Lutherische Theologie und Kirche 1/2014 - Einzelkapitel: Laudatio für Prof. Dr. Robert Kolb 3846999004, 9783846999004

Zunächst dokumentieren wir die Laudatio von Werner Klän auf Robert Kolb. Dieser Text ist mehr als nur das Lob eines Geeh

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Lutherische Theologie und Kirche 1/2014 - Einzelkapitel: Laudatio für Prof. Dr. Robert Kolb
 3846999004, 9783846999004

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Zu diesem Heft
„Echten Glauben und rechtes Leben fördern“ – Laudatio auf Prof. Dr. Robert Kolb
Die Kleinen Propheten als Zeitgenossen der Reformatoren
Den Anfang machte die Gemeinde
BUCHSCHAU

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Zu diesem Heft Liebe Leserin, lieber Leser, der Dies Academicus, den die Lutherische Theologische Hochschule Oberursel jedes Jahr um den Geburtstag Luthers herum hält, stand 2013 ganz im Zeichen der Exegese. Unter dem Titel Listening to God’s Word – Exegetical Approaches trafen sich vom 7. bis 9. November lutherische Exegeten aus drei Kontinenten, um über unterschiedliche methodische Zugänge zum Buch der Bücher miteinander zu diskutieren. Die Beiträge dieses großen Symposiums sollen noch in diesem Jahr in der Reihe Oberurseler Hefte Ergänzungsbände in der Edition Ruprecht erscheinen. Ebenfalls auf dieser Tagung wurde der Hermann-Sasse-Preis für Lutherische Theologie an Prof. Dr. Robert Kolb vom Concordia Seminary St. Louis, MO verliehen. Diesem Ereignis widmen sich die ersten beiden Beiträge dieses Heftes. Zunächst dokumentieren wir die Laudatio von Werner Klän auf Robert Kolb. Dieser Text ist mehr als nur das Lob eines Geehrten. Vielmehr stellt der Oberurseler Systematiker das umfangreiche Gesamtwerk Kolbs in seinem inneren Zusammenhang vor. Daraus ergibt sich der lutherisch-theologische Ertrag einer jahrzehntelangen kirchenhistorischen Forschungsarbeit mit dem Schwerpunkt auf der Reformationsgeschichte und der Epoche der Konfessionalisierung. Kolb ist aufgrund seines Oeuvres und nicht zuletzt seines kompetenten und feinsinnigen Auftretens als Gesprächspartner ein angesehener und gehörter Kollege auch bei denen, die nicht alle seine Schlussfolgerungen und theologischen Positionierungen mitvollziehen. So – das unterstreicht Klän in seinem Beitrag – ist die Arbeit Robert Kolbs besonders geeignet, lutherische Theologie profiliert ökumenisch ins Gespräch zu bringen. Sodann kommt der Geehrte selbst zu Wort. In seinem Beitrag „Die Kleinen Propheten als Zeitgenossen der Reformation“ geht Robert Kolb auf die Auslegungen der Schüler Luthers und Melanchthons ein, die sich auf das Dodekapropheton beziehen. Theologische Auslegung biblischer Texte besteht seit den Tagen der Reformation immer aus Explicatio und Applicatio. Sie ist nicht Exegese, wenn sie den historischen Wortsinn biblischer Texte vernachlässigt, und sie ist nicht Theologie, wenn sie dabei die Verkündigung völlig aus dem Blick verliert. Kolb führt uns Nikolaus Selnecker, David Chyträus, Johannes Bugenhagen und viele andere als solche Ausleger vor, die auch aus den Büchern Amos, Micha, Hosea, Nahum, Obdaja, Jona,

2 Habakuk, Maleachi oder Haggai eine Bußpredigt für ihre Zeit heraushören und auch das alttestamentliche Gotteswort als Gesetz und Evangelium verkündigen. Wie wäre wohl heute exegetisch verantwortlich, theologisch gewissenhaft und homiletisch zeitgemäß von diesen „kleinen“ Propheten zu reden? Dass dabei auch ausführliche von Stefan Reichs Buch „Die Herliche Buspredigt des Propheten Zephaniae …“ die Rede ist, das 1561 zuerst in (Ober-)Ursel gedruckt wurde, sei nur am Rande erwähnt. Es kommt nicht immer vor, dass kirchengeschichtliche Forschung sozusagen „tagesaktuell“ ist. Volker Stolle gelingt dieses Kunststück mit seinem Beitrag „Den Anfang machte die Gemeinde“, der die Entstehung der selbstständigen ev.-luth. Gemeinde in Korbach beleuchtet. Diese Gemeinde feiert 2014 ihr 150jähriges Bestehen und mit dem Autor grüßen wir zu diesem Fest! Stolle zeigt in seinem detailliert recherchierten Beitrag zur Regionalkirchengeschichte auf, dass lutherische Bewusstwerdung in Auseinandersetzung mit den Unionsbemühungen des 19. Jh.s keineswegs nur von Theologen ausgehen musste. In den selbstständigen lutherischen Gemeinden in Korbach und Sachsenberg waren es vielmehr die späteren Kirchenvorsteher Friedrich Eigenbrod und Johann Daniel Hallenberg, die Verantwortung für ihr Bekenntnis empfanden und bei der lutherischen Lehre bleiben wollten. Pfarrer, die mit ihnen diesen Weg gegangen wären, fanden sie zunächst auch unter den bewusst lutherischen Theologen ihrer Zeit nicht. So weist Stolles Beitrag einmal mehr darauf hin, dass die Gründung staatsfreier Kirchentümer einen eminent emanzipatorischen Aspekt hat, indem nämlich unter nachaufklärerischen Bedingungen Christenmenschen ihr Priestertum der Getauften verantwortlich wahrnehmen, ohne dabei selbst in die Aufgaben des Pfarramts einzugreifen. Dies scheint mir ein Modell zu sein, das auch heute Mut zum mündigen Christsein macht. Oberursel, im Mai 2014

Prof. Dr. Achim Behrens

WERNER KLÄN

„Echten Glauben und rechtes Leben fördern“ – Laudatio auf Prof. Dr. Robert Kolb anlässlich der Verleihung des Hermann-Sasse-Preises am 9. November 2013 Hochwürdiger Herr Bischof, werter Herr Rektor, verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Kommilitonen, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder und last, but not least: Dear Robert Kolb, brother, colleague, and friend!

1. Die Frage: Was können wir von der Geschichte lernen? „Die meisten wollen nicht von der Geschichte lernen, sondern die Geschichte belehren“, schrieb mir Robert Kolb vor genau einem Monat.1 Und da mir die Ehre angetragen worden war, für diesen älteren Bruder und Freund die Laudatio zur Verleihung der Hermann-SassePreises an ihn zu halten, befielen mich alsbald folgende Fragen: Was heißt denn: „aus der Geschichte lernen“, wenn man sich, wie Robert Kolb, mit den führenden Gestalten der Reformationszeit und der sich anschließenden Jahrzehnte der Kirchengeschichte widmet? Was meint: „von der Geschichte lernen“, wenn sich jemand wissenschaftlich mit Martin Luther – vor allem mit ihm2 –, mit Philipp Melanchthon3, Nikolaus von Amsdorf4, Cyriakus und Johann Spangen1 2

E-Mail an den Verfasser vom 09.10.2013. Robert Kolb, Luther, Pastor of God’s People, St. Louis, MO, 1991; ders., Martin Luther as Prophet, Teacher, Hero. Images of the Reformer, 1520–1620, Grand Rapids 1999; ders., Luther’s Way of Thinking. Introductory Essays; Collected Essays, Trivandrum, Indien 2006; ders., Martin Luther, Confessor of Faith, Oxford 2009; Luther and the Stories of God. Biblical Narratives as a Foundation for Christian Living, Grand Rapids 2012. 3 Irene Dingel/Robert Kolb/Nicole Kuropka/Timothy J. Wengert (Hg.), Philip Melanchthon. Theologian in Classroom, Confession, and Controversy, Göttingen 2012. 4 Robert Kolb, Nikolaus von Amsdorf (1483–1565). Popular Polemics in the Preservation of Luther’s Legacy, Nieuwkoop 1978. ______________________________________________________________________ LuThK 38 (2014), 3–20 DOI 10.2364/3846999004

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Werner Klän

berg5, Jacob Andreae6, Martin Chemnitz, Caspar Peucer7 und anderen führenden Gestalten der lutherischen Frühzeit befasst, wenn man die konkordienlutherische8 Sicherung des Erbes der ersten Generation Wittenberger Theologie in der zweiten und dritten Generation schildert?9 Was besagt „von der Geschichte lernen“, wenn man Luthers Theologie als Vor-Bild für die Kirche in heutiger Zeitgenossenschaft10 versteht? Was kann man „von der Geschichte lernen“, wenn man, wie Robert Kolb, eine Theologie der Evangelisation11 vorstellen will oder, wenn man darüber nachdenkt, wie christliche Weisheit der

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Robert Kolb (Hg.), Johann Spangenberg. A Booklet of Comfort for the Sick; On the Christian Knight, Milwaukee 2007. 6 Robert Kolb, Andreae and the Formula of Concord. Six Sermons on the Way to Lutheran Unity, St. Louis 1977. 7 Robert Kolb, Caspar Peucer’s library. Portrait of a Wittenberg Professor of the Mid-sixteenth Century, St. Louis 1976. 8 Robert Kolb/Timothy J. Wengert (Hg.), The Book of Concord. The Confessions of the Evangelical Lutheran Church, Minneapolis 2000; Robert Kolb/James A. Nestingen (Hg.), Sources and Context of the Book of Concord, Minneapolis 2001. 9 Robert Kolb, For all the Saints. Changing Perceptions of Martyrdom and Sainthood in the Lutheran Reformation, Macon 1987; ders., Confessing the Faith. Reformers Define the Church, 1530–1580, St. Louis 1991; ders., Luther’s Heirs Define his Legacy. Studies on Lutheran Confessionalization, Aldershot (u.a.) 1996; ders., Bound Choice, Election, and Wittenberg Theological Method. From Martin Luther to the Formula of Concord, Grand Rapids 2005; ders., Die Konkordienformel. Eine Einführung in ihre Geschichte und Theologie (OUH Erg. 8), Göttingen 2011; Robert Kolb/Charles P. Arand/James A. Nestingen, The Lutheran Confessions. History and Theology of The Book of Concord, Minneapolis 2012; Robert Kolb (Hg.), Lutheran ecclesiastical culture, 1550–1675, Leiden 2008. 10 Robert Kolb/David a. Lumpp (Hg.), Martin Luther. Companion to the Contemporary Christian, St. Louis 1982; Robert Kolb, Teaching God’s Children His Teaching. A Guide for the Study of Luther’s Catechism, Hutchinson 1992; Robert Kolb/Christian Neddens, Gottes Wort vom Kreuz. Lutherische Theologie als kritische Theologie (OUH), Oberursel 2001; Robert Kolb/Charles P. Arand, The Genius of Luther’s Theology. A Wittenberg Way of Thinking for the Contemporary Church, Grand Rapids 2008. 11 Robert Kolb, Speaking the Gospel today. A Theology for Evangelism, St. Louis 1984; ders., Make Disciples, Baptizing. God’s Gift of New Life and Christian Witness, St. Louis 1997.

Laudatio auf Prof. Dr. Robert Kolb

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Welt dienen12 kann? Was trägt es aus, „von der Geschichte zu lernen“, wenn man beobachtet, wie nordamerikanische Mentalitäten mit Christi Geist und Sinn konfrontiert werden?13 Was mag es besagen, „von der Geschichte zu lernen“, wenn einer als junger Student in Hermann Sasses Seminar gesessen hat? Was bedeutet es schließlich, wenn man es unternimmt, den Glauben der Christenheit lutherisch zu buchstabieren?14 Also, was geschieht, wenn ein lutherischer Theologe heutiger Zeit, wie Robert Kolb, Geschichte und Theologie zusammenbringt, zusammenhält? Was kommt heraus, wenn ein Pastor und Professor, der aus Fort Dodge/Iowa stammt, in der Lutherischen Kirche MissouriSynode aufgewachsen und verankert ist, sich daran macht, die Welt des Luthertums, besonders in ihren frühen Jahrzehnten, zu entdecken, zu beschreiben, zu bearbeiten? – Eine erste Beobachtung: Robert Kolb wendet sich dem Erbe lutherischer Theologie und Kirche zu. Eine zweite Beobachtung: Robert Kolb wendet den Mehrwert dieses Erbes auf Glauben und Kirche heute an. – Drittens: Robert Kolb versteht solche Zuwendung zur Geschichte und Anwendung auf die Gegenwart als Sendung: Mission.

2. Robert Kolb wendet sich dem Erbe lutherischer Theologie und Kirche zu. Dazu gehört, dass er wochen-, nicht selten monatelang die Luft in Archiven und Bibliotheken atmet, als wäre ihm der „Staub der Jahrhunderte“ ein Lebenselixier. Es ist aber wohl eher der Geist, der sich in den Dokumenten und Drucken kirchlich-theologischer Herkunft vergangener Jahrhunderte womöglich deutlicher zeigt als weithin heute, der Robert Kolbs wissenschaftliche Neugier reizt, seinen historischen und theologischen Spürsinn lockt und ihn zu unermüdlicher Mitteilung seiner Forschungsergebnisse bei Tagungen, in Netzwerken, Kommissionen und Arbeitsgemeinschaften, in Veröffentlichungen und durch Vorträge und Unterricht inspiriert. Nicht umsonst gilt

12 Robert Kolb, Christian Wisdom in Service to God’s World, Saint Paul 1984. 13 Robert Kolb (Hg.), The American Mind Meets the Mind of Christ, St. Louis 2010. 14 Robert Kolb, The Christian Faith. A Lutheran Exposition, St. Louis 1993.

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Robert Kolb „als heute wohl bester Kenner der lutherischen Theologiegeschichte des konfessionellen Zeitalters in der englischsprachigen Welt“15. Eine gründliche Quellenkenntnis und Quellenarbeit kennzeichnen die Publikationen aus Robert Kolbs Feder. Dabei geht es ihm aber nie nur um die Reproduktion abständiger Texte und längst vergangener Sachverhalte. Editionen und die Erschließung historischer Texte durch Übersetzungen ins amerikanische Englisch weisen hingegen hinlänglich aus, dass Robert Kolb nicht rein archivalische Interessen verfolgt, sondern dass ihm daran gelegen ist, den Transfer des ihm wichtigen Erbes aus der Christentumsgeschichte zu bewerkstelligen. Seine Liebe gilt dem lutherisch-reformatorischen Erbe im Besonderen. In der Hinwendung zu den Quellen erfasst er zugleich die Umstände, Zeiten, Zusammenhänge, Personen, Beziehungen, Traditionen, die in den Texten Niederschlag gefunden haben. Denn ein historisch-kontextuelles Verstehen der Texte und Bekenntnisse16 des 16. Jahrhunderts ist unabdingbar. Um es deutlich zu machen an dem Werk, für das Robert Kolb heute der Hermann Sasse-Preis verliehen wird: Luther and the Stories of God:17 Kolb wertet Luthers Schrifttum in seiner ganzen Breite unter dem Gesichtspunkt aus, wie der Wittenberger Reformator die biblischen Erzählstränge als Großerzählung Gottes über Welt und Zeit, christliches Leben, und damit auch sein eigenes Leben begreift. Dabei greift der heutige Preisträger für Erhebung und Darstellung der Befunde exegetische und systematisch-theologische Zugangsweisen im Sinn narrativer Theologie auf. Damit befindet er sich methodisch auf der Höhe der Zeit und erweist sich als kundiger Beobachter methodologischer Entwicklungen und produktiver Rezipient zumindest von Teilen ihrer Ansätze.18 Er unterlässt auch keineswegs die unumgängliche Verortung der Anliegen Luthers in der seinerzeitigen Zeitgenossenschaft; weder das Bemühen Luthers um eine Neugestaltung christlichen Lebens19 entgeht ihm noch die Lebenswirklichkeit seiner

15 Thomas Kaufmann, Zur Einführung, in: Kolb, Konkordienformel (wie Anm. 9), 10. 16 Postscript in, Arand/Kolb/Nestingen, Lutheran Confessions (wie Anm. 9), 281. 17 Kolb, Stories (wie Anm. 2), 11. 18 A.a.O., XI–XIV. 19 A.a.O., XIV–XVI.

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Adressaten im 16. Jahrhundert,20 noch die Unterschiede zwischen der Weltsicht der Reformationszeit und unseren Tagen.21 Robert Kolb geht davon aus, dass Luthers theologia crucis „ein Gesamtkonzept“ ist, „um Gottes Offenbarung und das Vertrauen darauf, welches menschliches Leben erst wahrhaft möglich macht, um die Sühne vor dem Hintergrund von Christi Tod und Auferstehen und um das christliche Leben zu verstehen.“22 Unter dem Kreuz erst wird für Luther erkennbar „1) wer Gott wirklich ist, 2) wie der Mensch sich Gott gegenüber verhalten muss, 3) wie es dem Menschen ohne Gott ergeht und was Gott gegen solche conditio humana unternimmt, und 4) welche Art von Leben das Vertrauen auf Christus seinen Jüngern bringt.“23 Ferner sieht er als den eigentlichen Erkenntnisgewinn Lutherscher Theologie und damit die eigentliche Programmatik der Wittenberger Reformation in Luthers Konzept der „zweifachen Gerechtigkeit“, wie er im Sermo de duplici iustitia aus dem Jahr 1519 niedergelegt ist.24 Dem Wort Gottes kommt dabei nicht nur performative Wirkung, sondern schöpferische bzw. neuschöpferische Wirksamkeit zu.25 Diese neuschöpferische Wirksamkeit des Wortes Gottes in seinen unterschiedlichen Applikationsgestalten verleiht dem sündigen, also in Aufruhr gegen Gott und also kategorisch von ihm getrennten Menschen eine neue Identität, nämlich die eines Gotteskindes.26 In Luthers Hermeneutik sind nach Kolb drei unterschiedliche Dimensionen zu unterscheiden: Gottes auf seine Menschengeschöpfe zielendes Reden – in der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die Bestimmung des Menschseins – in der Unterscheidung der zwei Arten von Gerechtigkeit – und die zwei Beziehungsgefüge, in denen Gottes Reden sich vollzieht und menschliche Identität zur Darstellung kommt – in der Unterscheidung des vertikalen und des 20 A.a.O., XVII–XIX. 21 A.a.O., XIX; vgl. Kolb, Prophet (wie Anm. 2), 225. 22 Kolb, Deus revelatus – Homo revelatus. Luthers theologia cruces für das 21. Jahrhundert, in: Kolb/Neddens, Wort (wie Anm. 10), 13–34, hier 14f. 23 A.a.O., 20. 24 Sermo de duplici iustitia, WA 2,145–153 (= LDStA 2, 67–85); dazu Robert Kolb, Luther on the Two Kinds of Righteousness. Reflections on His Two-Dimensional Definition of Humanity at the Heart of His Theology, Lutheran Quarterly XIII (1999), 449–466. 25 Kolb, Stories (wie Anm. 2), 11. 26 A.a.O., 11.

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horizontalen Bereichs.27 Kolb plädiert mit Blick auf die Ausformung dieser Differenzierungen dafür, die in der Forschung landläufige Rede vom „reformatorischen Durchbruch“ zu ersetzen durch die Begrifflichkeit eines „evangelischen Reifungsprozesses“28. Tatsächlich trägt eine solche Beschreibung den historischen und biographischen Gegebenheiten in der Ausformung von Luthers Theologie weitaus besser Rechnung als die Fixierung auf eine nur schwer fassbare, punktuell aufgefasste Größe wie das „Turmerlebnis“29, ganz abgesehen von den damit verbundenen Datierungsproblemen. Unterfüttert sind Robert Kolbs Deutungsbemühungen nicht nur von tiefen Einsichten in Luthers Theologie selbst, vielmehr auch von profunder Kenntnis der Luther-Rezeption zu dessen Lebzeiten und in den ersten Jahrzehnten nach Luthers Tod: In unterschiedlichen Bildern und damit konnotierten Deutungen wird Luther seinerzeit als Prophet, Lehrer oder Held wahrgenommen; deutlicher kann Luthers Prägekraft für seine Zeitgenossen und zeitgenössischen Nachfahren kaum beschrieben werden.30 Dies führt zeitweise auch dazu, dass die Person Luthers besonders in deutschen Landen eine Verehrung – als „Sankt Martin von Wittenberg“ – erfuhr, wie sie vordem nur Heiligen zuteilgeworden war.31 Im Ergebnis entscheidend ist Kolbs Feststellung, dass gegen Ende des 16. Jahrhunderts Luthers persönliche Autorität und die einer Apotheose nahekommende Verehrung seiner Person abgelöst wird durch die von der Heiligen Schrift abgeleitete verbindliche Geltung der Bekenntnisschriften der Kirche, die nicht zuletzt seinem Wirken entsprang.32 Der Kirchenhistoriker arbeitet in konfessionskundlicher Hinsicht heraus, dass diese Weise, „[d]ie Kirche durch in einer Bekenntnisschrift niedergelegtes Glaubensbekenntnis zu definieren“, ein Specificum der lutherischen Kirche ist.33 Dabei übersieht er nicht, dass die Auseinandersetzungen im Lager der Wittenberger Theologie

27 A.a.O.,17. 28 A.a.O., 25. 29 Der Terminus wird noch auf der offizielle Website der Staatliche Geschäftsstelle „Luther 2017“ gebraucht: http://www.luther2017.de/schlagworte/turmerlebnis. 30 Kolb, Prophet (wie Anm. 2); ders., Stories (wie Anm. 2), passim. 31 Kolb, Saints (wie Anm. 9), 103, Kapitel 4, Überschrift, 103–138, 157. 32 Kolb, Prophet (wie Anm. 2), 230. 33 Kolb, Faith (wie Anm. 9), 13–25; ders., Konkordienformel (wie Anm. 9), 13–24.

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trotz aller Heftigkeit und persönlichen Verletzungen eine Art Streitkultur bildeten34, gab es doch zwischen allen Kontrahenten eine „grundsätzliche Nähe“: „Alle […] waren Schüler Luthers […], und fast alle waren Studenten Melanchthons gewesen.“ Luther war ihnen „das besondere Werkzeug Gottes“35, und der Praeceptor „hatte ihren Instinkt in Lehrfragen geschärft und hatte weitgehend ihre theologische Methode geformt.“36 Wie emphatisch, auch schonungslos diese Kontroversen geführt wurden, zeigt Kolb anhand der Kritik der nachwachsenden Theologengeneration an Melanchthons Lehre vom Heiligen Abendmahl.37 Er erfasst dabei zugleich – wie ich finde, sachgerecht – das Moment und Motiv der „fortlaufenden Entwicklung der Wittenberger Theologie“.38 Diese jedoch, in ihrer Doppelprägung durch Luther und Melanchthon und trotz der ihr inhärenten Konfliktpotentiale, die die Ausformung und Profilbildung begleiten, bestimmen und in gewisser Weise sogar ausmachen, kann begriffen werden, so Kolb, als Bestimmung des christlichen Glaubens durch die Weitergabe des Wissens um wahre Lehre, verbunden mit theologischer Kompetenz im Verstehen und Auslegen der Heiligen Schrift und ihrer seelsorglichen Anwendung, die untrennbar damit verbunden sei.39 Das von den Herausforderungen der Zeit verlangte Bekenntnis, nicht zuletzt unter den Bedingungen der Verfolgung und angesichts strittiger Fragen, die aus der Sicht der Beteiligten das Wesen evangelischen Glaubens betrafen,40 wurde besonders in der

34 A.a.O., 40; vgl. Arand/Kolb/Nestingen, Lutheran Confessions (wie Anm. 9), 171, Kapitelüberschrift: „The ‚Culture of Controversy‘.“ 35 A.a.O., 59. 36 A.a.O., 60. 37 Robert Kolb, The Critique of Melanchthon’s Doctrine of the Lord’s Supper by his „Gnesio-Lutheran“ Students, in: Dingel/Kolb/Kuropka/Wengert, Melanchthon (wie Anm. 3), 236–262. 38 Robert Kolb, Melanchthon’s Doctrinal Last Will and testament, in: A.a.O., 141– 160, hier 158: „continuing development of Wittenberg theology.“ 39 Robert Kolb, The Pastoral Dimension of Melanchthons’s Pedagogical Activities for the Education of Pastors, in: A.a.O., 29–42, hier 40: „The theological education which arose out of the ,Wittenberg‘ definition of Christian faith combined the delivery of the knowledge of true doctrine and the associated theological competence in understanding and interpreting the holy Scripture with the pastoral application since the two were closely, inseparably, wed to each other.“ 40 Kolb, Faith (wie Anm. 9), 63–98.

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(lutherischen) Spätreformation zu einer charakteristischen Haltung von Theologen, Fürsten, Pastoren und Gemeindegliedern,41 ja geradezu eine lutherische Lebensform.42 In der zweiten Generation lutherischer Theologie kommt es so zu einer „Rezeption“ der theologischen Ansätze, Impulse und Erträge, die die erste Generation Wittenberger Prägung entwickelt und erwirtschaftet hatte. Dabei sind unterschiedliche Akzentsetzungen zwischen Luther und Melanchthon nicht zu leugnen.43 Solche Aneignung ist aber immer auch ein kritisches Verfahren, nie bloße Reproduktion oder gar Repristination von längst Gesagtem und Gewusstem;44 darum ist es auch nahezu notwendig begleitet von Auseinandersetzungen, die einer „Familienfehde“ gleichen.45 Eben auf diese Weise kommt es zur Bildung und Ausprägung der spezifisch lutherischen „Tradition“, indem die Erben die von Luther (und Melanchthon) herkommende neue Denkungsart kritischer Musterung und Bewertung unterziehen, und dies durchaus nicht bloß epigonenhaft.46 Deshalb bestreitet Kolb auch energisch die Rede vom „Ende der Reformation“ und plädiert für die (Wieder-) Aufnahme des Terminus „Spätreformation“ zur Erfassung des Zeitraums bis zum Abschluss des lutherischen Konkordienprojekts, überdies für eine weitaus stärkere Beachtung der Kontinuitäten in das konfessionelle Zeitalter nach 1580.47 Er macht außerdem darauf aufmerksam, dass es bei der Beschreibung solch lutherischer Traditionen oder Kulturen nicht bloß um die Erhebung soziokultureller Mechanismen und Befunde gehen könne. Denn die auf die erste Generation lutherischer Theologie folgenden Generationen, entnahmen der Predigt des neuen Glaubens das Bezugssystem einen „einheitlichen Alls unter dem einen Schöpfergott“ und damit eine Weltsicht, in der Gott die Lösung aller Schwierigkeiten des Lebens anvertraut werden konnte, hatte er sich doch in seiner Menschwerdung und dem Tod zugunsten seiner

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A.a.O., 99–131. A.a.O., 132–140. Vgl. Kolb, Choice (wie Anm. 9), 278–281; Kolb, Melanchthon’s (wie Anm. 38). A.a.O., 272; ders., Faith (wie Anm. 9), 132f. Kolb, Critique (wie Anm. 37), bes. 257f.; vgl. Kolb, Choice (wie Anm. 9), 281– 290. 46 Kolb, culture (wie Anm. 9), 13. 47 A.a.O., 10–12, gegen Thomas Kaufmann, das Ende der Reformation. Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei“ (1548–1551/2), Tübingen 2003.

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Menschen in all seiner Liebe offenbart.48 Umso mehr müssten die spezifisch theologischen Implikationen der Ausbildung lutherischer Kirchentümer und ihrer Einflüsse auf die größeren Zusammenhänge, in denen sie entstanden, in den Blick genommen werden. Dabei ging – und geht – es um nichts geringeres, als den Kern und die der biblischen Botschaft und, damit aufs engste verknüpft, die entscheidenden Lebensfragen menschlichen Daseins.49 Damit ist eine höchst wichtige Aufgabe für die Arbeit historischer Theologie im 21. Jahrhundert beschrieben.50

3. Robert Kolb wendet den Mehrwert dieses Erbes auf Glauben und Kirche heute an Was Robert Kolbs Darlegungen in seiner Darstellung besonders von Geschichte und Theologie der ersten lutherischen Jahrzehnte so eindrücklich macht, ist der Bezug auf das gegenwärtige Leben der Christenheit, nicht nur der lutherischen Kirche. Statt etwa die Besonderheit schamhaft zu bedauern, dass die lutherische Kirche mit der Konkordienformel und dem Konkordienbuch ihr Verständnis des Evangeliums und ihr Selbstverständnis in einem Corpus Doctrinae umschrieben hat, wertet er diesen Sachverhalt als Beitrag zum ökumenischen Miteinander in heutiger Zeit, wenn und weil es denn in der Christenheit darum geht, „auch im 21. Jahrhundert Gottes Wort zu verkündigen […] und die Botschaft von der Rechtfertigung in Jesus Christus […] weiter zu sagen“51. Durchweg betreibt er kirchengeschichtliches Arbeiten in theologischer Absicht und erweitert die Erträge historischer Theologie in systematischer Hinsicht und pastoralerPerspektive. Denn die Bekenner des 16. Jahrhunderts bewiesen hohen Einsatz in dem Bemühen, „das Evangelium von Jesus Christus seiner Kirche und ihrer Gesellschaft nahezubringen. Darin bieten sie ein Modell für christliches Leben und Zeugnis auch für unsere Zeit.“52 Und ebendarum geht es, die „Wittenberger Denkungs48 49 50 51 52

Kolb, Saints (wie Anm. 9), 150. Kolb, Choice (wie Anm. 9), 276. 290. Kolb, culture (wie Anm. 9), 5, 12f. Kolb, Konkordienformel (wie Anm. 9), 181. „[The sixteenth century confessors] placed much, including their lives, on the line to bring the gospel of Jesus Christ to his church and their society. In this they provide a model for Christian life and witness in our time as well.“ Arand/Kolb/Nestingen, Confessions (wie Anm. 9), VIII.

