Lutherische Theologie und Kirche 1-2/2016 - Einzelkapitel: ´´Ich lege meine Worte in seinen Mund ...´´ Zum Verständnis des Wortes Gottes nach Dtn 18 3846999325, 9783846999325

Gerade im Rahmen der historischen Exegese scheint es heute manchmal so, als müssten Überlegungen über den Charakter altt

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Lutherische Theologie und Kirche 1-2/2016 - Einzelkapitel: ´´Ich lege meine Worte in seinen Mund ...´´ Zum Verständnis des Wortes Gottes nach Dtn 18
 3846999325, 9783846999325

Table of contents :
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ZU DIESEM HEFT
ACHIM BEHRENS
GILBERTO DA SILVA
WERNER KLÄN
CHRISTOPH BARNBROCK

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ZU DIESEM HEFT Festgabe für Jorg Christian Salzmann Jorg Christian Salzmann, Professor für Neues Testament an der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel, vollendete im Februar 2016 sein 60. Lebensjahr. Mit den Beiträgen dieses Heftes gratulieren ihm die aktiven Kollegen seiner Fakultät und wünschen Gottes Segen für das neue Lebensjahrzehnt und alles, was es bringen mag! Jorg Salzmann ist in verschiedener Hinsicht ein Grenzgänger. Er ist immer lutherischer Pastor auch als Professor geblieben, ist gemeindlich und gesamtkirchlich ebenso engagiert wie für seine Hochschule. Hier an der LThH vertritt er nicht nur das Neue Testament, sondern ist auch für Grundstück und Gebäude zuständig als Vorsitzender des Grundstücksvereins. Dabei ist er mit Hammer und Maurerkelle ebenso bei der Sache wie mit dem Computer oder dem NT Graece, sodass die οἰκοδομή in all ihren Dimensionen sein Anliegen ist. Aber auch als wissenschaftlicher Theologe lässt sich Jorg Salzmann nur schwer auf ein Gebiet festlegen. Während er im Neuen Testament promovierte, versah er zugleich eine Assistenz in der Kirchengeschichte. Entsprechend überschreitet seine Dissertation über den frühchristlichen Gottesdienst die Grenzen beider Fächer. In Oberursel vertrat er dann zunächst acht Jahre lang das Alte Testament, bevor er 2006 in sein angestammtes Fach wechselte. Eine Liebe zur gesamtbiblischen Theologie und zu hermeneutischen Fragen ist ihm geblieben. So haben wir uns das „Wort Gottes“ sozusagen als integratives Thema unserer Beiträge gewählt. Gerade im Rahmen der historischen Exegese scheint es heute manchmal so, als müssten Überlegungen über den Charakter alttestamentlicher Texte als „Wort Gottes“ erst nachträglich aus christlicher Perspektive an die Texte herangetragen werden. Aber ein genauer Blick zeigt, dass sich nicht nur einzelne Texte des ersten Kanonteils ausdrücklich als „Wort des Herrn“ verstehen, sondern dass auch schon über das Gotteswort reflektiert wird. Ein Blick in des sog. Prophetengesetz des Buches Deuteronomium soll das beispielhaft aufzeigen. Gilberto da Silva zeigt dann anhand von Martin Luthers Umgang mit dem Jakobusbrief, dass historische, exegetische, theologische und hermeneutische Fragen die Kirche des sola scriptura von Anfang an begleiteten. Luthers Freiheit und sein Differenzierungsvermögen

2 sind hier bis heute atemberaubend. Da Silva zeigt, dass der Reformator der „strohernen Epistel“ durchaus Wertschätzung entgegenbringen konnte. „Gottes Wort ist der Ort, wo Gott wohnt“, so nennt Werner Klän seine Reflexionen aus der Systematischen Theologie zum Wort Gottes. Ausgehend von Luther und dessen Rezeption in den wegweisenden schrifttheologischen Arbeiten Hermann Sasses zeichnet Klän einen theologiegschichtlichen Weg in der lutherischen Kirche und insbesondere in der neueren konkordienlutherischen Tradition nach. Er beschreibt eine Theologie des Wortes Gottes unter den Bedingungen des modernen Geschichtsbewusstseins bei unbedingtem Vorrang des göttlichen Wortes vor der Rezeption durch die Kirche und allen menschlichen Verstehensbemühungen als Aufgabe, die sich jetzt mit Nachdruck stellt, aber noch längst nicht gelöst ist. Christoph Barnbrock schließlich weitet den Blick von der exegetischen Explikation und der theologischen Reflexion biblischer Wortlaute zu ihrer Applikation in den gottesdienstlichen Lesungen. In einer genauen Durchsicht unterschiedlicher Agenden macht Barnbrock auf eine Vielzahl von Möglichkeiten der Darstellung, Inszenierung und liturgischen Einbettung biblischer Lesungen im Gottesdienst aufmerksam. Zugleich stellt sich damit die Aufgabe, wie so sorgfältig und Aufmerksamkeit fördernd mit den Lesungen im Gottesdienst umgegangen werden kann, dass sie als „Wort des lebendigen Gottes“ zu hören sind. Prof. Dr. Achim Behrens

ACHIM BEHRENS

„Ich lege meine Worte in seinen Mund …“ Zum Verständnis des Wortes Gottes nach Dtn 18 1. Wort Gottes – Schrift – Text Lutherische Kirche und Theologie haben ihre Quelle und Norm im Wort Gottes, von dem sie ganz abhängig sind. Dieses Wort Gottes ist wesentlich fassbar in Gestalt der Bibel, die als Heilige Schrift gelesen wird.1 So sind die reformatorischen Formeln verbo solo und sola scriptura zwei Seiten einer Medaille. Allein durch das Wort als Anrede in Gesetz und Evangelium wird der Mensch seiner Gottesferne inne und doch seines Geliebtseins durch diesen Gott gewiss. Allein aus der Schrift erfährt der Mensch Verlässliches über das Wesen dieses Gottes. In der lutherischen Bekenntnisbildung und der darauf folgenden Dogmatik des 17. Jh.s. war die Schrift ohne Zweifel das Wort Gottes, wenn auch das Wort nicht in der Schrift aufging. Durch das in der Aufklärung geprägte moderne Wahrheitsbewusstsein sind diese Selbstverständlichkeiten angefragt, ja infrage gestellt worden. Neben das frühere Bekenntnis, die Bibel sei das Wort Gottes, sind schon seit langem Bestimmungen getreten wie, die Bibel enthalte das Wort Gottes oder die Bibel werde je und dann im Erleben des Getroffenseins zum Wort Gottes. Und natürlich lassen sich alt- und neutestamentliche Texte auch ohne jeden Bezug zu einem Offenbarungsvorgang als Zeugnisse der antiken vorderorientalischen oder hellenistischen Religionsgeschichte lesen. Für diese Entwicklungen gibt es Gründe, die zum einen in der Teilhabe von Theologie und Kirche an der allgemeinen Geistesgeschichte liegen, zu einem andern Teil aber auch in neuen exegetischen und historischen Einsichten. Bereits die Textgeschichte des 1

Vgl. den Summarischen Begriff der FC in der Epitome, nach der „allein die Prophetischen und Apostolischen Schriften, altes und neues Testaments“ (BSELK, 1216) die Norm der Theologie sein können, während es in der Solida Declaratio heißt, „das alleine Gottes Wort die einige Richtschur und Regel sein und bleiben solle“ (BSELK, 1314). So können also „Schrift“ und „Gottes Wort“ promiscue gebraucht werden.

______________________________________________________________________ LuThK 40 (2016), 3-24 DOI 10.2364/3846999325

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Alten und des Neuen Testaments wird heute weit detaillierter wahrgenommen als zur Zeit der Reformation oder der lutherischen Orthodoxie. Das theologische Gewicht, das sich u.a. durch sensationelle Textfunde wie die in Qumran ergibt, scheint bis heute nicht wirklich ausgelotet zu sein.2 Die Einsichten der Literarkritik und Redaktionsgeschichte, der Formgeschichte und neue archäologische und ikonographische Quellen haben das Bild, das die Bibelwissenschaft noch bis die Mitte des 20. Jh.s prägte, erneut grundlegend verändert.3 Dem ist nun nicht eine schlichte Wiederholung älterer Positionen in neorationalistischen Spielarten entgegenzuhalten4, sondern lutherische Theologie sollte darauf auf unterschiedlich Weise reflektiert reagieren. Dazu hilft zum einen, die Wiederentdeckung orthodoxer Positionen und Methoden im Umgang mit der Bibel, die nun noch einmal neu im Detail wahrgenommen werden können und nicht nur in der Pflege des Klischees von einem vermeintlich völlig gestrigen „Verbalinspirationsdogma“ bestehen.5 Dazu gehört dann aber auch, dass lutherische Theologie sich um eine neue Reflexion und Formulierung der Schriftlehre bemüht. Hermann Sasse hat dafür wichtige Bausteine ausgearbeitet6, aber die Aufgabe als solche liegt noch vor uns.7 2 3

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Vgl. Alexander Achilles Fischer, Der Text des Alten Testaments, Stuttgart 2009, 68–95. Zu den grundlegenden Veränderungen der alttestamentlichen Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten und die Auswirkungen für die Konzeption einer Theologie des Alten Testaments vgl. Friedhelm Hartenstein, JHWHs Wesen im Wandel. Vorüberlegungen zu einer Theologie des Alten Testaments, ThLZ 137 (2012), 3–19. Hier ist z.B. an eine Position gedacht, die meint die Wahrheit der Schrift mit vermeintlicher historischer oder naturwissenschaftlicher Wirklichkeit gleichsetzen zu müssen. Dies wird in der Regel weder dem Paradigma der Wissenschaft noch dem Charakter der biblischen Texte gerecht. Bei aller Schriftgemäßheit lutherischer Theologie ist auch daran zu erinnern, dass Lutheraner nicht „an die Bibel“ glauben, sondern an den dreieinigen Gott. Dies aber gehört bereits in die theologische Denkbewegung, die hier angestoßen und gefördert werden soll. Vgl. z.B. Johann Anselm Steiger, Philologia Sacra. Zur Exegese der Heiligen Schrift im Protestantismus des 16. bis 18. Jahrhunderts, BThSt 117, Neukirchen-Vluyn 2011, aber auch schon Lothar Perlitt, Hoc libro maxime fides docetur, Deuteronomium 1,19–46 bei Martin Luther und Johann Gerhard, in: ders., Deuteronoium-Studien, FAT 8, Tübingen 1994, 184–191. Vgl. Hermann Sasse, Sacra Scriptura. Studien zur Lehre von der Heiligen Schrift, hg. von F.W. Hopf, Erlangen 1981.

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Schließlich gehört zu alle dem immer wieder – und immer wieder zuerst – auch die Frage, wie im Kontext lutherischer Theologie Exegese getrieben, bzw. wie mit den einleuchtenden Ergebnissen historischer Exegese theologisch umzugehen ist. Jorg Christian Salzmann und mich verbindet das Umgetriebensein von diesen Fragestellungen.8 Der Geehrte hat sich mit hermeneutischen Fragestellungen beschäftigt,9 immer wieder methodische Fragen der Exegese thematisiert10 und nicht zuletzt einen Fokus auf die Biblische Theologie gelegt.11 Ein gemeinsam durchgeführtes Seminar zum Thema „Gottes Wort im Alten und Neuen Testament“ im Wintersemester 2015/16 an der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel ist auch Ausdruck dessen, dass wir beide gerade an ähnlichen Fragestellungen weiter zu forschen versuchen. Uns beiden geht es dabei, wenn ich recht sehe, nicht um Fragen der Schriftlehre im strengen Sinne, sondern um die Exegese derjenigen Texte, die das 7

Vgl. Achim Behrens, Das Alte Testament als Wort Gottes an Christen. Exegese des Alten Testaments in der Perspektive eines erneuerten Schriftprinzips, LuThK 39 (2015), 201–226; ders., Exegese als Theologie – Theologie als Exegese, in: ders., Theologische Reflexionsgeschichte des Alten Testaments. Exegetische Studien im Kontext evangelisch-lutherischer Theologie, OUH.E 15, Göttingen 2015, 11–19. 8 Vgl. als Zeichen dieser Verbundenheit Achim Behrens/Jorg Christian Salzmann (Eds.), Listening to the Word of God. Exegetical Approaches, OUH.E 16, Göttingen 2016. 9 Vgl. seine Mitarbeit am Papier Biblische Hermeneutik, hg. von der Kirchenleitung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Lutherische Orientierung 10, Hannover 2012 und dazu Jorg Christian Salzmann, Als Kirche verantwortlich die Bibel verstehen. Das Papier „Biblische Hermeneutik“ der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, LuThK 37 (2013), 63–74. 10 Vgl. Jorg Christian Salzmann, Zur Relevanz der synoptischen Frage für die Auslegung – am Beispiel der Salbung von Bethanien, LuThK 30 (2006), 1–17; ders., „Und Friede auf Erden …“ Das textkritische Problem von Lk 2,14 und die patristische Literatur, LuThK 33 (2009), 73–92; ders., Auslegung von Mt 14,22– 33 vermittels historischer Zugänge – Sinn und Grenze der Methodik, in: Behrens/Salzmann, Listening (wie Anm. 8), 43–45 (Engl. a.a.O., 55–66). 11 Vgl. Jorg Christian Salzmann, Der Rekurs auf Abraham im Alten Testament, in: Chistoph Barnbrock/Werner Klän (Hg.), Gottes Wort in der Zeit: verstehen – verkündigen – verbreiten, FS V. Stolle, Münster 2005, 245–260; ders., Psalmworte als Prophetie: zum neutestamentlichen Umgang mit den Psalmen, LuThK 34 (2010), 110–130; ders., Das Alte Testament als Bibel der Christenheit, OUH 53, Oberursel 2014.

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Wort Gottes in unterschiedlichen Weisen zum Thema haben. Jorg Salzmann legt seine Untersuchung zu Gottes Wort in der Bibel dabei von vornherein bewusst gesamtbiblisch an und setzt bei Texten ein, die das Reden Gottes thematisieren, aber nicht unbedingt eine Begrifflichkeit von „Gottes Wort“ enthalten. Meine Untersuchungen konzentrieren sich auf das Alte Testament und setzen genau mit der Frage nach dieser Begrifflichkeit ein. So sei meinem neutestamentlichen Kollegen hier ein Blick in meine Werkstatt zugeeignet, in der Hoffnung, dass unser beider Bemühungen am Ende zu einer exegetisch verantworteten Theologie des Wortes Gottes im Kontext lutherischer Theologie und Kirche beitragen.

2. Das Prophetengesetz in Dtn 18,9–22 Wie bei allen später zu topoi oder loci gewordenen theologischen Themen formulieren die alttestamentlichen Texte auch im Hinblick auf das Wort JHWHs nicht definitorisch oder in erster Linie begrifflich. Vom Reden Gottes wird erzählt oder es werden Prophetenworte überliefert mit dem Anspruch Gottesworte zu sein. Die alttestamentliche Prophetie als Phänomen der verbalen Übermittlung des Gotteswillens scheint dann auch der Ort zu sein, an dem Gottes Reden zuerst begrifflich fixiert wurde, so z.B. in den so-spricht-JHWHFormeln12 und schließlich in der sog. Wortereignisformel es geschah das Wort JHWHs zu […] (‫ וַיְ הִ י ְדבַ ר־יְהוָה אֵ לַי‬oder ‫)הָ יָה ְדבַ ר־יְ הוָה אֵ לָיו‬13. Dabei ist von vornherein zu bedenken, dass es hier nicht um die alttestamentliche Prophetie als historisch, soziologisch, theologisch oder anders zu bestimmendes Phänomen der Religionsgeschichte Israels geht, sondern um die prophetische Literatur in Gestalt gewachsener und bewusst komponierter Bücher.14 Auf dieser Ebene erfüllen die genannten und andere Formeln mindestens eine doppelte Funktion. Sie sind einerseits Textgliederungssignale und andererseits komposi12 Vgl. Andreas Wagner, Prophetie als Theologie. Die so spricht Jahwe-Formeln und das Grundverständnis der alttestamentlichen Prophetie, FRLANT 207, Göttingen 2004. 13 Vgl. Peter K. A. Neumann, Das Wort, das geschehen ist. Zum Problem der Wortempfangsterminologie in Jer I–XXV, VT 23 (1973), 171–217. 14 Zu dem Paradigmenwechsel in der Prophetenforschung „vom Propheten zum Buch“, der sich allgemein durchgesetzt hat, vgl. grundsätzlich Odil Hannes Steck, Gott in der Zeit entdecken. Die Prophetenbücher des Alten Testaments als Vorbild für Theologie und Kirche, BThSt 42, Neukirchen-Vluyn 2001.

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torisch bewusst gesetzter Niederschlag theologischer Reflexion über das Wort Gottes. Von daher wundert es auch nicht, dass die Wortereignisformel erst ab dem Jeremiabuch gehäuft auftritt, während sie in den Schriften, die mit Prophetengestalten des achten Jh.s v.Ch. in Verbindung gebracht werden, so gut wie nicht auftaucht.15 Mit den Erfahrungen des Exils, in dem alle geschichtlich fassbaren identitätsstiftenden Größen für Israel verloren gegangen waren, spielt der Bezug auf Überlieferungen einerseits und auf das verlässliche Reden Gottes andererseits eine zunehmende Rolle.16 Es lässt sich zeigen, dass dieser Bezug auf das Wort JHWHs von hier aus in redaktionellen Texten auch in älteren Prophetenbüchern Ausdruck gefunden hat, sodass die Prophetie insgesamt im Überlieferungsvorgang nun auch auf den Begriff ‫ ְדבַ ר־יְהוָה‬gebracht wird.17 Im Laufe der Zeit mussten sich aber aus diesem Vorgang bestimmte Fragen ergeben. Was macht die Eigenart und das Wesen der Prophetie aus, wenn sich schon inneralttestamentlich zeigen lässt, dass mit dem Stichwort ‫ נָבִ יא‬teils ganz unterschiedliche Phänomene bezeichnet werden? Wie unterscheidet man wahre von falscher Prophetie, wenn sich widersprechende Botschaften jeweils mit so spricht JHWH eingeleitet werden? Und schließlich: In welchem Verhältnis steht die Prophetie zur Tora? Diese und andere Fragen sind eng mit dem Thema „Wort Gottes“ verknüpft. Ihnen soll nun anhand eines markanten Textes nachgegangen werden. Dabei soll es nicht um die Nachzeichnung der Behandlung des Wortes Gottes in den Prophetenbüchern gehen, sondern ich möchte einen Blick auf einen Text im Pentateuch werfen, der bereits – so meine ich – ein späterer Niederschlag theologischer Reflexion über 15 Vgl. Christoph Levin, Das Wort Jahwes an Jeremia. Zur ältesten Redaktion der jeremianischen Sammlung, ZThK 101 (2004), 257–280, 257: „Für das Nachdenken braucht es einen Anlaß. Dieser Anlaß ist nicht ohne weiteres die prophetische Verkündigung selbst gewesen. Die Verkündigung fordert zunächst Glauben oder Zweifel heraus. Die Reflexion setzt unabweisbar dann ein, wenn die Voraussage sich in geschichtlicher Wirklichkeit als wahr erwiesen hat.“ 16 Vgl. den Prolog (Jes 40) und Epilog (Jes 55) der deuterojesajanischen Sammlung, wo die Beständigkeit und Wirksamkeit des Wortes Gottes zum Thema wird. 17 Vgl. z.B. Hos 1,2; Am 3,1 und vor allem die Überschriften der Prophetenbücher. Vgl. dazu Aaron Schart, Die Entstehung des Zwölfprophetenbuches. Neubearbeitungen im Rahmen schriftenübergreifender Redaktionsprozesse, BZAW 260, Berlin/New York 1998.

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die Ausprägung des Gedankens vom Wort Gottes in der prophetische Literatur ist. Die Rede ist vom so genannten Prophetengesetz in Dtn 18,9–22, das hier in seinem Duktus und in seinen zahlreichen Querbeziehungen zu anderen Texten wahrgenommen werden soll. Dtn 18,9–22: 9

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Wenn Du in das Land kommst, das JHWH dein Gott dir geben wird, dann sollst du nicht lernen, zu handeln entsprechend der Gräuel jener Völker [da]. Bei dir soll niemand gefunden werden, der seinen Sohn oder seine Tochter durchs Feuer gehen lässt, der Wahrsagerei treibt, der Wolken deutet, nach Omen sucht oder zaubert, oder einer, der einen Bannspruch spricht, oder einer, der einen Totengeist befragt oder ein Wahrsager oder einer, der bei den Toten forscht. Denn ein Gräuel für JHWH ist jeder, der jene Dinge tut; denn um dieser Gräuel willen hat JHWH sie vor dir vertrieben. Ungeteilt sollst du sein bei JHWH deinem Gott. Denn jene Völker, die du in Besitz nehmen wirst, hören auf Wolkendeuter und Wahrsager; aber was dich betrifft – so hat JHWH dein Gott es nicht für dich eingerichtet. Einen Propheten aus deiner Mitte, von deinen Brüdern, einen wie mich wird dir JHWH dein Gott erstehen lassen, auf den sollt ihr hören. Gemäß alldem, was du von JHWH deinem Gott erbeten hast am Horeb, am Tag der Versammlung folgendermaßen: „Ich kann nicht fortfahren, auf die Stimme JHWHs meines Gottes zu hören und dieses großes Feuer will ich nicht länger sehen, damit ich nicht sterbe.“ Und JHWH sprach zu mir: „Es ist gut, was sie gesagt haben. Einen Propheten will ich ihnen erstehen lassen aus der Mitte ihrer Brüder, einen wie dich; und ich will meine Worte in seinen Mund geben und er soll zu ihnen reden alles, was ich ihm gebiete. Wenn es aber so kommt: Der Mann, der nicht auf meine Worte hört, die er in meinem Namen redet – ich selbst werde von ihm [Rechenschaft] fordern. Nur der Prophet, der vermessen handelt, indem er in meinem Namen ein Wort redet, das ich ihm nicht geboten habe, zu reden, oder der redet im Namen eines fremden Gottes, jener Prophet soll sterben.“

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21 Und wenn du in deinem Herzen sprichst: „Wie sollen wir das Wort erkennen, dass JHWH nicht geredet hat?“ 22 Das, was der Prophet im Namen JHWHs redet, aber JHWH hat es gar nicht geredet – jenes Wort trifft nicht ein, weil JHWH es nicht gesagt hat. In Vermessenheit hat der Prophet es geredet – fürchte dich nicht vor ihm.

