Lutherische Theologie und Kirche - 4/2016 9783846999370

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Lutherische Theologie und Kirche - 4/2016
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JENS WITTENBERG

Die Familien der 43 renitenten Pfarrer in ihren verwandtschaftlichen Beziehungen untereinander Dem Andenken meines verehrten Lehrers Prof. Dr. Manfred Roensch (1930–2001) und seiner Ehefrau Gertraude Roensch geb. Kirsten (1935–2015)

1. Familiäre (und schulische) Beziehungen in ihrer Relevanz für kirchen- und theologiegeschichtliche Zusammenhänge am Beispiel der hessischen Renitenz In den 1950er Jahren führte der Weg der „Renitenten Kirche Ungeänderter Augsburgischer Konfession“1 in die (alte) „Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche“ als deren „Niederhessische Diözese“. Der Weg der ganzen Renitenten Kirche? Nein! Ein Pfarrer ging mit seinen Gemeinden den Weg in die unierte „Evangelische Landeskirche von Kurhessen-Waldeck“. Dabei handelte es sich um Pfr. Rudolf Schlunk mit seinen Gemeinden Schemmern und Morschen.2 Zwanzig Jahre später kam es zu einer literarischen Auseinandersetzung um 1

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Die Bezeichnung „Renitente Kirche ungeänderter Augsburg(isch)er Konfession“ verwendete zunächst der Homberger Konvent vom 10.10.1878 bis zum 8.8.1893 bei seiner engen Konföderation mit der Selbständigen ev.-luth. Kirche in den hessischen Landen, jeweils unter einem eigenen Superintendenten. Nach dem Tod Metropolitan Friedrich Hoffmanns in Homberg schloss sich 1893 der Homberger Konvent und 1904 die renitenten Oberhessen der SELK i.d.h.L. an. Die Bezeichnung „Renitente Kirche ungeänderter Augsburgischer Konfession“ wurde dann zunächst wieder vom Melsunger und Sander Konvent 1904 bei der Herausgabe des Gesangbuches verwendet und dann 1907 beim Zusammenschluss Ernst Graus mit dem Melsunger Konvent. Ich konnte bisher keinen Hinweis darauf finden, dass sich die Gesamtheit der Renitenten nach außen hin von Beginn an als renitente Kirche u.A.K. bezeichnet habe, schließlich verstanden sie sich als DIE (nieder-)hessische Kirche. Renitenz und Bekenntnis. Stellungnahmen von Paul Riemann und Rudolf Schlunk zu den Darlegungen von Hans Peter Mahlke, „Renitenz und lutherisches Bekenntnis“, Marburg 1974, als Manuskript gedruckt, 10f.

_______________________________________________________________________ LuThK 41 (2017), 18–60 DOI 978-3-8469-9937-0

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„Das Ende der renitenten Kirche“3, in deren Verlauf Hans Peter Mahlke 1973 von einer „Schlunkschen Renitenz“4 spricht und damit die Theologie Rudolf Schlunks meint, die es diesem ermöglichte, in den 1950er Jahren als renitenter Pfarrer den Weg in die Landeskirche von Kurhessen-Waldeck, den Weg in die Union zu gehen. Diese Schlunk’sche Theologie steht dabei im Traditionsfluss der Theologie Wilhelm Vilmars und Rudolf Schluncks sen. (s.u. unter 3. Beispiel: Der Schlun(c)ksche Traditionsstrang der renitenten Theologie). Hat man dabei im Blick, dass die renitente Gemeinde Schemmern in der gesamten Zeit ihrer Renitenz (1873–1952) nur von Pfarrern geführt wurde, die der Familie Witzel/Schlunk angehörten (s. Tabelle „Amtszeiten und Gemeinden renitenter Pfarrer des Melsunger und Sander Konvents“) und in der zweiten renitenten Pfarrergeneration auch schon zwei Vettern von Rudolf Schlunck sen. (Moritz Hartwig [angeheiratet], Franz Witzel) in die Landeskirche gingen (s. Grafik „A. Renitente Pfarrer in ihren verwandtschaftlichen Beziehungen [Zweig Neuber/Grau]“), wird die Bedeutung der Größe „Familie“ für die Kirchen- und Theologiegeschichte gerade auch der Renitenz deutlich. Das Erforschen der genealogischen Zusammenhänge der renitenten Pfarrfamilien drängt sich als eine Vorarbeit für eine theologiegeschichtliche Gesamtschau der Renitenz geradezu auf, da oft erst durch das Betrachten der familiären Verbindungen und Bindungen theologische Abhängigkeiten und Zusammenhänge klarer und verständlicher werden. Zu dem familiären Beziehungsgeflecht tritt dann noch das schulische Beziehungsgeflecht. Da ein großer Teil der ersten 43 renitenten Pfarrer Schüler oder Studenten August Vilmars 5 waren und z.T. selbst als Lehrer späterer renitenter Pfarrer tätig waren, kann auch ein Überblick über die schulischen Beziehungen der renitenten Pfarrer untereinander für das Verständnis der theologischen Abhängigkeiten hilfreich sein. Besonders deutlich wird die Bedeutung der schulischen Beziehungen für kirchengeschichtliche Entwicklungen am Beispiel des Melsunger Missionshauses und des kirchenpolitischen Verhaltens seiner Zöglinge in der Iowa-Synode,

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Paul Riemann/Rudolf Schlunk, Das Ende der renitenten Kirche, Monographia Hassiae Heft 2, Kassel 1973. Hans Peter Mahlke, Renitenz und lutherisches Bekenntnis, Eine Antwort auf Riemann-Schlunk: „Das Ende der renitenten Kirche“, Marburg 1974. Riemann/Schlunk, Stellungnahmen (wie Anm. 2). A.a.O., 20. Rudolf Keller, August Vilmar und seine Schüler, in: JHKV 58 (2007), 29ff.

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das zur Gründung der Jehovah-Konferenz in den USA führte (s.u. 2.5. Die Jehovah-Konferenz in den USA). Die hier dargebotenen Graphiken (A.–D. Renitente Pfarrer in ihren verwandtschaftlichen Beziehungen) beschränken sich allerdings zunächst nur auf die familiären Beziehungen und dabei auch nur auf die Familien der 43 Pfarrer, die den Juliprotest 18736 unterschrieben haben und deren Biographien Rudolf Schlunck in seinem Buch „Die 43 renitenten Pfarrer“ von 1923 beschrieben hat. Damit ist die Darstellung zunächst auch nur auf Kurhessen beschränkt. Weil aber die sieben selbstständig-lutherischen Pfarrer im Großherzogtum Hessen (Darmstadt) z.T. verwandtschaftliche Beziehungen zu denen in Kurhessen aufweisen, ist noch eine Graphik hinzugefügt, die die Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der „Renitenz“7 im Großherzogtum Hessen aufzeigt, deren Pfarrer ebenfalls in der direkten Lehrtradition August Vilmars standen und die zur Bildung der „Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche in den hessischen Landen“ führte (s. die Graphik „E. Renitente Pfarrer im Großherzogtum Hessen in ihren verwandtschaftlichen Beziehungen [Zweig Neuber/Müller]“). Im Weiteren beschränke ich mich bis auf wenige Ausnahmen in den Graphiken auf die Darstellung der renitenten Pfarrer und Pfarrfrauen und deren direkte Nachkommen, insoweit diese wieder (renitente/selbstständig-lutherische) Pfarrer oder Pfarrfrauen waren. An wenigen Stellen ist ein Fragezeichen eingefügt, da ich an diesen Stellen keinen Nachweis für das Verwandtschaftsverhältnis gefunden habe, der Nachname aber auf dieses (in welcher Form auch immer) schließen lässt. Da bei verwandtschaftlichen Verhältnissen die Dopplungen von Namen häufig auftreten können, diese Dopplungen aber des öfteren auch in der historisch-wissenschaftlichen Literatur zu Verwechslungen und Missverständnissen führen, ist ein Ertrag dieser Darstellung gerade darin zu finden, solche Fehler in Zukunft durch ein schnelles 6

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Werner Klän/Gilberto da Silva (Hg.), Quellen zur Geschichte selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland, Dokumente aus dem Bereich konkordienlutherischer Kirchen, OUH.E. 6, Göttingen 22010, Dokument 115. [90.] Der „Juliprotest“ (1873), 326ff. Die Bezeichnung der „Darmstädter“ variiert bei den renitenten Pfarrern in Kurhessen je nach kirchlichem Standpunkt. So bezeichnet Karl Wicke (151) die „Selbst. Ev.-luth. Kirche in Hessen“ als „Freikirche“ und zählt sie explizit nicht zur Renitenz, während Heinrich Martin (25) von der „Renitenz in beiden Hessen“ spricht.

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Überprüfen leicht vermeiden zu können. Als ein relativ aktuelles Beispiel für ein solches Missverständnis sei hier auf die Informationstafel hingewiesen, die ein Geschichtsverein in verdienstvoller Weise vor dem neuen Gebäude des Gertrudenstiftes in Großenritte aufgestellt hat. Die Schautafel ist als Kurzinformation über die Entstehung, Geschichte und kirchliche Verortung des Gertrudenstiftes hervorragend, und der Fehler in der Personenzuordnung des Gründungsinitiators des Gertrudenstiftes tut dem keinerlei Abbruch. Auf der Informationstafel ist unter der Überschrift „Gründung des Gertrudenstiftes“ zu lesen: „Metropolitan Wilhelm Vilmar aus Melsungen war nach dem Tod seines Vaters führender Kopf der Renitenten Kirche – einer Vorgängerin der heutigen SELK.“ Durch die Weglassung der Worte „nach dem Tod seines Vaters“ wäre die Information korrekt, zumal der Vater (Pfarrer Johann Georg Vilmar 1766–1846) des Metropolitans Wilhelm Vilmar (1804–1884) schon 1846 gestorben war und mit der Renitenz noch nichts zu tun hatte. Der Autor erweckt nur den Eindruck, dass schon der Vater führender Kopf der renitenten Kirche gewesen war, was vermuten lässt, dass der Autor hier Wilhelm Immanuel Vilmar (1840–1902) meint, den Sohn und Nachfolger Wilhelm Vilmars im Melsunger Pfarramt und im Vorsitz des Gertrudenstiftes. Der Nachfolger im Amt des Metropolitans war aber der Neffe Wilhelm Vilmars August Schilling (1828–1897), der ab 1888 auch Stiftsgeistlicher war. Der Sohn Wilhelm Immanuel Vilmar war erst von 1898 bis 1902 Metropolitan des Melsunger Konvents. Er gehörte zwar mit seinem Vater zu den Gründern des Gertrudenstiftes, aber bei der Gründung des Gertrudenstifts im Jahr 1877 lebte sein Vater noch und sein Vater war auch der Initiator der Gründung gewesen, auf den der weitere Text der Informationstafel Bezug nimmt.8 Im Zuge der wachsenden Bedeutung der Genderforschung einerseits und der Frömmigkeitsgeschichtsforschung andererseits ist der Hinweis angebracht, dass die Bedeutung der Mütter der Pfarrer für die Frömmigkeit und theologische Vorbildung ihrer Söhne nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Das Nachvollziehen der Herkunft der Mütter bzw. auch der Großelternhäuser kann wichtige Traditionsstränge aufzeigen. Soziologische Studien zum Familienleben im 19. und 20. Jahrhundert speziell von (hessischen) Pfarrfamilien wären vonnöten, um an dieser Stelle genauere Angaben über die 8

Vgl. Gottfried Werner, Geschichte des Gertrudenstiftes, in: 100 Jahre Gertrudenstift, Baunatal 1977, 8–16.