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art“ fruchtbar zu machen für die Kirche in heutiger Zeit.53 Luther etwa wird zum Gesprächspartner für Christen im 21. Jahrhundert, nicht zuletzt unter dem Vorzeichen krisenhafter Entwicklungen.54 Dabei geht es nicht zuletzt um Übersetzungsarbeit über den Abstand von Jahrhunderten und über kulturelle Grenzen hinweg.55 Dass dies weder bei Luther (und Melanchthon) noch bei uns voraussetzungslos geschieht, versteht sich (fast) von selbst.56 Zwei Grundannahmen müssen hier geltende gemacht werden: Die eine besagt, dass Gott die menschliche Existenz in einer doppelten Weise gestaltet, die andere, dass Gott durch sein Wort wirkt und zwar in vielfältigen Anwendungsgestalten. Die erste, anthropologische Voraussetzung meint zum einen, dass Menschen wahrhaft menschlich, d.h. Gottes Geschöpfe, sind und leben allein aus Gottes Güte und Gunst; zum anderen, dass sich solche Menschlichkeit im Verhältnis zu anderen Geschöpfen in Gestalt von Taten der Liebe erweist. Die zweite, (wort-)theologische Voraussetzung schließt ein, dass die Anwendung des Wortes Gottes in mündlicher, schriftlicher und sakramentaler Gestalt57 nicht nur über himmlische Sachverhalte „informiert“, vielmehr auf der Grundlage des fleischgewordenen Wortes Gottes, Jesus Christus, wirklich und wirksam neues Leben bewirkt und zuführt.58 Tatsächlich lässt sich, so meint Robert Kolb, ein Brückenschlag vollziehen zwischen Luthers (und Melanchthons) Zugangsweisen zur Frage nach dem Menschsein des Menschen und der Frage nach der Selbstmitteilung Gottes hinüber in unsere Zeit und ihre Fragestellungen.59 Um es wieder an dem Buch deutlich zu machen, für das unser Preisträger heute besonders geehrt wird: Wenn Luther Gott immer als Gott in Beziehung zu seinen Menschengeschöpfen begreift und in Übereinstimmung mit dem biblischen Befund darin eine Entfaltung der Gotteserzählung sieht, die in Raum und Zeit, also Geschichte, gar menschlicher Geschichte, spielt60, dann ist das anschlussfähig für 53 54 55 56 57

Kolb/Arand, Genius (wie Anm. 10), Titel. A.a.O., 10f. Kolb, Gospel (wie Anm. 11), 13f.; Kolb/Arand, Genius (wie Anm. 10), 19. A.a.O., 12. Robert Kolb, Confessor (wie Anm. 2), 131–151; Kolb/Arand, Genius (wie Anm. 10), 175–203. 58 A.a.O., 12. 59 A.a.O., 20. 60 Kolb, Stories (wie Anm. 2), 2.

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heutiges Verstehen und Deuten. Wenn nämlich Gottes Offenbarung sich in der Geschichte vollzieht, wie sie in der Bibel von der Schöpfung bis zu Christi Wiederkunft zum Gericht geschildert wird, dann ist die Entfaltung menschlicher Geschichte darin eingeschrieben.61 An die Bibel aber weiß sich Luther gewiesen und weist er seine Hörer und Leser, weil er in der Heiligen Schrift als Gottes Wort Gott selbst zu finden ist; insofern ist die Bibel nicht so sehr „Buch“ als Produkt eines Schreibvorgangs, als vielmehr eine Maßnahme der Fürsorge Gottes für seine Menschen und insofern ein kommunikativer Vorgang.62 Dieser Sachverhalt entspricht der kommunikativen Wirklichkeit Gottes selbst. Verdichtet findet sich diese Wirklichkeit im fleischgewordenen Wort Gottes, Jesus Christus: Er stellt die durch menschlichen Aufruhr zerstörte Beziehung zu Gott heilvoll wieder her; von da aus erst gewinnen alle anderen Gestalten der Selbstmitteilung Gottes ihren Ort und Rang.63 Zudem wiederholt sich der in der biblischen Großerzählung erkennbare Verlauf, so ist Luthers Überzeugung, im täglichen Leben der Menschen Gottes;64 dies ist auch der Grund dafür, dass das Wort Gottes seine Adressaten nicht verfehlt.65 Schafft es, indem es sich bei seinen Hörern und Lesern selbst zur Geltung bringt, diese neu, so dass sie im Glauben, indem sie Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen, der wahren Bestimmung ihres Menschseins zugeführt werden66, so kann und wird diese Neuschöpfung nicht folgenlos bleiben. Dies gilt auch und in besonderem Maße unter dem Gesichtspunkt, dass Gottes Volk und sein Menschen im Lauf der Geschichte und im Gang ihres Lebens beständig der Anfechtung durch die widergöttlichen und menschenfeindlichen Mächte ausgesetzt waren, sind und bleiben:67 Die Weltgeschichte ist auch das Schlachtfeld des Kampfes Gottes gegen die Versuche des Teufels, Gottes Herrschaft zu unterhöhlen, und das Leben der Menschen Gottes ist es nicht minder. Leiden wird daher ein unentrinnbarer Bestandteil des christlichen Alltags.68 Erst diese eschatologische Gespanntheit verleiht seiner 61 62 63 64 65 66 67 68

A.a.O., 6f. A.a.O., 13; 15. Kolb/Arand, Genius (wie Anm. 10), 166. Kolb, Stories (wie Anm. 2), 9. A.a.O., 16. A.a.O., 65–97. A.a.O., 99–123. A.a.O., 117–122.

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Theologie die letzte Tiefe.69 Sie verhindert aber nicht, dass das Leben der Gläubigen sich gestaltet in Gottesdienst, Gotteslob und Gebet – letzteres bereits in der Zuwendung zu anderen.70 Überdies aber gestaltet sich das Leben der Gläubigen im demütigen Dienst am Nächsten, der die soziale Verantwortung in einer Gemeinschaft oder Gesellschaft wahrnimmt und fördert.71 Was „gutes Leben“ bedeutet und sein kann, bemisst sich demnach auch heute an der Bereitschaft von Christenmenschen, in den unterschiedlichen, sich teils auch überlagernden Lebenslagen eine Dienstbereitschaft an den Tag zu legen, die der Berufung durch Gott an meinem Stand-Ort und dem Ruf Gottes in der jeweiligen Lage entspricht.72 Es geht um verantwortliches, gemeinschaftliches und gemeinschaftsdienliches Leben in einer allen gemeinsam von Gott gegebenen Welt. Dabei haben Christen in einer Gesellschaft durchaus teil an den Lebensvollzügen und kulturellen Gepflogenheiten ihrer Umgebung, wie sie andererseits ihre Werte in die gesellschaftliche Lebenswelt hineintragen.73 Die Art und Weise der Interaktion zwischen den verschiedenen ist freilich höchst komplex und dementsprechend die Beurteilung ihrer Wechselwirkungen differenziert vorzunehmen.74 Dies kann jedoch nicht gegen die Beobachtung ausgespielt werden, dass Luthers neue Weise, grundlegende Wirklichkeiten des menschlichen Lebens zu bestimmen, über Generationen und Kulturen weitergewirkt hat und wirkt.75 Solche Fortwirkung blieb und bleibt allerdings nicht auf den Bereich akademischer Theologie und kontroverstheologischer Debatten beschränkt; vielmehr zeigten und erweisen sich ihre Prägekräfte in der Frömmigkeit, im Volksglauben, im gesellschaftlichen Leben und bis in den politischen Raum hinein.76 Mit alledem ist Kolb der Überzeugung, dass selbst für das 21. Jahrhundert, da die Welt unter dem Vorzeichen neuer Technologien, neuer wirtschaftlicher Mächte, neuer politischer Konstellationen und neuer sozialer Gegebenheiten bei gleichzeitiger Fortdauer menschlicher Sündhaftigkeit Gefahr läuft, das Leben zu gefährden und uns 69 70 71 72 73 74 75 76

Kolb, Luther (wie Anm. 57),162–171. Kolb, Stories (wie Anm. 2), 125–240. A.a.O., 141–168. A.a.O., 168. Kolb, Christian Faith (wie Anm 14), 272. Kolb, culture (wie Anm. 9), 6. A.a.O., 7. A.a.O., 9f.

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unserer Menschlichkeit zu berauben, die lutherische Botschaft von gott-gegebener neuer Identität des Menschen und daraus sich ergebender Gestaltung wahrhaft menschlichen Lebens ihre Gültigkeit nicht nur behält, sondern neue Bedeutsamkeit erhält. Denn „Luthers Theologie des Kreuzes leistet es für jedes Zeitalter, die biblische Botschaft von Gott und seinem Wesen und dem Wesen seiner Geschöpfe zu verdeutlichen – unabhängig von den oberflächlichen Wandlungen in Geschichte und Kultur.“77 Lutherische Theologie und ihr Bekenntnis wären und sind mit ihrer Anhänglichkeit an das „eine wahre Evangelium“78 und damit verbundener Existenzerhellung zugleich ein wesentlicher, weiterführender Beitrag der lutherischen Kirchen zum ökumenischen Gespräch unserer Tage.79

4. Robert Kolb versteht solche Zuwendung zur Geschichte und Anwendung auf die Gegenwart als Sendung: Mission Luthers Denkungsart schließt eine erhellende Sicht auf die conditio humana ein und ist geeignet, Antwort zu geben auf die Fragen unserer Zeitgenossen: „Wer bin ich? Wozu bin ich da auf dieser Welt? Was macht mein Leben lebenswert? Wie finde ich angemessene Begrenzungen, um mein Leben zu bestimmen? Wie kann ich wahrhaft frei sein?“80 Im Abgleich mit unseren Zugangsweisen zu diesen Fragen mag Luthers Denkweise ein Vergleichsmaßstab sein und ein Angebot an die Menschen unserer Zeit und Welt, sich auf eine ganz persönliche Weise auf ihre Lebens- und also die Gottesfrage einzulassen und ihn so als ihren Schöpfer für sich in Anspruch zu nehmen.81 77 Kolb, revelatus (wie Anm. 22), 15; sie ist „tatsächlich ein Paradigma für jede Zeit, vielleicht sogar besonders am Anfang des 21. Jahrhunderts“, A.a.O., 23; vgl. a.a.O., 34. 78 Kolb, Faith (wie Anm. 9), 135–137. 79 „In the midst of societies around the world, in which new technologies, new economic forces, new political constellations, and new social structures join with the age-old sinfulness of individuals to unsettle life and deprive human beings of their humanity, Lutheran churches need to witness to Christ using the distinction of identity and performance, the distinction of passive and active righteousness.“, Kolb, Righteousness (wie Anm. 24), 464f.; vgl. Kolb, Faith (wie Anm. 9), 137f. 80 Kolb/Arand, Genius (wie Anm. 10), 222. 81 A.a.O., 223.

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Dass dabei höchst anspruchsvolle Übersetzungsarbeit erforderlich ist über Grenzen der Zeit, des Raumes, der Kulturen hinweg, ist Robert Kolb nicht verborgen.82 Für Nordamerika hat er Pluralismus, Entkirchlichung bzw. religiöse Entwöhnung und Individualismus mit deutlichen Tendenzen zum Narzissmus als Herausforderungen für das christliche Zeugnis identifiziert,83 aber auch Phänomene der Entfremdung und eines Gefühls von Bedeutungs- und Machtlosigkeit,84 nicht zuletzt angesichts der Wirklichkeit des Todes.85 Doch gerade die Strukturelemente in dem Beziehungsgefüge zwischen Gott und seinen Menschen, die er als Historiker und Systematiker nicht zuletzt bei Luther entdeckt und in den Bekenntnisschriften der lutherischen Reformation identifiziert hat, kann er nun fruchtbar machen für grundlegende Erwägungen zum Transfer der biblischen Botschaft in andere Kontexte.86 Dabei bedenkt er auch, dass die Kirche in den sie umgebenden Gesellschaften selbst so etwas wie eine „Subkultur“ darstellt,87 die freilich oft genug versucht war, die herrschende Kultur zu stützen statt ihr kritisch gegenüberzustehen, wenn sie sich offenkundig gegen Gottes willen verhielt; insofern ist dieser Sicht auch ein selbstkritisches Element eigen.88 Vor allem aber stellt er heraus, dass der Gott der Bibel in seiner Selbstkommunikation seine Menschen, auch wenn sie außerhalb der Welt des Glaubens an ihn leben oder meinen, leben zu können, doch ansprechen will und sie anspricht,89 eben durch das Zeugnis seiner Christenheit.90 Dabei geht es Gott darum, denen, die sein Wort hören, das, was er zu sagen hat, wirksam zukommen zu lassen. In einer Übersetzung von Luthers theologia crucis91 hört sich das so an: „In einer Zeit tiefster Zweifel an der Existenz und Liebe Gottes zeigt uns das Kreuz, wie Gott sich mitten im Bösen offenbart, das unser Leben bedroht. In Christus zeigt das Kreuz, wer Gott ist. In einer Zeit tiefster Zweifel am Menschsein und seinem Wert definiert die Theologie 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91

Kolb, Mind (wie Anm. 13), 6–12. Kolb, Gospel (wie Anm. 11), 11f., 32f., 182f. A.a.O., 86–92. A.a.O., 94–96. Kolb, Mind (wie Anm. 13), 10. A.a.O., 7. A.a.O., 10. A.a.O., 8. Kolb, Gospel (wie Anm. 11), 181, 183, 189, 202. Vgl. Kolb, Christian Faith (wie Anm 14), 220–29.

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des Kreuzes das menschliche Leben vom Standpunkt der Gegenwart Gottes und seiner Liebe zu seinen Geschöpfen, den Menschen aus. In Christus offenbart das Kreuz Gottes Göttlichkeit und unser Menschsein.“92 Vermittelt wird diese Botschaft in der Christenheit und durch die Kirche, die ihrerseits dadurch entsteht, dass Gottes Herrschaft sich durch sein neuschöpferisches Wort ausbreitet und so die Kirche ins Dasein ruft. Die Kirche insgesamt und die einzelnen Gläubigen geben Antwort auf dieses neuschöpferische Geschehen, zunächst im Gottesdienst der Gemeinde, dann über deren Grenzen hinaus im Dienst am Nächsten.93 Überdies aber bilden die Christen in Gemeinde und Kirche eine Zeugnisgemeinschaft,94 die ihr Recht daher bezieht, dass Gott selbst seine Menschen zu seinen Sprachrohren macht.95 Sie tragen das Wort des Evangeliums, das sie selbst vom Tod zu neuem Leben gebracht hat, zu denen, die es noch nicht erreicht hat. Ihre Verkündigung wird zum Mittel, durch das Christus Buße und Vergebung der Sünden bewirkt bei denen, die das Wort hören.96 Das Ziel solcher Ansage des Evangeliums – oder: Mission – wird die Taufe derjenigen sein und bleiben, die durch diese rettende Botschaft zum Glauben kommen; die Taufe selbst wiederum ist zugleich auch Mittel der Bekehrung.97 Dabei wird auch heutigen Zeitgenossen die Härte der Rede vom Sterben-Müssen der alten Existenz nicht erspart bleiben können; doch wird ihnen auch die Verheißung neuen Lebens in Christus nicht vorenthalten werden dürfen.98 Und Kolb zeigt, wie diese Kernbotschaft an Menschen in unterschiedlichen Lagen lagegerecht Anwendung finden kann.99 Das Evangelium in durchaus menschlicher, ja heutiger Sprache schafft, dass Menschen zum Glauben und in die Gemeinschaft Gottes und der Kirche gelangen.100 Diese Grundauffassung ist dem Bekenntnis der lutherischen Reformation von vornherein inhärent. Dabei geht es immer auch um Lehre, aber durchaus nicht nur; denn auch durch die 92 Kolb, revelatus (wie Anm. 22), 34. 93 A.a.O., 261–263. 94 A.a.O., 263. 95 Kolb, Gospel (wie Anm. 11), 12. 96 Kolb, Christian Faith (wie Anm 14), 264. 97 Kolb, Baptizing (wie Anm. 11), 63. 98 A.a.O., 64–68. 99 A.a.O., 64–76. 100 Kolb, Christian Faith (wie Anm 9), 223.

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kirchliche Praxis vollzieht sich Kommunikation des Evangeliums; das Bekenntnis hat in seinem Vollzug immer auch eine evangelistische Dimension.101 Ein „konfessioneller Lutheraner“ zu sein, heißt darum nicht so sehr, sich an das Konkordienbuch zu klammern, als vielmehr von dieser Grundlage auszugehen und ihr gemäß zu verfahren, nämlich als Bekenner des Glaubens.102 Das Bekenntnis der Christen ist also zum einen ein Antwortgeschehen, zum andern ein Zeugnisgeschehen; allemal aber ist es angelegt in der lebensverändernden Macht des Wortes Gottes selbst, die alle Menschen erreichen will.103 Einladend wird solches Bekenntnis auch darin sein, dass es den Brückenbau von Gottes Wort in der Heiligen Schrift hin zu den unterschiedlichen Situationen und Kulturen vollzieht, in denen Gott unser Zeugnis erwartet.104 Dabei werden die Zeugen nicht vergessen, dass die Verheißung des Herrn der Kirche ihnen als der „kleinen Herde“ (Lk 12,32) gilt.105 Das wird sie aber nicht hindern, die großen Taten Gottes unter den Völkern der Erde zu verkündigen.106 Denn das Evangelium will angesagt und auf den Kopf zu gesagt, also adressatengerecht zugesprochen sein.107 In seiner neuschöpferischen Kraft ist es bis heute lebensspendende Ansage und Zusage zugleich,108 die ihre Tiefe in endzeitlicher Perspektive und eschatologischer Verantwortung gewinnt.109

5. Die Antwort auf die Frage: Was können wir von der Geschichte lernen? Für Robert Kolbs akademische und publizistische Wirksamkeit ist noch anzumerken, dass er seine historische und theologische Arbeit immer auch in Zusammenarbeit mit herausragenden Mitgliedern seiner Zunft vollzieht, durchaus über den Rahmen und Rand seiner eigenen kirchlichen Herkunft und Ortsbestimmung hinaus. Editionen und Sammelbände, die er betreut und herausgegeben oder zu denen 101 Kolb, Faith (wie Anm 9), 138–140. 102 Kolb, Children (wie Anm. 10), 1–6. 103 Kolb, Stories (wie Anm. 9), 132f. 104 Kolb, Christian Faith (wie Anm 14), 272. 105 A.a.O., 274. 106 A.a.O., 298. 107 Kolb, Gospel (wie Anm. 11), 9–12. 108 Kolb/Arand, Genius (wie Anm. 10), 211, 223. 109 Kolb, Gospel (wie Anm. 11), 208; ders., Faith (wie Anm. 9), 140.

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er Beiträge geliefert hat, Leitungsaufgaben, die er in den Ausbildungsstätten seiner Heimatkirche und in internationalen Forschungsvereinigungen wahrgenommen hat und weiter wahrnimmt, beweisen dies. Nicht zuletzt die große Schar von Schülern, von denen einige als Forschungsstudenten oder Doktoranden manchen Monat in der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft seines Hauses zu verbringen das Privileg hatten, können davon beredtes Zeugnis ablegen. Und die zahlreichen kirchlichen und theologischen Ausbildungsstätten, an denen Robert Kolb in den zurückliegenden Jahrzenten, gewirkt hat, wissen ihm seinen unermüdlichen Einsatz in der profunden Vermittlung genuin lutherischer Theologie zu danken. Dies gilt in besonderer Weis für Lutherische Theologische Hochschule, die sich seit glücklich schätzt, ihn seit mehr als anderthalb Jahrzehnten zu ihren ständigen Gastdozenten zählen zu dürfen. Von einem Kollegen, mit dem Robert Kolb in durchaus kritischer Auseinandersetzung stand und steht, ist dem Hermann-SassePreisträger dieses Jahres bescheinigt worden, seine „Sicht der Dinge [sc. sei] kohärent, niveauvoll und anregend“, freilich nicht „alternativlos“110. Zu dem letzten Epitheton hinwiederum ist festzustellen: Im Gegenüber zu den, konfessionelle Sichtweisen und Aufnahmen weithin ablehnenden Deutungsmustern der Reformation in der Kirchengeschichtsschreibung unserer Tage111 ist Robert Kolbs Sicht und Darstellung eine echte Alternative! Es wurde Zeit, dass sie von der konkordienlutherischen Kirche in Deutschland gewürdigt wird. Was also können wir „von der Geschichte lernen“, nicht zuletzt aus der Geschichte der lutherischen Reformation, also von historischer Theologie im besten Sinn des Wortes? Folgen wir Robert Kolb, so lautet die Antwort: Gott wirkt „in der Welt […], um die Sünder mit sich zu versöhnen. Er wirkt, so lehrten Luther und Melanchthon ihre Studenten, durch sein Wort. Es ist dies ein verlässliches Wort, wie es in der Schrift zu finden ist, denn Gott ist da gegenwärtig und er spricht immer dann, wenn seine Botschaft aus den Seiten der Schrift dem Volk Gottes ausgeteilt wird. Darum ist es ein Wort, das, obwohl Gottes Gegenwart in ihm seine verurteilende Macht durch sein Gesetz mitteilt vor allem Macht hat, Sünder von dieser Verdammnis zu 110 Thomas Kaufmann, Zur Einführung, in: Kolb, Konkordienformel (wie Anm. 9), 12. 111 Vgl. Werner Klän, Was machen wir aus Luther? In: Karl-Hermann Kandler (Hg.), Das Bekenntnis der Kirche zu Fragen von Ehe und Familie (= Lutherische Glauben 6), Neuendettelsau 2011, 90–117.

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erretten. Diese Macht ist wirksam durch die Verheißung Gottes in Jesus Christus, den Mensch gewordenen Gott, dessen Tod und Auferstehung Trost und Hoffnung all denen bringt, die ihm vertrauen.“112 Oder, in den Worten des Buchs, für das Robert Kolb heute geehrt wird: „Luther’s reform was all about cultivating proper faith and life in the people of God. […] Because Luther believed in the consistency of human nature and also in a fallen world, and despite his recognition of the historical uniqueness of every time and place, he moved easily between the biblical world and his own. In both he found God eager to speak and desiring community with his human creatures. Luther dedicated his life and his stories to make this happen.“113 Diese Sicht unserer Zeit und Welt zu vermitteln, ist, wenn ich recht sehe, Dein andauerndes, dringliches Bemühen, Bob. Dein unermüdlicher Einsatz für dieses Anliegen ist nicht hoch genug zu schätzen. Unsere wissenschaftliche und kirchliche Wertschätzung für Deine Arbeit bringt jedenfalls der Hermann-Sasse-Preis, höchst angemessen zum Ausdruck, den Du jetzt erhältst.

112 „Luther’s reform was all about cultivating proper faith and life in the people of God. […] Because Luther believed in the consistency of human nature and also in a fallen world, and despite his recognition of the historical uniqueness of every time and place, he moved easily between the biblical world and his own. In both he found God eager to speak and desiring community with his human creatures.“ Kolb, Konkordienformel (wie Anm. 9), 183. 113 In Luthers Reformation ging es darum, echten Glauben und rechtes Leben zu fördern. […] Weil Luther von der Beständigkeit der menschlichen Natur überzeugt war und die Welt als eine gefallene ansah, und trotz seiner Einsicht in die geschichtliche Einzigartigkeit jeder Zeit und jeden Orts war er in der Lage, zwischen der biblischen Welt und seiner eigenen hin und her zu wechseln. In beiden fand er den Gott, der sich mitteilen will und Gemeinschaft mit seinen Menschengeschöpfen sucht.“ Kolb, Stories (wie Anm. 2), 183.

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Die Kleinen Propheten als Zeitgenossen der Reformatoren Zur Auslegung des Zwölfprophetenbuchs in der lutherischen Spätreformation Propheten und Apostel sind in jedem Zeitalter zu Hause. Christliche Prediger vermuten immer wieder, dass die Umstände, in denen die biblischen Verfasser die Botschaft Gottes verkündigten, ihren eigenen Umständen entsprechen. Deswegen ist es nicht überraschend, dass im Wittenberger Kreis die Stimmen der Kleinen Propheten in den Jahren nach dem Tode von Luther und Melanchthon, nach dem Schmalkaldischen Krieg und der Krise des Augsburger Interims ein aktuelles Echo gefunden haben. Im Mittelalter lasen die Lehrer im Kloster und an der Universität über die Kleinen Propheten nicht so oft wie über 1. Mose, 5. Mose, die Psalmen, das Hohelied und Jesaja; dennoch gab es zu Luthers Zeit Kommentare über die Kleinen Propheten von Hieronymus, Rufinus, Albertus Magnus, Haymo von Halberstadt und Rupertus von Deutz.1 Auch im sechzehnten Jahrhundert hat man den Psalter, 1. Mose oder Jesaja öfter als die Kleinen Propheten ins Auge gefasst, um den Gemeinden oder den Studenten das Wort Gottes nahezulegen. Luther und einige seiner Anhänger bzw. Studenten jedoch haben gelegentlich auch einen Kleinen Propheten oder alle zwölf als Vorlesungsthema oder Predigttext gewählt und ihre Auslegungen auch in den Druck gegeben. Wie in allen Zeitaltern finden ihre Auslegungen der Heiligen Schrift im Gespräch statt. Der Interpret wird vom Text angesprochen und tauscht Gedanken mit dessen Verfasser und auch einer angenommenen Leserschaft aus. Der Prediger und der Professor sind noch dazu im Gespräch mit den Auslegern der früheren Zeitalter, in der Reformationszeit vor allem mit den Kirchenvätern der ersten sechs Jahrhunderte nach Christus. Das Gespräch bezieht aber auch 1

Hans Rost, Die Bibel im Mittelalter. Beiträge zur Geschichte und Bibliographie der Bibel, Augsburg 1939, 88–94. ______________________________________________________________________ LuThK 38 (2014), 21–43 DOI 10.2364/3846999011

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die rabbinischen Traditionen mit ein, außerdem die mittelalterlichen Kommentatoren und die zeitgenössischen Ausleger der Heiligen Schrift. Diese Gespräche waren oft voller Kritik sowohl über die Interpretation des Textes als auch über die Lehre und Praxis, die aus der jeweiligen Interpretation hervorgegangen waren. Prediger und Professoren standen natürlich auch im Gespräch mit den eigenen Zuhörern und ihrem zeitgenössischen Kontext, so wie der Ausleger des Textes sie sich vorstellte und verstand. Alle diese Gespräche spielen in der Interpretation der Bibel eine wichtige Rolle.

Martin Luther als Ausleger des Zwölfprophetenbuches So war es auch bei Martin Luther. Er fing im Frühling 1524 an, über die kleinen Propheten Vorlesungen zu halten, als die Reformation noch in der Stufe ihrer ersten Entwicklung und noch wenig klar geworden war. Seit drei Jahren ein Geächteter und ein Ketzer, hatte Luther eine gewisse Routine gefunden – auch wenn nicht eine klar definierte Rolle – und war mit den verschiedensten Herausforderungen und Aufgaben als Berater von Pfarrern und Obrigkeiten in Sachen der Reform beschäftigt. Sein Amt als Professor blieb aber der Rahmen seines Lebens, und seine Lehrverpflichtung wollte er ausüben. In den Monaten nach seiner Rückkehr von der Wartburg hat er nicht Vorlesungen gehalten, aber wahrscheinlich im März 1524 begann er die Botschaft von Hosea auszulegen.2 Innerhalb von zwei Jahren hat er sukzessiv die andere elf Bücher ausgelegt, also in den Jahren als sein Beschützer, Friedrich der Weise starb, in den Jahren des Bauernkrieges, in den Jahren als sein Streit mit Karlstadt aufbrach und es zum offenen Bruches mit Erasmus kam, in den Jahren schließlich auch vor und nach seiner Eheschließung und mitten in der weiteren Ausbreitung seiner Reform. Er hielt in einem Kontext des Aufbruchs und des Aufruhrs seine Vorlesungen. Aber seine Vorlesungen spiegelten bemerkenswerterweise wenig von diesen Konflikten um ihn wider. Er beschäftigte sich stattdessen mit einem Streit, den auch die Propheten erfahren hatten, einem Streit an dem auch er täglich litt, mit dem Kampf zwischen Gott und Satan, zwischen Gottes Wort und der Wahrheit einerseits und den Lügen des Teufels andererseits. Dieser Kampf kam nicht nur in dem Ringen zwischen dem Glauben und dem Ungehorsam in der eigenen Person zum Zuge, sondern auch in 2

Zu diesen Vorlesungen, vgl. die Einführung in WA 13, VII–XXXVI.

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den Angriffen gegen Gottes Wort, die sowohl vom Papst als auch von den Schwärmern verschiedener Arten ausgingen.3 Als er die Analyse des Textes von Amos einleitete, bemerkte er, dass wir, weil wir nur Fleisch und Blut sind und böse Feinde haben, gegen die wir hart kämpfen müssen, viel Unterricht brauchen und eine Fülle an Gottes Wort, damit wir nicht vom Fleisch verführt und vom Satan umzingelt den Geist auslöschen.4 Den Zusammenhang, in dem die Studenten die Worte der Propheten erfahren sollten, hat Luther in seiner Einleitung zu Joel so beschrieben: Der Prophet verkündigte wie alle Propheten die Zukunft Christi und sein Reich. Die Welt und ihr Fürst Satan verachten Gottes Wort und verfolgen es, aber von den Propheten erfahren wir, dass Gott siegt.5 In diese Situation schickt Gott die Prediger seines Worts hinein, um Sünder zur Buße zu rufen und den Bußfertigen die Vergebung der Sünden zu verkündigen, vor allem auf der Basis der zahlreichen Prophezeiungen von Christus in den Kleinen Propheten. Unter diesen Leitlinien legte Luther das Buch Joel aus.6

3

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In den auf seine Vorlesungen über die kleinen Propheten folgenden Jahren hat Luther über die richtige Übersetzung der Propheten mit den sogenannten „Wormser Propheten“, die Anabaptisten Ludwig Hätzer und Hans Denck, eine Auseinandersetzung geführt; vgl. Gerhard Krause, Studien zu Luthers Auslegung der Kleinen Propheten (Beiträge zur historischen Theologie 33), Tübingen 1962, 11–60. Eigentlich erschien diese Übersetzung gegen das Ende der Zeit in der Luther seine Vorlesungen gehalten hatte aber beeinflusste seine späteren Bearbeitungen des Zwölfprophetenbuches. WA 13,158/9. WA 13,88/9. Vgl. Johann Anselm Steiger, Jonas Hölle. Ein auslegungsgeschichtlicher Beitrag zu Luthers Interpretation des Alten Testaments, in: Innovation durch Wissenstransfer in der frühen Neuzeit: Kultur- und geistesgeschichtliche Studien zu Austauschprozessen in Mitteleuropa, Johann Anselm Steiger/Sandra Richter/Marc Föcking, Chloe, Beihefte zu Daphnis 41, Amsterdam/New York 2010, 55–77; Johann Anselm Steiger, Jonas Propheta. Zur Auslegungs- und Mediengeschichte des Buches Jona bei Martin Luther und im Luthertum der Barockzeit, Stuttgart/Bad Canstatt 2011, bes. 13–59; und ders., „Gottes Bilderbücher“. Die Auslegung der Jona-Erzählung bei Luther und im Luthertum der Barockzeit, in: Johann Anselm Steiger/Wilhelm Kühlmann (Hg.), Der Problematische Prophet. Die biblische Jona Figur in Exegese, Theologie, Literatur und Bildender Kunst, Berlin 2011, 58–87.