Dieser Text ist als gesetzliche Bestimmung über die Prophetie im alten Israel Teil einer Textsammlung in Dtn 16,18–18,22, für die sich in der Exegese die Bezeichnung „Ämtergesetze“ durchgesetzt hat. Innerhalb der Gesetzessammlung in den Kapiteln 12–26, die das Zentrum des Deuteronomiums bilden,18 beschäftigen sich die Ämter-

18 Innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft bildet die Deuteronomiumsexegese mittlerweile ein eigenes Subgenre mit einer hochspezialisierten Debatte insbesondere im Hinblick auf die Literargeschichte des fünften Buches Mose. Bei allen strittigen Detailfragen lassen sich doch folgende Einsichten als Konsens der neueren Exegese festhalten. Das Dtn stammt frühestens aus dem 7. Jh. v.Ch. und wird mit den Reformbemühungen judäischer Könige in Zusammenhang gebracht. Einige sehen bereits eine Verbindung mit Hiskia. Seit Wilhelm Martin Leberecht de Wette gilt aber jedenfalls als gesichert, dass sich das Dtn, oder besser: eine Vorform des kanonischen Textes, hinter dem Gesetzbuch verbirgt, das Josia im Jahr 622 v.Ch. im Tempel gefunden hat (vgl. 2Kön 22f.). Die von Josia initiiert Kultzentralisation auf den Tempel in Jerusalem entspricht genau den Forderungen des dtn Grundgebotes in Dtn 12, das wiederum dem Hauptgebot der Alleinverehrung JHWHs dient. So bilden die nach diesem Maßstab organisierten Gesetze in Dtn 12–26 den inneren Kern des Buches. Dem ist eine Erinnerung an Gottes Heilstaten (Dtn 6–11) voran- und eine Bundesverpflichtung nachgestellt (Dtn 28) worden. Diese Struktur entspricht den assyrischen Vasallenverträgen aus der Zeit Assarhaddons, und so kann das Dtn auch als eine polemische Distanzierung vom assyrischen Großkönig als Israels „Herrn“ verstanden werden. Dieses Ur-Dtn (Dtn 6–28) ist dann noch durch die Kap. 1–5 und 29–34 (u.U. mehrfach) gerahmt worden. Dieser Prozess zog sich insgesamt über mindestens ein Jahrhundert hin. Seine formative Gestalt gewann das Dtn sicher während des sog. Babylonischen Exils (nach 586 v.Ch.). Es lassen sich im Dtn also ältere „deuteronomische“ (dtn) von jüngeren „deuteronomistischen“ (dtr) Texten unterscheiden. Vgl. Horst Dietrich Preuß, Deuteronomium, EdF 164, Darmstadt 1982 [ältere Forschung]; Karin Finsterbusch, Deuteronomium. Eine Einführung, Göttingen 2012; Jan Christian Gertz, Deuteronomium, in: ders., (Hg.), Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments, Göttingen 42010,

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gesetze mit Richtern und Gerichtsverfahren (Dtn 16,18–17,13), dem König (17,14–20), Priestern und Leviten (18,1–8) und der Prophetie (18,9–22). Dabei scheint die Reihung dieser „Ämter“ eher assoziativ entstanden zu sein.19 Auch literargeschichtlich ist der Komplex nicht als ursprüngliche Einheit anzusehen. Den älteren Teil bildet vermutlich eine noch vorexilische Gerichtsorganisation für den Staat Juda unter König Josia, die dann im Exil mit Ausblick auf ein neues Israel bei einer möglichen Heimkehr zu einem gewaltenteiligen Verfassungsentwurf ausgebaut wurde.20 So hat etwa das Königsgesetz, das die Macht eines Königs in Israel deutlich beschränkt und ganz auf die Observanz der bereits schriftlich vorliegenden Tora konzentriert, eindeutig „utopischen“ Charakter. Dabei blickt dieses Königsgesetz ganz offenbar auf Erfahrungen mit den Königen Israels zurück und reagiert darauf. Ebenso spiegelt auch das Prophetengesetz Erfahrungen mit der Prophetie, ihrer Rezeption, aber auch mit anderen im weitesten Sinne mantischen Phänomenen wider. Zunächst markiert die Formulierung Wenn du in das Land kommst, das JHWH, dein Gott, dir geben wird […] einen deutlichen 247–260; Georg Braulik, Das Buch Deuteronomium, in: E. Zenger u.a., Einleitung in das Alte Testament, KStTh 1, Stuttgart u.a. 72008, 136–155. 19 Vgl. Georg Braulik, Deuteronomium II 16,18–34,12, NEB.AT 28, Würzburg 1992, 121f. 20 Vgl. grundlegend Norbert Lohfink, Die Sicherung der Wirksamkeit des Gotteswortes durch das Prinzip der Schriftlichkeit der Tora und durch das Prinzip der Gewaltenteilung nach den Ämtergesetzen des Buches Deuteronomium (Dt 16,18–18,22) [1971], in: ders., Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur I, SBAB 8, Stuttgart 1990, 305–323; ders., Gewaltenteilung, in: ders., Unsere großen Wörter. Das Alte Testament zu Themen dieser Jahre, Freiburg i.Br. 21979, 57–75, sodann: Udo Rüterswörden, Von der politischen Gemeinschaft zur Gemeinde. Studien zu Dt 16,18–18,22, BBB 65, Frankfurt a.M. 1987; ders., Der Verfassungsentwurf des Deuteronomium in der neueren Diskussion. Ein Überblick, in: P. Mommer/W. Thiel (Hg.), Altes Testament. Forschung und Wirkung, FS H. Graf Reventlow, Frankfurt a.M. 1994, 313–328; Frank Crüsemann, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, München 1992, 273–283; Eckart Otto, Von der Gerichtsordnung zum Verfassungsentwurf. Deuteronomische Gestaltung und deuteronomistische Interpretation im „Ämtergesetz“ Dtn 16,18–18,22, in: I. Kottsieper/J. v. Oorschot/D. Römheld/H. M. Wahl (Hg.), „Wer ist wie du, Herr, unter den Göttern?“ Studien zur Theologie und Religionsgeschichte Israels, FS O. Kaiser, Göttingen 1994, 142–155.

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Neueinsatz gegenüber dem Vorherigen. Diese sog. „historisierende Gebotseinleitung“ dient im Deuteronomium öfter zur Einführung eines neuen Themas.21 Was dann folgt, ist, von Fragen des literarischen Wachstums zunächst einmal abgesehen, bereits auf den ersten Blick deutlich zweigeteilt.22 Die Verse Dtn 18,9–14 verbieten den Israeliten, von den Vorbewohnern des Landes Orakel- und Beschwörungspraktiken zu lernen. Nach der Faustregel, was verboten wird, ist vorgekommen, scheint der Kontakt mit solchen altorientalischen Techniken zur Nachahmung angeregt zu haben. Dies gilt besonders, wenn die erwähnten Dinge in den höher entwickelten Gesellschaften des Alten Orients quasi „wissenschaftlichen“ Rang hatten. Entgegen der Erzählsituation des Textes, die Wolkendeutung und Omenkunde den kanaanäischen Vorbewohnern des Landes zuschreibt, dürfte Israel vor allem in Babylon oder bereits im Kulturkontakt mit den Assyrern solchen Phänomenen begegnet sein.23 Die Verfahren, die hier verboten werden, lassen sich nicht im einzelnen aufhellen.24 Vielleicht verbirgt sich hinter V. 10a noch die Vorstellung eines

21 Vgl. Rüterswörden, Gemeinschaft (wie Anm. 20), 54–58 und Crüsemann, Tora (wie Anm. 20), 280f, die beide die historisierende Gebotseinleitung für vorexilisch-dtn halten, während Lohfink, Sicherung (wie Anm. 20), 313f. diese nun gerade für ein Indiz für den exilisch-dtr Charakter des Textes hält; vgl. auch Otto, Gerichtsordnung (wie Anm. 20), 150, sowie Matthias Köckert, Zum literargeschichtlichen Ort des Prophetengesetzes Dtn 18 zwischen Jeremiabuch und Dtn 13, in: R. G. Kratz/H. Spieckermann (Hg.), Liebe und Gebot. Studien zum Deuteronomium, FS L. Perlitt, FRLANT 190, Göttingen 2000, 80–100, der mit Nachdruck und mit guten Gründen festhält: „Alle Belege der ‚historisierenden Gebotseinleitung‘ im Dtn stellen die davon eingeführten Bestimmungen unter die Fiktion der Gesetzespromulgation jenseits des Jordans unmittelbar vor der Landnahme und setzen damit den ‚narrativen Kontext des DtrG‘ voraus; sie können also selbst nicht vor-dtr sein.“ 22 Vgl. so bereits Gerhard von Rad, Das 5. Buch Mose/Deuteronomium, ATD 8, Göttingen 41983, 88. 23 Auffällig sind die textlichen Berührungen von Dtn 18,9–14 und 2Kön 21,1–15, wo viele der hier beschriebenen „Gräuel“ dem judäischen König Manasse zugeschrieben werden; vgl. Braulik, NEB.AT 18 (wie Anm. 19), 133. 24 Vgl. Martin Rose, 5. Mose Teilband 1: 5. Mose 12–25. Einführung und Gesetze, ZBK.AT 5,1, Zürich 1994, 95; zu den altorientalischen Praktiken Stefan M. Maul, Die Wahrsagekunst im Alten Orient. Zeichen des Himmels und der Erde, München 2013.

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Menschen- bzw. Kinderopfers.25 Entscheidend ist, dass dies alles als „Gräuel“ (V. 9.12) gilt, weil es das Verhältnis Israels zu seinem Gott JHWH trübt. So gibt V. 13 das eigentliche Ziel dieser Perikope an: Ungeteilt sollst du sein bei JHWH deinem Gott. Eigentlich ist schon die Formel JHWH, dein Gott (‫)יְ הוָה ֱאֹלהֶ יָך‬, die sich durch den Text zieht26, die zentrale Aussage. Wer durch Wolkendeutung oder Totenbefragung andere Schicksalsmächte nach dem richtigen Weg fragt, ist nicht mehr ungeteilt bei seinem Gott.27 V. 14 fasst den bisherigen Text noch einmal als eine Art Fazit zusammen: Denn jene Völker, die du in Besitz nehmen wirst, hören auf Wolkendeuter und Wahrsager; aber was dich betrifft – so hat JHWH dein Gott es nicht für dich eingerichtet. Damit ist der entscheidende Gegensatz zwischen jenen Völkern und Israel ([…] was dich betrifft […])28 eröffnet. Bisher wurde aber nur festgehalten, wie Israel sein Schicksal nicht erfragen soll. Erst ab V. 15 folgt ein Prophetengesetz, das den Namen verdient; denn von einem Propheten war ja bisher noch gar nicht die Rede. Die Verse 15–22 könnten auch ohne jeden Zusammenhang mit V. 9– 14 verstanden werden, aber im vorliegenden Textzusammenhang soll Israel die Rolle der Propheten in seiner Mitte offenbar vor dem Hintergrund der altorientalischen Orakelwesens verstehen. Dieser Kontext macht deutlich, dass Prophetie einerseits und Orakeldeutung andererseits als etwas wesentlich Unterschiedenes begriffen werden sollen. Im Unterschied zu jenen Völkern (V. 9) wird es in Israel demnach einen ‫ נָבִ יא‬geben. Während dieses Stichwort im bisherigen Pentateuch insgesamt erst siebenmal vorkam29, findet es sich innerhalb von Dtn 18,15–22 allein fünf weitere Male. In der kanonischen Lesefolge wird nun also etwas Neues ausdrücklich zum Thema. Historisch 25 Vgl. Eduard Nielsen, Deuteronomium, HAT I/6, Tübingen 1995, 186; John Day, Art. Menschenopfer II. Altes Testament, RGG4 5 (2002), 1087f. 26 Vgl. V. 9.13.14.15.16. 27 Vgl. Rose, ZBK.AT 5,1 (wie Anm. 24), 103. 28 Insbesondere der zusammengesetzte Nominalsatz ‫וְ אַתָּ ה ל ֹא כֵן נָתַ ן לְ ָך יְ הוָה אֱֹלהֶ יָך‬ macht den Fazitcharakter auch syntaktisch deutlich: Das vorangestellte ‫וְ אַתָּ ה‬ weist auf den Zielpunkt: Du aber redet Israel eben in seiner Unterschiedenheit von jenen Völkern (V. 9) an. 29 Vgl. Gen 20,7 (Abraham als Prophet bei Abimelech); Ex 7,2 (Aaron als Prophet des Mose); Num 11,29 (die Ältesten Israels als geistbegabte Propheten); Num 12,6 (Propheten als Seher); Dtn 13,2.4.6 (falsche Propheten und Träumer).

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blickt dieses Prophetengesetz freilich auf Erfahrungen mit Prophetie und auch auf vorhandene Texte zurück, auf die direkt oder indirekt Bezug genommen wird. Auf das Ganze des AT gesehen, ist aber keineswegs immer eindeutig, was mit dem Begriff ‫ נָבִ יא‬bezeichnet wird.30 Da gibt es Bezüge zu einer vermeintlich alten Sehertradition (vgl. 1Sam 9,9), mal wird ein ekstatisches Phänomen bezeichnet (vgl. 1Sam 10,11) oder es ist von staatstragenden Hofpropheten die Rede (vgl. 1Kön 22), bis dahin, dass Amos die Bezeichnung ‫ נָבִ יא‬für sich rundweg ablehnen kann (vgl. Am 7,14). Hier, im Prophetengesetz, werden nun verschiedene Dinge über einen solchen Propheten gleichsam definitorisch festgestellt: Der Prophet stammt aus der Mitte Israels, ist einer seiner „Brüder“31 und eben niemand aus jenen Völkern. JHWH selbst wird ihn erstehen32 lassen. Insofern ist der ‫נָבִ יא‬ eben kein „Amt“ im landläufigen Sinne einer gesellschaftlichen Institution. Vielmehr ist er das charismatische Gegenüber zu allen Institutionen. Er ist außerdem wie ich, also wie Mose und wird dadurch auch an die Tora zurückgebunden.33 Schließlich kann man ihn hören, d.h. sein Medium ist nicht die Deutung der Wolken oder anderer Orakel34, sondern das Wort. In den Versen 16 und 17 wendet sich der Sprecher Mose nun direkt an das Volk und ruft für die Einsetzung eines Propheten einen ganz anderen Kontext auf. Nun geht es nicht mehr darum, dass Israel auf Propheten hört im Unterschied zu jenen Völkern. Vielmehr wird jetzt an eine Bitte des Volkes selbst erinnert. Im Kontext der Verkündigung des Dekalogs wird den Israeliten angesichts der dortigen Theophanie bewusst, dass es Gott nicht hören oder sehen kann, 30 Vgl. Rose, ZBK.AT 5,1 (wie Anm. 24), 97. 31 Vgl. Lothar Perlitt, „Ein einzig Volk von Brüdern“. Zur deuteronomischen Herkunft der biblischen Bezeichnung „Bruder“, in: ders., Deuteronomium-Studien (wie Anm. 5), 50–73. 32 Subjekt von ‫ קום‬im Hifil ist im AT in der Regel Gott, vgl. Ri 3,9.15 (Retter); 1Sam 2,35 (Priester); Am 2,11; Jer 29,15 (Propheten); Dtn 28,36; 1Kön 14,14; Jer 30,9 (Könige) u.ö. 33 Vgl. in diesem Sinne die dtr theologische Reflexion über die Rolle der Propheten in 2Kön 17,13 (Propheten als Mahner der Umkehr zu Gottes Geboten) und das Kolophon des Kanonteils nebi’im in Mal 3,22 (Einschärfung der Tora des Mose). 34 Vgl. V. 14, wo auch die Völker auf ihre Wahrsager hören. So stellt die Wurzel ‫ שׁמע‬eine Verbindung zwischen beiden Textteilen und zugleich eine kontrastive Bezugnahme dar; vgl. Rose, ZBK.AT 5,1 (wie Anm. 24), 102.

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ohne zu sterben.35 V. 17 bestätigt dieses Zitat des Volkes ausdrücklich im Mund JHWHs. Demnach kommt dem angekündigten Propheten also die Funktion eines Mittlers zwischen Gott und Volk zu. Zugleich wird auf der sprachlichen Ebene in V. 17 mit der Formulierung es ist gut, was sie gesagt haben (‫ )הֵ יטִ יבוּ אֲשֶׁ ר ִדּבֵּ רוּ‬die Wurzel ‫ דבר‬eingeführt, die als Signalwort den Rest des Textes bestimmen wird. Mal verbal, mal substantivisch gebraucht, ist so das Thema „Wort“ schon rein lexematisch dauerpräsent.36 V. 18 scheint zunächst einfach V. 15 zu wiederholen. Während dort aber Mose redet, ergehen die Worte jetzt aus dem Munde JHWHs.37 Bereits am Horeb hat also Gott selbst dem Mose gegenüber die Installation eines Propheten angekündigt. Allerdings bringt dieser Vers zwei neue Akzente, die wesentlich sind. Zum einen wird nun ausdrücklich gesagt: ich will meine Worte in seinen Mund legen (‫)וְ נָתַ ִתּי ְדבָ ַרי בְּ פִ יו‬. Der Prophet wird also seine Worte von Gott selbst empfangen. Aber diese Worte sind nicht nur für den Propheten selbst bestimmt, sondern sollen an das Volk als Gebote Gottes übermittelt werden: und er wird zu ihnen all das sagen, was ich ihm gebiete (‫)וְ ִדבֶּ ר ֲאלֵיהֶ ם אֵ ת כָּל־אֲשֶׁ ר אֲצַ וֶּנּוּ‬.38 Beide Formulierungen weisen in 35 Vgl. die engen wörtlichen Berührungen zwischen Dtn 18,16f. und Dtn 5,22–28. Dass man deshalb aber in Dtn 18,16–20 „mit einer jüngeren Fortschreibung zu rechnen“ (Crüsemann, Tora [wie Anm. 20], 281) habe, ist keinesfalls ausgemacht; denn zumindest der Einwand von V. 21 kann doch am besten als Fortsetzung von V. 20 und nicht als ursprüngliche Anknüpfung an V. 15 (vgl. a.a.O., 281f.) verstanden werden; vgl. Otto, Gerichtsordnung (wie Anm. 20), 151f., der Königs- und Prophetengesetz für dtr Ergänzungen einer dtn Gerichtsordnung hält. Gerade so wird der Text zu einem Verfassungsentwurf. Vgl. außerdem Eckart Otto, Prophetie im deuteronomistischen Deuteronomium, in: ders., Die Tora. Studien zum Pentateuch, BZAR 9, Wiesbaden 2009, 257–271, 266f. 36 In den Versen 17–22 findet sich die Wurzel ‫ דבר‬nicht weniger als fünfzehn (!) mal. 37 In V. 15 und 18 liegt m.E. nicht eine Dublette im Sinne eines literarkritischen Indikators vor. Vielmehr verhalten sich die beiden Sätze als komplementäre Aspekte einer Aussage zueinander: Was V. 15 im Munde des Mose ergeht, wird in V. 18 durch JHWHs eigne Aussage bekräftigt. Der Hinweis in V. 15 auf diesen Propheten sollt ihr hören, wird durch die Aussage in V. 18 ich lege meine Worte in seinen Mund begründet; vgl. Köckert, Ort (wie Anm. 21), 94f. 38 Dazu Rose, ZBK.AT 5,1 (wie Anm. 24), 102: „Wichtig ist aber vor allem die Fortsetzung: daß die ‚Gottes-Worte‘ (der Gottes-Wille) in seinen Mund gelegt

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das Jeremiabuch, wo sie wörtlich wiederbegegnen.39 Im Duktus des Textes Dtn 18,15ff. ist sehr wahrscheinlich nicht an eine bestimmte prophetische Figur gedacht.40 Vielmehr wird das Prophetenamt insgesamt in der Kontinuität des Mose gesehen. Die sprachlichen Beziehungen lassen aber darauf schließen, dass die dtr. Verfasser wohl in Jeremia die Verkörperung eines solchen Propheten sahen. Damit ist eigentlich alles gesagt, und in der Tat signalisiert das ‫ וְ הָ יָה‬zu Beginn des Verses 19 einen Neueinsatz. Jetzt werden noch zwei Formen grundlegenden Fehlverhaltens angesprochen: Zunächst geht es darum, dass der Prophet zwar Gottes Wort redet (das Wort, das er in meinem Namen redet), einzelne dieses Wort aber nicht hören wollen. Diesem Verhalten wird die Strafe Gottes angedroht. Sodann thematisiert V. 20 den Fall, dass ein Prophet nicht in JHWHs Namen, sondern im Namen eines fremden Gottes redet. Das ist ein Verstoß gegen das Hauptgebot des Deuteronomiums, dass Israel nämlich ungeteilt bei seinem Gott bleiben soll (vgl. V. 13). Es wird entsprechend als todeswürdiges Verbrechen eingestuft. Daraus aber ergibt sich erneut ein Problem für Israel, und in der Behandlung auch noch dieser Frage zeigt sich der reflektierte Charakter dieses Textstücks: Wie soll Israel wahres von falschem Wort JHWHs unterscheiden? Hier bleibt nur die pragmatische Lösung: Falsche Prophetie wird nicht eintreffen. JHWHs Wort erweist sich als tragfähig. Damit ist zunächst die Frage nach dem Eintreffen von Zukunftsansagen auf dem Plan. Doch ist es im Verlauf der Geschichte Israels wie auch in der Kirchengeschichte immer wieder dazu gekommen, dass konkurrierende Aussagen (oder auch Auslegungen) des Gotteswortes vorlagen. So ist zugleich mit der Frage nach „Prophezeiung“ und Erfüllung auch das – theologisch bis heute virulente – Phänomen auf dem Plan, dass die Wirksamkeit des Gotteswortes

werden und daß der Prophet gehorsam und getreu alles dem Volk mitteilt, was ihm aufgetragen ist. Das Primäre und Eigentliche an den Propheten ist ihre Beziehung zu Gott – und die besteht wesentlich in der Worthaftigkeit“ (Hervorhebung im Original). 39 Vgl. meine Worte in deinen Mund legen in Jer 1,9 und 5,15; alles, was ich dir gebiete in Jer 1,7; dazu mehr im Abschnitt 3. dieses Aufsatzes. 40 „Formuliert wird, da ist sich die Forschung einig, im Iterativ. Immer wieder wird es solch einen Propheten geben“ (Crüsemann, Tora [wie Anm. 20], 281).

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sich immer nur in einem Akt des Vertrauens, mithin des Glaubens erschließt.41 Auf diese Weise erweist sich der Text Dtn 18,9–22, der als Verbot magischer Praktiken für Israel beginnt, dann zur Beschreibung einer Prophetie im Gefolge des Mose wird, in seinem Fortgang schließlich als eine Theologie des Wortes Gottes im Kleinen. Dies wird noch deutlicher, wenn man die zahlreichen intertextuellen Bezüge zu andern alttestamentlichen Abschnitten in den Blick nimmt.