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geistliche Erziehung durch die Mütter machen zu können. Die graphische Darstellung der renitenten Pfarrfamilien in ihren verwandtschaftlichen Beziehungen untereinander wird ergänzt durch eine tabellarische Darstellung der Besetzung aller renitenten Pfarrstellen von 1873 bis mindestens 1965, soweit sie von mir bisher ermittelt werden konnte (s.u. die Tabellen „Amtszeiten und Gemeinden renitenter Pfarrer“). Dies möge dazu dienen, sich die personelle Situation der Renitenz in den jeweiligen geschichtlichen Zusammenhängen vor Augen führen zu können. In Kapitel 2 erfolgt nun ein Überblick über das theologische und kirchliche Spektrum der Renitenz, um die Angaben zu den renitenten Pfarrern in den Graphiken auch einordnen zu können. In Kapitel 3 wird dann beispielhaft ein Strang renitenter Lehrtradition aufgezeigt, der zuletzt nur noch von einem Pfarrer vertreten wurde. Das theologisch nicht ganz einheitliche Spektrum der Renitenz mag daran deutlich werden und erklären, warum renitente Pfarrer kirchlich sehr unterschiedliche Wege gegangen sind.

2. Theologisches und kirchliches Spektrum der Hessischen Renitenz Die Geschichte der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) und aller ihrer Vorgängerkirchen im 19. und 20. Jahrhundert ist komplex und unübersichtlich, da der Entstehungsprozess an vielen verschiedenen Orten aus vielen verschiedenen Gründen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten vor sich ging. Die graphische Darstellung der Entwicklung der selbstständigen lutherischen Kirchen in Deutschland (Schaubild 1 „Entwicklung selbstständiger lutherischer Kirchen in Deutschland“) weist daher zwangsläufig auch Ungenauigkeiten oder Uneinheitlichkeiten auf. Beginnt man bei dem Gründungsjahr eines Kirchenkörpers oder schon bei der Suspendierung einzelner Pfarrer und deren Weg? Während bei Friedrich Brunn in Nassau dieser Weg aufgezeigt wird, beginnt die Darstellung der badischen lutherischen Kirche erst mit deren Gründungsjahr und zeigt nicht die Wege der badischen separierten Pfarrer bis zum Gründungsjahr auf. Dafür wäre eine Graphik angemessener, die sich nur auf die Darstellung der badischen Verhältnisse, vielleicht noch unter Hinzunahme des Elsass’ beschränkte. Zumindest bei der Hessischen Renitenz ergibt sich hierbei noch das Problem, dass sich die Renitenten als wahre Fortsetzung der hessischen Kirche verstanden haben

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und in der Kirche von Hessen-Kassel unter einem unierten Gesamtkonsistorium eine neugegründete Kirche sahen.9 2.1. Die Hessische Renitenz Die beiden neueren Darstellungen der Renitenzgeschichte sind mehr der Evangelischen Landeskirche von Kurhessen-Waldeck10 bzw. Rudolf Schlunk11 verpflichtet. Dabei ist auffälllig, dass in beiden Fällen die Darstellung der politischen Motivationen der Renitenz im Vordergrund stehen, die theologisch relevanten Auseinandersetzungen aber nicht zur Genüge reflektiert und analysiert werden. Dagegen kennzeichnet die renitenzeigene Geschichtsschreibung der Fokus auf den theologischen und fast überhaupt nicht auf den politischen Aspekten der Renitenz. Dass die Theologie des „Königtums Jesu Christi“ gerade im 19. Jahrhundert geradezu politisch ist, ist dabei nicht gemeint und steht außer Frage, sondern es geht dabei um die Verquickung der renitenten Theologen und der Renitenz mit der restaurativen Partei in der kurhessischen Politik und später um die von Wilhelm Hopf gegründete „Hessische Rechtspartei“. Diese parteipolitischen Aspekte der Renitenzgeschichte spielen bei der hier dargebotenen Betrachtung des kirchlich-theologischen Spektrums der Renitenz wenn überhaupt nur eine Nebenrolle. Cornelia Meyer-Stoll hat da9

„Diese [renitenten] Gemeinden zogen auch nicht zurück, als durch die Absetzung die Lage ihrer Pfarrer und damit ihre eigene bedeutend kritischer und bedenklicher geworden war, wie denn auch die noch 1875 ausgesprochene Hoffnung des Gesamtkonsistoriums, dass es ,für die betheiligten Gemeindeglieder doch allmählich … eine sehr bedenkliche Last werden wird, fortgesetzt die sich steigernden Strafen zu zahlen,‘ sich nicht erfüllt hat. Im Gegenteil, Anfang des Jahres 1874 ,konstituierten‘ sich verschiedene renitente Gemeinden, indem sie in Schriftstücken an den Kultusminister die durch das Gesamtkonsistorium vertretene Kirche für etwas Neues, für eine ,Staatskirche‘ erklärten, der gegenüber sie selbst … die alte niederhessische Kirche darstellten, die demgemäss also … noch nicht aufgehört habe zu existieren und daher auch den Rechtsanspruch auf alles kirchliche Vermögen usw. nicht aufgebe.“ Karl Wicke, Die hessische Renitenz, ihre Geschichte und ihr Sinn, Kassel 1930, 105. 10 Herbert Kemler, Gott mehr gehorchen als den Menschen, Christlicher Glaube zwischen Restauration und Revolution – dargestellt an der kurhessischen Renitenz, Gießen 2005. 11 Renate Sälter, Die Vilmarianer. Von der fürstentreuen kirchlichen Restaurationspartei zur hessischen Renitenz, Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 59, Darmstadt/Marburg 1985.

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rauf hingewiesen, dass in der Vorgeschichte der Renitenz die politischen und die kirchlich-theologischen Aktivitäten der Vilmarianer sehr stark miteinander verquickt waren, dass aber gerade die Aussagen des sog. Juliprotestes „deutlich machen, dass man hier keinen antipreußischen Widerstand leistete, sondern es den Pfarrern in der Tat einzig und allein um die Wahrung ihrer angestammten Kirchenrechte und die Aufrechterhaltung ihres Bekenntnisses gehe. Hier ist m.E. [Meyer-Stoll] der Wendepunkt erreicht. Die Vilmarianer waren nun eindeutig in der Defensive. Sie beharrten auf Einhaltung ihres Kirchenrechts und verhielten sich fast ausnahmslos unpolitisch.“12 Auf dem Gebiet des ehemaligen Kurhessens in der preußischen Provinz Hessen-Nassau kam es 1873/74 in der Folge einer lutherischen Erweckung unter Führung der Brüder August (1800–1868) und Wilhelm Vilmar (1804–1884) nach dem Tode August Vilmars zur Entstehung der sog. Hessischen Renitenz. Renitent wurden die Pfarrer und Gemeinden genannt, weil sie sich der Anerkennung des durch den preußischen Staat eingesetzten unierten Gesamtkonsistoriums in Kassel widersetzten. 42 Pfarrer auf niederhessischem (Kassel) und ein Pfarrer auf oberhessischem (Marburg) Gebiet wurden 1873/74 wegen Renitenz ihres Amtes enthoben. Dabei waren die renitenten Pfarrer und Gemeinden nach ihrem eigenen Selbstverständnis der Rest und die Fortsetzung der (nieder-)hessischen Kirche, weswegen sie auch nicht ihren Austritt erklärten und z.T. noch lange zur Zahlung der Kirchensteuer gezwungen wurden. Da nicht alle renitenten Pfarrer auch Gemeinden hatten, die ihnen auf dem Weg in die Renitenz gefolgt waren, wanderte ein Teil der renitenten Pfarrer aus und fand größtenteils Anstellung in lutherischen Kirchen, sowohl in Landeskirchen (Kirche in der Herrschaft Reuß ältere Linie, Landeskirche von Bayern/Neuendettelsau) als auch in selbstständigen Kirchen (Ev.-luth. Kirche in Preußen, Hannoversche Freikirche) und deutschsprachigen Auslandskirchen (Iowa-Synode/USA, Neuseeland). Wie in vielen anderen Vorgängerkirchen der SELK kam es auch in der Renitenz in den Anfangsjahren durch das entstandene Machtvakuum und ungeklärte Ordnungsfragen zu Richtungskämpfen, die zu Spaltungen führten. Aber spätestens nach einer Pfarrergeneration begannen auch schon wieder Gespräche zur Annäherung und einer evt. Wiedervereinigung (Schaubild 2 „Einigungsbemühungen selbständiger lutherischer Kirchen in Deutschland“). So ist die Geschichte 12 Cornelia Meyer-Stoll, Die Zülchs und die Hessische Renitenz, in: Nachrichten aus der Familie Zülch, Heft 58, Seeheim-Jugenheim 2003, 23 (4–28).

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der Vorgängerkirchen der SELK durchzogen von zahllosen Spaltungen und Zusammenschlüssen. Werner Klän spricht hier zu Recht von einem ökumenischen Lernprozess im Kleinen.13 Wenn in den 1950er Jahren die renitenten Pfarrer solch unterschiedliche Wege beschreiten konnten wie den Weg in die (alte) Selbständige Ev.-Luth. Kirche einerseits und den in die Ev. Landeskirche von Kurhessen-Waldeck andererseits, dann ist das darauf zurückzuführen, dass die Renitenz theologisch nicht einheitlich war, sondern dass von Anfang an der Wille zur Renitenz auf unterschiedlichen Motivationen beruhte, die je nach Pfarrer und Gemeinde unterschiedlich gewichtet waren und sich z.T. von Generation zu Generation noch stark veränderten. Schon Heinrich Martin hat bemängelt, dass z.B. auch Karl Wicke14 den Fehler beging, „dass er die Anschauungen einzelner Renitenter der Renitenz als solcher zuschreibt. So bezeichnet er [Wicke] als Basis der ,Renitenztheologie‘ die kirchen- und weltgeschichtliche Betrachtungsweise J.W.G. [Wilhelm] Vilmars, ein Urteil, das von dem engen Anhängerkreis des Metropolitans, nicht aber von allen Renitenten gilt.“15 Auch in der literarischen Auseinandersetzung von Rudolf Schlunk16 und Hans Peter Mahlke17 um „das Ende der renitenten Kirche“ scheint noch der Sinn dafür zu fehlen, dass schon bei den Vätern der Renitenz unterschiedliche Gewichtungen bei den Motivationen zur Renitenz vorhanden waren und der unterschiedliche Weg der „Söhne“ gerade darauf zurückzuführen ist und beide Wege, sowohl der in die selbständige lutherische Kirche als auch der in die Landeskirche von Kurhessen-Waldeck, durchaus als berechtigte Wege renitenter Tradition gesehen werden können, auch wenn sie sich unversöhnlich gegenüberstehen.