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Luthers Wittenberger Kollege Philipp Melanchthon hat schon 1529 allen Studenten, die Theologie lernen wollten, Luthers Vorlesungen über Jona und Micha empfohlen.7 Eine kleine Reihe ihrer Schüler und Anhänger sind Luthers Beispiel und Melanchthons Rat soweit gefolgt, dass sie Vorlesungen oder auch Predigten bzw. Predigtreihen über einen oder mehr von den Zwölf gehalten und veröffentlicht haben.

Die Ausleger der Kleinen Propheten im Wittenberger Kreis Unter der älteren Generation im Wittenberger Kreis hat Johannes Brenz (1499–1570), der Reformator in Schwäbisch Hall und spätere Superintendent der Kirche des Herzogtums Württemberg, auf der Grundlage seiner Predigten drei Kommentare zu den Kleinen Propheten verfasst, die im Laufe seiner Karriere erschienen.8 Urbanus Rhegius (1489–1541), Superintendent der Kirche von BraunschweigLüneburg seit 1530, veröffentliche 1537 einen Kommentar über Obadja. Er beruhte auf einer Vorlesung, die Rhegius 1536 in Hannover gehalten hatte, als er an der Einführung der Reformation in der Stadt teilnahm. Rhegius baute das neue evangelische Selbstbewusstsein der Pastoren dadurch auf, dass er sie als Erben der Propheten beschrieb. Die hannoverschen Pfarrer hätten dasselbe Amt inne wie Obadja, nämlich die Buße und den Glauben an Christus zu verkündigen: Gott hätte auch sie berufen, dieselbe Verheißung vom Messias, den der Prophet vorhergesehen hatte, zu vermitteln, und dasselbe Ringen um Gottes Wahrheit fortzusetzen, wie seine Zuhörer in ihrem Kampf gegen das Reich Satans zu der Zeit in Hannover erfuhren.9 Unter Luthers Wittenberger Kollegen hat Johannes Bugenhagen (1485–1558) einen Kommentar über Jona 1550 in den Druck gebracht. Dieses Werk ging aus einer Vorlesung an der Universität hervor, die Bugenhagen im Herbst 1547 gehalten hatte, als die Universität nach der Kriegszeit 1546–1547 wieder eröffnete. Dabei versuchte er, sich und seine damaligen Kollegen in Wittenberg gegen die Anklagen der Gegner des Leipziger Vermittlungsvorschlags bzw. 7 8 9

Heinz Scheible (Hg.), Melanchthons Briefwechsel 3, Texte, Stuttgart/Bad Cannstatt 2000, 673. In Amos Prophetam annotationes …, Straßburg? 1530; Der Prophet Osea …, Hagenau 1531; Explicatio Ionae Prophetae …, Frankfurt 1566. Abdias Propheta explanatus Commenatariolo, cum Antithesi Regni Christi & Regni Satanae. … Magdeburg 1537, A3b, A5a, A6a–b.

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Interims zu verteidigen. Das tat er, indem er alles Gewicht auf die Wittenberger Lehre von der Rechtfertigung des Sünders legte, die Rechtfertigung allein durch die Gnade Gottes und allein durch den Glauben an Jesus Christus. Im Dienst dieses Ziels fügte er Abhandlungen über menschliche Traditionen und über den Montanismus in seine Behandlung von Jona ein.10 Vier von den Schülern Luthers und Melanchthons haben Auslegungen über das ganze Corpus der Kleinen Propheten oder wenigstens über mehrere Bücher daraus verfasst: David Chytraeus (1531– 1600), Johannes Wigand (1523–1587) und Viktorin Strigel (1524– 1569) haben lateinische Kommentare und Nikolaus Selnecker (1530– 1592) eine deutsche, homiletische Erläuterung des Zwölfprophetenbuchs in Druck gegeben. David Chytraeus, der gleichzeitig mit Wigand und Strigel in Wittenberg studiert hatte, ließ 1565 bzw. 1568 seine Vorlesungen an der Universität Rostock über Micha und Nahum und auch über Maleachi drucken. Er fasste den Inhalt bzw. die Bedeutung jedes Buches entweder in einer „expositio“ oder in „loci doctrinae praecipui“ zusammen, bevor er den Text behandelte. Manchmal legte er eine rhetorische Analyse dar – im ersten Kapitel identifizierte er exordium, propositio, ratio, und amplificationes –, und immer legte er die Loci doctrinae des jeweiligen Abschnitts dar.11 (Man muss diese Loci doctrinae als Anregungen zur Anwendung des Textes in der Lehre und Predigt in der Gemeinde verstehen und nicht als fertig ausgearbeitete dogmatische Formulierungen.) Wigands Kommentar erschien 1566, als er Superintendent der Kirche in Wismar war. Dorthin war er gekommen, nachdem er Ende 1561 als einer der Anhänger von Matthias Flacius vom Lehrstuhl an der Universität Jena abgesetzt worden war. Obwohl Wigand vom Ursprung seines Kommentars nichts erwähnte, ist es nach der Form des Werkes wohl möglich, dass er hier seine Vorlesungen an der 10 Ionas Propheta expositvs in tertio capite, Tractatus de vera poenitentia …, Wittenberg 1550; vgl. Martin J. Lohrmann, Bugenhagen’s Jonah. Biblical Interpretation as Public Theology, Minneapolis 2012. Die wortreichen Einfügungen befinden sich, L2b–y8a. 11 Explicatio Micheae et Nahvmi prophetarvm, Wittenberg 1565; Explicatio Malachiae prophetae, et Chronologia Historiae Maccabaeorum, vsque ad natum Christum deducta, Rostock, 1568. Über Chytraeus und Selnecker als Exegeten, vgl. Irena Backus, Reformation readings of the Apocalypse, Geneva, Zurich, and Wittenberg, Oxford 2000.

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Universität oder eine Fortbildungsreihe für die Wismarer Pfarrer in den Druck gebracht hat.12 Wigand legte den Text durch Glossen über einzelne Wörter und Phrasen aus und fügte dazu eine Art von Scholien hinzu. Diese hatten die Form von kurzen „Doctrinae“,13 eigentlich melanchthonischen Topoi, also Vorschläge für den Prediger, welche Lektionen aus dem Text in dem Zusammenhang der ganzen Heiligen Schrift herauszuziehen wären, bzw. wie er den Text auf das Leben der Zuhörer anwenden könnte. Als Viktorin Strigels annotierter Text des Zwölfprophetenbuches 1570 erschien, war er schon von Leipzig nach Heidelberg gewechselt, nachdem sein Dekan Johann Pfeffinger ihm 1567 wegen seiner Abendmahlslehre die Lehrerlaubnis entzogen hatte. Nach isagogischen Bemerkungen über das ganze Corpus folgen für jedes Buch und jedes Kapitel der Bücher ein „Argumentum“ und dann in zwei Spalten der Text und Anmerkungen dazu. Die meisten Anmerkungen sind glossenartige Erklärungen von Wörtern, Phrasen, dem historischen Zusammenhang usw. Manchmal handelt es sich aber auch um längere Darlegungen über die Bedeutung des Textes.14 Selneckers Auslegung der Kleinen Propheten hatte, im Gegensatz zu den Werken von Chytraeus, Wigand und Strigel, die Gestalt eines homiletischen Kommentars in vier Bänden (im ersten erschien der Kommentar zu Zefanja neben der viel längeren Erklärung des Jeremiabuches, weil die beiden Propheten gleichzeitig tätig waren). Selnecker hat dieses Werk und drei Bände über acht andere unter den Kleinen Propheten 1566–1568 in Jena vorbereitet, nachdem er

12 In XII. Prophetas minores explicationes succinctae, Ordinem rerum, Textus sententiam, & Doctrinas praecipuas strictissimè indicantes, Basel 1566. 13 Wigand war unter den ersten im Wittenberger Kreis, die das Wort „doctrina“ im Plural gebraucht haben. Bei den meisten seiner Zeitgenossen blieb die „doctrina“ der Schrift eine Einheit, aus mehreren „topoi,“ d.h. „loci communces,“ oder „Glaubensartikeln“ bestehend. Wigands Gebrauch an dieser Stelle wurde im Laufe der folgenden Jahrzehnte normal. Man findet einen ähnlichen Gebrauch auf Deutsch in Stephan Reichs Buspredigt Zephanie (vgl. Anm. 13 unten), wo er „Le(h)re(n)“ oder „Stück“ für die einzelnen Themen in einer Passage gebraucht hat, z.B. Buspredigt Zephanie, S8b–T8b, X5a–Y6a, d6b–d7b. Bei Selnecker heissen die Themen „Pünctlein“, z.B. Propheten Oseas (vgl. Anm. 15), E2b–E4b. 14 XII. minores prophetae ad Ebraicam veritatem recogniti, & argumentis atque Scholijs illustrati, Leipzig 1570.

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1565 an die dortige Fakultät gekommen war.15 Er hat die letzten drei der Zwölf in einem Sammelband kommentiert, der 1579 alle seine Kommentare über die Propheten zusammenbrachte.16 Unklar bleibt es vom Text her, ob Selnecker seine Auslegungen tatsächlich als Predigten gehalten hatte, oder ob er die narrative Form der Predigt als Rahmen einer lediglich für den Druck bestimmten Behandlung des Texts gewählt hat. Klare, explizite Zeichen der Mündlichkeit findet man in diesen „Predigten“ kaum. Drei andere Pfarrer und ein Bischof im Ruhestand aus dem Wittenberger Kreis haben ebenfalls Auslegungen je über einen der Kleinen Propheten, Hosea, Zefanja und Jona veröffentlicht. Stephan Reich (1512–1588) studierte ab 1529 in Wittenberg und war Pfarrer in Oberfeld, als er 1561 über Zefanja predigte.17 Nikolaus von Amsdorf, Luthers Freund und Mitstreiter von den ersten Jahren in Wittenberg, verwendete 1562 Luthers Kommentar über Hosea 5 als Instrument, mit dem er sich gegen die Einmischung seines Fürsten, Johann Friedrichs des Mittleren, in die kirchlichen Angelegenheiten äußerte.18 Johann Pomarius der Jüngere (gest. 1589), in den frühen 15 Der gantze Prophet Jeremias / Zu diesen schweren vnnd Gefehrlichen zeiten / frommen Christen Zum vnterricht vnd Trost / Ausgelegt. Item / Der Prophet Sophonias / Ausgelegt, Leipzig 1566; Der Prophet vnnd ernster Busprediger Amos vnnd Obadias …, Leipzig 1567, datiert den 26. Februar 1567; Die Propheten / Jonas / Nahum vnd Abacuc …, Leipzig 1567, datiert den 10. Junij 1567; Die Propheten Oseas / Joel / vnd Micheas …, Leipzig 1568, datiert den 30. Mai 1568. Selnecker hat auch in dieser Zeit, April 1567, eine Gelegenheitsschrift veröffentlicht, als Übung in der lateinischen Poesie, die die Geschichte von Jonas als Gedicht wiederholt: Ionas Propheta converses in Anapaestos, & Scholis breuibus illustrate, Jena 1567. Zu der damaligen Situation in ernstinischen Sachsen, vgl. Daniel Gehrt, Ernestinische Konfessionspolitik. Bekenntnisbildung, Herrschaftskonsolidierung und dynastische Identitätsstiftung vom Augsburger Interim 1548 bis zur Konkordienformel 1577, Leipzig 2011, 246–270. 16 Die Propheten / Allen frommen vnd einfeltigen Christen vnd Haussua[e]tern zum vnterricht vnd trost in diesen sorglichen letzten zeiten / mit kurtzer Sumarri / vnd Außlegung verfertiget, Leipzig 1579. 17 Der Herliche Buspredigt des Propheten Zephaniae / Welche zu diesen schweren / geschwinden vnd ku[e]merlichen zeiten / allen Christen notig / nutzlich vnd trostlich zulesen ist, Ursel 1561. 18 Eine Predigt aus dem Comment / des heilgen vnd trewen Dieners Christi Luther / vber das fu[e]nfft Capitel Hosee gezogen / von rechtschaffener vnd falscher Busse, Jena 1562. Amsdorf verfasste auch in der Vorrede von Luthers Joel Kommentar eine Erklärung der Bedeutung der Botschaft dieses Propheten für

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1560er Jahren ebenfalls Student in Wittenberg, verkündigte 1579 Gottes Zorn und Barmherzigkeit aus dem Propheten Jona vor der Magdeburger Sankt Petri Gemeinde.19 Auch Georg Edelmann (1533– 1594), der am Anfang der 1550er Jahre in Leipzig studiert hatte, nahm als Text das Buch Jona, um Buße und Vergebung der Sünden in Falckenstein zu verkündigen, wo er seit 1565 Pfarrer war.20

Die exegetische Praxis des Wittenberger Kreises Obwohl diese elf Interpreten des Zwölfprophetenbuches aus drei verschiedenen Generationen stammen und aus unterschiedlichen Zusammenhängen und mit verschiedenen Anliegen zum biblischen Text kamen, teilten sie einen gemeinsamen theologischen Zugang zum Text in der Hermeneutik der Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium und der seelsorgerlichen Anwendung der Botschaft von Buße und Vergebung der Sünden. Sie nutzten zwar verschiedene Formen des Kommentars, wendeten aber ähnliche Methoden an, indem sie zuerst das „argumentum“ oder den „scopus“ eines Buches bzw. eines Kapitels festzustellen und danach die Bedeutung des Textes in dessen historischem Kontext und in der Situation des 16. Jahrhunderts klar zu machen versuchten.21 Dazu hingen über den meisten im größeren Wittenberger Kreis die Schatten ihrer „Wittenberger Erfahrungen“. Ab und zu wiesen diese Interpreten auf Luthers Kommentare hin,22 obwohl sie relativ selten seinen spezifischen und vor allem seinen eigenartigen Bemerkungen über den Text folgten. Meist vermieden es Luthers Schüler, solche Bemerkungen zu wiederholen, die von der exegetischen Tradition zu weit abwichen23 – trotz ihrer Überzeugung, dass ihr Lehrer „der

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seine Zeitgenossen: Der Prophet durch Doc. Mart. L. In Lateinischer sprach gelesen vnd ausgelegt / vnd newlich verdeutscht etc., Jena 1553. Der Prophet Jonas, Magdeburg 1579. Auslegung des Propheten Jonae / geprediget in XXX. Predigten zum Falkenstein, Wittenberg 1583. Zu Luthers hermeneutischen Orientierung, vgl. Krause, Kleinen Propheten (wie Anm. 3), 171–388. Bugenhagen, Ionas, C6a, H1a T8a–b. Robert Kolb, Sixteenth-Century Lutheran Commentary on Genesis and the Genesis Commentary of Martin Luther, in Théorie et pratique de l'exégèse, Actes du troisième colloque international sur l'histoire de l'exégèse biblique au XVIe siècle, Irena Backus/Francis Higman (Hg.), Genf 1990, 243–258, und ders., The

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segenstrahlendste und herrlichste Wiederhersteller der Christlichen Religion und der Heros der Frömmigkeit, unser Praeceptor“ gewesen war.24 Aber an wenigstens einer Stelle im Zwölfprophetenbuch haben seine Schüler doch eine innovative Interpretation Luthers übernommen. Im Gegensatz zur patristischen und mittelalterlichen Tradition, die dem Hieronymus folgend versuchte, Jonas Ablehnung von Gottes Ruf zu entschuldigen oder erklären, sah Luther in Jonas Trotz gegenüber dem göttlichen Befehl ein markantes Beispiel von dem Gerechtfertigten, der Sünder war und bleibt – eine Verkörperung des Begriffs simul iustus et peccator. Darüber hinaus beschrieb Luther in einzigartiger Weise die Hölle der Gottverlassenheit, die Jona im Bauch des Fisches erlitt, und zugleich auch in paradoxer Weise den Trost, den die Anwesenheit Gottes auch im Fisch verlieh.25 Etwas davon haben Luthers und Melanchthons Erben begriffen: Selnecker bemerkte, „Der arme Prophet fu[e]let nichts / denn den tod / verdamnis / vnd Gottes zorn / vnnd muntert sich doch auff mit sein gedancken vnd rechtem gebet zu gott.“26 Ähnliche Äußerungen findet man auch bei Bugenhagen und Wigand.27 Wir dürfen Luther im inneren Kern des Wittenberger Kreises nicht isolieren. Die Wittenberger Führerschaft bestand nicht nur aus der einen Zentralfigur. Melanchthon, Jonas, Bugenhagen, Cruciger und andere haben ebenfalls die Studenten und Anhänger geformt.

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Influence of Luther's Galatians Commentary of 1535 on Later Sixteenth-Century Lutheran Commentaries on Galatians. Archiv für Reformationsgeschichte 84 (1993), 156–184 Rhegius, Abdias, B7a. Die späteren Studenten haben Listen von Luthers Mitarbeiter, in Wittenberg und jenseits, neben ihn erwähnt und gelobt, z.B., Wigand, In XII. Prophetas, *6b–*7a; Selnecker, Jonas Propheten, M3b–M4a; Pomarius, Prophet Jonas, 1a–b. Steiger, Jonas Hölle (wie Anm. 6), 62–69. Selnecker, Propheten Jonas, D4b. Bugenhagen, Ionas Propheta, D2a–E6a; Wigand, In XII. Propheten, 271–274. Auch in der nächsten Generation verstand Georg Edelmann die Situation von Jona so: „Solche grosse anfechtung haben viel grosser Heiligen auch versuchet vnnd erfaren / Als Adam vnnd Heua im Paradis / David / Ezechias / S. Petrus / S. Paulus / Lutherus / Mathesius“ und brauchten das tröstendes Wort des Evangelium in solchen Anfechtungen,“ Edelmann, Auslegung Ionae, 102a.

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Selnecker und seine Zeitgenossen benutzten für die Auslegung des Textes auch andere Werke oder Erzählungen von Luther28 und Melanchthon.29 Weil Melanchthon keine Vorlesungen über die Kleinen Propheten hinterlassen hat, ist hier kein Vergleich mit ihm möglich. Bugenhagen fand seinen eigenen Weg in das Buch Jona mit einem „argumentum“ das nur wenig von Luthers Einführung zur Geschichte und ihrer Bedeutung entleiht. Einige Elemente von Luthers JonaDeutung rufen in Bugenhagen doch ein Echo hervor, und seine theologische Interpretation ist ganz klar im Einklang mit derjenigen Luthers, aber von einer sklavischen Wiedergabe Luthers in Bugenhagens Kommentar kann man nicht sprechen. Für Bugenhagen kam es im Kontext des Beginns des adiaphoristischen Streits darauf an, Melanchthon zu rechtfertigen und zu beweisen, dass er wie sein Kollege und Praeceptor und ihre Kollegen in Wittenberg die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders genau wie Luther aufrechterhielten und weiter vertraten.30 In späteren Kommentaren findet man keine deutlichen Spuren von Bugenhagens Jona-Auslegung. Trotz des unzweifelhaften Einflusses der Kollegen auf ihre Studenten stand Luther im Mittelpunkt von deren Erinnerungen. Selnecker druckte in seiner Reihe von Auslegungen der Kleinen Propheten am Anfang von jedem Kommentar Luthers Vorrede dazu ab.31 Er wies darauf hin, dass Luther eine andere Meinung als er über die Datierung von Obadja hatte, aber Luther habe zugegeben, dass jeder eine eigene Meinung dazu haben dürfte.32 Er erklärte, dass Luther die Namen der Städte in Micha 1 appellativ wiedergegeben habe, und er folgte diesem Beispiel.33 Selnecker kannte schon die erweiterte Darstellung von Luthers Bekenntnis vor dem Kaiser in Worms: er habe gesagt, „Hie stehe ich / hie bin ich / ich kann nicht weiter / Gott helffe mir /Amen.“ Selnecker wiederholte auch die Geschichte von der Seelsorge, die Luther in einem „schweren geistlichen paroxysmo“ von Bugenhagen empfangen hatte.34 Johann Pomarius erkannte sogar, dass Luther „erstmals die lehr von der Bu28 Z.B., Selnecker, Prophet Amos, Z3a; Selnecker, Propheten Jonas, B2a, D3a–b, G2b; Pomarius, Prophet Jonas, t2b; Edelmann, Auslegung Ionae, 37a. 29 Z.B. Edelmann, Auslegung Ionae, 113b–114b. 30 Bugenhagen, Ionas, L2a–N6a, P2b–P3b. 31 Vgl. die Bände in Anm. 15 oben aufgelistet. 32 Selnecker, Der Prophet Amos, g4b. 33 Selnecker, Die Propheten Oseas, h4a. 34 Selnecker, Jonas Propheten, p1a, p2a–b.

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ße und Vergebung der Sünden vorgenommen“ hatte, als er in Streit mit Johann Tetzel geraten ist.35 Stephan Reich erinnerte seine Leser an Luthers Erzählung vom Hirten, der aus Freude weint, weil Gott ihn trotz der Sünde nach dessen Ebenbild geschaffen und zu ewiger Seligkeit gebracht hat.36 Auch wenn er nie in Wittenberg studiert hatte und Luther nicht kannte, beklagte sich Edelmann darüber, dass die Pastoren seiner Generation, die nur von den Schülern von „Luther, Melanchthon, Bugenhagen, Jonas und anderen“ unterrichtet worden war, es mit ansehen mussten, „fu[e]r augen mit grossen Schmertzen vnnd Hertzenleid / das vnsere Pfarrkinder je lenger je erger werden / vnnd in Su[e]nden zunemen / vnd sind also verstockt / das kein drewen / keine Warnung mehr will helffen …“37. Edelmann bedauerte, dass die Kraft der frühen Jahre der Reformation schon verblassen wollte. Das Wittenberger Erlebnis der 1520er und 1530er Jahre blieb fest in der Erinnerung der damaligen Studenten; doch auch bei denjenigen war es lebendig, die nicht direkt in Wittenberg anwesend waren, aber von anderen Orten aus an der Entwicklung der Wittenberg Theologie teilnahmen. Die jüngere Generation hatte ihre Methoden der Auslegung in Wittenberg gelernt. Wie in der exegetischen Praxis Melanchthons aber auch Luthers, wollten sie am Anfang der Auslegung eines Buches das Argumentum oder den Scopus feststellen, auch wenn sie eine andere Terminologie dafür benutzten. Weiter fasste Chytraeus seine Methode, die er von Melanchthon gelernt hatte, zusammen: 1) auf den Gebrauch von Gesetz und Evangelium in einem Kapitel bzw. Buch hinzuweisen und die Loci communes (als Teile des ganzen „doctrinae Christianae … corpus“) darin zu bestimmen, 2) die „dispositio“ – die Gliederung oder Ordnung der rhetorischen Elemente zu erkennen, 3) den natürlichen und einfachen Sinn des Textes und die Bedeutung der Wörter, Ausdrücke und Figuren zu definieren.38 Obwohl diese Ausleger außer Wigand und Selnecker selten Hebräische Wörter im Text haben drucken lassen, hielten sie am Ideal 35 Chytraeus, Explicatio Micheae, 1a–b. 36 Reich, Buspredigt Zephaniae, B4b–B5b. 37 Edelmann, Auslegung Ionae, 149a. Selnecker hat sich auch schon 1568 darüber beklagt, dass die Generation von Luther, Melanchthon, Cruciger, Jonas, Bugenhagen, Dietrich, Linck, und andere schon vorbei war, Selnecker, Propheten Oseas, s4b. 38 Chytraeus, Explicatio Micheae, B4a.

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der Lektüre des Texts in der Originalsprache fest.39 Rhegius betonte nachdrücklich, wie wichtig es sei, den Text von Obadja auf Hebräisch statt Latein zu lesen, als er Obadja Vers 18 erklärte.40 Diese Verfasser notierten oft auch einen „Hebraismus“ im Text und erklärten den lateinischen oder deutschen Text vor dem Hintergrund der hebräischen Ausdrucksweise.41 Sie übten nur gelegentlich Textkritik, aber in einem Exkurs über den Montanismus präsentierte z.B. Bugenhagen das Problem des Comma Johanneum. Er beschrieb Erasmus’ Suche nach einem Manuskript, das diese Passage enthielt, und notierte ihre schwache Basis in der Handschriftentradition.42 Manchmal stellte der Text dem Leser Fragen oder Probleme, wie die Unstimmigkeit zwischen dem Wortlaut der Verheißung, dass der Messias in Bethlehem geboren würde (Mi 5,1) in Micha und dem Matthäusevangelium (Mt 2,5–6). Selnecker erklärte, dass die eine Stelle auf die ewige Geburt Christi, die andere auf seine geschichtliche Geburt hinwies.43 Chytraeus verglich den hebräischen Text mit der Septuagina und erklärte dann, dass das kleine Dorf Bethlehem durch die Geburt Christi sehr edel und berühmt geworden sei.44 Die Exegeten der Wittenberger Tradition haben auch Exkurse gemacht, um Begriffe im Text zu erklären. Beispiele wären Stephan Reichs Erwägungen über das Schwören von Eiden45 oder die Gedanken von Johann Pomarius über den Gebrauch von Losen, um wichtige Entscheidungen zu treffen.46 Die Wittenberger Ausleger versuchten den Text aus den historischen Umständen seines Ursprungs zu erklären. Sie behandelten die

39 Vgl., z.B., Selnecker, Propheten Oseas, C1a–C2b; Selnecker, Prophet Amos, G2a– H1b, L4a–b; Selnecker transliterierte die Buchstaben. Wigand, In XII. Prophetas, 9, 29, 292, 511, 565, gab die Wörter in hebräischen Buchstaben an; vgl. auch Chytraeus, Explicatio Micheae, Q3a–Q6a. 40 Rhegius, Abdias, D3b, vgl. eine ähnliche Ermahnung, Reich, Herliche Buspredigt, H1a. 41 Z. B., Wigand, In XII. Prophetas, 268 (Jona 1,7), 281 (Jona 3, 4) 478 (Hag 2,1f.), 491 (Sach 1, 2). 42 Bugenhagen, Ionas, d8a–b. 43 Selnecker, Propheten Oseas, q4a. 44 Chytraeus, Expositio Micheae, I7b–K1a. 45 Reich, Herliche Buspredigt, K6b–Q3a. 46 Pomarius, Prophet Jonas, O1b–P2b.

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chronologische Situierung des prophetischen Wortes.47 Selnecker verfasste eine detaillierte Beschreibung der Abgötterei und Tyrannei von Jehu, um den Kontext von Hoseas Amtszeit herauszustellen.48 Er erzählte als grausames Beispiel für den Zorn eines Tyrannen die Methode Tamerlans, eine belagerte Stadt zu überwältigen und zu zerstören, und erklärte auf diese Weise Gottes Zorn über Ninive in Nahum 1.49 Pomarius stellte seinen Hörern den Hintergrund der Geschichte von Jona durch eine lange Darstellung des assyrischen Königs Sardanapalus vor Augen, unter Verwendung des Lateinischen Textes und der deutschen Übersetzung seines Monuments.50 Sardanapalus wurde nämlich in der mittelalterlichen Tradition oft als der König von Niniveh zur Zeit Jonas identifiziert. Die Wittenberger Ausleger achteten auch auf die grammatische, syntaktische und literarische51 Praxis der Verfasser. Manchmal schmückte Selnecker seine Bemerkungen zum Text aus, indem er Gedichte oder Liederverse aus eigener Feder oder auch von andern zitierte.52 Hin und wieder finden sich als Hilfe für die Leser detaillier47 Z.B., Selnecker, Prophet Amos, C2a–b; Pomarius, Prophet Jonas, C2b–D3b; Wigand, In XII. Prophetas, 249. 48 Selnecker, Die Propheten Oseas, D3a–b. 49 Selnecker, Die Propheten Jonas, Z4a–a2b. 50 Pomarius, Prophet Jonas, C1a–C4a. 51 Wigand, In XII. Prophetas, diskutierte, z.B. die „prouerbiales locutiones“ des Propheten Obadjas, 254, die Metonymia in Zephanja 3, 11, 459, die „metaphora seu similtudo“ in Sacharja 1, 3, 492, und die Erklärung von „sol iusticiae“ in Maleachi 3, 20 as „Periphrasis Christi“, 628; vgl. die Exegese dieser Stelle bei Chytraeus, Explicatio Malachiae, 101–106. 52 Selnecker, Prophet Amos, V3a. Selnecker beendete seinen Kommentar über Joel mit einem Schauspiel in Rheim von 27 quarto Blätter, dem „Kurtzes Gesprech aus dem leienspiegel von Jüngsten Gericht, gezogen aus dem dritten Capitel des Prophet Josels / geendert vnd gebessert durch N. Sel“. Die Hauptrolle spielt der „Engel mit dem Heerhorn / oder mit der Posaunen“, der ins Gespräch kommt mit den „verdampten Seelen“, einem „andere[n] vngleubige[n] Seel“, den „Gleubigen“, den „Vngleubigen“, dem Teufel, dem Gesetz, den Jüden, den Heyden, Türcken, vnd „Vnchristen“, den Päpsten, „andere[n] Bepstliche[n] Personen“, Ketzern, „Lehrer[n] / so nachlessig gewesen“, „Tyrannen“, „Amptleut / Richter / Edel / Scho[e]sser / Verwalter / etc.“, und den „su[e]ndigen Christen“. Dann spricht der Richter, Jesus Christus, mit Antwort von den Gläubigen, in einem Dialog, der mit einem letzten Wort von Christus an die Verdammten endet, Selnecker, Propheten Oseas, Y4a–f2a. Selnecker verwendete auch Kinderreime, z.B. Prophet Amos, i2a.