3. Querbeziehungen Das Prophetengesetz ist durch signifikante intertextuelle Bezugnahmen mit einer großen Zahl weiterer alttestamentlicher Texte verknüpft. Zunächst ist der Text in den Nahkontext der Ämtergesetzte eingebunden. Hier fallen besonders die Verknüpfungen mit dem Königsgesetz auf. Beide Texte beginnen mit einer sog. historisierenden Gebotseinleitung (wenn du in das Land kommst, das JHWH, dein Gott, dir geben wird … Dtn 17,14 und 18,19). Während dann ein König eingesetzt wird, wie ihn alle Völker, die mich umgeben (Dtn 17,14) haben, verweist Dtn 18,9.14 darauf, worin Israel gerade nicht handeln darf wie jene Völker. Sowohl der König, als auch der Prophet sollen allerdings aus der Mitte deiner Brüder (Dtn 17,15 vgl. 18,15.18) stammen, dürfen also keine Fremden sein. Der König wird von JHWH erwählt und vom Volk eingesetzt, während der Prophet allein von Gott eingesetzt wird.42 So sind hier politische Institution und charismatisches Gotteswort in den Ämtergesetzen einander gegenübergestellt. Der König wird direkt an die geschriebene Tora gebunden (vgl, Dtn 17,18).43 Der Prophet ist über den Vergleich mit Mose indirekt mit der Tora verknüpft,44 sagt aber ein eigenes Wort, das dann auch zu einem eigenen Schriftenkorpus führt. 41 „Kein Gesetz kann die Entscheidung treffen, wo Gotteswort ist über den Maßstab des ‚Mose‘ hinaus (vgl. Dtn 13), wie sollte es auch. Es kann und muß sie aber offenhalten, und genau das geschieht hier“ (Crüsemann, Tora [wie Anm. 20], 282). 42 Zur dialogischen Beziehung von Dtn 17,14–20 und 18,9–22 vgl. Otto, Gerichtsordnung (wie Anm. 20), 151. 43 Vgl. Lohfink, Sicherung (wie Anm. 20), 311. 44 Vgl. Lohfink, Sicherung (wie Anm. 20), 320f. Dazu Otto, Gerichtsordnung (wie Anm. 20), 154: „Die mosaisch legitimierte Prophetie tritt neben die mosaische Tora […] So wird aus guten theologischen Gründen das Verhältnis zwischen

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In der vorliegenden Gestalt blicken diese Ämtergesetze als ein Verfassungsentwurf auf eine bessere Zukunft nach dem Exil voraus und zugleich auf die Erfahrungen der Königszeit Israels und Judas zurück. So ist es kein Wunder, dass der König in seiner Macht erstaunlich (und geradezu „utopisch“) begrenzt wird. Das DtrG und die weitgehend kritischen Prophetenbücher, die mit Amos, Hosea, Micha oder Jesaja verbunden werden,45 verweisen darauf, dass das Königtum in Israel und Juda keineswegs eine durchweg gottgefällige oder gar selbst göttliche Größe ist. Vielmehr wird das, was hier in der Erzählsituation des Deuteronomiums mit jenen Völkern in Verbindung gebracht wird, in der geschichtlichen Rückschau vor allem Israels Königen vorgeworfen. Von der Apostasie des Königs Manasse war schon die Rede (vgl. 2Kön 21,1–15). Zum Vorwurf der Totenbeschwörung (vgl. Dtn 18,11 ‫ )אֹוב‬ist natürlich die Geschichte von Sauls Gang zur Totenbeschwörerin von En-Dor zu vergleichen (vgl. den Begriff in 1Sam 28,3.7ff.). Angesichts dieser Erfahrungen dient der Verfassungsentwurf mit seiner Bindung des Königs an die schriftliche Tora und die Hochschätzung des prophetischen Wortes insgesamt in der Tat der „Sicherung des Gotteswortes“46. Die Einsetzung des Propheten wird – auch darauf wurde bereits hingewiesen – in Dtn 18,16f. historisch an die Situation der Offenbarung am Horeb zurückgebunden. Auffällig sind die engen textlichen Prophetenwort und Tora in der Schwebe gehalten, wobei das Problem dadurch gemildert wird, daß die Tora durch Mose als Prophet vermittelt wurde und ein Prophet wie Mose Empfänger und Künder des Gotteswortes sein soll.“ 45 In der neueren Prophetenforschung wird die Ursprünglichkeit der Prophetie des Amos oder Jesaja als einer kritischen Gerichtsprophetie infrage gestellt. Insbesondere die Parallelen zu anderen altorientalischen Prophetien aus Mari oder den Archiven Ninives scheinen nahe zu legen, dass es auch im Israel und Juda des 8. Jh.s. v.Ch. vor allem Heilsprophetie gegeben hat. In typischer Weise vertreten solche Positionen z.B. Uwe Becker, Jesaja. Von der Botschaft zum Buch FRLANT 178, Göttingen 1997 oder Reinhard G. Kratz, Prophetenstudien, FAT 74, Tübingen 2011. Zur kritischen Auseinandersetzung hiermit vgl. Jörg Jeremias, Das Rätsel der Schriftprophetie, ZAW 125 (2013), 93–117, bes. 103ff. und die Erwiderung von Reinhard G. Kratz, Das Rätsel der Schriftprophetie. Eine Replik, ZAW 125 (2013), 635–639. M.E. widerspricht der Textbefund der infrage kommenden Bücher – selbst bei literarkritischer Reduktion – der Position, Amos oder Jesaja könnten ursprünglich in erster Linie Heilspropheten gewesen sein. Das kann hier nicht in aller Ausführlichkeit diskutiert werden. 46 Vgl. Lohfink, Sicherung (wie Anm. 20), 306.

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Berührungen mit Dtn 5,22ff. Da dieser Text aber zum späteren dtr. Rahmen des Deuteronomiums gehört, kann das auch für die Reminiszenzen in 18,16f. gelten. Zugleich ergibt sich hier die Frage, ob das „Amt“ der prophetischen Ansage des Gotteswortes nicht auch an den Ursprungsort der Tora zurückgebunden wird.47 Signifikant sind weiterhin die Berührungen zwischen dem Prophetengesetz und Dtn 13,1–6. Wird in Dtn 12 das Hauptgebot des Deuteronomiums eingeschärft, nach dem alles darauf ankommt, den einen Gott (1. Gebot) an dem einen Kultort (Kultzentralisation) zu verehren, folgen in Kapitel 13 gleich drei Beispiele für Verführungen zur Verletzung des ersten Gebotes.48 Das erste dieser Beispiele ist ein ‫נָבִ יא‬, der im Zusammenhang mit Träumern genannt wird und ausdrücklich zur Nachfolge fremder Götter aufruft. Allein schon das bis dahin im AT äußerst seltene Stichwort ‫ נָבִ יא‬verbindet die beiden Texte miteinander. Während aber der Prophet in Dtn 13,2 von selbst aufsteht (‫ קוּם‬im Qal), lässt JHWH den Propheten „wie Mose“ erstehen (‫ קוּם‬Hifil in Dtn 18,15.18).49 Dass Dtn 18,20 den Fall diskutiert, ein Prophet könnte im Namen fremder Götter (‫ )בְּ שֵׁ ם אֱֹלהִ ים אֲחֵ ִרים‬auftreten, ist eine deutliche Wiederaufnahme von Dtn 13,3 ( ‫נֵלְ כָה אַח ֲֵרי אֱֹלהִ ים‬ ‫)אֲחֵ ִרים‬. Dieser Fall wird in der prophetischen Literatur des AT so aber nicht genannt.50 Auch falsche Propheten reden im Namen JHWHs Falsches. Erst dadurch kann sich das Problem ergeben, das mit Dtn 18,21f. gelöst werden soll. Aber im Deuteronomium ist eben der Abfall von dem einen Gott Israels das immer neu diskutierte und zu vermeidende Vergehen. Entsprechend soll man auch auf die Prophe47 „Während die anderen Ämter zu ihrer Amtsführung der Tora bedürfen, dient das Prophetenamt gleichsam der von Gott gewirkten Auslegung der Tora. Als Amt, das die Funktionsfähigkeit der anderen Ämter ermöglicht, wird allein das Prophetenamt solenn auf dem Horeb begründet“ (Köckert, Ort [wie Anm. 21], 98). 48 Vgl. ausführlich Timo Veijola, Wahrheit und Intoleranz in Deuteronomium 13, in: ders., Moses Erben. Studien zum Dekalog, zum Deuteronomismus und zum Schriftgelehrtentum, BWANT 149, Stuttgart u.a. 2000, 109–130 und dazu Otto, Prophetie (wie Anm. 35), 259ff. sowie Köckert, Ort (wie Anm. 21), 84 49 Vgl. Veijola, Wahrheit (wie Anm. 45), 118. 50 „Man stelle sich doch einmal probeweise jenen Propheten von Dtn 13* konkret vor und wird sofort den Fall als durch und durch konstruiert erkennen. ‚Die Geschichte kennt keine Propheten und Träumer, die zum Abfall von Jahwe aufforderten, am wenigsten in Josias Zeit‘.“ So lautet das Fazit von Köckert, Ort (wie Anm. 21), 84 (mit Zitat von Gustav Hölscher).

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ten und Träumer aus Dtn 13 nicht hören (13,4: ‫ל־דּבְ ֵרי הַ נָּבִ יא‬ ִ ֶ‫ל ֹא ִת ְשׁמַ ע א‬ ‫)הַ הוּא‬, während es in Dtn 18,15 gerade heißt den sollt ihr hören ( ‫אֵ לָיו‬ ‫)תּ ְשׁמָ עוּן‬. ִ Ein Grund für die Unglaubwürdigkeit des Propheten in Dtn 13 einerseits und die Glaubwürdigkeit dessen in Dtn 18 andererseits ergibt sich erst aus dem Vergleich beider Texte. In Dtn 13,4 ist ausdrücklich von den Worten jenes Propheten (‫)דּבְ ֵרי הַ נָּבִ יא הַ הוּא‬ ִ die Rede, während JHWH Dtn 18,18 konstatiert: ich werde meine Worte in seinen Mund legen (‫)וְ נָתַ ִתּי דְ בָ ַרי בְּ פִ יו‬. Es gehört also zum Wesen wahrer Propheten, dass sie nicht ihr eigenes, sondern Gottes Wort sagen. Die Formulierung, JHWH lege seine Wort in den Mund des Propheten findet sich im gesamten AT nur hier und in Jer 1,9; 5,14. In der Berufungserzählung Jer 1 sagt JHWH außerdem zu Jeremia: … alles, was ich dir gebiete, sollst du reden (‫)כָּל־אֲשֶׁ ר אֲצַ וְּ ָך ְתּדַ בֵּ ר‬, was deutlich an Dtn 18,18 anklingt: und er soll zu ihnen alles reden, was ich ihm gebiete ‫)וְ ִדבֶּ ר ֲאלֵיהֶ ם אֵ ת) כָּל־אֲשֶׁ ר אֲצַ וֶּנּוּ‬.51 Auch das Ringen um falsche Prophetie (vgl. Dtn 18,20–22) ist ein zentrales Thema im Jeremiabuch (vgl. Jer 26–28)52, sodass enge Beziehungen zwischen dem Prophetengesetz und dem Jeremiabuch seit langem gesehen wurden. Dabei ist sehr wahrscheinlich, dass Dtn 18,15ff. das Jeremiabuch bereits voraussetzt53, also selbst schon einen prophetischen Text so auslegt, dass ein dort vorhandenes Problem hier in einen Rechtssatz gefasst wird. Zugleich erscheint die Figur des Jeremia im Lichte dieses Textes als prototypisch ideale Vertreter eines Propheten „wie Mose“. Noch einmal kommt das Deuteronomium selbst auf dieses Thema zu sprechen, nämlich in seinen letzten Versen in Dtn 34,10–12, wo es heißt: Nie wieder stand ein Prophet in Israel auf wie Mose, der JHWH von Angesicht zu Angesicht kannte. Hier ergibt sich eine Spannung zu den Ansagen von Dtn 18,15.18, und aus dieser Spannung legt sich eine Verständnisverschiebung nahe: Während in Dtn 18 an den Propheten im Sinne eines je und dann durch unterschiedliche Personen wahrzunehmendes „Amt“ gedacht ist, legt die starke Betonung der Unvergleichbarkeit des Mose nun nahe, dass erstens 51 „Es ist also möglich, Dtn 18,18b als Kondensat aus Jer 1,7 + 9 zu erklären, nicht aber Jer 1 als Ausführung von Dtn 18“ (Köckert, Ort [wie Anm. 21], 89). 52 Vgl. ausführlich Köckert, Ort (wie Anm. 21), 91ff. 53 Vgl. Braulik, NEB.AT 28 (wie Anm. 19), 136f.; anders aber Otto, Prophetie (wie Anm. 35), 267; vgl. dann wieder mit Nachdruck Köckert, Ort (wie Anm. 21), 85– 93.

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die prophetische Überlieferung ganz der Tora nachgeordnet wird54, und dass es sich zweitens bei dem in Dtn 18 verheißenen Propheten um eine eschatologische Gestalt handeln muss, deren Kommen noch aussteht – wenn man nicht Dtn 18,15.18 als durch Dtn 34,10 falsifiziert ansehen möchte.55 Im Judentum und auch im Neuen Testament setzt sich dann das Verständnis des Propheten aus Dtn 18 als einer verheißenen eschatologisch-messianischen Gestalt durch.56 Ich sehe hier ein markantes Beispiel für die Polyvalenz von Textsinn oder besser: für die sich im Überlieferungsprozess entfaltende Sinnfülle eines Textes.57 Hier soll aber zunächst noch ein Blick auf den letzten Abschnitt des Prophetengesetzes, die Behandlung diverser Probleme in den Versen 19–22, geworfen werden. Auch hier finden sich noch unterschiedliche Querbeziehungen zu anderen alttestamentlichen Texten. Zunächst behandelt V. 19 die Situation, dass der Prophet zwar im Namen Gottes redet, seine Worte aber auf Ablehnung stoßen. Die prophetische Literatur spiegelt das vielfältig von Amos bis Ezechiel. Hier wird diese Erfahrung mit der Formulierung einer hört nicht auf meine Worte (V. 19 ‫ל־דּבָ ַרי‬ ְ ֶ‫ֹא־יִשׁמַ ע א‬ ְ ‫ )ל‬gebracht. Dies wird als schuldhaftes Verhalten der Adressaten des prophetisch vermittelten Gotteswortes ausdrücklich in Jes 28 thematisiert. Jesaja sieht sich dort einer Gruppe von Priestern gegenüber, von denen es heißt, sie wollten nicht hören (Jes 28,12: ‫)וְ ל ֹא אָבוּא ְשׁמֹו ַע‬. In der sog. Berufungsvision 54 Vgl. Jos 1,7f. mit seiner Mahnung an Josua, sich an die geschriebene Tora zu halten. So wird der Kanonteil Nebi’im eröffnet, der in Mal 3,22 mit der Mahnung schließt: Gedenkt der Tora des Mose, meines Knechtes, die ich ihm am Horeb geboten habe über ganz Israel, Satzungen und Rechtssätze. 55 In der literarischen Entstehungsgeschichte mag es sich allerdings genau so verhalten haben: „Damit korrigiert 34,10 die Ankündigung von 18,15.18 durchgreifend“, stellt Köckert, Ort (wie Anm. 21), 81 fest. Nun sehen sich spätere Leser des Textes aber mit beiden Aussagen konfrontiert; denn die „Korrektur“ führte ja nicht zur Tilgung von Dtn 18,15.18. Aus diesem Nebeneinander auf der Ebene des Endtextes ergibt sich m.E. eine produktive Spannung, die zu einem eschatologischen Verständnis des „Propheten“ geführt hat; vgl. Achim Behrens, Kanon. Das ganze Alte Testament ist mehr als die Summe seiner Teile, in: ders., Theologische Reflexionsgeschichte (wie Anm. 7), 23–44, bes. 35ff. 56 Vgl. Act 3,22f.; 7,37; Rad, ATD 8 (wie Anm. 22), 88f.; Braulik, NEB.AT 28 (wie Anm. 19), 137 oder auch Lothar Perlitt, Mose als Prophet, in: ders., Deuteronomium-Studien (wie Anm. 5), 1–19. 57 Vgl. Biblische Hermeneutik (wie Anm. 9), 19ff.

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in Jes 6 wird dies dann als Strafhandeln Gottes interpretiert. Mit den Augen nicht sehen zu können und mit den Ohren nicht hören zu können, ist Zeichen der Verstockung und somit Gerichtshandeln Gottes.58 Im Prolog des Sacharjabuches mit seiner Reflexion über die früheren Propheten wird dies geradezu zum typischen Verhalten der (vorexilischen) Prophetie gegenüber (vgl. Sach 1,4). So blickt auch hier das Prophetengesetz auf eine Vorgeschichte der Prophetie und zugleich auf deren literarischem Niederschlag zurück. V. 20 eröffnet den letzten Abschnitt des Textes, in dem es darum geht, wie damit zu verfahren ist, wenn der Prophet im Namen JHWHs Worte sagt, die dieser nicht geboten hat. Dabei findet sich die Formulierung ‫יתי‬ ִ ִ‫ ל ֹא־צִ וּ‬im Bezug auf prophetische Falschbotschaft gehäuft im Jeremiabuch59. Dass hier ein Prophet eindeutig im Namen eines anderen Gottes auftritt, wie Dtn 18,20b voraussetzt, ist ein Gedanke, der sich explizit nur noch in Dtn 13 findet. Der Vorwurf irritiert im vorliegenden Zusammenhang. Denn V. 21f. beschäftigt sich mit einer viel diskutierten Frage: Wie man nämlich die Botschaft eines echten von einem falschen Propheten unterscheiden kann, wenn auch die falsche Botschaft im Namen JHWHs ergeht.60 Auch diese Fragestellung weist ausdrücklich ins Jeremiabuch (vgl. Jer 28), wird aber in einem Text des DtrG ausdrücklich durchgespielt. In 1Kön 22 wird davon berichtet, wie der als Opponent verschriene Prophet Micha Ben Jimla einerseits und vierhundert Hofpropheten andererseits dem König Ahab von Israel je gegensätzliches Kriegsglück prophezeien. Ahab löst den Konflikt im Sinne des Prophetengesetzes, indem er Micha Ben Jimla, der eine Niederlage vorhersagte, bis zu seiner Rückkehr einsperren lässt. Die Frage soll also vom Ausgang her entschieden werden. Micha fügt sich und konstatiert: Kehrst du tatsächlich in Frieden heim, hat JHWH nicht durch mich geredet … (1Kön 22,28a: ‫ֹא־דבֶּ ר יְהוָה בִּ י‬ ִ ‫)אם־שֹׁוב תָּ שׁוּב בְּ שָׁ לֹום ל‬. ִ Das klingt wörtlich an Dtn 18,22 an. Es wird gelegentlich darauf verwiesen, dass die Beurteilung einer Prophezeiung erst von ihrem Ergebnis her, im Grund unbefriedigend 58 Vgl. ganz ähnlich dann Jer 5,15.21 und 7,13.26–28. Zu Jes 6 und 28; vgl. Achim Behrens, Prophetische Visionsschilderungen im Alten Testament. Sprachliche Eigenarten, Funktion und Geschichte einer Gattung, AOAT 292, Münster 2002, 144–156. 59 Vgl. Jer 14,14 und 23,32. Ohne expliziten Bezug auf Propheten, aber mit ausdrücklicher Erwähnung des „Moloch-Opfers“: Jer 7,31; 32,35. 60 Vgl. Otto, Prophetie (wie Anm. 35), 268f.

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ist; denn es löst ja das Problem nicht wirklich.61 Das ist richtig, verengt den Blick zugleich aber auf ein einfaches Ansage-ErgebnisSchema. Die hier zusammengetragenen Beobachtungen sollen aber vor allem darauf aufmerksam machen, dass das Prophetengesetz nicht lediglich die Erfahrungen einzelner Prophetengestalten bedenkt, sondern bereits auf eine Geschichte der Prophetie zurückblickt und prophetische Literatur vor Augen hat. In der Perspektive des Exils stellt sich dann die Frage „was ist eingetroffen“ noch einmal anders, weil sie zur Frage wird: welche prophetische Literatur ist der Überlieferung und der Fortschreibung wert?62 In der Antwort auf diese Frage liegt nicht nur der Beginn der alttestamentlichen Kanonwerdung sondern auch im Kern die Entscheidung darüber, welche Texte als Wort Gottes und damit mittelbar als Heilige Schrift angesehen werden.

4. Noch einmal: Wort Gottes – Text – Heilige Schrift Das Prophetengesetz des Deuteronomiums geht in der Gestalt einer Weisung des Mose an seinem letzten Lebenstag in Lande Moab (Dtn 1,5) und damit als ein Vorausblick auf das Leben Israels im Lande einher. Geschichtlich ist es Teil eines gewaltenteiligen Verfassungsentwurfs für einen Neubeginn Israels nach dem Exil. Wie die deuteronomischen Gesetze in Dtn 12–26 insgesamt setzten auch die Ämtergesetze die Kultzentralisation unter König Josia von Juda im Jahr 622 v.Ch. voraus. Die Texte zur Gerichtsorganisation in Dtn 16,18– 17,13* könnten aus dieser Zeit stammen. Das Königsgesetz in Dtn 17,14–20 stammt mit seiner deutlichen Depotenzierung des Königs und der ausdrücklichen Bindung an eine schriftliche Tora aber frühestens aus dem Exil. Die gilt auch für das Prophetengesetz, das nicht nur ähnlich wie das Königsgesetz formuliert wurde, sondern mit seinen zahlreichen Querbeziehungen zu vorexilischen Prophetentexten auch erkennbar eine theologische Reflexion über das Phänomen der Prophetie in Israel darstellt. In der vorliegenden Textgestalt wird eingeschärft, dass Israel auf die Propheten hören soll (Dtn 18,15), weil JHWH selbst seine Worte in ihren Mund legt (Dtn 18,18). Damit werden die charismatischen 61 Vgl. Rad, ATD 8 (wie Anm. 22), 89; Rose, ZBK.AT 5,1 (wie Anm. 24), 104. 62 „Natürlich bewährte sich da [sc. im Exil] dieser Grundsatz und trug zur wachsenden Bedeutung prophetischer Schriften und Traditionen bei“ (Crüsemann, Tora [wie Anm. 20], 283).

