag bis Samstag Advokat spielt. Etwas von Sonntagsarbeit ist uns in seinen Werken geblieben.« (AMz vom 10.3.1899, 155f.). 161  Weiter vorn schreibt er: »Eine seltsame Fügung wollte es, dass sein letztes Kunstreferat ›Tod und Verklärung‹ zum Gegenstand hatte; zugleich war dies auch das letzte Konzert, dem er beiwohnte […].« (unveröffentlichter Brief vom 4.3.1899, im Besitz der Strauss-Familie). 162 Instrumentierung beendet am 21.1.1900. Entnommen aus S. v. Hauseggers unveröffentlichten »Angaben zur Lebensgeschichte« (ohne Datum), im Privatbesitz Prof. S. v. Hauseggers.

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war, das Dirigentendasein – wie sich noch zeigen wird – jedoch auch weniger Beglückendes mit sich brachte und zeitweise verstärkt den Zweck des Broterwerbs erfüllte. Verbindung nach München Friedrichs Musik als Ausdruck hatte auch auf Richard Strauss, der ebenso ein großer Verehrer der Opern Wagners war, eine nachhaltige Wirkung: Der Begriff »Ausdruck« sollte fortan zu einem Kernbegriff von ihm werden.163 Mit Strauss befreundet war seit gemeinsamer Jugendzeit der aus Bozen stammende, drei Jahre ältere Ludwig Thuille (1861–1907).164 Hatte dieser in den frühen Münchner Tagen Strauss für dessen Konservatismus kritisiert, kehrte sich das Verhältnis Mitte der 1880er Jahre um und Thuille galt als der »Akademischere«.165 Nichtsdestoweniger ermutigte er seine Studenten an der Königlichen bayerischen Musikschule,166 an der er ab 1883 unterrichtete und wo er ab 1903 die Nachfolge seines ebenfalls sehr berühmten Lehrers Josef Rheinberger antrat, zu kompositorischen Freiheiten und Neuerungen – ganz im Sinne des Freundes.167 Maßgeblich ihm und seiner anziehenden Persönlichkeit ist die Ausprägung der eingangs erwähnten Münchner Schule zu verdanken.168 Der Begriff selbst geht indes auf eine andere um die Jahrhundertwende einflussreiche Persönlichkeit Münchens zurück: den aus dem badischen Schwetzingen stammenden Rudolf Louis (1870–1914).169 Dieser trat weniger als Komponist und Dirigent denn mehr als Publizist, Pädagoge und Musiktheoretiker hervor.170 Unzufrieden mit den bislang an der Akademie verwendeten Lehrbüchern von Moritz Hauptmann und Ernst Friedrich Richter verfassten Louis und Thuille eine eigene Harmonielehre, die sowohl die generalbassschulische Ausbildungstradition Österreichs als auch 163 Strauss’ Begeisterung veranlasste Cosima Wagner dazu, ihn in ihren Briefen ab dem Festspielsommer 1891 mit »Ausdruck« zu titulieren. Vgl. Trenner 1978, 100. 164  Widmungsträger des Don Juan. 165  Vgl. Werbeck 2016. 166  Ab 1893 Königliche Akademie der Tonkunst. 167  In einem Brief an Strauss vom 4. April 1890 versichert Thuille ihm, »manch harmloses Gemüth zu ›vergiften‹«. (Werbeck 2016, 256). 168  Vgl. Brandes 2018, 22. 169  Vgl. Louis 31912, 202–209. 170  Vgl. Holtmeier 2004, 513ff.

Verbindung nach München

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Elemente des moderneren Riemann’schen Stellvertreterkonzepts mit der zeitgenössischen Kompositionspraxis verband.171 Sie fand ab ihrem Erscheinen im Jahr 1907 bis in die 50er Jahre hinein im deutschsprachigen Raum als maßgebliches Lehrwerk für Tonsatz Verwendung172 und kann (zumindest vor ihrer 9. Auflage) als Gipfelpunkt einer differenzierten systematischen Aufbereitung spättonaler Harmonik gesehen werden. Bereits Anfang der 1890er kam es durch eine frühe Publikation von Louis,173 in der neben Richard Wagner unter anderem auch Friedrich von Hausegger als geistiger Mitstreiter genannt wird, zu einem ersten Gedankenaustausch. Als weiterer Gefolgsmann taucht bei Louis der Musikschriftsteller, Redakteur und spätere Dramaturg Arthur Seidl auf. Ebenfalls mit Richard Strauss befreundet, hatte Seidl – wie oben erwähnt – eine sehr positive Rezension zu Hauseggers Musik als Ausdruck verfasst.174 In diesem Zusammenhang konkretisierten sich die Pläne zur Herausgabe einer kunstwissenschaftlichen Zeitung, wie Friedrich von Hausegger sie bereits in seinen Wiener »Wartburg«-Tagen vor Augen hatte: Arthur Seidl schlägt als Titel »Die Musik als Ausdruck« vor175 und Friedrich als Mitarbeiter Alexander Ritter, Rudolf Louis und Siegmund. Der viel herumgekommene Ritter (1833–1896) darf als eloquenter Wagner- und Lisztianer bezeichnet werden und hatte Richard Strauss in gemeinsamen Meininger Tagen176 erfolgreich von der künstlerischen Qualität jener Komponisten überzeugen können – woran nicht zuletzt auch die just erschienene Musik als Ausdruck  Vgl. hierzu auch Holtmeier 2005 d und Wason 72010, 66f. Widersprochen in Brandes 2018, 243–258, wo eine Verbindung zur Neudeutschen Schule aufgestellt wird: »Gerade im zweiten Teil der Harmonielehre zu Enharmonik/Chromatik scheint Louis als großer Liszt-Verehrer eine Art Integration der Münchner Lehre in eine systematisierte Neudeutsche Musiktheorie vorzunehmen […].« (ebd., 255). 172  Vgl. Brandes 2018, 22. 173  Vgl. Louis 1893. 174  Friedrich hatte sich seinerseits wiederum lobend zu Seidls Dissertation Vom musikalisch Erhabenen (1887) geäußert. 175  In einem Brief vom 15. Juni 1893 (vgl. Danz 1981, 33f ). 176  Strauss ist von Oktober 1885 zunächst unter Hans von Bülow, dann bis April 1866 allein in Meiningen als Kapellmeister tätig und bringt dort u.a. die F-Dur Symphonie von Thuille zur Uraufführung. Alexander Ritter spielt hier als stellvertretender Konzertmeister. Vgl. Hofmeister 2018, 431. 171

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einen maßgeblichen Anteil gehabt haben dürfte.177 Von Ritter wird an späterer Stelle noch die Rede sein. Doch nicht nur jene Zeitschrift sollte über das Planungsstadium nicht hinausgelangen: Zwei Jahre später scheiterte man auch an einer von Strauss (in Korrespondenz mit Seidl) anvisierten »Liszt-Zeitung«, die durch einen deutlich größeren Kreis an Mitstreitern in noch umfangreicherem Rahmen die gemeinsamen künstlerischen Ansichten und damit verbundenen Ziele hätte verkünden sollen.178 Obwohl die beiden Zeitschriften nie erschienen sind, belegt das Vorhaben doch eine gemeinsame Grundschwingung in der Kunstauffassung – die zugleich den Boden für Siegmunds spätere Mitgliedschaft in jenem Münchner Kreis bereitet hat. Für die Analyse seiner Werke wird daher die Münchner Harmonielehre von Louis/Thuille179 Vorrang erhalten. Als weitere bekannte theoretische und ästhetische Schriften zu Beginn des 20. Jahrhunderts sollen für die österreichische Lehrtradition die Harmonielehren von Heinrich Schenker (1868–1935)180 und Arnold Schönberg,181 für das Münchner Umfeld die Harmonielehre des Rheinberger-Schülers August Halm (1869–1929)182 und aus der bürgerlichen Harmonielehre-Tradition im Fahrwasser Hugo Riemanns jene von Johannes Schreyer (1856– 1929)183 Berücksichtigung finden. Darüber hinaus sollen vom eng mit der Louis-Thuille’schen184 und der Halm’schen185 Harmonielehre verzahnten Ernst Kurth (1886–1946) Die Voraussetzungen der theoretischen Harmonik und der tonalen Darstellungssysteme von 1913186 und die Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners »Tristan« von 1920 beziehungsweise 1923187 einbezogen werden. Außerdem erscheint es angemessen, Georg 177  Vgl. ebd., 437–440. 178  Vgl. ebd., 523. 179  Vorliegend in der 2. Auflage von 1908 und erschienen bei Grüninger, Stuttgart. 180  Schenker 1906. 181  Schönberg 31922. 182  Halm 1900. 183

Schreyer 21905.

184  Vgl. Holtmeier 2003. 185  Vgl. de la Motte-Haber 2005. 186  Reprint München: Katzbichler 1973. 187  Reprint der 3. Auflage, Hildesheim u.a.: Olms 1985.

Analyse-Voraussetzungen

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Capellen (1869–1934) aufgrund seiner Sonderstellung zwischen Riemann und Louis-Thuille188/Halm/Kurth Geltung zu verschaffen, und von ihm Die »musikalische« Akustik als Grundlage der Melodie und Harmonik von 1902 und Die Freiheit und Unfreiheit der Töne von 1904189 zu berücksichtigen. Analyse-Voraussetzungen Ziel und Zweck der Analysen Die Analysen sollen zu einem detaillierteren, tieferen Verstehen der Kompositionen beitragen, indem das ihnen Besondere in ihrer Zeit herausgestellt wird: einerseits innerhalb des jeweiligen Werks mit den spezifischen Strategien und kompositorischen Entscheidungen Siegmund von Hauseggers, andererseits im Sinne eines Versuchs, seinen »musikalischen Stil« zu bestimmen. Zum besseren Verständnis des Aufbaus eines symphonischen Werks haben fremde Autoren, aber auch die Komponisten selbst ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend Erläuterungen verfasst – als Bestandteil des Konzertprogramms190 oder in einschlägigen Zeitschriften. Zu allen fünf hier behandelten Symphonischen Dichtungen sind von Hausegger und anderen Autoren der Zeit einige, meist kurze Texte überliefert. Diese Einführungen werden für die folgenden Werkanalysen den Ausgangspunkt bilden; daran angeschlossen erfolgt die musiktheoretische Einordnung bestimmter musikalischer (satztechnischer, harmonischer, instrumentatorischer usw.) Phänomene in Beziehung zu den genannten musiktheoretischen Referenzquellen. Ergänzung finden diese an geeigneter Stelle gegebenenfalls durch entsprechende Hinweise beziehungsweise durch die Diskussion innerhalb aktueller musiktheoretischer Diskurse. Allgemeines zu den theoretischen Lehrwerken Jene genannten Lehrwerke gilt es zunächst allgemeinen Kategorien zuzuordnen und einer systematischen Betrachtung zu unterziehen. 188  Vgl. Brandes 2018, 34. 189  Beide in Leipzig bei Kahnt verlegt. 190  Vgl. Lanzendörfer (2017), 31.

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Analyse-Voraussetzungen

Wie bereits in den Ausführungen zu Friedrich von Hauseggers Ausbildung angesprochen, blieb die österreichische Kompositionslehre im 19. Jahrhundert in starkem Maße kirchenmusikalisch orientiert. Dementsprechend vermitteln die als praktische Kompositions- und Improvisationsschulen konzipierten Lehrschriften von Albrechtsberger, Dürrnberger und Salzmann191 die Gesetzmäßigkeiten der Klangbildung und -fortschreitung eng am Generalbassdenken und an der tradierten, von der italienischen beziehungsweise von der Tradition Johann Joseph Fux’ (1660–1741) ausgehenden Kontrapunktlehre. Sechter hingegen bricht mit jener Orientierung an der Praxis und formuliert seine eigene, auf Jean-Philippe Rameau (1683–1764) zurückgehende Fundamentalbass-Systematik, die jedoch insbesondere durch ihr unflexibles Verharren im diatonischen Rahmen und einer entsprechend »stiefmütterlichen« Behandlung der Chromatik ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung verlor.192 Formbegriffe im Sinne einer stringent durchgeführten Formenlehre tauchen (abgesehen von rudimentären Ausführungen über den Aufbau einer Fuge) bei diesen Autoren kaum auf, ebenso wenig Literaturbeispiele193 (lediglich eine Hand voll finden sich bei Albrechtsberger). Friedrich von Hauseggers Forderung nach einer Lehre der Rhythmik zeigt sich in Ansätzen in einigen Generalbass-Übungen Albrechtsbergers. In Sechters Musiktheorie erhält die Idee einer übergeordneten Rhythmik im ausgeführten Prinzip der Prolongation durchaus einen neuen Stellenwert, ohne dass diese allerdings in einer expliziten Theorie des Rhythmus systematisch ausgeführt worden wäre. Die hier behandelten Schriften können grob vier Kategorien194 zugeordnet werden: 1. umfassende Kompositionslehren: Marx, Lobe, Jadassohn 2. reine Kontrapunkt-/Fugenlehren: Dehn, Bellermann, Richter 191  Hier ist insbesondere eine direkte Verbindung zur Orgelpraxis gegeben, auf die der Autor bereits in seinem Vorwort hinweist. Vgl. Salzmann 1842, Vf. 192  Vgl. Holtmeier 2005 c, 225ff. 193   Wobei berücksichtigt werden sollte, dass ein »wahrer Meister« – aus seiner und aus seines Schülers Sicht – eben auch nicht auf das Können anderer angewiesen zu sein hat. 194   Schriften, die – abgesehen von Capellens – auf den Grundlagen der Allgemeinen Musiklehren aufbauen.

zur stilistischen Einordnung

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3. Harmonielehren (zum Teil mit Kontrapunkt): a) mit Übungsaufgaben: Richter, Kistler, Weitzmann (nur Handbuch), Riemann, Schreyer, Louis/Thuille b) ohne Übungsaufgaben: Hauptmann, Dehn (lediglich GeneralbassÜbungen im Anhang), Lobe, Weitzmann, Halm, Capellen, Schenker, Schönberg 4. größere musiktheoretische Essays, die sich bestimmter musikalischer (ästhetischer, psychologischer usw.) Phänomene annehmen: Tappert, Helm, Weitzmann, Jadassohn, Kurth zur stilistischen Einordnung dieser Publikationen Die Kompositionslehren von Marx, Lobe und Jadassohn verwenden und geben – je nach musikalischer Gattung – Beispiele aus unterschiedlichen Epochen, wobei keine der Publikationen ernstlich vor dem Barock ansetzt und alle auch nur wenig Material zur jeweiligen zeigenössischen Produktion bereithalten. Dass selbst bei Jadassohn (als Kompositionslehrer am weltberühmten Leipziger Konservatorium zweifelsohne der »professionellste« unter diesen drei Autoren) noch in den 1880er Jahren keinerlei Beispiele der Neudeutschen auftreten, zeigt die lang andauernde Umstrittenheit jener etwa drei Jahrzehnte zuvor angetretenen ›Avantgarde‹.195 Ebenfalls erwähnenswert zeigt sich der Umstand, dass die Kontrapunktlehren des 19.  Jahrhunderts jenen »strengen Satz« vermitteln, wie er sich im Laufe der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts in der (europäischen) Kompositionspädagogik ausgebildet hat, und diesen nur wenig um stimmführungstechnische Neuerungen, die den zeitgenössischen Kompositionsstil prägen, erweitern. Diese Ausdifferenzierung von Musiktheorie (als Lehre vom Kontrapunkt) und der eigentlichen Tonsatzlehre kann als Signum des späten 19. Jahrhunderts konstatiert werden. Besonders hervor sticht in diesem Zusammenhang Heinrich Bellermann, der (zumindest in der ersten Auflage seines Lehrbuchs)196 – entsprechend der Zielsetzung 195   Wenn Jadassohn wenige Male auf vorbildliche Werke neuerer Komponisten hinweist, dann hauptsächlich, um deren geschickten Umgang in altbekannten Gattungen bzw. Satztechniken zu erwähnen (lediglich das Lohengrin-Vorspiel lobt er als »interessanteste[s] und stimmungsvollste[s]« Beispiel neuer Ouvertüren-Konzeptionen). Vgl. bspw. Jadassohn 1884 b, 54 und 1885, 153. 196  In der zweiten Auflage seines Contrapuncts (1877) ist der Anteil ›moderner‹ Beispiele

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Analyse-Voraussetzungen

des Cäcilianismus, wieder die »Reinheit« des Renaissance-Tonsatzes in die Kirchenkomposition zu bringen – sogar den Barock-Kontrapunkt als »modern« bezeichnet und nur sehr wenig auf diesen und auf spätere Kirchenmusik eingeht.197 Am ehesten blicken die Harmonielehren auf die jeweilige zeitgenössische musikalische Produktion. Prinzipiell nicht mit einem rein handwerklich-ständischen, sondern mit einem allgemein bildungsbürgerlichen Anspruch198 nähern sie sich der Materie in verschiedener Absicht – und somit aus unterschiedlichen Perspektiven und mit divergierenden Schwerpunkten: seien es die Leipziger »1853er« mit ihrem holistischen wissenschaftlichen Ansatz auf der einen Seite (Hauptmann) und der (römischen) stufentechnischen Tonsatz-Praxis auf der anderen (Richter),199 sei es die »1853er« Wiener Stufentheorie Sechters, seien es jene sehr heteronomen Ansätze, die in irgendeiner Art und Weise alle »historisch« beziehungsweise »historisierend« (Dehn, Lobe, Weitzmann, Kistler, Louis/Thuille, Schönberg) oder »psychologisierend« (Halm, Louis/Thuille) genannt werden können, oder spezifisch »analytisch« (Schreyer, Schenker) beziehungsweise »spekulativ-wissenschaftlich« (früher Riemann). Trotz ihrer damaligen und lange fortwirkenden Popularität beinhalten folgende Harmonielehren keine oder nur sehr wenige Literaturbeispiele: Hauptmann (keine), Richter (sehr wenige), Weitzmann (sehr wenige), Riemann (keine). Eine gesonderte Stellung nehmen die sehr eigenständigen – und nur wenig gewürdigten200 – Schriften von Georg Capellen ein: Sie bauen nicht erst auf dem traditionellen Lehrkanon der Allgemeinen Musiklehren auf, der für die anderen Werke der sogenannten bürgerlichen Harmonielehre die Basis bildet, sondern leiten komplexe Akkorde, Akkord-Abfolgen und Skalen als auch melodische Stimmführung von den sinnlichen Klang-Wahrnehmungen der Naturtondeutlich größer, doch bleibt der Fokus auf der Renaissance in der bereits anachronistischen Lehrtradition von Johann Joseph Fux. 197  Für diese Zeit bezeichnend ist der Umstand, dass ungeachtet seiner cäcilianischen Agenda Bellermanns Lehrbuch zu einem weit verbreiteten Standardwerk werden konnte, das etwa auch Arnold Schönberg in Ehren hielt. 198  Vgl. auch Holtmeier 2012. 199  Vgl. Holtmeier 2005 c, 224–229. 200  Eine Ausnahme bildet der Artikel von Holtmeier 2005 a.

relevante Inhalte der Lehrwerke – zur Form

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reihe ab und ordnen sich damit auf besonders radikale Art und Weise in jene »akustische« Tradition der Harmonielehre ein, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur vollen Entfaltung kommen sollte. Capellens neo-ramistische Auffassung von Melodie »als Tochter der Harmonie«201 konstituiert sich zumindest auf den ersten Blick als ein Widerspruch zu Friedrich von Hauseggers musiktheoretischem »Rousseauismus«. relevante Inhalte der Lehrwerke Da die zeitgenössischen analytischen Erläuterungen der Kompositionen hauptsächlich von den formalen Aspekten der Kompositionen ausgehen und das Harmonische – wenn überhaupt – lediglich an ausgesuchten Stellen als besonderes Ereignis (und dann auch nur recht allgemein gehalten) benennen, wird dies zumindest die Reihenfolge der Analyse-Bestandteile bestimmen: Beginnend bei den Melodieformen und der Gattungsform eines Werks, folgen sodann die besonderen harmonischen Abfolgen und anschließend die Betrachtung von außergewöhnlichen Einzelklängen. Für die nun zu erörternden relevanten Inhalte der Lehrwerke soll – nach einem kurzen allgemeinen Überblick zur Formbehandlung – der historischen Entwicklung folgend mit den besonderen klanglichen Einzelerscheinungen innerhalb eines horizontalen (Skalentöne) oder vertikalen (Akkordtöne) Umfelds begonnen werden. Anschließend werden ihre Verbindungen untereinander betrachtet – inklusive der jeweiligen Wirkungsbeschreibungen (sofern diese von den Autoren gegeben werden). zur Form Die formalen Kategorien einzelner Gattungen und gegebenenfalls ihrer einzelnen Sätze werden in einigen Lehrwerken recht detailliert behandelt, während die Melodie- und Phrasenlehre zu jener Zeit eher groberen Kriterien unterliegt und in den deutschsprachigen Theorien erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts zu differenzierteren Systematisierungen gelangt.202 201  Capellen 1902, 42.

202   Vgl. z.B. von Erwin Ratz die Einführung in die musikalische Formenlehre von 1951, von Clemens Kühn die Formenlehre von 1987, von dessen Lehrer Diether de la Motte die Melodie-Lehre von 1993 und von Felix Diergarten und Markus Neuwirth die Formenlehre von 2019. Genannt seien an dieser Stelle außerdem die einflussreichen US-amerikanischen

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Analyse-Voraussetzungen

In den vorliegenden Publikationen werden vorwiegend Sonate und Symphonie behandelt, aber auch die kleineren Gattungen kommen in einigen Lehrwerken ausgiebig zur Sprache. Während Weitzmanns Handbuch der Theorie der Musik und Johann Helm explizit einige Gattungskonzepte behandeln, befassen sich die Kompositionslehren von Marx, Lobe und Jadassohn darüber hinaus als einzige auch ausgiebig mit den Melodie- und Phrasenformen. Welche formalen Konzepte dem Aufbau der Symphonischen Dichtungen zugrunde liegen und wie stark sie letztlich darin zur Geltung kommen, ist am anschaulichsten am konkreten Beispiel zu zeigen. Es sollen daher die unterschiedlichen Begrifflichkeiten und Kategorien – anders als bei der Harmonik – nicht im Vorfeld ausgebreitet, sondern erst an entsprechender Stelle in den Analysen detailliert zur Sprache gebracht werden. Harmonik zu Tonalität, Stimmführung und Akkorden Das Erweitern der Tonalität durch die Alteration203 bestimmter Tonleiter-Stufen wird bereits Mitte des 18. Jahrhunderts theoretisch reflektiert, exemplarisch etwa in Georg Andreas Sorges (1703–1778) »chromatisch-diatonischer« Skala.204 Anfang des 19. Jahrhunderts findet sich dieses Denken in der Generalbasslehre Emanuel Aloys Försters bereits systematisiert in der analytischen Bezeichnung der erhöhten 4. Stufe in Dur und Moll sowie der Erniedrigung der 6. Stufe in Dur.205 Mitte des 19. Jahrhunderts legitimiert Moritz Hauptmann Alterationen im Sinne der dann dominierenden Grundbasstradition durch das »Übergreifen« einer Tonart (die aus den Dreiklängen von Tonika, Ober- und Unterdominante besteht) in die nächstliegende Ober- oder Unterquint-Region – jedoch (noch) nicht als wirkliche Erweiterung, sondern als temporäre Verschiebung (im Sinne einer modulatorischen Ausweichung).206 Die echte Erweiterung beginnt bei Hauptmann mit »Moll-Dur« (absteigende Durtonleiter mit erniedrigter 7. Autoren Bill Caplin und James Hepokoski. 203  Alteration = chromatische Veränderung. 204  Vgl. Holtmeier 2017, 190–194. 205  Vgl. Holtmeier 2008 b, 777–780. 206  Vgl. Hauptmann 1853, ab 46.

relevante Inhalte der Lehrwerke – Harmonik

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und 6. Stufe),207 gefolgt von der »weichere[n] Durtonart« (Durtonleiter mit erniedrigter 6. Stufe) bei Weitzmann208 – beide kurz erwähnt bei Marx209 – und mündet im »erweiterten Mollsystem« als Gleichzeitigkeit der Hauptmann’schen Verschiebungen (mit tiefalterierter 2. Stufe und hochalterierter 4.) und letztlich dem »Durmollsystem« (dem »gleichberechtigt[en]« Nebeneinander von Dur und Moll »mit vollständiger Chromatik«) Kistlers.210 Auch Riemann nennt die Begriffe »Moll-Dur« und »Dur-Moll«: Ersteres folgt jedoch dem Verständnis Weitzmanns, Letzteres entspricht dem harmonischen Moll aufwärts (für Riemann das »gewöhnl. Moll«). Das eigentliche Moll-Dur Hauptmanns hat für Riemann – der es ebenfalls eine »übergreifende Bildung« nennt – einen rein melodischen Grund (die tiefalterierte 7. Stufe bezeichnet er hinsichtlich einer Schlussbildung auf der 5. als »phrygische Terz«) – gleichsam des melodischen Moll aufwärts (bei ihm auch Molltonleiter mit der »dorischen Sexte«).211 Eine neue Variante zeigt zu Beginn des 20. Jahrhunderts August Halm mit Chromatik aufwärts auf der 4. Stufe und abwärts auf der 7. in Dur (dem chromatischen Hinführen einmal zum Grundton der Oberdominante und das andere Mal zur Terz der Unterdominante).212 Sehr ausführlich befasst sich Georg Capellen mit den Skalen und ihren Alterationsmöglichkeiten: Den Endpunkt seiner akustisch begründeten Betrachtungen bilden die 11-tönige »combinierte chromatische Mollskala« und eine daraus abgeleitete, aus »Hauptund Nebentönen« bestehende 12-tönige Skala für Dur (die Begriffe »Molldur« und »Durmoll« lehnt er ab).213 Während sich bei Schenker lediglich ein beliebiger Stufen-Austausch zwischen einer Dur- und einer natürlichen Mollskala über derselben 1. Stufe findet, 214 widmen sich Louis/Thuille recht ausführlich den einzelnen Optionen: zunächst in der Gegenüberstellung 207  Vgl. ebd., 62f. 208  Vgl. Weitzmann 1860, ab 7. 209  Vgl. Marx 61863 (Bd. 1), 493. 210  Dieses »Durmollsystem« wird von ihm jedoch nicht ausführlich und differenziert genug behandelt, um es nachhaltig im theoretischen Diskurs zu verankern. Vgl. Kistler 1879, 8, 31 und 40f. 211  Vgl. Riemann 1890, 18–27. 212  Vgl. Halm 1900, 58f. – hier auch die Variante von Weitzmann. 213  Vgl. Capellen 1902, 65ff. 214  Vgl. Schenker 1906, ab 109.

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Analyse-Voraussetzungen

von »Molldur« (wie Weitzmann/Riemann) und »Durmoll« (wie Riemann), dem Begriff »dorisches Moll« (wie Riemann) und anschließend der Hochalteration der 4. Stufe (in Dur, Molldur und Moll) und der 2. Stufe (in Dur und Molldur) und schließlich der Tiefalteration der 2. Stufe (in Durmoll und Molldur) und der 4. Stufe (in Moll).215 Die Zunahme an Alterationsmöglichkeiten veranlasst letztlich Schönberg dazu, das Festhalten an der Tonalität generell infrage zu stellen und ihre zukünftige Auflösung zu prophezeien.216 Übersicht der alterierten Skalenstufen Zusammengefasst sind für tonartgebundene Skalen (Dur und – für das leichtere Verständnis – natürliches Moll)217 bis Anfang des 20. Jahrhunderts folgende Alterationsmöglichkeiten gegeben: Abbildung 1: Dur mit Hochalteration auf der 2. und 4. Stufe und Tiefalteration auf der 7., 6. und 2. Stufe:

Abbildung 2: Natürliches Moll mit Hochalteration auf der 4., 6. und (standardmäßig) der 7. Stufe und Tiefalteration auf der 4. und 2. (diese nach Louis/Thuille allerdings nur für Durmoll): Capellen

Capellen

215  Vgl. Louis/Thuille 21908, 22f., 146, 209, 211, 220 und 223. 216  »Vor allem, daß man in jeder Tonart (man nennt das erweiterte Tonalität) unter dem Vorwand der Ausweichung fast alles bringen kann, was in anderen, sehr fremden Tonarten leitereigen ist, ja, daß man die Tonart geradezu ausschließlich durch andere Akkorde ausdrückt, als durch ihre leitereigenen, ohne daß man deshalb die Tonalität für aufgehoben ansieht. Besteht sie aber dann wirklich noch? ›Wirklich, das heißt: wirkend‹, als Wirkung des Grundtons? Oder ist sie damit nicht eigentlich schon aufgehoben?« (Schönberg 31922, 30 (Zitat) und 30f.). 217  Die Mollskala mit erhöhter 7. Stufe (= harmonisches Moll aufwärts) gilt in nahezu allen hier angeführten Kompositions- und Harmonielehren als Standardvariante.

relevante Inhalte der Lehrwerke – Harmonik

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Capellen Abbildung 3: Dur- und Moll-Skala nach Capellen:218

*** In einer eigens zum Thema Quintparallelen verfassten Schrift fordert bereits Tappert die völlige Freiheit,219 während 36 Jahre später Louis/Thuille zumindest für die offenen Quintparallelen in der kadenziellen Abfolge von Subdominante zu Dominante noch darauf zu verzichten empfehlen.220 Entsprechend den kompositionstechnischen Entwicklungen der Zeit sind für den Umgang mit Chromatik und Dissonanz in den Lehrwerken insgesamt kontinuierlich hinzutretende Freiheiten zu bemerken. 1860 bemüht sich Weitzmann darum, den Chromatik- und Dissonanzgebrauch der Neudeutschen Schule theoretisch zu legitimieren.221 In seinem rund 30 Jahre später erscheinenden Handbuch der Theorie der Musik erlaubt er zudem eine vorbereitete Septime eines Septakkordes für den Folgeakkord als Konsonanz 218  Capellen 1902, 86f., 65 und 129f. 219  Vgl. Tappert 1869, 2. 220  Vgl. Louis/Thuille 21908, 17 und 380. 221  Um der konservativen Kritik mit ›wissenschaftlich‹ fundierter Argumentation begegnen zu können, entschloss sich Franz Brendel, auf der Tonkünstlerversammlung 1859 in Leipzig einen Preis für jene neue Theorieschrift auszuloben, die diese Freiheiten der Stimmführung überzeugend zu fundieren wisse. Gewinner war Weitzmann mit seinem Harmoniesystem (1860). Hinsichtlich chromatischer Töne schreibt er, dass die »ältere Tonkunst« einen alterierten Ton als Bestandteil einer tonartfremden Harmonie gesehen habe; die »neuere Tonkunst« akzeptiere sie jedoch auch als temporäre »Nebentöne« (vgl. ebd., 59). Weiterhin ergäben sich durch den Gebrauch von chromatischen Vorhalten »zuweilen Folgen von Accorden, deren innerer Zusammenhang erst aus der enharmonischen Bedeutung derselben hervorgeht.« (ebd., 33). Und auch die Einschränkungen der unvorbereiteten Dissonanz wird gelockert: »Die neuere Tonkunst aber läßt auch die schärfste Dissonanz frei auftreten, wenn es durch den Charakter des Tonstückes bedingt wird, und wenn dieselbe eine regelmäßige Auflösung oder Trugfortschreitung nimmt.« (ebd., 35). Jene Auflösung darf darüber hinaus in einer anderen Stimme erfolgen (vgl. ebd., 36).

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Analyse-Voraussetzungen

liegenzulassen (also nicht schrittweise abwärts oder aufwärts aufzulösen).222 Eine übergeordnete theoretische Begründung für dieses satztechnische Vorgehen findet sich 1904 bei Capellen, der die Wirkung des Harmonischen über jene des Melodischen stellt (siehe unten) und im Weiteren so der Dominant-Septim, die als »Natursept« ein »Ruheton« (und damit eigentliche Konsonanz) ist, auch ein beliebiges Wegspringen zugesteht. Aus dem gleichen Denken heraus ist auch die schrittweise parallele »Auflösung« einer weichen Dissonanz eines Akkords (große Sekunde/None, kleine Septime und – aus seinem Verständnis von Enharmonik heraus – auch der übermäßigen Sexte) in eine weitere (zum Beispiel g-f eines G7 in Quintstellung zu as-ges eines As7 in Grundstellung)223 legitim.224 Drei Jahre später konstatieren Louis/Thuille, dass es zwar »tatsächlich nichts ›Verbotenes‹ gibt, was nicht irgendwo bei einem Meister der Tonkunst als factisch vorkommend nachzuweisen wäre«; doch sollten nicht »dieser Ausnahmefälle wegen die Regeln nun zum alten Eisen« geworfen werden.225 Neben der Gleichzeitigkeit von bis zu vier Vorhaltstönen sind bei ihnen auch das »freie Weitergehen« und »Liegenbleiben einer Vorhaltsdissonanz« möglich.226 Ergänzend sei an dieser Stelle auf die bei Louis/Thuille,227 aber auch bei Kurth228 zu findende Idee der freien Leittoneinstellung und die Aussage Max Regers, dass sich jeder Akkord in jeden anderen auflösen könne,229 hingewiesen. Darüber hinaus gestehen Louis/Thuille der »Fuxschen Wechselnote« zu, sich nach dem Absprung aus einer beliebigen Dissonanz (in einen konsonanten Ton) nicht mehr in den eigentlich zu erwartenden Auflösungston bewegen 222  Vgl. Weitzmann 1888, 153.