13 Vgl. Werner Klän, Der Weg Selbständiger Evangelisch-Lutherischer Kirchen in Deutschland. Ein ökumenisches Modell im Kleinen, in: Lutherische Kirche in der Welt (Jahrbuch des Martin-Luther-Bundes) 37 (1990), 205–228. 14 Wicke, Renitenz (wie Anm. 9). 15 Heinrich Martin, Der Kampf der deutschen lutherischen Freikirchen im 19. Jahrhundert, Bekennende Kirche Sechste Reihe Heft 56/57, München 1937, 53, Anm. 35. 16 Riemann/Schlunk, Ende (wie Anm. 3). 17 Mahlke, Antwort (wie Anm. 3).

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Mindestens drei theologische Hauptmotive spielten bei dem Willen zur Renitenz eine Rolle:18 1.

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Die lutherische Bekenntnisstellung, und zwar nicht (nur) in der Form des Konkordienluthertums, sondern gerade auch in der hessischen Sonderform unter alleiniger Berufung auf die ungeänderte Augsburgische Konfession von 1530 und deren Apologie. Der Rechtsstandpunkt der Renitenz, der das Bestehen der hessischen Kirche von der Gültigkeit der gewachsenen Rechtsstrukturen und damit von den hessischen Kirchenordnungen abhängig machte und eine Umgestaltung der hessischen Kirche nur anerkennen konnte, die durch ein Verfahren nach den hessischen Kirchenordnungen zustandegekommen war, was bei der Einführung des Gesamtkonsistoriums nicht der Fall gewesen war. Die Anerkennung des Herrn Jesus Christus als alleinigen Herrn der Kirche (Königtum Jesu Christi), der nur durch das geistliche Amt (Amtslehre August Vilmars) – und bei Wilhelm Vilmar bis zum Tode des hessischen Kurfürsten auch durch den landesherrlichen Summepiskopat des hessischen Fürstenhauses – in Seiner (hessischen) Kirche regiert.

18 Vgl. das Kapitel „Das Ziel der Renitenz“, in, Wicke, Renitenz (wie Anm. 9), 123ff. und die Ausführungen über das „Zeugnis vom Königtum Christi“ in: Friedrich Wilhelm Hopf, Nachruf zur Beerdigung von Pfr. Wilhelm Schmidt, in: Unter dem Kreuz, Februar 1962. Zu finden auch bei Diethardt Roth, Die evangelisch-lutherische Christusgemeinde in Vergangenheit und Gegenwart 1873– 1982, in: 100 Jahre Evangelisch-Lutherische Christuskirche Melsungen 1882– 1982, Melsungen 1982, 43 (21–53).

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2.2. August und Wilhelm Vilmars Stellung zu den lutherischen Bekenntnissen19 Da ein großer Teil der renitenten Pfarrer Schüler oder Studenten August Vilmars gewesen waren, Wilhelm Vilmar aber die führende Persönlichkeit der Renitenz war, lassen sich ein Teil der unterschiedlichen Motivationen zur Renitenz gerade auf die theologischen Differenzen der Brüder Vilmar zurückführen. Besonders deutlich wird das im Bezug auf ihre Stellung zu den lutherischen Bekenntnissen. Die Unterschiede der Brüder Vilmar in ihrer Stellung zu und Bewertung der lutherischen Bekenntnisse in den 1860er und 1870er Jahren hat seinen Grund in ihrer unterschiedlichen Deutung der Kirchengeschichte.20 Während für August Vilmar die Kirchengeschichte ein „succesives, in bestimmter Ordnung erfolgendes Ausschöpfen, Nacherleben und Durchleben des Inhaltes der christlichen Offenbarung“ ist, ist sie bei Wilhelm Vilmar die „stufenweise […] zu immer größerer Klarheit fortschreitende […] Offenbarung […] der Kirche selbst im Medium ihrer Geschichte“.21 Hier zeigt sich die unterschiedliche Ak19 Dieser Abschnitt ist einem Kapitel meiner Examensarbeit entnommen, die von Werner Klän in Oberursel betreut wurde. Jens Wittenberg, „Die Königsherrschaft Jesu Christi“ – ein spezifisches Theologumenon der hessischen Renitenz und seine Relevanz für die Bestimmung des Verhältnisses von ‚Staat und Kirche‘. Eine motivgeschichtliche Untersuchung anhand von J.W.G. Vilmar, Rudolf Schlunk (d.J.) und Karl Wicke, Oberursel 1998.“ Bezüglich der Trennung zwischen Homberger und Melsunger Konvent zieht Kemler u.a. das Fazit, dass „der fundamentale Gegensatz zwischen den beiden Vilmar-Brüdern von der bisherigen Renitenzforschung weitgehend übersehen worden ist.“ Herbert Kemler, Friedrich Hoffmann und der Homberger Konvent, in JHKV 58 (2007), 65. Dieser Zusammenhang wird im Folgenden aufgezeigt. 20 „… diese Anschauung [August] Vilmars von der stufenweise geschichtlichen Entwicklung der kirchlichen Erkenntnis […] ist die Grundlage und der Hauptschlüssel seiner gesamten Theologie.“ Wilhelm Hopf, August Vilmar. Ein Lebensund Zeitbild 2, Marburg 1918, 76. Gleiches lässt sich viel stärker für das Verhältnis von Geschichtsbild zu theologischer Gesamtkonzeption bei Wilhelm Vilmar sagen. 21 Klaus Engelbrecht, Um Kirchentum und Kirche. Metropolitan Wilhelm Vilmar als Verfechter einer eigentümlichen Kirchengeschichtsdeutung und betont hessischen Theologie, Frankfurt am Main 1984, 84. Die Offenbarung der Kirche selbst denkt Wilhelm Vilmar dabei zutiefst christologisch, so dass sich Christus durch bzw. in der Kirche stufenweise als der Prophet, Priester und König offenbart, wobei die Lehre von den drei Ämtern Christi aus der reformierten Lehrtradition

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zentuierung, welche schon im Konfessionsstreit der 1850er Jahre zu den Meinungsverschiedenheiten der beiden Brüder geführt hatte. Für August Vilmar bestand die in der Kirchengeschichte geschehende Fortentwicklung des „Organismusses“ der Kirche im fortschreitenden Offenbarwerden des Inhaltes der Offenbarung, und zwar der kirchlichen Lehre in ihren Dogmen. Bei Wilhelm Vilmars Deutung der Kirchengeschichte ist es dagegen die Kirche selbst, die sich fortschreitend in der Kirchengeschichte offenbart. Dabei war für August Vilmar die in der Erfahrung der Kirche bewusst gewordene Lehre des ungeänderten Augsburger Bekenntnisses von 153022 sowie seine eigene Amtslehre, wenn nötig, auch gegen die hessischen Kirchenordnungen durchzusetzen. Gerade die hessischen Kirchenordnungen aber wurden von Wilhelm Vilmar als der „Leib der Kirche“ angesehen,23 deren „Seele“, ohne die der Leib wertlos sei, das Augsburger Bekenntnis sei.24 Dabei stellten für Wilhelm Vilmar die Kirchenordnungen von 1657 den unbeweglichen Rechtsbestand der hessischen Kirche dar, dem er den Status göttlichen Rechtes zusprach. „Diese Kirchenordnungen von 1657 bilden somit die heiligen Rechtsschranken, in welchen das niederhessische Volk die Rechtsgültigkeit der Augsburger Confession […] allein festhalten kann.“25 August Vilmar dagegen sah in den Kirchenordnungen von 1657 „das dümmste sog. Reformiertentum, wirklich: der krasseste bekenntnislose Unionismus,

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stammt. Vgl. auch Volker Stolle, Wer seine Hand an den Pflug legt, Groß Oesingen 1992, 72ff. Der Gedanke der staatsfreien Kirche setzt sich bei August Vilmar in den 1830er Jahren „unter dem Eindruck der ‚Erfahrung’ der Confessio Augustana […] durch“. Ulrich Asendorf, Die europäische Krise und das Amt der Kirche, Berlin 1967, 90. „Die uns vom Herrn gegebene Krone sind die Ordnungen der Kirche. In ihnen ist verborgen der ganze Schatz des ewigen Lebens, der uns gegeben ist“ Wilhelm Vilmar, Die Hessischen Kirchen-Ordnungen vom Jahre 1657 in ihrem Zusammenhang und ihrer Bedeutung für die Gegenwart, Ein Vortrag gehalten in der niederhessischen Pastoralconferenz am 3. April 1867, Frankfurt am Main 1867, 31. Wilhelm Vilmar, Der gegenwärtige Kampf der Hessischen Kirche um ihre Selbständigkeit mit Rücksicht auf das in ihr hervorgetretene Zeugniß vom geistlichen Amt, Cassel 1871, 125f. Wilhelm Vilmar, Sollen die Kirchenordnungen von 1657 bestehen oder vergehen? Eine Anfrage an sämtliche Gemeinden der niederhessischen Kirche. Melsunger Missionsblatt 1876, 91ff.