„Ich lege meine Worte in seinem Mund …“

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Propheten nach Vorbild der kritischen Einzelgestalten des 8. bis 7. Jh.s v.Ch. zu einer legitimen Instanz der Vermittlung des Gotteswortes in der Nachfolge des Mose neben der schriftlichen Tora.63 Auf der Textoberfläche geht es dabei um Prophetengestalten, die von JHWH erweckt werden und mündlich zu Israel reden. Die zahlreichen intertextuellen Bezugnahmen machen aber deutlich, dass hier bereits prophetische Literatur im Spiel ist – in welchem Umfang auch immer. So ergehen die Aussagen über den charismatischen Propheten, der JHWHs Worte sagt, hier bereits im Modus der Auslegung. Darüber hinaus – und dieser Aspekt ist nicht zu unterschätzen – ist das Prophetengesetz selbst bereits schriftlicher Text. Im Rückgriff auf andere Texte und in der eigenen literarischen Gestalt dokumentiert das Prophetengesetz also die Schriftwerdung des Wortes Gottes. Die Frage nach wahrer und falscher Prophetie hängt eng damit zusammen. Auf den ersten Blick scheint es um die kurzfristige Beurteilung eines mündlich ergangenen Prophetenwortes zu gehen. Dabei scheint die Auskunft, was eintrifft, ist Gottes Wort, wirklich sehr unbefriedigend. Bedenkt man aber noch einmal den historischen Ort des Textes, dann kommt die Frage der Überlieferung prophetischer Texte in den Blick. Die Katastrophen von 722 und 587 v.Ch. haben die Wahrnehmung der Prophetie geprägt.64 Eine kritische Gerichtsprophetie – immer noch vorausgesetzt, es hat eine solche ab dem 8. Jh. in Israel und Juda gegeben – hat sich in den politischen Niederlagen Israels und Judas als wahres Gotteswort erwiesen. Texte mit Bezug auf Hosea, Amos, Micha, Jesaja und anderen werden jetzt überliefert (und dann schulbildend fortgeschrieben). Was hier historisierend im Lande Moab verortet wird und im Grunde bereits als am Horeb in der Bitte des Volkes begründet erscheint, ist also eine theologische Reflexion der Erfahrungen mit der Prophetie, die den Grundstein für die Entstehung eines corpus propheticum legt, der dann einer bereits schriftlich fixierten Tora an die Seite gestellt werden kann. Nachexilisch wird der Vorgang ähnlich im Prolog des Sacharjabuches (Sach 1,2–6) thematisiert mit seinen Überlegungen 63 „Wie Mose steht der Prophet an Gottes Statt. Sein Wort ist Gottes Wort; denn Gott selbst legt seine Worte in des Propheten Mund und gebietet, was der Prophet reden soll, so daß er ‚im Namen Jhwhs redet‘ (18,19–20)“ (Köckert, Ort [wie Anm. 21]), 99. 64 „Erst in der Zeit des nachexilischen Erzählers, als das Gericht vor aller Augen lag, konnte das Erfüllungskriterium das leisten, wozu es in der erzählten Zeit gänzlich untauglich war“ (Köckert, Ort [wie Anm. 21], 93).

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Achim Behrens

über die früheren Propheten (Sach 1,4: ‫יאים הָ ִראשֹׁ נִ ים‬ ִ ִ‫)הַ נְּ ב‬, deren Botschaft eben kehrt doch um (‫ )שׁוּבוּ נָא ִמדַּ ְרכֵיכֶם הָ ָרעִ ים‬lautete. Und auch wenn diese Propheten und die Generation der ersten Adressaten vergangen sind, bleiben meine Worte und Satzungen, die ich meinen Knechten den Propheten geboten habe (Sach 1,6: ‫יתי‬ ִ ִ‫דְּ בָ ַרי וְ חֻקַּ י אֲשֶׁ ר צִ וּ‬ ‫יאים‬ ִ ִ‫)אֶ ת־עֲבָ דַ י הַ נְּב‬. Sie sind nun nicht mehr nur im persönlichen prophetischen Gegenüber greifbar, sondern in den überlieferten Texten, die auf die früheren Propheten zurückgeführt werden. Neue Propheten können sich wie Sacharja durch Berufung auf diese Propheten legitimieren oder indem sie selbst alte Prophetentexte fortschreiben wie „Deutero-“ und „Tritojesaja“. Selten finden sich explizite Zitate wie die Aufnahme von Mi 3,16 in Jer 26,18. Vor diesem Hintergrund bedeutet dann den sollt ihr hören (Dtn 18,15), weil meine Worte in seinem Mund (Dtn 18,18) liegen, nicht nur ein Gehorchen auf die mündliche Botschaft immer neuer Propheten, sondern das Gedenken der Worte der früheren Propheten. Dieses Gedenken ist aber weit mehr als eine Erinnerung an Vergangenes. Vielmehr geht es um aktualisierende Vergegenwärtigung, sei es dass ein Amoswort wie es ströme aber das Recht wie Wasser und Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach (Am 5,24) immer wieder neu seine Wahrheit entfaltet, sei es dass man dem „Gesetz“ Jesajas in neuer Lage das „Evangelium“ des Tröstet, tröstet mein Volk fortschreibend zur Seite stellt – und am Ende nur aus dem Zusammenklang das ganze Wort JHWHs hören kann. So ist das Prophetengesetz in Dtn 18,9–22 weit mehr als eine Anweisung für den Umgang mit Prophetengestalten. Es ist auch die Einweisung in das Hören auf Gottes Wort, das z.B. in der prophetischen Überlieferung zur Heiligen Schrift wird. Eine Theologie des Wortes Gottes kann sich nicht im Aufweisen eines solchen historisch zu erhebenden Selbstverständnisses biblischer Texte erschöpfen, aber sie beginnt damit. Lieber Jorg, es gibt Arbeit!

GILBERTO DA SILVA

Luther und Jakobus – Beobachtungen zu einer spannenden Beziehung 1. Einstieg Dem Theologen und Lutherforscher Heinrich Bornkamm (1901-1977) ist Recht zu geben, wenn er in Bezug auf Luthers Vorreden zu den beiden Testamenten und zu den verschiedenen biblischen Büchern meint: „Hier ist Luthers Schriftverständnis, reich und lebendig wie sonst nirgends, ausgebreitet.“1 Doch trotz dieser Wichtigkeit sind diese Texte nach wie vor wenig beachtet.2 Viel zitiert und in alle Richtungen interpretiert werden allerdings zwei Ausdrücke, die im Zusammenhang mit der Übersetzung des Jakobusbriefes stehen: „was Christum treibet“ – präziser: „ob sie [sc. alle Bücher] Christum treyben, odder nit“3 – und „stroern Epistel“4. In den folgenden Zeilen wird durch Beobachtungen der Versuch unternommen, einige historisch-kontextuelle, exegetische und dogmatische Elemente von Luthers Beziehung zum Jakobusbrief zu erhellen. Dabei besteht Anspruch weder auf Vollständigkeit noch auf Lieferung einer endgültigen Antwort auf diese spannende Beziehung.

2. Luthers Vorreden Luthers Vorgehen, seinen Textübersetzungen eigene Vorreden bzw. Einleitungen voranzustellen, war kirchengeschichtlich kein Novum. Es handelte sich eigentlich um eine Tradition, die in Hieronymus (347–420) einen ihrer größten prominenten Vertreter hatte. Aber auch sogenannte Häretiker wie Marcion (ca. 85–160) oder Pelagius (ca. 350–420) verfassten ihre eigenen Vorreden zu biblischen Bü1 2 3 4

Heinrich Bornkamm (Hg.), Luthers Vorreden zur Bibel (Kleine VandenhoeckReihe 1550), Göttingen 31989, 11. Vgl. Jörg Armbruster, Luthers Bibelvorreden. Studien zu ihrer Theologie (Arbeiten zur Geschichte und Wirkung der Bibel 5), Stuttgart 2005, 11. Martin Luther, Vorrhede auff die Episteln Sanct Jacobi unnd Judas, in: WA.DB 7, 384, 27. Martin Luther, Das Newe Testament Deutzsch (1522), in: WA.DB 6, 10, 33–34.

______________________________________________________________________ LuThK 40 (2016), 25-45 DOI 10.2364/3846999332

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chern. Allerdings waren solche Vorreden in der Regel dadurch charakterisiert, dass sie sich bezüglich des biblischen Textes eher mit formalen als mit inhaltlichen Themen beschäftigten. Man verteidigte z.B. die eigene Übersetzung, lieferte geschichtliche Daten oder – im Falle der Häretiker – versuchte die eigene theologische Position zu untermauern.5 Luthers Vorreden konzentrieren sich dagegen auf den theologischen Inhalt der biblischen Bücher und haben zwei „Brennpunkte“: die Botschaft der Bibel bzw. des Textes und den Leser6 bzw. die Rezeption der Botschaft. Gleich in der Vorrede zum sogenannten „Septembertestament“7, seiner Übersetzung des Neuen Testaments von 1522, macht Luther eine wichtige, ja zentrale inhaltliche Angabe: Darumb sihe nu drauff, das du nit aus Christo eyn Mosen machist, noch aus dem Euangelio eyn gesetz oder lere buch, wie bis her geschehen ist, und ettlich vorrhede auch Sanct Hieronymi sich horen lassen. Denn das Euangeli foddert eygentlich nicht unser werck, das wyr da mit frum und selig werden, ia es verdampt solche werck, sondern es foddert nur glawben an Christo, das der selb fur uns, sund, tod vnd helle uberwunden hat, und also uns nicht durch unsere werck, sondern durch seyne eygen werck sterben und leyden, frum lebendig und selig macht, das wyr uns seynes sterbens und uberwyndens mugen annehmen, als hetten wyrs selber than.8

Es ist ersichtlich, dass für Luther der Botschaftsinhalt von der Rezeption, von dem, was der Leser mit dem Botschaftsinhalt macht, nicht separat zu betrachten ist. In dieser Beziehung zwischen Text und Leser ist auch das Wie und das Wozu der Beschäftigung mit dem biblischen Text wichtig: Ja wo der glawbe ist, kan er sich nit halten, er beweyßet sich, bricht eraus, unnd bekennet und leret solch Euangelion fur den leutten und waget seyn leben dran, Unnd alles was er lebet und thutt, das richtet er zu des nehisten nutz, yhm zu helffen, nicht alleyn auch zu solcher 5 6 7 8

Vgl. Bornkamm, Vorreden (wie Anm. 1), 12ff. A.a.O., 15; vgl. Wilhelm Walther, Luthers Deutsche Bibel. Festschrift zur Jahrhundertfeier der Reformation, Berlin 1917, 64. Vgl. „Historisch-theologische Einleitung“: Luther, Newe Testament (wie Anm. 4), XLI. A.a.O., 8, 3–11.

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gnade zu komen, sondern auch mit leyb, gut, und ehre, wie er sihet, das yhm Christus than hat, und folget also dem exempel Christi nach, Das meynet auch Christus, da er zur letze keyn ander gepot gab, denn die liebe, daran man erkennen solte, wer seyne iunger weren und rechtschaffne glewbigen, denn wo die werck und liebe nicht eraus bricht, da ist der glawbe nicht recht, da hafftet das Euangelion noch nit, unnd ist Christus nicht recht erkant. Sihe, nu richte dich alßo ynn die bucher des newen testaments, das du sie auff diße weyße zu leßen wyssest.9

Die hier deutlich zu sehen beiden „Brennpunkte“ sind die Voraussetzungen für die Differenzierungen, die Luther in den weiteren Vorreden vornimmt. Ungewöhnlich – und manchem vielleicht sogar anstößig – lautet die Überschrift: wilchs die rechten und Edlisten bucher des newen testaments sind 10

den zweiten Abschnitt der allgemeinen Vorrede ein. Vom Inhalt her und aufgrund ihrer Wirkung auf den Leser sowie ihres Gebrauchswertes sind die biblischen Bücher für Luther voneinander zu unterscheiden, und zwar so, dass eine deutliche Wichtigkeitsabstufung zu Tage tritt: Aus disem allen kanstu nu recht urteylen unter allen buchern, und unterscheyd nehmen, wilchs die besten sind, Denn nemlich ist Johannis Euangelion unnd Sanct Paulus Epistelln, sonderlich die zu den Romern, und sanct Peters erste Epistel der rechte kern und marck unter allen buchern, wilche auch billich die ersten seyn sollten, Und eym iglichen Christen zu ratten were, das er die selben am ersten und aller meysten lese, und yhm durch teglich leßen so gemeyn mechte, als das teglich brott, Denn ynn disen findistu nicht viel werck unnd wunderthatten Christi beschrieben, Du findist aber gar meysterlich außgestrichen, wie der glawbe an Christum, sund, tod und helle uberwindet, und das leben, gerechtigkeyt unnd seligkeyt gibt, wilchs die rechte artt ist des Euangeli, wie du gehoret hast.11

Es ist hier, im zweiten Abschnitt der allgemeinen Vorrede bzw. im Kontext der von ihm vorgenommenen innerbiblischen Differenzie9 10 11

A.a.O., 8, 29 – 10, 6. A.a.O., 10, 7–8. A.a.O., 10, 9–19 (Hervorhebung: GdS).

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rungen, wo Luther die berühmte Aussage über den Jakobusbrief trifft: Summa, Sanct Johannis Euangeli und seyne erste Epistel, Sanct Paulus Epistel, sonderlich die zu den Romern, Galatern, Ephesern, unnd Sanct peters erste Epistel, das sind die bucher, die dyr Christum zeygen, und alles leren, das dyr zu wissen nott und selig ist, ob du schon kein ander buch noch lere nummer sehest noch horist, Darum ist sanct Jacobs Epistel eyn rechte stroern Epistel gegen sie, denn sie doch keyn Euangelisch art an yhr hat.12

Hier sind die bereits erwähnten beiden „Brennpunkte“ wieder deutlich wahrnehmbar: die einzelnen biblischen Bücher sind voneinander zu unterscheiden und de facto in „bessere“ und „schlechtere“ bzw. Bücher ersten und zweiten Ranges abzustufen,13 doch nicht allein wegen der darin enthaltenen Lehre, sondern wegen der konkreten evangelischen Botschaft für den Leser, die Luther als „evangelische Art“ oder „rechte Art des Evangeliums“ beschreibt. Es ist also zunächst festzustellen, dass für Luther der Jakobusbrief wegen seiner Botschaft an den Leser eine „stroherne Epistel“ ist. Damit verweist er auf den geringeren Wert14 dieser Epistel im Vergleich mit anderen 12 A.a.O., 10, 29–34 (Hervorhebung: GdS). 13 Vgl. Karl Holl, Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungskunst, in: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, 1, Tübingen 61932, 544–582, 561. 14 Zum übertragenen Sinn von „Stroh“ meldet das Grimmsche Wörterbuch: „3) in übertragenem und bildlichem gebrauch, in vergleichen, redensarten und sprichwörtern, vgl. hierzu Wander sprichw. 4, 913; meist in anlehnung an bestimmte vorstellungsbereiche, die dem wort einen wertakzent oder auch einen gewissen gefühlswert verleihen können. a) am häufigsten verbindet sich mit stroh die vorstellung des nichtigen, eitlen, leeren, wertlosen in mannigfachen schattierungen. […] b) vorwiegend in älterer sprache mit der vorstellung geringer widerstandsfähigkeit, geringer haltbarkeit verbunden. […] c) vereinzelt geben auch trockenheit und saftlosigkeit des strohs zu vergleichen anlasz. […] d) in der wendung von stroh sein meist auf den menschen übertragen (s. auch strohmann); dabei treten je nach der situation die unter a–c behandelten vorstellungen hervor. ‚ohne saft und kraft‘. […] e) besonders in redensarten und sprichwörtern an die leichte brennbarkeit des strohs anknüpfend“; J. und W. Grimm, Art. „Stroh“, in: Deutsches Wörterbuch, 19, Leipzig 1854ff, Sp. 1642– 1648. Das Bild aus 1Kor 3,11–13: „Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus. Wenn aber jemand auf den Grund baut Gold, Silber, Edelsteine, Holz, Heu, Stroh [καλάμην, VUL= faenum], so

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biblischen Schriften, die die „evangelische Art“ in sich tragen, wie z.B. die Episteln des Apostels Paulus. Interessant ist allerdings die Tatsache, dass der mit den Worten „welche die rechten und edelsten Bücher des Neuen Testaments sind“ betitelte zweite Abschnitt der allgemeinen Vorrede seit der vollständigen Bibelausgabe von 1534 und der Sonderausgabe des Neuen Testaments von 1539 nicht mehr mit abgedruckt wurde,15 während er in den neutestamentlichen Sonderdrucken von 1534–1537 durchaus noch erschien. Letzteres dürfte auf eine „Unachtsamkeit der Druckerei“ zurückzuführen und „ein Anzeichen dafür, dass Luther sich selbst um die Sonderdrucke [15]34–[15]37 nicht gekümmert hat“,16 sein. Wenn das stimmt, würde das wiederum bedeuten, dass Luther selbst – zumindest in der allgemeinen Vorrede – „seine deftigen Worte zum Jakobusbrief bald nicht mehr öffentlich [hat] gelten lassen“.17 Dies gilt es zu vertiefen, aber zunächst ist es wichtig, auch die historischen Hintergründe der „deftigen Worte“ zu beleuchten.

3. Die „stroherne“ Epistel Luther übersetzte das Neue Testament bekanntlich während seines Aufenthalts auf der Wartburg 1521–1522. Auf der einen Seite sollte die Übersetzung der Bibel dazu dienen, den Missbräuchen in der kirchlichen Lehre und Praxis durch die damalige römische Kirche den Inhalt der biblischen Texte entgegen zu setzen. Aber auf der anderen Seite waren zu jener Zeit auch Missbräuche und Missverständnisse innerhalb der evangelischen Bewegung entstanden, die ebenfalls mit den biblischen Texten konfrontiert werden mussten. Das Treiben Karlstadts und der sogenannten „Zwickauer Propheten“ in Wittenberg während Luthers Aufenthalt auf der Wartburg dürften

wird das Werk eines jeden offenbar werden. Der Tag des Gerichts wird’s klarmachen; denn mit Feuer wird er sich offenbaren. Und von welcher Art eines jeden Werk ist, wird das Feuer erweisen“ [Hervorhebung; Anmerkung: GdS] mag in der Bezeichnung „stroherne Epistel“ auch eine Rolle gespielt haben. 15 Vgl. Bornkamm, Vorreden (wie Anm. 1), 173. 16 „Anmerkungen und Erläuterungen zum Neuen Testament 1522–1534“, in: Luther, Newe Testament (wie Anm. 4), 536. 17 Hermann Eberhardt, Zu Martin Luthers Diktum vom Jakobusbrief als „stroherne Epistel“, http://www.hermann-eberhardt.de/Magazin-Downloads/Stroherne Epistel.pdf (Stand: 02.12.2015).

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hierzu als Beispiel genügen.18 Die innerevangelische Auseinandersetzung forderte jedoch eine stärkere Fokussierung auf den hermeneutischen Zugang zu den biblischen Texten. Vereinfachend gesagt hieß es, dass auch das Wie, nicht nur das Dass des sola scriptura stärker herausgearbeitet werden müsste, denn bezüglich der Frage nach der Alleingültigkeit der biblischen Texte für die christliche Lehre waren sich die Evangelischen unter sich einig,19 aber die Meinungen gingen auseinander, wenn es um die Interpretation der Texte ging. Doch die Auseinandersetzung um den Jakobusbrief greift weiter zurück. Bereits in den Resolutiones zu der Leipziger Disputation 1519 äußerte sich Luther geringschätzend über den Jakobusbrief:20 Quod autem Iacobi Apostoli epistola inducitur ‚Fides sine operibus mortua est‘, primum stilus epistolae illius longe est infra Apostolicam maiestatem nec cum Paulino ullo modo comparandus, deinde de fide viva loquitur Paulus. Nam fides mortua non est fides, sed opinio. At vide theologos, hanc unam autoritatem mordicus tenent, nihil prorsus curantes, quod tota alia scriptura fidem sine operibus commendet: hic enim mos eorum est, una abrepta oratiuncula textus contra totam scripturam conura erigere.21

Hier ist deutlich zu sehen, dass Luther schon etwa drei Jahre vor seinen Ausführungen über den Jakobusbrief im sogenannten Septembertestament dessen Aussagen der Gesamtbotschaft der Heiligen Schrift gegenüberstellte und so den Jakobusbrief inhaltlich „herabstufte“. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Karlstadt etwa ein Jahr später die Frage nach dem biblischen Kanon aufgreift und 18 Vgl. Hans Lietzmann, Luther auf der Wartburg, in: Luther-Jahrbuch 4 (1922), 30–44, 40. 19 Dass die von Luther genannten „Schwärmer“ anders als er eine Wirkung des Heiligen Geistes auch außerhalb des schriftlichen Wortes annahmen, tut dieser Feststellung keinen Abbruch, denn ihnen ging es dabei nicht um die Bestreitung des sola Scriptura, sondern um die angebliche Bewahrung der Freiheit Gottes durch die Annahme, dass er einen Menschen auch außerhalb des Buchstabens anspricht bzw. ansprechen kann; vgl. Berndt Hamm, Zwinglis Reformation der Freiheit, Neukirchen-Vluyn 1988, 16ff. 20 Vgl. Armbruster, Bibelvorreden (wie Anm. 2), 147. 21 Martin Luther, Resolutiones Lutherianae super propositionibus suis Lipsiae disputatis, in: WA 2, 425, 10–16 (Hervorhebung: GdS); vgl. Hermann Barge, Andreas Bodenstein von Karlstadt, 1: Karlstad und die Anfänge der Reformation, Nieuwkoop 21968, 197.