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te Erklärungen von Wörtern oder eines historischen Hintergrundes.53 Auch die Sterne und die Jahreszeiten kamen in den Blick, als Selnecker die Botschaft des Propheten Amos (Am 5,1–5) erläuterte.54 Die Wittenberger Kommentatoren haben den jeweils vorliegenden Text mit Hilfe der ganzen Bibel interpretiert. Selnecker baute Jonas Dankpsalm (2,3–10) mit den Worten von 27 Psalmen des Psalters und dem Danklied des Königs Hiskia (Jes 38,9–20) aus, und er reicherte seine Erklärung von der Buße der Niniviter (Jona 3,8) mit Zitaten aus acht anderen Psalmen an.55 Die Schüler von Luther und Melanchthon sind in ihrer Interpretation der Kleinen Propheten normalerweise der „historischprophetischen“ Methode gefolgt, aber sie konnten auch, wie ihre Lehrer, Allegorien schaffen. Selnecker allegorisierte selten, aber von Micha 4,8 aus sprang er anhand des Dorfnamens Eder (das heißt Herde) – dies Dorf, so erklärte er, lag außerdem in der Nähe von Bethlehem – zu der Erscheinung des Engels Gabriels vor den Hirten auf dem Felde mit der fröhlichen Botschaft, dass Christus der Heiland geboren sei. Die Herde ist natürlich das Volk Gottes, die Kirche Christi. Er zog weiter aus dem Text, dass Ophel eine „feste Burg“ heißt, und die goldenen Rose in Mi 4,8 (Lutherbibel) das Königreich Christi bedeuten, welches durch das Kreuz stark wird.56 Pomarius hat zweimal die „Allegoria und Geistlich deutung“ des Kürbis zusammengebastelt. Der Kürbis bzw. das gebrechliche und vorübergehende Wesen des Kürbis weise möglicherweise auf die „Politia Mosaica“ hin – das gesellschaftliche System des Volks Israels –, dann aber auch auf das Papsttum (hier spielte Luther die Rolle des Wurms), und dazu auf jeden gläubigen Christen, der auch erfährt dass „gute Freunde, Eltern, Verwandten, Ehre, Amt, Hoheit, Reichtum, Stärke, Leib und Leben, und alles Glück … verdorren und sterben.“ Aber die Allegorie kann auch auf Christus als den leidenden Knecht von Jesaja 53 gedeutet werden.57 Wie Luther und Melanchthon bauten andere im Wittenberger Kreis gelegentlich ihre Auslegungen auf ihre Lektüre der Interpretationen der Kirchenväter auf, manchmal zustimmend, manchmal ablehnend. 53 Vgl. z.B. in Selnecker, Propheten Oseas, H4a–b, die Erklärung von Theorien über den Wert eines Silberling in Hosea 3, 2. 54 Selnecker, Prophet Amos, S4bT3a. 55 Selnecker, Propheten Jonas, K3a–K4b 56 Selnecker, Propheten Oseas, q2b. 57 Pomarius, Prophet Jonas, Ee1a–Ff1b.

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Weil Hieronymus so stark die mittelalterliche Deutung des biblischen Textes beherrscht hatte,58 kommt er als Gesprächspartner dieser Professoren und Prediger vor, ebenso des öfteren Augustin59 und mehrere andere auch.60 Die Wittenberger Ausleger zitierten daneben auch, wiederum in positiver wie negativer Aufnahme, die Interpretationen der Rabbinen und sogar des Talmuds.61 Auch Nikolaus von Lyra gehörte zu ihren Gesprächspartnern.62 Als ehemalige Studenten der Wittenberger Universität kannten sie auch die alten, klassischen Schriftsteller und zitierten Plato, Pindar, und Philo,63 oder sie erinnerten an die Geschichten von Oedipus oder von Thyestes und Atreus.64 Ebenso entnahmen sie den Historikern der alten Welt Einzelheiten über die Geschichte und über die Menschheit im allgemeinen.65 Polemik gegen theologische Gegner gehört zur Aufgabe des biblischen Auslegers. Außer bei Bugenhagen aber, der seine Vorlesung über Jonas auch deswegen veröffentlicht hat, weil er beweisen wollte, dass die Kritik der Gnesio-Lutheraner an Wittenberg nicht zu halten war, findet man in diesen Kommentaren wenig Polemik gegen andere im Wittenberger Kreis,66 und das trotz der Tatsache, dass sie 58 Bugenhagen, Ionas, B6a, 59 Bugenhagen, Ionas, N8a–P2b; Pomarius, Prophet Jonas, t1b–t2a; Edelmann, Auslegung Ionae, 125b–126b. 60 Bugenhagen, Ionas: Origines B6b; Ambrosius, N8a–P2b; Eusebius, Q5a–d8a; Epiphanius, d8a; Tertullian und Irenaeus, h4b. Pomarius, Prophet Jonas, Epiphanius, B3a; Gregor der Große, t1b; Isidor, t1b. Selnecker, Propheten Oseas, Gregor, B2a; Selnecker, Propheten Jonas, Hieronymus und Beda, C2b. 61 Rhegius, Abdias: Rabi Isaac Nathan, B7a, David Kimchi, C5a. Pomarius, Kimchi, B3a–B4a, z2b, Aben Ezra, R4a, Aa1a, 62 Pomarius, Prophet Jonas, B3a. 63 Edelmann, Auslegung Ionae, 48a, 112b, 64 Pomarius, Prophet Jonas, r4a–b. 65 Selnecker, Prophet Amos, E1b, zitierte Herodotus und Pliny über Erdbeben ihrer Zeiten. 66 Auch Amsdorf hat in seiner Vorrede zu Luthers Joel Kommentar Kritik an die Adiaphoristen, Caspar von Schwenkfelds Ablehnung des verbum externum, Andreas Osianders Rechtfertigungslehre – „lauter mutwille vnd eigengeticht“ –, und Georg Majors Wiederholung von der Meinung von den römischen Feinde, die Amsdorf und Major als Kollegen in Magdeburg 1525 mit Hinrichtung bedroht hatten, wegen ihrer Ablehnung von der Notwendigkeit der guten Werke zur Seligkeit: Amsdorf, Der Prophet Joel, 4b–2a. Möglicherweise hat Selnecker

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mitten in den Streitigkeiten über das Erbe von Luther und Melanchthon lebten. Selnecker hat ab und zu seinen Ärger über die „Sacramentierer“ ausgedrückt,67 und sonst haben diese Ausleger die Anhänger des Papstes scharf verurteilt, zum Beispiel wegen der falschen Lehre des Trienter Konzils oder auch gewisser Schulen (Löwen) oder Theologen.68 Wigand nahm die historische Situation von Micha 1 wahr, sah darin aber auch eine Weissagung über das Papsttum seiner Zeit.69 Neben scharfer Kritik an verschiedenen Aspekten der Römischen Theologie70 finden sich bei den Lutheranern oft Hinweise auf falsche Opfer, auf die Opfermesse und besonders auf den Begriff des „ex opere operato“71.

Die zentrale Botschaft der Kleinen Propheten Die Wittenberger Interpreten waren über die zentrale Botschaft eines jeden Verfassers im Zwölfprophetenbuch einer Meinung: Sie alle verkündigten Buße und Vergebung der Sünden, Warnung und Trost, Gesetz und Evangelium.72 Amsdorf begann mit der Erklärung, warum er seine Predigt verfasst hatte: „die grosse vnd vnaussprechliche vndanckbarkeit der Euangelischen / Lutherischen / Vnd das grawsame vnd ablesliche schenden vnd lestern der Papisten / vnd das Sewische vnd schendliche Leben beider Teil haben mich bewegt“, so Amsdorf, Luthers Bemerkungen zu Hosea 5 für die Leserschaft der 1560er Jahre zu aktualisieren. Das Leipziger Interim hatte er immer noch im Blick, aber er kritisierte auch implizit die Verfolgung seiner Genossen im Kreis um Matthias Flacius, durch die Johann Friedrich

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eine implizite Bemerkung gegen Flacius gemacht und übte an die CryptoPhilippisten und Calvinisten manchmal Kritik, Propheten Oseas, g1b. Selnecker, Propheten Oseas, O1b–3a; Selnecker, Die Propheten, 187a. Z.B. Rhegius, Abdias, G2b–G7b; Bugenhagen, Ionas, H61–b, I3a, e7b–f3b, Aa6a. Selnecker, Propheten Oseas, K2a–b, erwähnte Jacob Latomus, Clitopheus, Johann Eck, Roffensis. Wigand, In XII. Prophetas, 303–304. Bugenhagen, Ionas, Q3a–Q4a, Aa6a; Pomarius, Prophet Jonas, C2a–b. Chytraeus, Expositio Micheae, K7a–L1a; Chytraeus, Explicatio Maleachi, 91–92; Wigand, In XII. Prophetas, 303–304; Selnecker, Propheten Oseas, r4b. Z.B. Brenz, In Amos Prophetam, A2a; Bugenhagen, H1b–L2a; Chytraeus, Explicatio Micheae, B2b–B4a, E2b–F2b, H8a, L3a–b; Selnecker, Prophet Amos, O2b–O3b; Selnecker, Die Propheten, 184b–185b; Pomarius, Prophet Jonas, 2a– 4b; Strigel, XII. minores prophetae, 1, A7b.

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der Mittlere die führenden Kräfte seiner Kirche ausgewiesen und ins Exil vertrieben hatte.73 – Strigel erkannte im Joelbuch die Botschaft, die Jesus seinen Nachfolgern in Lukas 24 anvertraut hat, nämlich Buße und die Vergebung der Sünden.74 Diese Ausleger haben nicht nur die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium praktiziert; ab und zu erwähnen sie auch explizit diese Unterscheidung als die hermeneutische Voraussetzung ihrer Auslegungen.75 Die Gemeinde des sechzehnten Jahrhunderts brauchte auch diese Botschaft, weil sie mitten im großen eschatologischen Schlachtfeld lebte. Reich stellte die Frage, ob es sich lohne, in seiner Zeit die Propheten zu lesen: Die Zuhörer könnten nichts Besseres tun, meinte er. „Darzu sol vns erstlich reitzen vnd locken das herliche exempel vnsers lieben Herrn Jesu Christ“, der die Kleinen Propheten mehrmals zitiert hat. Zweitens, Gott hat uns befohlen, die Heilige Schrift zu lesen. Dazu bewegen uns auch die grosse Not im Kampf gegen Gottes Feinde; der große Nutzen solcher Lektüre; der Trost, der „vnser blo[e]d vnd erschrocken Hertz“ aufrichtet; und der Schaden, den wir erleiden, wenn wir die Propheten nicht fleißig lesen.76 Mit der Verkündigung des Gesetzes betonten diese Kommentare und Predigten vor allem die Ablehnung des ersten Gebotes bzw. die erste Tafel des Gesetzes; Abgötterei verdarb das menschliche Leben im alten Israel und im Deutschland ihrer Zeit, und die Parallele konnte der Ausleger des Wittenberger Kreises leicht ziehen.77 Der Verlust von Gottes Wort bzw. dessen Verachtung nämlich bewirkt

73 Amsdorf, Predigt aus dem Comment, A2a. Vgl. Gehrt, Ernestinische Konfessionspolitik (wie Anm. 5), 195–215, und Irene Dingel, Die Kultivierung des Exulantentums im Luthertum am Beispiel des Nikolaus von Amsdorf, in: Nikolaus von Amsdorf (1483–1565), zwischen Reformation und Politik, Irene Dingel (Hg.), Leipzig 2008, 153–175. 74 Strigel, XII. Minores Prophetaem, 53, vgl., 1. 75 Z.B., Chytraeus, Explicatio Micheae, H3a, H8a–I2b, Wigand, In XII. Prophetas, 149. 76 Reich, Buspredigt, D3b–F2b. 77 Chytraeus, Explicatio Micheae, C8ab, N2b; Selnecker, Propheten Oseas, L4b– M1a, S3b–T1b, N3b; Selnecker, Prophet Amos, H1b–H2b; Wigand, In XII. Prophetas, 29; Reich, Herliche Buspredigt, G1a–G6a, T7a–T8b; Amsdorf, Predigt aus dem Comment, A4b–B4a.

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ernstlichen Schaden.78 Die Menschen erfüllen hingegen das erste Gebot dadurch, dass sie Gott fürchten, lieben, und vertrauen und die Verkündigung des Wortes Gottes befördern. Weil der Dekalog als eine Einheit zusammengehört, gefallen Gott die Werke der zweiten Tafel nicht ohne den Glauben.79 Aus dem Unglauben fließen viele anderen Sünden, vor allem, vom Zwölfprophetenbuch aus betrachtet, die Ablehnung des Rufes zur Buße und des Glaubens an die Vergebung der Sünden; außerdem Tyrannei, Geiz, Ausbeutung der Armen, Verkauf von gerichtlichen Entscheidungen usw.80 Aus Maleachi 2 sammelte Wigand eine andere Liste: aus der ersten Sünde, der Unbußfertigkeit – „impoenitentia“ – kämen falsche Lehre und Vernachlässigung des Predigtamts, Verführung des Volks Gottes, heimliche Übereinkünfte mit der Obrigkeit um Positionen zu bekleiden, Verachtung der Armen, Heirat mit den Heiden und Verachtung der jüdischen Frauen (hier fand Wigand allerdings keine direkte Parallele in Deutschland), falsche Opfer, und die Rechtfertigung der Ungläubigen sowie die Verteidigung ihrer Sünden.81 Dass diese Botschaft von Gottes Zorn und Strafe in die eigene Zeit passte, war allen Wittenberger Auslegern der Kleinen Propheten klar. So sagt Selnecker, dass er seine Predigten über Hosea im Kontext von „Pestilenz, Krieg, exilia, Teuerung, neid und Uneinigkeit, Schand vnnd … Verterbung vnd Verenderung“ verfasste.82 Cyriakus Spangenbergs Sächsische Chronica (1585) bestätigt, dass die Jahre 1567 und 1568 voller Berichte von Epidemie und Krieg waren.83 Im Jahr 78 Wigand, In XII. Prophetas, 232. 79 Wigand, In XII. Prophetas, 541: „Nam Decalogus est una copulatiua. Opera secundae tabulae non placent absque prima.“ 80 Wigand, In XII. Prophetas, 451–458; vgl. Selnecker, Prophet Amos, H4b–L1a; Edelmann, Auslegung Ionae, 221a, wo dazu Ungehorsam, Zorn, Neid, Hass, Ehebrechen, Hurerei, unehrliches kommerzielles Handeln, Wucher, Lügen, Trügen, Stehlen, Rauben, Vollsaufen, und Afterreden erwähnt werden. 81 Wigand, In XII. Prophetas, 612–616. 82 Selnecker, Propheten Oseas, G2b–G3a. 83 Spangenberg, Sa[e]chssische Chronica: Darinnen Ordentlich begriffen der Alten Teutschen / Sachssen / Schwaben / Francken / Thu[e]ringer / Meißner / Wenden / Sclauen / Cunbern vnd Cherußken / Ko[e]nigen vnd Fu[e]rsten / dc. Sampt allerhandt Politischen Ha[e]ndeln vnd Geshcichten / so sich vnter beru[e]rten Vo[e]lckern / beyd in Fried vnd Kriegsla[e]uften / zugetragen …: Frankfurt/M. 1585, 707, berichtet von der Belagerung Gotha, Ende 1566, und die Gefangennahme von Johann Friedrich dem Mittleren durch die kaiserlichen Truppen, Ap-

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zuvor hatte Pestilenz auch Selnecker zu seinen Predigten über Amos und Obadja geführt.84 Der große Komet von 1577/1578, den man mitten in einer Zeit von „Krieg, Teuerung, Pestilenz und allen Jammer an Leib und Seele“ erfahren hatte, bewegte Georg Edelman dazu, über Jona zu predigen.85 Johann Pomarius predigte fast gleichzeitig über dasselbe Buch, aber die Pestilenz hatte ihn dazu gebracht, neben „Zeichen vnd Wunder / mit newen Sternen / fewrigen Zeichen / Loderden Cometen / vnd gemeinen vnd geheimen straffen / mit Pestilentz / kriegen vnd Kriegsgeschrey / schrecklichen Gesichten / Erdbiden [sic!] / grewlichen vmgewittern /vnd der gleichen“, und dazu „grosse verenderung in allen Reichen / Stenden / vnd Emptern“ zu beklagen.86 Nicht nur das gemeine Volk wurde zur Buße gefordert. Harte Kritik an der Obrigkeit, den Mächtigen und den Reichen lässt sich leicht im Text der Kleinen Propheten finden, und die Exegeten des Witten-

ril 1567 (vgl. Gehrt, Ernestinische Konfessionspolitik (wie Anm. 15), 283–286). In November marschierten Truppen durch die Gegend von Mansfeld und haben Getreide und Fleisch gestohlen. In Mansfeld starben zwischen den 25. August und den 31. Oktober an der Pestilentz 800 Menschen in Mansfeld, und mehr danach. Spangenberg schildert einen „schrecklicher grauwsamer Wind“ am 9. Februar 1567, einen unzeitigen Frost am 7. Mai, der die Kirschernte, die Nüsse, und die Eicheln erfror. Zwischen Ostern und den 21. Juli regnete es nicht im Thüringer Wald, obwohl am 13. Juli ein „schweres Vngewitter / vn hefftigen Donderschlagen“ verursachte grosse Schaden, mit weiteren Gewittern am 4. August und 22. Oktober. Selneckers Einschätzung seiner Situation entsprach der Reportage von Spangenberg. 84 Selnecker, Prophet Amos, Q2a; vgl. Spangenberg, Sa[e]chssische Chronica, 706, wo er mitteilt, dass in Juli 1566 im Tal Mansfeld die Pfarrer eine bis zehn Leiche täglich beerdigt haben. 85 Edelmann, Auslegung Ionae, B3a, 250b. Über die Zeichen im Himmel in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und ihre Behandlungen in den Predigten der Zeit, vgl. Volker Leppin, Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618, QFRG 69, Gütersloh 1999, bes. 87–92, 169–172; dazu auch Michael Weichenhan, „Ergo perit coelum …“. Die Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der aristotelischen Kosmologie. Stuttgart 2004, bes. 447–503; und Charlotte Methuen, Kepler’s Tübingen. Stimulus to a Theological Mathematics. Aldershot 1998, bes. 171–185. 86 Chytraeus, Explicatio Micheae, (2a–b.

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berger Kreises scheuten davor nicht zurück.87 Sie straften den Widerstand der Obrigkeiten gegen ihre Prediger und deren Ruf zur Buße mit scharfem Urteil88 und tadelten die Tyrannei und die Unterdrückung der Armen durch die Mächtigen mit kompromisslosen Worten.89 Man darf auch nicht mit der Buße warten, predigte Pomarius; dafür führt er zehn Gründe an: 1) die Unbeständigkeit des kurzen und vergänglichen Lebens, 2) die Gefahr, unter Gottes Zorn, Gericht und Strafe zu kommen, 3) die Gefahr der endgültigen Verstockung und Verwerfung durch Gott, 4) die Angst des bösen Gewissens, 5) das Ärgernis, welches man anderen gibt, 6) der Verlust der himmlischen, geistlichen Gaben, die man als Mitglied der Kirche erfährt, 7) die gräulichen und schrecklichen Beispiele der Unbußfertigen, 8) die Erfahrungen der „Procrastinatores“, welche ignorieren, dass Buße und Bekehrung das Werk und die Gabe Gottes sind, 9) die Möglichkeit, dass man später keine Gelegenheit haben wird, Buße zu tun, und schließlich 10) die Erwartung der Wiederkunft Christi.90 Die Verzweiflung der großen Sünder, zum Beispiel Kain, Saul oder Judas, aber auch Francisco Spiera, der Italiener der 1548 in Verzweiflung starb, weil er den evangelischen Glauben widerrufen hatte, diente als Warnung dagegen, in der Sünde auszuharren.91 Die Verheißung des Heils durch das Werk Jesu Christi kommt, wenn es nach den Wittenberger Auslegern geht, in den Zwölf Kleinen Propheten oft vor.92 Die Grenzen zwischen Allegorie, Typologie und figuraler Interpretation sind nicht immer genau gezogen, aber im allgemein sahen diese Prediger und Ausleger in dem alttestamentlichen Text einen historischen Typus von Christus oder eine literarische „Figura“, die auf ihn hinwies, da sie über die historischen Umstände hinaus mit vollerer Bedeutung erfüllt werden müsste. Wi87 Selnecker, Propheten Oseas, i1a–k3b, l2b–o3a, t2b; Selnecker, Prophet Amos, Y3a–Z4b; Selnecker, Die Propheten, 176b–177a; Reich, Herliche Buspredigt, O6b–R5b. 88 Selnecker, Prophet Amos, V2a–b, wo er von einem Adligen berichtete, der den hiesigen Pfarrer mitten im Gottesdienst vor dem Altar geprügelt und ihn „eine grosse gefehrliche wunden gehawen“ habe. Wigand, In XII. Prophetas, 318–323. 89 Z.B., Selnecker, Prophet Amos, H4b–J1b; Pomarius, Prophet Jonas, P3a–Q1b. 90 Pomarius, Prophet Jonas, p3b–u1a. 91 Edelmann, Auslegung Ionae, 54b; Selnecker, Propheten Jonas, H1a; Pomarius, Prophet Jonas, T3b–T4a, s3a. 92 Selnecker, Propheten Oseas, Y1a–Y3a.

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gand sah in Gottes Verheißung bei Habakuk, Israel wiederherzustellen, gleichzeitig eine Verheißung, den Messias zu schicken, der die Welt von der Sünde erlösen sollte.93 Maleachi hat den Wegbereiter Johannes den Täufer und die Erlösung, die Christus als Lamm Gottes wirkt, vorhergesehen.94 In dem Wort Hosea 6,2: „er macht uns lebendig nach zwei Tagen, er wird uns am dritten Tage aufrichten“, fand Wigand die Beschreibung davon, wie Gott den Sünder durch Christi Leiden, Tod und Auferstehung heilt.95 Selnecker beschrieb das Brüllen des Löwen in Joel 4,16 als das „Wunderwerk“ der Kraft des Evangeliums von Jesus, dem Messias: „Iehoua wird das Euangelio mit heller klarer stimme lassen schallen / vnd wird damit alle Abgötterey vnd gleisnerey abschaffen / das alle Abgöttische Heuchler werden erschrecken / wie für eines Lewen brüllen.“96 Besonders der Hinweis Jesu auf die Geschichte Jonas (Mt 12,39–40) provozierte im Zusammenhang der Auslegung des Jonabuchs Betrachtungen zur Auferstehung.97 Auch das Königtum Israels wurde immer wieder als Bild für das zukünftige Reich Christi beschrieben.98 Die Wittenberger Lehre beinhaltete zwar Warnung vor Gottes Zorn, aber sie vermittelte vor allem Trost gegen alle Verzweiflung. Die Buße der Sünder ruft sogar die Reue Gottes hervor, und dies tröstet die Gläubigen sehr.99 Vor allem aber durch das Evangelium, welches der Heilige Geist den Gläubigen schenkt, erlangen sie nach Pomarius Trost, wahren Glauben, Hoffnung, Gebet und den neuen Gehorsam.100 Amsdorf setzte voraus, dass gottgefällige, wahre Buße ein neues Leben erschafft. Dieses Leben bestehe darin, dass einer seine Sünden erkennt und bekennt, in wahrer Reue gesteht, dass er 93 Wigand, In XII. Prophetas, 386. So hatte auch Rhegius, Obadja 15–17 ausgelegt, Abdias Propheta, A5a–A6a. Vgl. Selnecker, Propheten Jonas, o4b–p1a. 94 Chytraeus, Explicatio Malachiae, 106–113; Wigand, In XII. Prophetas, 619–632; Strigel, XII. Minores Prophetae, 263–266. 95 Wigand, In XII. Prophetas, 56–57, vgl. schon in Kapitel 1 die Hinweise auf Christus als Gott und Mensch, 7–9. 96 Selnecker, Die Propheten Oseas, Y2b. 97 Selnecker, Propheten Jonas, C4b–D1a; Pomarius, Prophet Jonas, D2a, f3a–g1a; Strigel, XII. minores prophetae, 113–114. 98 Wigand, In XII. Prophetas, 327–333, 573–580; Selnecker, Der gantze Prophet Jeremias, Tt4b–Vv1a; Selnecker, Propheten Oseas, D4b–E1a; Reich, Herliche Buspredigt, b5a–b7b, g6b–i3b. 99 Selnecker, Prophet Amos, A4a, über Amos 7, 4–6, vgl. 100 Pomarius, Prophet Jonas, o1b–p3b.

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Gottes Strafe verdient hat, und durch den Heiligen Geist und den Glauben, als neue Kreatur, das Kreuz mit Geduld trägt und den Nächsten liebt und ihm hilft.101 Alle Wittenberger Theologien haben die Tröstung der Leidenden und Verfolgten unter dem Kreuz zu den wichtigsten Aufgaben des Predigers gezählt. Auch bei der Behandlung der Kleinen Propheten fanden sie viele Gelegenheiten darüber zu sprechen.102 Luthers Beispiel und Worte über das Kreuz des Christen prägten die Wahrnehmung seiner Nachfolger mit seiner Beschreibung des Leidens, das in dem Gefühl der Gottverlassenheit liegt, wie Jona das erlebt hatte.103 Jedem Stand sind „Anstöße und Verhindernisse“ begegnet; Selnecker fand Trost für die Obrigkeit in Haggais Worten an Serubbabel (Hag 2,2–9), für die Pfarrer in Gottes Beistand für Haggai, ebenso für die „Hausväter, Mütter, und das ganze Volk“, die auch das Kreuz tragen müssen.104 Luthers theologia crucis wurde vielleicht nicht oft in allen Aspekten von seinen Schülern wieder aufgenommen, aber seine Erklärung für das Leiden der Christen bzw. der Kirche spielte in der Verkündigung des Evangeliums unter seinen Nachfolgern in der zweiten Hälfe des 16. Jahrhunderts eine prominente Rolle. Selnecker bemerkte, dass die Lutheraner „unansehnlich, arm, gering, zaghaft“ dastanden, als die „Sacramentirer zu Heidelberg / Wittenberg / Nürnberg / Bremen“ und an vielen anderen Orten sie angriffen, aber Gottes Kraft wird in der Schwachheit der Gläubigen mächtig (2Kor 12,9). Nicht „unsere Kraft, Weisheit, oder Werk“ sondern sein Wort selbst setzt sich fort und bringt den Menschen die Wahrheit und Seligkeit.105 Die biblischen Beispiele, wie Gott seinen Gläubigen in Schwierigkeiten beisteht, z.B. in den Geschichten von Daniel in der Löwengrube und Jona im Bauch des Fisches, sollten die Christen in den Anfechtungen des Alltags ebenso ermutigen106 wie Gottes Erhaltung des Volks Israel in Ägypten.107 Dazu gehört auch die Erwartung, dass die wahre Kirche ein kleine Herde bleibt, die von den Mächtigen in der Kirche und in der Obrig101 Amsdorf, Predigt aus dem Comment, B4a–b. 102 Chytraeus, Explicatio Micheae, N4a–N4b; Wigand, In XII. Prophetas, 361; Reich, Herliche Buspredigt, )(7b–**6b, i4a–i7a. 103 Selnecker, Propheten Jonas,G2a–G3a. 104 Selnecker, Die Propheten, 178b. 105 Selnecker, Die Propheten, 187a. 106 Edelmann, Auslegung Ionae, 84a–b. 107 Reich, Herliche Buspredigt, 5a–b.

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keit bekämpft und verfolgt, aber nicht überwältigt wird. Viele sind berufen, aber wenige auserwählt, behauptete Amsdorf und betonte, dass nur das kleine Häuflein von treuen Schülern der Propheten – von Gott angenommen und erwählt – weiterhin Gottes Wort hören und glauben werde. Denn „allein Gottes wort vnd der Glaub/ vnd nicht der Name / Titel / Ampt / vnd Regiment / Gottes volck oder die Kirche macht / bawet / pflantzt / vnd erhelt.“108

Zusammenfassung Der Versuch, die Botschaft der Propheten und Apostel in das eigene Zeitalter zu bringen, ist eigentlich nicht ungewöhnlich. Alle Prediger und fast alle Exegeten in der Geschichte der Kirche haben das in irgendeiner Weise angestrebt. Luther hat versucht, den Predigthörern nicht nur den Inhalt der prophetischen Verkündigung zu vermitteln, sondern sogar die Stimmen und die Personen, die Persönlichkeiten der Patriarchen und Matriarchen, der Apostel und der Frauen in den Evangelien vor der Gemeinde und den Lesern zu vergegenwärtigen und zu aktualisieren. Die Stimmen der Kleinen Propheten sprachen die Zeitgenossen der ersten und zweiten Reformatoren-Generation im Wittenberger Kreis direkt an. Es war ein Zeitalter, in dem das Gericht Gottes über dem Gottesvolk hing: wegen ihrer Sünden, vor allem ihrer Ablehnung der Botschaft des Herrn, der doch durch Martin Luther von neuem verkündigt worden war. Die kleine Herde der Getreuen lebte in Bedrohung. In einer solchen Zeit konnte man leicht die Predigt der Kleinen Propheten laut werden lassen, eine Predigt von Gesetz und Evangelium, von Buße und der Vergebung der Sünden, von Gericht und Errettung.

