Lutherische Theologie und Kirche 4/2016 - Einzelkapitel: Rechtfertigung als Beichte und Absolution: Schlüsselthema der Reformation 9783846999363, 3846999257

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Lutherische Theologie und Kirche 4/2016 - Einzelkapitel: Rechtfertigung als Beichte und Absolution: Schlüsselthema der Reformation
 9783846999363, 3846999257

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JOHANN ANSELM STEIGER

Paradies der Seele Zu Johann Rists geistlicher Lyrik Johann Rist (1607–1667)1 zählt anerkanntermaßen zu den einflußreichsten und produktivsten lutherischen geistlichen Dichtern des 17. Jahrhunderts neben Gestalten wie Andreas Gryphius, Simon Dach, Philipp von Zesen, Sigmund von Birken und Paul Gerhardt. Im Zuge seines äußerst ertragreichen Zusammenwirkens mit in seiner Zeit tonangebenden Komponisten wie Andreas Hammerschmidt, Thomas Selle und Heinrich Scheidemann sowie mit weiteren befreundeten Tonkünstlern wie Martin Coler, Christian Flor, Michael Jacobi, Petrus Meier, Hinrich Pape u.a. schuf Rist rund 700 geistliche Lieder2 in 13 breitangelegten Sammlungen. Innerhalb eines interdisziplinären Forschungsprojektes, das mittlerweile von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird, wurden bislang fünf der Ristschen

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Vgl. Johann Rist (1607–1667), Profil und Netzwerke eines Pastors, Dichters und Gelehrten. Johann Anselm Steiger/Bernhard Jahn (Hg.), Berlin u.a. 2015 (= Frühe Neuzeit 195). Vgl. überdies Klaus Garber, Literarischer und kulturpolitischer Statthalter im Norden Deutschlands. Ein Portrait Johann Rists, in: Johann Anselm Steiger (Hg.), „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Neuendettelsau 2007 (= Testes et testimonia veritatis 5), 9–36. Eberhard Mannack/Johann Anselm Steiger, Art. Johann Rist, in: Wilhelm Kühlmann u.a. (Hg.), Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes 9, 22010, 668–670. Thomas Diecks, Art. Johann Rist, in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), 646 f. Johann Anselm Steiger, Art. Johann Rist, in: RGG4 7 (2004), 528. Eberhard Mannack, Johann Rist. Gelehrter, Organisator und Poet des Barock. Festvortrag zur 89. Jahresversammlung der Gesellschaft der Bibliophilen e.V. am 5. Juni 1988 in Kiel, München 1988. Dieter Lohmeier/Klaus Reichelt, Art. Johann Rist, in: Harald Steinhagen/Benno von Wiese (Hg.), Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts, Berlin 1984, 347–364. Klaus Reichelt, Art. Johann Rist, in: Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck 6, Neumünster 1982, 250–259. Vgl. Johann Anselm Steiger, Carmina spiritualia Ristiana. Bibliographie sämtlicher geistlicher Lieder Johann Rists (1607–1667), in: JLH 52 (2013), 171–204.

_______________________________________________________________________ LuThK 41 (2017), 2–17 DOI 978-3-8469-9936-3 10.2364/3846999257

Paradies der Seele

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Liedsammlungen kritisch und reichhaltig kommentiert erschlossen.3 An weiteren Editionen wird gearbeitet. Im Jahre 1660 war Johann Rists ‚Neues Musikalisches Seelenparadis/ Jn sich begreiffend Die allerfürtreflichste Sprüche der heiligen Schrifft/ Alten Testaments‘ in Lüneburg im Verlag der Gebrüder Stern erschienen. Das Werk enthält neben einer Widmungsvorrede, einer Präfation an die Leser und zahlreichen Ehrenschriften insgesamt 82 Lieder. 76 von ihnen widmen sich Kernstellen des Alten Testaments (vor allem aus den Propheten und dem Psalter), während sich acht mit apokryphen Texten befassen (sieben von ihnen basieren auf Versen aus Jesus Sirach). Im „Vorbericht“ zu dieser Veröffentlichung kündigte Rist an, alsbald einen neutestamentlichen Teil folgen zu lassen: Solte es nun dem frommen GOtt in Gnaden gefallen/ Mich noch eine Zeitlang bei Gesundheit und Leben zu erhalten; So sol der Andere Theil dises unseres Musikalischen Seelenparadises (worinn die allerschönste Lehr= und Trostreichste Sprüche/ des gantzen Neuen Testaments/ in erbaulichen/ und den rechten Weg zum wahren Christenthum zeigenden Liederen verfasset/ befindlich) mit ehistem/ an das ofne Tageslicht gebracht und heraus gegeben werden.4 3

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Johann Rist/Johann Schop, Himmlische Lieder (1641/42). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Konrad Küster. Mit einer Einführung von Inge Mager, Berlin 2012. Johann Rist, Neue Himmlische Lieder (1651). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Musik von Andreas Hammerschmidt, Michael Jacobi, Jacob Kortkamp, Petrus Meier, Hinrich Pape, Jacob Praetorius, Heinrich Scheidemann, Sigmund Theophil Staden. Kritische Edition der Notentexte von Konrad Küster, Berlin 2013. Johann Rist/Martin Coler, Neue Hochheilige Passions-Andachten (1664). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Oliver Huck und Esteban Hernández Castelló, Berlin u.a. 2015. Johann Rist/Christian Flor, Neues Musikalisches Seelenparadies Alten Testaments (1660). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Oliver Huck und Esteban Hernández Castelló, Berlin u.a. 2016 (= Neudrucke Deutscher Literaturwerke 87). Johann Rist/Andreas Hammerschmidt/Michael Jacobi, Katechismus-Andachten (1656). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Oliver Huck und Esteban Hernández Castelló, Berlin u.a. 2016 (= Neudrucke Deutscher Literaturwerke NF 88). Rist, Seelenparadies (wie Anm. 3), 60, Z. 1158–1164.