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in einer kleinen Schrift22 entfaltet. Darin nimmt er eine Dreiteilung der neutestamentlichen Bücher vor, die auf einer deutlichen Werteabstufung basiert: Oberste und fürtreflichgiste ordnung begreüfft die Euangelische byecher / der die hailige kirchen vier angenomnen hat / dise Euangelium Mathei. Euangelium Marcii. Euangelium Luce. Und Euangelium Johannis. Zu diser ordnung gehören geschicht unnd hendel der Aposteln. […] In der underste und letste stell / newes testament / sten volgende bücher .i. Epistel Jacobi / die andere Petri .ij. letste Johannis / und aine Jude. Jtem die epistel zu den Hebreyern / und Apocalipsis Johannis / dise hab ich der halben zu Samen geordnet / das vorzeiten gezweyfelt / und noch für ungewiß geacht wurd / wer Oder welche solche büchlyn gemacht [/] von sant Jacobs Epystel ist gesagt / dzsy ainand’gemacht der Jacobus genant / aber doch kain Apostel ist. Derwegen sy von etlichen klaingeschetzt / und für unbiblisch gerechnet / Aber ich waiß mein gewissen nit zu bewaren / so ich d’gleich ensaget. [entsage – GdS] […] Das die selbe Epistel Biblisch autoritete in behalten hab / darzu nennen sy Hieronimus / Augustinus / und alle ander Canonican oder catholicam / so hab ich auch nienderr gelesen / das ain lerer seinen widersachern gestat und nach gelassen hat / solche Epistel zu verachten und verwerffen. […] Der halben kan ich niemandts raten / ob sy gleich in der understen stell wanet / das er sy verwerf / oder schümpflch handel.23

Karlstadts Text lässt deutlich erkennen, dass zwischen ihm und Luther eine heftige Polemik um den Jakobusbrief lange vor der Einleitung im Septembertestament ausgebrochen war.24 Andere Texte 22 Andreas Bodenstein von Karlstadt, Weliche biecher Biblisch seind, Wittenberg 1520. 23 A.a.O., 12f; vgl. Barge, Karlstadt (wie Anm. 21), 196. 24 Dass es dabei nicht nur um sachliche Argumentation, sondern auch um persönliche Animositäten ging, zeigt z.B. folgende Klage Karlstadts: „Verum non possum non diluere frivola illius presbyteri argumenta, quibus eruditam Jacobi epistolam obruit odio fortasse mei (!) incensus“, zit. nach C. F. Jäger, Andreas Bodenstein von Carlstadt. Ein Beitrag zur Geschichte der Reformationszeit aus Originalquellen gegeben, Stuttgart 1856, 94. Karlstadts persönliche Betroffenheit in dieser Auseinandersetzung kann auch von daher rühren, dass er wegen Luthers Polemik gegen den Jakobusbrief in einer im Sommersemester des Jah-

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Karlstadts bestätigen diese Erkenntnis.25 Dabei lohnt es sich, einen Blick auf Karlstadts Argumentation zu werfen: Incertum esse fateor Jacobi epistolae scriptorem; at non itidem obscuram epistolae dignitatem concede. Porro si eatenus incerti nomen autoris perturbat, cur non epistolam ad Hebraeos doctissimam, dato repudii libello, relegatis ? nimirum, cum par sit causa utramque rejiciendi. Deinceps quantum pertinet ad historiae scriptionem, dubitant Hebraei, quisnam Mosaicos exceperit libros, non tamen uspiam aliquis fuit ausus ambigere de librorum autoritate. Postremo si Judaeis permittitis, quod in recipiendo libros comprobarunt, cur tantundem juris recusatis Ecclesiis Christi dare, quando Ecclesia non sit minor quam synagoga ? Nisi me nescio quid capiat, ausim dicere, si Evangelicas Matthaei literas interpretandas accepissem, eandem injuriam passas fuisse propter Carolstadium, quia dubitatur a pluribus, an Chaldaeo, an Hebraico sermone fuerint scriptae.26

An einer anderen Stelle nimmt Karlstadt die Sache sehr persönlich und zeigt sich über die Geringschätzung des Jakobusbriefs sehr irritiert: Dolet mihi temerarius Jacobi contemptus: ideo nescio, quo me calor et impetus morbi tandem vehat (!): defensionem ejus suscipio, quem veteres multa per saecula hactenus tanquam autorem sequuntur.27

Diese beiden Stellen zeigen exemplarisch den Duktus von Karlstadts Argumentation. Er erkennt sehr wohl die Problematik der Pseudepigraphen, will aber nicht gelten lassen, dass die Pseudepigraphie als Grund für die Nichtkanonizität einiger Texte angeführt wird. Für Karlstadt ist man also nicht berechtigt, „eine nun einmal von der Kirche für canonisch angesehene, durch alten Gebrauch geheiligte res 1520 gehaltenen Jakobusbriefvorlesung sehr wenige Zuhörer hatte, vgl. ebd.; vgl. Barge, Karlstadt (wie Anm. 21), 197. Interessant ist, dass während Jäger für Luther Partei ergreift, Barge Karlstadt im Kontext der damaligen Auseinandersetzung verteidigt. 25 Vgl. Barge, Karlstadt (wie Anm 21), 196ff. Allerdings ist Barges Behauptung, dass Karlstadt auf die „vollkommene Prinzipienlosigkeit, die die damalige kritische Haltung Luthers zur Heiligen Schrift kennzeichnete“, leidglich reagiert habe, (a.a.O., 198) überhaupt nicht nachvollziehbar. 26 Zit. nach Jäger, Beitrag (wie Anm. 24), 94–95. 27 Zit. nach a.a.O., 97; vgl. Barge, Karlstadt (wie Anm. 21), 199.

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Schrift blos darum aus dem Canon zu stoßen, weil über ihren Verfasser Unsicherheit herrscht“.28 Mit anderen Worten: für Karlstadt entscheidet die kirchliche Autorität bei der Feststellung des Kanonsumfangs.29 Das ist zunächst eine überraschende Argumentationslinie für einen eifrigen Reformator, der erwartungsgemäß seine Ausführungen eher auf inhaltlichen als auf formalen Gesichtspunkten basieren sollte. Doch auch unter den Reformatoren – und nicht zuletzt bei Luther selbst – ist das Verhältnis zwischen inhaltlicher und formaler Argumentation komplexer und nicht im Sinne von sich grundsätzlich gegenseitig ausschließenden Alternativen zu verstehen. Unbeschadet dieses Vorbehalts ist jedoch festzustellen, dass Karlstadt und Luther bezüglich der Behandlung des Jakobusbriefs auch inhaltlich weit entfernt voneinander standen. Das zeigt sich deutlich, wenn Karlstadt sich an inhaltliche Argumente heranwagt: Paulus habe in Röm 2 geschrieben, dass die Hörer des Gesetzes nicht gerecht vor Gott seien, sondern nur diejenigen, die das Gesetz durch Taten „ausdrückten“ („exprimunt“). Dies stelle niemand in Frage, weil Paulus wohlwollende Interpreten hinter sich habe. Aber wenn etwas Ähnliches im Jakobusbrief stehe, werde das Urteil gesprochen und dieser werde zusammen mit der ganzen Epistel verdammt. Daraufhin wird Karlstadt wieder emotional und behauptet, dass man das bei den Feinden verurteilt, was man bei den Freunden lobt: Scripsit quaedam Jacobus de operibus et fide, quae in Paulo, in Evangeliis, in prophetis, nisi conniveamus, cernere cogimur. […] Scripsit Paulus ad Rom 2 : „auditores legis non sunt justi apud Deum, sed qui legem factis ,,exprimunt.“ Hoc nemo audet carpere et eo minus audetur, quia Paulus gratos habet interpretes. Verum quando in Jacobi epistola quiddam illi notis omnibus simile offenditur diciturque, judicatur statim et condemnatur atque dedocendum ajunt totum epistolium. Bone Deus, quid non potest iracundia ! lllud scio semper fuisse hostibus peculiare penes invisos damnare, quod in amicis laudant; itaque facile commutatur cum autore veritas, si adversariis clam mordentibus committitur.30

28 Jäger, Beitrag (wie Anm. 24), 95. 29 Vgl. Barge, Karlstadt (wie Anm. 21), 198. 30 Zit. nach Jäger, Beitrag (wie Anm. 24), 98; vgl. a.a.O., 199f.

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Karlstadts Strategie besteht also darin, Jakobus mit Paulus und anderen biblischen Autoren zu harmonisieren, indem er „jede Kritik der biblischen Schriften, soweit sie auf innern Gründen, auf der Betrachtung des Inhalts und der Form dieser Schriften selbst beruht, und fordert unbedingte Unterwerfung unter das Urtheil der alten Kirche, mit dem er nur die Annahme eines gewissen SubordinationsVerhältnisses zwischen den einzelnen biblischen Schriften verträglich achtet“.31 Es wäre durchaus möglich, dass Karlstadts beharren auf der kirchlichen Autorität in der Kanonfrage und „das übertriebene Lob, das [dieser] dem Jakobusbrief gewidmet hat, Luther zu seinem scharfen Ausdruck [sc. ‚stroherne Epistel‘] gereizt“ hat.32 Parallel dazu ist davon auszugehen, dass Karlstadt auch inhaltlich eine durchaus positive Beziehung zum Jakobusbrief hatte: „Karlstadt fühlte sich von dem Hauche urchristlicher Ethik, der ihm aus dem Jakobusbriefe entgegenwehte, wunderbar berührt. Der Preis der Trübsal, das Dringen auf sittliche Betätigung, die Warnung vor den Gefahren der Wollust, die Mahnung zur Heiligung im neuen Leben: alles traf aufs innigste mit eignen Stimmungen und Erfahrungen zusammen.“33 Es ist also ersichtlich, dass die Auseinandersetzung zwischen Luther und Karlstadt um den Jakobusbrief sich auf zwei Ebenen abspielte: auf der einen Seite auf der formalen Ebene der Frage nach der Autorschaft. Beide stimmten miteinander überein, dass der als Absender gemeinte Jakobus, der Bruder Jesu, der bis zu seinem Märtyrertod 62 Leiter der Jerusalemer Urgemeinde und des Judenchristentums war,34 nicht der Autor des Textes ist bzw. sein kann. Während aber für Luther diese eher eine sekundäre Frage darstellt (s.u.), baut Karlstadt seine Argumentation so auf, dass die Kanonizität des Jakobusbriefes trotz der (möglichen) Pseudepigraphie durch die in der Alten Kirche getroffene kirchliche Entscheidung beizubehalten sei. Auf der anderen Seite steht die Auseinandersetzung um den Inhalt des Jakobusbriefs. Hier stehen Karlstadts Sympathien für die darin enthaltenen ethischen Forderungen Luthers Vorstellung der Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben um Christi willen entgegen. Es sind in der Tat genau diese beiden Themenkreise, die Luther in der Vorrede zum Jakobusbrief aufgreift. 31 32 33 34

Jäger, Beitrag (wie Anm. 24), 101. So der Herausgeber in Luther, Newe Testament (wie Anm. 4), 537. Barge, Karlstadt (wie Anm. 21), 199. Vgl. Jürgen Roloff, Einführung in das Neue Testament, Stuttgart 1998, 224.

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4. Die Vorrede zum Jakobusbrief Worum es Luther tatsächlich geht, lässt sich aus der Vorrede zum Jakobusbrief35 selbst eruieren. Die Vorrede beginnt mit einem wenig bekannten Lob auf den Jakobusbrief,36 in dem Luther ihn für gut hält, und zwar deswegen, weil er keine Menschenlehre verbreite und Gottes Gesetz deutlich verkündige: Die Epistel Sanct Jacobi, wie woll sie von den allten verworffen ist, lobe ich und halt sie doch fur gutt, darumb, das sie gar keyn menschen lere setzt und Gottis gesetz hart treybt, Aber, das ich meyn meynung drauff stelle, doch on ydermans nachteyl, acht ich sie fur keyns Apostel schrifft, unnd ist das meyn ursach.37

Das adversative „Aber“ leitet dann Luthers Vorbehalt gegen die Apostolizität dieser Schrift ein, wobei er diese Aussage deutlich abmildert, indem er – erstens – sie als seine persönliche Meinung darstellt und – zweitens – eine davon abweichende Meinung nicht verurteilen will.38 Es folgt dann die erste inhaltliche Begründung für seinen Vorbehalt: Auffs erst, das sie stracks widder Sanct Paulon unnd alle ander schrifft, den wercken die rechtfertigung gibt, und spricht, Abraham sey aus seynen wercken rechtfertig worden, da er seynen son opffert, So doch sanct Paulus Ro. 4. da gegen leret, das Abraham on werck sey rechtfertig worden, alleyn durch seynen glauben, unnd beweyßet das mit Mosi Gen. 15. ehe denn er seynen son opffert, Ob nu dißer Epistel woll mocht geholffen, und solcher rechtfertigung der werck eyn glos funden werden, kan man doch sie darynn nit schutzen, das sie den spruch Mosi Gen. 15. (wilcher alleyn von Abrahams glawben und nicht von seynen wercken sagt wie yhn Paulus Ro. 4. furet) doch auff die werck zeucht, Darumb diser mangel schleust, das sie keyns Apostel sey.39

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Die folgenden Zitate sind aus dem „Septembertestament“ von 1522 entnommen. Vgl. Armbruster, Bibelvorreden (wie Anm. 2), 140. Luther, Vorrhede (wie Anm. 3), 384, 3–8. Vgl. Walther, Festschrift (wie Anm. 6), 64; Armbruster, Bibelvorreden (wie Anm. 2), 140. 39 Luther, Vorrhede (wie Anm. 3), 384, 9–18.

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Jakobus ist „mangelhaft“ – und deswegen nicht apostolisch –, weil er gegen Paulus, der in Röm 4,2–3 die Abrahamsstelle in Gen 15 korrekt auslegt, die Werkgerechtigkeit lehrt.40 Selbst wenn man eine Gelehrtenerklärung (Glosse) im Sinne einer Harmonisierung für diesen Sachverhalt finden könnte,41 würde das der Tatsache nicht abhelfen, dass Jakobus’ Auslegung von Gen 15 mit der von Paulus sachlich unvereinbar ist.42 Darauf folgt der zweite Grund für Luthers Vorbehalt: 40 Vgl. Armbruster, Bibelvorreden (wie Anm. 2), 140f. Auch der Genesisvorlesung von 1535–45 kritisiert Luther die Auslegung der Abrahamsstelle durch Jakobus: „Abraham fuit iustus fide, antequam cognoscitur a Deo talis. Igitur male concludit Iacobus, quod nunc demum iustificatus sit post istam obedientiam, per opera enim, tanquam per fructus cognoscitur fides et iustitia. Non autem sequitur, ut Iacobus delirat: ‚Igitur fructus iustificant.‘ Sicut non sequitur: ego agnosco arborem ex fructu. Igitur arbor ex fructibus fit bona“, WA 43, 231, 36– 41, vgl. a.a.O., 148. 41 Vgl. Walther, Festschrift (wie Anm. 6), 64. 42 Vgl. Armbruster, Bibelvorreden (wie Anm. 2), 141. Die „Glosse“ bzw. Gelehrtenerklärung ist möglicherweise eine Anspielung auf die Harmonisierungsversuche Melanchthons, die zu finden sind z.B. in seinen Loci: „Itaque in summa hoc agit Jacobus mortuam fidem, hoc est, frigidam Parisiensem [sc. der Pariser Theologie bzw. Scholastik – GdS] opinionem non iustificare. Fidem vivam iustificare. Vivam vero esse, quae se in opera effundit. Sic enim inquit: ‚Ostende mihi fidem tuam sine operibus, et ego ostendam tibi ex operibus fidem meam.‘ Non autem ait: ego ostendam tibi opera sine fide. Quadrat autem ad hanc meam expositionem aptissime, id quod dictum est: Fides si non habeat opera, mortua est in semetipsa, ut satis appareat eum hoc tantum docere, quod in iis intermortua sit fides, qui fructum fidei non faciunt, quamquam in speciem credere videantur“; P. Melanchthon, Loci communes 1521. Lateinisch-Deutsch, hg. von H.G. Pohlmann, Gütersloh 21997, 268. Diese Harmonisierung versucht Melanchthon auch im Artikel IV der Apologie der Confessio Augustana: „Et iustificari significat hic non ex impio iustum effici, sed usu forensi iustum pronuntiari Sicut hic: Factores legis iustificabuntur. [Röm 2,13] Sicut igitur haec verba nihil habent incommodi: Factores legis iustificabuntur, Ita de Iacobi verbis sentimus: Iustificatur homo non solum ex fide, sed etiam ex operibus, [vgl. Jak 2,24] quia certe iusti pronuntiantur homines habentes fidem et bona opera. Nam bona opera in sanctis, ut diximus, sunt iustitiae elegis, quae sunt acceptae propter fidem nec sunt acceptae, quia satisfaciant legi. Iustificantur igitur homines ex fide et operibus, non propter opera, sed propter fidem, quam tamen bona opera sequi necesse est. Iacobus enim loquitur de his operibus, quae fidem sequuntur, sicut testatur, cum ait: Fides adiuvat opera eius. [vgl. Jak 2,22] Sic

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Auffs ander, das sie will Christen leutt leren, unnd gedenckt nicht eyn mal ynn solcher langer lere, des leydens, der aufferstehung, des geysts Christi, er nennet Christum ettlich mal, aber er leret nichts von yhm, sondern sagt von gemeynem glawben an Gott, Denn das ampt eyns rechten Apostel ist, das er von Christus leyden und aufferstehen und ampt predige, unnd lege des selben glawbens grund, wie er selb sagt Johan. 18. yhr werdet von myr zeugen, Und daryn stymmen alle rechtschaffene heylige bucher uber eyns, das sie alle sampt Christum predigen und treyben, Auch ist das der rechte prufesteyn alle bucher zu taddelln, wenn man sihet, ob sie Christum treyben, odder nit, Syntemal alle schrifft Christum zeyget Ro. 3. unnd Paulus nichts denn Christum wissen will. 1. Cor. 2.43

Die Nichtapostolizität des Jakobusbriefes besteht für Luther auch darin begründet, dass in ihm der eigentliche Inhalt der apostolischen Predigt, die Lehre von Christus, fehlt.44 Die Christologie – wohlgemerkt: nicht eine spekulative, sondern eine ökonomische, in der das pro nobis des Werkes Christi das zentrale Moment einnimmt – ist das entscheidende Kriterium.45 Apostolisch ist eine Schrift, insofern sie das Evangelium von Jesus Christus verkündigt. Sie muss inhaltlich accipiendum est: Factores legis iustificabuntur, [Röm 2,13] hoc est, qui credunt et habent bonos fructus, iusti pronuntiantur. Nam lex ita fit, si credimus, et placet propter fidem, non quod opera legi satisfaciant“; Irene Dingel (Hg.), Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche – Vollständige Neuedition, Göttingen 2014, 363, 13–25; vgl. Armbruster, Bibelvorreden (wie Anm. 2), 141. 43 Luther, Vorrhede (wie Anm. 3), 384, 19–29 (Hervorhebung: GdS). 44 Walther, Festschrift (wie Anm. 6), 64. 45 Das ist für Luther auch der inhaltliche Grund, weshalb der Jakobusbrief in der Alten Kirche umstritten war, denn die Theologen hätten an der fehlenden Christologie Anstoß genommen: „Epistolam Iacobi eiciemus ex hac schola, denn sie soll nichts. Nullam syllabam habet de Christo. Er nennet Christum nicht eins nisi in principio […] De passione et resurrectione Christi sagt er nicht ein wort, das doch allr apostell predigt ist gewest. Dazu ist da kein ordo noch methodus. Jtzt sagt er von kleidern, bald von zorn, fellet imer von einem auff das ander. Er gibet ein gleichnus: Sicut corpus non vivit sine anima, ita fides nihil est sine operibus. Ei Marge [Maria], Gotts mutter! Wie ein arme similitudo ist das! Confert fidem corpori, cum potius fides animae fuisset comparanda! Das haben auch die alten gesehen, darumb haben sie die epistolam nicht pro catholica epistola gehalten“, TR 5443, in: WA.TR 5, 157, 17–31.

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mit dem Ganzen der Heiligen Schrift übereinstimmen, „sintemal alle Schrift Christus zeigt“, wie Paulus in Röm 3,21 („bezeugt durch das Gesetz und die Propheten“) schreibt. Es gibt also doch eine „Harmonie“ der biblischen Texte, die aber vom Evangelium her gegeben ist und mit den Harmonisierungsversuchen eines Karlstadt oder Melanchthon nichts zu tun hat. Diese Harmonie steht im Zusammenhang des lutherschen und evangelischen Hermeneutikprinzips, dass die Heilige Schrift sich selbst interpretiert.46 Nun bedeutet dieses Prinzip im Umkehrschluss auch, dass bestimmte biblische Texte durch die Heilige Schrift selbst als weniger wichtig, kontraproduktiv oder sogar verwerflich eingestuft werden (können bzw. müssen). Nichts anderes tut Luther, wenn er Jakobus von Paulus (und – wie er meint – der ganzen Heiligen Schrift) her urteilt.47 Dazu passt das von ihm verwendete Bild des Prüfsteins, das auch dem „Tadeln“ einem Sinn gibt: Es geht darum, den Anspruch eines Textes auf Apostolozität anhand des Inhalts – der Predigt des Evangeliums, d.h. der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben um Christi willen – zu überprüfen, zu untersuchen und theologisch zu beurteilen.48 Für Luther geht es nicht nur um das ausdrückliche neutestamentliche Zeugnis von Christus, sondern auch um das Alte Testament, 46 „Oportet enim scriptura iudice hich sententiam ferre, quod fieri non potest, nisi scripturae dederimus principem locum in omnibus quae tribuuntur patribus, hoc est, ut sit ipsa per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres, omnium omnia probans, iudicans et illuminans“, Martin Luther, Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum. 1520, in: WA 7, 97, 20–24; vgl. Holl, Bedeutung, 559f. Was die Interpretation biblischer Stellen angeht, hatte Luther bereits 1519 anlässlich der Leipziger Disputation Eck eingeschärft, dass der Ausleger stets die gesamte Schrift vor Augen haben muss: „Non est iste modus scripturas divinas feliciter intelligendi vel interpretandi, si ex diversis locis diversa decerpantur dicta nulla habita ratione vel consequentie vel collationis: immo iste est canon errandi vulgatissimus in sacris literis. Oportet ergo theologum, si nolit errare, universam scripturam ob oculus ponere et contraria contrariis conferre et sicut duo Cherubin adversis vultibus utriusque diversitatis consensum in medio propiciatorii invenire: alioquin cuiuslibet Cherubin vultus longe divertet sequacem oculum a propiciatorio, id est vera Christi intelligentia“, Martin Luther, Disputatio Iohannis Eccii et Martini Lutheri Lipsiae habita. 1519, in: WA 2, 361, 16–23; vgl. Holl, Bedeutung (wie Anm. 13), 553. 47 Vgl. Armbruster, Bibelvorreden (wie Anm. 2), 141. 48 Vgl. a.a.O., 144.