108 Amsdorf, Predigt aus dem Comment, C4a–D2a.

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Den Anfang machte die Gemeinde Die Entstehung der selbstständigen lutherischen Gemeinden in Korbach und Sachsenberg Das Entstehen selbstständiger lutherischer Gemeinden in den damaligen Fürstentümern Waldeck und Pyrmont ist eng verbunden mit der Wirksamkeit von Friedrich Wilhelm Rudolf Rocholl (27. September 1822 in Rhoden [heute Ortsteil von Diemelstadt] – 26. November 1905 in Düsseldorf) als Pastor in den kleinen Landstädtchen Sachsenberg (heute Ortsteil von Lichtenfels/Waldeck) von 3. November 1850 an, zuvor schon seit dem 28. März desselben Jahres als Rektor und Diakonus.1 Er setzte sich weit über die Grenzen seiner eigenen Pfarrei hinaus für eine Erneuerung der lutherische Kirche im Waldeckerland ein, in dem eine Generation früher die evangelische Union zwischen der lutherischen und der reformierten Kirche eingeführt worden war. Ein besonders markantes Beispiel für diese Bemühungen stellt die Entwicklung des Waldeckischen Missionsvereins (1843–1873) dar.2 Rocholl legte sein Amt am Sonntag Jubilate 1861 nieder und wechselte in die lutherische Landeskirche von Hannover. 1864 konstituierten sich dann die Gemeinden Sachsenberg und Korbach, die sogleich Aufnahme in die Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen fanden und denen sich 1873 eine weitere Gemeinde im Edertal (Bergheim, Mehlen, Waldeck, Wildungen) zugesellte. 1876 entstand auch in Pyrmont eine Gemeinde, die seit 1877 eine eigene Parochie innerhalb der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Preußen bildete, bis sie sich 1941 der lutherischen Landeskirche von Hanno-

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Seine Amtsvorgänger waren von 1797–1830 Johann Friedrich Christoph Schumacher (26. Dezember 1760 in Mengeringhausen – 19. November 1839 in Sachsenberg) und von 1840–1850 Christian Klapp. 2 Vgl. meine Untersuchung: Vereinstätigkeit im Dienst kirchlicher Erneuerung. Eine Fallstudie über den Waldeckischen Missionsverein als Problemanzeige, in: Jürgen Diestelmann/Wolfgang Schillhahn (Hg.), Einträchtig lehren. FS Jobst Schöne, Groß Oesingen 1997, 443–472. _______________________________________________________________________ LuThK 38 (2014), 44–75 DOI 10.2364/3846999028

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ver eingliederte, nachdem die unierte Pyrmonter Landeskirche sich bereits 1934 dieser Kirche angeschlossen und damit ihren Bekenntnisstand zurück geändert hatte.3

Lutherisches Erwachen in der Pfarrerschaft der Fürstentümer Waldeck und Pyrmont Die Wurzeln der lutherischen Bewegung in Waldeck und Pyrmont im 19. Jahrhundert reichen allerdings weiter zurück und sind mit der Wirksamkeit schon anderer Pastoren vor und neben Rocholl verbunden.4 Pastor Johann Adam Ludwig Wolff (10. April 1810 in Züschen [heute Stadtteil von Fritzlar] – 11. Mai 1854 in Pyrmont)5 in Pyrmont gehörte bereits zu den Unterzeichnern des von Johann Konrad Wilhelm Löhe (21. Februar 1808 in Fürth – 2. Januar 1872 in Neuendettelsau) verfassten „Zurufs aus der Heimat an die deutschlutherische Kirche Nordamerikas“ von 1845, unter dem sich be3

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Die politischen Rahmenbedingungen hatten sich geändert, indem 1919 zunächst ein Freistaat Waldeck-Pyrmont gebildet worden war und 1922 das Teilgebiet Pyrmont aus dem Freistaat ausgetreten und in die preußische Provinz Hannover eingegliedert worden war. – Vgl. Dieter Waßmann, Waldeck. Geschichte einer Landeskirche (MonHas 10), Kassel 1984, 197. Zu einer Fokussierung auf die Person Rocholl, wie sie etwa bei Ludwig Tiesmeyer, Die Erweckungsbewegung in Deutschland während des XIX. Jahrhunderts IV, H. 4 (= H. 16), Kassel 1912, 362–364; Wolfgang Medding, Korbach. Die Geschichte einer deutschen Stadt, Korbach 21980, 318–320; Waßmann, Waldeck (wie Anm. 3), 130–134, zu beobachten ist, hat sicherlich neben den bedeutenden theologischen Publikationen, durch die er in weiteren Kreisen bekannt geworden ist, die Monographie von Heinrich Hübner, D. Rudolf Rocholl, Ein Lebens- und Charakterbild, Elberfeld 1910, beigetragen. Wolff wurde 1832 Stadtvikar in Pyrmont, 1833 Pfarrer und dort 1848 erster Pfarrer und Hofprediger, gründete dort 1848 die diakonische Stiftung Bethesda, 1852 wurde er Superintendent; 1853 predigte er auf der lutherischen Pfingstkonferenz in Hannover. Verheiratet war er seit dem 12. Januar 1834 mit Johanne Caroline Louise Philippine geborene Freybe (9. November 1814 in Korbach – 4. Januar 1896). Vgl. zu ihm: Rudolf Rocholl, Christophorus, Breslau 61928, 124f. – Seine Schwiegereltern waren Johann Christian Freybe (13. Dezember 1774 in Nordhausen – 18. April 1833 in Pyrmont), der zuletzt von 1832 an Prediger und Kircheninspektor in Pyrmont gewesen war, und Christiane Friederike geb. Steinmetz (19. März 1773 in Arolsen – 22. September 1843 in Pyrmont). Es bestanden damit verwandtschaftliche Beziehungen zu Rudolf Rocholl.

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kenntnisbewusste Lutheraner sammelten.6 In demselben Jahr kam Rocholl als Lehrer nach Pyrmont und wurde von seinem Onkel Friedrich Wilhelm Steinmetz (23. Mai 1809 in Rhoden [heute Ortsteil von Diemelstadt] – 12. April 1878 in Eilenburg)7, Pastor in Helsen (heute Ortsteil von Bad Arolsen), für seine weitere theologische Entwicklung eben an diesen Pastor Wolff gewiesen.8 Zuvor hatte Rocholl vier Jahre zum Schulbesuch bei seinem Onkel Karl Christian Theodor Rudolf Steinmetz (19. Dezember 1801 in Rhoden – 12. Februar 1854 in Clausthal), Pastor in Moringen, gelebt,9 der als ausgesprochen lutherischer Theologe gilt,10 auch wenn seine konfessionelle Entwicklung damals noch nicht ganz abgeschlossen gewesen sein mag. Der Durchbruch zum konfessionellen Luthertum, den Rocholl für sich selbst in das Jahr 1847 während seines Wienaufenthaltes ansetzt,11 war also bereits in der Heimat vorbereitet.12 6 7

Wilhelm Löhe, Gesammelte Werke 4, 68–101, dort 101. Rocholls Mutter war Marianne Christine Elisabeth Rocholl, geb. Steinmetz (26. November 1797 in Rhoden – 9. Dezember 1873 in Burghasungen), Tochter des Pfarrers Friedrich Steinmetz (11. April 1770 in Helsen – 25. Januar 1845 in Rhoden). Nach dem frühen Tode seines Vaters, des Arztes Dr. Carl Christian Ludwig Rocholl (8. Dezember 1794 in Korbach – 1. November 1834 in Rhoden), förderten die Brüder der Mutter maßgeblich die Entwicklung des Jungen. – Seinen Großvater väterlicherseits, den Gymnasiallehrer und späteren Pfarrer an der Nicolaikirche in Korbach Johann Carl Rocholl (15. Mai 1756 in Korbach – 13. November 1813 in Korbach), hat Rudolf Rocholl nicht mehr erlebt. – Rocholls Onkel Friedrich Steinmetz blieb bis 1876 Pfarrer in Helsen 8 Hübner, Rocholl (wie Anm. 4), 39, 42–44; Rudolf Rocholl, Einsame Wege I, Leipzig 21898, 69–72. 9 Vgl. a.a.O., 26–29, 43f. 10 Rudolf Steinmetz, später Pfarrer in Rehburg, dann Superintendent in Holtorf und Generalsuperintendent und Pfarrer in Clausthal, war freundschaftlich mit Adam Wolff verbunden und gründete 1853 zusammen mit Ludwig Adolf Petri (1803–1873) in Hannover und August Friedrich Otto Münchmeyer (1807–1882) den Gotteskastenverein (heute: Martin-Luther-Bund). 11 Rocholl, Wege (wie Anm. 8), 168–175; Hübner, Rocholl (wie Anm. 4), 74–77. – Rocholl sieht diesen Durchbruch freilich erst als Anfang einer Entwicklung zum vollen Luthertum. Diese seine eigene Spätansetzung hängt damit zusammen, dass er die Reformation selbst als bisher noch nicht voll entwickelt ansieht und in der neuen freikirchlichen Organisationsform einen wesentlich Fortschritt in der Entfaltung des Wesens des Luthertums sieht. Vgl. Rudolf Rocholl, Geschichte der evangelischen Kirche in Deutschland, Leipzig 1897 (mit „evangelisch“ meint er speziell „evangelisch-lutherisch“). Volle lutherische Überzeugung ist ihm in

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Wolff war es, der mit einer Anfrage vom 8. Mai 1850 an das Konsistorium die Debatte über den Bekenntnisstand der Landeskirche auslöste.13 Zugleich drangen weitere Pfarrer, die in Waldeck tätig waren, immer mehr zu klaren lutherischen Überzeugungen durch. Zu nennen sind vor allem Carl Ludwig Christian Freybe (14. Juni 1806 in Korbach – 31. März 1885 in Pyrmont),14 Friedrich Ludwig Stallmann (17. Oktober 1800 in Bergheim [heute Ortsteil von Edertal] – 10. Februar 1873 in Bergheim)15 und Wilhelm Schaedla (9. August 1818 in Korbach – 8. Oktober 1887 in Hemelingen [heute Stadtteil von Bremen]),16 sowie Eduard Lorentz (10. Februar 1812 in Hüdingen [heute Ortsteil von Bad Wildungen] – 8. Juni 1862 in Heringhausen [heute Ortsteil von Diemelsee]).17 Bezeichnend ist, dass ein Jahr nach Gründung der jüngsten Gemeinde in Pyrmont dort beim Missionsfest neben dem Ortspastor Freybe auch Männer mitwirkten, die in enger Verbindung mit der lange währenden Entwicklung der Rückbesinnung auf das Luthertum innerhalb der Landeskirche von Waldeck

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seiner Zeit also erst dann gegeben, wenn ein Schritt über das traditionelle Luthertum hinaus getan wird. Zu den Verteidigern der Union zählte Konsistorialrat und Hofprediger Karl Steinmetz (16. Mai 1800 in Arolsen – 1874), Sohn von Johann Philipp Steinmetz (8. Mai 1767 in Helsen – 14. Dezember 1791 in Arolsen) und dessen Amtsnachfolger, ein Vetter der Mutter Rocholls. Dieser verfasste die Gegenschrift: Die kirchliche Union in den Fürstenthümern Waldeck und Pyrmont dargestellt und vertheidigt, Arolsen 1859. Die Stellung der Großfamilie war also nicht einheitlich. Vgl. Heinrich Nebelsieck, Die kirchliche Union in den ehemaligen Fürstentümern Waldeck und Pyrmont, ZKG 62 (1943/44), 232–271, dort 249f. Freybe wurde 1832 Pfarrer von Waldeck und Berich und war seit 1840 Pfarrer in Niederwildungen, legte am 15. Februar 1873 sein Pfarramt in der Landeskirche nieder, 1874 siedelte er nach Pyrmont über und gründete dort die selbstständige lutherische Gemeinde. Freybe war ein Schwager von Adam Wolff in Pyrmont. Stallmann war seit 1831 Pfarrer in Vasbeck, seit 1842 in Bergheim. Seine Witwe Friederike Stallmann schloss sich der lutherischen Gemeinde an, starb 1878 im Alter von 67 Jahren und wurde von Pastor Eichhorn bestattet. Schaedla, Sohn des Korbacher Bürgermeisters Christoph Schaedla, trat in demselben Jahr wie Rocholl seine Pfarrstelle in Netze an, nachdem er vorher seit 1848 Pfarrer in Freienhagen gewesen war. Schaedla wechselte 1873 in die Hannoversche Landeskirche, war zunächst Pfarrer in Binnen, dann 1874–1886 in Liebenau. Lorentz war von 1845 bis 1862 Pastor in Heringhausen.

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und Pyrmont gestanden hatten, nämlich Adolph Kreusler (12. April 1824 in Arolsen – 12. April 1894 in Hamburg), von 1854–1869 Pastor an der Stadtkirche in Pyrmont, danach zunächst Superintendent in Börry (heute Ortsteil von Emmerthal), jetzt seit 1871 Hauptpastor an St. Petri in Hamburg, Wolrad Wolff (15. November 1842 in Pyrmont – 18. Juli 1934 in Schwerin),18 Sohn des früheren Pyrmonter Superintendenten, jetzt Pastor in Mecklenburg, sowie der Oberlehrer Dr. Albert Freybe (8. Februar 1835 in Waldeck – 12. Juli 1911 in Parchim)19, der seines lutherischen Bekenntnisses willen seine Heimat verlassen hatte und ebenfalls nach Mecklenburg gegangen war.20 Rocholl traf im Waldeckischen also auf ein Umfeld, das der Rückbesinnung auf das Luthertum aufgeschlossen gegenüber stand. Er konnte diese dann energisch fördern; vor allem trug er diese Diskussion in eine breite Öffentlichkeit.21 Der von ihm seit Advent 1857 herausgegebene „Sonntagsbote“22 und die von ihm geprägten Missionsfeste trugen offensichtlich entscheidend dazu bei, dass die über

18 Wolff hatte 1865 sein erstes theologisches Examen in Arolsen abgelegt, war 1870 im Güstrower Dom ordiniert worden, seit 1874 Pastor in Slate (heute Ortsteil von Parchim), später Oberhofprediger und Konsistorialrat in Schwerin. 19 Freybe war ein Sohn des Pastors Christian Freybe und ab 1861 Lehrer am Gymnasium in Parchim, 1868 Dr. phil., 1897 Dr. theol. 20 Aus Pyrmont, Kirchen-Blatt für die Gemeinden des evangelisch-lutherischen Bekenntnisses in Preußen 1877, 275–277. 21 Zu Rocholls Werdegang und seine Wirksamkeit in Waldeck vgl. auch Karl Ulrich Überhorst, Die Theologie Rudolf Rocholls (AGTL 11), Berlin/Hamburg 1963, 25–35. Über die Entwicklung seiner kirchlichen Anschauungen noch in dieser Zeit vgl. Werner Klän, Schritte auf dem Weg zu konfessionell-lutherischer Bewußtwerdung, in: Diestelmann/Schillhahn, Einträchtig lehren (wie Anm. 2), 266–285. 22 Nach dem Weggang Rocholls gab zunächst für eine Übergangszeit Pastor Christian Freybe in Niederwildungen den Sonntagsboten heraus, dann übernahm Pastor Richard Heiner in Fürstenberg diese Aufgabe, bis er sie 1865 an Pastor Ludwig Saul (24. Oktober 1813 in Kassel-Harleshausen – 28. Juli 1877 in Balhorn [heute Ortsteil von Bad Emstal]) in Balhorn übergab, weil ein lutherisches Blatt in Waldeck nicht mehr erscheinen konnte. Vgl. Friedrich Rathje, Christlicher Glaube. Entwicklung – Erweckung – Mission – vor allem Judenmission, am Beispiel des Pfarrbezirks Balhorn-Altenstädt bei Kassel, Groß Oesingen 1996, 175–180.

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das Land verstreuten kleinen Gruppen bewusster Lutheraner zusammenfanden und sich zu einer Bewegung zusammenschließen konnten.

Friedrich Eigenbrod in Korbach Auf der Gemeindeebene war ein verstärktes lutherisches Bewusstsein noch früher erwacht. In seinem Bericht über seine Einführung am 28. April 1867 erinnert der erste Pastor der waldeckischen selbstständigen lutherischen Gemeinden, Karl Eichhorn (11. Juli 1810 in Kembach/Baden – 8. Februar 1890 auf dem Weg nach Züschen [heute Stadtteil von Fritzlar]), an zwei Männer, die von frühen Kontakten zum lutherischen Widerstand gegen die Union in Preußen geprägt waren: „Es ist auch unsere Gemeinde in Corbach und Sachsenberg von ihrem ersten Entstehen an in Verbindung mit der Preußischen lutherischen Kirche gewesen. Denn Einer unserer Vorsteher, E. in Corbach, hat den Preußischen Kirchenkampf in den Jahren 1831–1838, und zwar an einer Stelle, wo er besonders heiß war, unter P. Grabau in Erfurt (wo er in Arbeit stand) als Glied der dortigen Gemeinde mitgefochten, und Vorsteher H. in Sachsenberg, dessen Beruf ihn auf weite Reisen führte, stand in lebendiger Verbindung mit P. Gaudian, dem Nachfolger Grabau’s.“23 Die Anfänge der lutherischen Gemeinde in Korbach reichen mithin deutlich vor die Zeit Rocholls zurück. Im kollektiven Gedächtnis der Gemeinde ist diese Vorgeschichte allerdings nicht mehr lebendig.24 Der Erstgenannte, mit vollem Namen Theodor Friedrich Christian Eigenbrod (24. Dezember 1811 in Korbach – 24. Mai 1898 in Korbach), hatte sich während seiner beruflichen Tätigkeit als Drechsler in Erfurt, das damals zu Preußen gehörte, der Widerstandsbewegung gegen die Bildung der Union zwischen der lutherischer mit der reformierten Kirche angeschlossen. Der Pastor an der dortigen St. Andreas-Kirche, Johann Andreas August Grabau (18. März 1804 in 23 Carl Eichhorn, Aus dem Fürstenthum Waldeck, Kirchen-Blatt für die evangelisch-lutherischen Gemeinen in Preußen 1867, Nr. 12 vom 15. Juni, 136–142, dort 136. 24 Die Festschrift zum 125jährigen Kirchweihjubiläum am 21. August 2011, Christusgemeinde Korbach, beginnt unvermittelt mit der Konstituierung der Gemeinde 1864 (Seite 8).

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Olvenstedt bei Magdeburg – 2. Juni 1879 in Buffalo/New York),25 hatte dort einen Kreis von bewussten Lutheranern um sich gesammelt und wurde deshalb 1836 suspendiert. Wegen seiner weiteren Amtsführung in der entstehenden lutherischen Gemeinde wurde er dann mit Gefängnisstrafe in Heiligenstadt im Eichsfeld belegt. Als er aus der Haft entlassen worden war,26 wanderte er am 6. Juni 1839 mit einem Drittel seiner Gemeinde nach Nordamerika aus und gründete dort die Buffalosynode. In Erfurt etablierte sich trotz aller Bedrückung eine selbstständige lutherische Gemeinde. In ihr lernte Eigenbrod seine Frau Anna Regina Bothin (1. April 1811 – 27. März 1887 in Korbach) kennen. Das Paar wurde am 9. Juni 1839 in Erfurt getraut. Zur Eheschließung legte Eigenbrod neben der Einverständniserklärung seiner Eltern27 eine Bescheinigung der Korbacher Kirchengemeinde, die seine Taufe und ein Dimissoriale beurkundete,28 sowie eine Bescheinigung der Landschaftlichen Kammer über seine Militärdienstbefreiung29 vor. Die Trauung wurde vorgenommen 25 Vgl. Wilhelm Iwan, Geschichte der Altlutherischen Auswanderung um die Mitte des 19. Jahrhunderts II, Ludwigsburg 1943, 80–94. 26 Grabau war am 12. März 1839 unter dem Versprechen, jede Amtshandlung zu unterlassen, aus dem Gefängnis entlassen worden. 27 „Das wir endest Unterzeichneten gegen die Verheirathung unseres Sohnes Friedrich, mit der Jungfrau Regina Bothin aus Erfurt nichts zu erinnern haben, versichern wir durch unsere namens Unterschrift. Corbach Am 17t. April 1839 Christian Eigenbrod Christiane Eigenbrod“ (Bestand Erfurt im Kirchenarchiv der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oberursel). 28 „Dem Schuhmachermeister Christian Wolrad Eigenbrod ist von seiner Ehefrau Christiane geborene Hopf im Jahre 1811, eintausendachthundertelf, den 24ten December, Mittags elf Uhr ein Sohn geboren, welcher den 6ten Januar 1812 getauft worden und die Taufnamen Theodor Friedrich Christian erhielt. Daß Vorstehendes aus dem Kirchenbuche der Neustädter Gemeinde getreu extrahirt ist und der Proclamation des genannten Herrn Theodor Friedrich Christian Eigenbrod, Bürgers und Drechslers dahier, mit Anna Regina Bothin zu Erfurt, nach Vorlage des Trauungserlaubnißscheines vom hiesigen Stadtmagistrat ein Hinderniß von hier aus nicht entgegen steht, wird hiermit bescheinigt. Nach vorgenommener Proclamation soll davon Ergebniß gemeldet werden. Corbach am 17ten April 1839. T. P. Waldeck Pfarrer und Kircheninspector“ (Bestand Erfurt [wie Anm. 27]). 29 „Ad Num. 46 Namens Seiner Hochfürstl. Durchlaucht, Unsers gnädigst regierenden Fürsten und Herrn wird dem Drechsler Friedrich Eigenbrod zu Korbach, Oberamts des Eisenbergs, 28 Jahre alt, unter vorliegenden Umständen und zum Zweck seiner ehelichen Niederlassung daselbst die gebetene Befreyung von der

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durch Pastor Eduard Kellner (6. August 1802 in Bankau Krs. Kreuzburg – 28. März 1878 in Schwirz),30 der als Pastor in Hönigern in Schlesien abgesetzt worden war31 und auf seinen Reisen unter polizeilicher Verfolgung am 7. Juni in Erfurt eingetroffen war.32 Die Heiratsurkunde dokumentiert die ungewöhnlichen Bedingungen, unter denen diese Trauung gehalten wurde: „Daß der ehr- und tugendsame Junggesell Herr (Friedrich – nachgetragen) Eigenbrodt, Bürger u. Drechslermeister in Corbach im Fürstenthum Waldeck mit der ehr- u. tugendsamen Jungfrau Regina geb. Bothin am heutigen Tage als am IIten Sonntage post Trinitatis durch einen berufenen u. geordneten Pastor der evangelisch lutherischen Kirche, die aber seit dem Agenden- u. Unionsjahr 1830 in hiesigem Lande keine Anerkennung findet, (deren verfolgte Pastoren daher auch keine Zeugnisse ausstellen dürfen – am Kopf des Blattes nachgetragen), ehelich nach der alten Wittenberger Agende eingesegnet worden ist, nachdem sowohl der Bräutigam aus seiner Heimath seinen vorschriftsmäßigen kirchlichen Proclamationsschein vorgezeigt hatte als auch seine Braut in hiesiger lutherischer Gemeinde nach beendigtem Gottesdienst am II. Pfingstfeiertage, am Trinitatisfest u. den I. post Trin. vorschriftsmäßig u. öffentlich ohne Einspruch

hiesigen Militärpflichtigkeit zu dessen Legitimation hierdurch ertheilt. Urkundlich Unserer persönlichen Fertigung Arolsen am 19ten Januar 1839. Die Landschaftliche Kammer W. Schumacher“ (Bestand Erfurt [wie Anm. 27]). 30 Diese Angabe findet sich im Traubuch der Selbständigen Ev.-Luth. Christuskirche in Erfurt (begonnen 1837 unter Nr. 1/1839). – Für Recherchen in den Kirchenbüchern der Evangelisch-Lutherischen Christusgemeinde in Erfurt danke ich Herrn Ernst Wilhelm Brecht. 31 Der friedlich demonstrierenden lutherischen Gemeinde Hönigern in Schlesien war Weihnachten 1834 ihre Kirche unter Einsatz von Militär abgenommen worden, um sie für unierte Gottesdienste zu nutzen. Vgl. Eduard Kellner, Gottes Führen und Regieren zur Erhaltung der lutherischen in Preußen, Dresden 31868, 108–146; Gilberto da Silva, Die Evangelisch-lutherische (altlutherische) Kirche, in: Werner Klän/Gilberto da Silva (Hg.), Lutherisch und selbstständig. Einführung in die Geschichte selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland, Göttingen 2012, 11–18, dort 15f. 32 Georg Oergel, Eben-Ezer. Festschrift zum 50jährigen Jubiläum der evangelischlutherischen Gemeinde zu Erfurt, Erfurt 1886, 58.

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proclamirt worden war, bezeugen wir hiermit sowohl als die erwählten Trauzeugen als auch als die von der hiesigen Gemeinde erwählten Vorsteher (drei Kürzel) Müller.“33 Als Eigenbrod nach Korbach zurückkehrte, vertrat er hier offen seine lutherischen Überzeugungen. Die bemerkenswerte Nachricht, Eigenbrod „habe sich mit seiner Frau, einer Ausländerin, in Thüringen von einem abgesetzten Geistlichen trauen lassen und darüber nur eine von den Ältesten der Gemeinde ausgestellte Bescheinigung beigebracht, mit welcher der Kircheninspektor Waldeck sich begnügt habe“, wurde in Korbach zum Gesprächsthema.34 Das heißt aber auch, dass damit die Umstände, unter denen dies erfolgte, bekannt wurden, nämlich die Entstehung selbstständiger lutherischer Gemeinden unter staatlicher Verfolgung in Preußen. Eigenbrod organisierte private Erbauungszusammenkünfte, zu denen sich zwanzig und mehr Teilnehmer einfanden. Aus einem Bericht des Kircheninspektors Theodor Philipp Waldeck (9. Juli 1787 in Mühlhausen [heute Ortsteil von Twistetal] – 14. Januar 1864 in Korbach) in Korbach an das Konsistorium vom 2. September 1840 geht Folgendes hervor: Bei diesen Versammlungen, die am Sonntagabend bei Schreinermeister Friedrich Trummel stattfanden, begann man mit einem Gesangbuchlied, dann folgten eine Schriftlesung und ein Abschnitt aus einem von zwei Predigtbüchern, daran schloss sich eine Aussprache an, und den Schluss bildete ein „andächtiges Gebet“.35 Verwendet wurden eine Predigtsammlung von Johann Friedrich Bahrdt (11. Juni 1713 in Lübben/Spreewald – 6. November 1775 in Leipzig)36 und eine weitere von Johann Jakob Rambach (24. Feb33 Der Trödler Philipp Müller (damals 44 Jahre alt), Vorsteher der Gemeinde Erfurt (gewählt am 30. Januar 1837), gehörte zu dem Gemeindedrittel, das mit Grabau nach USA auswanderte und Donnerstag, 6. Juni 1839, Erfurt verließ a.a.O., 56f; Namensverzeichnis der Auswanderer bei Iwan, Geschichte II [wie Anm. 25], 253). Ob es sich bei der Unterschrift jedoch um diesen Namensträger handelt, bleibt offen. Im Bestand Erfurt (wie Anm. 27). 34 Heinrich Nebelsieck, Die Anfänge der neupietistischen Erweckungsbewegung in Waldeck und Pyrmont, Waldeckische Geschichtsblätter 38 (1938), 15–35, dort 30. Nebelsieck stuft die Nachricht allerdings als „leeres Gerede“ und „Gerücht“ ein (ebd.). 35 A.a.O., 27f. 36 Vollständige Sammlung Heiliger Reden über auserlesene Wahrheiten der Glaubens- und Sittenlehre Jesu, 21755. Bahrdt war Professor in Leipzig und gilt als Vertreter der alten lutherischen Richtung. sein Sohn Karl Friedrich Bahrdt

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ruar 1693 in Halle – 19. April 1735 in Gießen).37 Diese Erbauungsbücher kann man als ausgeprägt lutherisch, keinesfalls aber als streng konfessionell bezeichnen. Die Aktivität erregte bei den für die öffentliche Ordnung Verantwortlichen einigen Argwohn. Denn die Freiheiten, die dann durch die Revolution von 1848 erwirkt wurden, bestanden noch nicht. Die Religionsfreiheit wurde erst durch das Staatsgrundgesetz für die Fürstentümer Waldeck und Pyrmont vom 23. Mai 1849 eingeführt.38 Zudem war man in Waldeck durch den Pietismusstreit von 1711 besonders sensibilisiert und traumatisiert.39 Es verwundert deshalb

(1741–1792) war ein theologischer Aufklärer, der in seiner Zeit viel, von Skandalen begleitete Aufmerksamkeit fand. 37 Betrachtungen über den Rath Gottes von der Seligkeit des Menschen, Gießen 1737, posthum herausgegeben von Johann Philipp Fresenius (22. Oktober 1705 in Nieder-Wiesen – 4. Juli 1776 in Frankfurt/Main), zunächst in Gießen, dann in Darmstadt tätig, 1742 Stadtpfarrer und Professor in Gießen, ab 1743 in Pfarrer in Frankfurt, wo er 1749 Johann Wolfgang Goethe taufte. – Rambach gehört dem Halleschen Pietismus an und wirkte ab 1727 in Halle als Nachfolger August Hermann Franckes (1663–1727) und wurde dann 1731 Professor und Superintendent in Gießen; er trat als Liederdichter hervor (Ich bin getauft auf deinen Namen; Mein Schöpfer, steh mir bei). 38 In §14 wurde erklärt: „Jeder ist unbeschränkt in der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen Uebung seiner Religion“ (Horst Dippel (Hg.), Verfassungen der Welt vom späten 18. Jahrhundert bis Mitte des 19. Jahrhunderts III, 6, München 2008, 217–237, dort 219). Weitergehend wurde sogar in §16 bestimmt: „Keine Religionsgesellschaft genießt vor andern Vorrechte; es besteht keine Staatskirche. Neue Religionsgesellschaften dürfen sich bilden; einer Anerkennung ihres Bekenntnisses durch den Staat bedarf es nicht“ (ebd.). Allerdings schränkte die Verfassung von 1852 diese Rechte insofern wieder ein, als die grundsätzlich Freiheit zur „öffentlichen“ Religionsausübung entfiel, diese vielmehr an die Verleihung von Korporationsrechten gebunden wurde. 39 Vgl. Waßmann, Waldeck (wie Anm. 3), 66–77, 219–222 (Abdruck des Edikts); Helga Zöttlein, Dynastie und Landesherrschaft. Politischer Wandel in der Grafschaft Waldeck zwischen 1680 und 1730, Bad Arolsen 2004. Hatte das Edikt inhaltlich der Wahrung des Luthertums gedient, so wandte sich seine formale Seite der Bestätigung der staatskirchlichen Position jetzt gegen die Lutheraner in ihrer persönlichen Glaubenshaltung. – In seiner Missionsfestpredigt in Netze am 14. Juni 1855 erinnert Rocholl an diese Vorgänge: „Damals trat unser Kirchenregiment kräftig in herrlichen Zeugnissen für die lutherische Kirche mit dem festen Fundament der Sakramente auf“ (V. B. Schubert [Hg.], Predigten des sel.

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auch nicht, dass der lutherische Kreis als „neupietistische“ Bewegung eingestuft wurde. Der Korbacher Stadtmagistrat hatte in einem Schreiben vom 14. März 1840 dem Konsistorium über die Versammlungen berichtet und um Anweisung gebeten, ob dagegen polizeilich einzuschreiten sei.40 Das Konsistorium erklärte am 15. April 1840 grundsätzlich, dass größere Zusammenkünfte zu vermeiden und die private Erbauung auf Familienandachten zu begrenzen seien: „Besondere Zusammenkünfte s. g. Pietisten ohne ihre Geistlichen sind nicht zu gestatten.“41 Die Leiter des Erbauungskreises erklärten, an ihren Zusammenkünften festhalten zu wollen, weil Beten und Bibellesen ein gottgefälliges Werk sei, es sei ihnen aber sehr erwünscht, „wenn sie sich Sonntags nach dem Gottesdienste bei dem Pfarrer zu einer Aussprache über Religion und Gottes Wort einfinden dürften“.42 Wiederholt fanden solche Aussprachen statt. Mitte August sollen die Zusammenkünfte aber überhaupt eingestellt worden sein, wie Waldeck in seinem Bericht vom 2. September 1840 angibt. Damit war freilich die Gesinnung nicht ausgelöscht, die zu diesen Versammlungen geführt hatte. Nebelsieck kann sich in seiner historischen Untersuchung nicht entscheiden, ob die Wurzeln der Bewegung im Bergischen oder in Thüringen lagen.43 Diese Frage lässt sich jedoch eindeutig beantworten. Die Erlebnisse Eigenbrods in Erfurt hatten den Anstoß gegeben. Nebelsieck nennt ausdrücklich Eigenbrod als den „eigentlichen Führer“.44 Die spätere Gründung einer selbstständigen lutherischen Gemeinde, bei der Eigenbrod wieder eine führende Rolle einnahm, geschah dann allerdings in Kontakt mit lutherischen Pastoren im Berg-

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Kirchenrat D. R. Rocholl, Elberfeld 1911, 5–14, dort 10). Doch nun trat das Kirchenregiment für die Union ein. Nebelsieck, Anfänge (wie Anm. 34), 27f. – Nebelsieck stützt sich auf die Konsistorialakten, die im II. Weltkrieg vernichtet worden sind. Deshalb muss seine Darstellung der Ereignisse hier als Grundlage dienen. Louis Friedrich Christian Curtze/Ferdinand v. Rheins, Geschichte und Beschreibung der Kirche St. Kilian zu Corbach, Arolsen 1843, 272. Nebelsieck, Anfänge (wie Anm. 34), 30. A.a.O., 27. Ebd.