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1662 war es so weit: Das ‚Neue Musikalische Seelenparadis/ in Sich begreiffend Die allerfürtreflichste Sprüche der H. Schrifft/ Neuen Testaments‘5 und somit Rists neunte Sammlung von geistlichen Liedern erschien in Lüneburg im Verlag der Sterne.6 Wie der alttestamentliche Teil enthält auch der neutestamentliche 82 Lieder sowie im Vorspann eine Widmungsvorrede, eine Präfation an die Leser (beide undatiert) und zahlreiche Ehrenschriften. Für die Kompositionen sorgte wie hinsichtlich des alttestamentlichen Teils der in Lüneburg an St. Lamberti tätige Organist Christian Flor (1626–1697). Rist hatte ursprünglich ein früheres Erscheinen des Werkes intendiert und beklagt in seiner an die Leser gerichteten Vorrede die entstandene Verzögerung, deren Gründe er zunächst mit „Stillschweigen“7 übergeht, um wenig später doch zu erwähnen, daß die „jämmerlichen theuren Zeiten“8, mithin die vor allem durch die Kriegsläufte bedingte Inflation jegliche Publikationstätigkeit behindere – auch weil „viele grosse Herren und Fürsten“9 sich mit Blick auf die Gewährung von Zuschüssen sehr zurückhielten. Im Unterschied zum alttestamentlichen Teil des ‚Seelenparadieses‘ – und dies könnte durchaus mit einem offensichtlich zunächst erhofften, dann aber ausgebliebenen Druckkostenzuschuß in Zusammenhang stehen – widmete Rist die neutestamentliche Fortsetzung nicht einer fürstlichen Person, sondern einem städtischen Gemeinwesen, nämlich den „Bürgermeistern/ Syndicis und Rahtsverwanten/ wie auch der gantzen/ hochlöblichen Bürgerschaft/ der weitberühm5

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Johann Rist, Neues Musikalisches Seelenparadis/ in Sich begreiffend Die allerfürtreflichste Sprüche der H. Schrifft/ Neuen Testaments/ Jn Lehr= und Trostreichen Liederen/ und Hertzens=Andachten (welche so wohl auf bekante/ und in den Evangelischen Kirchen gewöhnliche; Als auch gantz neue/ von dem fürtrefflichem Musico, Herren Christian Flor/ der Kirchen zu S. Lambrecht/ in Lüneburg wolbestelten Organisten/ so künst= als liblich gesetzte Melodien/ können gespilet und gesungen werden) richtig erklähret und abgefasset/ Nunmehr aber zu Befoderung der Ehre Gottes/ und Fortpflantzung seines H. Wohrtes/ wie auch Wideraufrichtung unseres leider! fast gantz zerfallenen Christenthumes/ an das offene Licht gebracht/ und mit unterschiedlichen/ gahr nützlichen Registern hervor gegeben […], Lüneburg 1662. Vgl. Klaus Dumrese, Der Sternverlag im 17. und 18. Jahrhundert, in: Lüneburg und die Offizin der Sterne, Lüneburg 1956, 1–132. Rist, Seelenparadies (wie Anm. 5), fol. d 2r. A.a.O., fol. d 3r. Ebd.

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ten/ Königlichen Statt Dantzig“.10 Alles deutet darauf hin, daß Rist hinsichtlich der Wahl der Widmungsempfänger seiner Werke eine wohlüberlegte Publikationspolitik verfolgte. Denn das ‚Neue Musikalische Seelenparadis Neuen Testaments‘ bildet das vorletzte Glied einer ganzen Kette von geistlich-lyrischen Buchveröffentlichungen, die den Stadtobrigkeiten wirtschaftlich und politisch gewichtiger Hansestädte dediziert sind: Die ‚Alltägliche Haußmusik‘ (1654)11 war der politischen Elite Lübecks gewidmet. Zwei Jahre später verließen die ‚Neüen Musikalischen Katechismus Andachten‘ (1656)12 die Presse, die den politischen Führungskräften Lüneburgs dediziert waren. Es folgte die ‚Neüe Musikalische Kreutz= Trost= Lob= und DankSchuhle‘ (1659)13 mit einer Widmung an Braunschweig. Den Abschluß der catena bildeten das hier in Rede stehende ‚Neue Musikalische Seelenparadis Neuen Testaments‘ (1662) sowie die ‚Neuen Hochheiligen Passions-Andachten‘ (1664)14, für die Rist die Regie10 A.a.O., fol. a 1v. 11 Johann Rist, Frommer und Gottseliger Christen Alltägliche Haußmusik/ Oder Musikalische Andachten/ Bestehend Jn mancherlei und unterschiedlichen/ gantz neüen/ Geistlichen Liederen und Gesängen/ Welche von Allen/ und Eines jetweden Standes Personen/ in allen und ieglichen/ Leibes und der Seelen Angelegenheiten erbaulich können gebrauchet/ und deroselben grössester Theil auf bekante/ und in reinen Evangelischen Kirchen übliche; Sämtlich aber/ auf gahr neüe/ von dem fürtreflichem und weitberühmten Musico/ Herren Johann Schopen/ wol= und anmuhtig=gesetzte Melodien füglich gesungen und gespielet werden/ Gott zu Ehren/ WiederErbauung des zerfallenen Christenthumes/ und Erneürung des inwendigen Menschen mit sonderm Fleisse aufgesetzet und hervor gegeben […], Lüneburg 1654. 12 Rist, Katechismus-Andachten (wie Anm. 3). 13 Johann Rist/Michael Jacobi, Neüe Musikalische Kreutz= Trost= Lob= und DankSchuhle/ Worinn befindlich Unterschiedliche Lehr= und Trostreiche Lieder/ in mancherlei Kreutz/ Trübsahl und Wiederwärtigkeit hochnützlich zu gebrauchen/ Welche grösseren Theils/ auf bekante/ und in den Evangelischen Kirchen gebräuchliche/ alle mit einander aber/ auf gantz neüe/ von dem fürtreflichem und weitberühmtem Musico/ Herrn Michael Jakobi/ bei der hochlöblichen Stadt Lüneburg wolbesteltem Cantore/ so lieb= als künstlich gesetzete Melodien/ können gespielet und gesungen werden/ Dem allerhöhesten Gott zu sonderbahren Ehren/ seiner angefochtenen Kirchen zur kräftigen Erbauung/ den auch sehr vielen hochbetrübten Hertzen/ in dieser jämmerlichen und gahr elenden Zeit/ zum hertzlichen Trost und Erquikkung/ wolmeinentlich aufgerichtet und angeordnet […], Lüneburg 1659. 14 Rist, Seelenparadies (wie Anm. 3).