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„sofern es über sich hinausweist auf Christus hin und darin schon von ihm predigt“.49 Doch nur „Christus“ zu erwähnen ist nicht genug, sondern es muss deutlich sein, was er bedeutet, nämlich „die Wirklichkeit des rechtfertigenden Gottes“.50 Die Festlegung dieses inhaltlichen Kriteriums führt dann zur zugespitzten Aussage der Vorrede: Was Christum nicht leret, das ist nicht Apostolisch, wens gleich Petrus odder Paulus leret, Widerumb, was Christum predigt, das ist Apostolisch, wens gleych Judas, Annas, Pilatus und Herodes thett.51

Diese ist allerdings nur die vermenschlichte Version der Aussage, die Paulus selbst in Gal 1,8 trifft.52 Die Autorität des Apostels bzw. dessen Schriften hängt nicht von seinem Namen oder seiner Berufung, sondern vom Inhalt seiner Predigt ab. Wenn jemand die Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben um Christi willen predigt, selbst wenn es sich um einen Pilatus handelt, ist diese Predigt „apostolisch“.53 Diese Aussage ist auch insofern interessant, als sie die Unterscheidung zwischen „apostolisch“ und „kanonisch“ zu Tage treten lässt. Theoretisch – wenn sie „Christum treibet“ – wäre eine neuentdeckte Schrift des Herodes „apostolisch“, aber dadurch nicht zwangsweise „kanonisch“, denn der Kanon ist beschlossene Sache. „Die Auslegung der Schrift durch die Schrift im reformatorischen Sinne führt also zur Sachkritik, aber nicht zu einem neuen, reduzierten Kanon.“54 In der Beibehaltung des Kanons folgt Luther durchaus der Tradition,55 und zugleich „wird die Grenze, die christli49 Paul Althaus, Gehorsam und Freiheit in Luthers Stellung zur Bibel, in: Luther. Vierteljahrsschrift der Luthergesellschaft 9 (1927), 74–86, 75; vgl. Holl, Bedeutung (wie Anm. 13), 562f. 50 A.a.O., 75. 51 Luther, Vorrhede (wie Anm. 3), 384, 29–32. 52 „Aber auch wenn wir oder ein Engel vom Himmel euch ein Evangelium predigen würden, das anders ist, als wir es euch gepredigt haben, der sei verflucht“; vgl. Armbruster, Bibelvorreden (wie Anm. 2), 144. 53 Vgl. Althaus, Gehorsam (wie Anm. 49), 77. 54 Armbruster, Bibelvorreden (wie Anm. 2), 147. 55 Allerdings wiederum nur bedingt, denn in Bezug auf das Alte Testament folgt Luther nicht der bis in seine Zeit hinein geltenden kirchlichen Tradition, in der der biblische Kanon den Umfang der Septuaginta bzw. Vulgata hatte, sondern übernimmt wie die Humanisten und die anderen Reformatoren den sog. hebräischen Kanon. Immerhin hat Luther die sog. Apokryphen des Alten Testaments

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che Theologie von einem Bibelfundamentalismus trennt, in aller Klarheit sichtbar. Schärfer als Luther kann man das inhaltliche, sachliche Kriterium – im Unterschied zu einer Formalisierung der Schriftautorität – nicht herausstellen. Gleichwohl ist die bleibende Bindung des Geistes, der ‚Christum treibet‘, an die Schrift in ihrer Schriftlichkeit, an den Buchstaben, zu beachten“.56 Jakobus predigt für Luther die Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben um Christi willen nicht, sondern das Gesetz und seine Werke, wobei er die Sachverhalte noch durcheinanderbringt. Deswegen vermutet Luther, der Autor sei ein frommer Mann gewesen, der etliche Sprüche von Aposteljüngern aufgeschrieben habe. Dabei habe er einiges nicht verstanden, wie z.B. die Tatsache, dass das Gesetz Knechtschaft (Röm 7) und nicht Freiheit (Jak 1,25) bedeute: Aber diser Jacobus thutt nicht mehr, denn treybt zu dem gesetz und seynen wercken, und wirfft so unordig eyns yns ander, das mich dunckt, es sey yrgent eyn gut frum man gewesen, der ettlich spruch von der Apostelln Jungern gefasset, unnd also auffs papyr geworffen hat, oder ist villeicht aus seyner predigt von eynem andern beschrieben, Er nennet das gesetz, eyn gesetz der freyheyt, so es doch sanct Paulus eyn gesetz der knechtschafft, des zorns, des tods und der sund nennet.57

Darüber hinaus findet Luther auch formale Gründe für die Behauptung, dass Jakobus, der Bruder des Herrn, der Verfasser des Jakobusbriefes nicht sein kann: Aber das, furet er die spruch Sanct Petri, Die liebe bedeckt der sund menge, Item demutiget euch unter die hand Gottis, Item Sanct Paulus spruch Gal. 5. den Geyst gelust wider den hasß, So doch Sanct mit übersetzt, mit Vorreden versehen und zusammen mit der Überschrift: „APOCRYPHA: DAS SIND BÜCHER: so der heiligen Schrifft nicht gleich gehalten / vnd doch nützlich vnd gut zu lesen sind / Als nemlich / I Judith. II Sapientia. III. Tobias. IIII Syrach. V Baruch. VI Maccabeorum. VII Stücke in Esther. VIII Stücke in Daniel.“ (M. Luther, Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545, hg. von H. Volz, H. Blanke und F. Kur, München 1972, 1674) mit drucken lassen. 56 Oswald Bayer, Gott als Autor. Zu einer poietologischen Theologie, Tübingen 1999, 214. 57 Luther, Vorrhede (wie Anm. 3), 386, 1–7.

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Jacobus zeytlich von Herodes zu Jerusalem, fur S. Peter todtet war, das woll scheynet, wie er lengst noch S. Peter und Paul gewesen sey. 58

Luther weist also textkritisch darauf hin, dass der Autor sowohl den ersten Petrusbrief (4,10: 1Petr 5,6; 5,20: 1Petr 4,8) als auch den Galaterbrief des Paulus (4,2: Gal 5,15) zitiert, was schlicht und einfach bedeutet, dass er frühestens nach dem Erscheinen dieser Texte (Terminus post quem) seine Epistel geschrieben haben soll. In diesem Sinne kann er unmöglich Jakobus, der Bruder des Herrn, der bereits 62 hingerichtet wurde, sein. Das deckt sich durchaus mit den Datierungsvorschlägen aktueller Forschung, die die Verfassung von 1Petr um das Jahr 90 und von Jak um das Jahr 100 annimmt.59 Dass Luther davon ausgeht, Petrus sei der Autor von 1Petr, tut seiner Argumentation in der Relation zum Jakobusbrief keinen Abbruch. Im letzten Absatz seiner Vorrede zu dem Jakobusbrief schreibt der Reformator: Summa, Er hatt wollen denen weren, die auff den glawben, on werck sich verliessen, und ist der sach mit geyst, verstand, und wortten zu schwach gewesen, und zureysset die schrifft, und widerstehet damit Paulo und aller schrifft, wils mit gesetz treyben außrichten, das die Apostel mit reytzen zur lieb außrichten. Darumb will ich yhn nicht haben ynn meyner Bibel ynn der zal der rechten hewbtbucher, will aber damit niemant weren, das er yhn setz und hebe, wie es yhn gelustet, denn es viel guter spruch sonst drynnen sind, Eyn man ist keyn man ynn welltlichen sachen, wie solt denn dißer eyntzeler, nur alleyn, widder Paulum unnd alle andere schrifft gellten?60

Diesen letzten Absatz hat Luther seit 1530 wie folgend gekürzt und in gewisser Hinsicht abgemildert: Summa, Er hat wollen denen wehren, die auff den glauben on werck sich verliessen, und ist der sachen zu schwach gewesen, Wil es mit dem Gesetz treiben ausrichten, das die Apostel mit reitzen zur Liebe ausrichten. Darumb kan ich jn nicht unter die rechten Heubtbücher

58 A.a.O., 386, 8–12. 59 Vgl. Roloff, Einführung (wie Anm. 34), 216; 225. 60 Luther, Vorrhede (wie Anm. 3), 386, 13–21.

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setzen, Wil aber damit niemand wehren, das er jn setze und hebe, wie es jn gelüstet, Denn viel guter Sprüche sonst darinne sind. 61

Die durchaus gute Intention des Jakobus ist nach Luther die Bekämpfung eines unangemessenen Verständnisses des rechtfertigenden Glaubens,62 aber er kann dabei die Stringenz eines Paulus nicht erreichen und bringt letztendlich Rechtfertigung und Heiligung durcheinander. Doch die „Schwachheit“ (Stroh!) des Jakobusbriefes führt nicht dazu, dass Luther ihn aus seinem deutschen Neuen Testament entfernt, sondern lediglich dazu, dass er ihm einen sekundären Platz, d.h. nicht zwischen die Hauptbücher, zuweist. Dadurch kam es bekanntlich zur Platzierung von Hebr, Jak und Jud in der Lutherbibel – anders als in der Vulgata – direkt vor die Offenbarung des Johannes, wobei eigentlich nur Hebr und Jak bewegt worden sind.63 Die Kürzung des Absatzes ab 1530 nimmt einiges von seiner Schärfe weg, ändert aber keineswegs den Sachverhalt.64 Mit anderen Worten: Luther mildert seine „deftigen Worte“ zwar ab, ändert aber nicht seine Meinung. Interessant ist allerdings die Änderung von „wollen“ in „können“, denn sie vermeidet die Vorstellung, dass die Abstufung des Jakobus eine Sache der Willkür sei; vielmehr ist sie ein Imperativ – Luther kann nicht anders –, der vom Inhalt – dem Evangelium Christi bzw. der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben um Christi willen – her diktiert wird.

5. Schlussbeobachtungen Für Luther gibt es eine Einheit in der Bibel bzw. in dem vorgegebenen Kanon, die jedoch keine schriftstellerische, keine Einheit, die sich äußerlich darstellt, ist, sondern die Einheit der Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben um Christi willen, die auch schlicht „Evangelium“ oder „Christus“ genannt werden kann. Sie stellt übrigens auch die Zusammengehörigkeit von Altem und Neuem Testament dar.65 Unterhalb dieser Metaebene befinden sich die konkreten biblischen Schriften mit ihren unterschiedlich begabten Schriftstellern, ihren textlichen Eigenheiten und auch ihren Span61 62 63 64 65

A.a.O., 387, 13–18; vgl. Bornkamm, Vorreden (wie Anm. 1), 217. Vgl. Martin Luther, Von den guten Werken. 1520, in: WA 6, 204, 25ff. Vgl. Walther, Festschrift (wie Anm. 6), 63f. Vgl. Armbruster, Bibelvorreden (wie Anm. 2), 147. Vgl. Holl, Bedeutung (wie Anm. 13), 563.

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nungen zueinander. Die Einzelheiten der konkreten Texte sind immer im Lichte des „Evangeliums“ (ob sie Christus „treiben“ oder nicht) zu prüfen. Doch die festgestellten Unzulänglichkeiten mancher Texte wie des Jakobusbriefes gegenüber dem „Evangelium“ haben keineswegs ihren Sinn darin, zwischen Wort Gottes und menschlichem Wort zu unterscheiden. Diese Frage stellte sich für Luther nicht: für ihn ist die Heilige Schrift Gottes Wort, vom Heiligen Geist eingegeben.66 Die am Beispiel des Jakobusbriefes festgestellte Spannung als eine zwischen Gottes und menschlichem Wort auszumachende Differenzierung zu verstehen, wäre im Hinblick auf Luther eine Fehldeutung. Die Spannung im Jakobusbrief bzw. die Unvereinbarkeit zwischen diesem und Paulus (und der ganzen „Schrift“) entsteht aus keinem anderen Grund als aus der Polarität von Gesetz und Evangelium.67 In der Vorrede zum Jakobusbrief schreibt Luther eingangs: „Die Epistel Sanct Jacobi […] lobe ich und halt sie doch fur gutt, darumb, das sie gar keyn menschen lere setzt und Gottis gesetz hart treybt“.68 Es handelt sich also um Gottes Wort (keine Menschenlehre), aber in seiner Funktion als Gesetz, das besonders in dieser Epistel auf die Spitze getrieben wird. Die Spannung bzw. der Widerspruch zwischen Jakobus und Paulus ist also kein anderer als der zwischen Gesetz und Evangelium. Zwischen diesen besteht sogar eine Feindschaft, denn das Gesetz tötet, während das Evangelium lebendig macht.69 Die Nichtunterscheidung von Gesetz und Evangelium dient in diesem Sinne allein dem todbringenden Gesetz.70 Nun stehen Gesetz und Evangelium für Luther nicht auf der derselben Stufe, sondern sie sind jeweils opus alienum und opus proprium Gottes.71 In Bezug auf die Heilige Schrift und ihre Auslegung bedeutet das, dass „die Autorität der Schrift, ihre Suffizienz – ihre zum Heil hinreichende Kraft –, Wirksamkeit und Klarheit, ihre Aufklärungskraft“ im „Ereignis der sich in der promissio selbst schen-

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Vgl. Althaus, Gehorsam (wie Anm. 49), 76ff. Vgl. a.a.O., 80f. Luther, Vorrhede (wie Anm. 3), 384, 3–6 (Hervorhebung: GdS). Vgl. Bernhard Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 286. 70 Vgl. Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2003, 54. 71 Vgl. Martin Luther, Sermo in Die S. Thomae, in: WA 1, 113, 5ff.

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kenden Gottesgerechtigkeit besteht“.72 Das Gesetz hat seinen theologischen Sinn darin, zum Evangelium zu überführen, im Kontext der Rechtfertigung hat es nichts zu suchen.73 Das ist der Grund, warum Luther „in seiner Vorrede von 1522 vor allem den Römerbrief – samt dem Galaterbrief – zum Interpretationskriterium der gesamten Heiligen Schrift erhebt“.74 Dem von Luther scharf kritisierten Widerspruch zu Paulus bei Jakobus liegt also eine tiefere Problematik zugrunde, die darin besteht, das Gesetz als Evangelium zu predigen. Nicht dass Jakobus das Gesetz – und zwar in seiner schärfsten Form – predigt, ist das Problem, denn Luther lobt dies ja zu Beginn der Vorrede, sondern die Tatsache, dass in dieser Epistel das Gesetz als Evangelium verkündigt bzw. die gewissenströstende Unterscheidung von Gesetz und Evangelium nicht vorgenommen wird.75 Damit schließt sich der Kreis, oder besser, die Ellipse, deren beide Brennpunkte die Botschaft der Bibel bzw. des Textes und der Leser76 bzw. die Rezeption der Botschaft sind. Luther geht es also – erstens – um die Botschaft des Textes, die das Evangelium der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben um Christi willen beinhalten soll, und – zweitens – um den Trost des Menschen, der ausschließlich durch das Evangelium, niemals durch das Gesetz, gebracht werden kann.

72 Bayer, Theologie (wie Anm. 70), 68. 73 Dass das göttliche Gesetz im Kontext der Heiligung eine pädagogische Bedeutung hat, tut dieser Feststellung keinen Abbruch. Entscheidend ist für Luther das Auseinanderhalten der Kontexte von Rechtfertigung und Heiligung, was eben im Jakobusbrief nicht stringent genug geschieht. 74 A.a.O., 69. 75 Vgl. Armbruster, Bibelvorreden (wie Anm. 2), 141. 76 Bornkamm, Vorreden (wie Anm. 1), 15; vgl. Walther, Festschrift (wie Anm. 6), 64.

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Mit folgenden Worten schließt Luther seine allgemeine Vorrede zum „Septembertestament“ ab: DAS meinet auch Christus, da er zur letze kein ander Gebot gab, denn die Liebe, daran man erkennen solte, wer seine Jünger weren, und rechtschaffene gleubigen. Denn wo die werck und liebe nicht er aus bricht, da ist der glaube nicht recht, da hafftet das Euangelium noch nicht, und ist Christus nicht recht erkandt. Sihe, nu richte dich also, in die Bücher des newen Testaments, das du sie auff diese weise zu lesen wissest.77

Besser kann man seine Intention mit den Vorreden nicht wiedergeben.

77 Luther, Newe Testamentm (wie Anm. 4), 11.

WERNER KLÄN

Gottes Wort ist der Ort, wo Gott wohnt Anstöße für ein konkordienlutherisches Gespräch über Lesarten der Heiligen Schrift „Wo das Wort ist, da ist in Wahrheit der Fußschemel, die Wohnung, die Lagerstatt und der Altar Gottes“, heißt es in Martin Luthers Auslegung von Psalm 132, 7; denn durch das Wort werde signalisiert, „daß Gott gegenwärtig sei“.1 Darum ist für Luther Erkenntnis Gottes und Zugang zu Gott nicht anders als durch sein Wort zu haben: „Gott kann nicht anders gehalten oder gedacht werden als durch sein Wort.“2 Denn es ist eben dieses göttliche Wort, das Glauben als heilsames Bezogensein auf Gott ins Dasein ruft: „Das Wort ist das Mittel, dadurch der Glaube ins Herz kommt, und ohne dasselbe kann niemand glauben.“3 Wer aber von Gottes Wort ergriffen ist, der wird seines Heils gewiss: „In Christo ist ewiger Trost, Freude, Friede und Lust. Derselbe ist mir im Wort vorgelegt und geschenkt, im Glauben habe ich ihn gefaßt, und da verlasse ich mich auf.“4 Ist aber das Wort Synonym der – im Horizont des Evangeliums: heilvollen – Präsenz Gottes, dann wird es als wirksam, wirkmächtig und wirkungsvoll gegen alle Mächte des Verderbens erfahren: „Wo Gottes Wort ist, da ist Gottes Reich, das Himmelreich, das Reich des Lebens, welches siegt über den Tod, die Sünde und alles Uebel.“5 Für Luther besteht freilich kein Zweifel, dass die Heilige Schrift Gottes Wort ist: „Wenn du solche Leute hörst, die so gar verblendet und verstockt sind, daß sie leugnen, daß die heilige Schrift Gottes Wort sei, so

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Martin Luther, Auslegungen über die fünfzehn Lieder im höhern Chor, W² 4, 2091; WA 40 III,403,32ff. Martin Luther, Anmerkungen zu dem fünften Buch Mose, 1525, W² 3, 1477; WA 14,648,26f. Martin Luther, Auslegung des siebenzehnten Capitels des Evangelisten St. Johannis, von dem Gebete Christi (1528/29), W² 8, 830f.; WA 28,181,26f. Martin Luther, Predigt am zweiten Sonntags nach Trinitatis, Hauspostille, W² 13, 2153; W² 13, 2153. Luther, Lieder (wie Anm. 1) 2094; WA 40 III,407,28ff.

_______________________________________________________________________ LuThK 40 (2016), 46–80 DOI 10.2364/3846999295

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schweig nur still rede kein Wort mit ihnen.“6 Denn wie das Wort Gottes sozusagen sein Wohnort ist, ist die Schrift der Fundort, an dem sich Christus findet: „Außer dem Buch den Heiligen Geistes, nämlich der heiligen Schrift, findet man Christum nicht“.7 Dem Nachdenken über dieses Verhältnis, nämlich dem von Gottes Wort und Heiliger Schrift und ihrer Anwendung, einige Anstöße zu geben, ist Ziel der folgenden Erwägungen.

Hermeneutische Erwägungen im Anschluss an Luther Dass Gott Gott bleibe, ob der Mensch vor Gott bestehen könne, welche Art von Gemeinschaft mit Gott möglich sei – das sind Fragen, auf die die Reformation Antwort suchte – und fand. Sie entdeckte den Schlüssel zu den entscheidenden Lebensfragen im Zeugnis des Wortes Gottes, und sie stieß auf den Niederschlag dieses Zeugnisses im Glauben der Christenheit. Auf die Ur-Kunde der Heiligen Schrift griff Martin Luther zurück, um seines Glaubens, seines Heils gewiss zu werden in grundstützenden Erschütterungen seines Daseins. Und das Bekenntnis der Kirche Jesu Christi griff der Reformator auf, um an ihm entlang die Einsichten zu buchstabieren, die ihm die Bibel über Gottes Ehre, des Menschen Rettung und die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch neu eröffnete.8 Dabei deutete er sein eigenes wie das Menschenleben überhaupt im Horizont des biblischen Metanarrativs, nach dem Gott als Gott in seiner Beziehung zu den Menschengeschöpfen begriffen und in Übereinstimmung mit dem biblischen Befund darin eine Entfaltung der Gotteserzählung gesehen wird, die in Raum und Zeit, also Geschichte, gar menschlicher Geschichte, spielt.9 Als gelernter Neutestamentler und als Kirchen- und Dogmenhistoriker hat Hermann Sasse immer wieder die Frage nach dem Zusammenhang von Inspiration und Geschichtlichkeit der Heiligen Schrift, gerade ich der Beschäftigung mit Martin Luthers Schriftlehre erörtert. „Für Luther ist die Heilige Schrift […] der Ort, ´ubi Christus 6 7 8 9

Martin Luther, Auslegung über die 1. Epistel St. Petri (1522/23), W² 9, 1072; WA 12,362,22ff. Martin Luther, Auslegung vieler schöner Sprüche heiliger Schrift, welche Luther etlichen in ihre Bibeln geschrieben, W² 9, 1775; WA 48,44,1. Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis, WA 26, 499–509. Robert Kolb, Luther and the Stories of God: Biblical Narratives as a Foundation for Christian Living, Grand Rapids 2012, 2.

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Werner Klän

Christum purissime docet`.“10 Demnach ist auch für Luthers Schriftlehre, wie für seine gesamte Theologie, Christozentrik kennzeichnend. Das macht zugleich ihre Einmaligkeit und Einzigartigkeit unter allen Büchern der Welt aus. Die Schrift als Gottes Gabe an die Menschheit, insonderheit aber an die Kirche, weist auf Christus als den Heiland der Welt. Christus ist demnach für Luther das Hauptwort, die Hauptsache, die Hauptperson in der Schrift, er ihr Inhalt, „das eigentliche Thema“.11 Er selbst, bzw. das Zeugnis von ihm kann demzufolge auch zum Kriterium von Kanonizität und Echtheit werden, wie Luther dies in der Vorrede auf die Episteln S. Jakobi und Judae 1522 ausgeführt hat.12 Christus ist zugleich unbezweifelt der Herr der Schrift, die, weil sie von ihm redet, zugleich „des Heiligen Geistes Buch“ ist. Sie gilt Luther eben darum als durch den Geist göttlich offenbart, er ist „autor huius libri“, ist es doch sein Amt, von Christus zu zeugen. In diesem Sinn wurde den „menschlichen Autoren“ nach der Verheißung Christi selbst „gegeben, was sie reden sollten“13, nämlich durch Gott den Heiligen Geist. Und der weist auf Christus, verkündigt ihn, proklamiert ihn. Aus diesem Grund ist es für Luther auch nicht denkbar, „Christus und die Schrift in Gegensatz zu bringen“14, so gewiss nicht auszuschließen ist, dass es konkurrierende, einander widersprechende Auffassungen und Auslegungen der Schrift geben kann und gibt. Für Luther ist in diesem Fall eben wieder Jesus Christus als „dominus scripturae“ letzte Entscheidungsinstanz,15 der als solcher auch gegen „die Schrift“, d.h. die einander widersprechenden Schriftverständnisse, die meinen, von Christus absehen zu können, in Stellung gebracht werden kann: Christus als „der lebendige Herr, der Inhalt, die Seele, der Herr der Schrift […], ohne den die Schrift gar nicht verstanden werden kann, das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt“.16 Es ist hinlänglich bekannt, dass diese christozentrische Grundhaltung Luthers zur Heiligen Schrift nicht antinomistisch (miss)verstanden 10 Hermann Sasse, Sacra Scriptura. Studien zur Lehre von der Heiligen Schrift, hrsg. Friedrich Wilhelm Hopf, Erlangen 1981, 217. 11 A.a.O., 218. 12 A.a.O., 219, 349; WA DB 7, 384, 29–32. 13 A.a.O., 219. 14 A.a.O., 220. 15 Ebd. 16 A.a.O., 220, 301.