 Die in der Klammer angeführten Tonnamen und Akkordbezeichnungen sind wie folgt zu verstehen: kursive Kleinbuchstaben für Einzeltöne (mit Bindestrichen als Intervalle bzw. Akkorde von unten nach oben gedacht), normale Klein- oder Großbuchstaben für Moll- oder Durdreiklänge – mit möglicher Erweiterung zum Septakkord durch die hoch- oder im Folgenden auch tiefgestellte »7« oder tiefgestellte »3« oder »5« für Terz- oder Quintstellung eines Dreiklangs. Darüber hinaus gelten im Hinblick auf die Instrumentation hoch- und tiefgestellte Zahlen neben den kursiven Buchstaben für den jeweiligen Oktavbezirk. 224  Vgl. Capellen 1904, 33ff. und 80f. Vgl. hierzu auch Holtmeier 2005 a, 131f. 225  Vgl. Louis/Thuille 21908, VIII. 226  Vgl. ebd., 162–165. 227  Vgl. ebd., bspw. 266. 228  Vgl. Kurth 31923, bspw. 112. 229  Vgl. Reger 1903. 223

relevante Inhalte der Lehrwerke – Harmonik

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zu müssen.230 Später ergänzen sie diese Freiheit noch um den Absprung aus einem eigentlichen Durchgangsakkord (der aufgrund seiner Struktur auch als selbstständiger Klang denkbar wäre) in eine neue Dissonanz.231 Die Erweiterung des Dissonanzgebrauchs im 19. Jahrhundert lässt sich vor allem zwei Kategorien zuordnen:232 Sie entsteht zum einen durch die zeitliche Dehnung bereits gebräuchlicher Nebennoten, zum anderen durch die oben bereits angesprochenen, aus den Skalentönen herrührenden Alterationen. Beide Kategorien werden in der weiteren historischen Entwicklung miteinander verbunden – in extremen Fällen in Bezug zu mehreren Akkordtönen gleichzeitig. Ihre hörpsychologisch-praktische Legitimation erhalten die neuen Dissonanzerscheinungen vom linearen Stimmführungsdenken des ›modernen‹ Kontrapunkts (sowie der ›modernen‹ Improvisations- / Diminutionspraxis), das die Grundlage für das Ausloten der harmonischen/ enharmonischen Möglichkeiten bildet. *** Aus dem traditionellen Verständnis der Terzschichtung leiten die Harmonie- und Kompositionslehren (nebst den darauf rekurrierenden Schriften) ihre behandelten alterierten Klänge ab. Im Folgenden werden diese nun mit ihren jeweiligen Bewertungen aufgeführt. Dreiklänge Die Wirkung der Dur-, Moll- und (mit Einschränkung auch) des verminderten Dreiklangs liegt nicht in der Akkordmorphologie selbst begründet.   Vgl. Louis/Thuille 21908, 175f. In der Fux’schen Erklärung und seinen Beispielen zur Definition der nota cambiata springt von der leichten Durchgangszeit die Stimme mit der zum Bass dissonanten Septime auf die betontere Zeit in die Quinte und löst erst anschließend die Erwartung der eigentlichen Durchgangsdissonanz – entweder als Sexte oder als das jeweilige konsonante Intervall über einem neuen Basston – ein (vgl. Fux 1742, 78f.). In der Renaissance-Musik selbst findet sich aber auch der Absprung aus anderen (dissonanten) Intervallen – mit anschließender Aufwärtsbewegung. 231  Vgl. Louis/Thuille 21908, 275f. 232   Insgesamt bleibt ein großer Traditionsbruch der »neuen« Harmonielehren des 19. Jahrhunderts zu konstatieren: Sie greifen zwar zentrale Kategorien der Musiktheorie des 18. Jahrhunderts – wie etwa Semi-Dissonanz bzw. Semi-Konsonanz – auf, reflektieren dieses Aufgreifen jedoch (bis auf wenige Ausnahmen) nicht. 230

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Analyse-Voraussetzungen

Ihr Charakteristisches offenbart sich sozusagen nicht im Einzelklang, sondern erst in der Akkordprogression und soll deshalb zu einem späteren Zeitpunkt behandelt werden. Es wird somit gleich mit den »alterierten« Dreiklängen begonnen. übermäßiger Dreiklang (im Folgenden auch ›Ü5‹, diatonisch auf einer 3. Mollstufe – z.B. in a-Moll mit den Tönen c-e-gis233) Eine ganze Abhandlung zu diesem Phänomen hat Weitzmann verfasst – er schreibt darin: Der übermässige Dreiklang ist bisher von allen theoretischen und praktischen Musikern als ein unheimlicher Gast betrachtet worden, dessen man sich stets so bald wie möglich entledigen zu müssen glaubte. Seine zweifelhafte Abkunft hatte Misstrauen gegen ihn erweckt; sein schroffes Auftreten sowohl wie seine scheinbare Unbehülflichkeit waren nicht geeignet, ihm Freunde zu erwerben. 234

Die Klangwirkung beschreibt er zudem als »rauh«;235 andere Autoren empfinden den Akkord als »übereizt« und »schmerzlich aufgerissen« (Marx),236 »herb« (Hauptmann),237 »scharf und schneidig« (Kistler),238 mit »scharfer« (Louis/Thuille)239 oder »greller« Dissonanzwirkung (Kurth)240. Diese »neue« Autonomie des Klanges dürfte von Weitzmann am stärksten betont worden sein, bei dem sie weit über die Frage von Auflösungswegen (also Progressionsfragen) hinausreicht.241 Außerdem hat er den Akkord in seiner strukturellen großformalen Bedeutung im Sinne einer Großterz-Ordnung ausgeleuchtet. Die Autonomie des Klanges hebt auch August Halm hervor, wenn er schreibt:

233  Durch die gewöhnliche Hochalteration der natürlichen 7. Mollstufe ist er an dieser Position ein diatonischer Akkord. 234  Weitzmann 1853, 1. 235  Ebd., 19. 236  Vgl. Marx 61863 (Bd. 1), 320 (Fußnote). 237  Vgl. Hauptmann 1853, 45f. 238  Kistler 1879, 17. 239  Louis/Thuille 21908, 36. 240  Vgl. Kurth 31923, 119f. 241  Sehr aktiv rezipiert werden würde Weitzmanns Abhandlung von Franz Liszt. Für die heutige theoretische Einordnung Weitzmanns vgl. auch die Publikationen von Richard Cohn.

relevante Inhalte der Lehrwerke – Harmonik

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Im Fluß der Harmonien entstanden, ist dieser »Dreiklang« allmählich zu einem selbständigeren Wesen erstarrt oder erstarkt, besonders ist er seit Wagner in häufigem Gebrauch. Er hat großen Zwang zur Fortführung in sich, zeichnet sich jedoch dabei in hohem Maße durch Unbestimmtheit seiner Tendenz aus […]. Diese eigentlich sich widersprechenden Eigenschaften geben ihm den Charakter schmerzlicher Spannung ohne Energie: des Gedrückten. 242

Weniger Bedeutung wird dem hartverminderten Dreiklang (in Grundstellung z.B. h-dis-f ) beigemessen, der in einigen Lehrwerken – unabhängig ihrer Entstehungszeit und Herkunft – gar nicht erst zur Sprache kommt, noch weniger dem doppeltverminderten (h-des-f )243. Von den hier verwendeten Lehrwerken äußert sich lediglich Tappert in seinen Musikalischen Studien ausführlicher dazu, wenngleich er für den Höreindruck des hartverminderten Dreiklangs bezeichnenderweise auf ein Zitat von Sorge zurückgreift.244 Mit dem Anspruch auf Vollständigkeit präsentiert er noch fünf weitere, von denen er lediglich einen mit Namen versieht: den doppeltübermäßigen Dreiklang (c-eis-gis).245 Die vier anderen bestehen aus kleiner und übermäßiger Terz (c-es-gis), übermäßiger und verminderter Terz (c-eis-g), verminderter und übermäßiger Terz (cis-es-gis)246 und aus kleiner und verminderter Terz (cis-e-ges). Einige der Akkorde (inklusive einer anderen Variante von Tapperts doppeltübermäßigem Dreiklang mit ces-e-g) listet auch Ernst Friedrich Richter auf, doch besitzen sie für ihn (wie für viele Theoretiker der Zeit) keine »harmonische Geltung«.247 Abschließend zeigt Tappert ein »seltsame[s] Product« bestehend aus einem fünfstimmigen Durdreiklang in Grundstellung, bei dem die Quinte einmal hoch- und einmal tiefalteriert wird (g-des-g-h-dis). Von Tappert mit

242  Halm 1900, 81. 243  Bei Lobe (1861, 12) »weichvermindert«.

244  Sorge nennt den hartverminderten Dreiklang Trias manca. Vgl. dazu in Tappert 1868 das

Kapitel »Alterirte Dreiklänge« (ab 153) und in Holtmeier 2017, ab 184. 245   »Namenlos! Man könnte diesen Akkord […] den ›doppelt-übermäßigen Dreiklang‹ nennen.« (Tappert 1868, 156). 246  »Unbenannt, unbekannt, vielleicht mit Recht verbannt.« (ebd. 159). 247  Vgl. Richter, E. F. 61866, 79.

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Analyse-Voraussetzungen

»zwiefach alterirt« bezeichnet,248 hat sich heute für diese unterschiedliche Alteration eines zweimal auftretenden Tons der Kurth’sche Begriff der »Disalteration« durchgesetzt.249 Grundsätzlich lässt sich in den (deutschsprachigen) musiktheoretischen Schriften seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Tendenz zur Autonomisierung »alterierter« Klänge erkennen. Radikal ausgeprägt findet sich dieses Denken bekanntermaßen 1911 in Schönbergs Harmonielehre. Hervorzuheben ist hier sicher Tappert, der als Erster darauf insistierte, dass diese Klänge nicht als funktionale Ableitungen anderer (meist dominantischer) Klänge zu verstehen seien, sondern sich als Klänge eigenen Rechts jenseits einer Ableitungsgeschichte etabliert hätten und in der zeitgenössischen Musik so auch verwandt würden. Er stellt sich damit außerdem bewusst gegen Theoretiker wie Hugo Riemann, Ernst Friedrich Richter und andere, für die alterierte Akkorde immer lediglich Ableitungsklänge blieben. »Neapolitaner« Wie sich bei den Vierklängen noch im Detail zeigen wird, erfuhr auch der »Neapolitaner« im Laufe des 19. Jahrhunderts eine weitgehende Autonomisierung sowohl in Hinsicht auf die Verwendung als grundständiger Dreiklang als auch im Hinblick auf eine tonale neapolitanische »Region«. Mit dem oben, im Zusammenhang mit Hauptmann besprochenen »Übergreifen« in den Unterquint-Bereich der Molltonarten und ihrer daraus resultierenden tiefalterierten 2. Stufe verbinden Louis/Thuille250 auch das Phänomen des neapolitanischen Sextakkords.251 Was bei den Autoren allerdings nur andeutungsweise zur Sprache kommt, ist der Umstand, dass er ursprünglich aus der melodisch motivierten Tiefalteration der Sexte eines subdominantischen Sextakkords (über der 4. Stufe) in Moll für abwärtsführende 248   Tappert (1868, 160) nennt als Begriffsgeber den Pianisten und Dirigenten Christian Louis Köhler (1820–1886). 249  Vgl. Kurth 1913, 133. 250   Auch bei Kistler (1879, 31–34) und bei Halm (1900, 87) tritt der Akkord in diesem Zusammenhang in Erscheinung (wenn er auch bei beiden nicht begrifflich genannt wird). 251  Ebenfalls ist bei Riemann (1890, 29f.) das Übergreifen Ursprung der neapolitanischen Sexte, die hier jedoch die Definition einer »Scheinkonsonanz« erhält.

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Chromatik hin zur Terz der Dominante252 (in a-Moll mit b-a-gis; später in unmittelbarer Abfolge als melodisch signifikantes Intervall der verminderten Terz b-gis – einem Hiatus) heraus geboren wurde. Neben seiner früheren Verwendung zeigen Louis/Thuille den Sextakkord in zwei weiteren Beispielen mit modernerer Fortschreitungsmöglichkeit: einmal als erste Umkehrung des Dreiklangs über der 6. Mollstufe, die sich zur Dominante bewegt, und einmal als tatsächliche tiefalterierte 2. Stufe in erster Umkehrung, die in die Dur- oder Molltonika führt.253 Für das Auftreten in Terzschichtung sprechen die beiden Autoren an späterer Stelle bereits von der »Stammform des neapolitanischen Sextaccords«,254 während Schönberg, der sich ebenfalls ausführlicher mit der Thematik befasst, jene Tiefalteration der 2. Stufe von der chromatischen Skala ausgehend (und nicht vom Konzept des Übergreifens) ableitet – und den originalen neapolitanischen Sextakkord daher klarer vom grundtönigen Dreiklang als dessen »Stellvertreter« abzugrenzen bestrebt ist.255 Einen expliziten Bezug zur phrygischen Skala stellt lediglich Riemann her; von einer möglichen Terzschichtung spricht er in diesem Zusammenhang jedoch nicht.256 Vierklänge – diatonisch vollverminderter Septakkord (diatonisch auf einer leittönigen 7. Stufe in Moll mit z.B. gis-h-d-f oder h-d-f-as; seine funktionstheoretische Abkürzung entsprechend seiner dominantischen Wirkung: Dv/DDv)257 Auch zu diesem Klang hat Weitzmann eine eigenständige Schrift verfasst,258 in der er die sinnliche Wirkung des Klangs folgendermaßen beschreibt: »Der verminderte Septimenakkord ist der Ausdruck der süssesten Schwärmerei, der dringendsten Bitte, der heissesten Sehnsucht.«,259 zudem verfüge 252  Wohl zuerst auftretend im Oratorium Historia di Jephte von Giacomo Carissimi (1605– 1674). 253  Vgl. Louis/Thuille 21908, 228 (Beispiel Nr. 236). 254  Ebd., 338. 255  Vgl. Schönberg 31922, 283–285. 256  Vgl. Riemann (1893, 101f.). 257  Sofern im Kontext eindeutig erkennbar, finden im Folgenden Groß- und Kleinbuchstaben auch als Funktionssymbole Verwendung. 258  Gewidmet »Dem Hofkapellmeister Herrn Dr. Franz Liszt in Weimar«. 259  Weitzmann 1854, o. S. (erster Satz der Publikation).

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er über ein »schmeichelnde[s] Wesen«.260 Für »viel milder« als den Dominantseptakkord (D7) befinden ihn aufgrund der verminderten Septime Richter261 und auch Hauptmann262 . Doch nicht immer wurden dem Dv derartige Attribute zugesprochen, wie Tappert im Hinblick auf die Veränderung des semantischen Gehalts im Laufe der Zeit anschaulich erläutert: Man kann ihn heutzutage getrost als Liebeserklärung benutzen, vor hundert Jahren aber sprach er die lebensgefährlichsten Drohungen aus und es gruselte den Hörern, wenn er wie ein Blitz am wolkenlosen Himmel […] aufzuckte. Seit Beethoven etwa fürchtet sich kein Kind mehr vor ihm!263

In Entsprechung zu Tapperts Ausführungen über die ursprüngliche Bedeutung des Klangs spricht Marx von der »Verkümmertheit und schmerzliche[n] Gepresstheit des verminderten Septimenakkordes«,264 während der Wagnerianer Kistler auf den fast inflationären Gebrauch dieses Akkordes hinweist, der »besonders in der dramatischen Musik eine grosse Rolle« spiele. Den Wandel seines Charakters beziehungsweise sogar die semantische Abnutzung des Klangs beschreibt Schönberg: »Er ist banal und weich geworden. […] Er war es nicht von Haus aus; er war hart und glänzend.«265 Die Milde seiner Dissonanz erlaubt ihm generell ein unvorbereitetes Erscheinen. Historisch handelt es sich bei diesem Klang um eine sogenannte Semi-Dissonanz, also um einen dissonierenden Klang, der frei wie eine Konsonanz eintreten kann, sich aber in der Regel wie eine Dissonanz auflösen muss. halbverminderter Septakkord (diatonisch auf einer 7. Stufe in Dur oder einer 2. in Moll mit z.B. h-d-f-a; hier verwendete, inoffizielle Abkürzung: Hv) Dieser Akkord ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt durch seine klangliche Vielgestaltigkeit als auch seine höchst unterschiedliche Notationsweise in Wagners Tristan und Isolde zu neuer Selbstständig260  Weitzmann 1853, 19. 261  Richter, E. F. 61866, 133. 262  Vgl. Hauptmann 1853, 136f. 263  Tappert 1868, 129. 264  Ebenso bewertet Marx (61863 (Bd. 1), 139) den verminderten Dreiklang gegenüber dem

D7 als »eng, gedrückt und ängstlich«. 265 Schönberg 31922, 289.

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keit und Popularität gelangt. In der Musiktheorie des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde im Allgemeinen zwischen dem »dominantischen« halbverminderten Septakkord, der seinen Sitz auf der 7. beziehungsweise in Moll auf der erhöhten 7. Stufe hat, und dem »prädominantischen« halbverminderten Septakkord, der seinen Sitz auf der 2. Skalenstufe in Moll hat, unterschieden. Der dominantische Halbverminderte wurde wie der Halbverminderte auch als eine Semidissonanz betrachtet und konnte unverbereitet eintreten, der prädominantische Halbverminderte war hingegen ein dissonanter Klang, dessen dissonante Septime vorbereitet werden musste. In den theoretischen Schriften der zweiten Hälfte des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts wird im Sinne dieser Tradition keine Vorbereitung der Septime,266 aber auch je nach Kontext nicht einmal mehr eine (linear abwärtsgerichtete) Auflösung267 verlangt. Für Hauptmann steht er aufgrund seines Milde-Grads auf einer Ebene mit dem D7. Doch konkrete Charaktermerkmale will man ihm im Allgemeinen nicht zusprechen:268 Zu vielseitig sind seine (insbesondere durch Umkehrungen und enharmonische Umdeutungen potenzierten) Möglichkeiten. Anhand des Hv erklärt Ernst Kurth die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts generell verändernde Akkordbedeutung aufgrund der aufkommenden ›romantischen‹ Empfindung: Auch in einem weiteren Sinne spiegelt sich im Reichtum seiner [des Hv] Wandlungen und seiner motivischen Verwendung [im Tristan] nur eine allgemeine Erscheinung der romantischen Harmonik; er ist nur ein Symptom dafür, wie das Phänomen des E i n z el k l a ng e s überhaupt zu neuer B e deut u ng erhoben wird. Während in der klassischen Kunst der einzelne Akkord seine eigentlichste Wirkung und Bedeutung als Glied eines ganzen harmonischen Zusammenhanges gewinnt, liegt ein wesentliches Entwicklungsmoment der Romantik in der Individualisierung, der Zuspitzung zum Eigeneffekt und zur Selbständigkeit des Einzelklanges, und das nicht nur hinsichtlich der dramatischen und symbolischen Verarbeitung, sondern hinsichtlich der ganzen Technik und der inneren Veränderungen des Harmoniestils. 269

266  Vgl. Richter, E. F. 61866, 60. 267  Vgl. Louis/Thuille 21908, 117f. 268  Lediglich Marx (61863 (Bd. 1), 216) klassifiziert ihn – wohlgemerkt vor der Uraufführung

des Tristan – ähnlich dem D7 als »Naturlaut, – wenn gleich […] verkümmert und dabei haltlos gespannt, da der eigentlich Grundton fehlt.«. 269  Kurth 31923, 91 (Hervorhebungen dort).

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Analyse-Voraussetzungen

Dass Kurth kein traditioneller »Musiktheoretiker« im herkömmlichen Sinne war,270 jene Spannung zwischen Klangerscheinung und Notation – also zwischen historischer Herkunft und »tonaler« Bestimmung – nicht thematisiert und musiktheoretisch zu systematisieren sucht, stellt dennoch eine wesentliche Tendenz nicht nur innerhalb der Musiktheorie, sondern auch der Kompositionslehre der Zeit dar: An die Stelle einer »harmonischen« Bestimmung im engeren Sinne, wie sie etwa Tappert noch einforderte, tritt die Tendenz, Klänge im Sinne der melodischen »Strebe«-Tendenzen ihrer Einzelstimmen zu beschreiben. Sonstige diatonische Septakkorde, die in den Lehrwerken als Einzelerscheinungen genannt werden, sind (abgesehen vom D7) mit zunehmendem »Härtegrad« nach Hauptmann:271 der kleine Mollseptakkord (a-c-e-g), der große Durseptakkord (c-e-g-h) und der große Mollseptakkord (c-es-g-h). Marx befindet den ersten als »getrübt und erschlafft«, den zweiten hingegen als »schroff und herb«.272 Der dritte ist nach Kistler der »stärkst dissonirende Akkord«, zudem trete er »nie frei auf, sondern nur in Verbindung mit andern Harmonien«.273 Auch Jadassohn besteht noch darauf, dass der Akkord als 1. Stufe »sorgfältig vorbereitet eingeführt« werden müsse,274 während Weitzmann bereits 33 Jahre zuvor über die Septakkorde allgemein konstatiert: »Die neuere Tonkunst aber läßt auch die schärfste Dissonanz frei auftreten, wenn es durch den Charakter des Tonstückes bedingt wird, und wenn dieselbe eine regelmäßige Auflösung oder Trugfortschreitung275 nimmt.«276 270  Vgl. hierzu Holtmeier, 2005 a und ders. 2002, 361–365. 271  Wobei Hauptmann (1853, ab 135) innerhalb dieser Septakkordtypen weitere Unterscheidungen entsprechend ihrer Position in einer Tonart vornimmt. 272  Vgl. Marx 61863 (Bd. 1), 216. 273  Vgl. Kistler 1879, 28. 274  Vgl. Jadassohn 1883, 101f. 275  Als »Trugfortschreitungen« gelten für Weitzmann alle unmittelbar nach einem dominantischen Akkord folgenden Klänge, die zu diesem nicht in tonikalem Verhältnis stehen. 276  Weitzmann 1860, 35. Lobe (1850, 234) äußert sogar noch vor ihm, dass »unter Umständen […] alle dissonirenden Akkorde frei eintreten« könnten, doch geht dieser Aussage in seinen Beispielen kein großer Mollseptakkord voraus.

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All diese Septakkorde, die in der Musiktheorie des 18. Jahrhunderts ausführlich in Hinsicht auf ihren »Sitz« behandelt und oft mit Eigennamen versehen wurden, welche diesen Sitz funktional bestimmten (etwa der Akkord der septième superfluë), werden in den Harmonielehren insbesondere der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer weniger klar funktional bestimmt, sondern zusehends im Sinne autonomer Klanggebilde beschrieben, die sowohl in Hinsicht auf ihre Einführung als auch ihre Fortführung keinen strengen Gesetzmäßigkeiten mehr unterworfen sind. Vierklänge – alteriert Wie zu erwarten, äußern sich zu möglichen Alterationen innerhalb der Septakkorde ebenfalls nicht alle Autoren. Lediglich Tappert bringt eine recht umfangreiche Übersicht.277 In ihr wird deutlich, dass er in der Unfähigkeit der zeitgenössischen Musiktheorie, in jenen alterierten Klängen »gleichwertige« Akkorde eigenen Rechts zu erkennen und sie nicht nur als Modifikationen einer kleinen Auswahl (meist dominantischer Klänge) zu betrachten, eines der größten Versäumnisse erblickt. Seine Übersicht umfasst die folgenden zehn beziehungsweise elf autonomen alterierten Vierklänge:278 1) D7 mit hochalterierter Quinte beziehungsweise übermäßiger Dreiklang mit kleiner Septime (g-h-dis-f ): »Es liegt ein schmachtender Zug in ihm und darum ist er weit verbreitet und recht beliebt.« x) Nicht aufgeführt wird in der Liste ein Akkord, der dem oben genannten Klang als mögliche Ausgangssituation vorausgeschickt ist: der große Durseptakkord mit hochalterierter Quinte beziehungsweise übermäßiger Dreiklang mit großer Septime (g-h-dis-fis). Die mögliche Ursache dürfte darin liegen, dass der Akkord in anderen Theorien als diatonischer Klang auftritt: als Septakkord der 3. Mollstufe (c-e-gis-h).279 277  Vgl. Tappert 1868, ab 161 (Kapitel »Alterirte Septimen-Akkorde«). Der 40 Jahre später erscheinenden Harmonielehre von Louis/Thuille kann, wenngleich sie einer anderen didaktischen Systematik folgt, zumindest im Hinblick auf die kompositorisch-praktische Anwendung der alterierten Septakkorde ebenfalls Ausführlichkeit attestiert werden. 278  Die folgende Aufzählung und ihre Zitate sind entnommen aus Tappert 1868, 161–175. 279  Vgl. z.B. Lobe 1850, 198, Sechter 1853, 73 oder Louis/Thuille 21908, 118.

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2) D7 mit tiefalterierter Quinte oder neutraler formuliert: als hartverminderter Dreiklang mit kleiner Septime (g-h-des-f ): »Der Akkord kann frei eintreten.« 3) Dv mit tiefalterierter Terz beziehungsweise doppeltverminderter Dreiklang mit kleiner Septime (gis-b-d-f ): »Dieser Akkord ist der verbreitetste der ganzen Abtheilung. Er findet sich früh in der musikalischen Praxis, wird aber erst ziemlich spät in den theoretischen Schriften erwähnt.« 4) Dv mit tiefalterierter (= doppeltverminderter) Quinte (gis-h-des-f ): »Dieser Akkord ist ein Kind des 19. Jahrh., ich habe ihn wenigstens bei keinem der früheren Schriftsteller gefunden; anscheinend war er auch in der Praxis des vorigen Jahrh. nicht gebräuchlich.« 5) Terzschichtung des Tristan-Akkords oder Moll mit verminderter Septime (gis-h-dis-f ): »Seltener Akkord, ich fand ihn bisher nur in Wagner’s Oper: Tristan und Isolde.« 6) enharmonische Umdeutung und entsprechende Terzschichtung des Tristan-Akkords beziehungsweise hartverminderter Dreiklang mit verminderter Septime oder Dv mit hochalterierter Terz (h-dis-f-as): »Selten! Nur einmal fand ich diesen Akkord und zwar im ›Tristan‹, welcher in dieser Beziehung äußerst ergiebig ist.« 7) Dur mit verminderter Septime (g-h-d-fes): »Ebenfalls sehr selten und wiederum nur bei Wagner.« 8) doppeltverminderter Dreiklang mit kleiner Septime oder Hv mit tiefalterierter Terz (hdesfa): »Von ihm gilt fast dasselbe, was über die vorhergehenden zu sagen war: nur einmal fand ich diesen Akkord, und zwar in der ersten Umkehrung, auch bei einem Jünger der neudeutschen Schule!« 9) ein in seiner Grundstellung eigentlich unbestimmbarer Akkord, der durch das signifikante Rahmenintervall der verminderten Septime als doppeltalterierter Dv – mit tiefalterierter Terz und tiefalterierter (= doppeltverminderter) Quinte – definiert werden könnte (dis-f-as-c):280 »Ein seltener Akkord, so rar, daß ich ihn selbst bei Wagner nicht gefunden habe.« 280  Dieser Klang erscheint allerdings mit seiner zu erwartenden Auflösung in einen Dur-Sextakkord (hier C-Dur) für das Ende des 19. Jahrhunderts als durchaus plausibel.

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10) Dur mit übermäßiger Septime (b-d-f-ais): »Die übermäßige Septime wird zuerst von Brossard281 (1705) und Rameau (1722) erwähnt aber als ungebräuchlich bezeichnet. Neuerdings findet sie sich wol nur bei Weitzmann, der durch Ausfüllung dieses Intervalls einen, aus drei großen Terzen bestehenden Septimen-Akkord gewinnt. So wild derselbe aussieht, so zahm klingt er. Bis jetzt sah ich ihn noch niemals in der Praxis […].« Dass Wirkung und Charakter eines Akkords durch seine Umkehrungen teils erhebliche Veränderung erfährt, ist gerade von der sogenannten Partimento-Forschung immer wieder hervorgehoben worden. Während dies bei den symmetrischen Akkorden Dv und Ü5 weniger offensichtlich zu sein scheint, hat es bei den nicht-symmetrischen diatonischen Septakkorden – insbesondere jenen mit einem Dur- oder Molldreiklang in ihrer oberen Struktur (kleiner Mollseptakkord, großer Durseptakkord, Hv) – durch die oft radikal sich verändernden Dissonanzverhältnisse spürbare Auswirkungen. In der Harmonielehre des 19. Jahrhunderts beschränkt man sich meist darauf, die Umkehrungswirkung bei den diatonischen Dreiklängen zu beschreiben; für die Septakkorde bleibt es überwiegend bei rudimentären Hinweisen282 (und dem Fokus auf die jeweilige Dissonanzauflösung). Lediglich ein Phänomen der alterierten Akkorde erhält grundsätzlich größere Aufmerksamkeit: übermäßige Sextakkorde Abgesehen von frühesten Einzelerscheinungen in der musikalischen ›Gotik‹,283 scheinen jene Klänge ursprünglich aus melodischen Durchgangsrespektive Vorhaltsbildungen bei phrygischen Wendungen hervorgegangen zu sein.284 In der Musiktheorie des Barocks werden sie zwar bereits ausführlich diskutiert, etablieren sich aber erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (im Folgenden als ›Klassik‹/›klassisch‹ bezeichnet)285 zu einem geradezu ubiquitären harmonischen Phänomen – vor allem als auffälliges 281  Sébastien de Brossard (1655–1730). 282  Vgl. z.B. Marx 61863 (Bd. 1), 266. 283  Vgl. Ellis 2010, 29. 284  Vgl. ebd., 33. 285  »Klassizismus« in bildender Kunst und Architektur.

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formales, halbschlüssiges Zäsur-Element. Mit dem bei Kurth erwähnten wachsenden Interesse an den linearen Möglichkeiten und Strebetendenzen der Klangstruktur verändert sich im Laufe des 19. Jahrhunderts (im Folgenden als ›Romantik‹/›romantisch‹ bezeichnet) der Charakter und die theoretische Herleitung jener Akkorde und damit auch ihr Einsatzgebiet. Die Erklärungen und Ableitungen in den musiktheoretischen Schriften fallen entsprechend vielseitig aus – und sollen hier in ihren wichtigsten Zügen zusammengefasst werden. Siegfried Dehn definiert das Phänomen bereits 1840 folgendermaßen: In »nur« drei »Arten« vorkommend, seien die übermäßigen Sextakkorde anhand ihres Auftretens »in der Praxis, am natürlichsten […] nachgewiesen« durch die Tiefalteration des Basstones von 1.) dem verminderten Dreiklang in erster Umkehrung (von d-f-h zu des-f-h), 2.) dem D7 in zweiter Umkehrung (des-f-g-h) und 3.) dem Dv in erster Umkehrung (des-f-as-h). Diese drei Erscheinungen wiederum jeweils in sich umzukehren, klassifiziert Dehn auch in allen späteren Auflagen seiner Harmonielehre noch als »Ausnahmen von der Regel«.286 Für das Folgende werden diese drei Hauptformen – strukturell als übermäßiger Sextakkord, übermäßiger Terzquartakkord und übermäßiger Quintsextakkord definierbar – der Einfachheit zuliebe als »erster«, »zweiter« und »dritter Akkord« bezeichnet. Hervorzuheben ist hier, dass der sehr belesene und musikhistorisch äußerst gebildete Dehn diesen Akkord, der historisch nun gerade nicht aus einem wie auch immer gearteten Umkehrungsdenken entstanden ist, strikt als Umkehrungsphänomen beschreibt. Damit befindet sich Dehn ganz auf der Linie fast aller deutschsprachigen Harmonielehren des 19.  Jahrhunderts, die nur noch in seltenen Fällen jene (historische) »lineare« Ableitung als alterierten Klang auf der absteigenden 6. Skalenstufe in Moll anführen. Dehn leitet den Klang nicht einmal mehr von der Mollskala beziehungsweise dem Moll-Geschlecht ab, sondern führt ihn gleich als Alterationsklang ein, in dem aber gerade nicht die Sexte hochalteriert, sondern der Basston (bzw. im Sinne des Umkehrungdenkens: die Quinte des terzgeschichteten Klangs) tiefalteriert wird. Die Ableitung jener Klänge mit der übermäßigen Sexte   Dehn (21860, 111–119) folgt hier nach eigener Angabe methodisch seinem Lehrer Bernhard Klein (1793–1832).

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erfolgt bei Dehn konsequent vom dominantischen Dreiklang der 7. Stufe ab – er definiert sie damit grundsätzlich als dominantische Klänge: Entsprechend ist für ihn der Klang des-f-h nicht ein Klang der Tonart f-Moll/F-Dur, wie es für die gesamte Musiktheorie des 18. und frühen 19.  Jahrhunderts selbstverständlich gewesen wäre, sondern ein (alterierter) Klang der Tonart C-Dur. Jene Verschiebung des Klangs von einer doppeldominantischen hin zu einer dominantischen Bedeutung lässt sich in vielen deutschen Harmonielehren des 19.  Jahrhunderts bis hin zu Schönbergs Harmonielehre, die diesen Gedanken satztechnisch gleichsam zu Ende denkt, beobachten. Sie geht mit einschneidenden Veränderungen in Hinsicht auf das Verständnis und die Verwendung des Klangs einher. Karl Gottfried Salzmann leitet den Akkord zunächst ebenfalls vom verminderten Dreiklang ab, jedoch ganz im Sinne der traditionellen Lehre vom Sitz der Akkorde und ganz im Sinne des 18. Jahrhunderts vom verminderten Dreiklang der 2. Mollstufe. Von diesem aus führt sein Weg zum doppeltverminderten Dreiklang (dis-f-a) der erhöhten 4. Mollstufe. Diese beiden Dreiklänge würden jedoch aufgrund ihrer »Härte nicht gebraucht«, sie dienten lediglich als Ableitungsakkorde für ihre gebräuchlichen Umkehrungsformen: den Akkorden mit der übermäßigen Sexte. Für Akkord zwei und drei würden – auch hier ganz im Einklang mit der Tradition – »zuweilen« die entsprechenden Töne als Füllstimmen »dazu genommen«.287 Salzmann folgt hier also einer Ableitungsgeschichte und funktionalen Einordnung, die sich nicht grundsätzlich von jener Erklärung unterscheidet, die Sorge in der Mitte des 18.  Jahrhunderts erstmals verbindlich eingeführt hat. In zwei fast zeitgleich entstandenen musiktheoretischen Werken werden also zwei völlig unterschiedliche Erklärungen gegeben. Salzmann folgt treu dem alten »Tonleiterdenken« des 18. Jahrhunderts, während Dehns wirkungsmächtigere Harmonielehre konsequent das Konzept einiger weniger terzgeschichteter Grundklänge entfaltet, von denen alle weiteren Klänge durch Alteration abgeleitet werden.