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rungen der Stadtrepubliken Danzig bzw. Hamburg als Widmungsempfänger auserkor. Wie in allen anderen an die genannten Hansestädte gerichteten Widmungsvorreden übt sich Rist auch in seiner Dedikationsschrift an Danzig – die Stadt kannte er anders als Hamburg, Lübeck und Lüneburg aus eigener Anschauung freilich nicht – in der Kunst des literarischen Städtelobs, dem er eine recht dezidierte Kritik des höfischen Lebens konstrastiv gegenüberstellt. Rist zollt der Stadt an Mottlau und Weichsel höchste Wertschätzung nicht nur als einer „andächtige[n] GottesStatt/ darnach und fürs Andere/ Eine[r] tapfere[n] HeldenStatt/ und den Drittens und fürs Letste/ Eine[r] wunderschöne[n] Tugend= und HandelStatt“15, sondern auch als achtes Weltwunder: Wen man auch ferner/ diser Statt Königlicher Herligkeit/ Brustwehren/ Wälle und Mauren/ die besondern Häuser der Bürger und die gemeine Gebäu/ samt der Kunst und Arbeit/ so in denselben keinesweges gespahret/ imgleichen die weiten und gewaltig Schiffhaven/ mit der grossen Anzahl der Schiffe/ so man allezeit daselbst findet/ wen man auch das wol geordente Politische und Bürgerliche Regiment/ samt der grossen Gewalt des Büchsenpulvers/ so man alda sihet/ mit Fleiß überleget; So mag Dantzig gahr wol zu den Sieben Wundern der Welt gezehlet werden/ zumahlen auch dise Statt/ in gahr kurtzer Zeit zu solcher Gewalt und zu solchem herlichem Ansehen aufgestiegen/ daß ich nicht gläube/ einigen Ohrt in der Welt zu sein/ da Ihr Name nicht kündig.16

Freilich erklingt dieses Lob zu einem Zeitpunkt, als Danzig den Zenit seiner Macht infolge des Krieges Schwedens gegen PolenLitauen und des 1660 geschlossenen Friedens von Oliva bereits überschritten hatte.17 Rist thematisiert die militärische Heldenhaftigkeit Danzigs, die sowohl angesichts der Bedrohung und Belagerung der Stadt durch den polnischen König Stephan Báthory in den Jahren 1576 und 1577 als auch jüngst gegen die Truppen des schwedischen Königs Karl X. an den Tag gelegt worden sei. Daß der Friede von Oliva bzw. seine Folgen eine Kehrtwende darstellen und Danzig das Ende seines „goldenen Zeitalters“ eintragen würde, war für Rist noch kaum absehbar. Auf den herausragenden Bevölkerungsreichtum 15 Rist, Seelenparadies (wie Anm. 5), fol. b 1r. 16 A.a.O., fol. b 4v/5r. 17 Vgl. Peter Oliver Loew, Danzig. Biographie einer Stadt, München 2011, 108–111.

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Danzigs – mit ca. 70.000 Einwohnern war die Stadt die größte Metropole zwischen Moskau und Amsterdam und größer als Hamburg und Prag18 – lenkt Rist die Sprache allerdings nicht. Rist sieht – dies ist der erste Aspekt, den er recht ausführlich bespricht – in Danzig ein vorbildliches lutherisches Gemeinwesen, das seit der Einführung der Reformation ganz auf die Promulgation des reinen Wortes Gottes und des „allein seligmachenden Glaubens“19 ausgerichtet sei, sich darum auf die Confessio Augustana invariata (1530) stütze und sich in „Lehre und Leben“ die Pflege des „rechtschaffene[n]/ wahre[n] Christenthum[s]“20 angelegen sein lasse. Rist zufolge ist Danzig als „Eine rechte Gottesstatt“21 zu betrachten, in der die lutherische Konfession tragend ist – wohlgemerkt in einem Umfeld, das römisch-katholisch geprägt ist, worauf Rist freilich diplomatischerweise eher andeutungsweise zu sprechen kommt.22 Der in Danzig verkündigte und praktizierte lutherische Glaube trägt Rist zufolge die Signatur ‚wahren Christentums‘, dem man in höfischen Lebenskontexten allzu selten begegne, worin erneut deutlich erkennbar Rists Prägung durch die Frömmigkeitstheologie Johann Arndts (1555–1621)23 aufscheint, auf die er in der sich anschließenden Vorrede an den Leser denn auch explizit eingeht. Lobend erwähnt Rist nicht nur das „herliche“24 Danziger Schulwesen sowie das im 17. Jahrhundert in der Tat höchst bedeutende Akademische Gymnasium der Hansestadt, das – ähnlich wie dies z. B. in Hamburg und Amsterdam der Fall war – die Funktion einer Hochschule ohne Universi-

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Vgl. a.a.O., 80. Rist, Seelenparadies (wie Anm. 5), fol. c 5v. A.a.O., fol. b 1v. A.a.O., fol. b 2r. Nämlich dort, wo Rist sagt, der polnische König habe den Danzigern im 1577 geschlossenen Frieden „für allen anderen Articulen und streitigen Puncten/ genugsahme Caution und Versicherung müssen leisten“, (Rist, Seelenparadies [wie Anm. 5], fol. b 2r). Hier ist die Gewährung der freien (lutherischen) Religionsausübung durch Stephan Báthory gemeint. 23 Vgl. Hans Schneider, Art. Johann Arndt, in: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon 1, Wilhelm Kühlmann/Jan-Dirk Müller/Michael Schilling/Johann Anselm Steiger/Friedrich Vollhardt (Hg.), Berlin u.a. 2011, Sp. 146–157. 24 Rist, Seelenparadies (wie Anm. 5), fol. b 1r.