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werden darf. Denn „als Gottes geschriebenes Wort [spiegelt sie] Gottes innerstes Herz“ wider, der in Gesetz und Evangelium zu uns redet; beide sind darum untrennbar, wohl aber unterscheidbar.17 Die Einheit der Schrift in Gesetz und Evangelium18 tritt die Einheit der Schrift als Gotteswort und Menschenwort zur Seite. Durch Menschen im Auftrag Gottes gepredigtes Gotteswort, verschriftlichtes Wort der Heiligen Schrift und wiederum durch Menschen verkündigtes Wort, hängen so zusammen, dass von einem „Ineinander von Gotteswort und Menschenwort“ gesprochen werden kann und muss.19 Solche „Äußerlichkeit“ des Wortes eignet nach Luther gleichermaßen seiner schriftlichen wie seiner mündlichen Gestalt. So hängen (äußerliches) Wort und Gottes Geist kraft der Selbstbindung Gottes des Heiligen Geistes an das „buchstabische“ Wort im Horizont der lutherischen Theologie der Gnadenmittel unauflöslich zusammen.20 Mehr noch: Das Miteinander und Ineinander von Geist und Wort kann von Luther in Entsprechung zur altkirchlichen Zweinaturenlehre artikuliert werden: „Die Heilige Schrift ist Gottes Wort, geschrieben und (dass ich so rede) gebuchstabet und in Buchstaben gebildet, gleich wie Christus ist das ewige Gottes Wort, in die Menschheit verhüllet …“21 Solche Entsprechung, verbunden mit der unleugbaren Christozentrik seines Ansatzes, verknüpft in Luthers Theologie zugleich das „sola scriptura“ mit dem „sola fide“22: „Tolle Christum e scripturis, quid amplius in illis invenies?“23 Selbst wenn die Heilige Schrift als Sammlung von Schriften menschlicher Verfasser die „Kennzeichen“ und das „Schicksal solcher Bücher“ teilt; bleibt doch die „assertio“ christlichen Glaubens – Christus, der Heiland der Welt – erhalten.24 Und diese Überzeugung gilt von der ganzen Heiligen Schrift, nicht zuletzt auch für das Alte Testament, das die ursprüngliche Bibel der Christenheit ist.25 Diese Sicht Luthers mit ihren Implikationen für die 17 18 19 20 21 22 23 24 25

A.a.O., 332. Vgl. unten, 55–59. A.a.O., 224. A.a.O., 342. Zitiert a.a.O., 225. A.a.O., 329ff. WA 18, 606,29. A.a.O., 335. A.a.O., 336f.

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Kanonfrage verdient außerordentliche Beachtung, weil sie die Priorität der Schrift vor der Kirche zu behaupten geeignet ist.26 Die „traditionelle Lehre von der Schrift als durch Inspiration des Hl. Geistes gegeben übernahm“ Luther offenbar aus der theologischen Tradition.27 Freilich ist festzuhalten, dass die Heilige Schrift „uns nicht über den Vorgang der Inspiration“ unterrichtet.28 Dementsprechend ist zunächst die Vorrangigkeit des gesprochenen vor dem geschriebenen Gotteswort zu beachten, das noch als (wiederum) gepredigtes dasselbe Gotteswort ist.29 Bei Luther liegt allerdings – und dies macht bereits einen Unterschied zur theologischen Tradition aus – im Ergehen des Wortes selbst, an dessen Inspiriertheit auch das verschriftlichte Wort Anteil hat.30 Zunächst ergeht jedoch Predigt des Evangeliums, die „grundsätzlich immer dieselbe ist“31, freilich in der Christenheit gebunden an die vorfindliche Heilige Schrift32 als Niederschrift der Verkündigung von Propheten und Aposteln, die „[b]erufen durch einen besonderen Willensentschluss Gottes, ausgerüstet mit dem Heiligen Geist in höherem Maße als andere Gläubige, in der Kraft dieses Geistbesitzes die unfehlbaren Lehrer des Glaubens“ sind.33 Nichtsdestoweniger hat die Heilige Schrift als Buch mit einer auch menschlichen Entstehungsgeschichte Anteil an der Kreuzesgestalt göttlicher Offenbarung.34 Hierzu sind zu rechnen: die „Unzulänglichkeit historischer Angaben“35, die „Verschiedenheit in den Osterberichten“, auch in der „Leidensgeschichte“.36 Luther sieht freilich von solchem Mangel an Ordnung in den Einzelheiten, selbst der evangelischen Berichte, „das Evangelium als ganzes […] nicht berührt“.37 Die „Knechtsgestalt der Bibel“ lässt ihn „Verschiedenheiten und

26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37

A.a.O., 339f. A.a.O., 346, 350. A.a.O., 350. A.a.O., 298. A.a.O., 229. A.a.O., 300. A.a.O., 302. A.a.O., 302. A.a.O., 311. A.a.O., 312. A.a.O., 313. Ebd.

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Abweichungen …, Unzulänglichkeiten“ wahrnehmen, einen „levis error“ hie und da, nicht aber von „Widersprüchen“ oder „Fehlern“ sprechen.38 Im Horizont seiner reformatorischen Einsichten ist freilich die Überzeugung von der göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift Folge, nicht Voraussetzung des Glaubens an Christus, der „der eigentliche Inhalt der ganzen Bibel ist“.39 Er ist demnach auch die „norma über der norma normans der Schrift“.40 Darum gilt: „Der lutherische Christ […] glaubt an die Bibel, weil er in erster Linie an Christus glaubt.“41 In diesem Horizont buchstabiert nach Oswald Bayer Luther die „drei Regeln“ des Theologiestudiums, oratio, meditatio, tentatio. Sie können weder gegeneinander ausgespielt noch voneinander getrennt oder erst nachträglich miteinander verbunden werden.42 Luther identifiziert das Buch der Schrift, oder zumindest seine Wirkungen, mit denen des „Wortes vom Kreuz“43. Dies führt zu dem Konzept einer doppelten Klarheit der Schrift. Denn die menschliche Vernunft kann weder das ewige Leben wahrnehmen noch ist sie zu Gottes- oder Selbsterkenntnis in der Lage.44 Unter dieser Voraussetzung fällt jeder Versuch einer Annäherung an Gott mittels der Vernunft unter das Verdikt der „Spekulation“. Theologische, d.h. schriftgeleitete und schriftgebundene Einsicht wird sich nur einstellen, wenn sie Gottes Herablassung und Demut vernimmt und annimmt, die sich aus Gottes Selbst-Erniedrigung und Selbst-Mitteilung in Christus ergibt, bzw. dazu bewegt wird. Menschen können diese Wirklichkeit göttlicher Offenbarung nur erfahren bzw. erleiden: „Sie steht nicht im Selbstvollzug und Selbstbesitz des Menschen“.45 Insofern meint „meditatio“, jedenfalls in Luthers Verständnis, nicht, Gott am Grunde meines Herzen oder meiner Seele zu erfahren, sondern ihn im „äußerlichen, buchstabischen Wort“ zu erfahren; es ist gerade das „verbum externum“, das Luthers ganze Auffassung

38 39 40 41 42 43 44 45

A.a.O., 314. A.a.O., 351. A.a.O., 310. A.a.O., 345. Oswald Bayer, Theologie (HST 1), Gütersloh 1994, 71. A.a.O., 72. A.a.O., 74. A.a.O., 81.

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von „meditatio“ bestimmt.46 Insofern sollte für die Auslegung der Heiligen Schrift sein Grundsatz beherzigt werden, „daß du nicht überdrüssig werdest oder denkest, du habest es ein mal oder zwei gnug gelesen, gehöret, gesagt, und verstehest es alles zu grund“47. Kenntnis von Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Philologie und Geschichte einschließlich hermeneutischer Reflexion sind maßgebliche Bestandteile dieses Prozesses, und zwar notwendigerweise.48 So nur ergibt sich eine „externa claritas“ die „allerindividuellste, weil in letzter Tiefe individuierende Erfahrung meiner selbst als insipiens, der Gott leugnet (Ps 14, 1), aber durch ihn selbst, den heiligen Geist, eines Anderen und Besseren belehrt wird, und die äußerste, Universalität desselben Geistes lassen sich nicht voneinander scheiden.“ Letztlich aber wird die „Anfechtung“ „der Prüfestein [sc. sein], die leret dich nicht allein wissen und verstehen, sondern auch erfaren, wie recht, wie warhaftig, wie süsse, wie lieblich, wie mechtig, wie tröstlich Gottes wort sey, weisheit uber alle weisheit“49 Vom Wort Gottes in meiner Existenz ausgelegt zu werden, führt zum Leiden um des Wortes Gottes willen, ist Luthers tief verwurzelte Gewissheit. Luther zielt hier auf ein „passsives“ Verständnis von „Erfahrung“50: Ich erfahre Schrift und Gottes Wort, durch die ich ausgelegt werde und die eben so „für ihre Auslegung selbst sorgt, ihr eigener Interpret ist: ,sui ipsius interpres‘“. 51 Dies entspricht in Luthers Denkart der Wirklichkeit, dass der Heilige Geist sich an „die mündliche Rede und buchstabische Wort im Buch“ gebunden hat.52

Hermeneutische Erwägungen im Anschluss an Georg Hamann In seiner profunden Studie zu Johann Georg Hamann hat Oswald Bayer dargelegt, wie ein „radikaler Aufklärer“ sich zugleich unabhängig von aufgeklärtem Mainstream theologisch positionieren kann.53 Hamann (1730–1788) war Zeitgenosse vieler Philosophen, 46 47 48 49 50 51 52 53

A.a.O., 87. WA 50, 659, 22–35. Bayer, Theologie, (wie Anm. 42), 91. WA 50, 660, 1–4. Bayer, Theologie, (wie Anm. 42), 101. A.a.O., 102. A.a.O., 94.

Oswald Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer, München 1988; ders.: Zeitgenosse im Widerspruch.

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Dichter und Theologen der Aufklärung und der Sturm- und DrangPhase deutscher Literaturgeschichte. Johann Wolfgang (von) Goethe nannte ihn „den klügsten Kopf seiner Zeit“. Für Hamann ist jedoch charakteristisch, dass er nach seiner Bekehrung ein überzeugter Gegner jeder rationalistischen Art von Philosophie wurde. Bayer beschreibt Hamanns Profil als gleichrangig mit Kant und Hegel, obwohl er zugegebenermaßen „keine anerkannte Autorität“ sei. Was Bayer an Hamann schätzt, sind seine „Unabhängigkeit und Freiheit“. Diese sieht er begründet in der „unwiderruflichen Lebenswende“, die Hamann in London widerfuhr. Diese Bekehrung bracht ihn zu einer Haltung der „Metakritik der Moderne“, die als „postmodern“ und „prämodern“ zugleich angesehen werden mag. Diese „Metakritik“ ist gerade in Gott gegründet und seiner Offenbarung in der Heiligen Schrift, die als sein „konkretes a priori“ fungiert und insofern in Parallele zu Luthers Anschauung von der Bibel als „göttlicher Aeneis“ zu stehen kommt. Was Hamann als Zeitgenossen seiner Zeit ausmacht - und möglicherwiese als bedeutsam für unsere Zeitgenossenschaft erweist -, ist seine Art, Dichtung, Geschichte und Philosophie miteinander so zu verknüpfen, dass eine kritische Distanz zu den von der Aufklärung aufgeworfenen Fragestellungen und den von ihr gebotenen Lösungen möglich wird, mit denen wir es bis heute zu tun haben. Hamann gehört, wie Bayer aufzeigt, zu den „Hebammen“ des modernen Begriffs von „Geschichte“. Gegenüber der Unterscheidung, besser Trennung von „Wahrheiten der Vernunft“ und „geschichtlichen Wahrheiten“, wie sie Gotthold Ephraim Lessing vollzog, indem er behauptete, dass letztere zufällig seinen und daher „der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden könnten“54, bestand Hamann auf der Annahme, dass solche Vernunftwahrheiten wesentlich abstrakt und letzten Endes „leer“ seien. In diesen Zusammenhang gehört auch die Unterscheidung von „natürlicher“ und „positiver“ Religion. So hatte Hermann Samuel Reimarus55 unter Verwendung der von Spinoza aufgebrachten Trennung des Historischen vom Metaphysischen Jesus gegen Paulus ausgespielt - eine der Magus Hamann als Aufklärer, in: EvKomm 21 (1988), 387–390; die folgenden Zitate ebda. 54 Herbert G. Göpfert (Hg.), Gottholt Ephraim Lessing, Werke 8, München 1970– 1979, 11–12. 55 Vgl. Dietrich Klein, Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Das theologische Werk, Tübingen 2009.

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Grundannahme, die von Hauptströmungen neutestamentlicher Exegese bis auf unsere Tage verfolgt wird. Lessing56 betrachtete positive Religion(en), wie das Christentum, nur als Vorformen einer Unterweisung auf dem Wege zum Ziel „wahrer Religion“, nämlich der „Liebe“, die durch den „Beweis der Tat“ manifest wird.57 Hamann widersprach all diesen Entwürfen, indem er „Wahrheit als Tochter der Zeit“ definierte. In seinem Entwurf dürfen das Vernünftige und das Empirische, Vernunft und Geschichte, das Zufällige und das notwendige, das Apriori und das Aposteriori keineswegs getrennt werden. Natürliche Religion der Aufklärer, wie Hamann sie sieht, ist nur eine „künstliche Abstraktion“. Er sah die Lösung des Problems in „der einen Geschichte Jesu Christi“; in ihm „ist die ewige Wahrheit zeitlich und so Geschichte“. Indem wir uns auf das „gewisse prophetische Wort“ (2. Petr. 1, 19) verlassen, kann das Christentum als Offenbarungsreligion genannt werden „Glaube, Vertrauen, Zuversicht, festes und kindliche SichVerlassen auf göttliche Zusagen und Verheißungen“. Zweifellos gründete Hamann diese These auf die biblischen Erzählstränge, besonders im Alten Testament, das er voller Hochachtung ansah. Das Alte Testament wirkt „als das historische Apriori des Wissens“. Es ist gerade die Besonderheit, die Judentum und Christentum, gegründet auf Gottes Verheißung, gemeinsam haben, und deren Gipfel die Geschichte Jesu Christi bildet, die eben dieses Verständnis von Geschichte ausmacht. Indem die Heilige Schrift als „Buch Gottes“ in seiner „befreienden Autorität“ erfahren wird, werden Auslegung und Anwendung der Heiligen Schrift zu Größen, die Geschichte weit über das hinaus erschließen, was „der Geist der Beobachtung“ erreichten könnte. Letztendlich ist es Gott der Heilige Geist, der eben durch die Betrachtung des Wortes Gottes am Werk ist und gerade nicht in der von Lessing unterstellten Unmittelbarkeit. Bayer bekräftigt darum, dass Hamann in seiner „Wahrnehmung der Welt […] einschließlich der Moral, der Natur und des Ästhetischen“ Lutheraner und wie Luther, vom Alten Testament geprägt sei. Besonders kommt dies darin zum Ausdruck, dass nach Bayer Hamann „wie Luther betont, dass der Mensch sich von den übrigen Geschöpfen durch Sprache unterscheidet“; denn in der Sprache liege das Besondere des Menschen. 56 Monika Fick, Lessing-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Darmstadt 2011. 57 Vgl. Friedhelm Zubke, Motive moralischen Handelns in Lessing „Nathan der Weise“, Göttingen 2008, 33–80.

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Diese Sicht wird von Bayer damit untermauert, dass er Geschichte versteht als „die Geschichte der sich selbst auslegenden Heiligen Schrift als der Geschichte Gottes“58. So ergibt sich ein „offene[r] Raum“, der sich „aus der unerschöpflichen Fülle der Schrift“ ergibt, aber eben deshalb als (Möglichkeit von) „Erfahrung weder blind noch leer“ sei.59 In diesem Horizont kann dann auch „Schriftauslegung als Vernunftkritik“ fungieren.60

Die Unterscheidung Gesetz und Evangelium bei Martin Luther Die göttliche Rede in Gesetz und Evangelium durchzieht nach Luther die gesamte Schrift, und ihre Unterscheidung bezieht sich darum auf die Auslegung der ganzen Schrift. Wegen der – nicht nur – soteriologischen Vorordnung des Evangeliums als opus proprium Gottes und demnach proprium officium Sacrae Scripturae vor dem opus alienum Gottes bzw. Sacrae Scripturae sollte daher die Rede von einer „Dialektik“ oder „Polarität“ von Gesetz und Evangelium vermieden werden. Eben so, in der Vorordnung des Evangeliums – oder, was dasselbe ist, der Achterlastigkeit der Schrift hin zum Evangelium – wird die Einheit der Schrift gewahrt. Für den früh-reformatorischen Luther, der den Glauben als „einziges Werk“, dem freilich jeder „Werk“–Charakter abgeht, bezeichnen kann, ist Glaube an Gott und Christus immer Geschenk Gottes, zugesprochen im Wort der Verheißung, in der Zusage des Evangeliums ins Daseins gesetzt. Dies entspricht der Grundstruktur Lutherscher Theologie, nach der gilt: „promissio ac fides sunt correlativa/daß Verheißung und Glaube zusammen verknüpft sind“61. Anders gefasst: „sine verbo promittentis ac fide suscipientis nihil possit nobis esse cum Deo negotii/Denn ohne das Wort des Verheißenden und ohne den Glauben des Annehmenden können wir mit Gott nichts zu schaffen haben“62. Der Glaube als „erstes Werk“, das doch keins ist, wird im Sermon von den guten Werken (1520) so gekennzeichnet: „Das erste und höchste, alleredelste gute Werk ist der Glaube an 58 Bayer, Theologie (wie Anm. 42), 66. 59 A.a.O., 67. 60 Oswald Bayer, Schriftautorität und Vernunft – ein ekklesiologisches Problem, in: VLAR 10, Erlangen 1987, 69–87, hier 82. 61 De abroganda missa privata (1521), WA 8, 436, 28/Vom Mißbrauch der Messe, W² 19, 1109. 62 WA Br 1, Nr. 231, 23f., an Spalatin, 18. 12. 1519/LD 10, 69.

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Christum. […] Denn in diesem Werk müssen alle Werke gehen und ihrer Gutheit Einfluß, gleichwie ein Lehen, von ihm empfangen […] In diesem Glauben werden alle Werke gleich. […] Darum hebt der Glaube nicht an den Werken an, sie machen ihn auch nicht, sondern er muß aus dem Blut, Wunden und Sterben Christi quellen und fließen.“63 In der Tat sieht Luther hier die kategoriale Differenz zwischen Gesetz und Evangelium bereits im Alten Testament grundgelegt, denn „es kann kein anderes Wort über das Wort Moses hinaus sein, als das Evangelium/aliud verbum ultra verbum Mosi esse not potest nisi Euangelion“64; denn das Gesetz ist durch Mose bereits vollständig vorgestellt. Kategorial ist die Differenz, weil Mose – in Luthers Sicht – „fordert, aber er gibt nicht, was er fordert/Exigit, sed non dat, quod exigit“65 . Dementsprechend ist Mose ein „Diener des Gesetzes, der Sünde, des Todes/minister legis peccati, mortis“ 66 oder auch „Lehrer der Sünde, des Zorns und des Todes/Doctor peccati, irae et mortis“ 67, Jesus aber vielmehr ein „Lehrer des Lebens, der Gnade und der Gerechtigkeit/Doctor[em] vitae, gratiae et iutitciae“ 68 . Wort Gottes sind Gesetz und Evangelium gleichwohl beide, und also qualitativ nicht unterschieden, wohl aber im Blick auf ihre Wirkung, da sind sie „einander völlig entgegengesetzt/impares ac plane contrarii“69. Hier haben wir Luthers Anschauung von Gesetz und Evangelium, der die lutherische Kirche in ihrem Bekenntnis gefolgt ist, an der Wurzel.70 In der Anwendung auf die kirchlichen Zustände seiner Zeit, erscheint Luther darum die spätmittelalterliche Theologie und Kirche, wie sie ihm in Gestalt der altgläubigen Gegner der Reformation vor Augen tritt, als ein Konzept, nach dem „ganz ungehörige, ja verderb63 64 65 66 67 68 69 70

WA 6, 204, 25f.; 31f.; 206, 33; 216, 19–31/W² 10, 1300f.; 1303; 1316. W² 3, 1522; WA 14, 675, 28. W² 3, 1524; WA 14, 676, 32. W² 3, 1524; WA 14, 676, 30f. W² 3, 1524; WA 14, 676, 37. W² 3, 1524; WA 14, 676, 36. W² 3, 1525; WA 14, 677, 1. Werner Klän, Gesetz – Evangelium – Freiheit. Eine Blütenlese aus dem Bekenntnis der evangelisch-lutherischen Kirche, in: Werner Klän/Jeffrey Silcock (Hg.), Das Maß der Freiheit. Betrachtungen über die Bedeutung der Ansage von Gesetz und Evangelium für kirchliche Verkündigung und christliches Leben in einer nach-christlichen Welt (= OUH 47), Oberursel 2007, 43–62.