287  Vgl. Salzmann 1842, 39ff.

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Auch A.B. Marx leitet in der sechsten Auflage seiner sehr einflussreichen Kompositionslehre den ersten Akkord vom doppeltverminderten Dreiklang ab, den zweiten und dritten im Grunde wie Dehn, ohne jedoch explizit von den erforderlichen Umkehrungsvorgängen zu sprechen, die lediglich anhand der Beispiele nachvollzogen werden können. Zum ersten Akkord kommt ergänzend eine Quartsext-Variante (hier mit as-d-fis) – abgeleitet aus dem hartverminderten Dreiklang –, zum dritten eine andere Alterationsvariante des Dv (dis-fis-as-c).288 Klar ist, dass Marx die traditionelle Erklärung des 18. Jahrunderts – Rahmenintervall der übermässigen Sexte plus unterschiedliche Füllstimmen – ganz im Sinne Dehns ablehnt: Dass man »einen Sext-Akkord, einen Terzquart- und einen Quintsextakkord unter eine Rubrik« geworfen habe, sei »unsystematisch, irreleitend und unzulänglich«.289 Obwohl seine Literaturbeispiele die verschiedenen Formen des Akkordes mit der übermäßigen Sexte zwar ausschließlich als doppeldominantischen Akkord ausweisen, stehen seine Ableitungen der Klänge – ähnlich wie bei Dehn – oft in Widerspruch: Der Akkord bleibt auch für Marx vorrangig ein alterierter dominantischer Klang. Moritz Hauptmann orientiert sich ebenfalls am hartverminderten Dreiklang (zunächst abgeleitet aus dem in die Oberquint übergreifenden Mollsystem, später mit dessen Unterquintbezug).290 Ausdrücklich thematisiert und problematisiert er in der deutschsprachigen Harmonielehre der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jene Doppeldeutigkeit des Klangs (als dominantischer Ableitungsakkord und doppeldominantischer Funktionsakkord zugleich): Es sei ein »Accord entschiedenster Zweiheit«, der sich zwar dominantisch ableite, dessen Leitton man aber »entschieden als Terz der Quint eines Oberdominantaccordes«, also als Doppeldominante, empfinde.291 E.F. Richter nimmt für den ersten Akkord – ähnlich wie Marx – zunächst die Umkehrung des doppeltverminderten Dreiklangs zum Ausgang: diesen jedoch aus der Hochalteration eines Molldreiklangs (c-Moll als 4. Stufe in g-Moll) gewinnend. Somit deutet er den Akkord ebenfalls 288  Vgl. Marx 61863 (Bd. 1), 323ff. 289  Ebd., 322. 290  Vgl. Hauptmann 1853, 50f. und 149–158. 291  Vgl. ebd., 50f.

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als traditionellen, doppeldominantischen Penultima-Klang (der »sich in die fünfte Stufe wendet«).292 Den zweiten Akkord leitet Richter von einer 2. Stufe in Moll ab, die vom verminderten Dreiklang zum Hv erweitert wird (mit Alteration zu h-dis-f-a) – und dem Hinweis, dass davon die zweite Umkehrung ( f-a-h-dis) »am wichtigsten« sei und »viel gebraucht« werde. Der dritte Akkord wird vom Nonenakkord der 2. Stufe abgeleitet: Richter ersetzt den Grundton gleichsam durch die None (dis-f-a-c), die erste Umkehrung ( f-a-c-dis) gelte als die »brauchbarste«.293 Es ist festzuhalten, dass die wohl verbreitetste Harmonielehre des gesamten 19. Jahrhunderts zwar radikal mit dem Skalendenken des 18. Jahrhunderts bricht und alle Klänge konsequent von terzgeschichteten Klängen ableitet, dabei aber der traditionellen funktionalen Zuordnung des Klangs als doppeldominatischem Klang verhaftet bleibt. Bei Richters Leipziger Nachfolger Salomon Jadassohn kann man besonders gut sehen, wie sehr das Systematisierungs- und Kategoriesierungsdenken des 19. Jahrhunderts das Verständnis des Klangs schon eine Generation später verändert hat. Richters traditionelle Ableitung des übermäßigen Sextakkords von einem (subdominantischen) Molldreiklang der 4.  Stufe in Moll, dessen Grundton alteriert worden ist, greift Jadassohn zwar auf, bringt sie aber in ein übergeordnetes, streng systematisches Bezugssystem, das mit den historischen Ursprüngen des Klangs nicht mehr viel zu tun hat: »Wir alteriren den Grundton desjeneigen weichen Dreiklangs, den wir in zwei verschiedenen Durtonarten auf der zweiten und sechsten und in den Parallelmollton-Arten dieser Durtonarten auf der vierten und ersten Stufe finden.«294 So hat der von d-Moll abgleitete Klang f-a-dis eine autonome Bedeutung in C-Dur, F-Dur, a-Moll und d-Moll und kann dementsprechend auch unterschiedlichste Auflösungsformen finden. Die (historische) doppeldominatische Bedeutung des Klangs ist nur eine funktionale Bedeutung unter vielen.295 292  Vgl. Richter, E. F. 61866, 82. 293  Vgl. ebd., 82–85. 294  Vgl. Jadassohn 1883, 119. 295  Vgl. ebd., 119–128.

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Weitzmann geht für den ersten Akkord identisch vor wie Dehn, ergänzt ihn jedoch ohne weitere Erklärung um die entsprechenden Töne zur Gewinnung des zweiten und dritten.296 Halm knüpft an die bekannte Argumentation an: Der hartverminderte Dreiklang ergibt sich auch bei ihm aus dem verminderten Dreiklang einer 2. Stufe in Moll, bei dem die Terz hochalteriert wird (h-dis-f ); die Umkehrung zum übermäßigen Quartsextakkord entspricht somit der Variante des ersten Akkords, wie sie bereits bei Marx zu finden ist. »Noch häufiger« als in dieser Form erscheine er jedoch als Septakkord, als eine »Kombinationsbildung« aus Tönen der Unter- und der »Dominant der Dominant« (mit h-dis-f-a – »gewöhnlicher« in zweiter Umkehrung = zweiter Akkord). Man sieht am Beispiel Halms, wie noch zur Jahrhundertwende die alte Vorstellung der »Fülltöne« quasi »subkutan« fortlebt – auch wenn sie nicht mehr explizit angesprochen wird. Von der zuvor hochalterierten 4. Stufe in Moll bildet Halm schließlich auf die vertraute Art und Weise als »Pseudogrundton« einen doppeltverminderten Dreiklang, aus dessen Umkehrung er nun den originalen ersten Akkord ableitet und welcher zum Septakkord ergänzt das Material für den dritten Akkord bereithält (dis-f-a-c). Bemerkenswerterweise erscheint dieser jedoch nur im letzten der gegebenen Beispiele in erster Umkehrung (als übermäßiger Quintsextakkord) – zuvor bleibt er in Stellungen mit verminderter Terz. Wie sehr aber auch Halms Musiktheorie vom systematischen Ableitungs- und Analogiedenken durchdrungen ist, zeigt die auf die traditionelle Erklärung des übermäßigen Sextakkords folgende Argumentation: Von Hauptmanns Idee der »Vermischung« entsteht durch die Übernahme der (neapolitanischen) verminderten 2. Stufe in Moll ein zweiter, dominantischer hartverminderter Akkord (e-gis-b in a-Moll), der nun in strenger Analogie (und ungeachtet seiner historischen Entstehung und Verwendung) wie die traditionellen Klänge mit der übermäßigen Sexte durchgeführt und in allen Umkehrungsformen angewendet wird: Bei Halm erscheint der Klang also auch nicht mehr allein als doppeldominantischer, sondern explizit auch als dominantischer Klang. Festzuhalten bleibt allerdings, dass Halm die doppeldominantischen und die dominantischen Klänge mit der übermäßigen Sexte – anders als Dehn – unterschiedlich ableitet.297 296  Vgl. Weitzmann 1888, 91f. 297  Vgl. Halm 1900, 84–87.

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Dass Sechters erste zwei Beispiele ebenfalls diesem Verhältnis entsprechen, ist seinem prinzipiellen Vorgehen der chromatischen Ausgestaltung eines diatonischen Gerüsts geschuldet, für das er zu Beginn die 7. und dann die 3. Stufe in Dur auswählt – und somit eher zufälliger Natur: Jeder der generell im chromatischen Durchgang erzeugten Klänge (zunächst in Form einer fünfstimmigen Variante des zweiten Akkords, später in vierstimmigen Varianten des dritten)298 wird für ihn zu einer diatonischen 2. Stufe in Moll, auf die die Dominante zu folgen hat.299 Da Sechter die übermäßige Sexte grundsätzlich aus einer chromatisierten Quintfallsequenz ableitet, behält sie ihre doppeldominantische Funktion bei. Auch Lobe leitet sämtliche übermäßigen Sextakkorde zuerst einmal von einer 2. Stufe in Moll (mit Hochalteration ihrer Terz) ab – allerdings direkt aus einem Septnonakkord (h-dis-f-a-c), von dem er für die verschiedenen Varianten (auch mit verminderter Terz) einzelne Töne weglässt. Er folgt hier also jener alten Ableitung der »Trias-harmonica-Tradition« von terzgeschichteten Grundakkorden, die immer auf leitereigenen, »diatonischen« Stufen errichtet werden müssen (wie bei Sorge, Rameau usw.). Auch den D7 mit hochalterierter Quinte führt Lobe als eigenständigen Klang der 5. Stufe in Dur an (in verschiedenen Stellungen und Lagen – davon vierstimmig mit h-f-g-dis, dis-g-h-f und in enger Lage mit f-g-h-dis) –, so wie ihn 1771 Johann Philipp Kirnberger (1721–1783) erstmals eingeführt hatte.300 In Riemanns Katechismus der Harmonielehre von 1890 lässt sich besonders gut sehen, wie sehr eine andere Art der Akkordsystematik mit dem alten, historisch gewachsenen Begriff des übermäßigen Sextakkords, ja, überhaupt mit traditionellen Vorstellungen von akkordischer Herleitung bricht. Riemann leitet alle Akkorde streng und systematisch von den drei Grundfunktionen Tonika, Subdominante und Dominante ab. Davon ausgehend spricht er von »Zusätzen«, »Vorhalten«, »Durchgängen«, »Alterationen« und »Kombinationen«, also Mischformen dieser Hinzufügungen zu den Grundklängen: Die übermäßigen Sextakkorde sind bei Riemann dementsprechend tonikal (in C-Dur etwa mit c-e-ais und c-e-g-ais, 298  Sechter (1853, 151f.) spricht diesem in seinen Augen verkürzten Septnonakkorden immerhin »Zwitter«-Charakter zu. 299  Vgl. ebd., 147–152. 300  Vgl. Lobe 1850, 211ff.

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auch die Marx’sche Variante des ersten Akkords mit g-es-c-e erscheint, ebenso die ›Normalform‹ es-g-cis), subdominantisch (in C-Dur: f-a-c-dis, aber auch as-c-d-fis, as-c-dis-fis und sogar as-cis-d-fis) und dominantisch (in C-Dur: wie Lobe/Kirnberger f-g-h-dis, aber auch der »tonikale« übermäßige Sextakkord des-f-g-h).301 Riemanns Akkordlehre des Katechismus repräsentiert fraglos eine Extremposition der Akkordlehren am Ende des 19. Jahrhunderts. Aber die Ausführungen zeigen auch, dass er eigentlich nur konsequent und radikal eine spezifische Tendenz zu Ende führt, die bereits in der »bürgerlichen« Harmonielehre der Jahrhundertmitte angelegt ist: Die alte Akkordlehre des 18. Jahrhunderts wird bei Riemann vollends durch eine neue, streng systematische Ableitungslehre ersetzt, welche den Akkord der übermäßigen Sexte nicht mehr vorrangig in Bezug auf ihren »natürlichen« Sitz verortet. Eine andere, sehr individuelle und vom Ansatz her in die Zukunft weisende Ableitung bietet Georg Capellen. In Die »musikalische« Akustik von 1903 deutet er den Klang g-h-dis-f als »Ganztonklang« (genauer als »enharmonischen Ganztonklang«), und damit auch dessen Umkehrung f-g-h-dis.302 Auf Capellens idiosynkratische Akkordlehre, die (mit Ausnahme von Arnold Schönberg) fast ohne Rezeption im engeren Sinne blieb, soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden; entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass Capellen hier ›moderne‹ Ansätze wie die von Bernhard Ziehn (1845–1912) und Weitzmann aufgreift und die »historischen« Klänge mit (im Zusammenhang mit der Akkordmorphologie) »unhistorischen« Kategorien wie Ganztonskala, Spiegelung usw. ableitet und damit die Grenzen der traditionellen Harmonielehre endgültig verlässt. Dass Capellen in systematischer und methodischer Hinsicht hiermit quasi am Anfang einer eigenen, neuen Art von Harmonielehre steht, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts entfalten sollte, kann an dieser Stelle nur angedeutet werden. Am eingehendsten behandeln Louis/Thuille das Phänomen. Die Ableitung beginnt bei der 4. Stufe in Moll und Molldur als Einzelton, der entsprechend seiner Positionen innerhalb der diatonischen Dreiklänge und Septakkorde auf den relevanten Stufen verortet wird (=  Grundton der 301  Vgl. Riemann 1890, 42–51. 302  Vgl. Capellen 1902, 110–115.

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4. Stufe, Terz der 2., Quinte der 7. und Septime der 5. Stufe). Durch seine Hochalteration ergibt sich in allen Klängen das Intervall der verminderten Terz, das hier dem sensualistischen Ansatz der Autoren entsprechend auch in seiner Wahrnehmungswirkung betrachtet und darin seiner Umkehrung – der übermäßigen Sexte – gegenübergestellt wird. Die anschließende Auflistung aller daraus entwickelten übermäßigen Sextakkorde (in diversen Stellungen/Lagen, jedoch nicht mit der als weniger plausibel empfundenen verminderten Terz) umfasst – neben den bereits bekannten303 – auch einen nicht-traditionellen Klang, der als »doppelt«-alterierte Variante des dritten Akkords (gewonnen aus Molldur und bestehend aus den Tönen f-a-cisdis in drei verschiedenen Stellungen/Lagen) betrachtet werden kann, und einen Klang aus jenen Tönen, die den Tristan-Akkord bilden ( f-h-dis-gis in noch zwei weiteren Stellungen/Lagen). Von diesen letzten Klängen abgesehen304 kommt für Louis/Thuille allen Akkorden »Unterdominantfunction« zu – innerhalb der Tonart meist mit Auflösung in die Dominante, aber auch in die Tonika. Eine weitere Kategorie (unter die auch Lobes neuer Akkord fällt) ist jene der hochalterierten 2. Stufe in Dur und in Molldur; die zum Teil gleichlautenden übermäßigen Sextakkorde sind hier entsprechend dominantisch und subdominantisch auf Dur/Molldur bezogen. Aus dem Material für Molldur ergeben sich dabei zwei neue Klänge: eine weitere Variante des ersten Akkords ( f-as-dis) und eine des zweiten (h-f-as-dis). Schließlich kommt auch bei Louis/Thuille der Hauptmann’sche Bezug zur doppelsubdominantischen Seite des Mollsystems zur Geltung, jedoch verbinden die Autoren diese tiefalterierte 2. Stufe als Erste mit ihrem eigentlichen historischen Ursprung, dem Phrygischen. Nach bekanntem Vorgehen ergeben sich für Moll und anschließend Dur/Molldur in den Dreiklängen und Septakkorden305 der entsprechenden Stufen (mit Leitton und tiefalterierter 2. Stufe) abermals Akkorde mit verminderter Terz (gis-b): Ein neuer Klang entsteht dabei auf der 3. Stufe in Moll (c-e-gis-b – der strukturell 303  Mit Ausnahme des enharmonisch umgedeuteten dritten Akkords (dis-fis-as-c) bei Marx.

  Louis/Thuille (21908, 220) sprechen beim Tristan-Akkord in seinem musikalischen Zusammenhang von einer Vorhaltsbildung der Oberstimme, die sich letztlich zum Akkord der zweiten Kategorie auflöst (zu f-h-dis-a) – und damit ebenfalls für Unterdominantfunktion sorgt. 305  Die Autoren (21908, 224) fügen noch einen Septnonakkord auf der 5. Stufe hinzu. 304

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gesehen einer enharmonischen Umdeutung der vorigen neuen Variante des dritten Akkords entspricht: als f-a-cis-es), während alle anderen Klänge bereits bekannte Aufbauten besitzen.306 In ihrem Fazit heben die Autoren noch einmal die Bedeutsamkeit des polaren Verhältnisses307 hervor und ziehen daraus ihre Schlüsse zur Positionierung der Akkorde im musikalischen Zusammenhang: Also kommen für die beiden Töne, die zusammen das Intervall der verminderten Terz bilden, vor allem zwei Auffassungen in Betracht: nach der einen ist der tiefere Ton alterierte Unterdominante [dis] und der höhere die leitereigene Mollterz der Unterdominante [ f ], nach der anderen stammt umgekehrt der tiefere Ton als Subsemitonium modi [Leitton gis] aus dem leitereigenen Material der Tonart, während der höhere als erniedrigte Dominantquint [b] durch chromatische Tiefalterierung gewonnen wurde. Beschränken wir uns auf diese beiden Auffassungsmöglichkeiten, so können wir sagen: alle die genannten Accorde haben entweder Dominant- oder Unterdominantfunction […]. Nun muss aber bemerkt werden, dass diese Accorde als Unterdominant-Harmonien ungleich viel häufiger anzutreffen sind denn als ausgesprochene Oberdominant-Harmonien, ja, dass die Fälle, wo wir zur Oberdominant-Auffassung gezwungen werden, überhaupt nur ganz selten begegnen.308

Die besondere Verbindung von systematischen und historischen Kategorien, die von vielen Autoren als Signum der Louis/Thuille’schen Harmonielehre herausgestellt wurde,309 lässt sich an dieser Passage besonders gut ablesen. Historisch und als hörpsychologische Prägung (»viel häufiger anzutreffen«) ist der übermäßige Sextakkord ein doppeldominantischer Klang (wie Riemann bezeichnen Louis/Thuille alle dominant preparations als subdominantisch bzw. »unterdominantisch« und nicht als »doppeldominantisch«; es besteht allerdings kein wirklich qualitativer Unterschied zwischen diesen unterschiedlichen Begrifflichkeiten.). Aber auch bei Louis/ Thuille kann die ursprüngliche Bedeutung im Sinne eines Analogieverfahrens ausgeweitet und auf andere harmonische Kontexte übertragen werden: Der übermäßige Sextakkord ist zugleich »gewachsener Klang« und »musikalisches Material mit offener Zukunft«.

306  Ebd., 211–224. 307  Die Kategorie als tiefalterierte Quinte des D7 wird hier außen vor gelassen. 308  Louis/Thuille 21908, 225f. (Hervorhebungen dort). 309  Vgl. z.B. Holtmeier 2004, 514.

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Schenker verdeutlicht die Ambivalenz der verminderten Terz (bei ihm h-des) und der daraus abgeleiteten übermäßigen Sexte durch Vermischung eines D7 (g-h-d-f ) als 5. Stufe mit einem Hv (g-b-des-f ) als einer (zur vorigen fremden) 2. Stufe: Der besondere Reiz dieser Kombination besteht nun aber darin, daß der allzu eindeutige Charakter des V 7-Akkordes [D7] durch das gleichzeitig hinzutretende Element einer zweiten Stufe in Moll gemildert erscheint; denn während uns somit der V 7-Akkord knapp vor die Tonika bringt, retardiert uns im selben Moment die verminderte Quint der zweiten Stufe, da sie als zweite Oberquint einer Tonika (einer anderen natürlich) das Ziel derselben doch wiederum in die Ferne hinausschiebt: so fühlen wir uns denn einer Tonika zugleich fern und nah, wodurch eine eigentümliche Schwebesituation entsteht.310

In seiner Übersicht präsentiert Schenker die drei als Hauptformen kennengelernten Akkorde in sämtlichen Umkehrungen. Da für die oben definierte Ambivalenz der verminderten Terz immer der gemeinsame Grundton beider Stufen hinzugedacht werden können müsse (somit auch bei Akkord eins und drei), gehört der zuerst bei Lobe auftretende Klang (D7 mit hochalterierter Quinte) durch seine eindeutige Oberdominantfunktion nicht zu jener Kategorie der schon von Sechter geäußerten Zweideutigkeit.311 Schönberg hält in seiner Harmonielehre fest, dass die »gewöhnlich[e]« Methode, den übermäßigen Quintsextakkord (= dritter Akkord) abzuleiten, folgende sei: Man könne entweder von der ersten Umkehrung des Septakkords der 2. Stufe in Dur ausgehen ( f-a-c-d) und daraus drei Töne alterieren ( fisas-c-dis) oder vom Septakkord der 4. Stufe in Moll (hier c-Moll: f-as-c-es) und den Grundton erhöhen ( fis-as-c-es). In für Schönberg bezeichnender Weise wird der Begriff »übermäßiger Quintsextakkord« grundsätzlich infrage gestellt und die traditionellen Ableitungen als Missverständnis ausgewiesen. Stattdessen nennt er eine in seinen Augen »zweckmäßiger[e]« Methode: die Ableitung aus einem Nonakkord der 2. Stufe in Dur oder Moll als »Nebendominante« (= Doppeldominante), bei dem durch Weglassen des Grundtons ein Dv entsteht und von diesem wiederum die Terz tiefalteriert ( fis-as-c-es) und gegebenenfalls die Septime enharmonisch umgedeutet wird ( fis-as-c-dis). Die Position des Akkords verortet er als Stellvertretung einer 310  Schenker 1906, 372. 311  Vgl. ebd., 366–375.

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2. oder 4. Stufe. Das ob der Widersprüchlichkeit von Schönberg mit Unmut dargelegte Umkehrungsvorgehen führt dazu, den dritten Akkord, den eigentlichen übermäßigen Quintsextakkord (as-c-es-fis) als »Terzquartakkord« (= erste Umkehrung des vermeintlich originalen Quintsextakkords) zu definieren (und die nächste Umkehrung mit c-es-fis-as als »Sekundakkord«). Der erste übermäßige Sextakkord (as-c-fis) erhält mit Schönbergs eigener Methode die Deklaration als »übermäßiger Quintsextakkord ohne die Non (respektive Sept)«. Bezeichnenderweise taucht der zweite, eigentliche übermäßige Terzquartakkord (as-c-d-fis) in diesem Zusammenhang überhaupt nicht auf; erst später erfolgt seine Ableitung als weiterer »vagierender Akkord« – ohne ihn in die Familie der übermäßigen Sextakkorde einzugliedern.312 Insgesamt bezeichnend ist, dass Schönberg hier mit seinen vermeintlich neuen Ableitungen auf jene alten Ableitungen zurückgreift, die schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der »Trias-harmonica-Tradition« verwandt wurden (insbesondere von Sorge). Viel wesentlicher als diese Ableitung zeigt sich dann aber, wie Schönberg mit dem Material verfährt: »Wie wir die Dominantenidee zur Nebendominantenidee erweiterten, wie wir verminderte Dreiklänge und Septakkorde u. dgl. m. künstlich herstellten, so verfahren wir auch hier.« Konsequent wird das »Material« der übermäßigen Sexte dann auf allen Stufen und in unterschiedlichen Kontexten durchgeführt. Für die drei Hauptformen – übermäßiger Sext-, Terzquart- und Quintsextakkord – haben sich heute die Bezeichnungen des britischen Theoretikers John Wall Callcott (1766–1821) etabliert, der ihnen in seiner 1806 erschienenen, in engem Bezug zur deutschen Theorie stehenden Allgemeinen Musiklehre A Musical Grammar entsprechend ihrem Erscheinen Ländernamen zuteilte: Italian Sixth, French Sixth und German Sixth.313 312  Vgl. Schönberg 31922, 296–307.

313   Wahrscheinlich ist der Begriff Italian Sixth nicht Callcotts Eigenkreation, da dieser schreibt, der Akkord »has been termed the Italian Sixth«; die anderen Bezeichnungen dürften indes als Konsequenz daraus hervorgegangen sein: Für die French Sixth bezieht sich Callcott auf das Auftreten des Klangs bei Rameau, für die German auf ihr Erscheinen in Kompositionen der Gebrüder Graun (Carl Heinrich, Johann Gottlieb und August Friedrich). Vgl. Callcott 1810, 237–240.

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Aufgrund dieser ungebrochenen Aktualität werden diese Bezeichnungen im Folgenden an entsprechender Stelle Gebrauch finden. Es sei abschließend auf den bemerkenswerten Umstand hingewiesen, dass bis auf Salzmann keiner der zuvor betrachteten Autoren eine Ableitung des übermäßigen Sextakkords als Phänomen linearer Stimmführung im Sinne des 18. Jahrhunderts vornimmt beziehungsweise den Akkord als Klang des 6. Skalentons der absteigenden Mollskala erklärt. Dies scheint insofern erwähnenswert, weil es verwundern mag, mit welcher Geschwindigkeit diese ›klassische‹ Erklärung, die die Kompositionslehre fast 100 Jahre beherrscht hat, zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus dem musiktheoretischen Diskurs verschwindet. Erstaunlich ist auch, wie am Ende des Jahrhunderts bei Riemann, Kurth und anderen jenes lineare Moment in völlig neuem Gewand wieder in Erscheinung tritt. Der von Kurth geprägte Begriff der »freien Leittoneinstellung« beschreibt dieses neue Interesse der Musiktheorie am Einzelton treffend. Dass dieses mit einer Entfunktionalisierung beziehungsweise genauer: mit einer Entkontextualisierung insbesondere der sogenannten alterierten Akkorde einhergeht, sollte durch die vorangegangenen Ausführungen anschaulich geworden sein. Die neuere Forschung hat – unter Einbezug der Formen mit verminderter Terz – in Lied-Kompositionen der Münchner Schule besondere konkrete Fälle herausgestellt,314 von denen hier im Hinblick auf Hauseggers Werke zwei als besonders bedeutsam genannt werden sollen: 1. Die Auflösung der Akkorde mit der übermäßigen Sexte in einen nachfolgenden Quartsext-Akkord, der sich jedoch seinerseits nicht auflöst, sondern Tonika mit Quintbass bleibt – sprich: als (im modulatorischen Zusammenhang neue) Oberdominante.315 2. Die Verwendung als echte »Unterdominante« (besonders am Ende eines Stücks) für eine plagale Wendung: mit kleiner Sexte abwärts im Bass (Mollterz der Subdominante zum Tonika-Grundton) oder – in Form als Akkord

314  Vgl. Wason 2018. 315  Als frühes Beispiel nennt Wason die Etüde Op. 10, Nr. 3 von Frédéric Chopin.

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mit verminderter Terz – mit übermäßiger Quarte abwärts beziehungsweise verminderter Quinte aufwärts (hochalterierter Grundton der Subdominante zum Tonika-Grundton). weitere Alterationen Louis/Thuille hatten als gleichsam »letzte« Alterationsmöglichkeit eines Tons der Mollskala die Tiefalteration der 4. Stufe in Moll genannt; die beiden daraus entstehenden Akkorde sind als Dominantformen mit tiefalterierter Septime (in a-Moll gis-h-des-e und des-f-gis-h) beschreibbar. »Neue, zum Teil noch gar nicht versuchte Möglichkeiten eröffnen sich, wenn wir versuchen, die Verbindung mehrerer gleichzeitiger Alterierungen in einem und demselben Accordgebilde in Erwägung zu ziehen.« Die anschließend angeführten Klänge erhöben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern sollten lediglich als »Fingerzeige für die eigene combinatorische Tätigkeit des Harmoniebeflissenen« dienen. Durch die Hochalteration der 2. und 4. Stufe in Moll ergeben sich zwei bereits bekannte Akkordstrukturen: die Marx’sche Variante des dritten übermäßigen Sextakkords (dis-fis-as-c) und das Gebilde einer Dominante mit tiefalterierter Septime (dis-fis-as-h), das hier jedoch auch eine doppeldominantische und eine plagale Schlussbildungsfunktion einnehmen kann. Die gleichzeitige Tiefalteration von 4. und 2. Stufe führt indes zu zwei dominantischen Akkorden in Moll: als stärker eingedunkelte Varianten der bereits oben gefundenen Klänge (e-gis-b-des und d-es-f-gis-b). Auch die von Tappert gezeigte gleichzeitige Hoch- und Tiefalteration einer Stufe wird von Louis/Thuille genannt: Hier gilt sie ebenfalls für die Quinte einer Dominante – jedoch in Quintstellung und -lage in den Außenstimmen (des-f-g-h-dis).316 Übersicht der wichtigsten alterierten Vierklänge Zur besseren Übersicht sollen im Folgenden die bisher genannten alterierten Vierklänge (mit gedanklicher Terzschichtung) den zehn (beziehungsweise elf) Kategorien Tapperts zugeordnet werden:

316  Vgl. Louis/Thuille 21908, 234–237.

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1) g3-g3-v3317 oder Dominantseptakkord mit hochalterierter Quinte: Lobes dominantische Akkorde (h-f-g-dis, dis-g-h-f und f-g-h-dis), die beiden auf der 3. Mollstufe gefundenen Klänge Halms und Louis/Thuilles (c-e-gis-b) und Richters, Lobes und Halms Ausgangspunkt für die French Sixth als eine 2. Mollstufe (h-dis-f-a). x) g3-g3-k3 oder übermäßiger Dreiklang mit großer Septime (auch diatonisch als Septakkord der 3. Mollstufe möglich – s.o.). 2) g3-v3-g3 oder Dominantseptakkord mit tiefalterierter Quinte: Die dominantische French Sixth bei Dehn und Riemann (des-f-g-h) und als Septakkord der 5. (Moll-)Stufe mit tiefalterierter Quinte bei Halm (e-gis-b-d). 3) v3-g3-k3 oder Dv mit tiefalterierter Terz: Die umgekehrte German Sixth bei Dehn (des-f-as-h), der Hv einer 2. Mollstufe mit None statt Grundton bei Richter (dis-f-a-c), die 7. Mollstufe Halms mit tiefalterierter Terz (gis-bd-f ) und der missverstandene »Quintsextakkord« Schönbergs als entweder 4. Mollstufe mit erhöhtem Grundton oder Nonakkord einer 2. Stufe ohne Grundton und tiefalterierter Quinte beziehungsweise Terz ( fis-as-c-es). 4) k3-v3-g3 oder Dv mit tiefalterierter Quinte: Die enharmonische Variante der German Sixth in Umkehrung bei Marx beziehungsweise die gleichzeitige Hochalteration einer 2. und 4. Mollstufe bei Louis/Thuille (dis-fisas-c) und wiederum als Umkehrung bei Schönberg ( fis-as-c-dis) und einer der dominantischen Akkorde aus der Tiefalteration einer 4. Mollstufe bei Louis/Thuille (des-f-gis-h). 5) k3-g3-v3: Einer der durch die Hochalteration einer 4. Stufe in Molldur gewonnenen Akkorde bei Louis Thuille – in seltener oberdominantischer Funktion; auch als Tristan-Akkord bekannt318 ( f-h-dis-gis). 6) g3-v3-k3 oder Dv mit hochalterierter Terz: Einer durch die Hochalteration einer 2. Stufe in Molldur gewonnenen Akkorde bei Louis/Thuille (h-fas-dis) und einer der beiden mit gleichzeitiger Tiefalteration einer 4. und 2. Mollstufe gefundenen dominantischen Akkorde (e-gis-b-des). 317  Im Folgenden sind hiermit große (»g«), kleine (»k«), verminderte (»v«) und übermäßige (»ü«) Terzen (»3«) und Sekunden (»2«) gemeint. 318  Von den Autoren jedoch anders bewertet – s.o.