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ischen. Das Verbindende zwischen diesen beiden Landschaften lag in der dortigen Präsenz von Gemeinden der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Preußen.45 Der friedliche Verlauf der Angelegenheit zeigt, dass die zuständigen Pfarrer ein gewisses Verständnis für das Anliegen zeigten und die Beteiligten ihrerseits den Pfarrern gegenüber keine ablehnende Haltung einnahmen. Sie zählten nach den Berichten an das Konsistorium zu den eifrigsten Gottesdienstbesuchern; sie bedachten die Kollekten auch großzügiger als sonst üblich. Charakteristisch für ihre Aktivität war, dass sie innerhalb des vorgegebenen kirchlichen Rahmens eine Erneuerung der lutherischen Frömmigkeit erhofften.46 Auf welche Weise sie ihre Überzeugungen weiterhin pflegten und stärkten, darüber fehlen jegliche Informationen, was bei der vorauszusetzenden Mentalität nicht verwunderlich ist. Intensive persönliche Kontakte zur lutherischen Gemeinde in Erfurt hielten nach der Einstellung der Zusammenkünfte sicher auch die kirchliche Frage weiter lebendig.47 Dafür sprechen die engen familiären Beziehungen, die sich aufgrund der Eheschließung des Korbachers Friedrich Eigenbrod mit der Erfurterin Regina Bothin entwickelten und schließlich auch beide lutherische Gemeinden miteinander vernetzten.48 45 Während die Gemeinde Erfurt zur Berliner Diözese gehörte, wurden die Gemeinden in Waldeck der Diözese Elberfeld zugeordnet. 46 Vgl. das Zeugnis Rocholls, „Treue Freunde standen für ein Ziel mit mir zusammen. Uns lag daran, die Kirche unseres Landes, die in ihren Grundlagen noch vorhanden war, vom unierten Aufbau zu befreien“ (Rocholls, Wege [wie Anm. 8], 232). 47 Superintendent Frithjof Nagel (14. Juli 1908 in Luzine – 7. Oktober 2000 in Siegen), selbst 1933–1951 Pastor in Erfurt, erinnerte beim hundertjährigen Gemeindejubiläum in Korbach an „geschichtliche Verbindungslinien von den waldeckischen Gemeinden zu mancher Schwestergemeinde in der luth. Kirche Preußen, z.B. der Gemeinde Erfurt“ (Herbert Otto, Hundertjahrfeier der Gemeinden Korbach und Sachsenberg, Kirchenblatt für evangelisch-lutherische Gemeinden 114 [1964], 154–156, dort 156). 48 So wurde Friedrich Eigenbrod etwa am 31. Oktober 1847 bei der Taufe einer Nichte seiner Frau, Johanna Friederieke Siering (geb. am 22. Oktober 1847), Pate. In der nächsten Generation heiratete eine Tochter von Friedrich und Regina Eigenbrod, Caroline Eigenbrod (30. Oktober 1841 – 28. März 1875), den Erfurter Lutheraner Johann Christian Wilhelm Siering (4. November 1841 – 19. Mai 1907), Sohn von Johann Georg Friedrich Siering und Anna Elisabeth geb. Bothin, Trauung in Korbach durch Pastor Eichhorn am 20. November 1873. In

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Sehr wahrscheinlich ist zudem, dass mit der Gruppe von waldeckischen Lutheranern, die bereits 1859 bei Pastor Carl Petrus Theodor Crome (22. Juli 1821 in Einbeck – 16. August 1894 in Kiel) in Radevormwald Rat suchten, der Korbacher Kreis gemeint ist, da zu der Zeit das Sachsenberger Pfarramt noch von Rocholl wahrgenommen wurde. Crome, der sich im Herbst 1862 mit einem Teil seiner Gemeinde von der Evangelisch-Lutherischen Kirche Preußens trennte und sich 1864 der Immanuelsynode anschloss, riet ihnen damals, „ihren Fürsten um Schutz der luth. Kirche zu bitten, event. die Kirchengemeinschaft mit unirten Geistlichen abzubrechen und mit den noch auf dem luth. Bekenntniß stehenden Pastoren ihres Landes die Wiederherstellung der luth. Kirche zu versuchen“.49 Die Besonderheit der Entwicklung in Korbach liegt darin, dass hier vor Ort kein Pastor mit lutherischen Profil die lutherische Bewegung förderte, wie das in Sachsenberg und im Edertal der Fall war, sondern sich eine Gruppe von Laien zusammenfand, die eigenständig ihr lutherisches Bewusstsein pflegte und stärkte.

Johann Daniel Hallenberg in Sachsenberg Auch Eichhorns Erwähnung des Vorstehers H. in Sachsenberg führt in die Zeit Anfang der vierziger Jahre zurück. Der spätere Sachsenberger Bürgermeister und Vorsteher der lutherischen Gemeinde Johann Daniel August Hallenberg (13. Juni 1793 in Sachsenberg – 5. September 1874 in Sachsenberg)50 war auf seinen Reisen als Fuhrzweiter Ehe heiratete der inzwischen verwitwete Johann Christian Wilhelm Siering am 10./13. Juli 1879 wieder eine Waldeckerin, nämlich Friederike Christiane Marta Pohlmann aus Mühlhausen (heute Ortsteil von Twistetal). Und in der dann folgenden Generation heiratete der Sohn aus der ersten Ehe, Friedrich Siering (10. Februar 1875 – 15. März 1927), die Großnichte von Friedrich und Regina Eigenbrod, die Korbacher Lutheranerin Emilie Siebel (10. März 1877 – 27. Januar 1948), Trauung in Korbach 9. Juli 1905 (standsamtlich am 8. Juli); diese Eheleute gehörten dann der lutherischen Gemeinde in Mannheim an. Trotz des frühen Todes von Caroline Siering geb. Eigenbrod wurden die familiären Beziehungen also intensiv gepflegt. 49 Kirchen-Blatt für die evangelisch-lutherischen Gemeinen in Preußen 1864, Nr. 13 vom 1. Juli, 158f, dort 158. 50 Hallenberg war von 1850 (oder möglicherweise schon von 1848) bis 1855 Bürgermeister (Erich Mees, Die Sachsenberger Stadtchronik III von 1830 bis 1960 [Sachsenberger Handschriften III], Korbach 1998, 182; Jürgen Römer, 750 Jahre

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mann in Erfurt Pastor Eduard Gaudian (6. Februar 1809 in Breslau – 13. Mai 1843 in Erfurt),51 Grabaus Nachfolger, begegnet. Unter Hallenbergs entscheidender Mitverantwortung bat der Magistrat des Landstädtchens am 26. März 1849 das Konsistorium für die Diakonats- und Rektoratsstelle um Kandidaten, „welche sich zu unserer evangelisch-lutherischen Kirche bekennen und öffentlich heiligst auf unsere Symbole und Kirchenordnung verpflichten lassen“52. In Sachsenberg war also bereits ein konfessionelles Bewusstsein vorhanden, als Rocholl dorthin kam. Die ausdrückliche Nennung der Kirchenordnung ist eindeutig, da nur die alte lutherische existierte. Besonderes Gewicht erhält diese klare Forderung dadurch, dass sie verbunden war mit einer ausführlichen Kritik an den derzeit herrschenden kirchlichen Verhältnissen in der Stadt, nämlich häufig ausfallenden Predigten, Unterbleiben des Geläuts53 und Vernachlässigung des Konfirmandenunterrichts, sowie Untätigkeit des Kircheninspektors. Und Hallenberg wird bereits damals die treibende Kraft gewesen sein. Er gehörte dann, zumal als 1857 gewähltes Mitglied des Kirchenvorstandes, auch zu den Männern, die Rocholl stets zur Seite standen in seinem Bemühen, die Rechte der lutherischen Kirche zu erhalten. Nach Rocholls Amtsniederlegung am 20. April 1861 legte sogleich auch Hallenberg am 3. Mai sein kirchliches Amt nieder: „Da am Sonntag Jubilate den 21ten d. M. zum ersten male seid 300 JahStadt Sachsenberg 1262 – 2012, Bad Arolsen 2011, 109). Hallenberg war seit dem 19. Oktober 1823 verheiratet mit Maria Luisa Conradi (19. März 1802 in Sachsenberg – 3. Mai 1879 in Sachsenberg). Drei Söhne aus dieser Ehe wanderten 1852 bzw. 1853 nach Nordamerika aus. Eine Tochter, Johannette Louise Eleonore, heiratete am 17. Mai 1868 in Sachsenberg Heinrich Wilhelm Ludwig Böhle, die beide der lutherischen Gemeinde angehörten. – Für Erkundigungen vor Ort in Sachsenberg danke ich meinem Bruder Hartmut Stolle. 51 Eduard Ernst Wilhelm Ehregott Gaudian war 1841–1843 Pastor in Erfurt. 52 Abschrift des Schreibens, das Hallenberg an erster Stelle unterschrieben hat (Archiv der SELK-Gemeinde Korbach, Acta Anerkennung, 4). Dem Schreiben ging eines vom 1. Februar voraus, in dem der Stadt- und Gemeinderat schon einmal um die sofortige Besetzung der Stelle „mit einem dem evangelischlutherischen Bekenntniß Getreuen, auf unsere simbole und Kirchenordnung heiligst verpflichteten Geistlichen“ gebeten hatte (zitiert a.a.O., 2). Vgl. Hübner, Rocholl (wie Anm. 4), 132. 53 Das Geläut wurde damals als Aufruf zum Gebet wahrgenommen. Sein Ausbleiben zog also ein Nachlassen der Gebetspraxis nach sich.

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ren, ein auf die Union verpflichteter Geistlicher unsere Kanzel betreten hat, wodurch die Lehre und daß Bekenntniß unser lutherischen Kirche gekränkt worden ist, ich aber mit Gottes Hülfe, dem Glauben unser Väter, der Lehre und dem Bekenntniß unser theuern ewig grünenden lutherischer Kirche treu bleiben will, so bin ich gezwungen mein Amt als Kirchenvorstands-Mitglied niederzulegen.“54 Mit Hallenberg blieb eine Gruppe von Lutheranern zurück; sie musste nun ohne Pastor ihren Weg des Festhaltens am Bekenntnis gehen. Später bekannte Rocholl: „Vor achtzehn Jahren stand eine kleine Gemeinde bereit. Als der Erzähler sein Amt niederlegte, begehrte sie ihn zu ihrem Seelsorger. Sie wollte ihm folgen. Er verließ sie.“55

Das Ringen der Laien um ihren lutherischen Bekenntnisstand Die überzeugt lutherischen Christen hielten engen Kontakt zu Rocholl und ließen sich von ihm beraten. Er begleitete sie aus der Ferne und kam später auch bei besonderen Anlässen nach Sachsenberg und Korbach, um mit ihnen zu feiern.56 Allerdings sahen sie 54 Abschrift des Schreibens von J. D. Hallenberg am 3. Mai 1864 an Rektor Schotte, Acta Anerkennung (wie Anm. 52), 95. – Hallenberg nimmt aus der Kanzelabkündigung Rocholls, mit der dieser der Gemeinde seine Amtsniederlegung mitgeteilt hatte, die Wendung „zum ersten male seit 300 Jahren ein auf die Union verpflichteter Geistlicher diese Kanzel betreten“ (a.a.O., 79) wörtlich in seiner Erklärung auf. – Ernst Wilhelm Paul Schotte (24. Februar 1834 in Wethen [heute Ortsteil von Diemelstadt] – 29. November 1914 in Marburg) war als Rocholls Nachfolger von 1861 bis 1873 Pfarrer von Sachsenberg. Mit Blick auf ihn erklärte Rocholl in der genannten Kanzelabkündigung: „Wenn mir ja auch die Person des Berufenen lieb und werth ist, so handelt es sich doch hier um das Recht dieser Kirche, um ihr Bekenntniß, und dieses wird durch die Verpflichtung auf die Union betroffen“ (ebd.). 55 Rocholl, Wege (wie Anm. 8), 415. 56 Mit einem Brief vom 30. April 1862 antwortet Hallenberg auf einen Brief Rocholls vom 3. desselben Monats, Acta Anerkennung (wie Anm. 52), 127–130). Rocholl predigte auf ausdrückliche Bitte aller Gemeindeglieder am 15. Oktober 1871 bei der Kirchweihe in Sachsenberg (Archiv [wie Anm. 52], Akte Zur Chronik der Parochie Corbach, Chronik der lutherischen Parochie und Gemeinden Corbach, Sachsenberg, Mehlen im Fürstenthum Waldeck, 31f; Kirchenblatt für die evangelisch-lutherischen Gemeinen in Preußen 1871, 259, 275f) und weihte

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sich selbst vor die schwere Aufgabe gestellt, in eigener Positionierung einen Weg zu finden, wie sie als Gemeindeglieder an der lutherischen Kirche festhalten konnten, der sie sich zugehörig fühlten, deren pastorale Betreuung sie sich nun jedoch in einem eigenständigen Orientierungsprozess erst neu erschließen mussten. Wie war es ihnen weiter möglich, in Treue zu ihrem Bekenntnis Zugang zu den Gnadenmitteln der Kirche zu finden? Hallenberg klagt in einem Brief an Rocholl: „Lieber Herr Pfarrer, hätten wir, wie die Lutheraner in Preußen, Baden und Nassau hatten, einen Geistlichen, der für uns kämpfte und unsere geistlichen Bedürfnisse befriedigte, wie gerne wollte ich stille sein, es kann aber keine Gemeinde lange ohne Seelenhirten bestehen, unsere Noth ist furchtbar groß.“57 Sie sahen sich als Laien gefordert, wollten sich aber in keiner Weise ein geistliches Amt anmaßen, das ihnen nicht zustand.58 Die Einführung der Union in Waldeck am 25. März 1821 war rein formal erfolgt. Die Lehrunterschiede hatte man als inzwischen erledigt angesehen, so dass nur eine Trennung „durch äußerliche Unterscheidungszeichen“ aufzuheben bleibe „durch Ausgleichung der rituellen Formen“, wofür besonders die Einführung der Doppelhostie

am 20. Juni 1886 die Kirche in Korbach ein (Chronik, 101; Kirchen-Blatt 1886, 243–248). 57 Brief von Johann Daniel Hallenberg vom 30. April 1862, Acta Anerkennung (wie Anm. 52), 127–130, dort 128. 58 „Blicken wir in die Ordnung Gottes, womit er in Seiner Kirche auf Erden herrscht, so finden wir dieselbe um desto deutlicher in den 14ten und 16ten Art. Augs. Conf. angegeben und geht daraus deutlich hervor, daß wir als Laien nur an den von Gott uns zugeordneten Beruf gehören, als der Schuster zu den Leisten und der Bauer an den Pflug pp. und uns nicht in geistliche Sachen zu mischen, viel weniger darüber zu kämpfen haben, ohne das wir hierzu von den uns verordneten Seelsorgern in Nothfällen aufgefordert werden, wir wollen uns auch nicht am Hirtenstabe vergreifen und wollten auch gern bei unserm Berufe bleiben, wenn nicht unsere schweren Tage, in welchen wir augenblicklich leben, uns dennoch dazu nöthigten, namentlich jenes Zirkularschreiben Fürstl. Consist. vom 10 Sept. d. J. an die Geistlichen unseres Landes, worinnen dieselben bedeutet werden, daß sie keine Amtshandlungen innerhalb der Union ohne Dimissorialen an den sich von ihren Geistlichen losgesagten Lutheranern der Gemeinden Corbach pp. zu verrichten“ (Schreiben an sechs Pastoren vom 30. November 1861, Acta Anerkennung [wie Anm. 52], 109–110).

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beim Abendmahl stand.59 Eine neue Kirchenordnung war nicht erlassen worden, so dass die alte lutherische von 1556 in ihrer zunächst 1636 und dann aufs Neue 1731 revidierten Fassung als weiter in Geltung angesehen werden konnte. So war es faktisch bei den alten Verpflichtungen auf das lutherische Bekenntnis und bei einer kirchlichen Praxis nach den lutherischen Ordnungen geblieben. Die Lutheraner reklamierten nun weiterhin die Möglichkeit, ihren lutherischen Gottesdienst und ihr lutherisch-kirchliches Leben im Rahmen des landeskirchlichen Organismus zu pflegen. Die waldeckischen Lutheraner hätten sich konsequenterweise mit einer geistlichen Versorgung durch Pfarrer zufrieden gegeben, die sich als betont lutherisch erklärten. Pastor Schädla in Netze (heute Ortsteil von Waldeck) hatte sich tatsächlich im Juli 1861 zunächst ausdrücklich bereit gefunden, ohne jede Bedingung diesen Dienst zu übernehmen.60 Deshalb erklärten die Lutheraner zunächst, „daß wir Glieder der seit 300 Jahren in unserem Vaterlande bestehenden und, ungeachtet des Unionserlasses von 1821, im Rechtsbestande gebliebenen lutherischen Kirche sind und somit die lutherische Gemeinde Sachsenberg bilden, und bleiben.“61 Eine entsprechende Erklärung gab auch die Korbacher Gruppe am 8. Juli 1861 ab. Unter dem 10. September wurden die Lutheraner in Korbach seitens des Konsistoriums jedoch belehrt; „dass sämmtliche Geistliche unseres Landes Diener der vereinigten evangelischen Landeskirche seyen.“62 Gleichzeitig erinnerte das Konsistorium, veranlasst durch die Korbacher Eingabe, in einem Zirkularschreiben an die sorgfältige Einhaltung der Parochialbindung, dass „Erlaubnißbescheinigungen der betreffenden Ortspfarrer unbedingt erforderlich sind, um kirchliche Hand-

59 Verfügung des Fürstl. Waldeck. Consistoriums, Arolsen am 23. Januar 1821, abgedruckt bei Wassmann, Waldeck, 227f. Weitere praktische Änderungen (Vater unser oder unser Vater; referierende oder direkte Form der Spendeworte beim Abendmahl) sind als Vorschläge formuliert, die auch abwechslungsweise geübt werden könnten. 60 Abschrift des Schreibens von 7. Juli 1861 an Hallenberg, Acta Anerkennung (wie Anm. 52), 99, mit ausdrücklichem Hinweis auf die Kontakte mit den Korbacher Lutheranern. 61 Schreiben von 32 Lutheranern in Sachsenberg vom 15. Juli 1861 an das Fürstlich Waldecksche Konsistorium (Archiv im Evangelischen Pfarramt Sachsenberg, Schatulle 2, Nr. 161). 62 Zitiert im Schreiben an die sechs Pastoren vom 30. November 1861.

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lungen bei Mitgliedern anderer Gemeinden verrichten zu dürfen“.63 Abendmahlsgänge zählten zu solchen Amtshandlungen. In einem Schreiben von 30. November 1861 baten die lutherischen Kreise nun gemeinsam die sechs Pastoren, die sich selbst noch als lutherisch bekannten, darum, jetzt klar und eindeutig Stellung zu beziehen.64 Dieses Schreiben wurde sowohl von fünf Sachsenbergern (mit Hallenbergs Unterschrift an erster Stelle) als auch fünf Korbachern (mit Eigenbrods Unterschrift an erster Stelle) unterzeichnet, zusätzlich von Heinrich Mohrhenne (5. Februar 1834 – 14. Juli 1893 in Waldeck) und Heinrich Christian Höhle (1823–1877) in Waldeck und Philipp Emde in Berich (dieser Ort wurde bei Anlegung des Edersees umgesiedelt, heute Neu-Berich als Stadtteil von Bad Arolsen).65 Die angesprochenen Pastoren erklärten, dass sie bei ihrer Berufung ausschließlich auf die lutherischen Bekenntnisschriften verpflichtet worden und damit Pastoren der lutherischen Kirche seien, und sahen sich „fortwährend in einem Kampfe, der noch nicht ausgekämpft ist, aber durchgekämpft werden muß, solange bis der Herr eine klare Entscheidung herbeiführen wird“; sie forderten nun aber für die Zulassung zum Abendmahl eine Einverständniserklärung des jeweiligen, wenn auch uniert ausgerichteten Ortspfarrers und warnten eindringlich vor einer Separation.66 Die lutherisch gesinnten Gemeindeglieder weigerten sich jedoch, sich irgendwie in die Zuständigkeit ihrer unierten Ortspfarrer einbinden zu lassen. Sie lehnten deshalb ab, sich von ihnen Erlaubnisscheine, sog. Dimissoriale, ausstellen zu lassen. Sie wandten sich am 3. Februar 1862 mit einer Bittschrift, die Hallenberg persönlich übergab, unmittelbar an den Fürsten, ohne Vorbedingungen bei solchen 63 Abschrift des Schreibens des Konsistoriums an Superintendent Steinmetz, Arolsen 10. September 1861, Acta Anerkennung (wie Anm. 52), 105. 64 Abschrift des Schreibens (a.a.O., 109–112). 65 Die drei Letztgenannten traten 1873/74 aus der Landeskirche aus, als es zur Bildung der lutherischen Gemeinde Bergheim kam. Mohrhenne wurde Kirchenvorsteher. 66 Abschrift des gemeinsamen Schreibens der Pastoren Georg Karl Ludwig Richard Heiner (10. Januar 1831 in Heringhausen – 24. Januar 1894 in PyrmontOesdorf) in Fürstenberg, Friedrich Philipp Albert Heiner (24. April 1779 in Oberwaroldern [heute Ortsteil von Twistetal] – 13. November 1863) in Nieder Ense, E. Lorentz in Heringhausen, W. Schädla in Netze, L Stallmann in Bergheim und C. Freybe in Niederwildungen vom 11. Januar 1862, Acta Anerkennung (wie Anm. 52), 113–120, Zitat dort 114.

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Pfarrern zum Abendmahl gehen zu dürfen, die noch ausschließlich auf das lutherische Bekenntnis verpflichtet waren.67 Doch dieses Gesuch blieb ohne Erfolg.68 In der Zwischenzeit hatten nur zwei Sachsenberger auf ihrem Sterbebette das Abendmahl von lutherischen Pfarrern mit Wissen und Einwilligung des Ortspastors gereicht bekommen, sonst hatte man auf Sakramentsgänge verzichtet. Carl August Ferdinand Dettmering (16. Januar 1822 in Rinteln – 23. Dezember 1893 in Marburg), Stadtpfarrer in Frankenberg (1859– 1874),69 der den Lutheranern im benachbarten Waldeck treu zur Seite stand und der selbst zur Trennung von der Waldeckischen Landeskirche und zum Anschluss an das hessische Ministerium riet70, schlug den in ihrer Not Ratlosen vor, über Rocholl Gutachten lutherischer Theologen einzuholen. Dies geschah dann. Aber die Gutachten, die zwei führende lutherische Theologen der damaligen Zeit erstellten, fielen so aus, dass sie die Position unterstützten, die auch die zuvor angesprochenen waldeckischen Pfarrer eingenommen hatten. Ludwig Adolf Petri (16. November 1803 in Lüthorst/Solling – 8. Januar 1873 in Hannover), Pfarrer an der Kreuzkirche in Hannover, erklärte, dass sie „meiner Meinung nach die Scheine ohne Sünde nehmen“ könnten, da sie dabei nicht mehr tun, „als was sie thun 67 Abschrift der Petition, (a.a.O., 121–123). – Über die persönliche Aushändigung des Schreibens an den Fürsten und sein Gespräch mit ihm berichtet Hallenberg in seinem Brief an Rocholl vom 30. April 1862, (a.a.O., 130). 68 A.a.O., 125. 69 Nach der Amtsentsetzung von Pastor Heinrich Schedtler (19. Oktober 1822 in Rauisch-Holzhausen – 11. April 1886 in Dreihausen [heute Ortsteil von Ebsdorfergrund]) 1874 und der Bildung der selbstständigen lutherischen Gemeinde in Dreihausen wurde Dettmering dort landeskirchlicher Pfarrer (1874– 1888) und wechselte dann als Oberpfarrer und Superintendent nach Marburg. 70 „Der Herr Pfarrer Dettmering meinte, wir könnten doch in dieser traurigen Enge nicht lange mehr bleiben und, da uns von Sr. Durchlaucht unserm Fürsten keine unserer Bitten gewährt wäre, so würden wir uns doch nun wohl von der Landeskirche trennen müssen und er glaube wir thäten wohl, wenn wir uns an das hessische Ministerium im kirchenrechtlichen Anschluß an Viermünden oder Frankenberg wendeten“ (wie Anm. 52), 128f. In Viermünden (heute ein Stadtteil von Frankenberg) war Carl Philipp Eduard Menche (gest. 1886 als Metropolitan in Frankenberg) Pastor, der sich der Sachsenberger Lutheraner ebenso annahm wie Dettmering und auch sein Vater Metropolitan Heinrich Gottlieb Menche (24. April 1799 in Kirchhain – 21. Juni 1884 in Müden/Hannover) in Röddenau.

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wenn sie ohne Schein bei einem Waldeckischen Pfarrer communicieren, denn der ist ja demselben Kirchenregiment unterstellt“. Petri vermerkt ausdrücklich, dass es sich dabei um einen durch die Verhältnisse diktierten Kompromiss handelt und nicht um „das absolute Recht der Kirche“, das einen Abendmahlsgang in einer ausländischen lutherischen Kirche, einen Abendmahlsverzicht oder die Bildung eines eigenen lutherischen Kirchenwesens fordern würde. Aber er sieht den Kampf um das lutherische Bekenntnis in Waldeck nicht als letztlich schon entschieden an.71 Theodor Kliefoth (18. Januar 1810 in Körchow – 26. Januar 1895 in Schwerin), damals Mitglied im Mecklenburgischen Oberkirchenrat in Schwerin, ab 1866 dessen Präsident, glaubte, „dass die Sachsenberger gutthun, sich der Separation zu enthalten, dem Ansinnen wegen der Dimiss. zu fügen, und bei den nicht in der Union gefangenen Geistlichen zu communicieren, aber unter Einlegung förmlichen Protestes“. Er meinte, „daß es hier einen Unterschied macht, ob man es freiwillig oder gezwungen thut“, und hielt den Protest für „ein richtiges und völlig ausreichendes Mittel“.72 Das Unbefriedigende der gutachtlichen Stellungnahmen liegt auf der Hand. Das Konsistorium hatte mit aller Deutlichkeit klar gemacht, dass es an der Unionsentscheidung festhalten wollte. Neue Ordinationen oder Einführungen von Pfarrern ohne Anerkennung der Union waren ausgeschlossen. Die Zahl der inländischen Pfarrer, die sich noch darauf berufen konnten, einzig und allein dem lutherischen Bekenntnis verpflichtet zu sein, ging zunehmend zurück, so dass die Gemeindeglieder nach deren Abwanderung in lutherische Landeskirchen, Pensionierung oder Tod ganz allein gelassen in der Union zurückgeblieben wären, wenn sie nicht selbst für ihr Luthertum eingetreten wären. Hilfreicher als diese Gutachten empfanden die waldeckischen Lutheraner einen Brief, den Gottlieb Christoph Adolph Harleß (21. November 1806 in Nürnberg – 5. September 1879 in München) noch als Professor in Leipzig73 1846 an einen Pfarrer der Preußischen 71 Abschrift des Votums von Dr. Petri, datiert vom 3. Februar 1862 (muss wohl 1863 heißen) ohne Empfängerangabe, Acta Anerkennung (wie Anm. 52), 131– 132. 72 Abschrift des Schreibens von Kliefoth, Schwerin, den 5. März 1863, (ebd., 133– 136, Zitat dort 135, 136). 73 Inzwischen war Harleß 1850 Vizepräsident des Landeskonsistoriums in Sachsen und 1852 Präsident des bayerischen Oberkonsistoriums geworden.

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Landeskirche geschrieben hatte und den Friedrich Wilhelm Paul Ludwig Feldner (11. Juni 1805 in Liegnitz – 12. Januar 1890 in Frankfurt) in Elberfeld (heute Stadtteil von Wuppertal) Anfang 1862 in dem von ihm herausgegebenen Lutherischen Kirchenboten aus den Rheinlanden erneut abdruckte.74 Harleß bezieht die Bekenntnisverpflichtung eines Pfarrer nicht nur auf diesen persönlich, sondern auch auf dessen Verantwortung seiner Gemeinde und Kirche gegenüber: „Er (sc. ein Pfarrer) kann sich nicht eher zufrieden geben, als bis der Gemeinde gewährleistet ist, daß keine äußere Gewalt ein Recht bekommt, sie in der Uebung ihres Bekenntnisses zu beeinträchtigen.“75 Er richtet den Blick besonders auf die Konsequenzen für die kirchliche Basis: „Die Kirche aber verlangt zu ihrem gesicherten Bestand Bekenntniß-Freiheit für alle Gemeinden in ihren zukünftigen Generationen.“76 Daraus folgt für Harleß die Notwendigkeit, aus einer verfassten Kirche auszutreten, wenn diese Gewährleistung nicht mehr gegeben ist: „Er muß bedenken, daß er, indem er in dem Verbande bleibt, an seinem Theile faktisch die Gemeinschaft gut heißt, statt durch Ausscheiden gegen die Rechtskränkung oder Rechtsverweigerung zu protestiren.“77 Der Protest wurde hier also weitergehender verstanden als in den vorher genannten Voten. Und diese auf das Verhalten eines lutherischen Pfarrers bezogenen Überlegungen ließen Folgerungen auch für das Verhalten von Gemeindegliedern zu. Die betont lutherischen Kreise weigerten sich konsequent, Dimissoriale einzuholen, weil „sie mit einem unirten Pfarramte Gottes und ihren Gewissens wegen in keinerlei Verbande stehen“78. Sie

74 Der Brief war 1847 im Kirchen-Blatt für die Gemeinen des evangelischlutherischen Bekenntnisses in den preußischen Staaten mit einer Nachschrift vom Kirchenrat Heinrich Wedemann (1808–1851) veröffentlicht worden. Feldner druckte ihn mit dieser Nachschrift in seinem Blatt ab unter der Überschrift: Ein Beitrag zur Unionsfrage (Lutherischer Kirchenbote aus den Rheinlanden 1862, 10–13, 29–31, 39–42). Hallenberg bezieht sich auf diese Stellungnahme in seinem Brief vom 30. April 1862 an Rocholl, Acta Anerkennung (wie Anm. 52), 129. 75 A.a.O., 10. 76 A.a.O., 11. 77 A.a.O., 12. 78 Schreiben von 47 Lutheranern vom 11. April 1864 an das Evangelische Pfarramt Sachsenberg (wie Anm. 61), Schatulle 2, Nr. 161.