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tätsprivilegien wahrnahm,25 sondern auch zahlreiche weitere Aspekte, die Danzigs herausragende kulturelle Bedeutung wahrnehmbar machen. So sei die Stadt hinsichtlich seiner Sakral- und Profanbauten, aber auch seiner Befestigungsanlagen von hoher architektonischer Attraktivität, die Ausdruck ihres Reichtums und ihrer wirtschaftlichen Prosperität als Handelsstadt sei. Besonderes Augenmerk richtet Rist zudem auf die in Danzig etablierte Armenfürsorge, die in der Tat vorbildlich war und sicherstellte, „daß kein Stadteinwohner mehr hungerte, keinem ein Dach über dem Kopf fehlte und niemand zusätzliche Unterstützung beziehen mußte“26, sowie auf das auf Ausgleich von Konflikten und Interessen bedachte Rechtswesen, auf die Gastfreundlichkeit der Handelsmetropole sowie auf die trotz politischer und konfessioneller Grenzen gepflegten Kontakte mit dem benachbarten Königreich Polen-Litauen, die sich etwa darin realisierten, daß die Bürger/ sonderlich/ die dem Kaufhandel obligen/ mehrentheils Ihre Söhne/ wen sie noch gahr jung sind/ in Polen zu verschikken pflegen/ das sie daselbst die Polnische Sprache erlernen/ welches Ihnen nachgehends/ wen sie erwachsen/ sonderlich in ihrer Kaufmanschaft und Gewerben/ treflich wol zu statten komt. 27

Die den beiden Teilen des „Seelenparadieses“ zugrunde liegende literarische Konzeption, die die Heilige Schrift allegorisch als Garten Eden auffaßt und es sich angelegen sein läßt, bestimmte Gewächse dieses Gartens (mithin Kernstellen der Bibel) auszuwählen, um diese lyrisch zu bearbeiten, damit sie als medicina spiritualis ihre geistlich-heilsame Wirksamkeit entfalten, hatte Rist bereits im Vorspann zum alttestamentlichen Teil des „Seelenparadieses“ offengelegt. Rist eröffnete dort eine (im zeitgenössischen Luthertum gängige) eschatologische Perspektive, innerhalb deren die scriptura sacra mit dem Garten Eden parallelisiert wird, dessen himmlische und vollgültige Restitution am (nahe bevorstehenden) Jüngsten Tage erwartet wird: 25 Vgl. Das Akademische Gymnasium zu Hamburg (gegr. 1613) im Kontext frühneuzeitlicher Wissenschafts- und Bildungsgeschichte, Johann Anselm Steiger (Hg.), Berlin u. a. 2017 (im Druck). 26 Zdzisław Kropidłowski, Selbsthilfe und Armenfürsorge in Danzig, Thorn und Elbing vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils, Sabine Beckmann/Klaus Garber (Hg.), Tübingen 2005 (= Frühe Neuzeit 103), 197–209, hier 205. 27 Rist, Seelenparadies (wie Anm. 5), fol. b 6v.

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Wer sich also mit den Texten der Heiligen Schrift befaßt, bewegt sich demzufolge bereits im „rechte[n] SeelenParadis“28, das „im anderen und ewigen Leben“29 endgültig offenbar werden wird. Der geistliche Garten, den Rist mit seinem Werk eröffnet, steht in bewußter Konkurrenz zu und oppositio zum „verfluchten Wollustgahrten diser schnöden Welt“30, wie Rist in der Vorrede an den Leser hervorhebt, um sodann in direkter Anrede an eben diesen die Wirkabsichten seiner geistlichen Lieder darzutun. Sie seien darauf aus, daß „dein Geist erfrischet/ dein Hertz gestärket/ dein Gemühte erneuret/ und du/ mit Leib und Seele zum ewigen Leben werdest wiedergebohren“31. Dem möglichen Einwand, es gebe bereits genügend geistliche Lieder, so daß es unnnötig sei, diesen weitere hinzuzufügen, entkräftet Rist durch den Hinweis darauf, daß die Heilige Schrift einen überaus reichhaltigen Garten darstelle, dessen Heilkräuter niemals erschöpfend genutzt werden könnten: Es ist ja die heilige Schrift ein so grosses/ weitläuftiges Feld/ das derer/ auf demselben daher wachsenden unzehlichen Kräuter Kräfte und Würkunge/ nimmermehr genug können erforschet werden. Es ist ja die heilige Schrift ein so langer/ breiter/ und weit abgemessener Wald/ daß man die darin fürhandene Bäume fast unmüglich kan zehlen. Es ist ja die heilige Schrift ein so weit begriffener Gahrte/ ein so wunderschönes/ libliches Paradis/ daß kein eintziger Mensch/ und wen er auch viele hundert Jahre lebte/ die darinn befindliche anmuhtige Bluhmen/ zur genüge kan aufsuchen/ noch/ was für übernatürliche Geheimnisse darinn verborgen ligen/ recht lernen erkennen. Wie könte oder wolte doch denn/ ein hertzlicher Libhaber dises himmlischen Kräuter= oder Bluhmen=Schatzes/ der Sache zu viel thun/ wen er sich gleich alle Stunden bemühete/ solche edle Paradis=Früchte/ nicht allein in dem wunderschönen Bibelgahrten abzubrechen/ sondern auch den rechten Saft heraus zu ziehen/ und eine kräftige Seelenerquikkung davon zu machen?32

Wie in der Vorrede zum alttestamentlichen Teil des „Seelenparadieses“ und unter neuerlicher Adaptation alchemomedizinischer 28 29 30 31 32

Rist, Seelenparadies (wie Anm. 3), 17, Z. 197. A.a.O., 17, Z. 195f. A.a.O., 54, Z. 998f. A.a.O., 54, Z. 1003–1005. Rist, Seelenparadies (wie Anm. 5), fol. c 1v.