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nicht allein vorhanden, sondern als Recht proklamiert“.26 So konnte August Vilmar einerseits die Berufung auf die hessischen Kirchenordnungen als einzige Möglichkeit bezeichnen, „uns Niederhessen […] aus den preußischen Fluten zu retten“, musste aber gleichzeitig einräumen, dass eine Unionisierung der niederhessischen Kirche auf der Grundlage ebendieser Kirchenordnungen nur noch des wenigen Nachhelfens durch den preußischen Staat bedurfte.27 Er trat für die Geltendmachung der Kirchenordnungen dabei nur um des Augsburger Bekenntnisses willen ein, welches unabänderlich sei und das einzige unangreifbare Recht der niederhessischen Kirche. Die Isolation der (nieder-) hessischen Kirche, welche durch ihren eigentümlichen Bekenntnisstand hervorgerufen wurde, bewertete er negativ und drang gegen Ende seines Lebens, „auf der Grube gehend“28, darauf, gegen die Unionsversuche des preußischen Staates sich eindeutig zugunsten des lutherischen Bekenntnisses auch in der Form des Konkordienbuches von 1580 zu erklären.29 Wilhelm Vilmar sah dagegen „in der Nichtannahme der Konkordienformel durch die hessische Kirche eine Bewahrung, gleichsam eine Sicherstellung des ‚ursprünglich reformatorischen’ Charakters der niederhessischen Kirche“. 2.3. Spaltung der Renitenz in Homberger und Melsunger Konvent (1877) Gerade die Bekenntnisfrage führte in der Renitenz sehr bald zu einer Spaltung, da die Anfrage von Pfarrern der lutherischen Landeskirche 26 Brief von August an Wilhelm Vilmar vom 21.5.1867, in Auszügen abgedruckt bei Wilhelm Hopf, August Vilmar. Ein Lebens- und Zeitbild 2, 433. und bei Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 6), 317. 27 Ebd. 28 August Vilmar, Die Gegenwart und Zukunft der niederhessischen Kirche, Marburg 1867, 3. 29 „Aus eben diesem Gesichtspunkte kann auch das Concordienwerk nicht hoch genug in Anschlag kommen, und es begreift sich schon hieraus, daß dasselbe in den particularistischen Lagern, bei den Reformierten und Kryptocalvinisten, so heftige Erbitterung erregen konnte.“ „Diesen Schild [den lutherischen Namen] besitzt die niederhessische Kirche zur Zeit nicht, und wenn sie nicht sehr zeitig mit der stärksten Betonung ihres niemals aufzugebenden Bekenntnisses und Bekenntnisrechtes hervortritt, so ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß Einer nach dem Andern durch die getroffenen Maßregeln schwach und mürbe gemacht wird.“ A.a.O., 16. 31.

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Hannovers nach einer Kirchengemeinschaft an die Renitenz herangetragen wurde, die niederhessische Bekenntnisstellung mit den reformierten Verbesserungspunkten des Landgrafen Moritz von 160730 aber ein Hindernis darstellten. Ein Teil der renitenten Pfarrer und Gemeinden unter Führung des Metropolitans Hoffmann in Homberg/Efze war bereit, die Verbesserungspunkte aufzugeben und folgte später auch den Gedanken August Vilmars in Bezug auf die Annahme der Konkordienformel.31 Metropolitan Wilhelm Vilmar in Melsungen mit seinen Anhängern hielt an den Verbesserungspunkten fest, um den Rechtsstandpunkt der Renitenz in Wilhelm Vilmars Sinne überhaupt aufrecht erhalten zu können, da für ihn das gewachsene Recht (die Kirchenordnungen von 1657 und die Verbesserungspunkte von 1607) Teil der göttlichen Offenbarung war. Nach der Amtslehre August Vilmars war die Kirche vom geistlichen Amt her gedacht, so dass die jeweiligen Zusammenschlüsse der Renitenten sich (Pastoral-) Konferenzen oder Konvente nannten, so wie hier nach den Pfarrorten der jeweiligen Anführer der Homberger und der Melsunger Konvent. 2.4. Die Renitenz in Oberhessen „Dazu kam noch als 3. Gruppe Schedtler und das Kirchspiel Dreihausen-Heskem, die als der renitente Rest der alten oberhessischen Kirchenformation gleichsam einen Konvent für sich allein bildete und nach einem bald wieder aufgegebenen Anschluß an die Freikirche in 30 Gilberto da Silva, Die Renitente Kirche ungeänderter Augsburger Konfession, 310, in: Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 6), 307ff. 31 Heinrich Martin weist schon darauf hin, dass der Melsunger Konvent als Renitente Kirche bei der Konföderation mit der SELK in den hessischen Landen 1910 sich auf eine Grundlage stellte, „die im wesentlichen der ursprünglichen grundsätzlichen Stellung der Homberger entsprach und für die diese jedenfalls schon vor 30 Jahren zu haben gewesen wären.“ Martin, Kampf (wie Anm. 15), 56. Martin hat auch als Anlage IV. (67f.) Teile aus der „Antwort auf eine Zuschrift Hannoverscher Geistlichen an die niederhessische Pastoralkonferenz, die konfessionelle Stellung der nichtunierten niederhessischen Kirche und die derselben durch diese Stellung gebotene Abwehr betreffend, Leipzig 1874“ als „Erklärung der Homberger Renitenten über Amt und Kirchenregiment“ abgedruckt, die von Kemler als „bis heute nahezu unbekannte Erklärung“ bezeichnet wird. Herbert Kemler, Friedrich Hoffmann und der Homberger Konvent, in: JHKV 58 (2007), 55. Sälter bespricht die „Antwort“ der Homberger auch eingehend in ihrer Darstellung. Sälter, Vilmarianer (wie Anm. 11), 294f.

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Hessen-Darmstadt [s.u. 2.8.] bis zum Jahre 1904 mit dem Sander Konvent eng konföderiert war, dann aber durch die Unterstellung unter die ,selbständig ev. luth. Kirche in den hessischen Landen‘ der Renitenz verloren ging.“32 2.5. Die Jehovah-Konferenz in den USA ([1877/1886] 1893 bis ca. 1927) Die Ausbildung von Missionszöglingen im Melsunger Missionshaus für den Pfarrdienst unter Deutschamerikanern in den USA innerhalb der Iowa-Synode hatte zur Folge, dass die Theologie Wilhelm Vilmars gerade auch mit ihren seltsamen Aspekten wie der Romantisierung des niederhessischen Bekenntnisstandes sogar noch exportiert wurde (s.u. die Tabelle „Renitente Pfarrer in der IowaSynode/Jehovah-Konferenz“). Einige Missionszöglinge beharrten auch innerhalb eines dezidiert konkordienlutherischen Kirchenkörpers wie der Iowa-Synode darauf, sich reformiert zu nennen und als Bekenntnisse nur die Augsburger Konfession mit ihrer Apologie anzuerkennen. Dies geschah in offener Ablehnung der Lehre der Konkordienformel von der communicatio idiomatum, und damit genau in der Linie der Verbesserungspunkte von 1607. Dass dies durch die Zöglinge geschah, die 1877 ausgesandt wurden, also genau in dem Jahr, in dem die Trennung vom Homberger Konvent aufgrund des Bekenntnisstandes geschehen war, ist nicht verwunderlich. Geprägt von der Auseinandersetzung zwischen „Hombergern“ und „Melsungern“ sollten die Zöglinge sich nun auf einmal lutherisch nennen und die Lehren der Konkordienformel vertreten - eine Position, die Wilhelm Vilmar in Melsungen gerade vehement bekämpft hatte. Vilmar maßregelte von Melsungen aus zwar die Vorgehensweise der 32 Wicke, Renitenz (wie Anm. 9), 151. Waren die Oberhessen von 1874–1876 mit dem Kirchenkampf beschäftigt, hatten sie ab 1876 Gemeinschaft sowohl zu den renitenten Niederhessen als auch zu den selbstständigen „Darmstädtern“. Die Gründe für den Bruch mit den letzteren lagen einerseits im Kirchenaustritt derselben, andererseits in der engen Konföderation mit den Hombergern, die die Verbesserungspunkte aufgegeben hatten. Beide Positionen wurden von den renitenten Oberhessen nicht mehr als renitent angesehen, so dass sie ab 1877/78 nur noch mit dem Melsunger Konvent und ab 1880 nur noch mit dem Sander Konvent Gemeinschaft pflegten. Im Hintergrund des Anschlusses an die Selbständige Kirche 1904 steht wahrscheinlich sowohl ein Generationswechsel in dem Pfarramt, als auch das Konföderationsstatut zwischen Sander und Melsunger Konvent.

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drei Zöglinge, gab ihnen aber in den theologischen Fragen recht, was vonseiten der Iowa-Synode zunächst zu Irritationen, dann zu Spannungen und schließlich zum Abbruch der Beziehungen führte. Die Melsunger Mission „machte zwar noch den Versuch, das belastete Verhältnis zu bereinigen, indem sie am 27.8.1882 den Lehrer Johannes Reinhard zum Reiseprediger ordinierte und nach Amerika entsandte, um die Melsunger Sendboten zu besuchen und mit der Iowa-Synode zu verhandeln, aber inzwischen hatte diese die Gemeinschaft ihrerseits aufgekündigt. Nach dem Tode Wilhelm Vilmars kam es dann zur Gründung einer selbstständigen Missionstätigkeit. 1886 wurde der frühere Sendling und bisherige Hausvater im Missionshaus, Wilhelm Hartwig, ordiniert und ausgesandt. Er gründete mit vier Zöglingen zunächst [1886] das Jehovah-Konvikt33 in Greenfield bei Detroit. Als sich wenige, kleine Gemeinden vor allem aus hessischen Auswanderern bildeten, ordinierte Hartwig [1893] die inzwischen weitergebildeten Kandidaten. Nächste Aussendungen konnten erfolgen.34 Geht man davon aus, dass die Pfarrer der Jehovah-Konferenz die konfessionelle Entwicklung des Melsunger Konventes 1907/1910 mitvollzogen haben und auf der Linie des Konföderationsstatutes mit der SELK in den hessischen Landen (1910) auf den konfessionellen Standpunkt des Homberger Konventes von 1877 eingeschlagen sind, könnte man vermuten, dass die Gründe, die 1880 zur Trennung von der Iowa-Synode geführt hatten, nun wahrscheinlich nicht mehr zur Lehrstellung der Jehovah-Konferenz gehörten. Tatsächlich aber wurde weiterhin die Annahme der Konkordienformel verweigert und die Lehre der communicatio idiomatum als menschliche Spekulation verworfen.35 Pfarrer Heinrich Rehn, als Sekretär der Konferenz, charakterisiert 1926 die Lehrstellung der Jehovah-Konferenz dann auch folgendermaßen:

33 „Der Name ,Jehovah‘ für das Konvikt, die erste Gemeinde und die Konferenz nimmt ein Wortspiel auf, mit dem Wilhelm Vilmar bei den ersten Spannungen mit der Iowa-Synode seine Hoffnung ausdrückte, er könne die Iowa-Synode nach dieser Läuterung ,Jehovah-Synode‘ nennen, im Glauben, dass die Herrlichkeit des Herrn je länger je mehr in ihr hervorleuchte und sichtbar werde“, MMB 5 (1876), 38. Stolle, Hand (wie Anm. 21), 69, Anm. 311. 34 A.a.O., 69f. 35 Vgl. Die kirchliche Stellung der Jehovah-Konferenz, in: Melsunger Missionsblatt, 1907, 14f.