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richteten weitere Petitionen an die Regierung.79 Doch das Konsistorium lehnte es ab, ihre Parochialbindung aufzuheben, forderte sie vielmehr auf, aus der Landeskirche auszutreten.80 Die Regierung bestätigte ausdrücklich, dass man in dieser Entscheidung keine Einschränkung der Religionsfreiheit erblicken könne.81 Eine lutherische Gemeinde bestehe nicht schon aufgrund herkömmlichen Rechts, wie die Lutheraner argumentierten, sondern könne von ihnen erst nach ihrem Austritt aus der Landeskirche neu gegründet werden. Eine Auspfarrung zur Bildung einer lutherischen Spezialgemeinde innerhalb der Landeskirche wurde ebenso abgelehnt wie die weitere Duldung von Amtshandlungen, die von ausländischen, d.h. hessischen, Pfarrern vorgenommen wurden. Während die Laien bereit waren, die Konsequenzen aus der gegebenen Situation zu ziehen, schreckten die inländischen lutherischen Pastoren davor zurück, den Weg in die Selbstständigkeit zu wagen und ein eigenständiges lutherisches Gemeindewesen aufzubauen. Sie begnügten sich mit der fadenscheinigen Hoffnung, mit weiteren Protesten und Eingaben doch noch die Möglichkeit eingeräumt zu bekommen, innerhalb der Landeskirche wenigstens eine lutherische Klasse bilden zu können. Schaedla stellte schon in einem Brief vom 7. Oktober 1861 folgende Fragen: „Würde man durch diesen Austritt nicht in noch schwierigere und drückende Verhältnisse kommen? Das Consistorium spricht von der Erfüllung nöthiger Bedingungen. Dazu gehören außer dem Geistlichen, die erforderlichen Lehrer, Schullocale, Betsäle, usw. – Werden auch alle, die sich jetzt zur luth. Kirche bekennen, im Stande sein, die großen Lasten, neben der Schmach und dem Hohn der Welt, mit Standhaftigkeit und Treue zu ertragen? Wird bei Keinem ein Rückfall zu fürchten sein, wird nicht hier oder dort Zwiespalt in der Ehe, Trennung unter den Familiengliedern zu fürchten sein?“82 Und der Sechserkreis bestätigte diese 79 Eingabe von 38 Sachsenberger Lutheranern vom 4. August 1862 Acta Anerkennung (wie Anm. 52), 139–146; Eingabe von 39 Sachsenberger Lutheranern vom 27. November 1862 (A.a.O., 149–151); Eingabe von 39 Sachsenberger Lutheranern vom 2. Februar 1863 (A.a.O., 153–154). 80 Abschrift des Schreibens des Fürstlich Waldeckischen Konsistoriums an Johann Daniel Hallenberg und Konsorten vom 27. November 1863 (A.a.O., 163f). 81 Abschrift des Schreibens der Fürstlich Waldeckischen Regierung, Arolsen 9. Februar 1864, (A.a.O., 169). 82 Abschrift eines Briefes von W. Schaedla an die Lutheraner zu Corbach, Sachsenberg & Waldeck vom 7. Oktober 1861, (A.a.O., 106).

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Bedenken: „Das Regiment wird sich wahrscheinlich veranlaßt sehen, vor der Bildung einer selbstständigen separierten luth. Gemeinde die Beschaffung einer erheblichen Caution zu verlangen. Es müßten dann die Mittel nachgewiesen werden zur Anschaffung eines zweckdienlichen Locals für den Gottesdienst, zur Unterhaltung eines Geistlichen und Lehrers und zu sonstigen Anlagen und Geräthschaften.“83 Erst der ausländische, aus Baden kommende Pfarrer Karl Eichhorn stellte sich der schwierigen Aufgabe, unter den sehr eingeschränkten Verhältnissen selbstständige Gemeinden zu betreuen. Er hatte dabei keinen leichten Stand. Die schwierige Gemengelage brachte tatsächlich manche, zum Teil auch tief greifende Spannungen mit sich.84 Schließlich hatten die Vorsteher mehrere Jahre eigenständig handeln müssen; die ökonomischen Rahmenbedingungen waren äußerst beengt; die Gemeinden waren überaltert; die Gemeindeglieder wollten nicht auch gesellschaftlich isoliert werden, nachdem sie kirchlich einen Sonderweg eingeschlagen hatten; wiederholt zerschlugen sich Hoffnungen auf eine größere Ausbreitung. Eine nicht unwesentliche Rolle bei dem Zögern, sich von der Landeskirche zu trennen, spielte ein waldeckisches Nationalbewusstsein, das sich auch auf den kirchlichen Bereich erstreckte. Deshalb fiel es schwer, die kirchliche Einheit aufzugeben, wenn sie innerlich auch bereits aufgelöst war. Das zeigt nicht zuletzt ein Brief, den Rocholl Ende des Jahrhunderts zum 25jährigen Kirchweihjubiläum an die lutherische Gemeinde in Sachsenberg richtete: In Christo geliebte Brüder! (…) In unserem Vaterland Waldeck ist, weil wir in unseren Vätern schliefen, die Kirche, welche (…) die Güter des Heils, Wort und Sacramente, in ihrer vollen und tiefen Bedeutung hoch emporhielt und anbetend trug, seit 1821 verschüttet, versandet. Uns den Wenigen hat Gott die Augen geöffnet, den Verlust zu erkennen, und neu zur Kirche unserer Väter zu sammeln. So wollen wir nicht aufhören, die hohe Ehre zu würdigen, daß wir dort, wo von der Diemel bis zur Eder die Fürsten des Landes und alles Volk im alten Glauben einig waren, noch Zeugen für diesen Glauben der Väter: Luthers, Nicolais, Arnds, Paul Gerhards sein dürfen. Seid denn auch, meine Brüder, lebendige Zeu83 Abschrift des Schreibens der sechs Pastoren vom 11. Januar 1862, (A.a.O., 118). 84 Einiges darüber erfährt man in der handgeschriebenen Chronik, die Eichhorn verfasst hat, die sich allerdings bisher nicht restlos entziffern ließ (wie Anm. 56).

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gen und Exempel, welche in Freude, Einigkeit und gottseligem Wandel beweisen, welches Stammes sie sind. Verharret in der Fürbitte für den Fürsten und das Land, welches Ihr bewohnet, und sorget fleißig auch und freundlich für der Stadt Bestes, deren Bürger Ihr seid. (…) Einst Euer Seelsorger, jetzt Euer Freund und Mitpilger Rocholl85

Diese doppelte Dimensionalität der Verwurzelung im irdischen Vaterland und der Ausrichtung auf das himmlische spricht Rocholl erneut in einem Brief an die Bergheimer Gemeinde zu ihrem 25jährigen Gemeindejubiläum an, indem er ihre Verbundenheit miteinander durch seine beiden Selbstbezeichnungen als „Landsmann“ und als „Mitpilger“ zum Ausdruck bringt.86 Man hoffte darauf, dass diese Einheit erhalten bleibe. Das Begrüßungsschreiben des Oberkirchenkollegiums dokumentiert diese Hoffnung noch immer: „Ob Viele Eurem Beispiel folgen werden, ob namentlich Eure gesammte Landeskirche die Union wieder ausstoßen und lutherisch werden wird, steht dahin. Nach unsern bisherigen Erfahrungen wagen wir kaum darauf zu hoffen.“87

Die Bildung selbstständiger lutherischer Gemeinden in Korbach und Sachsenberg Da die von Rocholl und anderen lutherischen Theologen angeratenen Wege sich als nicht zielführend erwiesen, suchte man Hilfe bei den selbstständigen Lutheranern in Preußen. Dass sich die entstehenden lutherischen Gemeinden um Unterstützung an Pastoren der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Preußen wandten, war nach den langen Kontakten dorthin nur selbstverständlich. Nach Ostern 1864, das in jenem Jahr auf den 27. März fiel, wandte man sich an Superintendent Feldner in Elberfeld. Dieser konnte nach intensivem Ringen bereits am 29. April in Sachsenberg die Austrittserklärung von 43 Lutheranern aus der unierten Kirche, der sie nie angehört zu haben meinten, vorlegen, die mit der Erklärung über die Bildung einer

85 Brief Rocholls aus Düsseldorf an die Gemeinde Sachsenberg vom 14. Oktober 1896 (ebd.). 86 Brief Rocholls aus Düsseldorf nach Mehlen vom 12. November 1898 (ebd.). 87 Zitat in: Kirchen-Blatt 1864, 159.

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„selbstständigen lutherischen Gemeine“ verbunden war.88 Entsprechendes geschah auch in Korbach. Man ließ sich also schließlich doch auf den Weg ein, den das Konsistorium und die Regierung gewiesen hatten, und zwar unter der klaren Perspektive, damit eine pastorale Versorgung durch die lutherische Kirche zu erreichen. Unmittelbar nach ihrer Trennung von der Landeskirche suchten beide Gemeinden sogleich, Korbach am 1. Mai 1864, Sachsenberg am 2. Mai 1864, den Anschluss an die Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen,89 den sie schon am 2. Juni desselben Jahres erreichten.90 So hielt man am angestammten Luthertum fest, indem man die Landeskirche verließ. Dies geschah in einer Zeit, als die Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen selbst eine schwere Krise durchlebte und sich ein Teil ihrer Pastoren und Gemeinden in einem leidenschaftlichen Ringen um die theologische Bedeutung eines kirchenleitenden Amtes von ihr löste und die evangelisch-lutherische Immanuelsynode bildete.91 Da wurde dieser unkomplizierte Zuwachs aufmerksam wahrgenommen. Der Bericht über die Aufnahme der beiden Gemeinden in Waldeck schließt denn auch mit einem Gotteslob: „Nun, lieben Leser, gelobet sei Gott und der Vater unsers Herrn Jesu Christi, der auch in dieser

88 „Wir unterzeichneten abendmahlsfähigen Mitglieder der Sachsenberger Kirchgemeine erklären hierdurch nach reifer Überlegung unsern Austritt aus der unirten Landeskirche unsers Vaterlandes, um uns zu einer selbständigen lutherischen Gemeine zusammenzuthun. Sachsenberg den 29. April 1864“, Schatulle 2 (wie Anm. 61,) 161. 89 Kirchen-Blatt 1864, 158f. 90 Lüder Wilkens, Festschrift 100 Jahre Evang.-Luth. Christuskirche Korbach 1886/1986, Korbach 1986, 21–23. 91 Seit 1856 war ein Streit über die Bedeutung des Kirchenregiments entbrannt und hatte sich immer mehr verschärft. Anfang 1861 trennte sich zunächst Pastor Franz Wilhelm Julius Diedrich (15. Juli 1819 in Stettin – 9. März 1890 in Straßburg) mit seiner Gemeinde Jabel von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Preußen und schließlich kam es am 21. Juli 1864 zur Bildung einer eigenen Freikirche, der Immanuelsynode, in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Aufnahme der waldeckischen Gemeinden also. – Vgl. Werner Klän, Die evangelischlutherische Immanuelsynode in Preußen (EHS Reihe 23, Bd. 234), Frankfurt am Main 1985.

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Zeit, da der Feind umhergeht zu zerstreuen und zu zerstören, nach seiner großen Barmherzigkeit und Gnade fortfährt zu sammeln und zu bauen. Amen.“92 Schon frühzeitig waren die lutherischen Laien gewarnt worden, „daß unter den Separirten Lutheranern in andern Ländern ein großer bedauerlicher Zwiespalt und Kampf ausgebrochen ist über Kirchenverfassung und Kirchenregiment“93, und waren deshalb gefragt worden: „Wohin wollten unsere Lutheraner sich wenden, welcher Seite sich anschließen, da zur Zeit ein einheitliches Kirchenregiment unter den ausgetretenen Lutheranern nicht zu finden ist?“94 Für die neu entstehenden Gemeinden in Sachsenberg und Korbach bestand da offenbar kein Klärungsbedarf, man kannte sich und fühlte sich kirchlich-theologisch verbunden. So erfolgte eine organisatorische Verbindung zwischen Waldeck und Preußen 1864 auf staatsfreier kirchlicher Ebene, noch bevor auf staatlicher Ebene durch den Akzessionsvertrag vom 18. Juli 1867 im Fürstentum die preußische Verwaltung eingeführt wurde. Nebelsieck rechnet wenigstens mit der Möglichkeit, dass ein Zusammenhang besteht zwischen den Zusammenkünften in Korbach 1840 und der späteren lutherischen Gemeindegründung: „Ob einzelne Mitglieder sich der später in Korbach gegründeten Gemeinde der altlutherischen Kirche angeschlossen haben, vermag ich nicht festzustellen. Möglich wäre es.“95 In einem späteren Aufsatz weist er darauf hin, dass der Führer der „neupietistischen Gemeinschaft“ auch bei der Bildung einer lutherischen Gemeinde „an der Spitze der Bewegung“ stand, und zwar als vermeintlich einziges Mitglied des früheren Kreises.96 Von den namentlich genannten Teilnehmern an dem – keineswegs „neupietistischen“ – Erbauungskreis, dem Tagelöhner Karl Georg Benn (15. April 1809 – 29. September 1861), dem Zehntsammler Johann Daniel Ludwig Rabanus (geb. am 28. November 1820), dem Leinweber Johann August Gramm (25. Februar 1809 – 19. September 1868), dem Drechslermeister Wilhelm Christoph 92 Kirchen-Blatt 1864, 159. – Vgl. auch die Bezugnahme auf die Ergebnisse der Generalsynode in dem Bericht von N. (= Pastor Johannes Nagel aus Radevormwald), Kirchen-Blatt 1864, Nr. 22 vom 15. November, 260–263, dort 262. 93 Schreiben der sechs Pastoren vom 11. Januar 1862 Acta Anerkennung (wie Anm. 52), 118. 94 Ebd. 95 Nebelsieck, Anfänge (wie Anm. 34), 31. 96 Nebelsieck, Union (wie Anm. 13), 269.

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Schmalz (22. Juni 1796 – 29. Juli 1876) und dem Schreinermeister Johann Friedrich Christian Wilhelm Trummel (3. April 1813 – 1857),97 die aber nicht die volle Zahl ausmachten, ergeben sich folgende Verbindungslinien zur späteren lutherischen Gemeindegründung: Im Vorfeld der Gemeindegründung unterschrieb neben Eigenbrod auch August Gramm den Brief an die sechs lutherischen Pastoren vom 30. November 1861.98 Wenn Gramm sich schließlich auch nicht von der Landeskirche trennte, so zeigt sein Eintreten für das Luthertum innerhalb der Landeskirche doch die gleiche Grundgesinnung. Das genannte Schreiben ist auch von Friedrich Wilhelm Trummel (11. März 1812 in Lengefeld [heute Ortsteil von Korbach] – 8. März 1887 in Korbach), Pedell auf dem Kreisamt, unterschrieben, einem Halbbruder des bereits verstorbenen Friedrich Trummel. Dieser trat zusammen mit seiner Frau Wilhelmine geb. Siebel (31. Mai 1808 – 22. Februar 1870 in Korbach) dann auch der Gemeinde bei99 und hat neben Eigenbrod die Urkunde zur Berufung des ersten Pastors Carl Eichhorn vom 13. Dezember 1866 unterschrieben.100 Auch von Friedrich Eigenbrod selbst gilt, dass ihm sein Bruder stets zur Seite stand, der Wachtmeister Heinrich August Carl Eigenbrod (7. Juni 1815 in Korbach – 11. April 1897 in Korbach).101 Offenbar selbstverständlich und unumstritten leitete Friedrich Eigenbrod die Gemeinde Korbach als Vorsteher, bis ein Pastor seinen Dienst antrat und am 26. Mai 1867 eine Gemeindeversammlung zwei Vorsteher zusätzlich wählte, nämlich Christian Friedrich Wille (25. Dezember 1808 – 28. Dezember 1876 in Lelbach) in Lelbach und Carl Pieper (gest. am 13. 97 Nebelsieck, Anfänge (wie Anm. 34), 27, – Für die Ermittlung der Personaldaten danke ich Herrn Walter Ise vom Stadtarchiv in Korbach. Trummel verheiratete sich 1840 mit Marie Siebel. Vgl. auch Wilhelm Hellwig, 200 Jahre Familie Trummel in Korbach, Mein Waldeck (Beilage zur Waldeckischen Landeszeitung) 1961, 24. 98 Abschrift des Schreibens Acta Anerkennung (wie Anm. 52), 112. 99 Verzeichnis der Ausgetretenen vom 24. Januar 1865 (wie Anm. 53, Acta die Aufnahme in unsere Kirche betr.). – Möglicherweise handelt es sich bei Wilhelmine Trummel geb. Siebel um eine Schwester von Marie Trummel geb. Siebel. 100 Wilkens, Festschrift (wie Anm. 90), 27–34. – Er kandidierte bei der ersten Vorsteherwahl am 26. Mai 1867, unterlag aber bei der Abstimmung gegenüber Carl Pieper (Protokoll der Wahlversammlung im wie Anm. 52, unbezeichnete Mappe). 101 Seine Unterschrift findet sich unter dem Schreiben an die sechs Pastoren vom 30. November 1861 (wie Anm. 58).

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Mai 1892 in Korbach [Kirchenbucheintrag ohne Altersangabe]) in Korbach, und so ein vierköpfiges Kirchenkollegium bildete.102 Diejenigen, die sich zum Austritt aus der Landeskirche entschlossen hatten, wurden von den weiter in der Landeskirche verbleibenden Lutheranern unterstützt.103 Erst die Einführung der Synodalordnung von 1873 machte alle Hoffnungen auf eine Rückkehr zur lutherischen Tradition auf ganzer Breite der Landeskirche zunichte104 und führte zur Bildung der Gemeinde im Edertal mit ihrem Zentrum in Bergheim. Diese Ordnung bestimmte in ihrem ersten Paragraphen: „Die vereinigte evangelische Kirche der Fürstentümer Waldeck und Pyrmont bildet einen Teil der evangelischen Gesamtkirche Deutschlands, steht daher auf dem Grunde der heiligen Schrift und bleibt in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Reformation, wie dieselben in deren Bekenntnissen, namentlich der Augsburgischen Konfession enthalten sind.“105

Konsolidierung der selbstständigen lutherischen Gemeinden Die landeskirchlichen Leitungsorgane erschwerten den Lutheranern ihre selbstständige kirchliche Existenz. Die bereits Ausgetretenen mussten am 23. Januar 1865 in Sachsenberg und am 24. Januar in Korbach ihren Entschluss erneut bestätigen und im Bürgermeisteramt zu Protokoll geben.106 Anträge auf Mitbenutzung von Kirchen in Korbach und Lelbach wurden abschlägig beschieden;107 lieber ließ 102 Protokoll der Wahlversammlung (a.a.O.). 103 Darauf wird immer wieder hingewiesen: Johannes Nagel, Aus Waldeck, KirchenBlatt 1864, 175–179, dort 177; Kirchen-Blatt 1864, 262f. – Zu den Problemen, die sich aufgrund dieser engen Zusammenarbeit ergaben, vgl. Stolle, Vereinstätigkeit (wie Anm. 2). 104 Auch an anderen Orten gab es Bestrebungen, innerhalb der Landeskirche lutherische Gemeinden zu etablieren. In einer Eingabe vom 17. April 1864 mit 140 Unterschriften bat eine Gruppe in Nieder-Ense (heute Stadtteil von Korbach) das Konsistorium um einen lutherischen Pastor und den Mitgebrauch der Kirche neben der unierten Gemeinde (Abschrift in wie Anm. 99). 105 Nebelsieck, Union (wie Anm. 13), 270. 106 Dokumentation als Beilagen zu einem Schreiben von Superintendent J. Brandt in Korbach an Pastor Eichhorn vom 19. Juni 1867 (wie Anm. 99). 107 Antrag von Friedrich Eigenbrod im Auftrag der lutherischen Gemeinde vom 30. Januar 1866 an den Kirchenvorstand der evangelischen Gemeinde in Korbach mit Antwort vom 24. Februar 1866; Antrag an den Kirchenvorstand in Lelbach

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man eine Kirche sonntags leer stehen. Dagegen war es „dem herrschenden liberalen Geiste in den Regierungskreisen zu verdanken, daß der kleinen lutherischen Gemeinde sofort eine früh unangefochtene Existenz bewilligt wurde, die bei den Schwestergemeinden in Preußen, Baden und Nassau unter sehr schweren und heißen Kämpfen zu Stande kam.“108 Von beiden Gemeinden gemeinsam war eine Petition an die in Arolsen versammelten Landstände gerichtet worden. Unter dem 26. März 1866 wurde eine Konzessionsurkunde ausgefertigt und am 10. April im Staats- und Regierungsblatt109 veröffentlicht, mit der beiden Gemeinden vollständige Korporationsrechte verliehen wurden.110 Das „Verzeichniß derjenigen Einwohner in Corbach und Umgegend und in Sachsenberg, welche auf den 23ten und 24ten Januar 1865 … diesen Austritt zu Protokoll erklärt haben“, d.h. auf Aufforderung des Konsistoriums ihren Austritt zum erneuten Mal bestätigt haben, weist für Korbach und die umliegenden Dörfer 32 Personen aus, darunter auch den Sachsenberger Ludwig Valentin, der bei Friedrich Eigenbrod in der Lehre war, für Lelbach (heute Stadtteil von Korbach) speziell weitere 20 Personen, und für Sachsenberg 42 Personen.111 In den folgenden Jahren ist ein langsames Wachstum zu verzeichnen. Die Statistik für 1868 gibt für die Gemeinde Korbach mit Predigtort Lelbach 82 Kirchglieder und für die Gemeinde Sachsenberg mit Predigtort Altenlotheim (heute Stadtteil von Frankenau) 127 Kirchglieder an.112 vom 8. Februar 1866; Antrag an das Fürstliche Konsistorium vom 13. März 1866 mit Antwort vom 28. März 1866 (wie Anm. 52, Acta Verhältnis zum Staat). 108 Chronik (wie Anm. 56), 4. 109 Fürstlich-Waldeckisches Regierungsblatt Bd. 56 (1866), 31, 33. – Entsprechend wurden der Gemeinde Bergheim am 23. Februar 1885 die Korporationsrechte erteilt. 110 Sie blieb auch nach der Eingliederung Waldecks in Preußen in Geltung (Bestätigung der Anerkennung durch Schreiben des Preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung in Berlin an das Oberkirchenkollegium in Breslau vom 9. Januar 1933). 111 Acta Aufnahme (wie Anm. 99). Ähnliche Zahlenangaben bei Nebelsieck, Union (wie Anm. 13), 269. 112 Die Beschlüsse der im September 1868 gehaltenen General-Synode der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen, Baden und Waldeck, Breslau 1869, 454. – Die lutherische Gruppe in Altenlotheim, das zum Großherzogtum Hessen gehör-

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Nachdem man drei Jahre ohne geregeltes Pfarramt durchgehalten hatte, waren nun die seelsorgliche Betreuung und die Versorgung mit Wort und Sakrament endlich gewährleistet. Allerdings mussten die Gemeinden noch drei weitere Jahre ohne eigenen Pfarrer auskommen und wurden aus der Ferne vertretungsweise bedient. In der Regel wurden Lesegottesdienste gehalten. Alle sechs bis acht Wochen kamen abwechselnd die Pastoren der Diözese zur kirchlichen Vorsorgung, neben Superintendent Feldner die Pastoren Johannes Nagel (19. Februar 1839 in Stargard – 11. September 1895 in Lerchenberg) aus Radevormwald, Carl Heinrich Müller (6. September 1835 in Bechtheim [heute Ortsteil von Hünstetten] – 18. September 1870 in Bechtheim) aus Gemünden (Westerwald), Karl Friedrich Wilhelm Gustav Brauner (13. September 1837 in Hirschberg – 6. Februar 1923 in Nakel) aus Rödinghausen und Johannes Paul Benjamin Berger (7. März 1834 in Hermannsdorf bei Breslau – 11. Februar 1897 in Seefeld) aus Köln. Etwas leichter stellte sich die Situation für die Gemeinde in Sachsenberg dar. Sie konnte zusätzlich die Gottesdienste im benachbarten kurhessischen Frankenberg/Eder besuchen, das zum lutherischen Oberhessen gehörte; der dortige Stadtpfarrer Dettmering nahm weiterhin Amtshandlungen für die Sachsenberger Lutheraner vor.113 Die Gottesdienste wurden in Korbach in einem ehemaligen Wagenschuppen, der zum Betsaal hergerichtet war, gehalten. Am 14. Dezember 1866 wurde Karl Eichhorn114 als Pastor te, hatte 1869 vorübergehend Anschluss an die waldeckischen Gemeinden gesucht, trennte sich aber bereits 1872 wieder von ihnen und kehrte in die Landeskirche zurück (Chronik [wie Anm. 56], 18f, 34–36). 113 Die lutherische Bewegung in Hessen, zumal im lutherischen Oberhessen, trat – abgesehen von den Lutheranern in Altenlotheim – erst später in Opposition zur Landeskirche. Nach der Bildung eines Gesamtkonsistoriums 1868 im Kurfürstentum Hessen-Kassel führten die Auseinandersetzungen 1873 zur Amtsenthebung bekenntnisbewusster Pastoren und zur Bildung der Renitenten Kirche ungeänderter Augsburger Konfession. In Oberhessen führte die Amtsentsetzung vom Pastor Heinrich Schedtler zur Bildung der Gemeinde Dreihausen/Roßberg und Warzenbach. Die zur gleichen Zeit entstehenden Gemeinden Treisbach, Grünberg und Kassel schlossen sich der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Preußen an. In dieser Zeit bildete sich auch im Großherzogtum HessenDarmstadt eine selbstständige lutherische Kirche. Vgl. da Silva, in: Lutherisch (wie Anm. 31), 37–45. 114 Zu seiner vorherigen Wirksamkeit in Baden vgl. Frank Martin Brunn, Union oder Separation. Eine Untersuchung über die historischen, ekklesiologischen

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beider Gemeinden mit Wohnsitz in Korbach berufen115 und am 28. April 1867 in Korbach und am folgenden Tag in Sachsenberg durch Superintendent Feldner eingeführt.116 Die Gemeinde Sachsenberg beschloss bereits Anfang 1867 den Bau einer eigenen Kirche; diese wurde am 15. Oktober 1871 eingeweiht.117 Ein Haus in Korbach, das als Pfarrhaus dienen sollte, konnte erst 1883 erworben werden (Neubau 1961). Der Grundstein zu einer kleinen Kirche wurde in Korbach 1885 gelegt; am 20. Juni 1886 konnte dann Kirchweih gehalten werden.118 Wieder gingen die Laien voran; an der Gemeindebasis war man den Theologen einen deutlichen Schritt voraus. Einige waldeckische Theologen folgten ihnen in den nächsten Jahren auf dem Weg in die selbstständige lutherische Kirche. Bereits erwähnt war, dass Freybe am 15. Februar 1873 aus der Landeskirche austrat und sich der lutherischen Gemeinde im Edertal anschloss, 1874 nach Pyrmont umzog und dort 1876 eine lutherische Gemeinde gründete, die sich in die Evangelisch-Lutherischen Kirche in Preußen eingliederte. Rocholl hatte Gemeindeglieder verlassen, die sich bereits fest entschlossen hatten, der lutherischen Kirche die Treue zu halten. Später gestand er ein: „Aber ein Fehler war’s allerdings, daß Erzähler das Land verließ. Er hatte sich der lutherischen Kirche in Preußen anzuschließen, und von dieser für diejenigen seiner Gemeinde sich bestellen zu lassen, welche ihm aus der unierten Kirche folgen wollten. Es war Furcht und rechtlichen Aspekte der lutherischen Separation in Baden in der Mitte des 19. Jahrhunderts (VVKGB 64), Karlsruhe 2006, besonders 37–44, 69–117, 166– 172, 214–217. 115 Berufungsurkunde abgebildet und abgedruckt bei Wilkens, Festschrift (wie Anm. 90), 30–34. 116 Carl Eichhorn, Aus dem Fürstenthum Waldeck, Kirchen-Blatt für die evangelisch-lutherischen Gemeinen in Preußen, 1867, 137–142. 117 Kirchen-Blatt für die evangelisch-lutherischen Gemeinen in Preußen, 1871, 257–262, 274–277. Vgl. Auferstehungsgemeinde Sachsenberg. 130-jähriges Kirchweihjubiläum. Festschrift (2001). – Die Grundsteinlegung war am 2. Mai vorgenommen worden. Eichhorn hatte in mehreren kirchlichen Blättern um Unterstützung geworben (z. B. Hessisches Kirchenblatt 15 [1868], 29f [Nr. 7 vom 15. Februar]) und dadurch die Hauptsumme der Kosten zusammengebracht. 118 Carl Eichhorn, Kircheinweihung in Corbach, Kirchen-Blatt für die Gemeinden des ev.-luth. Bekenntnisses in Preußen 1886, 213–214, 243–248. Vgl. Jochen Bergmann (Hg.), Christusgemeinde Korbach. 125-jähriges Kirchweihjubiläum am 21. August 2011. Festschrift.

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vor der Enge der Freikirche, es war also doch Kreuzesscheu, welche vermochte, ins Ausland zu gehen.“119 Rocholl selbst schloss sich, nachdem er 1861 zunächst in die lutherische Landeskirche von Hannover gewechselt war, seinerseits 1878 ebenfalls der EvangelischLutherischen Kirche in Preußen an, der seine frühere Gemeinde bereits 14 Jahre lang angehörte. Auch die Brüder Karl (23. September 1835 in Arolsen – 26. Januar 1916 in Bergen an der Dumme) und Conrad (24. April 1837 in Arolsen – 26. März 1917 in Lüneburg) Dreves sind zu nennen.120 Auch sie hatten Waldeck aus konfessionellen Gründen verlassen und waren 1862 in die Landeskirche von Hannover gegangen,121 waren aber in Kontakt geblieben mit den Lutheranern in ihrem Heimatland.122 Und sie schlossen sich dann der Hannoverschen evangelisch-lutherischen Freikirche an, als diese sich 1878 bildete; diese stand in enger Verbindung zu den preußischen Lutheranern.