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Terminologie33 sieht es Rist auch nun wieder als seine Aufgabe an, durch Auswahl und lyrische Bearbeitung der wichtigsten Kerntexte 34 des Neuen Testaments seinen Lesern die „Quinta Essentiâ“ derselben in einer den inneren Menschen auferbauenden und tröstenden Art darzubieten, ja den biblischen Paradiesgarten gleichsam in die Herzen seiner Adressaten einzupflanzen: Wen aber solche herliche Sprüche durch eine/ von Gott erleuchtete Seele recht erklähret/ und deroselben eigentliche Kraft/ ja gleichsahm ihre Quinta Essentiâ, oder fünftes Wesen/ daraus gezogen/ und in wolklingende Lieder wird versetzet: Alsden lassen sich ihre Würkunge in den Hertzen der Gläubigen erstlich recht spühren/ den kan eine angefochtene/ bekümmerte und hochbetrübte Seele/ solche himlische Artznei mit Nutz und Frucht recht gebrauchen/ Ja in der höhesten Angst sich damit wider erquikken/ wie solches die Erfahrung an fast unzehlichen Personen hat erwiesen. Ey solte man den/ üm Eines so unvergleichlichen Nutzens willen/ nicht ferner die Hand anlegen/ und das Paradis Gottes/ in den Hertzen aller derer/ welche ihren Schöpfer und den Himmel liben/ nicht weiter bauen und fohrtpflantzen?35

Die spezifisch lyrisch-exegetische Verfahrensweise, die Rist wählt und in die Praxis umsetzt, beschreibt er in der Vorrede zum neutestamentlichen Teil des „Seelenparadieses“ ausführlicher und zugleich präziser als zuvor. Rists Methodik ist gleichermaßen durch Elementarisierung und Intensivierung bestimmt. Denn einerseits werden aus den höchst heterogenen und kaum überschaubaren Textwelten der scriptura sacra die „allerfürtreflichste[n] Sprüche“ ausgewählt, wie schon das Titelblatt kündet, andererseits werden diese lyrischmeditativ einer amplificatio, genauer einer verweilenden, ruminie33 Vgl. Johann Anselm Steiger, Einführung und editorischer Bericht zur Textedition, in: Rist/Flor, Seelenparadies (wie Anm. 3), 689–700, hier 692. 34 Es ist kennzeichnend für Rist, daß er die Auswahl dieser Kerntexte selbständig vornahm und sich keineswegs auf solche neutestamentliche Verse beschränkte, die in der Lutherbibel durch Kapitälchen als sog. Kernstellen (hierzu Hartmut Otto Hövelmann, Kernstellen der Lutherbibel. Eine Anleitung zum Schriftverständnis, Bielefeld 1989 [= Texte und Arbeiten zur Bibel 5]) herausgehoben werden. Von den 82 von Rist ausgewählten neutestamentlichen Texten sind in der Lutherbibel von 1545 lediglich 19 ganz (14) oder teilweise (5) als Kernstellen ausgewiesen. 35 Rist, Seelenparadies (wie Anm. 5), fol. c 2r.

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renden, buchstäblich auf geistliche Einverleibung bedachten Aneignung zugeführt. Rist adaptiert hier die bis in das Mittelalter und die christliche Antike zurückreichende Tradition und Praxis der ruminatio,36 die in der Frühen Neuzeit konfessionsübergreifend virulent war, auch im Luthertum. So parallelisiert etwa Johann Gerhard (1582– 1637)37 im Anschluß an ältere Traditionslinien, die auch bei Luther greifbar sind,38 die rechte Meditation des in der Heiligen Schrift niedergelegten Wortes Gottes mit dem Wiederkäuen der Tiere, die Lev 11,3 zufolge als rein gelten: Gott der HErr hatte in seinem Gesetz verordnet/ daß allein dieselben Thier für rein zu achten seyn solten/ welche wiederkewen Levit. 11. v. 3. anzuzeigen/ daß diß die wahre Eigenschafft der rechtschaffenen Christen vnnd GOtt wolgefelligen Menschen sey/ daß sie Gottes Wort vnnd Wercke ruminiren/ mit Fleis betrachten vnd erwegen. Das Wort Gottes ist ein heiliger Same Luc. 8. v. 11. wenn der Same soll Frucht bringen/ so muß er ins Erdreich auffgenommen vnnd in demselben foviret/ erhalten/ erwärmet vnnd befeuchtet werden/ also wenn der geistliche Same des göttlichen Worts zur Gottseligkeit in vns fruchtbar seyn soll/ so muß er durch Betrachtung im Hertzen foviret vnd bewahret werden. Das Wort Gottes ist das rechte Brot des Lebens/ damit Gott der HErr vnsere Seele speiset Deut. 8. v. 3. soll das leibliche 36 Vgl. Fidelis Ruppert, Meditatio – ruminatio. Zu einem Grundbegriff christlicher Meditation, in: Erbe und Auftrag 53 (1977), 83–93. Heinrich Bacht, „Meditatio“ in den ältesten Mönchsquellen, in: Geist und Leben 28 (1955), 360–373. 37 Vgl. Johann Anselm Steiger, Art. Johann Gerhard, in: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon 2, Wilhelm Kühlmann/Jan-Dirk Müller/Michael Schilling/Johann Anselm Steiger/Friedrich Vollhardt (Hg.), Berlin u.a. 2012, Sp. 557–571. 38 Vgl. WA 15, 676, Z. 7–9 (Predigt am 15. Sonntag nach Trinitatis, 1524): „In cor non accipimus verbum: per aurem intrat, per alteram egreditur. Sed ut faciamus et de verbo ad verbum, ut munda animalia illud kauen, Euangelium ruminabimus.“ Vgl. auch WA 48, 213, Nr. 286, Z. 5–13 (zu 1Tim 4,13, 1542): „Viel sind, die meinen, wenn sie gottes wordt ein mal gehordt oder gelesen haben, sie dürffens nicht mehr, vnnd wissens nu alles vnnd alles[.] Das sind verdorbene Schuler jn der schrift die nie recht angefangen vnnd nie nichts vom worte Gottes geschmeckt haben, Vnnd vergehen also jn jhrem vberdrus wie die juden des Manna auch sat vnd vberdrussig worden, vnnd daruber murreten, lustern wurden vnnd vntergiengenn[.] Es heißt Lectio lecta placet, decies repetita placebit | Et animalia munda ruminant | Qui me comedent, esurient magis etc.“