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„The doctrinal position of the ministers and churches of the Jehovah Conference is in accord with that of other Evangelical Lutheran churches. They recognize the Apostels´ and Nicene creeds and the Augsburg Confession of 1530 as authoritative. In polity they are entirely independent and are not affiliated with any synod in the United States.“36

Noch vor Erscheinen des Census-Berichtes für das Jahr 1926 hat, so wird in diesem berichtet, die Jehovah-Konferenz offiziell aufgehört zu existieren, also um das Jahr 1927 herum.37 Wenn man bedenkt, dass die Konferenz im Jahr 1926 nur noch drei Pastoren hatte, Hartwig im Mai 1927 im Alter von 72 Jahren verstarb und August Deichmann noch 1926 den Ruf zum Stiftsgeistlichen im Gertrudenstift erhiehlt und annahm, ist zu vermuten, dass der verbliebene Pfarrer Heinrich Rehn die Konferenz als (Pfarr-)Konferenz im renitenten Sinne gar nicht mehr aufrecht erhalten konnte. Wo Rehn verblieben ist und was mit den Gemeindegliedern in Michigan und Maryland geschah, inwieweit diese sich vielleicht konfessionell umorientierten, bleibt die Aufgabe weiterer Forschungen.38 Die „lutherischen Glaubensgenossen in Amerika“ werden allerdings noch im Zusammenhang mit der Finanzierung von Ausbau- und Renovierungsarbeiten im Gertrudenstift in den Jahren 1926 bis 1929 erwähnt.39 2.6. Spaltung des Melsunger Konvents in Sander und Melsunger Konvent (1880 bis 1927) Das gewachsene Recht spielte auch bei der zweiten Spaltung innerhalb der Renitenz eine Rolle. Entgültig vollzog sich die Spaltung durch die Auseinandersetzung um einen Kirchenzuchtsfall in Kas-

36 Heinrich Rehn, History, doctrine and organisation, sub voce Evangelical Lutheran Jehovah Conference, in: Census of Religious Bodies, 1926, 144. 37 Ebd., Anm. 1. 38 Ein Artikel zur Geschichte der Jehovah-Konferenz ist geplant und die Forschungen dazu schon im Gange. 39 Werner, Gertrudenstift (wie Anm. 8), 34. Bisher konnte ich nur ermitteln, dass das frühere Kirchgebäude der Jehovah Lutheran Church in Greenfield, Detroit, heute Greenfield Peace Lutheran Church heißt und einer Gemeinde der Missourisynode gehört.

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sel,40 der von Vilmar in Melsungen nicht anerkannt wurde. Daraufhin wurden die aus der Kasseler Gemeinde ausgeschlossenen Gemeindeglieder von Melsungen aus pfarramtlich versorgt. Dies führte in dem schon seit Jahren schwelenden Streit um die Form eines Kirchenregimentes innerhalb der Renitenz zu einer Entscheidung. Während ein großer Teil der renitenten Pfarrer die Meinung vertrat, dass bei der Neuordnung der hessischen Kirche (Renitenz) nach der Kirchenordnung zu verfahren sei und Wilhelm Vilmar in einer Wahl zum Superintendenten wählen wollten, vertrat Wilhelm Vilmar selbst den Standpunkt, dass in der Übernahme der gewachsenen Strukturen die Leitung der hessischen Kirche bei dem höchstrangigen noch in der Kirche verbliebenen Amtsträger liege, und damit bei ihm selbst als Metropolitan und lehnte eine Wahl ab, da diese etwas Neues schaffen würde und dann nicht mehr die alte hessische Kirche wäre. Der Melsunger Konvent unter Vilmar als Metropolitan hatte eine streng hierarchische, episkopale Struktur, während der Sander Konvent41 unter jährlich wechselnder Führung eines Präses nach einem 40 Die Verwendung von Geldern des Kirchenkastens für fremde Zwecke wurde von dem Kassenmeister Dr. Stern zugegeben, von diesem aber nicht als Unrecht erkannt (Die Fremdverwendung der Gelder sei nach Sterns Aussage eine direkte Folge der Auflösung der Verlobung der Tochter des Kirchenältesten Schlunk mit Pfarrer Thamer?!). So musste Dr. Stern, da eine sichere Verwahrung von Gemeindegeldern durch ihn nicht mehr zu erwarten war, nach einem seelsorgerlichen Gespräch durch Pfr. Wetzell und fortwährender Unbußfertigkeit das Abendmahl verweigert werden, das Stern sich dann versuchte, bei nächster Gelegenheit im öffentlichen Gottesdienst zu ertrotzen. Dies wurde ihm verweigert, worauf er dem Pfarrer und dem Presbyterium die Rechtmäßigkeit absprach. Ihm schloss sich Kantor und Organist Ringeling an und erklärte seine Renitenz. Der Fall zeigte in fataler Weise das Fehlen eines anerkannten Kirchenregiments innerhalb der Renitenz auf, was zu Rechtsunsicherheiten und Kompetenzstreitigkeiten führte. Vgl. Presbyterium der renitenten Gemeinde zu Kassel (Hg.), Kirchenregiment und Kirchenzucht in der hessischen Renitenz, Eine Schutzschrift, Kassel 1881. Wilhelm Vilmar, Die hessische Renitenz und die renitente Gemeinde in Kassel, Kassel 1881. 41 Bätzing erzählt, dass der Name des Sander Konvents vom Pfarrort Pfr. Wilhelm Emil Dieterichs herrührt, der auf der Pastoralkonferenz am 10.7.1878 den programmatischen Vortrag „Die Hessische Renitenz nach der Auffassung des Pfarrers Dieterich in Sand“ gehalten hat. Gerhard Bätzing, Pfarrergeschichte des Kirchenkreises Wolfhagen, Marburg 1975, 258. Zur Leitungsstruktur des Sander Konvents vgl. die Ausführungen Rudolf Schlunck sen., in: Kirche und Welt, Zweite Folge, 3. Jahrgang, Nr. 4, Schemmern 1914, 206.

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kollegialen System geleitet wurde und aus Mangel an einer geeigneten Persönlichkeit keine wirkliche Kirchenleitung einrichtete und so der Sander Konvent in einer mehr oder minder losen Verbindung der einzelnen Pfarrer und Gemeinden weiter existierte. 2.7. Pfarrer Thamer-Sternsche Personal- und Sammelgemeinde des hessischen Diakonissenhauses „Gertrudenstift“ (1887 bis 1946) 1887 entstand in Kassel dann noch eine weitere Abspaltung der Renitenz unter Führung von Pfarrer Ludwig Thamer und Lehrer Konrad Stern. Stern gehörte zu den schon im Kirchenzuchtsfall von 1880 exkommunizierten Gemeindegliedern,42 die dann aber vom späteren Melsunger Konvent pfarramtlich versorgt wurden. Stern überwarf sich ein weiteres Mal mit seiner Gemeinde (Melsunger Konvent), in der er das Amt des Kassenführers innehatte. Pfarrer Thamer im Gertrudenstift stellte sich auf Sterns Seite und ordinierte diesen später auch. „Nach Thamers Tod (1904) wurde diese Gemeinde von dem durch ihn ordinierten früheren Lehrer Konrad Stern betreut. Die Gottesdienste der Gemeinde wurden in Kassel-Oberzwehren in einem Betsaal am Sinninghof abgehalten. In Großenritte fanden sie in einer kleinen hölzernen Kapelle unweit des Stammhauses des alten Gertrudenstiftes statt.“ Weitere Kleinstgemeinden dieser renitenten Abspaltung existierten in Besse, Metze und Wolfershausen. „Konrad Stern, der 1918 starb, hatte vorher zu seinen Nachfolgern den Kirchenältesten Hermann Damm und seinen Sohn, den Zahnarzt Dr. Gotthilft Julius Stern, ordiniert. Damm starb im Jahre 1944, Dr. Stern am 18.12.46. Die hinterlassenen renitenten Familien schlossen sich teils der Landeskirche an, teils“ der Kasseler renitenten Gemeinde, „deren geschätzte Glieder sie heute sind.“43 Über die Theologie dieser renitenten Splittergruppe lässt sich in der einschlägigen Literatur nichts finden. Karl Wicke zählt sie nicht mehr zur Renitenz und 42 Vgl. Kirchenregiment und Kirchenzucht in der hessischen Renitenz, Eine Schutzschrift, hrsg. von dem Presbyterium der renitenten Gemeinde zu Kassel, Kassel 1881. J.W.G. Vilmar, Die hessische Renitenz und die renitente Gemeinde in Cassel, oder ist das Verfahren des Pfarrers Wetzell, durch welches er fünf Glieder dieser Gemeinde aus der Kirchengemeinschaft ausgeschlossen hat, für die gesamten [sic!] hessische Renitenz maßgebend?, Eine innere Lebensfrage für die hessische Renitenz, Cassel 1881. 43 Gottfried Werner, Entstehung und Entwicklung der Gemeinde, in: Zehn Jahre Evangelisch-Lutherische St. Michaelis-Gemeinde zu Kassel, Kassel 1977, 14.

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konstatiert, dass sie von allen Renitenten als „rotten- und schwarmgeistige Absplitterung“ verurteilt wurde.44 2.8. Die „Renitenz“ im Großherzogtum Hessen Im Großherzogtum Hessen kam es 1874 zur Absetzung von Pfarrern, die sich der Einführung einer unierten Kirchenordnung unter Regierung ihres Fürstenhauses widersetzten und sich daher nach dem eigenen Selbstverständnis auch als „renitent“ bezeichneten, ihren kirchlichen Zusammenschluss dann allerdings „Selbständige evangelisch-lutherische Kirche“ nannten. Hier sei nur auf die kirchlichtheologische Ausrichtung der Verfassung hingewiesen, die diese kleine Kirche sich gegeben hat. Heinrich Martin schreibt dazu: „Die neue Kirchenordnung, die für die frei gewordenen Gemeinden entworfen und 1877 angenommen wurde, schloß sich an die alte hessische Kirchenordnung von 1566 an und zeigte den bestimmenden Einfluss der Gedanken August Vilmars, indem die verantwortliche Leitung der Kirche dem unter dem Superintendenten zusammengeschlossenen geistlichen Amt zugewiesen wurde, aber so, dass die Gemeinden von verantwortlicher Mitarbeit nicht ausgeschlossen wurden.“45 2.9. Theologische Entwicklung der (niederhessischen) Renitenz ab 1900 Vereinigungsverhandlungen zwischen Melsunger und Sander Konvent Von 189646 an kam es zu Gesprächen zwischen Melsunger und Sander Konvent, die der Vereinigung dienen sollten. Ergebnisse dieser Vereinigungsverhandlungen waren die Vereinbarungen zwischen beiden Konventen in den Jahren 190147 und 190448, „nach denen wir uns auf Grund der heiligen Schrift, der ungeänderten Augsburger Confession und den Kirchenordnungen von 1657 volle Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft gewähren, das Zeugnis vom geistlichen 44 Wicke, Renitenz (wie Anm. 9), 152. Damm und Stern protestierten vehement bei Superintendent Heinrich Wicke gegen diese öffentliche Diffamierung. 45 Martin, Kampf (wie Anm. 15), 57. 46 Melsunger Missionsblatt, 1896, Nr. 8/9. 47 Die Vereinbarung vom 1.9.1901, in: Kirche und Welt, 1908, Nr. 1. 48 Das Konföderationsstatut vom 2.7.1904, in: Kirche und Welt, 1908, Nr. 2.