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7) g3-k3-v3 oder Dur mit verminderter Septim: Der andere durch die Tiefalteration einer 4. Mollstufe erhaltene dominantische Akkord (gis-h-des-e) und der andere durch gleichzeitige Hochalteration einer 2. und 4. Mollstufe von Louis/Thuille gezeigte Klang (dis-fis-as-h). 8) v3-g3-g3 oder Hv mit tiefalterierter Terz oder übermäßiger Dreiklang mit übermäßiger Sext: Der der Einfachheit halber als (zusätzlich) alterierte German Sixth benannte Akkord – entstanden aus der Hochalteration einer 2. Stufe in Molldur bei Louis/Thuille ( f-a-cis-dis). 9) v3-k3-g3 oder Dv mit tiefalterierter Terz und tiefalterierter Quinte: Der andere durch die gleichzeitige Tiefalteration einer 4. und 2. Mollstufe von Louis/Thuille gefundene dominantische Klang (des-f-gis-b).319 10) g3-k3-ü3 oder Dur mit übermäßiger Septim. An dieser Stelle sei noch die bei anderen Autoren im Hinblick auf Disalteration genannte,320 geläufigere fünfstimmige Form einer Dominante mit gleichzeitig hoch- und tiefalterierter Quinte beigefügt (g3-g2-g3-g3). Nonakkorde und höhere (Terz-) Schichtung Wie an manchen Ausgangspunkten zur Ableitung der übermäßigen Sextakkorde zu sehen war, wird in einigen musiktheoretischen Strömungen auch das Phänomen höherer Schichtungen (Nonen- bis Tredezimakkorde und mehr) diskutiert, beziehungsweise gehören diese Terzschichtungen zum akkordischen Ableitungssystem. In gewisser Hinsicht scheiden sich aber schon beim Nonenakkord die Geister: Bereits im 18. Jahrhundert wird er mehrheitlich nicht als Grundakkord angesehen, da er als nicht umkehrbar gilt.321 Diese Vorstellung teilen auch im 19. Jahrhundert viele Theoretiker (Hauptmann,322 Richter,323 Kistler, Weitzmann, Jadassohn, Halm und 319  Weder bei Tappert noch bei Louis/Thuille finden sich Septakkorde mit übermäßigen Terzen, wie bspw. bei einem großen Dur-Septakkord mit tiefalterierter Quinte (c-e-ges-h). 320  Z.B. Louis/Thuille 21908, 237f. 321  In der nord-italienischen und auch der deutschen Musiktheorie spielt der Nonenakkord eine zentrale Rolle, wie unter anderem Holtmeier (2017) aufgezeigt hat. Diese Tradition verliert aber bereits in der zweiten Jahrhunderthälfte stark an Bedeutung. 322   Bei Hauptmann (1853, 159) wird die Ablehnung nicht unmittelbar darauf zurückgeführt, sondern ergibt sich aus seiner Definition der erforderlichen Dissonanzauflösung, die mit jener der Sekunde gleichgesetzt wird. 323  »Unwesentliche Akkordbildungen« lautet E. F. Richters (61866, 76) Definition, da die

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Schenker324). Lobe und insbesondere Tappert gehören zu den wenigen, die ihnen sogar Alterationsmöglichkeiten zusprechen. Der eigentliche »Sitz« des Septnonakkords ist auch im 19. Jahrhundert die 5. Stufe in Dur und in Moll, während Lobe 1850 auch diatonische Schichtungen auf allen weiteren Stufen der Dur- und der harmonischen Mollskala aufstellt: Als »Nebennonenakkorde« verlangten diese jedoch – anders als jene der 5.  Stufe – die Vorbereitung von Septime und None.325 Bei Umkehrungen betonen die meisten Autoren das Beibehalten der Nonen-Spannung. Erst bei Schönberg erlangen die Nonenakkorde Autonomie im Sinne ihrer vollständigen Umkehrbarkeit.326 Wenngleich Tappert – ausgehend von der bereits 1753 von Friedrich Wilhelm Riedt (1710–1783) vollzogenen Auflistung sämtlicher Alterationsmöglichkeiten für Dreiklänge und Septakkorde327 – solches auch den »Neben-Nonen-Akkorde[n]« zuerkennt, bringt er nur eine Variante für die dominantische 5. Stufe: 1) in Dur mit tiefalterierter Quinte (g-h-des-f-a): »Möglich, aber wol noch wenig versucht«. In den Beispielen zur möglichen Ausgangssituation vor Auftreten des Akkords findet sich abermals eine bemerkenswerte Erscheinung, die als Hv mit kleiner Terz definiert werden kann (g-b-des-f-as). 2) in Moll mit tiefalterierter Quinte (g-h-des-f-as): »Selten; nur einmal fand ich diesen Akkord und zwar in Wagner’s: Tristan und Isolde«.328 Bei Lobe wird in Dur – wie bereits für die Septakkorde – für die Septnonakkorde der drei Hauptstufen (1., 4. und 5.) die Hochalteration der jeweiligen Quinte vorgenommen (hier in D-Dur mit d-fis-ais-cis-e, g-h-dis-fis-a und a-cis-eis-g-h), in Moll (h-Moll) jedoch nur die Hochalteration der 4. Stufe (e zu eis) für die Septnonakkorde der 2. (cis-eis-g-h-d) und der 4.  Stufe None lediglich als akkordfremde Vorhaltserscheinung oder als ein »zufällig[es]« Ereignis bei Liegetönen auftrete. 324  Auch Schenker (1906, 266) bemängelt nicht die problematischere Umkehrungssituation der Nonakkorde, sondern zielt auf deren harmonische Doppeldeutigkeit ab. 325  Vgl. Lobe 1850, 210. 326  Vgl. Schönberg 31922, 418–421. 327  Riedt 1753. 328  Vgl. Tappert 1868, 175–178.

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(eis-g-h-d-fis).329 Deutlich mehr Optionen für Alteration hält gut 50 Jahre später Arnold Schönberg bereit.330 Auch Capellen stört sich nicht an der Umkehrungsform mit drei Ganztönen übereinander; er spricht in seinem Lehrwerk schon an früher Stelle vom »Doppelklangsystem«.331 Bei ihm zu findende alterierte Nonakkorde sind: mit Durterz g-h-dis-fis-as (während jedoch die Variante mit ais als kleine Dezim b gehört würde) und mit Mollterz c-es-g-h-d (mit den Alterationen b, b-des, ges-b, ges-b-des und ges-heses-des).332 Die noch umfangreicheren (Terz-) Schichtungen gelten in keiner Theorieschrift (außer bei Capellen)333 als eigenständige Akkorde und werden – wenn überhaupt – zumeist im Zusammenhang mit dem Orgelpunkt behandelt.334 Durch die der Wiener Theorie eigene generalbass-geprägte Sichtweise mit ihrer bemerkbaren Selbstständigkeit der Oberstimmen wird den Klängen dort insgesamt die größere Aufmerksamkeit zuteil. sonstige Akkorderscheinungen Tappert führt am Ende seiner Studie eine Rubrik namens »Degradirte Akkorde« an, unter welcher er die »harmonischen Combinationen« versteht, die seit Vorherrschen des »Terzen-Princip[s]« ihre »ehemalige Selbstständigkeit eingebüßt« hätten. Mit dem Hinweis, dass diese Akkorde bereits unter anderen bei Kirnberger und Carl Philipp Emanuel Bach (1714–1788) ausgiebig abgehandelt würden, bringt er beispielsweise folgende, scheinbar ungewöhnliche Strukturen: c-d-f-h, e-f-gis-h, d-h-e, g-d-g-c, g-f-h-e. Wenngleich der letzte Akkord in die Musiktheorie als ›Chopin-Dominante in Dur‹335 eingegangen ist, besitzen diese barocken Generalbass-Erscheinungen durch die zu ihrer Zeit festgelegten Fortführungen – als 329  Vgl. Lobe 1861, 28f. 330  Vgl. Schönberg, 31922, 421 (hier auch mit Kritik an August Halm). 331  Vgl. Capellen 1902, 29. 332  Vgl. ebd., 93ff. 333  Vgl. ebd., ab 37.

 Salzmann (1842, 63–74) spricht den Undezimen- und Tredezimenakkorden wie auch den recht umfangreich behandelten Nonakkorden zwar nicht explizit ihre Selbstständigkeit ab, doch erscheinen sie lediglich als Tonika-Vorhalte. 335  Von Riemann (1890, 23) noch als »elliptische Bildung« bezeichnet. 334

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Auflösung der Dissonanz(en) – keineswegs eine echte Selbstständigkeit; und auch in der Zeit Tapperts bietet ihnen die Praxis eigentlich (noch) keine freie, gänzlich eigenständige Verwendung. Die folgenden drei Klänge hält Capellen als selbstständige enharmonische Dreiklänge für gerechtfertigt: h-e-as, h-es-as und h-dis-as (hartverminderter) – jeweils ohne ihren eigentlich gedachten Grundton g.336 *** Ein fließendes, über die Barockpolyphonie hinausgehendes Akkordverständnis, wie es oben bereits angesprochen wurde, konstituiert sich vornehmlich in der Kombination von Alteration und polyphoner (verzierender) Stimmführungsphänomene wie Vorhalt, Durchgang, Wechselnote und Antizipation (auch elliptisch auftretend), und ganz besonders, wenn mit den Alterationen (und der Verzierung) ein Verlassen beziehungsweise Ausweichen aus der Tonart einhergeht – der Akkord dadurch also eine funktionale Umdeutung erfährt oder zumindest kurzzeitig mehrdeutig wird. Bei einer Orchesterpartitur kommt für die funktionale Bestimmung der Klänge erschwerend hinzu, dass die Komponisten der Zeit bestrebt darin waren, eine möglichst leichte Lesbarkeit zu erzielen, und insbesondere in den tonartlichen Randbereichen des Quintenzirkels oftmals auf eine harmonisch korrekte Schreibweise verzichtet haben.337 besondere Harmonieverbindungen: Sekundfolgen, Mediantik, Tritonusverhältnis Neben dem fließenden Tonartwechsel durch vermittelnde Alteration gewinnt im Laufe des 19.  Jahrhunderts auch das Phänomen einer harmonischen/klanglichen Ellipse beziehungsweise Kontrastwirkung zunehmend an Bedeutung. Diese kann sowohl als unvermitteltes Gegeneinanderstellen fremder Harmonien auftreten, doch erscheint sie – insbesondere in den Lehrwerken – meist als überraschender Übergang (oder zumindest als Andeutung eines solchen) in fremde Tonartregionen. Die hierfür gebrauchten harmonischen Verhältnisse sind (außerdiatonische) Sekund-, Terz, und Tritonusverbindungen. 336  Vgl. Capellen 1902, 92f. 337  Vgl. hierzu auch Schönberg 31922, 187f. und Louis/Thuille 21908, 268 und 275 (Fußnote).

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Sekundfolgen Der Sekundverbindung wird in der Musiktheorie des 19. Jahrhunderts insgesamt recht wenig Beachtung geschenkt. Die Ausführungen in den Theorien beschränken sich zumeist auf die Normfälle: die Folge von einer 4./6. Stufe zur Dominante, trugschlüssige Wendungen oder eine diatonische Sextakkord-Kette.338 Von Sechter wird ihr im diatonischen Kontext bekanntermaßen die Existenz (fast) gänzlich abgesprochen339 und in seiner Nachfolge mit bleibender Skepsis begegnet.340 Nur zwei Autoren äußern sich überhaupt zur emotionalen Wirkung der Sekundverbindungen: Lobe empfindet die chromatische Verbindung (C-Dur zu dominantischem Cis7) als etwas »sehr herbes« [sic];341 für Schönberg sind mehrere grundtönige diatonische Dreiklangschritte nacheinander, wie sie zumindest mit drei Akkorden in der Renaissance (und dementsprechend in cäcilianischen Kompositionen) vorkommen können, »monoton« und »kalt«.342 Zwar schreibt Weitzmann 1888 zur von Lobe gezeigten harmonischen Halbtonabfolge, dass diese »nur in modernen Kompositionen« auftrete,343 doch auch Marx hält bereits über 40 Jahre zuvor Modulationsbeispiele mit ihr bereit.344 Louis/ Thuille ordnen zwei grundtönige Dreiklänge im Sekundabstand durch ihren Mangel an gemeinsamen Tönen neutral als »nicht verwandt« ein.345 Zusammenfassend können zwei Merkmale zur Kennzeichnung ungewöhnlicher Sekundverbindungen definiert werden: das Verlassen beziehungsweise Aufheben des tonalen Umfeldes mit bereits zwei (oder mehr) Akkorden oder ihr diatonisches Auftreten mit mindestens drei.346 338  Der hierfür gebräuchliche Begriff Faux Bourdon stammt wohl aus der Improvisationspraxis der frühen Renaissance, wie z.B. beim von Guillaume Dufay (ca. 1397–1474) bearbeiteten Hymnus Conditor alme siderum (vermutlich zwischen 1480 und 1490 theoretisch aufbereitet von Guilielmus Monachus in De preceptis artis musicae). 339   Es gilt bei Sechter (1853, 33) hierfür das Konzept imaginärer (»verschwiegener«) Basstöne. 340  Vgl. Sechter 1853, ab 30, Schenker 1906, 311–319 und Schönberg 31922, 138, 143 u. 147. 341  Vgl. Lobe 1850, 125. 342  Vgl. Schönberg 31922, 147 und Holtmeier 2010. 343  Vgl. Weitzmann 1888, 134. 344  Vgl. Marx 61863 (Bd. 1), 182. 345  Vgl. Louis/Thuille 21908, 327. 346  Vgl. auch ebd., 333ff.

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Mediantik Mediantik (alias Terzverhältnis) – begrifflich ursprünglich als mittleres, vermittelndes Glied innerhalb des Quintintervalls verstanden347 – wird in der modernen Harmonielehre gemeinhin in drei Graden klassifiziert.348 Zweiten Grades (mit einem gemeinsamen Dreiklangston) ist sie in allen drei Kompositionsschulen349 und den meisten Harmonielehren des 19. Jahrhunderts mehr oder weniger umfangreich vertreten, wenn auch – ähnlich den chromatischen Stufenverbindungen – zumeist weniger im Hinblick auf elliptisches oder harmonisch kontrastierendes beziehungsweise koloristisches Gegeneinanderstellen in den Grundstellungen, wie es insbesondere durch Franz Liszt350 etabliert wurde, denn mehr als Mittel für rasche (chromatische) Ausweichung beziehungsweise Modulation.351 Aufgrund dessen dürfte 347  Vgl. Masson 1699, 9f. 348   Die drei Grade lauten: 1. diatonisch (zwei gemeinsame Dreiklangstöne: z.B. C-Dur und a-Moll oder e-Moll; c-Moll und Es- oder As-Dur); 2. ein gemeinsamer Ton (C–A/–E bzw. –As/Es; c–as/–es bzw. –a/–e); 3. kein gemeinsamer Ton (C–as/–es). Louis/Thuille (21908, 332) untergliedern die Terzverwandtschaft entsprechend jenen drei Graden in »diatonische«, »chromatische« und »chromatisch verdeckte«. In Diether de la Mottes Harmonielehre von 1976 (de la Motte 162011, 160) wird die Terzverwandtschaft in vier Grade ausdifferenziert. Für die Musik bis etwa Mitte des 19. Jahrhunderts würde es sich zumindest anbieten, die darin vollzogene Binnendifferenzierung der Kategorie mit einem gemeinsamem Ton zu vervollständigen in innerdiatonische Terzverwandtschaft (mit diatonischem Grundton: Tonika C-Dur zu A- und E-Dur; Tonika c-Moll zu Es/es und As/as) und außerdiatonische (C zu Es und As; c zu a und e). 349  Albrechtsberger nicht eingerechnet. 350  Zum Beispiel mit seiner Symphonischen Dichtung Les Préludes. Louis/Thuille (21908, 333) unterstreichen dies mit: »Unter den neueren Componisten hat Franz Liszt das Gebiet der terzverwandten Dreiklangsbeziehungen mit besonderer Vorliebe gepflegt. Er folgte darin Anregungen, die ihm zweifellos aus der Harmonik Schuberts überkommen waren, wie er dann seinerseits wieder gerade in diesem Puncte Richard Wagner und durch ihn die ganze moderne Schule mächtig beeinflusst hat.«. 351   Wobei die Mediantik bei Dehn (21860, 74) nur in ihrer schwächsten bzw. am wenigsten kontrastierenden Form (als auf eine Dur-Tonika folgende Zwischendominante zur Paralleltonart mit z.B. C–E7–a) auftritt, und bei E. F. Richter lediglich in Verbindung zweier Septakkorde. Sie erscheint nicht explizit bei Schenker. Von ihrer Kontrastwirkung (auch hinsichtlich anderer Akkord-Verbindungen) spricht lediglich Riemann (1890, 62 und 70), der sie mit dem Begriff »Tonalitätssprünge« von einer vermittelnden Modulation abgrenzt bzw. den Modulationsvorgang für kaum mehr wahrnehmbar hält. Weitzmann (1888, 87ff.) kategorisiert ihre grundtönige Abfolge immerhin unter den »Folge[n] von Dreiklängen, welche nicht derselben Tonart angehören«.

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Analyse-Voraussetzungen

ihre Erscheinung mit Durakkorden quantitativ sowohl in den Lehrwerken als auch in der Musikliteratur bis zu dieser Zeit vorherrschend sein. Sowohl zu ihrer allgemeinen Wirkungsvariabilität als auch zur Funktionsbestimmung im Kadenzgeschehen äußert sich keiner der Autoren; lediglich Wüllner spricht ihr als Bestandteil der diatonischen Modulation eine wahrnehmbare elliptische Eigenschaft zu.352 Im Jahr 1900 bemerkt Halm zur Mediantik 2. Grades, »als deren Entdecker Beethoven bezeichnet werden« dürfe, dass »heutzutage […] diese Errungenschaft fast zum Ueberdruß ausgebeutet« sei.353 Die Mediantik 3.  Grades findet sich indes nicht in allen Schriften: Zuerst thematisiert sie Weitzmann,354 dann Riemann355 und ab 1900 Halm,356 Capellen,357 Louis/Thuille und Schönberg.358 Tritonusverhältnis Abgesehen von der bereits im Barock vorkommenden Verbindung von der neapolitanischen Subdominante zur Dominante (sN–D) und innerhalb diatonischer Sequenzbildung (mit vermindertem Dreiklang) taucht das harmonische Tritonusverhältnis359 in der Theorie gleichsam als Mittel für entfernte Modulationswege auf. Als Erster thematisiert es Lobe, der – wie bereits bei den Sekundverbindungen – Maßnahmen zur »Milderung der Herbigkeit« empfiehlt.360 Von explizit gewollter Kontrastwirkung spricht Weitzmann, der die »geometrische« Teilung der Oktave durch den Tritonus explizit hervorhebt und die Tritonusverbindung als »gewagteste[n] Schritt«361 bezeichnet – und für besser »zu scharfen modulatorischen Gegensätzen« 352  Wüllner (1877, 15) geht von der Modulation von F-Dur zu G-Dur aus, dessen Subdomi-

nante (C) in der direkten Folge F–D7–G übersprungen würde. 353  Vgl. Halm 1900, 97. Dabei ist zu bemerken, dass sie in seltenen Fällen grundtönig auch bei Mozart zur Abschnittsbildung auftreten kann (vgl. beispielsweise Fantasie KV 475, T. 25f.). 354  Er (1888, 88f.) akzeptiert jedoch nicht jede Variante, wie das Beispiel 238 mit c–A zeigt. 355 Allerdings nur mit zwei (jeweils enharmonisch umgedeuteten) Beispielen im GroßterzAbstand. Vgl. Riemann 1890, 41. 356  Vgl. Halm 1900, 99. 357  Vgl. Capellen 1902, 76f. 358  Vgl. Schönberg 31922, 277 (enharmonisch verwechselt mit d–Ges, e–As und a–Des). 359  Wörtlich bedeutet der Begriff »Tritonus« ›drei Ganztonschritte‹ (= übermäßige Quarte), er wird hier jedoch auch für die verminderte Quinte gebraucht. 360  Vgl. Lobe 1850, 127. 361  Vgl. Weitzmann 1888, 89.

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geeignet hält als die »ebenfalls noch als entfernt verwandt betrachteten« Sekundabstände.362 Etwas neutraler liest sich die Klassifizierung bei Louis/ Thuille, die neben den »nicht verwandt[en]« Sekundfolgen »beim Tritonusverhältnis gar keine directe Beziehung« konstatieren.363 Sonstiges In Weitzmanns Handbuch findet sich ein Kapitel mit der Überschrift »Folge von Dreiklängen, welche nicht derselben Tonart angehören«. Die »in der romantischen – im Gegensatz zur klassischen – Musik« hier vorkommenden Akkordverbindungen beinhalten neben den bisher genannten auch scheinbare Moll-Dominanten für Dur-Toniken, die von Weitzmann jedoch durch eine weitere, andere Betrachtung des tonalen Zusammenhangs funktional umgedeutet werden.364 Riemann hingegen akzeptiert nur wenige Jahre später diesen Gedanken aus der Ableitung als »phrygische [Dominant]Terz« heraus.365 Detailliert widmet sich Georg Capellen den harmonischen Verbindungen. Seine Verwandtschaftsentfernungen gehen zunächst innerhalb der Diatonik vom »Ruheton« (= gleicher Ton zweier aufeinanderfolgender Akkorde) über den Leitton zum Ganzton; anschließend folgen chromatische Töne und abschließend enharmonische Ruhe- und Ganztöne. Diese Kriterien führen zu einer anderen, differenzierteren Bewertung möglicher Abfolgen: Ohne Verwandtschaftsverhältnis seien C–Ges, C–dis und Fis–C, wohingegen C–Fis durch die (g)leittönige Bewegung der Quinte g zum Grundton fis einen gewissen Verwandtschaftsgrad besäßen – ebenso wie C–H. Eine »Nahverwandtschaft« definiert sich für Capellen aus mindestens zwei Ruhetönen oder einem Ruheton mit mindestens einem Leitton. Eine »Leitverwandtschaft« benötigt mindestens zwei Leittöne, besitzt dafür jedoch keinen Ruheton (ihr entsprechen zum Teil die genannten außerdiatonischen Sekundverbindungen – Capellens Beispiele lauten: F–E, C–b und D–c). Die dritte Kategorie ist die »Fernverwandtschaft«, die nur einen Ruheton oder Leitton aufweist (neben diatonischen und außerdiatonischen Sekundverbindungen tritt hier auch die Molldominante nach einer Durtonika auf – genannte Beispiele sind: C–g, C–d, C–B und c–b; hinzuzurechnen wäre 362  Vgl. Weitzmann 1860, 17. 363  Vgl. Louis/Thuille 21908, 327. 364  Vgl. Weitzmann 1888, 87ff. 365  Vgl. Riemann 1890, 28.

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auch die Tritonusverbindung C–Fis/fis). Jene drei Kategorien werden anschließend zur Klassifizierung von chromatischen Tonabfolgen und teilweise von enharmonischen eingesetzt: »Chromatisch nahverwandt« sind der Geschlechtswechsel und reale Mediantik 2. Grades (C–c, C–E, C–As und c–as); »chromatisch leitverwandt« wäre aus heutiger Sicht enharmonisch verwechselte Mediantik 3. Grades (genannte Beispiele: C–gis und c–Fes); »chromatisch fernverwandt« zeigen sich schließlich alterierte Sekundfolgen und Mediantik 2. und 3. Grades (C–Es, c–es, C–cis, C–as und c–E; je nach Stimmführung würde – wie oben gesehen – hierunter auch die Tritonusverbindung C/c–Fis/fis–C/c fallen). »Enharmonisch nahverwandt« sind komplette Umdeutungen, abermals enharmonisch verwechselte Mediantik 3. Grades und außerdiatonische Sekundverbindungen (Gis–As, E–As, As–E, C–des und c–H); »enharmonisch leitverwandt« seien »chromatische Rückungen«, die vom Gehör automatisch enharmonisch umgedeutet würden (B–H zu B–Ces, As–A zu As–Heses).366 Im Folgenden gibt Capellen Hinweise zur Wirkung dieser Verbindungen. Eine »diatonische Fernverwandtschaft«, wie sie die dreifachen Sekundabfolgen in C–a–G–F–C oder C–B–As–f–C bereithalten, habe »wegen ihrer abgerissenen Wirkung etwas Trotziges oder Asketisches« an sich (Sechters Auffassung der Zwischenfundamente widerspricht er an dieser Stelle explizit). Die chromatische und enharmonische Verwandtschaft kennzeichne ein »eigentümlich überraschender, blendender« Effekt aufgrund des »durch jeden chromatischen und enharmonischen Ton bedingten Stimmungswechsels, namentlich bei den steigenden chromatischen Tönen, da die Aufwärtsbewegung stets eine grössere Spannung und Steigerung in sich schliesst als die Abwärtsbewegung«.367 Eine veränderte Wahrnehmung von fern- und leitverwandten Klängen zu einer Nahverwandtschaft könne sowohl durch das Hinzufügen dissonanter Töne erfolgen als auch durch eine als Oberton mitklingende Quinte eines unalterierten Sext- oder Quartsextakkords oder als eine Septime einer eigentlichen Dreiklangsdominante (jeweils beim Auftreten des relevanten Tons im vorherigen Klang).368 366  Vgl. Capellen 1902, 70–74. 367  Ebd., 74f. 368  Ebd., 76ff.

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phrygische Wendungen Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat sich mit der Tiefalteration der 6. Stufe die Verwendung des aus dem Mollkontext stammenden phrygischen Halbschlusses auch für Dur vollständig etabliert. Letztlich definiert in der Abfolge eines Moll-Sextakkords (oder –Terzquartakkords) zu einem Dur-Grundakkord mit halbtönig absteigendem Bassanschluss, bietet sich der phrygische Halbschluss durch die Tiefalteration der Skalenstufen zu einem effektiven Mittel für Modulation an. Als ganzschlüssige Kadenz mit tiefalterierter 2. Stufe (und somit zurückgehend auf den eigentlichen phrygischen Ursprung) gibt es hingegen auch bei Louis/Thuille noch – zumindest empfohlene – Einschränkungen: Brauchbar seien harmonisches Moll und Molldur (aus deren Drei- und Vierklängen sich dadurch wiederum übermäßige Sextakkorde ergeben – siehe oben), Dur hingegen weniger, »da kleine Secund und große Sext der Tonica sich nicht recht miteinander« vertrügen.369 Und auch Heinrich Schenker, der jener Bewegung »in der heutigen Komposition« große Popularität bescheinigt, gibt zu bedenken, dass zwar »ein solcher phrygischer Zug auch in Dur vorkommen« könne, jedoch hat man ihn hier sicher nur im übertragenen Sinn zu verstehen, indem aus dem Geiste der Mischung zuvor eben ein Moll für Dur zu supponieren ist. Daher darf er denn im strengsten Sinne doch wohl Eigentum nur des heutigen Moll-, nicht aber des Dursystems heißen […].370

Zu einer emotionalen Wirkung äußern sich lediglich Hugo Riemann und – etwas zurückhaltender – Ernst Kurth. So heißt es bei Ersterem: Die phrygische Sekunde (in Moll) hat […] herabziehende Schwere, etwas von Grabesnacht und Moderduft weht uns aus beiden entgegen, zum mindesten Resignation, Verzicht auf Daseinsfreude (wegen des Übergreifens über die Unterdominante hinaus).371,

während Kurth lediglich von der »tief schattierende[n] Wirkung […] fallender Baßlinien« spricht, deren Ursprung auf das Phrygische zurückgehe.372

369  Vgl. Louis/Thuille 21908, 223f. 370  Vgl. Schenker 1906, 143 (Hervorhebungen dort). 371  Riemann 21893, 101. 372  Kurth 31923, 470 (Fußnote).

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Orgelpunkt Der Orgelpunkt könnte mit einem gewissen Recht als die zentrale Kompositionstechnik der musikalischen ›Romantik‹ bezeichnet werden. Schenker fasst 1906 in seiner Harmonielehre mit dem Begriff der Stufe jene ›modernen‹, auf den Orgelpunkttechniken fußenden »Prolongations-Stil« des 19. Jahrhunderts gut zusammen: Stufen seien gleichsam mächtige Scheinwerfer, in deren erhelltem Bezirk die Stimmen i n höherem u nd f reierem kontrapu n kt i schen Si n ne ihre Evolution ausführen, zu harmonischen Klängen zusammentretend, die indes niemals Selbstzweck sind, sondern aus der freien Bewegung resultieren.373

Aber abgesehen von Schenker wird dieses zentrale Stilmerkmal nur wenig thematisiert. Dehn bleibt streng, historisch rückwärtsgewandt, während bei Weitzmann die zeitgenössische Praxis wenigstens ansatzweise einen Niederschlag gefunden zu haben scheint: Er gibt weder die Position innerhalb der Komposition noch die zu verwendenden Tonstufen vor; darüber hinaus gelten für ihn auch verschiedene Modulationen als unproblematisch, solange am Ende eine »verständliche harmonische Bedeutung« erreicht werde (bei der der Basston sogar Vorhaltsdissonanz sein darf).374 Auch die so ›moderne‹ Harmonielehre von Louis/Thuille greift das Thema nur am Rande auf: Die Vorschrift, dass der »durchgangsartige Charakter« der »Ausweichungen in fremde Tonarten« einigermaßen »gewahrt« bleiben müsse und dementsprechend »allzufern gelegene Tonarten« vermieden werden sollten, geht nicht über bereits Bekanntes hinaus.375 ›moderne‹ Klangkonstellationen Von den harmonischen Sekundverbindungen gelangen Louis/Thuille zur Ganztonskala, die als ›modernes‹ Pendant zur nahezu überall erwähnten chromatischen Tonleiter gesehen werden kann, der die Autoren aber (noch) keine Eigenständigkeit im Sinne einer »neuen Tonart« zuerkennen.376 Von Capellens progressiver Diskussion der Ganztonleiter war bereits weiter oben die Rede. Schönberg gibt in seinem Kapitel zur Ganztonreihe zunächst 373  Schenker 1906, 199f. 374  Vgl. Weitzmann 1860, 47ff. 375  Vgl. Louis/Thuille 21908, 290. 376  Vgl. ebd., 333–336.

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Beispiele an (Liszt, russische Meister und Debussy), geht aber anschließend zu ihren möglichen Akkordbildungen über: dem übermäßigen Dreiklang und zu besonderen Formen des D7: Er erscheint einmal ohne Quinte (enharmonisch entspräche dies der Italian Sixth), einmal mit deren Hochalteration (dementsprechend kann auch die French Sixth dazu gezählt werden), dann mit großer None und letztlich ergänzt um die tiefalterierte Quinte (= Dominantseptnonakkord mit disalterierter Quinte: g-h-des-dis-f-a) – welcher somit alle sechs Skalentöne beinhaltet, beliebig umgekehrt und entsprechend enharmonisch umgedeutet werden kann. In seiner Diskussion über die Tonalität, welche er wie Louis/Thuille durch die Verwendung der Ganztonleiter (und der chromatischen Skala) in Auflösung begriffen sieht, fordert Schönberg in den Musikstücken eine klare, von der Empfindung ausgehende Materialentscheidung beim Komponieren: Entweder solle sich der Komponist gänzlich von der Tonalität lösen oder ihr (er nennt als Vorbilder Mahler und Strauss) in überzeugender Weise den Vorrang zu geben.377 Mit seiner Kritik an der Unvollkommenheit der Terzschichtung bringt Schönberg am Ende seiner Harmonielehre den Vorschlag, »Quartenakkorde« ins System aufzunehmen. Darunter versteht er nicht nur in – grundsätzlich reinen – Quarten geschichtete Klänge (z.B. mit d-g-c oder e-h-e-a378 oder bestehend aus sechs verschiedenen Tönen mit h-e-a-d-g-c), sondern auch deren Umstellung in Quintschichtung (c-g-d)379 – zwei Phänomene, die heute separat betrachtet werden.380 Mit der Diskussion der chromatischen Harmonik und der Quartenharmonik zeigt sich im Übrigen auch der Diskurs um die symmetrischen Akkorde – insbesondere bei Bernhard Ziehn – eng verbunden. *** In den vorangegangenen Ausführungen wurde exemplarisch aufgezeigt, inwieweit sich in den Theorien von der Mitte des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts Ergänzungen und Freiheiten im Hinblick auf Tonalität und Stimmführung etablierten, und wie die Autoren diese legitimierten 377  Vgl. Schönberg 31922, 467–477. 378  Dieser Akkord entspricht strukturell dem vorletzten von Tapperts »degradirten«. 379  Vgl. Schönberg 31922, 478–492. 380  Vgl. Wünsch 22014, 28–33.

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Analyse-Voraussetzungen

und bewerteten. Angefangen bei den sukzessiven Erweiterungen der diatonischen Skalen um alterierte Stufen über die vollständig autonomisierten diatonischen Septakkorde, die – verbunden mit den alterierten Skalenstufen – sich zunehmend autonomisierenden alterierten Drei- und Vierklänge (nebst ihrer möglichen funktionalen Positionen) bis hin zu alterierten Fünfklängen und die mit den allgemeinen Autonomisierungen einhergehenden, wachsenden Stimmführungsfreiheiten. Darüber hinaus brachte insbesondere das Erweitern der Tonalität auffälligere, um nicht zu sagen ›moderne‹ harmonische Abfolgen mit sich. Neben den formalen Aspekten soll nun aus den sich anschließenden Analysen unter anderem hervorgehen, inwiefern welche der dargelegten Phänomene zu welcher Geltung kommen, wie weit Siegmund von Hausegger also den theoretischen Ausbildungsrahmen von der Mitte des 19. Jahrhunderts verlassen und den neuesten Freiheiten folgen oder diese vielleicht sogar noch erweitern beziehungsweise »überwinden« würde. Es sei an dieser Stelle die Erwartung zumindest dahingehend gelenkt, dass sich Hausegger spätestens ab den 1890er Jahren mit einigen Symphonischen Dichtungen von Richard Strauss auseinandergesetzt hat.381

381  So schreibt S. v. Hausegger Ende 1895 an Strauss, dass er sich in die Till Eulenspiegel-Par-

titur vertieft habe. Unveröffentlichter Brief vom 29.12.1895, im Besitz der Strauss-Familie.