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Brot zur Nahrung des Leibes dienlich seyn/ so muß es zerkewet vnnd verdawet werden/ also wenn das geistliche Brot das Wort Gottes vnsere Seele speisen vnd setigen soll/ so muß es durch die Betrachtung gleichsam zerkewet vnd verdawet werden/ daß es in alle Adern des innerlichen Menschen sich hernacher austheile. 39

Bemerkenswert freilich ist, daß Rist die Überlegungen zur ruminatio, die sich für gewöhnlich auf den betrachtenden, d. h. die affektiven40 Tiefendimensionen der biblischen Texte auslotenden meditativen Umgang mit der Heiligen Schrift beziehen, lyrisch-musikalisch fruchtbar macht und zuspitzt, indem er den medienspezifischen Beitrag profiliert, den die gebundene Sprache im Verein mit den Melodien zur Aneignung der Wirkkraft der geistlichen Heilkräuter leistet: Wen ich den edlen Zimmet [= Zimt]/ oder Neglein [= Blütenknospen des Gewürznelkenbaumes]/ oder andere derogleichen köstliche Gewürtze/ also gantz und unzerknirschet hinunter schlukke/ so werde ich weder Kraft noch Geruch empfinden; wen ich aber diselben keue/ stosse oder zerquetsche/ so wird der Geschmak/ der Geruch/ ja auch das gantze Haupt und Gehirn des Menschen/ kräftig dadurch erquikket und belustiget. Also/ wen ich die schönste Paradisgewächse/ die edle Himmelskräuter/ ja/ die/ mit keinen irdischen Schätzen verglichene Bibelsprüche/ also zerknirsche/ daß ich nicht nur den Verstand/ sondern auch die innerliche verborgene Kraft eines Jetweden Wohrtes der geängsteten Seelen darstelle: So hat sie Raht/ Trost/ Stärke/ Friede und Freude/ ja eine recht Himlische Ergetzligkeit daraus zu geniessen/ und wird solches alles mit einer sonderbahren Lust von ihr angenommen/ fürnehmlich/ wen solche Seelenlieder/ mit angenehmen Melodien sind ausgezieret/ als welche gleichsahm das Gefässe sind/

39 Johann Gerhard, SCHOLAE PIETATIS LIBRI V. Das ist: Fünff Bücher/ Von Christlicher vnd heilsamer Vnterrichtung/ was für Vrsachen einen jeden wahren Christen zur Gottseligkeit bewegen sollen/ auch welcher gestalt er sich an derselben vben soll […], Jena 21625, II, fol. 43r/v. 40 Vgl. Luther, WA 14, 650, Z. 26–28 (Deuteronomion Mosi cum annotationibus, 1525): „Ruminare vero est cum affectu verbum suscipere et meditari summa diligentia, ita ut non sinat (iuxta Proverbium) una aure illabi et altera elabi sed pertinaciter retineat in corde et deglutiat ac traiiciat in viscera.“

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worinn dise wunderschöne Bluhmen sich aufs prächtigste lassen schauen.41

Nicht wenige Passagen in Rists Leser-Vorrede zum zweiten Teil des „Seelenparadieses“ greifen Gedanken aus der Vorrede zum ersten Teil desselben auf und vertiefen diese. Das ist etwa mit Blick auf Rists Verarbeitung Arndtscher Ansätze der Fall, die ihm offenbar Kritik eingebracht hatte, ohne daß deutlich würde, wer genau die Kritiker waren. Erneut greift Rist Arndts in den „Vier Büchern von wahrem Christentum“42 entfaltete Überzeugung auf, zwei „Stükke“ machten das rechte Christsein aus, nämlich „Recht gläuben und Wol leben“43, wendet sich gegen ein mit Blick auf die sanctificatio und die christliche Lebensführung laxes Gewohnheitschristentum, kritisiert den zwischen evangelischen Theologen herrschenden Gelehrtenstreit, der die Welt mit „Zankbücher[n]“44 und gegenseitigen Verketzerungen fülle, aber nichts zur Realisierung des wahren Christentums, nichts auch zur Bekämpfung des „HeuchelChristenthum[s]“45 beitrage. Rist ruft die in (nicht näher benannte) Gelehrtenstreitigkeiten – im Blick könnte etwa der sog. synkretistische Streit um die Lehrmeinungen des Helmstedter Theologen Georg Calixt (1586– 1656)46 sein – verwickelten Vertreter der theologischen Zunft zur Friedfertigkeit auf und stellt, Arndt zitierend, fest, daß das wahre Christenthum nicht bestehe in Wohrten/ oder im äuserlichen Schein/ sondern im lebendigen Glauben/ aus welchem rechtschaffene Früchte/ und allerlei Christliche Tugenden entspriessen/ als aus Christo selbst. Den/ diweil der Glaube Menschlichen Augen verborgen und unsichtbahr ist/ so mus er durch die Früchte erwiesen

41 Rist, Seelenparadies (wie Anm. 5), fol. c 2v. 42 Johann Arndt, Von wahrem Christenthumb. Die Urausgabe des ersten Buches (1605). Kritisch hg. und mit Bemerkungen versehen von Johann Anselm Steiger, Hildesheim u. a. 2005 (= Philipp Jakob Spener, Schriften, Sonderreihe IV = Johann Arndt-Archiv I). Johann Arndt, Vier Bücher Von wahrem Christenthumb. Die erste Gesamtausgabe (1610) [Reprint]. Johann Anselm Steiger (Hg.), Hildesheim u. a. 2007 (= Philipp Jakob Spener, Schriften, Sonderreihe V, 1–3 = Johann Arndt-Archiv II, 1–3). 43 Rist, Seelenparadies (wie Anm. 5), fol. c 8r. 44 A.a.O., fol. d 1v. 45 A.a.O., fol. d 1v. 46 Vgl. Inge Mager, Art. Georg Calixt, in: RGG4 2 (1999), 12 f.