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Amt gemeinsam ablegen und in praktisch-kirchlichen Fragen wie Gr. Bettag, Mission und Ausbildung der Geistlichen zusammen gehen49 Im Zuge dieser Vereinbarungen hat es nach Aussage des Melsunger Konventes „herzerquickende Einigungs- und Friedensmissionsfeste“ gegeben. Allerdings kam es dann in der Zeit bis 1907 zu einer Abkühlung dieser Beziehungen, da die Gemeinden und Pfarrer des Melsunger Konventes kaum noch zu Festen des Sander Konventes eingeladen wurden.50 Die Bekenntniskrise des Sander Konvents Im Sander Konvent muss es in der Zeit zwischen 1901 und 1906 Vorkommnisse gegeben haben, die zumindest einige renitente Gemeindeglieder an der Bekenntnisstellung ihrer Pfarrer zweifeln ließ.51 In einer Eingabe von 18 Gemeindegliedern an den Sander Konvent vom 3. Dezember 1906 wird zunächst gefordert, dass die Pfarrer „in Sachen der Anwendung des göttlichen Wortes auf die Dinge dieser Welt wieder zu dem klaren und richtigen Standpunkte zurückkehren möchten, den die renitenten Pfarrer ausnahmslos früher eingenommen haben.“ Dabei geht es um die Beurteilung auch politischen Verhaltens nach den Maßstäben der Zehn Gebote und der Benennung des gerade auch durch Staaten begangenen Unrechts. Die Forderung bezieht sich v.a. darauf, die Rolle des preußischen Staates vor und bei der Entstehung der Renitenz klar als Unrecht zu bezeichnen. Im Hintergrund dieser Frage stehen natürlich auch die wohl berechtigten Anfragen an das Verhältnis der Renitenz zur Hessischen Rechts-

49 Melsunger Missionsblatt, 1907, 35. „Im Jahre 1901 schlossen die getrennten Brüder die erste vorläufige Vereinbarung, in der sie ihre bona fides und die Aemter gegenseitig anerkannten, womit der Melsunger Konvent den Anspruch des Metropolitan W. Vilmar, daß ihm und seinen Nachfolgern allein die Ordinationsbefugnis zukomme, aufgab. Denn mehrere nun anerkannte Aemter waren durch Ordination im Sander Konvent entstanden.“ Rudolf Schlunck, Die 43 renitenten Pfarrer, Marburg 1923, 133. 50 Ebd. 51 Hier weist der Melsunger Konvent als Beispiel darauf hin, dass man innerhalb des Sander Konventes es zuließ, „zu einem renitenten Missionsfest […] sich einen Prediger aus der Union, gegen die unsere Väter gekämpft, zu holen. Wenn da nicht, verbunden mit anderen Erscheinungen und Aeußerungen, das Bekenntnis in Gefahr steht, wodurch dann?“ Melsunger Missionsblatt, 1907, 37.

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partei52 von Wilhelm Hopf. Daran, dass der Sander Konvent über diesen Punkt nicht abstimmte und der damalige Konventspräses Ernst Grau die unterschiedliche Stellung in dieser Frage nicht als kirchentrennend betrachtete, wird deutlich, dass man sich in der Renitenz nicht als parteipolitische Bewegung verstand.53 Im Weiteren wird in der Eingabe vom 3. Dezember 1906 gefordert, sich zur Deklaration über den Bekenntnisstand der niederhessischen Kirche von 1868 [1867]54 zu erklären und diese für die renitenten Pfarrer verbindlich zu machen. Da der Inhalt der Deklaration v.a. darin besteht, die lutherische Sakramentslehre gerade auch mit der Realpräsenz (im Sinne einer Respräsenz) festzustellen „gegen den Calvinismus und Kryptocalvinismus“, ist die Ablehnung dieser Forderung durch alle Pfarrer bis auf Ernst Grau ein Indiz dafür, dass die lutherische Bekenntnisstellung gegen die Union im Sander Konvent keinen klaren Konsens mehr fand.55 Dies wird auch dadurch bestätigt, dass zwei dieser fünf Pfarrer des Sander Konvents später den Weg in die unierte Staatskirche gegangen sind. Vorbehalte gegen die lutherische Sakramentslehre hatte in dieser Generation aber auch ein Pfarrer des Melsunger Konvents, der später die Kindertaufe ablehnte und aus dem Pfarramt ausschied.56 Ernst Grau betrachtete die Ableh52 Enno Knobel, Die Hessische Rechtspartei, Konservative Opposition gegen das Bismarckreich, Marburg 1975. 53 Daneben verwahrte sich der Melsunger Konvent in dieser Frage vehement dagegen, „daß unsere Kirchengemeinschaft etwas mit der Rechtspartei als politischer Partei zu tun habe, oder als ob wir uns von der Rechtspartei hätten ins Schlepptau nehmen lassen.“ Melsunger Missionsblatt, 1907, 37. 54 Klän/da Silva (Hg.), Quellen (wie Anm. 6), Dokument 110. [85.] Deklaration über den Bekenntnisstand der niederhessischen Kirche (1867), 320ff. 55 Die Verteidigungsschriften Franz Witzels von 1908 und 1909 zeigen ganz deutlich das Fehlen eines lutherischen Bekenntnisverständnisses und dadurch die Schwierigkeit, den Sinn der Renitenz noch klar zu definieren, ohne diesen in einem politischen „Antipreußentum“ zu sehen, was von der jüngeren Generation zu Recht nicht mehr mitgetragen werden konnte. Karl Baumann vom Melsunger Konvent bestreitet 1911 sogar die Einführung einer Union in Niederhessen durch die Bildung des Gesamtkonsistoriums in Kassel 1873. Vgl. Sälter, Vilmarianer (wie Anm. 11), 460f., Anm. 312. 56 Der Sander Konvent verliert 1911 Pfr. Franz Witzel (Besse/Sand/Merxhausen) und Pfr. Moritz Wilhelm Hartwig (Unshausen/Schlierbach) an die Staatskirche. (Knobel, Rechtspartei [wie Anm. 52], 59f.) Pfr. Carl Baumann (Balhorn) vom Melsunger Konvent scheidet 1912 wegen Ablehnung der Renitenz und der Kin-

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nung der Deklaration von 1867 durch seine Konventsbrüder als Abfall von der Renitenz, den Sander Konvent dadurch als aufgelöst57 und vereinigte sich samt seinen Gemeinden am 19. April 1907 in Kassel mit dem Melsunger Konvent zur Renitenten Kirche ungeänderter Augsburgischer Konfession. Pfarrer Heinrich Wicke folgte ihm 1909 mit seinen Gemeinden in die Renitente Kirche. So war 1911 Rudolf Schlunck der einzige Vertreter des ehemaligen Sander Konvents. 1914 erhielt er in seinem Vetter Julius Witzel58 aus Amerika Verstärkung, was auch notwendig war, da Schlunck zum Kriegsdienst verpflichtet wurde.

dertaufe aus dem Pfarramt aus. (Bätzing, Wolfhagen [wie Anm. 41], 237.) „Die längst im Innern vorhandene und von den Alten vorausgesagte Auseinandersetzung mit der Hess. Rechtspartei kam ins Rollen. So verlor die Renitenz bei diesem stürmischen Zusammenstoß drei Pfarrer des jungen Geschlechts, zwei aus dem Sander und einen aus dem Melsunger Konvent, die die Freudigkeit nicht mehr aufbrachten, ihr Amt in der Renitenz fortzuführen“ Schlunck, Pfarrer (wie Anm. 49), 133f. Schlunck verdrängt und verschweigt hier total, dass der Grund zum Bruch Ernst Graus mit seinen Amtsbrüdern im Sander Konvent nicht die politische Auseinandersetzung mit der Rechtspartei, sondern die Ablehnung eines deutlichen Bekenntnisses zur lutherischen Sakramentslehre in Form der Deklaration von 1867 war. Vgl. Antwortschreiben des Herrn Pfarrer Grau auf eine von 18 Gemeindegliedern am 3. Dezember 1906 an den Sander Convent gerichtete Eingabe, Melsunger Missionsblatt, 1907, 33. 57 Ebd. Die im „Sander Konvent“ verbliebenen Amtsbrüder betrachteten Ernst Graus Schritt als Austritt. Schreiben des Herrn Pfarrers Hartwig zu Unshausen an Herrn Pfarrer Rausch zu Rengshausen 13.6.1907, a.a.O., 35. 58 Bei Julius Witzel jun. (1873–1951) handelt es sich um einen Sohn Julius Witzels sen. (1828–1897), der 1904–1910 Pfarrer der Jehovah-Konferenz in Flat Rk, Michigan, USA war. „Appropriate exercises will mark the dedication of the German Lutheran Jehovah church, Forest avenue and Thompson court. Tomorrow at the morning services Rev. A.M. Stock, pastor of the church, and Rev. W. Hartwig will preach. In the afternoon Rev. J.A. Miller will speak in English and Rev. Karl A. Otto [Iowa-Synode] in German. In the evening Rev. Heinrich Rehn and Rev. Julius Witzel are to deliver addresses.“ Detroit Free Press, Saturday, March 10, Detroit, MI, USA 1906, 5.