Dionysische Phantasie

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Dionysische Phantasie (1896-97)382 Noch war der Zauber der nur zwei Jahre hinter mir liegenden Universitätzeit nicht ganz verblaßt; dazu hatte sich aber jene erwartungsfrohe, die ersten selbständigen Schritte in die Welt begleitende Stimmung gesellt, welche das Leben als Tummelplatz ungezügelter Kräfte ansieht. Im Werke des Künstlers stellte sich mir die höchste Blüte jener freudigen Daseinsbejahung dar, in ihr der Sieg der schöpferischen Persönlichkeit über das Gesetz der Vergänglichkeit. Dämmerte zwar schon eine Ahnung in mir auf, daß nicht Schrankenlosigkeit, sondern kraftvolle Beherrschung des Empfindens Vorbedingung für die künstlerische Gestaltung ist, so wollte ich doch noch einmal dem inneren Drange mit der ganzen Unbesorgtheit und keine Grenzen kennenden Begeisterung der Jugend folgen.383

Gewidmet hat Hausegger das großbesetzte Werk seinem Schulfreund Oskar Noë (der für ihn später den vierhändigen Klavierauszug und eine Analyse zu Barbarossa verfassen würde). Der Komposition vorangestellt ist ein dreiteiliges Gedicht, das aus 36 vierzeiligen Strophen (10+16+10) besteht. Im ersten Teil – in neun- bis zwölfsilbigen, überwiegend daktylischen Versen gehalten – besingt das lyrische Ich in heroischer Weise Heldentum und Liebe, während in den letzten beiden Strophen ein Wandel der Stimmung durch die unerwartete Erfahrung mit dem Vergänglichen eintritt. Der zweite Teil – dazu kontrastierend aus jambischen Versen mit acht bis neun Silben bestehend – schildert die Suche nach einem Weg aus der Ödnis, die Konfrontation mit dem Tod und den apotheotischen Sieg über ihn. Euphorisch besingt der letzte Teil die gewonnene (schöpferische) Freiheit – jetzt in abwechselnden vier- und sechssilbigen Versen. Formales großer Aufbau Den dreiteiligen Aufbau der Komposition beschreibt Hausegger in seiner Kurzanalyse von 1910 mit den folgenden Worten:384 »Erst Heldentum und Liebe, dann das ›Tal des Todes‹, und endlich, durch einen Überleitungsteil vorbereitet, das ›Es werde!‹ des Künstlers.« 382  Partitur erschienen 1902 bei Ries & Erler, Berlin. 383  Dieses und alle weiteren Zitate stammen aus Hausegger, S. v. 1920, 133ff. 384  Diese Analyse fällt sprachlich etwas detaillierter aus als seine Erläuterungen für die Leser der Allgemeinen Musikzeitung, die dafür wiederum Notenbeispiele enthält. Vgl. AMz vom 31.5./7.6. 1901, 372–375.

Dionysische Phantasie

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Anschließend erläutert er in knappen Worten die großformale Gliederung, die sich – mit durchlaufender Taktzählung385 versehen – folgendermaßen darstellen lässt: 1a) Takt 1–26: »kurze Einleitung« 1b) Takt 27–299: »Marsch mit Trio« (Trio ab T. 129, wiederkehrender Marsch ab T. 288) 2) Takt 299–492: »frei behandelte Liedform« 3) Takt 492–652: »Vereinigung eines scherzoartigen Satzes mit einem breit ausladenden Gesange« Themen und Motive Darauf folgt die kurze Erläuterung der Themen und Motive, die hier abschnittsweise für jeden der drei Hauptteile zitiert und dazwischen im Einzelnen analytisch durchleuchtet werden soll. erster Teil (Takt 1–299): In der Einleitung bringen die Trompeten das Motiv des Lebens [T. 11/Ziffer 1 bis T. 13, 00:41 Min.];386 der Hauptgedanke des Marschthema’s [ab T. 27, 01:25] und damit des ersten Hauptteiles verbindet sich bald mit einer stets bewegter gestalteten, freudig sehnsuchtvollen Melodie der Geigen [vorbereitend T. 55–58; vollständig T. 63–83/Z. 4, 03:31], bis auf dem Höhepunkte zum ersten Mal das Motiv des Todes eintritt [vorbereitend T. 87 u. 89; vollständig T. 91–95, 03:22]. Ihm stellt sich wie im siegesfrohesten Trotze der Anfang des Liebesgesanges entgegen [ab T. 96/Z. 6, ab T. 104, 110/Z. 7 und 114], der, nach kurzer Überleitung, von der Klarinette gebracht als Trio einsetzt [ab T. 129, 04:31].

Das »Motiv des Lebens« erstreckt sich über drei Takte, ist (aus heutiger Sicht vielleicht ein wenig überraschend) in ernstem Moll gehalten und durch seine akzentuierte Punktierung (nebst Ausführung von oktavierten Trompeten im Fortissimo) von sehr strengem Charakter; doch verleiht ihm die aufwärtsgeführte Bewegung in die Oberquinte (zumindest) einen 385  In den Partituren jener Zeit finden sich noch keine Taktzahlen, sondern Gliederungszahlen größerer Ordnung, die in unregelmäßigen Abständen an geeigneten Stellen für das Einstudieren und Proben des Werks gesetzt wurden. In der Dionysischen Phantasie geht die Zählung bis 34. 386   In eckigen Klammern sind zum einen die heute übliche Zählung mit durchlaufenden Nummern und – sofern zusammenfallend – die Proben-Ziffern (in den nachfolgenden Werken Buchstaben) eingefügt, zum anderen für diejenigen Leser, die sich ohne Noten orientieren möchten, die Zeitangaben der CD-Einspielung (cpo 2017).

Formales – erster Teil

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offenen Gestus. Nach der formalen Definition Lobes besteht es aus zwei 387 »Motivgliedern« »Modellen«. Motiv des Lebens (T.oder 11/Z. 1 bis T. 13) Abbildung 4: Motiv des Lebens (T. 11/Z. 1 bis T. 13) Trp. (in C)

4 4

4 4 ff

Marsch-Thema 27-34), 3. Trp. + 3des Pos. + Tba. Der viertaktige(T. »Hauptgedanke Marschthema’s« lässt sich zeitgemäß als 388 definieren und kann durch seine entwickelnde DreiMarx’scher »Satz« modulierende Periode mit Satz-artigen Halbsätzen teiligkeit (mit 1+1+2 als /diminuierte Satzform im Sinne des Wie»Satz« nach Marx (alsTakten) 1+1+2 n. Ratz) »Modell« nach Lobe ner Theoretikers Erwin Ratz (1898–1973) begriffen werden.389 Mit seiner 4 variierten Wiederholung wäre das nach Lobe aus einem viertaktigen »Mo4 390 bestehende Gebilde dem Verständnis dell« und dessen f sf »freier Sequenz« sf 4 des 19. Jahrhunderts folgend als (modulierende) Periode391 und nach neuerer 4

387  Vgl. Lobe 1850, 17 und 63f. 388  Ausgehend vonB zwei, vierDoder achtB 4/4-Takten D g (bzw. einem Mehrfachen A davonDbei kleineren Takt-Zählern) bezeichnet Marx (61863 (Bd. 1), 28 und 51864, 24f.) ihn als »eine in »Sequenz« nach Lobe sowohl, als des Rhythmus befriedigend abgeschlossne Melodie«. Hinsicht des Toninhalts Der »Satz« bei Lobe (1850, 20f.) umfasst zwar ebenfalls vier Takte, ist jedoch explizit durch Zweigliedrigkeit (zweitaktige »Abschnitte«, die sich wiederum aus eintaktigen »Modellen« bilden) definiert. sf sf 389 »Der achttaktige Satz (2 x 2) + 4, besteht aus einem Zweitakter, seiner Wiederholung und einer viertaktigen Entwicklung, deren Wesen darin besteht, daß ein Teil der im Zweitakter exponierten Motive fallen gelassen und so eine Verdichtung und Beschleunigung der musikalischen Darstellung erzielt wird. In der Regel findet im Entwicklungsteil auch eine Bes6 B B B Ratz 31973, As 4 21f. As7 Des f Ü5harmonischen f Ü5 statt.« chleunigung in der Disposition 390  Vgl. Lobe 1850, 20. 4 4 391  Bei Marx 61863 (Bd. 1), 29 u. 45 und 51864, 39f. wird die Periode folgendermaßen erklärt: »Ein solches Tongebilde, in(T. dem zwei Sätze freudige Geigenmelodie 63-82/Z. 4), 1.(Satz Vl. und Gegensatz) sich zu einem grössern Ganzen vereint haben […]; die erste Hälfte Vordersatz, die andre Nachsatz. Periode sowohl als (Vordersatz) A' (Vordersatz) A = zwei »Phrasen« nach Schreyer Satz sind als ein für sich bestehendes Ganze bestimmt und befriedigend abgeschlossen; dies ist »Sequenz« a »Modell« a »Modell« a' ihr gemeinsamer Karakter; sie unterscheiden sich aber darin, dass der Satz nur einseitige Entwicklung 4 giebt, die Periode aber auch die andre Seite, den Gegensatz, auffasst.« Und: »Der 4 ist […] Fortsetzung des Vordersatzes […], hat also dessen Inhalt weiter auszuführen. Nachsatz […] Naturgemäss ist, dass der Nachsatz aus den Motiven des Vordersatzes […] oder aus verpiù f f sehr ausdrucksvoll D wandtenHMotiven […] gebildet werde […].« Eine explizite Option zur harmonischen Modulation gibt Marx (61863 (Bd. b1), 45f.) für den (Vordersatz) B »Sequenz« Periodenbau nicht vor; die Schlussbildung des Nachsatzes auf einer anderen Harmonie als der »Sequenz« a' »Modell« b Tonika bezeichnet er als »Trugschluss« – mit dem damit einhergehenden »Bedürfnis«, die Periode »in den Hauptton zurück und zum wirklichen Schluss« zu führen.

ff sehr ausdrucksvoll

Cis5 (Vordersatz) C

(Vordersatz) C'

Dionysische Phantasie

106

Lesart als ebensolche mit zwei (Ratz’schen) satzartigen Halbsätzen aufzufassen. Signifikanter Bestandteil des Themas ist seine bemerkenswerte Har392 Lebens (T. 11/Z. 1 bis T. 13) Motiv des die zu Beginn Mediantik im »Modell« (bzw. im ersten »Satz«), monik, einen übermäßigen Dreiklang in der »Sequenz« und eine modulatorisch Trp. (in C) Ausweichung am Ende aufweist. Die darauffolgenden acht Takte erreichte gehen 4 zwar harmonisch andere Wege, bleiben jedoch motivisch sehr ähnlich 4 4 4 und sind dementsprechend formal gleich zu klassifizieren. ff

Abbildung 5: Marsch-Thema (T. 27–34), 3. Trp. + 3 Pos. + Tba. Marsch-Thema (T. 27-34), 3. Trp. + 3 Pos. + Tba. modulierende Periode mit satzartigen Halbsätzen »Satz« nach Marx (als 1+1+2 n. Ratz) / »Modell« nach Lobe

4 4 f

sf

D

B

sf

4 4 D

B

g

A

D

»Sequenz« nach Lobe

sf

sf

Bei Lobe (1850, 311f.) kann der viertaktige »Satz« als »Modell« genommen werden, das 6 Periode« erweitert wird. As Die7 Möglichkeiten durch seine B ›Sequenzierung‹ B zur »einfache[n] B As 4 Des f Ü5 f Ü5 zur Modulation unterscheidet er in »bleibend ausweichende« (mit der Gegenüberstellung zweier tonaler Zentren) und »herumschweifende« (ohne greifbares tonales Zentrum). 4 4 392   Eine sämtliche tonale Musik umfassende Analyse-Systematik existiert nicht. Louis/ freudige Geigenmelodie 63-82/Z. 4), 1. Vl. hauptsächlich römische Zahlen (für die Thuille (21908) verwenden (T. in ihrer Harmonielehre (Vordersatz) oder A' – inbesonde(Vordersatz) A = zwei »Phrasen« nach Schreyer Skalenstufen) mit Bezug zur Tonika des aktuellen musikalischen Kontextes a re für die»Modell« Übungsaufgaben – auch»Sequenz« Generalbassbezifferung. a »Modell« a' Um sowohl den harmonisch-funktionellen Zusammenhang als auch wichtige Stimmführungs4 darzustellen, ist jedoch eine Kombination aus beidem – nebst ergänzender Angaphänomene 4 ben (für bspw. übermäßige oder verminderte Intervalle über dem Basston) vonnöten. Daraus più f f sehr ausdrucksvoll ergibt sich die folgende Systematik: normale Buchstaben (große für Dur, kleine für Moll) für H D die jeweilige Harmonie bzw. den harmonischen Grundton oder die Funktion, die ggf. ergänzt (Vordersatz) »Sequenz« b und dissonante werden um arabische Intervall-Zahlen für eineBandere Stellung (tiefgestellt) »Sequenz« a' »Modell« Zusätze bzw. Vorhaltsbildungen (hochgestellt);b je nach Kontext außerdem kursive Kleinbuchstaben als Basstöne nebst ihrer – ebenfalls in arabischen Ziffern dargestellten – Akkordbildung. ff sehr ausdrucksvoll

Cis5 (Vordersatz) C

(Vordersatz) C'

4 4 f

sf

sf

4 4

Formales – erster Teil D

B

D

B

107

g

A

D

»Sequenz« nach Lobe

sf

B

f Ü5

sf

B

f Ü5

B

6

As 4

As7

Des

4 4 Die sich insgesamt über 20 Takte erstreckende »freudig sehnsuchtvolle freudige Geigenmelodie (T. 63-82/Z. 4), 1. Vl.mit zwei zweitaktigen, melodisch Melodie der Geigen« beginnt zunächst (Vordersatz) (Vordersatz) A = zwei »Phrasen« nach Schreyer aufsteigenden Anläufen (ohne kadenzielle Wendung), dieA'ebenfalls als »Sequenz« a »Modell« a »Modell« a' »Modell« und »freie Sequenz« (nach Schreyer als zwei »Phrasen«)393 zu verstehen 4 sind. Diese Anläufe werden in den nächsten vier Takten in stei4 394 und gernderf sehr Weise melodisch und rhythmisch variiertpiùfortgesponnen ausdrucksvoll f führenHzu einem vorläufigen kleinen melodischen Höhepunkt ab Takt 71: D Trotz ihrer in dieser abermaligen Viertaktgruppe umgekehrten, leicht be(Vordersatz) B »Sequenz« b »Sequenz« a' »Modell« b ruhigenden Bewegungsrichtung, in der jeweils der erste Takt der beiden Zweiergruppen ein etwas markanteres rhythmisches Profil bekommt, bleibt der Steigerungscharakter durch das Crescendo der Begleitung erhalten. Die ff sehr ausdrucksvoll folgenden letzten acht TakteCis – nach denen die Melodie unvermittelt ab5 brechen(Vordersatz) wird – sind nun wieder steigernd aufwärtsgeführt und motivisch C (Vordersatz) C' nicht mehr als zusammengesetzte Zweitaktgruppen, sondern als viertaktige Einheiten konzipiert. Den stetig forttreibenden Charakter jener »unendli395 erreicht Hausegger durch die offenen Enden sämtlicher chen Melodie« sf C5 A3-G5 C Viertaktgruppen, die dadurch wie eine Abfolge von mehreren motivisch korrespondierenden Vordersätzen erscheinen. Eine deutlich wahrnehmbare Abgrenzung jener insgesamt fünf Viertaktgruppen erzeugt er nicht nur durch die jeweils ähnlich gehaltene rhythmisch-melodische Motivik, sondern auch durch besondere harmonische Einschnitte im an sich polyphonen Geflecht: So bleiben die ersten vier Takte überwiegend in H-Dur, an 393  Vgl. Schreyer 21905, 19. 394  Bei Lobe (1850, ab 17 und ab 62) fällt der Begriff »Ausspinnung«, der ganz allgemein die fortsetzende Ergänzung eines »Modells« zu einem Satz, diesen zur Periode usw. meint (Begriff »fortspinnen« nur ebd., 354). 395  Begriff bei Kurth 31923, 444.

modulierende Periode mit Satz-artigen Halbsätzen »Satz« nach Marx (als 1+1+2 n. Ratz) / »Modell« nach Lobe

4 4 108

f

sf

sf Dionysische Phantasie

4 4 das sich die nächste Gruppe mit Mediantik 2. Grades in D-Dur anschließt; D B D B g A D der kleine Höhepunkt der dritten Gruppe beginnt wiederum in kontrastie»Sequenz« nach(Quintbass), Lobe rendem Cis-Dur auf dessen Ende (in dominantischem Gis-/AsDur396) der letzte Achttakter mit dazu mediantischem C-Dur (Quintbass) folgt, und dessen zweite Hälfte wiederum mit polyphon gehaltener, alteriersf sf ter Sekundverbindung (AGC, entsprechend der heutigen Funktionstheorie als SGDT397) kadenziell angeschlossen wird. Diese unerwarteten harmonischen Abfolgen verhindern ein Abfallen der »Energie des Ganzen«, wie 6 es vonBMarx für Anzahl B B As 4 Des (von As7 Sätzen f Ü5 eine solche f Ü5 von aufeinanderfolgenden 398 ihm auch »Satzketten« genannt ) warnend prognostiziert wird.399 4

4

Abbildung 6: freudige Geigenmelodie (T.4), 63–82/Z. freudige Geigenmelodie (T. 63-82/Z. 1. Vl. 4), 1. Vl. (Vordersatz) A = zwei »Phrasen« nach Schreyer »Sequenz« a »Modell« a

(Vordersatz) A' »Modell« a'

f sehr ausdrucksvoll

più f

4 4 H

D (Vordersatz) B

»Sequenz« a'

»Sequenz« b

»Modell« b

ff sehr ausdrucksvoll

Cis5 (Vordersatz) C

C5

(Vordersatz) C'

A3-G5 C

sf

396  In der Partitur ist überwiegend Gis-Dur notiert; der Klavierauszug bringt an dieser Stelle As-Dur. Erstellt wurde er für vier Hände von Ferdinand Miroslav Weber (Lebensdaten unbekannt; vermutlich der Sohn von Joseph Miroslav Weber, 1854–1906) und ist 1902 bei Ries & Erler (Berlin) erschienen. 397  Vgl. z.B. Kubicek 2009, 159. 398   »[…] eine Folge von Sätzen, die zwar durch Stimmung, durch Modulationsordnung, durch verbindende Mittelglieder, durch gemeinsame Motive zueinander gehören, nicht aber durch die fest einende Periodenform zu einer nothwendigen Einheit verschmolzen sind.« (Marx 41863 (Bd. 3), 263f. 399  Vgl. Marx 51864, 56 und 64ff.

Formales – erster Teil

109

Das »Motiv des Todes« besteht aus lediglich einer auftaktigen, aufsteigenden Dreitonfigur wie der Beginn einer Mollskala als Anapäst, die insgesamt 2 vier Mal erklingt. Beim dritten Mal ist die lange Silbe um einen halben Takt verkürzt, wodurch das letzte Auftreten als steigernder Effekt metrisch früher einsetzt – in der heutigen Theorie als Strukturdiminution400 bezeichnet. Insbesondere durch seine Instrumentierung (tiefes, akzentuiertes Blech und Pauken) erhält das Motiv einen sehr martialischen Charakter, der für Hausegger möglicherweise mit Blick auf eine gewisse Ausgewogenheit die auffällige Strenge des »Motiv des Lebens« bedingte. Todes-Motiv (T. 91-95), 3 Fg. + 3 Pos. + Tba. (Pk. im selben

Abbildung Todes-Motiv Rhythmus7:mit dem Ton (T. c) 91–95), 3 Fg. + 3 Pos. + Tba. (Pk. im selben Rhythmus mit dem Ton c)

ff

ff

In dem von der Klarinette dargebotenen »Liebesgesang« zeigt sich Hauseggers generell sensibler Umgang mit der Themen- beziehungsweise mit melodischer Dramaturgie: Das Thema umfasst insgesamt acht Takte (T. 129– 136), wovon die ersten zuvor dem siegesfroher Trotz (T. beiden 110/Z. eine 7 bisVariante T. 112), der hohesich Hlzbl. + 1. Vl.Todes-Motiv entgegenstellenden Einwürfe sind; die nächsten beiden Takte knüpfen an diesem leicht öffnenden Ende an 3und führen es zu einem deutlich offenen 3 Einschnitt 2 (mit denselben beiden Schlusstönen wie am Ende des zweiten 2 Taktes) – ein viertaktiger »Satz« nach Lobe. Der folgende »Satz« greift fff zunächst motivisch den letzten Zweitakter auf, spinnt ihn jedoch mit minimaler Strukturdiminution weiter und mündet daraufhin in derselben offenen Schlussfigur, wie die letzten beiden Einwürfe (vgl. T. 135f. mit 111f. und 115f.). Diese insgesamt drei Bögen (2+2+4 Takte) könnten nach der Lehre des 19. Jahrhunderts als unvollständige (weil öffnende) Periode (4+4 Takte) mit zweigeteiltem Vordersatz verstanden werden; aus heutiger Sicht Liebesgesang (T. 129-136), 1. Kln. bietet sich durch die Ähnlichkeit der Motivik die Definition als Ratz’scher Satz an: »Satz« nach Ratz »Satz« nach Lobe (1. Vordersatz)

(2. Vordersatz)

  Riemann nennt für das Phänomen – mit Referenz an Hans von Bülow – den Begriff »System Zerkleinerung«. Vgl. Riemann 1903, 243. 400

3

p sehr ausdrucksvoll

3

2 2

ff

2

siegesfroher Trotz (T. 110/Z. 7 bis T. 112), hohe Hlzbl. + 1. Vl. ff

110

3

Dionysische Phantasie 3

2 2

2 2 siegesfroher Trotz (T. 110/Z. T. 112), hohe Hlzbl. + 1.Hlzbl. Vl. + 1. Vl. fff Abbildung 8: siegesfroher Trotz 7(T.bis 110/Z. 7 bis T. 112), hohe 3

3

2 2 fff

Liebesgesang (T. 129-136), Kln. Abbildung 9: Liebesgesang (T.1.129–136), 1. Kln. »Satz« nach Ratz »Satz« nach Lobe (1. Vordersatz)

(2. Vordersatz)

Liebesgesang (T. 129-136), 1. Kln. 3

p»Satz« sehr ausdrucksvoll nach Ratz »Satz« nach Lobe (1. Vordersatz)

3

(2. Vordersatz)

Für das weitere, variierte Ausbreiten des Themas verknüpft Hausegger das Ende der Klarinetten-Melodie mit dem Neubeginn in der Solo-Violine (im 3 3 einer sich Folgetakt) durch denselben Ton, sodass der Hörer den Eindruck ausdrucksvoll p sehr anschließenden Fortsetzung des Themas erhält. Nach leidenschaftlicher Steigerung, deren Spitze das Motiv des Lebens bezeichnet [ab T. 217, 07:20], wiederholt sich der Marsch, nun aber verflochten mit dem Liebesgesange [nicht gleichzeitig, sondern abwechselnd: Marsch ab T. 228; Liebesgesang ab 4 T. 236/Z. 13, 07:52]. Noch einschneidender als das erste Mal ruft das Todesmotiv ein 4 gebieterisches »Halt!« zu [vorbereitend ab T. 248, deutlicher ab T. 264]. Nach einem letzten vergeblichen Aufbäumen [»Motiv des Lebens« ab T. 259/Z. 15, 08:31] endet der Jubel in schmerzlichen Dissonanzen, die den zweiten Hauptteil einleiten.

zweiter Teil (Takt 299–491):

4 4

Sein Thema, eine klagende, zuerst in den Flöten gebrachte Melodie [T. 299–307, 09:40], wird von den Bratschen, hierauf vom übrigen Orchester aufgenommen. Die Düsterheit unterbrechen Klänge ferner Verheißung [ab T. 336, 11:43]. Ihnen antwortet ein greller Aufschrei des Orchesters [T. 346]: der Würger Tod versperrt den Weg aus dem Tale des Schreckens. Langsam schleicht sein Thema heran, von Kontrabässen und Baßtuba gebracht, bis im Augenblicke höchsten Grauens das Motiv des Lebens mit einem Schlage das furchtbare Bild verscheucht [ab T. 374/Z. 20, 13:25]. Zart wogende Achtel der Streicher [ab T. 393, 14:08], über die sich ein verklärter Gesang der Sologeige erhebt [ab T. 404/Z. 22, 14:34] künden das Erwachen neuen Lebens an. Eine stete Steigerung, in die selbst das Motiv des Todes mit hinein gerissen wird, führt zum letzten Teile […].

Strenggenommen hat Hausegger die »klagende Melodie« auf Flöte (T. 299–302) und Oboe (T. 302–307) verteilt – und somit als durchbrochenes

Formales – zweiter Teil

111

Thema401 konzipiert. Die vier Takte der Flöte könnten durch ihren symmetrischen Aufbau zunächst als einfache Marx’sche Periode verstanden werden, nach Lobe bleiben sie durch die motivische Ähnlichkeit des zweiten Zweitakters ein Satz (als Modell und dessen freie Sequenz). Insgesamt ergibt sich durch Fortsetzung und Abschluss der Melodie durch die Oboe eine verkleinerte »Periode von drei Sätzen« nach Marx402 und durch die sich steigernde Motivik innerhalb der drei Teile zugleich ein Ratz’scher Satz.403 Auch der dritte Teil selbst lässt sich durch seine Motivik und die steigernde Dreiteiligkeit als Ratz’scher Satz (mit 1+1+3 Takten) verstehen. Durch die beschließende Tenorklausel wird das melodische Ende recht deutlich angezeigt, harmonisch erscheint hier (hingegen nur) ein Trugschluss. Den klagenden Charakter rufen hauptsächlich zwei Elemente hervor: einerseits die Instrumentierung mit der Flöte in tiefer und der Oboe in mittlerer Lage, zum anderen die melodische Bewegung mit dem (minimal umspielten) zweimaligen Lamento-Tetrachord im Abschnitt der Flöte, der mit harmonisch expressivem Nonvorhalt beendet wird. Darüber hinaus kommt bemerkenswerterweise im sequenziell aufsteigenden zweiten Abschnitt ein melodisch versetzter, ebenfalls in absteigenden Tetrachorden gehaltener Kontrapunkt der 2. Klarinette hinzu (während die Oboe ihre melodische Expressivität durch Chromatik steigert). Gemeinsam mit dem das Thema beendenden Trugschluss erfolgt im Sinne einer Phrasenverschränkung404 das Aufgreifen durch die Bratschen.

401  Bei Kurth (31923, 378) »durchbrochener Stil«. 402  Vgl. Marx 51864, 47ff.

 Für das Erweitern der Periode bleiben bei Marx deren Sätze zunächst gleich groß (dreiteilig mit 4+4+4 Takten). Eher zufällig zeigt sich später ein mit dem Ratz’schen Satz korrespondierendes Beispiel (mit 2+2+4 Takten) als Teil weiterer Anregungen für den Kompositionsschüler (Bsp. 92, ebd., 62). An anderer Stelle definiert Marx einen heute vorbildlichen Ratz’schen Satz (Beginn der Beethoven Sonate f-Moll, op. 2; vgl. Kühn 92010, 60) als Vordersatz, dem sodann ein sich »gangartig« fortbewegender, »aufgelöster Nachsatz« folgt. Vgl. Marx 41863 (Bd. 3), 259f. 404  Der Begriff kommt in den vorliegenden Theorien ausschließlich bei Schreyer (21905, 123) vor; von den anderen Autoren wird er lediglich umschrieben (vgl. z.B. Marx 41863 (Bd. 3), 136f.; Lobe 1850, 293; bei Riemann (1890, 59 und 21893, 197) als »Verschränkung«). 403

Dionysische Phantasie

112

3

Abbildung 10: klagende Melodie (T. 299–307) 1. Fl.

1. Ob.

verkleinerte »Periode von drei Sätzen« nach Marx / Satz nach Ratz Vordersatz / »Modell« Vordersatz / »Sequenz«

Nachsatz als

4 4 p ausdrucksvoll

p zart und ausdrucksvoll

3

verkleinerter Satz nach Ratz (1+1+3)

pp

1. Fl.

4 4

verkleinerte »Periode von drei Sätzen« nach Marx / Satz nach Ratz Vordersatz / »Modell« Vordersatz / »Sequenz« mf f

2. Klar. p zart und ausdrucksvoll

cresc.

mf

f

Vla. p

1. Ob. Nachsatz als

p ausdrucksvoll pp

Jene »Klänge ferner Verheißung« sind motivisch etwas unscheinbarer, da verkleinerter Satz nach Ratz (1+1+3) pp sie zunächst lediglich aus dem variierten Beginn der »klagenden Melodie« ferne Verheißung (T. 336-338), 1. Kln. zu bestehen scheinen (Klarinette ab T. 336). Ihre freundlichere, in Dur geVla. p mf f haltene Harmonik erzeugt die eigentliche positivere Stimmung. Geschickt 2. Klar. werden hier jedoch zwei Themenanfänge überlagert, deren Gemeinsames ppp der Hörer spätestens mit Einsatz der Solo-Violine (ab T. 342) pp wahrnimmt: f mf cresc. »klagende Melodie« und »Liebesgesang« (der ab T. 129 ebenfalls mit der Klarinette begonnen wurde). ferne Verheißung 336-338),(T. 1. Kln. Abbildung 11: ferne(T. Verheißung 336–338), 1. Kln.

ppp Gesang (T. 404/Z. 22 bis T. 411) verklärter

Hrn.steckt eine motivische ÄhnAuch Solo-Vl. im »verklärten Gesang der Sologeige« modulierender Nachsatz lichkeitVordersatz zur »fernen Verheißung«. Zunächst als viertaktiger »Satz« nach sehr ausdrucksvoll Marx und Lobe vorgestellt (T. 404/Z. 22 bis T. 407), kann er durch die unmittelbare Fortsetzung im Horn als modulierende Periode (und durch die sehr ausdrucksvoll p p Verteilung auf zwei Instrumente als durchbrochene Arbeit) definiert werden. Bei seinem nächsten Erscheinen (jetzt von allen 1. Geigen gespielt) wird verklärter Gesang (T. 404/Z. 22 bis T. 411) er in variierter Fortsetzung auf ebenfalls acht Takte erweitert (T. 437/Z. 24 Solo-Vl. Hrn. bis T. 444) und kann hier – je nach Auffassung – als halbschlüssig öffnende Vordersatz modulierender Nachsatz sehr ausdrucksvoll sehr ausdrucksvoll p

p

ferne Verheißung (T. 336-338), 1. Kln.

Formales – zweiter Teil

ppp

113

Periode gelten, die entweder mit einem Vorhalt als Auffassungsdissonanz405 zu Ende gebracht wird oder ihren Abschluss als Bassklausel mit einem phrasenverschränkt startenden, neuen Motiv der Oboe (als durchbrochene Arbeit) im neunten Takt findet. verklärter 12: Gesang (T. 404/Z. T. 411) Abbildung verklärter Gesang22 (T.bis 404/Z. 22 bis T. 411) Solo-Vl.

Hrn.

Vordersatz

modulierender Nachsatz sehr ausdrucksvoll

4

sehr ausdrucksvoll p

p

verklärter Gesang (T. 437/Z. 24 bis T. 445) Abbildung 13: verklärter Gesang (T. 437/Z. 24 bis T. 445) 1. Vl. öffnende Periode

ff

2. Ob. 3

sf

f sehr ausdrucksvoll

dritter Teil (Takt 492–652): 6 8 Während die ersten beiden Teile von ähnlicher Länge sind, fällt der dritte verklärter (T. 492-522), 1. Gedicht) Vl. (anders alsGesang im vorangestellten mit gerade einmal etwa 2 ½ Minuten sehr kurz aus – Hausegger beschreibt das Geschehen mit den Worten: »Modellperiode« nach Lobe (modulierend)

[…] führt zum letzten Teile, dessen Hauptgedanke ein aus dem Violinsolo entstandenes 6 leidenschaftliches Gesangsthema der Streicher ist [T. 492–522, 17:05], verbunden 8 scherzoartigen Rhythmen der Holzbläser. mit f sehr schwungvoll

Die Adaption des »verklärten Gesangs« aus einem »bewegten« 4/4-Takt in den nun »sehr feurig[en]« 6/8 bringt# eine Vergrößerung des Themas auf die doppelte Anzahl der Takte mit sich: Der erste »Satz« besteht hier sof mit aus acht Takten. In seiner Ergänzung zur Periode wirdffer – verglichen »Sequenzperiode« nachEsLobezu (modulierend und öffnend) zu vorher – statt von B-Dur nun melodisch geringfügig variiert von D- nach Fis-Dur geführt (bis T.  507). Die folgende, melodisch abermals f

ff

405  Vgl. Louis/Thuille 21908, 31. Nach Riemann (1890, 23) »Scheinkonsonanz«.

sff

6 8

verklärter Gesang (T. 437/Z. 24 bis T. 445) 1. Vl. öffnende Periode

Dionysische Phantasie

114 ff

leicht variierte Periode ist am Ende für den Übergang zum nächsten, neuen 2. Ob. Themenabschnitt um einen Takt verkürzt. Diese somit 31 Takte umfassende Einheit kann 3nach Lobe als »Modellperiode« und deren variierte »Sef sehr ausdrucksvoll sf quenzperiode«,406 nach Jadassohn als »einfache Liedform« mit zwei Perioden aufgefasst werden (wenngleich deren Enden bei ihm mit bestimmten 6 8 Schlusswendungen einhergehen – siehe Formkonzepte im Großen).407 verklärter Gesang (T. 492-522), 1. Vl. Abbildung 14: verklärter Gesang (T. 492–522), 1. Vl. »Modellperiode« nach Lobe (modulierend)

6 8 f sehr schwungvoll #

f

ff

»Sequenzperiode« nach Lobe (modulierend und öffnend)

ff

f

sff

6 Eine Art Mittelteil bringt die Vereinigung des dithyrambisch beschwingten Liebes8 thema’s aus dem ersten Satze mit den Achtelfiguren der Überleitung [ab T. 528, 17:38]. 408 Der triumphale Abschluss fasst nach einer Engführung des Hauptthema’s [ab T. Themen-/Motivkombination 602/Z. 32, 18:31 (damit ist(T. das626-629) »leidenschaftliche Gesangsthema der Streicher« gemeint)], in die auch das Marschthema des ersten Satzes mit verwoben ist [ab T. 616/Z. Trp. 2 33], Eingangund vorletztes Thema [sic], sowie die als Siegesfanfare in den Trompeten 6 gebrachten Anfangstakte des Liebesgesanges [ab T. 626, 18:52] zusammen. 8 Hrn. ff

2

Fg.

6 8 406  Vgl. Lobe 1850, 352f. 407  Vgl. Jadassohn 1885, 32ff. 408  Der Begriff Engführung stammt aus der Fugenlehre und meint den vorzeitigen Themeneinsatz durch eine oder mehrere weitere Stimme(n).

sff

Formales – zweiter Teil

115 6 8

Themen-/Motivkombination (T. 626-629)(T. 626–629) Abbildung 15: Themen-/Motivkombination Trp.

2

6 8 Hrn. ff

2

Fg.