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werden/ sintemahl der Glaube aus Christo schöpfet alles Guhtes/ Gerechtigkeit und Seligkeit.47

Nicht wie ein Fremdkörper, aber doch recht überraschend nimmt sich Rists recht detaillierte Digression zum Thema „Liebesdichtung“ aus, die er in seine Leservorrede integriert. Man müsse trennscharf unterscheiden zwischen „erbaulichen Tugendliedern/ oder ehrlichen Libes=Gesängen“ auf der einen Seite und „ärgerlichen Schand= und Huhrenliederen“48 auf der anderen. Rist macht geltend, daß alle führenden Poeten – angefangen bei dem in Danzig an der Pest verstorbenen Martin Opitz (1597–1639)49 über Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658)50 bis hinzu Paul Fleming (1609–1640)51, Simon Dach (1605–1659)52, Sigmund von Birken (1626–1681)53 und vielen anderen (ihn selbst eingeschlossen) – sich auf dem Feld der Schaffung weltlicher Liebeslieder betätigt und „mancherlei Tugend= und Libes=Lieder gesetzet“54 hätten. Offenbar sieht sich Rist befleißigt, nach der Entkräftung des offenbar gegen ihn erhobenen Vorwurfs, als Anhänger Arndts einer vom rechten Glauben abweichenden Theologie zu folgen, auch dem Anwurf zu begegnen, es stehe einem rechten geistlichen Dichter nicht an, weltliche Liebesdichtung zu produzieren. Weder bezüglich der ersteren noch der letzteren Debatte gibt Rist Hinweise, die es erlaubten, eine Antwort auf die Frage zu finden, von wem die betreffenden Vorhaltungen stammen. Deutlich aber ist, daß Rist die Diskussion insofern auf die Sachzusammenhänge der Bibeldichtung zurückführt, als er im Anschluß an Harsdörffer und den italienischen Literaten Ferrante Pallavicino (1615–1644) an die Tatsache erinnert, daß sich auch in der Heiligen Schrift Texte 47 Rist, Seelenparadies (wie Anm. 5), fol. d 1v/2r. 48 A.a.O., fol. c 3r/v. 49 Vgl. Wilhelm Kühlmann, Martin Opitz. Deutsche Literatur und deutsche Nation, Heidelberg 22001. 50 Vgl. Stefan Keppler-Tasaki/Ursula Kocher (Hg.), Georg Philipp Harsdörffers Universalität. Beiträge zu einem uomo universale des Barock, Berlin u. a. 2011 (= Frühe Neuzeit 158). 51 Vgl. Stefanie Arend/Claudius Sittig (Hg.), Was ein Poëte kan! Studien zum Werk von Paul Fleming (1609–1640), Berlin/Boston 2012 (= Frühe Neuzeit 168). 52 Vgl. Axel E. Walter (Hg.), Simon Dach (1605–1659). Werk und Nachwirken. Tübingen 2008 (= Frühe Neuzeit 126). 53 Vgl. Hartmut Laufhütte, Sigmund von Birken. Leben, Werk und Nachleben. Gesammelte Studien, Passau 2007. 54 Rist, Seelenparadies (wie Anm. 5), fol. c 4r.

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finden, die als Liebesdichtung zu bezeichnen seien. Insbesondere sei dies im Hohenlied Salomos der Fall, das derart voll von „zahrtlichen LibesWohrten“ sei, daß „auch der allerverlibteste Mensch fast keine brünstiger Reden auf seiner Zungen könte führen“55. Sodann geht Rist bezüglich der geradezu erotisch-literarischen Machart des canticum canticorum referierend ins strikt am Quellentext orientierte Detail, um – hier übrigens auf der Höhe der zeitgenössischen exegetischen Diskussion sich bewegend56 – deutlich zu machen, daß dieser dem König Salomo zugeschriebene biblische Text aus ursprünglich weltlichen Epithalamia, mithin Hochzeitsgedichten, bestehe, die metaphorisch, d. h. durch allegorische Deutung, für die Beschreibung der Liebe des Bräutigams Jesus Christus zu jeder glaubenden Seele nutzbar gemacht worden seien: Da werden der Sulamithin Brüste gerühmet/ das sie liblicher den Wein sind. Da singet der Bräutigam von seiner Freundinnen Augen/ das sie sind wie TaubenAugen/ das sie/ die Braut selber/ sei/ wie eine Rose unter den Dörnern/ das ihre Stimme süsse/ und ihre Gestalt liblich/ Jhre Lippen/ wie eine Rosinfarbe Schnuhr und trieffender Honigseim/ Jhre Wangen/ wie die Ritze am GranahtApfel/ Jhre Brüste/ wie junge Rehezwillinge/ die unter den Rosen weiden/ Jhre Lenden wie zwo Spangen/ die des Meisters Hand gemachet/ Jhr Nabel/ wie ein runder Becher/ Jhr Bauch/ wie ein Weitzenhauffe ümstekket mit Rosen/ Jhr Hals/ wie ein Elffenbeinern Tuhrn/ Jhre Hahre/ wie des Königes Purpur/ Jhre Länge wie ein Palmbaum/ und noch viele andere mehr/ welche recht anmuhtige Libes=Wöhrter der Heilige Geist/ durch eine Ubersetzung (Metaphoram) hat gebrauchet/ damit er uns die Geistliche Libe welche der Sohn Gottes zu seiner Braut träget/ dadurch möge zu verstehen geben/ wird man also in Beschreibung einer irdischen und ehrlichen Libe/ die wahre/ und eigentliche dazu gehörende Wöhrter/ nicht können verbiehten […].57

55 Rist, Seelenparadies (wie Anm. 5), fol. c 4v. 56 Vgl. Johann Anselm Steiger, Ikonographie und Meditation des Hohenliedes in der Barockzeit zwischen Konfessionalität und Transkonfessionalität. Die Göttliche Liebesflamme (1651) Johann Michael Dilherrs und Georg Philipp Harsdörffers sowie das Bildprogramm an der Patronatsempore in Steinhagen (Vorpommern), Leipzig 2016 (= Theologie – Kultur – Hermeneutik 19), 16–19. 57 Rist, Seelenparadies (wie Anm. 5), fol. c 4v.