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Renitente Kirche und lutherische Ökumene Heinrich Martin weist in seiner Darstellung der Renitenzgeschichte schon darauf hin, dass das Konföderationsstatut59 von 1910 zwischen der Renitenten Kirche und der SELK in den hessischen Landen theologisch auf der Linie dessen liegt, was der Homberger Konvent schon in seiner „Antwort auf eine Zuschrift Hannoverscher Geistlichen etc.“ von 1874 vertreten hatte, nämlich: „Die Lehreinigkeit mit den (selbständigen) lutherischen Kirchen im Sinne von CA VII, die Einordnung der Verbesserungspunkte als unrechtmäßigen Eingriff des Staates in den Bekenntnisstand der hessischen Kirche, die Verwerfung des ersten Verbesserungspunktes die Einschränkung der christologischen Lehre betreffend und die Einordnung der restlichen Verbesserungspunkte als Adiaphora, deren Handhabung als nicht kirchentrennend einzustufen sei.“ Tendenziell mag das stimmen. Allerdings lässt die Renitente Kirche im Konföderationsstatut von 1910 die Verbesserungspunkte nicht fallen, sondern gibt stattdessen60 als klares Bekenntnis zur lutherischen Sakramentslehre eine Erklärung zur „Deklaration von 1867 als authentischer Interpretation des niederhessischen Bekenntnisstandes und als bindend für die niederhessische Kirche“ ab. Die Renitenztheologie verliert so in ihrer zweiten Pfarrergeneration zunehmend die ideologischen Eierschalen des 19. Jahrhunderts und konzentriert sich mehr und mehr auf ihre konfessionelle Identität als einer lutherischen (Bekenntnis-) Kirche. Das gibt der Renitenz die Freiheit, auch offiziell einen Namen zu führen und nicht mehr um ihres Rechtsstandpunkts willen auf die reformierte Bezeichnung zu bestehen.61 Auf der anderen Seite steht 59 Klän/da Silva (Hg.), Quellen (wie Anm. 6), Dokument 233. [163.] Konföderationsstatut zwischen der Renitenten Kirche ungeänderter Augsburgischer Konfession und der Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche in den hessischen Landen (1910), 591f. 60 Der Melsunger Konvent erklärt schon 1907 in diesem Zusammenhang, dass sie „eine Konföderation mit den freien Kirche C. A. Inv. (der ungeänderten Augsburgischen Confession) [anstreben], die eine solche Erklärung des niederhessischen Bekenntnisstandes um unseres reformierten Namens willen zu fordern berechtigt sind.“ Melsunger Missionsblatt, 1907, 37. 61 „Aufs Ganze gesehen ist die von den Hombergern eingenommene, zunächst so hart verurteilte Stellung für die künftige Entwicklung von entscheidendem Einfluß auch im andern Lager geworden. Eine Renitenz an sich konnte auf die Dauer nicht genügen. Es musste deutlich werden, daß es die lutherische Kirche war, für die man sich eingesetzt hatte. Das ist auch immer deutlicher geworden. Man

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aber auch das Bemühen der zweiten Generation der renitenten Pfarrer, den Sinn und das Erbe der Renitenzerfahrung für die eigene Identität zu bewahren und neben die Identität als lutherische Bekenntniskirche zu stellen, bis dahin, dass behauptet wird, die Renitenz sei die lutherischste aller lutherischen Kirchen gerade aufgrund ihres „ursprünglich reformatorischen“ Bekenntnisstandes. Die Romantisierung des niederhessischen Bekenntnisstandes erfährt dabei desöfteren eine ähnliche Überhöhung, wie es für die Zeit des zweiten Kaiserreiches in Bezug auf die deutsche Kultur zu beobachten ist („Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!“) und deren Hochmut zur Katastrophe des Ersten Weltkriegs führte. Hier gewinnt auch das Renitenzereignis als Form des Bekennens eine identitätsstiftende Bedeutung,62 die zunächst bei Rudolf Schlunck und später bei seinem Sohn Rudolf Schlunk das Hauptmerkmal der Renitenz ausmacht. Neben dem gemäßigt lutherischen Bekenntnisstand werden bei den Renitenten als renitentes Sondergut die Amtslehre August Vilmars (Das Zeugnis vom geistlichen Amt) und das Königtum (Königsherrschaft) Jesu Christi betont. Die Vorbehalte mancher renitenter Pfarrer dagegen, sich „nur“ als staatsfreie lutherische Kirche zu verstehen, beruht zum Teil auf der damals üblichen Vorstellung von einer „toten Orthodoxie“ der lutherischen Kirche.63 Hier ist auch einer der Gründe zu finden, die Rudolf Schlunck (Sander Konvent) dazu nötigten, sich nicht wie ein Teil seiner Amtsbrüder mit dem Melsunger Konvent zu vereinigen. Erst der Sohn Rudolf Schlunk ließ den reformierten Namen fallen und fügte zu dem renitenten Namen die Konfession hinzu. Die Gemeinden der ,Melsunger‘ Richtung sind heute in der ,renitenten Kirche ungeänderter Augsburgischer Konfession‘ zusammengefasst.“ Martin, Kampf (wie Anm. 15), 55f. 62 „Neben der Nachwirkung der jahrhundertealten niederhessischen insularen Stellung, neben der Meinung, dass gerade der kurhessischen Kirche ein ganz besonderer Beruf verliehen sei, war es diese über das Maß gehende Hochschätzung der Renitenztat, die es manchen Renitenten schwer machte […], das normale Verhältnis zur lutherischen Kirche einzunehmen, sich als lutherische Kirche zu wissen und zu fühlen und die alte niederhessische Sonderstellung endgültig zu überwinden, anstatt sie gewissermaßen auf einer höheren Ebene fortzusetzen.“ Martin, Kampf (wie Anm. 15), 53f. 63 „Die neuere Forschung hat das v.a. durch Pietisten und Aufklärer bestimmte, bis heute nachwirkende Zerrbild der Orthodoxie (einer starren Lehrgesetzlichkeit ohne Bezug zur praktischen Frömmigkeit) korrigiert.“ Wolf-Dieter Hauschild, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte 2, Gütersloh 1999, 433.

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ging 1927 diesen Schritt nach dem Tod des Vaters als dessen Nachfolger, allerdings ohne seine Vorbehalte gegen eine lutherische „Freikirche“ zu verlieren, die er ebenso wie sein Vater ablehnte. Eine weitere Sonderstellung nimmt noch Pfarrer Ernst Baumann mit seiner Melsunger Gemeinde Melsunger Konvents ein. Hatten Vereinigungsverhandlungen zwischen Melsunger und Sander Konvent schon ab 1896 stattgefunden, hatte sich Ernst Baumann „seit 1902 an keiner der zur Vereinigung dienenden Verhandlungen beteiligt und […] einer Vereinigung mit der Gesamtheit des Sander Conventes dieselben Schwierigkeiten entgegen gestellt […], wie der jetzt mit der Minorität desselben Conventes vollzogenen.“64 Dabei verwehrt sich Ernst Baumann gegen eine Veränderung des renitenten Traditionsgutes in jedweder Art, besonders der Kirchenordnungen. Ein Beispiel dafür ist 1912 sein „Offenes Schreiben“, in dem er es mit Hinweis auf die kirchliche Rechtstradition ablehnt, dass die „Deklaration über den Bekenntnisstand der niederhessischen Kirche“ von 1867 in die Bekenntnisverpflichtung des Ordinationsgelübdes aufgenommen wird.65 Durch diese rigorose Stellung isolierte Ernst Baumann sich und seine Gemeinde innerhalb der Renitenz und beharrte als einziger renitenter Pfarrer seiner Zeit auf dem alten Standpunkt des Melsunger Konventes und vollzog die Einigungen nicht mit. Ernst Baumann starb 1920 und sein Nachfolger als Pfarrer des Melsunger Konventes in Melsungen wurde Wilhelm Schmidt, der seine Gemeinde aus der Isolation innerhalb der renitenten Kirche wieder herausführte.66

64 Melsunger Konvent, Antwort auf ein weiteres Schreiben des Herrn Pfarrer Hartwig, Melsungen 20.11.1907, Melsunger Missionsblatt 1907, 36. 65 Ernst Baumann, Offenes Schreiben an Herrn Pfarrer K. Siebert in Balhorn zur Verständigung über die kirchlichen Aufgaben der Gegenwart, Melsungen 1912. 66 „Von Herzen wusste er [Wilhelm Schmidt] sich seit seiner Kandidatenzeit verbunden mit den freien lutherischen Kirchen […]. Die von ihm übernommene Melsunger Gemeinde des Pfarrers Baumann führte er aus zeitweiliger Isolierung zurück zur vollen Verbindung mit den übrigen Gemeinden der damaligen Renitenten Kirche Ungeänderter Augsburgischer Konfession.“ Friedrich Wilhelm Hopf, Nachruf zur Beerdigung von Pfr. Wilhelm Schmidt, in: Unter dem Kreuz, Februar 1962. Vgl. Roth, Christusgemeinde (wie Anm. 18), 43.

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3. Beispiel: Der Schlun(c)k’sche Traditionsstrang der renitenten Theologie In der Bekenntnisfrage ist Rudolf Schlunck67 eher in der Tradition Wilhelm Vilmars zu sehen. Er sieht die Nichtannahme der Konkordienformel durch Hessen im 16. Jahrhundert eher positiv, gerade auch in Bezug auf den Abendmahlsartikel, weil die Konkordienformel in dieser Frage zu weit ginge.68 Wie bei Wilhelm Vilmar ist Schluncks Abneigung gegen ein starres Dogmenluthertum sehr groß. Dass Schlunck zu dieser Bewertung des konfessionellen Luthertums kommt, liegt nicht nur an dem von ihm übernommenen pietistischen Zerrbild einer toten Orthodoxie, sondern hat seinen Grund auch darin, dass nach seiner Beobachtung das konfessionelle Luthertum in politischen Fragen entweder ganz still oder viel zu obrigkeitshörig ist und die politische Verantwortung der Kirche viel zu wenig bis gar nicht wahrnimmt. 1926 schreibt Schlunck: „Wie außerordentlich bezeichnend […] ist es, dass selbst lutherische Freikirchler mit solcher Naivität den historischen Ereignissen gegenüberstehen, dass auch sie nicht durchgehends erkennen, dass das Luthertum an seiner Obrigkeitslehre gestürzt ist, die entsprechend der Lehre von der gänzlichen Passivität des Menschen die Obrigkeit auf eine fast unfehlbare christliche Höhe stellte. […] und es ist jetzt ein Unding, dass das Luthertum weithin in diesem unselig vermischten religiös-politischen preußischen Gedanken den Hort für seinen Konservatismus sucht!“ 69 Dass Schlunck hier bezüglich des Luthertums von der „Lehre der gänzlichen Passivität des Menschen“ redet, ist ein Reflex, der mir vom pietistisch/reformierten Siegerland bekannt ist und dem es darum geht, den Menschen zum christlichen Handeln anzutreiben, um nicht in die Gefahr einer falschen Glaubenssicherheit zu geraten. Das pietistisch-aufklärerische Vorurteil, dass ein dogmatisches Luthertum nur ein toter Buchstabenglaube sei und nicht zu einem lebendigen Christentum führen könne, ist bei ihm voll ausgebildet. Dieser Zug in 67 Zum Kennenlernen der „politischen Theologie“ der Schlun(c)ks aus deren Perspektive empfiehlt sich die Lektüre der Ausführungen bei Sälter, die in direktem wissenschaftlichen Austausch mit Rudolf Schlunk stand. Die hier dargebotene kurze Skizze beschäftigt sich eher mit der problematischen theologischen Stellung Schlunks aus konfessionell lutherischer Perspektive. 68 Rudolf Schlunck, „Ihr habt einen anderen Geist“ in Kirche und Welt, Blätter aus der Hessischen Renitenz 20. Jahrgang, Melsungen 1926, 29. 69 A.a.O., 28.