119 Rocholl, Wege (wie Anm. 8), 241. – Anders war die Haltung von Johann Gottfried Scheibel (1783–1843), der bei seinem Eintreten für die lutherische Kirche darauf vertraute, dass aufgrund seiner pastoralen Tätigkeit eine Gemeinde hinter ihm stehe, der er verpflichtet sei (vgl. meinen Beitrag in LuThK 2014). 120 Ihre Eltern waren der Finanzrat August Dreves (21. September 1797 in Laubach – 16. Mai 1866 in Arolsen) und Wilhelmine geb. Steinmetz in Arolsen/Waldeck; sie waren jüngere Vettern von Rudolf Rocholl. 121 Karl Dreves war seit 1868 Pastor in Kirchgellersen und wechselte 1875 nach Wriedel, 1878 wurde er suspendiert. Conrad Dreves war zunächst Lehrer am Missionsseminar in Hermannsburg, wurde dann 1969 Pfarrer an der Gartenkirche Hannover und wechselte 1875 in den Missionsdienst. 122 Conrad Dreves nahm am 15. Juli 1868 am Missionsfest der Korbacher Gemeinde teil, das in Lelbach stattfand (vgl. Stolle, Vereinstätigkeit [wie Anm. 2], 455– 457).

BUCHSCHAU Johannes Hund, Das Wort ward Fleisch. Eine systematisch-theologische Untersuchung zur Debatte um die Wittenberger Christologie und Abendmahlslehre in den Jahren 1567 bis 1574 (FSÖTH 114), Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2006, 745 S. – ISBN 978–3–525–56344–1, 34,99 €. Dieses Erstlingswerk, eine von Notger Slenczka und Irene Dingel begleitete Dissertation an der Johannes-Gutenberg-Universität zu Mainz, zeichnet sich durch vielfältigen Ertrag aus. Zum einen erschließt der Verfasser in großem Umfang bisher wenig beachtetes oder schwer zugängliches Quellenmaterial aus der kritischen Phase der Wittenberger Theologie bis zum Sturz des Kryptophilippismus in Kursachsen; hier liegt der nicht zu unterschätzende Gewinn dieser Untersuchung in kirchen- und theologiegeschichtlicher Hinsicht. Sodann leistet Johannes Hund eine gründliche, ja akribische Analyse der Positionen aller in die Auseinandersetzungen um Christologie und Abendmahl einbezogenen Theologen, sei es im engeren Wittenberger Kreis der Fakultät jener Jahre und ihr nahestehender Autoren, sei es im weiteren Kreis der zweiten Generation von Schülern Luthers und Melanchthons. Hier liegt der wesentliche systematisch-theologische Ertrag dieser Doktorarbeit in der Profilierung einer „konsequent philippistischen“ Theologiekonzepts im Unterschied zu calvinistischen Zugangsweisen zum christologisch-sakramentstheologischen Komplex, aber auch in der Differenzierung von „Braunschweiger und Tübinger christologisch-abendmahlstheologischen Positionen“ (42f.). Es ist verdienstvoll, dass Hund seiner eigentlichen Themenbearbeitung die Voraussetzungen der späteren Auseinandersetzungen in einer Skizze der Konzeptionen Luthers und Melanchthons wie auch der Spannungen zwischen Württembergischer und Wittenberger Theologie voranschickt (Teil II, 97–111). Hier wird im Detail erkennbar, wie sich Melanchthon in der Entwicklung seiner Aussagen von Luther entfernt, und wie wenig Verständigungsmöglichkeiten es „[z]wischen dem klassischphilippistischen Konzept und der Württemberger Position“, für die Johannes Brenz mit seinen Schülern stehen mag, a limine gab. Die frühzeitig gegebenen Spannungen erwiesen sich in der Folge als Grunddifferenzen, die nicht mehr überbrückbar schienen. Die entscheidende Frage wird sein, „ob von einer Neubestimmung Gottes in der Person Jesu Christi zu reden ist, durch die es zur vollen Gemeinschaft des Menschen Jesus von Nazareth mit Gott kommt, in der sich dessen Gottheit und Menschheit nicht mehr äußerlich bleiben und die zu einer Neubestimmung Gottes und den Menschen führt“ (111). Notwendig ins einzelne gehend untersucht Hund die „Wittenberger Streitigkeiten um den Jahreswechsel 1567/68“ (113–136), den „Zerbster Konvent und die Wittenberger Promotionsdisputation (137–207), den „Wittenberger Katechismus“ (209–221)

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und seine Folgen (223–297), sowie die „Reaktionen aus Kursachsen (299–310). Einen Schwerpunkt bildet die Untersuchung der Auseinandersetzungen um die „,Grundfest‘. Das christologische Manifest der Wittenberger Theologen“ (311–392) dazu die „Wittenberger Fragstück“ (393–422) und die Behandlung des „Consensus Dresdensis“ (423–447), sowie die Debatte darum (449–483). Sodann stellt Hund das „späte Eingreifen der Württemberger Theologen in die Debatte“ dar (485–540) und schildert den „weiter[n] Verlauf der Ereignisse bis zum Erscheinen der Exegesis perspicua“ (541–564) und diese selbst (565–594), um schließlich zur Darstellung des „harte[n] Durchgreifen[s] des Kurfürsten“ (595–629) und des „Ende[s] des konsequenten Philippismus in Kursachsen“ zu gelangen (630–668). Im letzten Teil nimmt Hund eine „Systematisch-theologische Auswertung der Debatte um die Wittenberger Christologie und Abendmahlslehre“ vor (669–704). Ein ausführliches Verzeichnis von Primärliteratur, das aufgrund der erstmals in diesem Umfang ausgewerteten Quellen von besonderem Wert ist (705–721), und der Sekundärliteratur (722–729), Abkürzungsverzeichnis (730) sowie Personen- und Sachregister (731–736; 737–744) erschließen dem Leser in wünschenswerter Weise Zugänge zu diesem Band. Die systematisch-theologisch Auswertung ergibt zunächst, dass die drei involvierten Positionen unterschiedliche erkenntnisleitende Interessen verfolgten: Während die junge Generation der Wittenberger Fakultät um den Erhalt der altkirchlichen Dogmen zu Trinität und Christologie gegen die zeitgenössischen Antitrinitarier besorgt ist, richtet sich die Württemberger Haltung gegen den wachsenden Einfluss der calvinistischen Deutungen des Abendmahls; der Braunschweiger Ansatz sieht sich in einer vermittelnden Position. Die jeweils bevorzugten Optionen verhinderten fast zwangsläufig ein Verstehen der je anderen: So erscheint aus Wittenberger Sicht das Württembergische, aber auch das Braunschweigische Konzept „als Vorstufen einer antitrintarischen Überfremdung“; hingegen mutet aus Sicht der Württemberger die Wittenbergische Konzeption nahezu calvini(sti)sch an. (670f.) Die jüngere, „konsquent-philippistische“ Wittenberger Generation kann folglich eine leibliche Präsenz Christi im Altarsakrament nicht mehr aussagen, demnach auch keine manducatio oralis bzw. impiorum mehr annehmen (673). Freilich ist diese Position nicht identisch mit derjenigen Calvins. Insofern verdient der Vorschlag Hunds Beachtung, den geläufigen Terminus „Kryptocalcinismus“, der auf die zeitgenössischen Gegner der Wittenberger Theologie im späten 16. Jahrhundert zurückgeht, durch den Begriff „Kryptophilippismus“ zu ersetzen (674–694). Calvin lehnt jede communicatio idiomatum realis lutherischer Prägung rundheraus ab (677), weil sein Interesse der „Wahrung der vollen und in ihren Eigenschaften unverletzten Menschheit Christi“ gilt (679). Die jüngeren Wittenberger operieren dagegen mit ontologischen Überlegungen zur suppositalen Union der beiden Naturen in Christus, die sie aus Melanchthons später Christologie übernommen bzw. entlehnt haben. Bei aller Verwechselbarkeit im Ergebnis ist doch „keine traditionsgeschichtliche Abhängigkeit des konsequent-philippistischen Ansatzes von calvinistischen Vorstellungen“ nach-

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weisbar (682). Auch die Ähnlichkeiten in der Annahme einer passivischen Übersetzung von Act 3,21 (Christus …, den der Himmel aufnehmen musste“, statt, wie bei Selnecker: „der den Himmel einnehmen musste“) bei Calvin und Christoph Pezel belegen eine solche Abhängigkeit noch nicht wirklich, wiewohl sie eine letzte Folgerung aus Melanchthons christologischen Erwägungen zieht (683f.). Auch in den Überlegungen zur Gegenwart von Leib und Blut Christi finden sich nach Hund der konsequent-philippistischen Lesart verwandte Motive; doch arbeitet letztere keineswegs mit der Kategorie der Spiritualpräsenz, wie sie für Calvin charakteristisch ist; dieser wiederum kennt die „spezifisch melanchthonische Rede von einer Gegenwart des Leibes und Blutes Christi cum pane et vino“ nicht (691f.). Insofern ist die Schlussfolgerung zustimmungsfähig: „Der konsequente Philippismus Kursachsens stellt demnach eine genetisch wohl weitestgehend autonome theologische Position des vorkonfessionellen Zeitalters dar“ (693). Im Unterschied und Gegensatz dazu profiliert sich die Württemberger Christologie in der Annahme, dass die „Person Christi […] definiert und konstituiert [sc. ist] durch einen Vorgang realer Mitteilung der göttlichen Person an die menschliche Natur, die gleichwohl anhypostatisch bleibt; diese Verbindung ist ein einmaliger Vorgang “ (695f.); hier liegen jedoch die Grenzen der Plausibilisierbarkeit der Württembergischen Grundannahmen. Beim „Braunschweiger Vermittlungsansatz“ wird die communicatrio idiomatum realis als „Geschehenszusammenhang“ (Mahlmann) begriffen; die Realpräsenz von Leib und Blut Christi im Sakrament des Altars sind begründet in dem schöpferischallmächtigen Wort Christi, dass auch Realitäten setzt, die „voreschatologisch“ von menschlicher Einsicht nicht erfasst werden kann (701). Hund weist darauf hin, dass zu den beschriebenen Verständnis- und Verständigungsproblemen noch „die unterschiedlichen soteriologischen Konzepte“ hinzukommen. Dabei stellt er fest, dass für die Wittenberger „die wahre und unverfälschte Menschheit Christi […] das Unterpfand der menschlichen Erlösung“ darstellte. „Für die Braunschweiger und Tübinger Theologen hingegen war die verlässliche Bindung des unbegreiflichen und unfassbaren Gottes an die menschliche Natur Christi das soteriologisch entscheidende Motiv“ (703). Dieses Ergebnis könnte freilich dazu anleiten, der geschilderten Debatte mehr als nur „theologiegeschichtliche“ Relevanz (703) zuzuschreiben, wie Hund denn auch tut, wenn er schließt, dass eine ökumenisch verantwortete Neubesinnung auf den biblischen Befund in die „philosophiegeschichtlichen Herausforderungen der Gegenwart“ womöglich neues, gemeinsames Verständnis der Person Christ und der eucharistischen Gabe ermöglichen könne. Diese Arbeit setzt für die Aufarbeitung von Geschichte und Theologie der Spätreformation höchste historiographische, quellenkundliche und systematisch-theologische Standards. Sie dürfte für den von ihr umgriffenen Bereich auf Jahre hinaus das Standardwerk bleiben. Dies gilt auch dann, wenn, nicht zuletzt durch den Fort-

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gang der Forschung weitere dringend benötigte Teilergebnisse aus der kirchenhistorischen und systematisch-theologischen Befassung mit der Zeit nach dem Ableben der ersten Generation reformatorischer Theologen zutage gefördert werden. Werner Klän, Oberursel

Christian Grethlein, Was gilt in der Kirche? Perikopenrevision als Beitrag zur Kirchenreform (Forum Theologische Literaturzeitung 27), Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2013, 197 S. – ISBN 978–3–374–03145–0, 18,80 €. Wenn sich Christian Grethlein zu einem Reformvorhaben zu Wort meldet, lohnt es sich hinzuhören, ist er doch einer derjenigen Praktischen Theologen der Gegenwart, die in ihren Publikationen das Fach in seiner ganzen Breite bearbeitet haben. Sein Buch „Praktische Theologie“ aus dem Jahr 2012 ist dafür nur ein Beispiel. Entsprechend meldet sich der Vf. in seinem Beitrag zur Perikopenrevision auch nicht nur zu diesem oder jenem Teilaspekt des genannten Reformvorhabens zu Wort, sondern fragt, wie Titel und Untertitel schon verraten, nach dem Großen und Ganzen: „Was gilt in der Kirche?“ ist die Leitfrage, die gleichzeitig eine „Kirchenreform“ in den Blick nimmt. So geht es auch und vor allem um die neu angestoßene Perikopenrevision im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), aber eben doch um mehr. In sechs Kapiteln behandelt der Vf. die Thematik: Im ersten Kapitel präludiert er mit Blick auf die Begriffe „Bibel“ und „Schrift“ wesentliche Gedankengänge des Folgenden, indem empirische Beobachtungen zur Interpretationsbedürftigkeit der Bibel angeführt werden, die Größe „Bibel“ so als „Konstruktion“ (23) und „Produkt eines […] Interpretationsprozesses“ (27) gefasst wird und auch die Funktion außerbiblischer Lesungen in den Blick gerät. In einem zweiten Kapitel schaut der Vf. auf die Entstehung von Perikopenordnungen zurück. Deutlich wird dabei, dass der Vf. einen Zusammenhang zwischen autoritativen bzw. obrigkeitlichen Strukturen und der Etablierung von Perikopenordnungen entdeckt, den es zu überwinden gelte. Im umfangreichsten dritten Kapitel stellt der Vf. die gesellschaftlichen und kirchlichen Veränderungen dar, die sich seit der Etablierung des heute (mit Modifizierungen) gültigen Perikopensystems ergeben haben. Veränderungen in der Teilnahme und -habe am kirchlichen Leben, gesellschaftliche Umwälzungen (z.B. Zunahme der Sonntagsarbeit und gesellschaftliche Abkehr von biblischen Normvorgaben z.B. beim Thema Ehescheidung), kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen (u.a. Entstehung von Berufsfeldern, die sich von denen der Bibel unterscheiden, neue Zeitwahrnehmung, Inklusion als eine wesentliche Perspektive im Bereich der Pädagogik) seien hier nur in aller Kürze und z.T. stellvertretend genannt. Die scharfsinni-

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ge Analyse des Vf. zeigt dabei weit über die Perikopenrevision hinaus Herausforderungen für die Kirche in der Gegenwart auf und ist auch jenseits der Auseinandersetzung mit dem Spezialthema „Perikopenrevision“ lesenswert. Zentral für die Überlegungen des Vf. ist innerhalb des dritten Kapitels der Unterteil „Theologie“. Hier nimmt er die insbesondere mit Ernst Lange verbundene Akzentverschiebung „Von Verkündigung zu Kommunikation des Evangeliums“ (119) auf. Das bedeutet für ihn konkret: „Demnach ist nicht mehr die direkte Weitergabe von Feststehendem das Ziel, wie der – aus heutiger Sicht kommunikationstheoretisch unterbestimmte – Verkündigungsbegriff implizierte, sondern die Initiierung von ergebnisoffenen Verständigungsprozessen. Die biblischen Texte spielen dabei für Christen ein grundlegende, aber keine exklusive Rolle. Vielmehr geht es darum, sie für die konkrete Situation zu erschließen, und diese so in einem neuen Licht erscheinen zu lassen.“ (120 – Hervorhebung im Original). So sieht sich der Vf. in der heutigen Situation vor die Aufgabe gestellt, bei einer Revision der Perikopenordnung nicht bloß über den Austausch einzelner Texte nachzudenken, sondern das Thema angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen in den letzten gut 100 Jahren noch einmal grundsätzlich zu bedenken. Im vierten Kapitel beschreibt der Vf. Phänomene rund um die „Die Bibel im Gottesdienst“ auf und zeigt dabei nicht zuletzt auf, dass biblische Texte auch über die Lesungen hinaus in vielfacher Weise im Gottesdienst präsent sind und so jenseits aller Perikopenordnung eine Art Grundordnung herstellen, die ggf. auch eine größere Flexibilität bei der Auswahl der Perikopen ermöglicht. In einem fünften Kapitel wendet sich der Vf. dann konkret den „Lesungen im Gottesdienst“ zu. Deutlich erkennbar wird dabei, wie sehr der Vf. dabei die Lesungen als einen Kommunikationsprozess innerhalb einer bestimmten für die Lesung relevanten Situation versteht. Daraus ergibt sich für ihn u.a.: „Ein solches Ernstnehmen der tatsächlichen Kommunikation im Gottesdienst stellt die Zahl, Sprache und Länge der für den Sonntagsgottesdienst vorgesehenen biblischen Lesungen in Frage.“ Und: „Schließlich sollte die Möglichkeit, nichtbiblische christliche Texte zu lesen, im Blick behalten werden.“ (178) Erwähnt sei an dieser Stelle bereits, dass der Vf. sich durchaus auch die Lektüre nichtchristlicher Texte im Gottesdienst vorstellen kann, auch wenn dies seiner Meinung nach „grundsätzliche religionstheologische Reflexionen [erfordert]“ (178). Im sechsten Kapitel erfolgt schließlich der Ausblick mit Reflexionen zu Empirie, Pastoraltheologie und zu einem neuen Verständnis des Kirchenjahrs. Dabei mündet dieses Schlusskapitel in „Konkrete Vorschläge“, die hier zumindest in aller Kürze genannt seien. Zunächst fordert der Vf. ein Moratorium, das eine umfassendere Weiterarbeit an der Gesamtthematik ermöglicht. Damit soll ein Zeitfenster eröffnet werden, um durch empirische Forschung zum Beispiel die Frage zu klären: „Welche

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Hör- und Aufnahmefähigkeit haben verschiedene Personen(gruppen) für die Lesung biblischer Texte?“ (193 – im Original hervorgehoben). Weiterhin solle die Kommunikationsaufgabe der Lesung durch Lektorenfortbildung neu in den Blick gerückt werden. Darüber hinaus wäre eine vereinfachte und an die gesellschaftlichen Gegebenheiten (z.B. seltener Gottesdienstbesuch und damit nur punktuelles Erlebnis des Kirchenjahrs) angepasste Struktur des Kirchenjahres zu erarbeiten, für die die Lesungen dann auszuwählen wären. Schließlich tritt der Vf. dafür ein, in einzelnen Kirchenkreisen zu erproben, ob die Perikopen nicht wesentlich angemessener dezentral, nämlich jeweils vor Ort, von einer Gruppe von Theologinnen und Theologen (oder auch weiterer kirchlich Engagierter) bestimmt werden könnten. Hier könnte die Kommunikationssituation jeweils präziser berücksichtigt werden. So gehe es bei alldem letztlich um Kirchenreform. Und so schließt der Vf. seine Streitschrift mit folgenden Gedanken: „Zugespitzt formuliert: Bei den Schriftlesungen steht die Existenzberechtigung evangelischer Kirche auf dem Spiel. Nach reformatorischer Einsicht hat Kirche keinen Eigenzweck, sondern dient ausschließlich dazu, die Kommunikation des Evangeliums zu fördern. Den biblischen Lesungen in den evangelischen Gottesdiensten kommt in diesem Zusammenhang eine hervorragende Bedeutung zu. Sie zeigen nämlich – um die eingangs zitierte Einsicht von Peter Bloth zu wiederholen –, ‚wie es in der Christenheit um die Bibel bestellt ist‘.“ (197) Es ist das Verdienst von Christian Grethlein, dass er die Diskussion um die Perikopenrevision in einen größeren Zusammenhang gestellt hat. Die Frage, ob gerade um der „Kommunikation des Evangeliums“ willen andere Formen der Textauswahl und –vermittlung als herkömmlich angenommen nötig sind, muss gestellt und von den kirchlich Verantwortlichen auch beantwortet werden. Voller Traditionsbewusstsein die Augen vor den Herausforderungen der Gegenwart zu verschließen, wäre unverantwortlich. Bei den Konsequenzen, die der Vf. aus seinen Beobachtungen zieht, mag ich ihm allerdings längst nicht immer folgen. Zwei Themenbereiche möchte ich dabei herausgreifen: Erstens hielte ich es für hilfreich, dem Fremdheitsaspekt biblischer Texte mehr Raum zu lassen, als es das hier entfaltete Konzept der „Kommunikation des Evangeliums“ zuzulassen scheint. Andernfalls droht meiner Wahrnehmung nach die Gefahr, dass im Gottesdienst vor allem das laut wird, was Zeitgenossen heute ohnehin plausibel und einleuchtend ist. Die biblische Botschaft ist in aller Pluriformität doch gerade auch eine fremde und unsere Selbstverständlichkeiten in Frage stellende Botschaft. Dies ist beim Vf. im Blick, wäre m.E. aber noch stärker zu akzentuieren. Dann noch ein zweiter Bereich: Auch die Idee einer jeweils regional organisierten Perikopenauswahl überzeugt mich nicht. Die Situationserschließung auf regionaler Ebene stellt meiner Wahrnehmung nach doch ein relativ künstliches Unterfangen

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dar. Meines Erachtens nach sind es vor allem lokale, gemeindliche und wahrscheinlich noch mehr familiäre und individuelle Fragestellungen, die die Kommunikationssituation für den einzelnen Predigthörer bestimmen. So handelt es sich bei der vom Vf. angeführten „Schließung eines großen Betriebs in einem Kirchenkreis“ (157) sicher eher um eine Ausnahmesituation, auf die auch bei Bestehen einer festen Perikopenordnung durch freie Textauswahl zu reagieren wäre. Schon das zweite Beispiel („Region, in der ein großes Kunstprojekt beginnt“ [157f.]) scheint für mich schon keine Situation zu sein, die Gottesdienstbesucher milieuübergreifend bewegt. Die regionale, stets aktuelle Perikopenauswahl könnte darüber hinaus auch zu einer weiteren zeitlichen und ggf. auch fachlichen Überforderung führen, die schon für das Gestaltungsprinzip des Evangelischen Gottesdienstbuches verschiedentlich als Kritikpunkt angeführt wurde. Diese Anfragen bringe ich meinerseits in den von Christian Grethlein angestoßenen Kommunikationsprozess um die „Kommunikation des Evangeliums“ ein, kann dieses gut lesbare Buch aber als Anregung für das eigene Nach- und Vorausdenken zu Wesen und Zukunft der Kirche empfehlen. Christoph Barnbrock, Oberursel

Philipp Elhaus / Christian Hennecke / Dirk Stelter / Dagmar Stoltmann-Lukas (Hg.), Kirche² – Eine ökumenische Vision, Lutherisches Verlagshaus / Echter Verlag, Hannover / Würzburg 2013, 491 S. – ISBN 978–3429035488, 19,90 € Ich hatte die große Freude, am ökumenischen Kongress Kirche² vom 14.– 16.2.2013 in Hannover teilnehmen zu können, – eine inspirierende Veranstaltung, die von insgesamt 1350 Menschen besucht wurde, die etwa je zur Hälfte der Röm.Katholischen und der Evangelischen Kirche angehörten. Verantwortet wurde sie von der Evangelisch-Lutherischen Kirche Hannovers und dem Bistum Hildesheim und stand unter dem gedanklichen Motto des „ökumenischen Lernens“. Die Taufe wurde als das wiederentdeckt, was die Christen beider Konfessionen verbindet – und zugleich ihre Berufung zum „Priestertum der Getauften“ begründet. Noch im Herbst 2013 ist es gelungen, das Buch zur Tagung herauszubringen, – so finden wir nun auf 491 Seiten Vieles von dem dokumentiert, was da in Plenumsveranstaltungen, 23 Foren und 69 Workshops dargeboten wurde. Dabei richtete sich der Blick nicht nur auf die kirchliche Landschaft in Deutschland, im Fokus standen auch Entwicklungen und Impulse aus der anglikanischen Kirche (fresh expressions), der katholischen Kirche in Frankreich (Poitiers) und in Amerika. Die fremdsprachigen Beiträge liegen dankenswerterweise in deutscher Übersetzung vor. Es ist nun schön für mich, das Miterlebte noch einmal nachlesen zu können, aber auch einen Eindruck davon zu bekommen, was in den Veranstaltungen bearbeitet wurde, die ich nicht besuchen konnte.

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Das Buch gliedert sich in fünf große thematische Blöcke: Inspirationen – Aufbruch in neue Lebenswelten – Wandel gestalten – Kirchliche Orte und Kontexte – Ausblick. Es ist nicht möglich, das hier auch nur ansatzweise darzustellen. Es ist aber eine lohnenswerte Lektüre, weil sich hier das kreative Denken aus verschiedenen Blickwinkeln bündelt, – nicht in Konkurrenz tritt, sondern sich ergänzt, auf der Suche nach Lösungen für Probleme, die die Kirchen in ganz ähnlicher Weise betreffen, – wobei der Blick nicht so sehr an den Problemen hängt, sondern sich auf die Aufbrüche richtet, die es schon gibt, und Auswege zeigt, die (wie z.B. in Poitiers) schon seit vielen Jahren erprobt sind und sich bewährt haben (wobei auch hier gilt: nicht kopieren, sondern kapieren). Erwähnen möchte ich den Beitrag von Matthias Sellmann, – Prof. für Pastoraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bochum: „Glauben, oder: Vom Unterschied zwischen Teebeuteln und Piranhas“ (105ff). Zitieren möchte ich einige seiner provokanten Sätze: „Unsere Zeitgenossen erleben uns Kirchenleute nicht als Tänzer im Regen, sondern als Verkäufer von Regenschirmen. Wir stehen unter dem sicheren Schirm und nennen das ‚Gemeinde‘“ (109). „Ich finde das irritierend, wenn Ferraris in der Garage stehen“ (113) – (gemeint sind Christen, die sich nur in den eigenen Kreisen bewegen, Erläuterung SF). Und seine Zusammenfassung am Schluss: „… Damit er (der Grundgedanke vom Guten, Ergänzung SF) vom Hören kommen kann, muss es Leute geben, die vom Glauben erzählen. …. Werden wir solche Leute! Bilden wir solche Orte von Kirche! Versprechen wir uns, dass unsere Regenschirme nach längstens 30 Minuten porös werden. … Seien wir Christen, über die Jesus staunt. Und über die er ausruft: Wahrlich, wahrlich – die sehen zwar aus wie Teebeutel – aber es sind echte Piranhas!“ (114) Seinem Beitrag folgt der von Christina Brudereck „Kirche hoch 2“ – in dem sie in 15 Minuten 15 Jahre „e/motion“ in Essen erzählt, sprachlich ein Hochgenuss, – sie war auch die Siegerin beim Preacher Slam zum Thema »Wie viel Glaube braucht der Mensch?« im Rahmen von Kirche². Erwähnt sei auch der Beitrag von Michael Herbst „Wie finden Erwachsene zum Glauben“ – der Beitrag ist so gründlich und verständlich, dass man die Auswertung der gleichnamigen Studie von Johannes Zimmermann und Anna Konstanze Schröder womöglich gar nicht mehr studieren muss, – hier lernt man viel, zusammengefasst in wenige Kernsätze (248ff): 1. Erwachsene, die zum Glauben finden, profitieren von einem Netzwerk guter Beziehungen; 2. Erwachsene, die zum Glauben finden, nutzen ebenso eine Fülle kirchlicher Veranstaltungen; 3. Für Erwachsene, die zum Glauben finden, haben zurzeit Glaubenskurse Hochkonjunktur; 4. Erwachsene, die zum Glauben finden, machen neue Erfahrungen mit dem Beten; 5. Erwachsene, die zum Glauben finden, schätzen es nicht immer, aber doch häufig, wenn ihr Ja zum Glauben in ein „Erlebnis in Gemeinschaft“ eingebettet wird.

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Buchschau

Unbedingt lesenswert ist auch der folgende und darauf antwortende Beitrag von Klemens Armbruster: „Wieso verlieren Erwachsene den Glauben?“ und Thomas Söding „Auf hoher See“ – er untersucht Kirchenschiffe im Neuen Testament und legt Bootsgeschichten aus. Zunächst wollte ich ihn überlesen, den Beitrag von Hans Jürgen Marcus „Ein starkes Stück Kirche“ – Die Caritas und ihre Rolle für die Zukunftsfähigkeit der Kirche. Er erwies sich aber als ein wahres Schatzkästlein guter Gedanken. Nur ein Zitat: „In der Caritas geht es oft genug um existenzielle Fragen und Inhalte: Um Krankheiten und Krisen, um Trauer und Angst, um Ausweglosigkeit und Exklusion. Vielleicht ist das ein wichtiges Korrektiv zu einer Freizeitkirche, die sich eher in Konkurrenz mit erlebnisgesellschaftlichen Events befindet und mit viel Kraft diesen Wettbewerb gestaltet und verliert … Ein offener Blick für die gesellschaftliche Not vieler Menschen könnte die Kirche auch zurückführen in gesellschaftliche Relevanz. Wer in Tuchfühlung mit dem Armen lebt, der wird sich anders in gesellschaftliche Diskurse einmischen, als diese mit ein wenig gut gemeinter kirchlicher Folklore zu begleiten.“ (357) Gerade für die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK) besonders interessant ist der Beitrag von Martin Alex und Thomas Schlegel „Von ländlicher Idylle und schrumpfender Peripherie – Hintergründe und Ausblicke“. Es geht um die Situation der Kirche in ländlichen Räumen (was das ist, darüber müsste man jetzt viel sagen). Die Situation dort ist in einem Punkt besonders interessant: Kirchengemeinden sind einerseits oft noch die einzigen Akteure, nachdem der Kaufmann, die Sparkasse und der Bäcker, aber auch die Grundschule und der Kindergarten längst fortgegangen sind. Nun aber gehen auch die Kirchen, bzw. ihre Pfarrstellen sind dort nicht mehr zu halten. Das ist aber auch oft nur ein Reflex darauf, dass viele Menschen längst in die Ballungsräume weggegangen sind. Aber was passiert dann? Was wird aus denen, die bleiben? Was passiert mit den vielen Dorfkirchen? Überlegungen dazu gibt es viele, und die werden hier vorgestellt, – aber mehr kann ich hier nicht verraten. Nur dies: Gemeinde ohne eigenes Pfarramt kann funktionieren, aber der Weg dahin sollte planvoll beschritten werden. Dem Beitrag korrespondiert ein anderer von Philipp Ehlhaus: Kirche in der Stadt – denn auch die städtische Situation bietet jede Menge Herausforderungen. Und wer wissen will, was es mit „Curry eleison“ auf sich hat, – wird nicht in einer der bekannten Suchmaschinen fündig, sondern in diesem Artikel, – ich sage nur: „Essen ist fertig“ Pfarrer Stefan Förster, Walkemühlenweg 28b, 37083 Göttingen