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Das ‚Neue Musikalische Seelenparadis/ in Sich begreiffend Die allerfürtreflichste Sprüche der H. Schrifft/ Neuen Testaments‘ enthält 24 (ausschließlich lyrische) Ehrentexte, die wiederum aufschlußreiche Einblicke in Rists Netzwerkbildung gewähren. Vier Ehrengedichte stammen von kirchenleitenden lutherischen Theologen (Tobias Seifart, Brandanus Daetrius, Andreas Heinrich Bucholtz, Laurentius Schulze), sechs von Pastoren (Sebastian Franck, Samuel Weisatz, Michael von Lankisch, Andreas Gödeke, Christian von Stökken, Georg Schönberg), zwei von Ratsherren (Christian Brehme, Johann Georg Styrtzel). Hinzu treten vier Beiträge von Lehrern (Tobias Petermann, Balthasar Kindermann, Michael Franck), einer von einem Arzt (Henrich Sigismund Schilling), zwei von Juristen (Johann Höfel, Georg Heinrich Weber), vier von Theologiestudenten (Simon Friedrich Frentzel, Franz Joachim Burmeister, Johann Georg Möller, Johannes Praetorius) sowie einer von einem Studenten der Rechtswissenschaften (Johann Heinrich Sterenbarch). Die Profession Johann Wolkes ist unbekannt. Auffällig ist, daß neun der 24 Verfasser von Ehrentexten von Rist den Dichterlorbeer erhalten hatten, nämlich Schönberg, Petermann, Kindermann, Burmeister, Michael Franck, Sterenbarch, Wolke, Möller und Praetorius. Anders als sonst in den Vorworten zu seinen geistlichen Liedsammlungen gibt Rists Leservorrede zum neutestamentlichen Teil des ‚Seelenparadieses‘ einige Hinweise zur Vorbereitung der Drucklegung des Werkes. Rist erwähnt, hierbei habe ihm Franz Joachim Burmeister (1633–1672) hilfreich zur Seite gestanden, der die (heute nicht mehr greifbare) Reinschrift, mithin die Vorlage für den Setzer, hergestellt und auch die Erarbeitung der Register übernommen habe.58 Rist hatte Burmeister (wahrscheinlich bereits 1656) zum poeta laureatus erhoben, ihn 1660 unter dem Gesellschaftsnamen Sylvander in den Elbschwanenorden aufgenommen und war ihm, wie er betont, zugetan wie einem „leiblichen Sohn“.59 Im Jahr nach dem Erscheinen des neutestamentlichen Teils des „Seelenparadieses“, zu dem Burmeister ein Ehrengedicht beisteuerte, fand dieser als Kandidat der Theologie in Lüneburg Aufnahme, bevor er seit 1670 als Prediger an St. Michaelis ebendort wirkte. Kurz bevor Rist seinen Lesern am Ende der Vorrede Einblick in die fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Komponisten Christian Flor gewährt, thematisiert er – wie in nicht wenigen artverwandten Tex58 Vgl. a.a.O., fol. d 2r/v. 59 A.a.O., fol. d 2v.

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ten – die zurückliegenden Kriegswirren. Schon der nach dem schwedischen General Lennart Torstensson (1603–1651) benannte Torstenssonkrieg (1643–1645) als auch der schwedisch-dänische Krieg trugen Rist in den Jahren 1644 und 1658 schwere Plünderungen seines Pastorats in Wedel und erhebliche Verluste ein, die zwar nicht Leib und Leben seiner Familie, wohl aber deren Besitzstände betrafen. Geraubt wurden Rists an verschiedenen Stellen niedergelegten Verlustlisten zufolge von ihm abgefaßte und zur Veröffentlichung vorgesehene Manuskripte sowie Bücher, aber auch andere wertvolle Gegenstände, die er in seiner Kunst- und Instrumentensammlung sowie in Apotheke, Laboratorium und Kuriositätenkabinett zusammengebracht hatte. Einzigartig aber ist, daß Rist in der zweiten Vorrede zum neutestamentlichen Teil des „Seelenparadieses“ die Gelegenheit ergreift, eines der verlorenen Manuskripte gleichsam zur Fahndung auszuschreiben. Rist erwähnt, es sei ihm zu Ohren gekommen, die betreffende Schrift sei nicht der Vernichtung anheim gefallen, vielmehr plane ein anderer die Veröffentlichung derselben. Es handelt sich um die 1658 gestohlene handschriftliche Fassung der „unschädliche[n] Gahrten Lust“,60 deren zwölf Kapitel umfassenden Aufbau Rist mit sämtlichen Kapitelüberschriften gleichsam steckbriefartig publik macht und die Öffentlichkeit dazu aufruft, ihm das verlustig gegangene Manuskript wieder auszuhändigen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich: Rists geistlich-lyrisches Schaffen war darauf aus, den Glaubenden Gesänge an die Hand zu geben, die ihnen den Paradiesgarten der Heiligen Schrift in die Herzen pflanzen.61 Daß es sich hierbei um das Projekt der Schaffung einer evangelisch-tröstlichen Gegenwelt handelt, mit deren Hilfe fundamentaler Einspruch gegen die von Kriegsläuften, Hunger und Not geprägte empirische Wirklichkeit erhoben wird, liegt auf der Hand.

60 A.a.O., fol. d 4r. 61 S. o. S. 14.