6 8 Umgang mit Motiv und Thema Hauseggers eigener detailreicher Blick auf Themen und Motive lässt bereits erahnen, welch hohen Stellenwert die motivisch-thematische Arbeit bei ihm insgesamt genießt. Tatsächlich beinhaltet die Partitur nur wenige Momente, die gänzlich ohne wiedererkennbares Material gestaltet sind. Wenngleich auch homophone Abschnitte auftreten (wie beispielsweise in der Einleitung oder beim Marsch), liegt der Schwerpunkt klar auf der Polyphonie. Ruft man sich an dieser Stelle Friedrichs Ausdruck-Ästhetik und -Pädagogik und die umfassende kontrapunktische Schulung Hauseggers in Erinnerung, so findet man hierin nicht nur die Ursache für die dominierende Bedeutung des Melodischen, sondern kann daraus auch zwei Gesichtspunkte ableiten, unter denen sich das musikalische Material ausbildet: Dies ist zum einen die unmittelbare Empfindung, die für den Komponisten das psychologischen Ausdrucksmoment des außermusikalischen Gedankens wiedergibt und die wiederum zum anderen eine planvolle Veränderung für ein logisch motiviertes Voranbringen des Geschehens erfährt. Meist wird die Originalgestalt eines Themas oder Motivs mit einem bestimmten Instrument (beziehungsweise einer bestimmten Kombination von Instrumenten), wie es für Hausegger an der jeweiligen Stelle den passendsten Ausdruck bereithält, wiedergegeben. Für die psychologische Wirkung bleibt diese Verbindung in relevanten Momenten der außermusikalischen Handlung bestehen, während sich das motivisch-thematische Material an anderen Stellen – eben jenen mehr logisch motivierten – von seinem Instrument lösen und damit eine neue beziehungsweise andere Wirkung hervorrufen kann. Allgemein unterliegen außer dem Instrumentarium folgende Parameter einer Modifikation: Intervallstruktur, Rhythmus, Artikulation (und Dynamik), Tempo und Metrum. Je nach Art und Schwere der Veränderung entsteht ein bewusst herbeigeführter Wandel des Charakters und gegebenenfalls des Ausdrucks.

Dionysische Phantasie

116

7

Obwohl Veränderungen des melodischen Materials nicht immer auf den ersten Blick eine offensichtliche Ursache besitzen, ist – wie sich im Laufe der Untersuchungen zeigen wird – völlige Beliebigkeit als Grund auszuschlieMotiv des Lebens 11/Z.klare 1 bisFälle T. 13herausgestellt und 217-220)werden: ßen. Zunächst sollen(T.einige Wie schon beim »leidenschaftlichen Gesangsthema« zu sehen war, Trp.ein Thema bereits in seiner Originalgestalt modulatorisch konzipiert kann 7 sein; doch tritt Modulation traditionell meist erst als Veränderung der originalen Intervallstruktur bei einem späteren Erscheinen des Themas bezieMotiv ff des Lebens 13 und ff 217-220) hungsweise Motivs(T. auf11/Z. – wie1 bis zumT.Beispiel beim »Motiv des Lebens«:

7

Motiv des Lebens (T. 11/Z. 1 bis T. 13 und 217-220) Abbildung 16: Motiv des Lebens (T. 11/Z. 1 bis T. 13 und 217–220) Trp. Trp.

3 4 ff

ff

ff

ff

Motiv des Lebens (T. 374/Z. bis T. 375)

Im nächsten Beispiel hat Hausegger für den dramaturgischen Aufbau der Trp. (steigernder Einschub eines ungeraden Taktes) minimal den RhythPhrase 3 4 mus3modifiziert:

3 4

4

Motiv des17:Lebens (T.Lebens 374/Z.(T.bis T. 375) Abbildung Motiv(T. des 374/Z. Motivff des Lebens 374/Z. bis T. 375) bis T. 375) Trp. Trp.

33 44 ff ff

Für das »Heranschleichen« des Todes-Motivs ist an folgender Stelle die Artikulation (und Dynamik) abgewandelt: Todes-Motiv (T. 351-353), Tba. + Kb. 4 Abbildung 18: Todes-Motiv (T. 351–353), Tba. + Kb. 4

4

44 ppp 3 44 4 43 Die Bedrängnis durch das Todes-Motiv erfährt der Hörer mit einer Temppp der bald darauf mehrmals hintereinander einsetzenden »klaposteigerung ppp genden Melodie« beziehungsweise ihres Beginns (ab T. 364/Z. 19) – und ebenso die erlösende Freude mit der »sehr feurig[en]« Darbietung des »ver4 4 klärten Gesang[s]« (ab T. 492). Todes-Motiv verlängert (T. 476f), Pos. + Tba. Todes-Motiv verlängert (T. 476f), Pos. + Tba.

Todes-Motiv verlängert (T. 476f), Pos. + Tba.

4 4

5 4

5 4

2 2

2 2

4 4

3 4

4 Todes-Motiv Tba. + Kb. Todes-Motiv(T. (T.351-353), 351-353), Tba. + Kb.

4 4

4 4

4 4 4 4

4 4 Todes-Motiv (T. 351-353),Formales Tba. + Kb. – zweiter Teil

4

117

3

4 4 oder verknappenden AndeuUmgestaltung im Sinne einer Verknappung tung von ppp Thema oder Motiv (wie beispielsweise die »klagende Melodie« ab T. 364/Z. 19) tritt wesentlich häufiger auf als das Erweitern im Sinne einer fortführenden Verlängerung oder gar das Entwickeln einer Abspaltung (die Herausnahme eines kleinen Teils als Motiv-Kern) zu etwas gänzlich Neuem. Beispiele für die Verlängerung finden sich beim Todes-Motiv (T. 476, 482 usw.), als dieses in die »stete Steigerung […] mit hinein gerissen« wird:

4 4

Todes-Motiv verlängertverlängert (T. 476f),(T.Pos. + Tba. Abbildung 19: Todes-Motiv 476f.), Pos. + Tba.

4 4

5 4

2 2

f

Außerdem beim »leidenschaftlichen Gesangsthema«, von dem Hausegger selbst schon sagt, dass es »aus dem Violin-Solo entstanden« sei, und auch beim variiert weitergeführten, jetzt »dithyrambisch beschwingten Liebes8 thema«: variierter Liebesgesang (T. 544-556), Solo-Vl. + Solo-Vla. (8vb) Abbildung 20: variierter Liebesgesang (T. 544–556), Solo-Vl. + Solo-Vla. (8vb) »Modellperiode« nach Lobe (modulierend) 3

2 4 mf sehr ausdrucksvoll

più f

f

Eine variierte Abspaltung erfolgt mit dem Kopf des »Liebesgesangs«: 2. Vi-4 olinen Takt 183 verglichen mit den tiefen Celli Takt 192 (jene hier als Kon-4 trapunkt zu den hohen). Ebenso wird aus seiner Fortsetzung (2. Violinen variiert Liebesgesang 2. Vl. + 2. Vc.die sodann einen T. 185f.)fortgesponnener eine neue Motivik etabliert(T. (1.183-195), Violinen T. 197), deutlichen Charakterwechsel erfährt (Kontrabässe ab T. 201): 3 3 4 4 pp

cresc.

4 4 pp cresc. 3

sehr ausdrucksvoll

2 4

4

4 più f

f

cresc. variiertppfortgesponnener Liebesgesang (T. 183-195), 2. Vl. + 2. Vc.

4 4

3

11844

3

Dionysische Phantasie

pp cresc.

4 4

cresc. ppfortgesponnener sehr ausdrucksvoll 3 Liebesgesang variiert (T. 183-195), 2. Vl. + 2. Vc. Abbildung 21: variiert fortgesponnener Liebesgesang (T. 183–195), 2. Vl. + 2. Vc. 4

4 4 4

3

f

pp

3

3

cresc.

sehr ausdrucksvoll cresc.

4 4 f

p

cresc.

pp cresc.

3 3

3

pp cresc.

mp

sehr ausdrucksvoll p f

mp cresc.

3

variiert fortgesponnener Liebesgesang (T. 196-200), 1. Vl. p

mp

variiert fortgesponnener Liebesgesang (T. 196-200), Vl. Abbildung 22: variiert fortgesponnener Liebesgesang (T. 1. 196–200), 1. Vl. f

sf

variiert f fortgesponnener Liebesgesang (T. 196-200), 1. sfVl.

(T. 201-204), Vc.

Abbildung 23: (T. 201–204), Kb. (T. 201-204), Vc. f

p

p

sf

Anhand dieser (T. 201-204), Vc. Beispiele ist ersichtlich, dass einzelne kleine Teile der Motive und Themen (in der Größe halber oder ganzer Takte) einander sehr ähnlich bis gleich sein können und somit oftmals eine genaue Differenzierung p beziehungsweise Zuordnung verhindern. Der dahinterstehende Gedanke in derlei Fällen ist sicherlich nicht die präzise, psychologisch relevante Erinnerung des Hörers an vorausgegangene Ereignisse des außermusikalischen Sujets, sondern lediglich der oben bereits angesprochene, rational-kompositorische Umgang mit vorhandenem Tonmaterial für ein logisch-kreatives Voranbringen der musikalischen Entwicklung. Dabei – und darüber hinaus – spielen auch ältere (Kontrapunkt-)Techniken eine maßgebliche Rolle, wie Imitation, Umkehrung, Diminution, Augmentation, Engführung und Themen-/Motiv-Kombination (siehe folgende Beispiele). In entsprechenden Passagen können sie ein dichtes Gewebe ausbilden, das dem Ohr viel zu entdecken gibt.

Umkehrung Liebesgesang (T. 161-167), Eh.3 + Solo-Vla. 3

p p

sf

3

sehr ausdrucksvoll

9

Formales – zweiter Teil

sf

Umkehrung Liebesgesang (T. 161-167), Eh. + Solo-Vla. sf p sehr ausdrucksvoll Engführung umgekehrter Liebesgesang (T. 167-171) Umkehrung Liebesgesang (T. 161-167), Eh. + Solo-Vla. Engführung umgekehrter (T. 167-171) sehr ausdrucksvoll Fl. +(T. Ob.161–167), Abbildung 24: Umkehrung Liebesgesang Liebesgesang Eh. + Solo-Vla. 3 Engführung umgekehrter Liebesgesang (T. 167-171) 3 Kln. 3 sehr ausdrucksvoll

sehr f ausdrucksvoll Kln.ausdrucksvoll p 3 sehr f sehr ausdrucksvoll Kln. 3 1. Vl. fp sehr ausdrucksvoll mf cresc.

Fl. + Ob.3 Fl. + Ob.

3

119 9

sf

3

sf 3

1. Vl. Engführung Liebesgesang (T. 167-171) Abbildung 25:umgekehrter Engführung mf cresc. umgekehrter3 Liebesgesang (T. 167–171) 1. Vl. Engführung umgekehrter Liebesgesang (T. 167-171) 3 sehr ausdrucksvoll mf cresc. Fl. + Ob.

Kln.

3

sehr f ausdrucksvoll

3

Fl. + Ob.

3

Kln. 3 augmentiertes Todes-Motiv f (T. 347-349), Tba. + Kb. augmentiertes1.Todes-Motiv Vl. 3 (T. 347-349), Tba. +mfKb. cresc. augmentiertes Todes-Motiv 1. Vl.+ Kb. (T. 347-349), Tba. Abbildung 26: augmentiertes Todes-Motiv3 (T. 347–349), Tba. + Kb. pp

mf cresc. p

pp

p

2 2 2 2 2 2

Kombination Lebens-Motiv + verlängertes Todes-Motiv pp p augmentiertes Todes-Motiv (T. 487-491) Kombination Lebens-Motiv + verlängertes Todes-Motiv (T. 347-349), Tba. + Kb. Abbildung + verlängertes Todes-Motiv (T. 487–491), Trp.27: Kombination (T. 487-491) augmentiertes Todes-MotivLebens-Motiv Kombination Lebens-Motiv + verlängertes Todes-Motiv 2 6 (T. 487-491) 347-349), 2 Trp. Tba. + Kb. 8 (T.

2 2 2 Trp. 6 ff 5 2 8 2 2ppff Pos. p 62 2 5 68 2pp Pos. p 8 5 2 ff 6 Kombination Lebens-Motiv + verlängertes Todes-Motiv 2 8 Pos. 5 (T. 487-491) 2 6 ffLebens-Motiv + verlängertes Todes-Motiv Kombination 2 8 5 Trp. ff (T. 487-491) 2 6 Kombination Liebesgesang + Lebens-Motiv 5 2 Trp. Gesang 8 ff Kombination Liebesgesang + verklärter Gesang (T. 626–629) + verklärter (T. 626-629) 2 6 Kombination Liebesgesang + Lebens-Motiv ff 2 8 2 5 Trp. + verklärter Gesang (T. 626-629) Pos. Kombination Liebesgesang + Lebens-Motiv ff 6 5 28 6 2 Trp. + verklärter Gesang (T. 626-629) 2 8 Pos. 6 2 6 2 Hrn. Trp. 82 8 2 ff 5 6 Hrn. 8 ff ff 2 6 5 8 Hrn. ff ff Kombination Liebesgesang + Lebens-Motiv2 Fg.6 8 + Pos. Gesang (T. 626-629) + verklärter Kombination Fg.6 + Pos. Liebesgesang + Lebens-Motiv 8 Ebenfalls auffällig Technik, 2ein (neues) Thema oftmals nicht sofort in Trp. + verklärter Gesang ist (T.die 626-629) Fg. + Pos. 6 seiner 2 bringen, sondern seinen Eintritt durch Trp. 8 kompletten Originalgestalt zu 6 motivisch ähnliche bis gleiche, kürzere Phrasen in subtiler Weise (in einem Hrn. 8 2 ff Instrument) schon einmal vorzubereiten anderen (siehe dazu in den Zitaten Hrn. 2 ff 6 8 Fg.6 8+ Pos. Fg. + Pos.

120

Dionysische Phantasie

zum formalen Ablauf die Hinweise in den eckigen Klammern) – eine Vorgehensweise, die sich bereits auch in den Kompositionen des von Hausegger studierten J.S. Bach wiederfinden lässt.409 Abschnittsbildung Wie festzustellen war, bleibt die melodische Abschnittsbildung in der Dionysischen Phantasie mit ihren deutlichen, überwiegend zwei- bis viertaktigen Gruppen geradezu ›hoch-klassisch‹. Um der Gefahr von Eintönigkeit und Vorhersehbarkeit entgegenzuwirken, nutzt Hausegger – neben den noch zu untersuchenden harmonischen Besonderheiten – die ebenfalls in der ›Hoch-Klassik‹ zu auffälliger Anwendung gelangten Steigerungsmittel Phrasenverschränkung (durch Takterstickung410) und Strukturdiminution, selten auch -augmentation. Des Weiteren verwendet er zwei Mal die Möglichkeit eines finalen Spannungsaufbaus durch das Einschieben zusätzlicher Takte, die als Verlängerung der Phrase fungieren (als innere Erweiterung) und dieser die Wirkung eines künstlichen Rallentandos verleihen. Ebenfalls an zwei Stellen finden sich häufige Taktwechsel, die im Zusammenhang mit dem Todes-Motiv auftreten: Beide Male (ab T. 353 und 475) erzeugen sie den Eindruck einer gefahrvollen Unvorhersehbarkeit, beim zweiten Mal rufen sie durch die akzentuierten Viertel in scharfem Blech-Unisono zudem den Charakter von Wildheit hervor (T. 475ff.). rhythmische Besonderheiten Neben den bereits genannten Taktwechseln ist noch eine weitere rhythmische Raffinesse zu bemerken: Der Beginn des Stücks entspricht in den Pauken und Streichern einem Daktylus, der Tod tritt jedoch im (bereits zuvor schon gehörten) konträren Anapäst auf. Obgleich das Motiv sehr einfach und vielleicht auch absichtlich grob gestrickt wurde, vermeidet der Komponist ein Abgleiten in auffällige Plumpheit durch die oben bereits gezeigte rhythmische Verschiebung (T. 94 und 102). Mit Hemiolen erzielt er außerdem gegen Ende des Werks (T. 611, 620 und 622) eine steigernde Akzentuierung. 409  Vgl. Kleissle 2016, 13–21. 410  Vgl. Koch 1787, 453–456 (auch »Tactunterdrückung«).

Formales – Formkonzepte im Großen

121

Formkonzepte im Großen Da sich die größeren formalen Einheiten aus den kleineren zusammensetzen, erfolgt die Betrachtung der von Hausegger eingangs genannten Formteile an dieser Stelle. Zur »kurze[n] Einleitung« ist zu bemerken, dass sie in mancher Hinsicht durchaus der »höhere[n] Form« nach Marx gerecht wird, die sich von der »unterste[n]« darin abhebt, dass sie das sich daran Anschließende nicht als »vorspielartiger Eintritt im Ton und Tempo«, sondern mitunter kontrastierend vorbereitet.411 Explizit mit der Gattung Marsch befassen sich lediglich Marx und Jadassohn: Für beide ist sie hervorgegangen aus der Liedform; bei Jadassohn firmiert sie zudem als Unterkategorie der »Tanzform«, die wiederum aus zwei größeren Teilen (»Hauptsatz«412 und Trio) besteht. Die zwei- und dreiteilige Liedform ergibt sich für Marx schlicht als Abfolge zweier oder mehrerer »Sätze« beziehungsweise Perioden. Jadassohn hat die »einfache Liedform« in vier Kategorien aufgeteilt, wovon für ihn die dritte und vierte die verkleinerte Grundlage der Tanzform sind: Sie umfassen entweder zwei (in ihren Teilen kontrastierende) oder drei bis vier variable Perioden (die letzte davon sehr ähnlich der ersten, jedoch mit Abschluss auf der 1. Stufe).413 Die Tanzform exemplifiziert Jadassohn aus Menuetten mit Trio von Mozart und Beethoven: Dabei besteht der »Hauptsatz« in der Regel aus drei Teilen 411  Laut Marx (41863 (Bd. 3), 303) zeichnet sich die »höhere Form« darin aus, dass sie durch »Tempo, bisweilen auch durch Tongeschlecht und Taktart vom Hauptsatze losgelöst« erscheint. »In solcher abgesonderten Einleitung besinnt und sammelt sich der Komponist für den Hauptsatz; in der Regel hat also die Einleitung langsamere Bewegung.« Zum Charakter schreibt Marx (ebd., 304) weiter: »Allein, wenn auch der Satz der Einleitung nicht […] der Kern des ganzen Werks sein soll, so ist er doch der erste, von dem der Komponist ergriffen, der vom Komponisten in der ungebrochenen Energie des ersten Wurfes gefasst und hingestellt wird. Und dies letztere geschieht überdem in dem Vorgefühl, mit dem Bewusstsein, dass man über den Satz hinausschreiten, dass er weichen müsse der kommenden Hauptsache. Beides bedingt nun den Inhalt und die Verwendung des Einleitungssatzes. Er bildet sich in der Regel scharf und stark, sein Motiv festhaltend und nachdrücklich ausprägend, ja nicht selten schroff aus, in der ganzen Herbigkeit und Sprödigkeit des ersten Angriffs und im Gefühl des Bedürfnisses, schnell zur Vollendung und entschiednen Wirkung zu kommen.«. 412  Mit »Satz« ist hier nicht der einzelne motivisch-thematische Gedanke mit z.B. 4 oder 8 Takten, sondern die große Einheit bestehend aus mehreren Sätzen bzw. Perioden als relativ abgeschlossenes Ganzes gemeint. Vgl. Helm 1872, 58 und Weitzmann 1888, 217f. 413  Vgl. Jadassohn 1885, 29–38.

122

Dionysische Phantasie

(zur Klarheit mit a–b–a’ bezeichnet), die ihrerseits aus jeweils einer bis drei Perioden (nebst eventueller Überleitung) gebildet sein können (der b-Teil üblicherweise als kürzeste Einheit) – jeder der drei Teile besitzt also bereits Liedform.414 Das Trio beinhaltet zumeist zwei Teile (a, b), in »[anderen] Tänzen, Märschen, Charakterstücken« durchaus auch nur einen.415 Darüber hinausgehende relativ freie Ergänzungen und Vergrößerungen sind von ihm unter »erweiterte Tanzform« subsumiert. Mit gewisser Großzügigkeit kann zumindest die dreiteilige Konzeption des »Hauptsatzes« auf den Beginn des Marsches bis zum Eintritt der »sehnsuchtvollen Melodie« (T. 27–62) übertragen werden: Er wäre zu untergliedern in a): die vier viertaktigen Ratz’schen Sätze (wovon der zweite – wie oben gesehen – eine Variante des ersten und der vierte eine des dritten ist), gefolgt von b): eher zweitaktigen Einheiten über insgesamt acht Takte als kleiner Mittelteil beziehungsweise Überleitung zu a’): kurzes und charakterlich zurückhaltendes Wiederaufgreifen des Anfangs, der wiederum in den insgesamt zehn, zunehmend lyrischer werdenden Takten die sich daran anschließende »sehnsuchtvolle Melodie« vorbereitet. Ihr Abschnitt, in dem die Marsch-Elemente akustisch zunächst im Hintergrund bleiben und dem Lyrischen Raum geben, doch bei dem kleinen Höhepunkt (T. 71–76) wieder heroisch hervortreten, endet – wie oben in der Themenbesprechung bereits angemerkt – abrupt in einer leicht grotesken Variante des Marschbeginns, der in seinen acht Takten wiederum den Eintritt des Todes-Motivs vorbereitet. Dieses bildet im abwechselnden Widerstreit mit den jeweils dreitaktigen Einwürfen »siegesfrohen Trotze[s]« (ab T. 96/Z. 6) den Abschluss des ersten Marsch-Teiles vor dem Trio. Das Trio (ab T. 129) wird nahezu vollständig durch den Liebesgesang (und seine ›Umkehrung‹) bekleidet. Die Theorien zeigen, dass es einen (aus der Historie gewachsenen) vom Hauptsatz deutlich abweichenden, »in der Regel sanftern, gemässigtern Karakter« (Marx) zu besitzen habe. Vor allem durch die weit entfernte Tonart (Des-Dur gegenüber D-Dur des Marsches) und die Variabilität der Taktgruppenlängen weicht Hausegger von den konservativen Marx’schen Vorgaben ab. Weitzmann, der bei seiner Besprechung der »Tanzform« das Trio »mit interessanten rhythmischen 414  Vgl. ebd., 52–55. 415  Vgl. ebd., 57ff.

Formales – Formkonzepte im Großen

123

und modulatorischen Gegensätzen ausgestattet« wissen möchte, wird Hausegger diesbezüglich durchaus gerecht: Sie finden sich insbesondere bei Takt 161 (Vorzeichenwechsel zu C-Dur) und 201 (neuer Rhythmus und neues tonales Zentrum). Versucht man die Anwendung eines Formschemas, kann der Abschnitt bis zum Vorzeichenwechsel (T. 129–160) als a-Teil definiert werden: Nach der achttaktigen Vorstellung des Liebesthemas erscheint sein variierter Neubeginn (Solo-Violine) als viertaktiger Satz (mit zwei absteigenden und zwei aufsteigenden Takten) und anschließend dessen minimal variierte erste Hälfte in den nächsten sechs Takten als Steigerung. Der folgende Höhepunkt (ab T. 151) und seine Beruhigung bestehen wieder aus dem vorigen, leicht variierten viertaktigen Satz; die abschließenden sechs Takte werden durch die zwei Mal erscheinenden ersten beiden des Liebesgesangs (mit Triolenform) und dem zweimaligen ersten Takt (alle in Terzparallelen) gebildet. Als deutlich kürzerer b-Teil ließe sich der Beginn der Umkehrungsvariante bis zum Wiedereintritt (T. 175) als sanfter Höhepunkt der minimal variierten Originalform festlegen, der die Motivik bereits in polyphonerer Weise behandelt. Durch den kontrapunktischen, kombinierten Umgang mit den beiden Themengestalten (dem ›Original‹ und seiner ›Umkehrung‹) ab Takt 175 lässt sich nur sehr bedingt von einem a’-Teil sprechen – eher von einem c-Teil mit a- und b-Elementen, zu welchen ab Takt 183 auch ein neues, kontrapunktierendes aufsteigendes Motiv hinzutritt. Der finale, klanglich als leichter Bruch wahrzunehmende, doch motivisch fortführende Abschnitt bleibt in polyphoner Satztechnik und wäre der Gliederung zufolge ein d-Teil (T. 201–216). Ihm schließt sich zuletzt ein kurzer »Ueberleitungssatz« beziehungsweise ein »kurzes modulatorisches Zwischenspiel« mit dem Motiv des Lebens (T. 217–224) und den phrasenverschränkt verbundenen vier finalen Takten des Trios – bestehend aus dem leicht variierten Rhythmus des Liebesgesangs – an. Das Thema des wiederkehrenden Marsches wird schon nach zwei der vier viertaktigen Ratz’schen Sätze durch den Liebesgesang abgelöst, der in seinem Wettstreit mit dem ebenfalls ab dem achten Takt auftretenden Todes-Motiv bis zum Ende des ersten Teils einen formal freien Abschnitt bildet.

124

Dionysische Phantasie

Die »frei behandelte Liedform« des zweiten Teils besteht abermals aus vielen kleineren melodischen Abschnitten, die jedoch bis zu einem gewissen Punkt als »erweiterte, zusammengesetzte Liedform« nach Jadassohn strukturiert werden können. Diese unterscheidet sich formal von der Tanzform nur geringfügig: Einem »Hauptsatz« wird kein Trio, sondern ein (charakterlich weniger kontrastierender) »Zwischensatz« angefügt, der auch aus mehr als zwei Teilen bestehen darf; das Wiederaufgreifen des Hauptsatzes kann zudem stark variiert ausfallen.416 Zunächst soll die »klagende Melodie« betrachtet werden, die bis zum Eintritt der »Klänge ferner Verheißung« (als anzunehmender a-Teil des »Hauptsatzes«) in vier Varianten gebracht wird: Ebenfalls als Ratz’scher Satz bekommt sie beim zweiten Auftreten (in den Bratschen) eine äußere Erweiterung auf neun Takte durch einen Marx’schen »Anhang«417 als durchbrochene Arbeit (Oboen). Beim dritten (ab T. 316) Auftreten erfolgt im siebten Takt ihre freie Fortspinnung durch eine der nun hervortretenden Begleitstimmen (2. Geigen). Sie mündet in einem homophonen, synkopischen Steigerungstakt, an den sich zwei weitere Takte mit dem vielfach durchbrochenen Kopfmotiv als weiter steigernde Vorbereitung für das vierte Auftreten anschließen. Dieses bildet den Höhepunkt (ab T. 326/ Z. 17) und wird bereits nach vier Takten ebenfalls mit dem Kopfmotiv – nun allerdings in beruhigender Weise – wiederholend bis zum Eintritt der »fernen Verheißung« fortgeführt. Das dreitaktige Motiv der »fernen Verheißung« erklingt drei Mal, ehe sich der »Würger Tod […] heranschleicht«. Zusammen bilden sie einen kleinen Mittelteil (b-Teil), bevor die »klagende Melodie« (untermalt vom Todes-Motiv) als Höhepunkt in Takt 364 (Z. 19) erneut anhebt (a’-Teil). Unvermittelt wird sie jedoch nach zehn Takten (ab T. 374/Z. 20) vom Motiv des Lebens (nun in Dur) unterbrochen – das sodann seinerseits den Übergang zum »verklärten Gesang« bekleidet. Nach dessen achttaktiger Eröffnung (ab T. 404/Z. 22 – siehe oben – als a-Teil des »Zwischensatzes«) erklingt ein viertaktiges, variiert wiederholtes neues Motiv (b-Teil), an das sich eine bislang ebenfalls unbekannte, aus zwei Viertaktern bestehende, aufsteigende Melodie anschließt (T. 421 mit Auftakt bis 428, c-Teil), die wiederum phrasenverschränkt variiert und gesteigert 416  Vgl. ebd., 74f. 417  Vgl. Marx 51864, 32.

Formales – Formkonzepte im Großen

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den erneuten Einsatz des »verklärten Gesangs« als Höhepunkt in Takt 437 (Z. 24) – siehe oben zum a’-Teil – vorbereitet. An diesen knüpft sie anschließend in ähnlicher Gestalt noch einmal an – nun jedoch erweitert zu zwei Fünftaktern (T. 445–454, c‘-Teil). Kurz unterbrochen durch das Motiv des Todes erscheint sie zuletzt in stark variierter und enggeführter Gestalt als steigernde Vorbereitung für den »verklärten Gesang«, der jetzt in Moll auftritt und, vom Todes-Motiv untermalt, sich mit diesem im Folgenden einen abermals steigernden Wettstreit liefert (a’’). Von zahlreichen Taktwechseln durchzogen ist für diesen letzten Abschnitt des zweiten Teils keine formale Gliederung mehr erkennbar – und damit auch nicht die Möglichkeit gegeben, ihn als wiederkehrenden »Hauptsatz« zu bestimmen. Hausegger spricht für den dritten Teil des Werks zwar vom »scherzoartige[n] Satz« und den »scherzoartigen Rhythmen der Holzbläser«, doch ist hiermit nicht der sich am Menuett – und damit an der Tanzform – orientierende formale Ablauf eines Scherzos gemeint, sondern der ihm ähnliche Charakter durch die Art und Weise ›des Setzens der Töne‹. Formal dominiert wird das Geschehen vom »breit ausladenden Gesang« durch das »leidenschaftliche Gesangsthema der Streicher« und durch den Liebesgesang – also bestenfalls einer Liedform. Den a-Teil bilden die 31 Takte mit der oben bereits besprochenen Doppelperiode des (»verklärten«) Gesangsthemas; mit dem Wechsel der Vorzeichen (in die Oberquinttonart A-Dur), der Taktart und dem gleichzeitigen Beginn des Liebesgesangs schließt sich ein b-Teil an. Verglichen mit seinem ersten Auftreten im Trio des ersten Teils der Komposition (ab T. 129) entsprechen sich melodisch die ersten drei Bögen, die oben als öffnende Periode definiert wurden (hier allerdings durchbrochen mit dem aus zwei Bögen bestehenden Vordersatz in der Klarinette und dem Nachsatz in Oboe und Englischhorn – mit Abschluss in Klarinette und Flöte), aufgrund des 2/4-Taktes jetzt in doppelter Taktzahl (T. 528– 543). Die nun folgende Steigerung entspricht zunächst dem sich anschließenden Geschehen im Trio (dort ab T. 137/Z. 9) in leicht variierter Weise (einerseits motivisch, andererseits werden die Takte 147f. weggelassen), und auch der Höhepunkt erklingt an korrelierender Position (dort T. 151, hier T. 568). An ihn knüpft sich nun jedoch keine Beruhigung, sondern seine variierte Wiederholung und die weitere Steigerung mit beibehaltener Motivik über die darauffolgenden zwölf Takte (gegen Ende dominiert vom Todes-Motiv)

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Dionysische Phantasie

bis zum großen Höhepunkt in Takt 596 – der zugleich den Wechsel zurück nach D-Dur und in den 6/8-Takt vollzieht. Ein a’-Teil kann allerdings – wie schon im Trio des ersten Teils – auch hier nicht angenommen werden, da der Abschnitt einerseits nicht der letzte des dritten Teils ist und er zum anderen auch keine hervortretenden bekannten Themen oder Motive bereithält (stattdessen ist ein dreitaktiges neues, überschwängliches Motiv zu vernehmen – siehe 1. Horn T. 602/Z. 32 bis T. 604); erst ab Takt 626 tritt mit dem Kopf des Liebesgesangs in gesteigerten Terzparallelen (in Kombination mit dem Lebensmotiv) als finaler Höhepunkt wieder strukturell vordergründiges Melodiegeschehen auf, das sich in 2x4 (Vordersatz des Themas) und 4x2 (Kopf) gliedert. Die letzten elf Takte des Werks unterteilen sich in die Bewegung (mit Variante des Liebesgesang-Kopfmotivs) zum vorletzten Akkord und den fünftaktigen Schlussklang. Die bisherigen Betrachtungen machen deutlich, dass sich Hausegger zunächst durchaus an den seinerzeit geläufigen (›klassischen‹) Formschemata orientiert hat, wenngleich seine Themen und Motive dem außermusikalischen Sujet folgend von einer typischen charakterlichen Beschaffenheit mehr oder weniger stark abweichen können. Die formalen Abschnitte werden gegenüber der Theorie proportional freier behandelt, das jeweilige Schema generell zu früherem oder späterem Zeitpunkt aus dramaturgischen Gründen verlassen. Verantwortlich hierfür ist der bestimmte Umgang mit Motivik, die an jenen Stellen durch entweder schnelle, der formalen Konvention nicht mehr gerecht werdende Wechsel (erster Teil: Ende des Marsches vor Trio-Beginn; wiederkehrender Marsch; Ende des zweiten Teils) und/oder durch kontrapunktische Kombination (erster Teil: gegen Ende des Trios; Ende des dritten Teils) eine Steigerungswirkung erzielt. Harmonik tonale Stationen Wenngleich umfangreiche Alteration stattfindet, hat Hausegger das Werk an bestimmte tonale Stationen gebunden: Für Anfang und Schluss ist jeweils D-Dur vorgezeichnet. Tonartwechsel bringen insbesondere einige Themeneintritte als Beginn neuer Abschnitte mit sich:

Harmonik – tonale Spannungsverhältnisse

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Im ersten Teil motiviert das Todes-Motiv mit seiner Eintrübung in den b -Bereich des Quintenzirkels den Wechsel nach Des-Dur (ab T. 109) für das Liebesthema; dessen ›Umkehrung‹ bringt eine Auflösung aller Vorzeichen mit sich (ab T. 161) bis zum erneuten Einsatz des Marsches in D-Dur (ab T. 228); für das Wiederkehren des Liebesgesangs werden die zwei Kreuze aufgelöst (lediglich die Harfen erhalten vormaliges Des-Dur; ab T. 236/Z. 13). Die klagende Melodie eröffnet den zweiten Teil im zur Haupttonart parallelen h-Moll (ab T.  299), das vorgezeichnet bleibt bis zum Wiedereintritt des Lebensmotivs in C-Dur (ab T. 374/Z. 20, siehe auch besondere Akkorde); für den bald darauf folgenden verklärten Gesang ändert sich die Tonart nach Es-Dur (ab T. 389/Z. 21), das auch für den Wiedereintritt des Todes-Motivs bis zu dessen Ablösung durch das Motiv des Lebens (ab T. 487/Z. 26 wieder in D-Dur) Bestand hat. Im kurzen dritten Teil wird von der Haupttonart nur noch ein Mal für den Liebesgesang in die Oberquinttonart A-Dur (ab T. 528) gewechselt; nach den letzten Todes-Motiv-Einwürfen erscheint als Höhepunkt wieder finales D-Dur (ab T. 596). Bedeutendere harmonische Stationen sind außerdem – neben der genannten und traditionell wichtigen Oberdominanttonart A-Dur (dessen Grundton den ersten Ton des Werks angibt und dort in den Liegenoten der Trompeten ein wenig den Charakter eines Einstimmens erhält) – das dem Liebesgesang vorausgehende dominantische As-Dur und das einerseits zum verklärten Gesang dominantische und andererseits zur Haupttonart mediantische B-Dur (insbesondere als Eröffnungsakkord und als Teil des Marschthemas). tonale Spannungsverhältnisse Während die Spannungsverhältnisse der genannten tonalen Stationen aufgrund der Gesamtlänge des Stücks und ihrer zeitlichen Abstände für den Hörer nur geringfügig ins Gewicht fallen, treten sie für die Größenordnung der Themen- und Motivbildungen beziehungsweise der Taktgruppierungen umso deutlicher hervor. Dies kann einerseits mit verschiedenen tonalen Plateaus erfolgen, wie beispielsweise von Takt 544 (Z.  29) bis 596: Zuvor hat in seinen ersten acht Takten das Liebesthema bereits das tonale Zentrum a (als Plateau 1)

128

Dionysische Phantasie

gefestigt, das nun innerhalb des nächsten Achttakters gegen Ende wieder verlassen wird (die eigentliche Subdominante D-Dur tritt als neuer doppeldominantischer Septakkord auf). Die folgende Gruppe bleibt zunächst über dem trugschlüssig erreichten Basston es (erst als übermäßiger Dreiklang, dann als Terz von c-Moll – dem Plateau 2), bevor dieser chromatisch abwärtsschreitend für den nächsten, nun als viertaktige Einheit gesteigerten Melodiebogen grundtönig dominantisches C-Dur etabliert (Plateau 3); dessen kurze Auflösung nach F-Dur beginnt den folgenden Viertakter (melodisch jetzt das auf 2x2 Takte verkürzte Kopfmotiv des Liebesgesangs) als das vorläufige Ende der Steigerung. Den kurzzeitig erreichten Höhepunkt (ab T. 568) bilden umfangreiche 2x8 Takte über dominantischem e (Plateau 4), das abermals erst gegen Ende verlassen wird. Sodann folgen mit ebenfalls dominantischem B-Dur über vier Takte und einem Dv für a (mit TodesMotiv) für acht Takte die letzten Einheiten und Plateaus jener motivischharmonischen Steigerung. Plateau 3 und 4 stehen somit in einem mediantischen, 4 und 5 in einem tritonischen Verhältnis. Andererseits können Spannungsverhältnisse auch mit flächig gehaltener Harmonik und orgelpunktartigem Basston auftreten, deren signifikante Wechsel auf Anfang und Ende einer Taktgruppe gesetzt werden – wie zum Beispiel von Takt 404 (Z. 22) bis Takt 420 (Z. 23): Der viertaktige Vordersatz des »verklärten Gesangs« bleibt über grundtönigem Es-Dur; mit Ende des Nachsatzes moduliert das tonale Zentrum nach G-Dur (T. 411). Die nächsten vier Takte mit dem ›neuen Motiv‹ (siehe Formkonzepte im Großen) sind in dominantischem Cis-Dur (mit Basston gis) gehalten, das sich für die darauffolgenden in ebenfalls dominantisches D-Dur (mit Quinte im Bass) bewegt (T. 416). Somit stehen Beginn und Ende des »verklärten Gesangs« in mediantischem Verhältnis (als modulierende Periode), der nächste Viertakter im tritonischen und der letzte im auffälligen Sekundabstand. Spannungs- beziehungsweise Kontrastverhältnisse mit polyphoner Satztechnik wurden bereits anhand der »freudig sehnsuchtvollen Melodie« gezeigt. Sekundverbindungen Wie bereits in den Voraussetzungen der Analyse besprochen, müssen besondere Umstände eintreten, damit eine Sekundverbindung als Auffälligkeit

Harmonik – Mediantik

129

bemerkt werden kann. Im Zuge der zunehmenden Alteration und Auflösung klarer beziehungsweise der Vermeidung nahverwandter tonaler Akkordabfolgen ändert sich in der Musik jener Zeit das mengenmäßige Verhältnis von ›normativ‹ und ›besonders‹. Im Folgenden sollen zumindest ein paar herausstechende Beispiele aufgezeigt werden. Das erste befindet sich direkt vor der Kadenz zum Marschbeginn mit dem taktweisen zweimaligen Wechsel von A7 zu B7 (T. 21–24), das zweite am Ende des Trios (mit Einsatz des Lebensmotivs), bemerkenswerterweise umgekehrt mit B7 zu A7, dem ein schwächeres B7 zu As vorausgeht (T. 218– 221). Durch lineare Durchgänge deutlich weniger auffallend zeigt sich das dritte Beispiel nur wenige Takte später – kurz vor Ablösung des Marsches durch das Liebesthema – mit halbtaktigem Wechsel von B-Heses-As (T. 234f.). Im Zusammenhang einer Verbindung dreier Abschnittsereignisse tritt die Sekundabfolge As-A7 (T. 427–429) auf: einerseits zur harmonischen Hervorhebung des letzten Tons der aufsteigenden Melodie (als abschließendem Hochton), andererseits mit ihrem zweiten Akkord zugleich als Harmonie des nächsten Abschnitts – die Abfolge könnte somit als »harmonische Phrasenverschränkung« bezeichnet werden. Zwei auffällige, in nahezu gleicher Weise eingesetzte Wechsel bilden die kadenziellen Modulationen mit einmal tonikalem Es-Dur, das zu einem Vertreter der Mollsubdominante umgedeutet wird (nach Riemann als ihre Parallele mit 0Sp bezeichnet),418 weil anschließend dominantisches D7 und neues tonikales G-Dur erklingt (T. 409–411 – siehe auch tonale Spannungsverhältnisse). Ebenso geschieht die Umdeutung mit D-Dur (als sP nach heutiger Lesart), das zu dominantischem Cis7 für tonikales Fis-Dur geführt wird (T.  503–506). In diesen letzten beiden Beispielen und den ersten zwei zum Marschthema ergeben sich die Klänge also aus dem Tonmaterial von Molldur (erniedrigte 6. Stufe) über der zu erreichenden (neuen) Tonika. Mediantik Offensichtlich vertritt Hausegger nicht die wenige Jahre später publizierte Auffassung August Halms, dass Mediantik 2. Grades »fast zum Ueberdruß ausgebeutet« sei, da er sie – nicht nur – in der Dionysischen Phantasie sehr  Vgl. Riemann 21893, VII und ab 80. Heute üblicherweise als sP dargestellt, vgl. Kubicek 2009, 84. 418

130

Dionysische Phantasie

häufig als auffälliges Merkmal an wichtigeren Momenten des Themen- und Motiv-Geschehens einsetzt: Neben den bereits bei der »freudig sehnsuchtvollen Melodie« genannten Abfolgen (siehe Themen und Motive) steht an erster Stelle das ebenfalls besprochene Marschthema (T. 27f.), das sich zum einen durch den zweimaligen Wechsel von D-Dur zu B-Dur (welches oben bereits als weitere hervortretende tonale Station im Werk genannt wurde), zum anderen durch den Schluss des ersten Marx’schen Satzes und Lobe’schen Modells auf D-Dur und den Beginn des zweiten in B-Dur auszeichnet. Innerhalb des Liebesgesangs ist als ein Höhepunkt die Abfolge A-Dur nach Des-Dur in Quintstellung (T. 149f.) zu hören, bei dem im Nachhinein durch die Auflösung zu dominantischem As-Dur einerseits die Wirkung etwas abgeschwächt, zum anderen das A-Dur als Vertreter einer Unterdominante beziehungsweise Doppeldominante verstanden wird. Ebenfalls mit Mediantik hervorgehoben erscheint der Beginn des anschließenden ›Umkehrungsabschnitts‹ (mit Auflösung aller Vorzeichen, T. 160f. mit Des-Dur zu F-Dur). Durch den dünnen Satz und den folgenden Septakkord ist der Auftritt der »fernen Verheißung« mit h-Moll zu G7, G7 zu E7 und die anschließende »klagenden Melodie« (beziehungsweise Kopf des Liebesgesangs) mit E7 zu As-Dur (T. 335–342 – siehe hierzu auch übermäßige Sextakkorde) dem Sujet entsprechend sanfter gehalten.419 Ob von Hausegger als Entsprechung beabsichtigt oder nicht: Die gegenüber dem Marschthema umgekehrte Abfolge bekleidet mit B7 zu D-Dur das letzte wilde Aufbäumen des Todes-Motivs vor Beginn des dritten Teils (T. 485–487) – dieses bedarf jedoch noch einer eingehenderen Untersuchung (siehe übermäßige Sextakkorde). In dessen Überschwang wirkt das vorletzte Auftreten innerhalb des »leidenschaftlichen« Gesangsthemas weniger auffällig (T. 517f. mit A–F7). Harmonisch komplexer, jedoch von ganz besonderem Effekt ist die Schlusskadenz des Werks: Im Bass mit den beiden Marschthema-Tönen b und d als Pen-Ultima und Ultima und der Mittelstimme mit d klar mediantisch gehalten, erzeugt der erste Akkord in der Oberstimme mit der chromatischen Bewegung e-eisfis eine starke Spannung, die Hausegger explizit durch die Schreibweise (den für Blechbläser sehr selten notierten eis statt f ) aufrecht erhält, anstatt sie in einen in sich ruhenden B-Dur-Dreiklang übergehen zu lassen (T. 645–648). 419  Nach Capellen (1902, 73f.) definieren sich die beiden ersten Wechsel schlicht als »nahverwandt«, der dritte als »enharmonisch nahverwandt«.

Harmonik – Tritonusverbindungen

131

Mediantik 3. Grades findet sich lediglich an einer Stelle mit einer Durchgangsverbindung zwischen den entsprechenden beiden Akkorden: gleich am Ende der (noch separat zu besprechenden) ersten linearen Eröffnung in der Einleitung als e7 zu Cis-Dur (T. 6).420 Tritonusverbindungen Die erste harmonische Tritonusabfolge ist durch eine Pause getrennt: Sie verbindet Ende der ersten und Anfang der zweiten linearen Eröffnung als CisDur zu dominantischem G7 (T. 6f., mit akkordfremdem fis als Bassklausel zum vorangegangenen Cis in den Trompeten). Gleich im Anschluss kommt mit Gis-Dur (in Quintstellung) und D7 die nächste Verbindung – durch den chromatischen Bassgang und die enharmonische Umdeutung der Terz des ersten zur Septime des zweiten Akkords jedoch weniger kontrastierend.421 Als Verbindung zweier Dominantseptakkorde mit gemeinsamem Ton von ebenfalls schwächerer Wirkung tritt die Verbindung E7 zu B7 mit Beginn der kurzen Überleitung am Ende des Trios (T. 216f.) auf. Die nächste Erscheinung findet im Zuge einer kadenziellen Wendung als angereicherter neapolitanischer »Stammaccord« statt, der sich zur ebenfalls grundtönigen Dominante bewegt: beachtlicherweise an genau jener Stelle, wo Hausegger das Ende des zweiten Auftretens der »klagenden Melodie« um einen Takt verlängert hat (Gis7/As7 zu D7 und anschließend g-Moll, T. 314f.). Kaum bemerkbar aufgrund des polyphonen Geschehens und der Akkordstrukturen (dominantische ›Quartschichtung‹ mit a-d-g422 zu Es-Dur Sextakkord) zeigt sich die vorletzte Abfolge. Deutlicher zu vernehmen, aber dennoch durch einen Verbindungston vermittelt erklingt der Übergang zwischen zwei Viertakt-Gruppen (G-Dur zu Cis7, T. 411f.).

420  Nach Capellen (ebd.) als »chromatisch fernverwandt« zu klassifizieren.

 Beide Wechsel (Cis–G7 und Gis–D7) sind nach Capellen (ebd.) durch die Leittönigkeit (cis-d und gis-a) als »enharmonisch nahverwandt« einzustufen. 422  Diese Quartschichtung folgt jedoch nicht Schönbergs Definition eines Quartenakkords, sondern Hausegger spielt hier mit der Stimmführung eines Quartsextakkords über a bzw. eines D-Dur-Dreiklangs in Quintstellung (siehe auch den Hinweis zu Tapperts »Degradirten Akkorden«). 421

Dionysische Phantasie

132

Sequenzbildung Die in den Lehrbüchern uneinheitlich abgehandelte Sequenzbildung, die heute – anders als bei Lobe – als Versetzen einer Harmonieabfolge definiert wird, findet auch in besonderer, sich ›moderner‹ Stilmittel bedienender Weise Eingang in die Dionysische Phantasie. Klar erkennbar zeigt sie sich allerdings nur an vier Stellen: zwei Mal als steigender Quintfall (T. 303f. und 397–399) und zwei Mal als fallende Quintstiege (T. 35f./2 und wiederholt T. 39f.). Der erste, aus zwei Gliedern bestehende steigende Quintfall ist Teil der »klagenden Melodie« – als deren steigernde Fortspinnung für die Ausbildung des Ratz’schen Satzes (mit einem dritten Sequenzglied als steigender Parallelismus,423 der wiederum den Übergang in die Kadenz vollzieht – siehe auch Dv und Hv): Der zweite bereitet mit einer das Metrum leicht verschleiernden Rhythmik den Einsatz eines bislang nicht genannten, nur hier auftretenden Motivs der Oboe (dann imitatorisch enggeführt einen Ton höher in Klarinette und abschließend in Flöte und 1. Geigen) vor,424 das wiederum im Beginn des »verklärten Gesangs« mündet. Während die beiden steigenden Quintfälle durch ihre harmonische Klarheit und Grundtönigkeit deutlich zu erkennen sind und in ähnlicher Form425 bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts auftreten könnten, zeichnet Hausegger bei den fallenden Quintstiegen als Teil des Marschthemas durch die Verwendung von Chromatik und übermäßigen Dreiklängen ein avantgardistisches Klangbild:

5

4 4

fallender Quintstieg (T. 35f)

Abbildung 28: fallender Quintstieg (T. 35f.)

4 4 ff

sf

A

eÜ5

sf

4 4 G

d[Ü5]

423  Begriff von Carl Dahlhaus. Vgl. Dahlhaus 2003, ab 53 und 99.

Formal kann das sechstaktige Motiv (ohne seine enggeführten Verschränkungen mit 2+2+4 Takten) als Ratz’scher Satz definiert werden. 425  Von den alterierten Durchgangsachteln bei T. 397–399 einmal abgesehen. 424

Takt 3-6

D: 6 ab Es: 5 e: h:

4 ab 4 auf 4 ab

3

3 6 ab

5

2

7

4 4

Harmonik – sonstige Abfolgen

133

Auffällig sequenziell gehalten ist die ›expressionistische‹ Steigerung vor dem ersten Auftreten des Todes-Motivs (T. 85–87), wo das lineare Geschehen eines Taktes (überwiegend) halbtönig aufwärts verschoben wird. sonstige Abfolgen Gleich zu Beginn der Komposition zeigt Hausegger, wie die österreichische Ausbildungstradition und ›moderne‹ Vorlieben zusammenspielen. Im ersten Abschnitt über Orgelpunkten der Dominant- und Tonika-Grundtöne (a, dann d) gehen die Außenstimmen linear auseinander – der Bass diatonisch (D-Molldur von b bis cis – mit Wiederholen von g), die Oberstimme zunächst halbtönig, dann mit motivisch diminuierter Bewegung am Ende (insgesamt von d bis cis). Die zusammen mit den Mittelstimmen daraus gebildeten Akkorde sind B–H7–A7–übermäßiger Quintsextakkord (Cis)–h5– e7–(d)–Cis. Eine lineare Bassbewegung mit einem Akkord pro Ton weist prinzipiell stark auf die Generalbassausbildung hin und damit auf die aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammende italienische Partimento-Tradition mit ihren schematischen regole, unter anderem der regola dell’ ottava (Oktavregel): einer passenden Harmonie über jedem Basston einer diatonischen Skala hinsichtlich seines weiteren Auf- oder Abgehens. Unter den Theorieautoren findet sich die Oktavregel lediglich noch bei Albrechtsberger und bei Salzmann.426 Für die bei Hausegger harmonisch zunächst zufällig wirkenden Abfolgen können nun für einen Basston mehrere Oktavregelstufen mit jeweils verschiedenen tonalen Zentren angenommen werden. Zunächst mit d als Grundton (entsprechend der D-Molldur-Skala) wäre der Durdreiklang über b eine Variante der 6. Molldur-Stufe (statt des Sextakkords), deren reguläre harmonisch Fortführung durch die Chromatik der Oberstimme übergangen wird. Der dominantische Sekundakkord A7 ist die reguläre 4. Stufe, die für den nächsten Akkord zum übermäßigen Quintsextakkord geweitet wird, der Quartsextakkord über fis entspräche somit einer Variante der 3. Stufe (statt Sextakkord), der grundtönige Septakkord über e einer Variante der 2. Stufe (anstelle des Sext- oder Terzquartakkords) und der Grundakkord über cis einer der 7. (anstelle des Sextakkords); der vorletzte Basston 426  Vgl. Albrechtsberger in: Seyfried 1837 (Bd. 1), 58ff. u. 1837 (Bd. 2), 11f. sowie Salzmann 1842, 117ff. Es ist bemerkenswert, dass Salzmann die von ihm gezeigte Harmonisierung den »neueren Tonsetzern« zuschreibt (ebd., 116), obwohl sie in exakt dieser Form auch bereits im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts praktiziert wurde (vgl. z.B. Dandrieu (o.J.)).

4 4

Dionysische Phantasie

134 fallender Quintstieg (T. 35f)

(d) wird zwar von der Oberstimme für eine 1. Stufe passend mit der Quinte a ergänzt, doch erscheinen sie auf unbetonter Taktzeit, währenddessen die 4 4 Mittelstimmen aus dem vorigen Akkord liegenbleiben – die Außenstimmen sf sf wirkenffhier also eher als Durchgang. Beschränkt man sich hinsichtlich an4 derer4tonaler Zentren auf den Außenstimmensatz, können die ersten beiden Töne gedanklich auch von [Ü5] einer 5. zu einer erhöhten 4. Stufe (Zentrum es A G eÜ5 d mit enharmonischer Verwechslung), die des zweiten und dritten Klangs von 4 einer 4. zu einer 3. Stufe (Zentrum e) gehen und g-eis zu fis-fis als 6. zu einer 4 5. Stufe (bezogen auf h).

Abbildung Takt 3-6 29: Takt 3–6 D: 6 ab Es: 5 e: h:

4 ab 4 auf 4 ab

3

3 6 ab

2

7

5

4 4 p cresc.

ff

4 4 B

H7

A7

ü6

g5 (Cis)

H5

e7

Cis

In der zweiten Eröffnung bleiben die Linearitätsverhältnisse der Außenstim4 4 men nahezu gleich; doch schreitet nun der Bass (ohne Tonwiederholung) nicht mehr das Tonmaterial einer diatonischen Skala ab. Somit emanzipieTakt 7-10 auch die Akkordabfolgen stärker von gedachten tonalen Oktavren sich 3 verschärfen die Trompeten durch ihre ebenfalls linear 4 abZudem c: regel-Zentren. g: 4 auf 5 6 ab aufsteigende Beteiligung am Geschehen (anstelle eines echten Orgelpunkts/ mp 4 Liegetons) die Klänge mit zusätzlichen Dissonanzen – entsprechend der Be4 Trp. wegungsrichtung mit irregulärer Auflösung beziehungsweise Fortführung p cresc. nach den Maßstäben älterer Tonsatzregeln. Die erstenffbeiden Akkorde kön4 nen (ohne Trompeten) noch als 4. Stufe (G7) zur Variante einer 3. (Quart4 sextakkord Güber es) gehört werden (Zentrum c). Diese wiederum wäre als F7 Gis5/As5 D7 (Dv) h[Ü5] a7 7 7 ) denkbar, auf die Variante einer 6. mit ihrer Bewegung zu einer 5. (D-Dur (Fis) v eine erhöhte 4. Stufe (D ) folgt (Zentrum g). Harmonisch ›modern‹ zu werten sind neben der oben genannten Tritonusverbindung auch die drei

4 auf 4 ab

Es: 5 e: h:

3

6 ab

5

4 4 Harmonik – besondere Akkorde

p cresc.

ff

135

4 4

7 Sekundabfolgen am Ende (a7–G–F – Letzteres als Dominante für den ü6 g5 e7 B H7 A7 H5 Cis strengen ersten Einsatz des Motivs des Lebens in b-Moll) und der dazwi(Cis) schen auftretende, sich im Bass ganztönig bewegende Wechsel eines Dv zu einem Ü5. Bemerkenswert für die Bassbewegung zeigt sich die Verknüpfung 4 4 von Halb- und Ganztonleiter.

Abbildung Takt 7-10 30: Takt 7–10 c: g:

3 6 ab

4 ab

mp

5

4 auf

4 4 Trp. p cresc.

ff

4 4 G7

Gis5/As5 D7

(Dv) (Fis)

h[Ü5]

a7

F7

Wenn auch von Marx seinerzeit sicherlich nicht in diesem Extrem intendiert, beinhaltet insbesondere die zweite lineare Eröffnung mit ihrer scharfen Dissonanzbildung, den schroffen Klangfolgen und der tonalen Freiheiten die für einen »Einleitungssatz« geforderte wirkungsvolle Umsetzung von »Herbigkeit und Sprödigkeit«. Orgelpunkte Von den vielen Orgelpunkten, die im Werk auftreten, kennzeichnen die auffälligsten durch ihre dominantische oder tonikale Funktion zumeist wichtige groß-tonale Verhältnisse und nicht selten die groß-formalen Zäsuren. Kürzere und zugleich weniger gewichtige Orgelpunkte dienen folgerichtig überwiegend der Unterstützung von kleineren tonalen Spannungsverhältnissen. Ihre harmonischen Fortschreitungen sind entsprechend freier gehalten, wenn auch nicht mit Kontrasten versehen. besondere Akkorde Ü5 Bemerkenswert häufig trifft man in der Dionysischen Phantasie in unterschiedlichster Verwendung den übermäßigen Dreiklang an: Sei es als flüchtiges Durchgangsereignis (zum Beispiel T. 53) oder als kürzerer Vorhalt

136

Dionysische Phantasie

(zum Beispiel im offenen Ende in der ersten Vorstellung des Lebensmotivs in T. 12), als bemerkbarer Eigenklang innerhalb eines kleineren musikalischen Gedankens (wie beispielsweise in der zweiten linearen Eröffnung oder am Ende des in der Einleitung zum zweiten Mal auftretenden Lebensmotivs in T. 14, oder auch innerhalb des Marschthemas im zweiten Viertakter in T. 31f.) oder als größeres Klangereignis: zum Beispiel als enharmonisches Modulationsmittel beim schlagartigen Eintritt des Lebensmotivs für den Übergang aus dem D-Dur-Bereich (mit Auflösung der Vorzeichen) zum »verklärten Gesang« in Es-Dur (T. 374f./Z. 20) oder als beruhigendes, aber dennoch spannungsgeladenes Auffangen jenes Höhepunkts (T. 379–385) oder als kleinerer abschließender Höhepunkt vor Beginn des Liebesgesangs im dritten Teil (T. 524–527). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass er – sofern kein flüchtiges, kaum bemerkbares Durchgangsereignis – zumeist das Ende eines kleineren oder größeren Abschnitts bildet. Dv und Hv Wenn auch der Dv sehr häufig zu hören ist, verwendet ihn Hausegger weniger als »Liebeserklärung«, denn vielmehr in ›klassischer‹ (Marx’scher) Ästhetik zur Untermalung des Unheilvollen: Als hervortretendes Klangereignis taucht er fast immer als Bestandteil des Todes-Motivs auf – hierbei öfter in Verbindung mit dem halbverminderten Septakkord als seiner Vorhaltsbildung (zum Beispiel T. 248–251, T. 274f. – an dieser Stelle mit dem Dv als Septnonakkord über dem Basston) oder dem Hv gegenübergestellt (T. 347–349 – das weitere »Heranschleichen« des Todes-Motivs im Anschluss ist mit einem Hv gebildet). Zwei bemerkenswerte Erscheinungen des halbverminderten Septakkords zeigen Takt 104, wo er als zweiter Einwurf des »siegesfrohen Trotz’« als expressiver Vorhaltsakkord fungiert, und Takt 305, wo er die durch Sequenz erzeugte Steigerung am Ende der »klagenden Melodie« als spannungsgeladener Höhepunkt auffängt und in seiner subdominantischen Funktion als 2. Stufe das Thema in die abschließende Kadenz führt. übermäßige Sextakkorde Da auch übermäßige Sextakkorde (inklusive der Varianten mit verminderter Terz) in beachtlicher Häufigkeit auftreten, seien flüchtige Durchgangsoder Wechselnotenerscheinungen innerhalb einer Phrase, wie beispielsweise in Takt 58, 67 oder 557f., nur am Rande erwähnt.

Harmonik – besondere Akkorde

137

Das erste Auftreten bildet die Verbindung zweier Viertakter innerhalb des Marschthemas (T.  54f.): Bemerkenswerterweise als Dominantseptakkord notiert (Es7), bedeutet die Fortführung (zu G5) eine enharmonische Umdeutung der kleinen Septime zur übermäßigen Sext – der Akkord entspräche somit einer German Sixth. Aufgrund der ausbleibenden Auflösung des Quartsextakkords könnte nach der neueren Forschung Kategorie 1 angenommen werden, wenngleich die tonalen Verhältnisse dieser Stelle zu variabel sind, um von einer echten erreichten Tonika zu sprechen. Eher trifft dies auf den Übergang zur »freudig sehnsuchtvollen Melodie« zu (T. 63f./Z. 4 mit ebenfalls übermäßigem Quintsext-Akkord zu H5) – wenn auch durch das vorausgehende harmonische Pendel (Cis5–fis–Cis5) weniger hervortretend. Die erneute Verbindung zweier viertaktiger Gruppen wird bei Takt 70f. erstmals in einer Variante mit verminderter Terz vollzogen ( fisis-a-cis-e zu Cis5). Die nächsten beiden Erscheinungen verknüpfen abermals kleinere Abschnitte miteinander in Form der jeweils gesteigerten Neuansätze des Liebesthemas: beim ersten Mal (T. 144f.) als ›frühromantisch‹ gehaltener Bass-Durchgang aus einem dominantischen Terzquartakkord (mit der Tiefalteration des Basstons dementsprechend als French Sixth zu definieren), 6 beim zweiten Mal (T. 149–151) etwas komplexer als Wechselnote im Bass, die die Grundlage für den darüber gebildeten Akkord mit verminderter Terz gibt (eigentlich wie T. 70f, hier jedoch als A7, der enharmonisch als 4 Umkehrung einer German Sixth im Sinne eines verminderten Terz-Ak4 kords nach Des5 geführt wird). T. 70f 144f144f., Takt 149–151 Abbildung 31: Takt 70f.,T.Takt

T. 149-151

4 4 4 4 fisisV3

Cis5

7

H5

Ü6

f 43 (H)

6

E4

A

A7 Des5 [fisisV3]

Zu Beginn des polyphoneren ›Umkehrungs‹-Abschnitts ergibt sich eine French Sixth als kurzes Durchgangsereignis aus der Abfolge eines Ü5, der sich im Bass halbtönig abwärts zu einem Hv als Terzquartakkord bewegt T. 82-84 (T. 166). Der auf die French Sixth folgende Quartsextakkord befindet sich

ff

138

Dionysische Phantasie

auf einer 5. Dur-Stufe und wird nun erstmals auch als Dominante behandelt. Somit kommt dem vorangehenden übermäßigen Terzquartakkord die Funktion einer Doppeldominante (»Unterdominantfunction« nach Louis/ Thuille) zu. Auch die nächsten beiden Erscheinungen haben eine halbschlüssige Wirkung und hängen, da sie denselben Basston ansteuern, dramaturgisch eng miteinander zusammen: in der Beruhigung nach dem dramatischen Auftreten des Todes-Motivs bilden sie Kadenzen in die Dominante des nachfolgenden zweiten Teils (beginnend in h-Moll) – einmal als French (T. 283) und einmal als umgekehrte German Sixth mit verminderter Terz (T. 293f.). Als Wechselakkorde im Moll-Kontext fungieren die trotz der Begleitdiminutionen als French Sixth erkennbaren Klänge innerhalb der »klagenden Melodie«. Hier zeigt sich die funktionale Ambivalenz des übermäßigen Sextakkords am deutlichsten: Zunächst erscheint er ›modern‹ als Dominante für h-Moll in Quintstellung (Kategorie 1), die sich jedoch beim zweiten Auftreten durch das nachfolgende Fis-Dur, das später in h-Moll-Grundstellung abschließt, als Doppeldominante herausstellt (T. 326/Z. 17 bis T. 330) – und die vermeintlich tonikale Quintstellung im Nachhinein doch als dominantischen Quartsextakkord bestimmt. Kaum zu bemerken, weil lediglich als zweimalige Pizzicati und Paukenschläge vernehmbar, ist der den verminderten Terz-Akkord bildende Ton d unter einem E-Dur-Dreiklang, der die »Klänge ferner Verheißung« mit dem Einsatz der Solo-Violine über As5 verbindet (T. 341f; siehe auch Mediantik) – somit in gleicher Struktur wie Takt 150f. und daher enharmonisch als Fes (mit d) zu As5 leichter verständlich. In Kategorie 1 als letzter Akkord vor dem Abschnittswechsel fällt die durch Durchgangschromatik erzeugte German Sixth, die sich aus einem dominantischen Quintsextakkord durch Bewegung beider Außenstimmen ergibt (T. 388f.). Die nächste Stelle ist durch das Unisono des wilden Todes-Motivs getrennt (T. 485–490): Der erste, ebenfalls als Durdreiklang mit Septime im Bass erscheinende B-Dur-Akkord führt nach dem Unisono in einen Quartsextakkord über a. Das daraus erstehende D-Dur wurde oben bereits als Mediantik 2. Grades klassifiziert, doch handelt es sich genau genommen um eine 5.  Stufe als dominantischer Vorhaltsakkord, der als spannungs-

Harmonik – besondere Akkorde

139

aufbauender Übergang zum dritten Teil der Phantasie entsprechend grundtönig mit Auflösung der Vorhalte behandelt wird – dem enharmonisch umgedeuteten Akkord mit verminderter Terz (eigentlich gis- statt as-b-d-f ) kommt somit ebenfalls »Unterdominantfunction« zu. Vorbildlich nach der Herleitung Siegfried Wilhelm Dehns zeigt sich das vorletzte Auftreten innerhalb des besprochenen Plateau-Phänomens (T. 558–563), wo abermals aus der Tiefalteration des Basstons als Quinte eines D7 (d-f-g-h zu des-f-g-h) eine French Sixth hervorgeht, die sich mit Beginn des nächsten kleinen Viertakters in einen Vorhaltsquartsextakkord weiterbewegt – mit anschließender Auflösung und zumindest kurz folgender Tonika die offensichtlichste doppeldominantische Erscheinung bislang. Das größere harmonische Plateau über e (beginnend als Quartsextakkord) wird abermals mit einem verminderten Terz-Akkord (als Umkehrung einer German Sixth) über einer Wechselnote im Bass erreicht (T. 566–568 mit F-Dur, dessen Bass sich über e zu dis bewegt). Der letzte übermäßige Sextakkord – in Form einer French Sixth – erhält zumindest hinsichtlich der Taktanzahl den größten Raum. Von Takt 612–615 tritt er noch einmal als Doppeldominante zur Vorbereitung des letzten Abschnitts auf, in welchem das mit Terzverdopplung gebrachte Liebesthema das Werk beschließen wird. Bemerkenswerterweise ist nach der French Sixth über dem erreichten Dominantgrundton erneut – im Tempo nun etwas schneller – harmonisch der Kopf des Marschthemas zu vernehmen (T. 615–618). Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass Hausegger den Akkord in seinen unterschiedlichen Varianten für zweierlei Arten der Abschnittsbildung einsetzt: Einmal in der Funktion einer der ›klassischen/frühromantischen‹ Verwendung folgenden »Unterdominante« (Doppeldominante) als vorletztes Ereignis, etwas häufiger jedoch in ›moderner‹ Handhabung als eine Dominante (mit Fortgang in eine Dur-Quintstellung) als letztes (Kategorie 1) Abschnittsereignis – sozusagen als Ellipse durch »harmonische Phrasenverschränkung«. Anhand linearer Stimmführungsverhältnisse und aufwendigerer Harmonik werden die Formen mit übermäßiger Sexte jedoch versteckter eingesetzt als im ›klassischen‹ und ›frühromantischen‹ Gebrauch üblich. Für eine größere klangliche Fläche verwendet Hausegger

4 4 140

T. 70f

T. 144f

Dionysische Phantasie

T. 149-151

lieber44 den weniger hervorstechenden Akkord mit verminderter Terz (in ebenjener Stellung beziehungsweise enharmonisch als D7). 4 Lediglich ein Mal weicht der Akkord gänzlich von der bisher gesehenen 4 Handhabung ab: In Takt 837 verwendet Hausegger eine French Sixth (und Ü6 6 A7 E4 A fisisV3 Cis5 Des5 H5 f 43 weitere bekannte Akkorde) als(H) kurzen Moment eines beinahe [fisisV3] ›expressionistischen‹, für sich stehenden schroffen Klangereignisses. Dramaturgisch befindet sich diese Stelle kurz vor dem ersten Eintritt des Todes-Motivs – in jenem Takt, an dem die »freudig sehnsuchtvolle Melodie« unvermittelt abbricht und noch einmal – jetzt groteske – Marschanklänge auftreten. T. 82-84 Abbildung 32: Takt 82–84

ff

Ü6 4 3

es

sf

sonstige alterierte Akkorde Innerhalb des insgesamt eher ›hoch-romantisch‹ gehaltenen Liebesmotiv-Teils (Trio) finden sich auch entsprechende Akkorde, wie zum Beispiel der im chromatischen Durchgang erreichte Dominantsept mit hochalterierT. 152-154 ter Quinte (T. 127 und 136; Kategorie 1 nach Tappert) oder mit hochalterierter Quarte und hochalterierter Sekunde als Vorhaltsbildungen (T. 146). sehr ausdrucksvoll Das zweite Ansetzen der »klagenden Melodie« wird trugschlüssig mit dem Ende des ersten phrasenverschränkt verbunden (T. 306f.). Dabei zeichnet sich mf der erste Akkord durch expressive Vorhalte aus: als Chopin-Dominante in Moll mit Quartvorhalt ( fis-h-e-d), der sich allerdings über die oben - 7 9 9 %9 8 §8 bereits gefundene hochalterierte als ›moderne‹ Cambiata (mit 7 6 R 5 6 Sekunde 5 7 As 4 As 4 - - 3 427 Mordente) in die Terz bewegt (gisis zu ais). Der eigentlich als Auflösung fungierende zweite Akkord erscheint als übermäßiger Dreiklang (g-h-dis), dessen hochalterierte Quinte wiederum den unteren Vorhalt für die DurTerz des nachfolgenden C-Dur-Dreiklangs bildet. 427  Vgl. z.B. Heinichen (1728), 533–539.