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der Theologie Schluncks verstärkt sich in der Theologie seines Sohnes Rudolf Schlunk noch so sehr, dass es bei diesem schon fast zum Hauptmerkmal der Renitenz wird, dass sie ein Christentum der Tat sei. Auch hier macht sich pietistischer bzw. reformierter Einfluss bemerkbar, der die Bekenntnisse als Lehrnorm in den Hintergrund treten läßt, weil es in erster Linie um das Bekennen des einzelnen Christen in Wort und Tat gehe. So schreibt Schlunk in der Auseinandersetzung um „Das Ende der renitenten Kirche“ in seiner Stellungnahme über Mahlke: „Seine Treue zu den lutherischen Bekenntnisschriften […] ist aber im Wesentlichen nicht mehr als Treue zu überlieferten Wahrheiten. Sie besteht in deren kritikloser Wiederholung. Gerade darin ist sie aber nicht Treue zu den von jenen Schriften bezeugten und überlieferten Zeugnissen vom Evangelium von Gottes freier Liebe zur ganzen Welt. […] Natürlich gehören ,Bekenntnis und Bekennen‘ zusammen. […] Aber eben dort, wo dieser Satz in der Schrift von M. [Mahlke] erscheint, und sonst überhaupt liegt der Ton nicht auf dem Bekennen mit Wort und Einsatz der Existenz, in neuer Form, sondern auf dem Festhalten an den Bekenntnissen des 16. Jahrhunderts. […] Was nützt denn alles noch so treue Festhalten an jenen Bekenntnissen? Es nützt nicht nur nichts, sondern es verbaut offenbar den Weg zu neuen aktuellen Erkenntnissen und Zeugnissen.“70 Das gänzliche Fehlen eines positiven Verständnisses von Lehrtraditionen bis hin zu der Behauptung, dass diese sogar kontraproduktiv für freies, aktuelles christliches Handeln seien, macht eine Verständigung zwischen Schlunk und dem konfessionellen Luthertum unmöglich.71 Trotzdem muss gesagt werden, dass die Ansätze zu einem solchen Verständnis der lutherischen Bekenntnisse auch schon 70 Rudolf Schlunk, Stellungnahme von Pfarrer Rudolf Schlunk, in: Paul Riemann/Rudolf Schlunk, Renitenz und Bekenntnis, Kassel 1975, 6f. 71 Wenn die Ev. Landeskirche von Kurhessen Waldeck Anfang der 1950er Jahre in einer Erklärung die Renitenz würdigt und in einem dritten Punkt behauptet, „dass der Gegensatz von damals hinfällig sei, weil die Landeskirche keine Staatskirche mehr sei“ (Ulrich Schneider, Zwischen Renitenz und Landeskirche – der Weg von Rudolf Schlunk, in JHKV Band 47/1996, 151.), scheint die Position Schlunks als die Position der gesamten Renitenz betrachtet worden zu sein und die gravierenden Unterschiede in den Positionen innerhalb der Renitenz nicht berücksichtigt, wahrscheinlich noch nicht einmal wahrgenommen worden zu sein, z.B. die Ablehnung der Union von Beginn der Renitenz an, die von Schlunk aber nicht mehr vertreten wurde.

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bei Wilhelm Vilmar zu finden sind, wenn auch nicht in dieser isolierten und überhöhten Form wie bei Schlunk.72 Schlunk, von Mahlke auf August Vilmars Aufruf von 1867 zur Annahme der Konkordienformel hingewiesen, bringt nur das „Tatzeugnis“ August Vilmars vor dem Kurfürsten („Geben Sie die Kirche frei!“) als Erweis dafür an, dass August Vilmar ein Christ der „Tat“ und kein „Vertreter der lutherischen Orthodoxie“ war. Dass es August Vilmar 1867 gerade um die Bewahrung des lutherischen Bekenntnisses als Lehrnorm der hessischen Kirche ging, scheint Schlunk dabei vollkommen auszublenden. Auch hier wieder das pietistisch-reformierte Moment, dass keinerlei Verständnis des gemeinsam bekannten Glaubens mehr kennt, sondern den Glauben vollständig individualisiert und Bekennen nur noch als aktuelles, persönliches Bekennen in Wort und Tat verstehen kann. Bei all dem war Rudolf Schlunk aber kein Pietist, der sich von der Welt zurückzog und sich aus der Politik heraushielt. Sondern das pietistische Moment zeigt sich bei ihm nur in Bezug auf das Verständnis von Bekennen und Bekenntnis. Dieses verstand er allerdings im höchsten Maße politisch, und gerade darin zeigt sich seine „Renitenz“. Die Wahrnehmung der christlichen Verantwortung auch in Welt, Staat und Gesellschaft im Gehorsam gegenüber Gott scheint für ihn gerade das Kennzeichen eines lebendigen christlichen Glaubens zu sein. Hierin steht er den anderen Renitenten sehr nahe, was auf die renitente Lehre von dem Königtum/der Königsherrschaft Jesu Christi zurückzuführen ist, in deren Gefolge die Renitenten die Trennung von Staat und Kirche vorlebten und sich im Gehorsam gegenüber Gott gerade auch politisch äußerten und betätigten. Ein weiterer Punkt, in dem sich Rudolf Schlunk kirchenpolitisch von seinen renitenten Amtsbrüdern unterscheidet und der aufgrund seiner Ablehnung des bekenntnislutherischen Weges in einer Freikirche wohl auch zwangläufig ist, ist seine starke Hinwendung zur Landeskirche und das Bemühen um die Wiedervereinigung derselben mit der Renitenz. Dabei betont Schlunk v.a. die besondere Verantwortung der Renitenz für die hessische Kirche und meint damit die 72 Engelbrecht hat in dem Kapitel „Wilhelm Vilmar und die Konkordienformel“ seines Aufsatzes „Wilhelm Vilmar zwischen Luthertum und kirchlicher Union“ 2007 herausgestellt, dass Wilhelm Vilmar die Konkordienformel nicht als Bekenntnis betrachtet hat, sondern als ein historisches, dogmatisches Lehrbuch, das nicht bindend geblieben ist, aber in seiner Zeit notwendig war. Klaus Engelbrecht, Wilhelm Vilmar (1804–1884) zwischen Luthertum und kirchlicher Union, in: JHKV Band 58/2007, 22ff.

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Landeskirche. Damit scheint er den Standpunkt aufgegeben zu haben, dass die Renitenz die Fortsetzung der hessischen Kirche ist, die Ev. Landeskirche von Hessen-Kassel dagegen eine 1873/74 neugegründete Unionskirche. In diesem Punkt beschreibt Herbert Kemler in seiner Darstellung der Renitenzgeschichte bezeichnenderweise nur den von Schlunck sen. und Schlunk jun. eingenommenen Standpunkt als für die gesamte Renitenz geltend und sagt zu Unrecht, dass „der von der ersten Generation noch so überzeugend vorgetragene Anspruch, die wahre hessische Kirche zu verkörpern, sich (von der Renitenz nach 1918) nicht länger vertreten ließ.“73 Trotzdem sah sich der Pfarrkonvent der Renitenten Kirche noch 1936, als Rudolf Schlunk jun. diesem angehörte, dazu genötigt, bei der Herausgabe einer neuen Kirchenordnung gerade diesen Punkt noch einmal klar herauszustellen: „Nachdem es Gott gefallen hat, in Gericht und Gnade unsere hessische Kirche äußerlich in die Enge, innerlich aber nur in desto größere Klarheit und Weite zu führen, hat diese legitime Fortsetzung der hessischen Reformationskirche in ihrer neuen Geschichtsepoche den Namen Renitente Kirche ungeänderter Augsburgischer Konfession angenommen und, beharrend auf dem von den Vätern festgehaltenen Rechtsboden, in rechtlicher Fortführung der alten Kirchenordnungen von 1656 und 1657 nunmehr durch Beschluß des Pfarrkonvents vom 26. April 1936 sich auch diese neue Ordnung gegeben.“ 74

In dieser Rechtstradition hat der Pfarrkonvent der Renitenten Kirche ungeänderter Augsburgischer Konfession gemäß der bestehenden Kirchenordnungen 1950 beschlossen, sich als Niederhessische Diözese der Selbstständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche anzugliedern. In dieser Rechtstradition hat sich die (alte) Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche gemäß ihrer Ordnungen 1972 mit der Evangelisch-Lutherischen (altlutherischen) Kirche in Westdeutschland und der Evangelisch-Lutherischen Freikirche in Westdeutschland zur bis heute bestehenden Selbständigen EvangelischLutherischen Kirche zusammengeschlossen. Dabei ist sowohl in die theologischen als auch in die verfassungsrechtlichen Aussagen und Bestimmungen der Grundordnung der SELK renitentes Traditionsgut 73 Herbert Kemler, Gott mehr gehorchen als den Menschen, Gießen 2005, 161. 74 Kirchenordnung für die Renitente Kirche Ungeänderter Augsburgischer Konfession, als Manuskript gedruckt, o.O. 1936, 1.

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eingeflossen. Als Beispiel zu nennen ist hier die Lehrhoheit des Allgemeinen Pfarrkonventes, die Rede von „Jesus Christus als dem alleinigen Herrn der Kirche“ und „dem von Gott eingesetzten einen Amt“. Abschließend ist festzustellen, dass Rudolf Schlunk das Wesen der Renitenz gerade im „Renitenzereignis“ sieht, das in der zweiten Generation der Renitenz zur Identitätsdefinition innerhalb des sich zerschlagenden Sander Konventes an Bedeutung gewann75 und von Schlunk als das Bekennen auch mit der eigenen Existenz beschrieben wird. Dass aber das freie Bekennen der Renitenten gerade auch inhaltlich begründet war und nur die Form dessen darstellte, was inhaltlich gelehrt und als Wahrheit erkannt wurde, tritt bei Schlunk in den Hintergrund. Dass es der lutherischen Erweckung unter den Brüdern Vilmar um die Weitergabe des „Seligkeitsgutes“ durch Predigt und Sakramente gerade nach der Lehre des ungeänderten Augsburger Bekenntnisses von 1530 ging, was durch die Union drohte wieder verdunkelt zu werden, ist bei Schlunk gänzlich verschwunden. Nichtsdestotrotz steht Schlunk in einer renitenten Lehrtradition. Dies kann weder ihm noch dem Kirchenbezirk Hessen Nord der SELK abgesprochen werden. Ein „Ende der renitenten Kirche“ allerdings, wie es Schlunk behauptet, ist daher bisher nicht eingetreten, zumal die SELK nicht nur in der renitenten Lehrtradition, sondern gerade auch in der Rechtstradition der Renitenten Kirche ungeänderter Augsburgischer Konfession steht.

75 Heinrich Martin spricht in diesem Zusammenhang von der „Renitenztat“. Siehe Anm. 61.

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