Harmonik – Ganztonskala

141

Erwähnt sei an dieser Stelle auch die Abfolge eines Dv in Terzquartstellung (g-b-cis-e) zu einem harmonisch nicht quintfällig erreichten D7 in Quintstellung ( f-as-b-d anstelle des eigentlich zu erwartenden D-Dur/-Moll) über einen ganztaktigen chromatischen Durchgangston im Bass ( fis) für eine unerwartet aufhellende Wirkung. Die bereits oben angesprochene, ›expressionistisch‹ anmutende Vorbereitung des Todes-Motivs beinhaltet unter anderen mit e-ges-b-c in T. 83 (und im Folgetakt enharmonisch umgedeutet) einen Klang, der sich in Terzschichtung zu Tapperts Kategorie 2 zählen ließe und den Akkorden der Ganztonleiter zugehörig ist. Abschließend sei noch eine in den Theorien nicht besprochene, bemerkenswerte enharmonische Auflösung und Umdeutung gezeigt: Das jeweils auf einen Hv im tiefen b -Bereich des Quintenzirkels hinschleichende TodesMotiv (mit (as)-ces-es-f ) wird durch Chromatik in zwei Stimmen (es zu d und f zu e) in ein scheinbar helles E7 (mit (gis)-h-d-e) umgedeutet – durch seine harmonische Fortsetzung (Dv mit b-des-e-g) jedoch als weitere Verdunkelung (eigentlich Fes7) empfunden (T. 356–360). Ganztonskala Wie bereits erwähnt, erklingt ein Ausschnitt der Ganztonleiter bereits während der zweiten Eröffnung der Einleitung im Bass mit wechselnden Akkorden (T. 9f.). In der Oberstimme über einem Akkord (Ü5) finden sich ebenfalls fünf Ganztöne für eine Variante des Lebensmotivs (T. 382f.). Als wirklich eigenständiges, möglicherweise ›impressionistisch‹ kolorierendes Moment428 taucht sie jedoch (noch) nicht auf.

  Zur Impressionismus-Definition heißt es bei Ernst Kurth (³1923, 391f.): »In der impressionistischen Musik liegt die Analogie zur Malerei in der Kombination von Klangfarben zu einem stimmungshaften, oft vom Klang zum Geräusch hinüberspielenden Gesamtkolorit, wobei die einzelnen Elemente nicht mehr in tonalem Sinn zu fassen sind. Wie dort die Objekte nur aus dem Ineinander einzelner Farbentönungen angedeutet sind, so ersteht der musikalische Satz in den Reflexen verschwimmender Klanggebilde. […] Der Impressionismus strebt die Klänge in Klangatmosphäre aufzulösen. Und darum ist der Inhalt impressionistischer Musik keineswegs bloß das Anschauliche, sondern in viel zarterer und allgemeinerer Weise das S t i m m u n g s h a f t e .« (Hervorhebungen dort). 428

142

Dionysische Phantasie

Stilistisches In den Lehrwerken ist – bedingt durch die geographisch unterschiedlichen Traditionen der Autoren und anhand der verschiedenen behandelten Themengebiete – ein weitläufiges Feld epochengebundener Stilmerkmale gegeben. Diese finden sich – wie schon in den bisherigen Ausführungen hin und wieder angemerkt – in einzelnen Elementen in Hauseggers Kompositionsstil wieder. Im Folgenden sollen zusammenfassend bestimmte Tonsatzmerkmale ihren jeweiligen »Ursprungs«-Epochen zugeordnet werden. Aus dem Renaissance- und »barocken« Partimento-Verständnis entstammen neben dem oben genannten Melodischen (siehe Umgang mit Motiv und Thema) vor allem die deutlich vorherrschende lineare Stimmführung – insbesondere im Bass – und die ebenfalls oben genannten unterschiedlich stark eingesetzten Kontrapunkttechniken hinsichtlich der Themen- und Motivbehandlung (Imitation, Diminution, Augmentation, Umkehrung, Engführung und Kombination), die jedoch beide durch Rhythmus und Alteration (und dementsprechender Harmonik) – die Themen und Motive zudem durch ihre Intervallbehandlung – einen den genannten Epochen fremden, ›moderneren‹ Ausdruck erhalten.429 Die formale Ausprägung der Themen hingegen findet durch die klare Abschnittsbildung mithilfe übersichtlicher Taktgruppierungen in auffallend ›klassischer‹ Weise statt. Als »galantes« Merkmal vornehmlich dem 18. Jahrhundert zuzuordnen, bei Hausegger jedoch durch die zugrundeliegende Harmonik in einen ›frühromantischen‹ Ausdruck gesetzt, erscheinen die ausnotierten (leicht gedehnten/prolongierten) Appoggiaturen,430 die vor allem in lyrischen Passagen Teile der Melodien bilden: so zum Beispiel im Liebesgesang in Takt  142 (jedoch nicht eingesprungen), Takt 148 (entsprechend auch T. 574), Takt 154, in der ›Umkehrung‹ in Takt 213 und in der »klagenden Melodie« in Takt 308 und 310.

429  Hierzu mehr in der Zusammenfassung aller Analysen. 430  Die aus dem Barock stammende Verzierung kommt insbesondere ab Mitte des 18. Jahrhunderts zu freierer Verwendung (unvorbereitetes Eintreten auch auf betonter Zeit) und gilt als ein wesentliches Merkmal des ›Galanten‹ (vgl. hierzu auch Horn (2012), insb. 21f.). Ihre Definition lautet bei Weitzmann (1888, 55): »Die vor einem Akkordton unvorbereitet, frei eintretende obere oder untere Sekunde nennt man Vorschlag (appoggiatura).«.

T. 70f

T. 149-151

T. 144f

4 4

Stilistisches

143

4

4 geprägten Abschnitte sind auch verantwortlich für ›hoch-roDie lyrisch Ü6 6 7 mantische‹ Harmonik in Form H der f 43 A7 E4 A (T. 125 und 306) fisisV3 Cis5 Des5 5 Chopin-Dominanten [fisisV3] (H) und der hochalterierten Quinte im Dominantseptakkord als chromatischer Durchgang (unmittelbar vor Beginn des Liebesgesangs in T. 127 und 136), der ›spätromantischen‹ höheren Terzschichtung als expressive Vorhalte mit den Septnonakkorden der Einwürfe des »siegesfrohen Trotzes« (T. 96/Z. 6, 110 und 114) und der motivischen Umspielung der Quinte des Akkords (als nacheinander auftretende untere und obere Appoggiatur, T. 97, 111 und T. 82-84 115) in der weiteren dominantischen Orgelpunkt-Vorbereitung des Liebesgesangs mit dem Doppelvorhalt im Septakkord durch Quarte und None (T. 126, unmittelbar nach der Chopin-Dominante), dem durch den Liebesgesang gebildeten Vorhalts-Septnonakkord (T. 134), der oben genannten Umff spielung mit gleichzeitiger chromatischer Terz-Appoggiatur (T. 146, mit ähnlicher Motivik als nacheinander aufgelöste Doppel-Appoggiatur mit einer dritten folgenden in T. 148) und dem bemerkenswerten Akkord in Takt 152 als spannungsgeladener Höhepunkt der letzten Dominante des Ü6 sf 4 3 es Abschnitts: Mit den Tönen as-des-ges-a handelt es sich zunächst um einen Septakkord mit Quartvorhalt und gleichzeitig hochalteriertem Grundton; Letzterer dient als Vorhalt für die große None, die jedoch motivisch umspielt über die Terz erreicht wird und sich erst in den Folgetakten chromatisch abwärts (über heses) zum Grundton auflöst – gemeinsam mit dem in die Terz gehenden Quartvorhalt (vereinfacht auch in T. 182). T. 152-154 Abbildung 33: Takt 152–154 sehr ausdrucksvoll

mf

§8 7

As 4

-

9

9 7

As 4

%9 -

6 -

8 R 3

5

7 6

5

Ebenfalls ›hoch-‹ und ›spätromantisch‹ zeigen sich neben den in der Analyse behandelten Akkorden und ihren Abfolgen auch diverse Anklänge an Kompositionen Richard Wagners, wie zum Beispiel die »zart wogen-

144

Dionysische Phantasie

den Achtel der Streicher« vor und während des »verklärten Gesangs« (ab T. 393), die Assoziationen zum »Waldweben« aus Siegfried431 hervorrufen – wenngleich Hausegger der Stimmung durch die langsameren Tonwechsel und die Dämpfung der Streicher (nebst den hinzukommenden lyrischen Motiven) eine andere Färbung verleiht –, oder die triolischen, unterbrochenen Achtel als Begleitung der »klagenden Melodie« (ab T. 316), die wie eine alterierte Aufwärts-Variante jener der Tannhäuser-Ouvertüre (dort als diatonische Sechzehntel-Seufzer)432 wirken. Für Ende des 19. Jahrhunderts ›modern‹ einzuordnen sind (neben der großformalen Anlage) einerseits die schon besprochenen großflächigeren übermäßigen Sextakkorde und die auftretenden harmonischen Ellipsen, die sich in der direkten Abfolge von eigentlich doppeldominantischem Dv oder übermäßigem Sextakkord in die quintstellige Tonika zeigen (anstelle des dominantischen Quartsextvorhalts über ebenjenem Basston und dessen Auflösung mit anschließend folgender Tonika in Grundstellung). Erwähnt wurde zudem die ›expressionistische‹ Verwendung der Klänge ab Takt 83 mit ihren unaufgelöst bleibenden, nebeneinander gestellten Dissonanzen433 als Vorbereitung für das erstmalige Auftreten des Todes-Motivs, die hier noch einmal kurz im Überblick genannt sein sollen: die Ganztonakkorde im Wechsel mit dem übermäßigen Sextakkord, gefolgt von einem dominantischen Septakkord und den sich anschließenden halbtönig aufsteigenden Takten 85–87, die jeweils auf einem Hv (in Terzquartstellung) beginnen und in der zweiten Hälfte durch die Bassbewegung zu einem Dominantsept (in Quintstellung) beziehungsweise einem Dv mutieren. *** Nach der vorangegangenen eingehenden analytischen Untersuchung soll nun – wie auch nach den weiteren Symphonischen Dichtungen – anhand 431  2. Akt, 2. Szene.

432  Vgl. Tannhäuser-Vorspiel ab Takt 38.

433  Hierzu heißt es bei Ernst Kurth (31923, 397f.): »Der Expressionismus hört […] die Dissonanz vorwiegend energetisch; wenn er sie nicht auflöst, so liegt es wieder daran, daß er überhaupt die Spannungen als Inhalt sucht und ihre Lösung als Störung seines Grundzustandes empfinden würde. Auch hier gibt es also eine Steigerung über eine gewisse Grenze, welche die Spannungen nicht mehr in ihren Gleichgewichtszustand zurückleitet und es bei der Zerrissenheit bewenden läßt.«.

Rezensionen

145

einiger Konzertrezensionen die Wirkung des besprochenen Werks auf das zeitgenössische (Fach-)Publikum veranschaulicht und aus dessen Aufnahme der Komposition seine daraus resultierende Haltung ihr gegenüber aufgezeigt werden. Neben den Erkenntnissen zur Einordnung und Bewertung von Hauseggers kompositorischem Können, seinem Werk und bestimmter musikalischer Details im Hinblick auf einen ›musikalischen Zeitgeist‹ soll mit den Rezensionen auch der Übergang zurück in die Biografie vollzogen werden. Rezensionen zur Dionysischen Phantasie War Hausegger während des Komponierens noch in Sorge gewesen, wie sein Werk wohl klingen würde,434 ist Karl Pottgiesser in der überregionalen Allgemeinen Musikzeitung (AMz) in seiner kurzen Rezension sehr angetan: »Hausegger zeigt sich als durchaus modern gebildeter und empfindender Musiker, der besonders die orchestralen Mittel in bewundernswerther Weise verwendet.«435 Umfangreicher und zugleich etwas kritischer lesen sich die Rezensionen zwei Jahre später nach der Aufführung auf dem Tonkünstlerfest des Allgemeinen Deutschen Musikvereins (zu diesem später mehr) – so schreibt der Herausgeber der AMz, Otto Lessmann (1844–1918): Es ist ein bedeutendes Talent, das sich auch hier schon zeigt, wenngleich die Maßlosigkeit in der Ausdehnung des Stückes und in der Verwendung der Ausdrucksmittel den Mangel an Reife, der jeder Anfängerschaft anhaftet, noch deutlich kennzeichnet. Richard Wagner und Richard Strauß scheinen die Vorbilder zu sein, die zumeist auf des jungen Komponisten kühne Fantasie befruchtend eingewirkt haben. Auf die weitere Entwickelung dieser wahrhaftig nicht gewöhnlichen Begabung darf man große Hoffnungen setzen.436

Ähnlich urteilt die noch etwas mehr ins Detail gehende Neue Zeitschrift für Musik:

434  »Ich arbeite […] eigentlich ins Blaue hinein, ohne die Möglichkeit, die nöthige Selbstkritik üben zu können.« (unveröffentlichter Brief an Strauss vom 14.2.1897, im Besitz der Strauss-Familie). 435  AMz vom 10.3.1899, 158. 436  AMz vom 14.6.1901, 414.

146

Dionysische Phantasie Hausegger’s dionysische Phantasie ist das Werk eines sehr talentirten, aber gegenwärtig in seiner Entwicklung noch in der Sturm- und Drangperiode befindlichen Künstlers, dessen Jugend nach erfolgter Abklärung vielleicht noch Großes erhoffen läßt. Jetzt in seinem überschäumenden Kraftgefühl schlägt er noch mit Keulen oder vielmehr mit Pauken, Trompeten und Tuben drein. Die Phantasie nach einer eigenen etwas schwülstigen Dichtung concipirt leidet einmal an ihrer übermäßigen Länge, sodann weiß der Componist noch zu wenig Eigenes zu sagen, Anlehnungen ließen sich ohne Reminiscenzenjägerei sowohl in der Erfindung als Orchestration (Waldweben) in Masse nachweisen. Groß ist allerdings schon in Anbetracht der Jugend seine Orchestertechnik und Formengewandtheit. Der Di r i g ent Hausegger, er leitete sein Werk sehr energisch aber mit zu großem Aufwand äußerer Beweglichkeit, ist zur Zeit dem C omp on i sten noch überlegen. Das Publikum bereitete ihm nichts desto weniger eine sehr freundliche Aufnahme.437

In den Lokalnachrichten hatte sich seinerzeit zum so überaus erfolgreichen Konzert der Uraufführung ein »r« am ausführlichsten über das Werk geäußert – von ihm ist in den Münchner Neuesten Nachrichten (MNN) zu lesen: In seiner Orchesterphantasie gibt sich eine sehr starke, aus dem Vollen schöpfende Begabung kund. In diesem Tonstücke berührt uns nichts Schwächliches oder Kleinliches; diese »Bejahung des Lebens« ist wirklich von einem großen dithyrambischen Zuge, einem machtvoll hervorbrechenden, jugendmuthigen Ueberschwange durchflutet. Und dabei hat diese, bis zu den Sternen aufjauchzende Freudigkeit einen tiefernsten Untergrund. Hinter den Kundgebungen einer heldenhaften Willensenergie und ekstatischen Liebesschwärmerei steht die dräuende Macht des Alles bezwingenden Todes. Aber der Tondichter glaubt sie durch seine Kunst überwinden zu können und bringt sein Werk mit dem Ausdruck jubelnden Triumphes zum Abschluß. Trotzdem haben wir es hier mit einem Tongebilde von echt tragischer Tendenz zu thun; Hausegger ist eine von dem Schaffen der Großmeister der neuen Musik, vom Geiste Wagners und Liszts, wahrhaft ergriffene Natur. Seine »Dionysische Phantasie« berührt wie ein Gegenstück zu Richard Strauß’ »Tod und Verklärung«. Aber wie bei Strauß, so ist auch bei Hausegger nicht die Individualität der melodischen Gestalt das Vorschlagende und eigentlich Originelle, sondern die Gluth der oft wirklich bestrickend und charakteristisch wirkenden musikalischen Farbengebung. […] Hausegger ist […] bestrebt, es nicht bei bloßer Gefühlsschwelgerei bewenden zu lassen, sondern scharf begrenzte plastische Tongebilde hinzustellen. Das ist ihm auch vielfach gelungen. Das marschartige, heroische Thema, das die Thesis des Werkes bildet, hat trotz einiger Anklänge an den Marsch in Liszts »Mazeppa« individuelle Physiognomie, ebenso das kleine Motiv, in dem das Dräuen des Todes zum Ausdruck gelangt. Weniger eigenthümlich ist die sanft hinschmelzende Liebesmelodie, während der Komponist wieder in den Momenten ekstatischen Ueberschwangs eine hinreißend überzeugende Sprache zu reden weiß. Der formelle Bau zeigt eine sicher führende Hand, doch muß der Tondichter noch mehr bemüht sein, die ihm vorschwebende psychologische Entwickelung 437  Karl Thiessen in der NZfM vom 19.6.1901, 339f. (Hervorhebungen dort).

Barbarossa

147

auch in stetiger musikalischer Logik hervortreten zu lassen. Das Werk wurde vom Kaim-Orchester mit echt künstlerischer Hingabe ganz ausgezeichnet vorgetragen. Die Spieler waren bemüht, alle Intentionen des dirigierenden Komponisten zu verkörpern. Ihre Leistung verfehlte auch ihre Wirkung nicht, und die Hörer brachen am Schlusse in stürmischen Beifall aus.438

Barbarossa (1898-99)439 Dem gegenüber der Dionysischen Phantasie etwas kleiner besetzten Barbarossa440 hat Hausegger kein Gedicht vorangestellt, sondern eine programmatische Überschrift zu jedem der drei Sätze gegeben: »Die Not des Volkes«, »Der Zauberberg« und »Das Erwachen«. Damit lässt sich programmatisch lediglich für den 2. und 3. Satz eine Verbindung zum Gedicht Emanuel Geibels herstellen. Inwieweit musikalische Details seinen Inhalt wiedergeben (könnten), wird sich im Einzelnen zeigen. Auf die formal-programmatische Struktur des etwa 50 Minuten dauernden Werks geht der Komponist deutlich weniger ausführlich ein als noch bei der Dionysischen Phantasie; doch verfasste sein Schulfreund (und Widmungsträger der Dionysischen Phantasie) Oskar Noë neben einem Klavierauszug zu vier Händen441 für die Zuhörer der zweiten Aufführung eine detailliertere ›Analyse‹.442 1. Satz: »Die Not des Volkes« Den ersten Satz seiner Komposition beschreibt Hausegger mit den folgenden Worten: Einleitung: Das deutsche Volk. Schneller Satz [ab T. 109, 05:13 Min.]: Hauptthema, dessen erster Teil die Bedrängnis durch den Feind, und dessen zweiter Teil [ab T. 125/Buchstabe G, 05:56] kraftbewussten Trotz ausdrückt. Zarter Seitensatz [ab T. 168/J, 06:41]: Sehnsucht nach Befreiung und Frieden. 438  MNN vom 12.2.1899, 2.

439  Partitur erschienen bereits 1901 (Dionysische Phantasie erst 1902) bei Ries & Erler, Berlin.

440  Flöten, Oboen und Klarinetten sind in der ›klassischen‹ Zweierbesetzung (Dionysische Phantasie mit je drei Spielern); außerdem fordert Hausegger keine zweite Harfe. 441  Ebenfalls erschienen bei Ries & Erler (mit einem kleineren Fehler im 2. Satz: hier fehlt der Takt 362). 442   Diese Analyse wurde nach der Aufführung inklusive einiger Konzertrezensionen als kleines Heftchen veröffentlicht. Vgl. Noë, Oskar (o. J.)

148

Barbarossa Durchführungssatz [ab T. 255/M, 09:08]: Verzweifeltes Ringen um die Freiheit; im Höhepunkte, nach großer Steigerung, pp das Barbarossa-Thema [ab T. 333/Q bzw. Themeneintritt bei 335, 11:11]. Reprise [ab T. 363/R, 12:07]: Erneuter Ansturm des Feindes; Seitensatz [ab T. 404/T, 13:09] mit dem Ausdruck wildester Verzweiflung; Zusammenbruch.443

Die Begriffe zeigen, dass hier die Sonatensatzform444 Pate gestanden hat. Noë bestätigt dies445 und geht sodann direkt in die Themenbesprechung (die im Folgenden begleitend in den Fußnoten wiedergegeben werden soll). Einleitung Die mit 108 Takten bemerkenswert umfangreiche Einleitung lässt sich in drei Abschnitte mit zwei charakterlich kontrastierenden motivisch-thematischen Komplexen untergliedern: markant (bis T. 24) als A-Teil, lyrisch (bis T. 77) als B-Teil und wieder markant (bis T. 108) als A’. Der A-Teil ist in sich wiederum dreigeteilt und von erhabenem, feierlichem Charakter (Beginn in C-Dur): 1. einstimmiges viertaktiges Motiv (1. und 3. Horn) mit Ende auf As-Dur als möglicher Vordersatz (T. 3–7) 2. dessen »freie Sequenz« als – durch die beginnende Trompete durchbrochener – Nachsatz (auf es-Moll startend) mehrstimmig bis zur ersten Kadenz nach Es-Dur – als Erweiterung zu einer einfachen Periode (T. 7–10)446 –, und 3. der umfangreichsten Einheit, die ihrerseits drei Mal den Themen-Satz – allmählich zum Tutti aufgebaut – bereithält: 443   Dieses und alle weiteren nicht explizit mit Fußnote versehenen Zitate stammen aus Hausegger, S. v. 1920, 136f. 444  Auch »Sonatenform« nach Marx (41863 (Bd. 3), ab 220) – höchstwahrscheinlich der Ursprung der heute gebräuchlichen Begriffe (vgl. Diergarten 2013). Bei ihm und anderen Autoren, die sich mit der Form befassen, stehen als Beispiele hauptsächlich BeethovenSonaten im Vordergrund. Als späterer Komponist wird lediglich bei Jadassohn noch Robert Schumann (und zudem nur hinsichtlich der Einleitungskonzeption) genannt. Sind von Marx auch kleinere Abschnitte wie Übergänge in verschiedene Kategorien systematisiert, fassen spätere Autoren die formale Gliederung allgemeiner. 445  »Der Satz folgt im Wesentlichen der alten Form des Symphoniesatzes und besteht aus einer grösseren langsamen Einleitung und dem eigentlichen Satze in raschem Zeitmasse.« (Noë o. J., 7). 446   Diese acht Takte bilden das erste Notenbeispiel in Noës Analyse: »Getragen vom Tremolo der Streicher lassen zuerst die Hörner, dann die Trompeten in C-dur ein einfaches, sehr gehaltenes Thema voll deutschen Ernstes und deutscher Kraft ertönen.« (ebd.).

1. Satz – Einleitung

149

a) das erste Mal den eigentlichen Vordersatz zu sechs Takten fortspinnend (T. 11–17) – und direkt mündend im b) zweiten Mal als vorläufiger Höhepunkt in G-Dur, der jedoch nicht wie zuvor als Nachsatz schließt, sondern in seinen vier Takten noch einmal durch leicht variierte Melodik und Rhythmik als Vordersatz Spannung aufbaut (bis T. 20) für den endgültigen Höhepunkt des c) dritten Males, das nun den eigentlichen, viertaktigen Nachsatz (wie oben bei 2.) mit Kadenz in G-Dur bildet (T. 21/A bis 24).447 Abbildung 34: Volks-Thema (T. 3–24) Volks-Thema (T. 3-24) Hrn.

Trp.

Vordersatz

Nachsatz / »freie Sequenz«

Hrn.

3 4 bestimmt p

C Trp. + Pos. + Hrn.

mf

As

f

ff

es

Es

fortgesponnener Vordersatz

f

mf

Heses7< Tutti phrasenverschränkter Vordersatz

ff

G

Nachsatz

G

G

3 Eine neuntaktige, im Rhythmus des Themenbeginns (zunächst markant, 4 dann legato) gehaltene Überleitung verbindet die beiden Teile. Das Thema Volks-Thema lyrisch (T. 34-58) des lyrischen B-Teils (ab T. 34 in den 1. Geigen und den sehr hohen Celli) 1. Vl. + Vc. beginnt zwar mit dem schon bekannten Themenkopf, erfährt jedoch bereits Satz nach Ratz im zweiten Takt einen gänzlich anderen Charakter durch eine gedehnte/ 3 prolongierte, ›galante‹ Appoggiatur/Mordente – und entwickelt sich im 4 p Weiteren zu einem Ratz’schen Satz mit insgesamt 5+4+5 Takten. Die Verausdrucksvoll doch zart kürzung der zweiten Einheit stellt gegenüber der Dionysischen Phantasie 447   Dies entspricht Beispiel Nr. 2 bei Noë: »Bald steigert es [das Thema] sich zu majestätischer Machtentfaltung und gipfelt mit stolzem Siegesbewusstsein in einer vom ganzen p mf (ebd., 8). Orchester gebrachten achttaktigen Periode […].«

1. Ob.

Solo-Vl.

Fortspinnung sehr ausdrucksvoll

p

mp

3 4 bestimmt p

mf

C Trp. + Pos. + Hrn.

150 fortgesponnener Vordersatz

As

f

ff

es

Es

Barbarossa f

mf

eineHeses dramaturgische Neuerung hinsichtlich des Melodiebaus dar. Mögen 7< die Tutti strukturdiminuierten letzten fünf Takte in ihrer Kürze überraschen, phrasenverschränkter Nachsatz schließt HauseggerVordersatz über eine French Sixth phrasenverschränkt mit einer ersten Variante des Themas als durchbrochene (Oboe und Solo-Violine) Fortspinnung an.448 Durch den in Takt 54 per ff G ganzschlüssiger Kadenz erreichG G ten Höhepunkt in Es-Dur mit neuem, kontrapunktischem Themeneinsatz (1. Horn und Solo-Cello) erhält sie allerdings mehr Überleitungscharakter.3 4 Abbildung 35: Volks-Thema lyrisch (T. 34–58) Volks-Thema lyrisch (T. 34-58) 1. Vl. + Vc. Satz nach Ratz

3 4 p

ausdrucksvoll doch zart

p

mf

Solo-Vl.

1. Ob. Fortspinnung

sehr ausdrucksvoll

p

mp sehr ausdrucksvoll

1. Vl., 1. Hrn.+ Solo-Vc. sehr ausdrucksvoll

mf sehr ausdrucksvoll

p

mf

p

448  Noë zu diesem Abschnitt: »Ein zartes, weiblich anmutiges Thema [Notenbeispiel 3] leitet darauf kurz zum Mittelsatze der Einleitung über, der uns mit seinem Hörner- und Schalmeienklang in den deutschen Wald voll ›Tannenduft und Himmelsruh‹ versetzt. [Notenbeispiel 4]« (ebd., 8). Den Beginn des Mittelteils verortet Noë also erst bei der bereits als »Variante« bezeichneten Fortspinnung (T. 47/B).

1. Satz – Einleitung

151

Dieser zunehmend schwelgerische Teil, in dem die im typischen Horngang gehaltene, naturhafte Begleitmotivik in den Vordergrund tritt,449 exponiert mit vier Takten über subdominantischem As- und einem siebentaktigen Orgelpunkt auf dominantischem B-Dur eine größere Kadenz. Doch statt einer Auflösung nach Es wendet sich das B7 unerwartet in einen akzentuierten, mediantischen Dominantseptnonakkord über G450 – als Vorbereitung des dritten, wieder markant gehaltenen A’-Teils in c-Moll (der Paralleltonart zu vorangegangenem Es-Dur, als einer verdunkelten Variante des Anfangsakkordes) – mit einem klagenden Hiatus-Motiv in der 1. Oboe (nebst Echo im 3. Horn). Durch c-Moll und (mit der 2. Posaune eine Oktave tiefer) von strengerem Charakter wird der wiederaufgegriffene Beginn jedoch ab dem vierten Takt durch die Begleitung und nachfolgend auch thematisch anders weitergeführt. Die jetzt nach es-Moll schließende erste Kadenz erklingt zwar durch eine innere Erweiterung einen Takt später (T. 86),451 ist aber mit dem nächsten Themeneinsatz (entsprechend jenem von 3.a) per Phrasenverschränkung verbunden. Nachfolgend spinnt Hausegger das Geschehen sequenziell und mit der punktierten Motivik aus Takt 20 und dem Themenkopf steigernd bis zum Beginn des »schnellen Satzes« fort.452 Interessant ist an jener Stelle eine dramaturgische Neuerung: Kurz vor jenem Beginn als Höhepunkt (T. 109) erfolgt die bereits bekannte Steigerungstechnik eines verlängernden Takts in anderem Metrum (hier 4/4 im 3/4-Kontext), daran angeschlossen werden jedoch noch einmal vier weitere sich charakterlich abhebende, reguläre 3/4-Takte als dissonante Dominantklänge (insbesondere durch die Töne 449  Noë: »So reiht sich an das Bild des Volkes selbst dasjenige seiner Heimat.« (ebd., 9). 450  Noë: »Die pastorale Stimmung, die uns aus der einfachen Clarinettenmelodie entgegenklingt, [Notenbeispiel 5 – von uns als »Begleitmotivik« definiert] wird aber von einer schneidenden Harmonie von schauervoller Ahnung jäh unterbrochen […].« (ebd., 9f.). 451  Innerhalb der Kadenz tritt der erste sehr kurze Anklang des späteren Motivs »kraftbewusster Trotz« auf – von Noë mit Notenbeispiel Nr. 6 gezeigt und beschrieben mit den Worten: »[…] ernst setzt in düsterem C-moll die Wiederholung des ersten Themas ein – da fährt wie ein Blitz ein wilder Kampfesruf (Holzbläser und gestopfte Trompeten) hinein.« (ebd., 10). 452   Noë: »In den Bratschen steigen unheimliche Achtelfiguren auf, die Bläser rufen wild darein, die Stimmung wird immer kriegerischer, bis wir mit dem mächtigen Eintritt des Hauptthemas des nun beginnenden schnellen Satzes mitten in den verzweifelten Kampf des bedrückten Volkes versetzt werden.« (ebd., 10).

Barbarossa

152

c-d-as im höheren Blech) zur zusätzlichen Intensivierung der Spannung. In den Bässen tritt nun in sehr markierter Artikulation eine diminuierte Variante des zuvor klagenden Hiatus-Motivs hinzu (T. 105–107). Exposition – Hauptsatzgruppe Wie vom Komponisten bereits erläutert, beinhaltet auch der »schnelle Satz« ein zweigeteiltes Hauptthema (im 2/2-Takt). Der erste Teil (»die Bedrängnis durch den Feind«) besteht aus einem zweitaktigen, diatonisch zur 5. Stufe aufsteigenden und rhythmisch punktierten »Modell« und seiner »freien Sequenz«, an die wiederum ein eintaktiges Modell (und dessen Sequenz) mit dem auffälligen Intervall einer verminderten Quarte (b-fis mit Auflösung nach g) angeschlossen ist, und das in den zwei folgenden Takten 2 einer phrygisch-halbschlüssigen Kadenz fortgesponnen wird (T.  109– zu 116) – sodass die acht Takte insgesamt einen öffnenden Satz bilden. Bemerkenswert zeigt sich der ebenfalls »durchaus scharf betont[e]« – bis auf die melodischen Wiederholungen des Themas – kontinuierlich stufenweise in 2 Vierteln absteigende Bass, über dem sich die harmonische Progression ins2 453 gesamt von c-Moll hin zu dominantischem A-Dur bewegt. Bedrängnis-Thema (T. 109-116)(T. 109–116) Abbildung 36: Bedrängnis-Thema 1. Vl.

+ Ob.

»Modell«

»Mo-

»freie Sequenz«

2 2 ff durchaus sehr scharf betont

2 2 c

As

dell«

G

c

»freie Sequenz«

sf

aHv

As7