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lich Lehrer […] im neuen Testamente […] mit Gesetzen und Werken die Gewissen quälen, da diese Weissagungen“ - eben Dtn 18,19 – „von Christo dies Amt (sc. des Gesetzes) ganz vernichtet und aufhebt/prorsus alieni, imo pestilentes illi magistri in novo testamento, qui legibus et operibus conscientias vexant, cum id ministerium prorsus evacuet et tollat haec prophetia de Christo“71. Mose hingegen ist und bleibt, auch und gerade im Vergleich zu dieser Verkehrung von Gesetz und Evangelium, „ein vollkommener Gesetzeslehrer“72. Mit Christus aber hört das Gesetz auf, und zwar so, dass „Moses Amt“ endet, weil es „nicht mehr durch die zehn Gebote die Sünde stark macht […]. Denn durch Christus ist die Sünde vergeben, Gott versöhnt …“73. Dazu aber „musste ein anderes Testament kommen, das nicht alt würde, auch nicht auf unserem Tun, sondern auf Gottes Wort und Werken stünde, auf dass er ewiglich währte“74. Die mit den Signalworten „Gesetz und Evangelium“ angezeigten biblisch-theologischen Sachverhalte sind für Luther und die lutherische Reformation die charakteristisch verschiedenen und ebenso charakteristisch aufeinander bezogenen Redeweisen – und damit auch Handlungsweisen – Gottes.75 Diese – von Luther herkommende 71 72 73 74

W² 3, 1525; WA 14, 677, 15–17. Vorrede auf das Alte Testament, W² 14, 6; WA DB 8, 15, 30. W2 14, 12; WA DB 8, 23, 7f.; 25, 23–26. W2 14, 14; WA DB 8, 29, 8–10; Das gilt auch für die Bergpredigt Jesu: Schon die 1. Seligpreisung ist für Luther ein „feiner, süßer, freundlicher Anfang seiner Lehre und Predigt. Denn er (Jesus) fährt nicht daher wie Mose, oder ein Gesetzeslehrer, mit Gesetzen, Drohen und Schrecken, sondern aufs allerfreundlichste mit eitel Reizen und Locken und lieblichen Verheißungen.“ Vgl. Das fünfte, sechste und siebente Capitel St. Matthäi ausgelegt [1532], W2 7, 355; WA 32, 305, 6–9. 75 „Dis sind nu die furnemeste zwey werck, dadurch Gott inn den seinen wircket; von den zweien stücken redet die gantze schrifft: Erstlich, das er unser hertzen erschrecket und uns die sunde zeiget, Zum andern, das er widderümb uns tröstet, auffrichtet und lebendig macht. Darümb füret auch die gantze schrifft diese zweierley lere; eine ist das gesetz, wilche uns zeiget unsern jammer, straffet die sunde, Die ander lere ist das Evangelium; denn Gottes verheissung, da er gnade zusagt durch Christum, und die verheissung der gnaden wird von Adam her durch die gantze schrifft immer widderholet“ (ApolCA XII BSELK 452, 11–19). Vgl. die treffende und treffliche Kapitelüberschrift in Timothy Wengerts gemeindebezogener Auslegung der Konkordienformel, hier zu FC V: „What God’s Word Does to You: Death (Law) and Resurrection (Gospel)“, in: Timothy

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und im Bekenntnis bestätigte – Unterscheidung76 ergibt sich aus der Heiligen Schrift selbst, wie Melanchthon in der Apologie zum Augsburgischen Bekenntnis feststellt und, ganz in Übereinstimmung mit Luther, festhält.77 Es kommt dabei für Luther und die ihm folgende Bekenntnisbildung wesentlich auf die Wirkweise, die Intentionalität der beiden Handlungs- und Redeweisen Gottes in ihrer jeweiligen Eigenart an, gilt doch: „Diese zwo Predigten seind von Anfang der Welt her in der Kirchen Gottes nebeneinander je und allwege mit gebührendem Unterscheid getrieben worden.“ – „Also sind beide Lehren beieinander und müssen auch nebeneinander getrieben werden, aber in gewisser Ordnung und mit gebührlichem Unterscheid …“78

„Gesetz“ und „Evangelium“ sind allerdings nicht bloß formale Größen, die schlicht textanalytisch zur Anwendung gebracht werden könnten. Vielmehr ist der existentielle Bezug solcher je unterschiedlicher Ansage des göttlichen Wortes für sein Verständnis unbedingt Wengert, A Formula for Parish Practice. Using the Formula of Concord in Congregations, Grand Rapids/MI, Cambridge/England 2006, hier 77; Volker Stolle hat hingegen kritisiert, „dass sich das lutherische Gesetz und Evangelium nicht paulinisch ,verorten’ lasse“; vgl. Volker Stolle, Luther und Paulus. Die exegetischen und hermeneutischen Grundlagen der lutherischen Rechtfertigungslehre im Paulinismus Luthers, Leipzig 2002, 429–433, hier 432; anders Oswald Bayer, Das paulinische Erbe bei Luther, in: Hans-Christian Kammler/Rainer Rausch (Hg.), Paulus und Luther. Ein Widerspruch? Hannover 2013, 61–76. 76 „Wo aber das Gesetze solch sein Ampt allein treibet on zuthun des Evangelii, da ist der Tod und die Helle, und mus der Mensch verzweiveln … Widerümb gibt das Evangelion nicht einerley weise trost und vergebung, Sondern durch Wort, Sacrament und der gleichen“ (ASm III 3, BSELK 752). 77 „Die gantze schrifft, beide, alts und neues Testaments, wird inn die zwey stück geteilet und leret diese zwey stück, nemlich gesetz und Göttliche verheissungen. Denn an etlichen örten helt sie uns für das gesetz, an etlichen beut sie gnad an durch die herlichen verheissung von Christo, als wenn im alten Testament die schrifft verheisset den zukünfftigen Christum und beutet ewigen segen, benedeiung, ewiges heil, gerechtickeit und ewiges leben durch ihn an, oder im neuen Testament, wenn Christus, sieder er komen ist auff erden, im Evangelio verheisset vergebung der sunden, ewige gerechtickeit, ewiges leben.“ ApolCA IV 5f., BSELK 268 24–32. 78 FC SD V 23, BSELK 1438–1441.; FC SD V 15, BSELK 1436f.

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in Rechnung zu stellen. Dies gilt in gleicher Weise rechtfertigungstheologisch wie bußtheologisch.79 Solch existentieller Bezug stellt sich allerdings gerade im Vollzug von Beichte und Buße ein.80 Vorausgesetzt ist ein „uneigentliches“ Gotteshandeln, in dem er dem Gewissen vorhält, wie gottvergessen, gott-fern, gottentfremdet und gottlos das Dasein des Sünders ist, und ebendarum zornverfallen und tödlich bedroht.81 Doch diese Drohgebärde ist nicht Selbstzweck. Sie dient vielmehr dem „eigentlichen“ Gotteshandeln, das lebendig macht und Trost zuspricht82; die Bedrohung durch Gottes Zorn, so real sie ist, erfüllt damit freilich nur den Zweck, der Trost und Leben spendenden Handlungsweise Gottes Raum zu schaffen.83

Vom reformatorischen Schriftprinzip zum aufgeklärten Methodenarsenal – eine Skizze Lutherische Theologie und Kirche, wenn und wo sie sich denn als bekenntnisgebunden verstehen, nehmen den Ausgangspunkt bei der Heiligen Schrift als dem unfehlbaren Wort Gottes. Aber mit diesem Grundsatz ist die Aufgabe erst gestellt. Wie die Heilige Schrift zu verstehen ist, wie sie auszulegen ist, welche Zugangsweisen zu Recht angewandt auf sie werden können – diese Fragen sind in Judentum und Christentum seit jeher umstritten. In der Geschichte der westlichen Christenheit stellt die Reformation mit dem Grundsatz „sola scriptura“ einen wichtigen Wendepunkt dar. Dabei ist nicht zu übersehen, dass die Wittenberger Reformation für das, was in Lehre und Leben der Kirche und für Christenmenschen gelten soll, durchaus ein Normengefüge aufgestellt hat.84 Frei79 „Sunt enim loci maxime cognati, doctrina poenitentiae et doctrina iustificationis“ (ApolCA XII 59, BSELK 457); vgl. Gunther Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Berlin – New York 1996, 688– 691. 80 Vgl. Albrecht Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen 5, Beichte, Haustafel, Traubüchlein, Taufbüchlein, Göttingen 1994, 51–53. 81 Vgl. ApolCA XII 51, BSELK 450–453. 82 „Alienum est opus eius, ut operetur opus suum. Alienum opus Dei vocat, cum terret, quia Dei proprium opus est vivificare et consolari“, BSELK 451. 83 „Verum ideo terret, inquit, ut sit locus consolationi et vivificationi“, BSELK 452. 84 Robert Kolb, Confessing the Faith. Reformers Define the Church 1530–1580, St. Louis, MO, 1991.

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lich galt die Heilige Schrift ihr immer als „die einige Regel und Richtschnur, nach welcher zugleich alle Leren und Lerer gerichtet und geurteilet werden sollen“85. Doch gab und gibt es nachrangige Autoritäten – etwa die Bekenntnisschriften in Gestalt des Konkordienbuchs –, deren Geltung sich daran messen lassen muss, ob sie sich in Übereinstimmung mit der Schrift befinden.86 Im Gegenüber zu dem Normengefüge, das die römisch-katholische Kirche auf dem Konzil zu Trient zur Geltung erhob87, beharrten die lutherischen Theologen der zweiten und dritten Generation auf der „Unfehlbarkeit“ der heiligen Schrift. Damit sollte nicht einfach mathematische Fehlerlosigkeit behauptet, vielmehr, sondern der „Aspekt der Vergewisserung“ des Glaubens gestützt werden, da „unfehlbar“ in der Sprache des 17. Jahrhunderts große Nähe zu Bedeutungen wie „untrüglich, wahr, fest, sicher, bindend, zuverlässig, unverbrüchlich, unbedingt“ hatte.88 In der Auseinandersetzung mit der historischkritischen Auslegung der Heiligen Schrift, wie sie mit der Aufklärung in Gebrauch kam, verengte sich der Gehalt des Begriffs „Unfehlbarkeit“ zu dem der „Irrtumslosigkeit“. Das Methodenarsenal, das im Gefolge der von Johann Salomo Semler und Hermann Samuel Reimarus ausgehenden Programmatik entwickelt wurde89, betrachtet grundsätzlich die Bibel als Sammlung historischer Dokumente in der Literaturgeschichte. Vorausgesetzt ist der Zerbruch eines „einheitlichen Lebens- und Problemzusammenhangs“ zwischen dem biblischen Horizont und der „eigenen Lebens85 FC Ep, Von dem summarischen Begriff …, BSELK 1216. 86 Charles P. Arand/Robert Kolb/James A. Nestingen, The Lutheran Confessions. History and Theology of the Book of Concord, Minneapolis 2012, 1–11. 87 Zur konfessionspezifischen und ökumenischen Befassung mit der hier anklingenden Thematik vgl. Kirchner, Wort Gottes, Schrift und Tradition, (BenshH 89), Göttingen 1998, 14–55. 88 Bengt Hägglund, Die Theologie des Wortes bei Johann Gerhard, KuD 29 (1983), 272–283; Ernst Koch, Das konfessionelle Zeitalter – Katholizismus, Luthertum, Calvinismus (163–1675) (KiE II/8), Leipzig 2000, 236–238; ders., Die Lehre von der Heiligen Schrift in der lutherischen Orthodoxie, in: LKW 51 (2004), 31–41. 89 Dirk Fleischer, Lebendige Geschichte. Hermann Samuel Reimarus und Johann Salomo Semler auf der Suche nach der biblischen Wahrheit. In: Albrecht Beutel/Volker Leppin/Udo Sträter/Markus Wriedt (Hrsg.), Aufgeklärtes Christentum. Beiträge zur Kirchen- und Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts. Leipzig 2010, 75–92; Jörg Lauster, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 2014, ²2015, 420–429.

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und Glaubenserfahrung“, so dass sich ein „garstiger Graben“ (Lessing) zwischen biblischem Zeugnis und gegenwärtiger Erfahrung auftut.90 Eine konsequent geschichtliche Sicht sollte dazu helfen, diesen Graben zu überbrücken. Für die Wandlungen, die mit der Aufklärung einhergingen, sei exemplarisch auf den „Skandal“ hingewiesen91, den die Veröffentlichung der „Wertheimer Bibel“ von Johann Lorenz Schmidt in den Jahren nach 1735 hervorrief. Zwar bekannte sich Schmidt in dieser rationalistischen Neuübersetzung der Bibel zur „Wahren Erkäntniß Gottes und zur Vertheidigung der geoffenbarten Wahrheiten“92, doch sei es in Verfolgung der „Begründungspflicht […], die die radikale Aufklärung der Theologie aufgebürdet hatte“, darum zu tun, den „aktuellen philosophischen Standards“ Tribut zu zollen und eine „Begrifflichkeit, die heutige Menschen verstünden“ zu verwenden.93 Frühe Kritiker notierten, dass Schmidts Hermeneutik nicht länger vom reformatorischen Grundsatz des „sacra scriptura sui ipsius interpres“, vielmehr von Prinzipien der Wollff‘schen Philosophie bestimmt war.94 Gegen diese hatte schon August Hermann Francke samt seinen pietistischen Mitstreitern in Halle – zunächst, freilich nicht auf Dauer – personal- und hochschulpolitisch Front gemacht.95 Im Ergebnis wurde „Religion […] zu einer gesellschaftliche Kraft neben anderen“.96 Dementsprechend wurde solche Kritik, sei es aus spätorthodoxen, sei es aus pietistischen Kreisen, nur mehr ein Beitrag im „Raum des Sagbaren, Diskutierbaren und Befragbaren“, der sich nun als – aufgeklärte – „Öffentlichkeit“ etablierte.97 Als Spiegel einer durchaus nicht auf die Theologie beschränkten kritizistischen Grundhaltungung mögen Beobachtungen aus der mittelhochdeutschen Germanistik und aus der klassischen Philologie dienen:

90 Hubert Kirchner: Wort Gottes (wie Anm. 87), 48. 91 Lauster, Verzauberung (wie Anm. 89), 426; näherhin vgl. Steffen Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild, Berlin 2015, 416–424. 92 Schmidt bei Lauster, a.a.O., 417. 93 A.a.O., 418. 94 A.a.O., 420. 95 A.a.O., 283. 96 A.a.O., 283. 97 A.a.O., 423.

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„Der puristische Skeptizismus […] ist offenbar ein zeitgebundenes Phänomen (gewesen). Es ist nicht nur charakteristisch für Wolframund Neidhart-Philologie, für die Exegese mittelhochdeutscher Literatur, es war (ist) offenbar grenzüberschreitend. In der VergilBiographie des französischen Altphilologen Prierre Grimal lese ich einige Anmerkungen, die ich mit Vergnügen hervorhebe: ,Auf diesem Felde tummeln sich wie auch anderwärts die hyperkritischen Geister, weil sie der eigenen Urteilskraft mehr vertrauen als den Aussagen der Überlieferung und weil sie froh darüber waren, daß es ihnen allein mit ihrem Scharfsinn gelang, wenn schon nicht alle Probleme zu lösen, so doch wenigstens eine Beweisführung zu ersinnen, die alle Gewißheit ins Wanken zu bringen vermochte. […] Das Verfahren besteht darin, systematisch die sachliche Richtigkeit der in der Überlieferung enthaltenen Nachrichten anzuzweifeln.‘“

Dieter Kühns kritische Notiz98 lässt sich offenkundig mühelos auf die Geschichte der historisch-kritischen Forschung an den biblischen Texten übertragen.99

Lutherisch-konfessionelle Lesarten der Schrift im 19. Jahrhundert – eine Skizze In den Anfängen der „altlutherischen“ Kirche und Theologie des 19. Jahrhunderts war es Johann Gottfried Scheibel, der mit Nachdruck die „Vereinbarkeit von unvoreingenommener historischer Kritik und tiefem Bibelglauben“ vertrat, so dass „grammatisch-historische Erforschung“ der Schrift geradezu geboten sei.100 Eine Generation später hat Karl Friedrich August Kahnis, der sich auf die Seite der preußischen Bekenntnislutheraner stellte, eine Schriftlehre vorgelegt, in der er eine traditionelle Inspirationsauffassung infrage stellte, gleichwohl aber einen Inspirationsbegriff favorisierte, der jedoch die 98 Dieter Kühn, Neidhart und das Reuental. Eine Lebensreise, Frankfurt/M. 1996, 530. 99 Die schärfste Kritik jüngeren Datums stammt von Klaus Berger, Die Bibelfälscher. Wie wir um die Wahrheit betrogen werden, München 2013. 100 Volker Stolle, J.G. Scheibels Schriftauslegung und Schriftverständnis, in: Peter Hauptmann (Hrsg.), Gerettete Kirche. Studien zum Anliegen des Breslauer Lutheraners Johann Gottfried Scheibel (1783–1843) (KiO.M 20), Göttingen 1987, 30–45.

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Schrift als „geschichtliches Dokument“ begriff, das eine „historische Auslegungsweise“ erfordere; dabei kommt es zu einer kategorialen Unterscheidung von heiliger Schrift und Wort Gottes.101 Es war schließlich die Schriftlehre eine der Streitfragen, die zu Spaltungen im konfessionellen Luthertum weit über die Grenzen Deutschlands hinaus führte.102 Doch war diese Entwicklung durchaus nicht nur dem Luthertum, schon gar nicht dem gesamten Luthertum eigen. Allerdings hat der theologische Vater der Lutherischen Kirche – Missouri-Synode, C.F.W. Walther, die Auffassung von der „Irrtumslosigkeit“ der heiligen Schrift vehement vertreten103, und diese Kirche hat dieses Profil ihrer Lehrposition mehrfach bekräftigt, so in den Dokumenten „Brief Statement of the Doctrinal Position of the Missouri Synod“ von 1932104 und „A Statement of Scriptural and Confessional Principles“ von 1973105. Andererseits wird diese Überzeugung „absoluter Irrtumslosigkeit“ der Heiligen Schrift von einer Reihe von Gruppen und Theologen geteilt, die im Bereich des christlichen Fundamentalismus angesiedelt, durchaus aber nicht konfessionell-lutherisch ausgerichtet sind.106 Hier stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von konfessioneller Identität und konfessioneller Differenz im Blick auf das Schriftverständnis. Gleichwohl ist die 101 Volker Stolle, Festhalten und Fortschreiten. Karl Friedrich August Kahnis (1814–1888) als lutherischer Theologe, (= Kontexte. Neue Beiträge zur historischen und systematischen Theologie 43), Göttingen 2011, 221–230. 102 Vgl. z.B. Gottfried Herrmann, Lutherische Freikirche in Sachsen. Geschichte und Gegenwart einer lutherischen Bekenntniskirche, Berlin 1985, 138–142; 175–190; 204f. 103 August R. Suelflow, Servant of the Word. The Life and Ministry of C.F.W. Walther, St. Louis, MO, 2001, 173–183; Christoph Barnbrock, Die Predigten C.F.W. Walthers im Kontext deutscher Auswanderergemeinden in den USA. Hintergründe – Analysen – Perspektiven, Hamburg 2003. 104 A Brief Statement of the Doctrinal Position of the Missouri Synod (Adopted 1932), http://www.lcms.org/doctrine/doctrinalposition, Zugriff 16.02.2016. 105 A Statement of Scriptural and Confessional Principles (Adopted 1973), http://www.lcms.org/doctrine/scripturalprinciples, Zugriff 16. 02.2016. 106 Vgl. Die Chicago-Erklärungen des Internationalen Rat für biblische Irrtumslosigkeit (International Council on Biblical Inerrancy; dazu Thomas Schirrmacher (Hg.), Bibeltreue in der Offensive. Die drei Chicago-Erklärungen zur biblischen Irrtumslosigkeit, Hermeneutik und Anwendung. Biblia et Symbiotica 2, Bonn 1993; Stephan Holthaus/Karl-Heinz Vanheiden (Hg.), Die Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit der Bibel. Edition Bibelbund, Hammerbrücke 2002.

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historische Frage auch für Ausleger aus dem Bereich konfessioneller lutherischer Theologie unhintergehbar. Als Frage nach dem sensus literalis der Heiligen Schrift stellt sie sich bereits in der Reformation, und sie ist von Anfang an verbunden mit der Frage nach den Auslegungsautoritäten.107 Im konfessionellen Luthertum war auch weiterhin, folgt man Hermann Sasses Darlegungen aus dem Jahr 1950, „die Lehre De Sacra Scriptura“ so „umstritten“ wie „keine“.108 Daran dürfte sich, zumal im Blick auf das Weltluthertum am Beginn des 21. Jahrhunderts, kaum etwas geändert haben; immer noch „kennt die Theologie der evangelisch-lutherischen Kirche […] kein brennenderes Problem als die Lehre de Sacra Scriptura“.109

Neuere hermeneutische Reflexionen konkordienlutherischer Provenienz – eine Skizze Die Luther-Rezeption durch Hermann Sasse ist von Jeff Kloha fortgeführt und in gewisser Hinsicht korrigiert worden: Zum einen hat er den Nachweis geführt, dass sich bei Sasse in der australischen Lebensphase eine allmähliche Annäherung an die mit dem Stichwort der „inerrantia“ angezeigten Sachverhalte feststellen lässt: Sasse hat ausdrücklich die offen kritischen Bemerkungen zur orthodoxen Lehre von der Irrtumslosigkeit der Schrift110 revidiert.111 Kloha schließt daher auf die „Wichtigkeit, Gottes Wort insgesamt als gleichermaßen inspiriert und autoritativ“ anzusehen; jedoch habe Sasse damit weder eine fundamentalistische Haltung eingenommen noch einfach die

107 Vgl. Friedrich Beißer, Claritas Scripturae bei Martin Luther (FKDG 18), Göttingen 1966; Oswald Bayer, Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, Darmstadt ²1989; Karl-Hermann Kandler (Hg.), Die Autorität der Heiligen Schrift für Lehre und Verkündigung der Kirche (mit Beiträgen von Oswald Bayer/Joachim Ringleben/Notger Slenczka), Neuendettlesau 2000; Robert Kolb, Die Konkordienformel. Eine Einführung in ihre Geschichte und Theologie (OUH.E 8), Göttingen 2011, 57–65. 108 Sasse, Sacra Scriptura (wie Anm. 10), 203. 109 A.a.O., 205. 110 A.a.O., 203–244 (= Briefe an lutherische Pastoren Nr. 14, August 1950). 111 Jeffrey J. Kloha, Hermann Sasse Confesses the Doctrine De Scriptura Sacra, in: Jeffrey J. Kloha/Ronald Feuerhahn (Hrsg.), Scripture and the Church: Selected Essays of Hermann Sasse, St. Louis, MO, 1995, 337–423, hier 418.

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altorthodoxe Position repristiniert.112 Tatsächlich will Sasse zehn Jahre später „Inspiration definieren als die Aktion Gottes, des Heiligen Geistes, durch die ER in erwählten Männern bewirkte, daß sie sein Wort in Form menschlicher Schriften schrieben“.113 Demzufolge ist die Bibel diejenige Sammlung von „Schriften, in denen Gott der Heilige Geist den Sohn bezeugt“114. Ohne die Fragen zu leugnen oder zu verdrängen, die menschlicher Vernunft angesichts mancher Spannungen im biblischen Befund kommen mögen, hält Sasse nun (1960) fest, „eines kann die christliche Theologie niemals zugestehen, das Vorhandensein von Irrtümern im Sinn falscher Berichterstattung in der Heiligen Schrift“115. Er hoffte darauf, es werde „die Zeit […] kommen, in der die christologische Entscheidung von Chalcedon zum Muster einer Lösung für die Lehre von der Heiligen Schrift und ihrer Inspiration wurde“116. Von Sasse nimmt Kloha das Motiv der Chalcedonensischen ZweiNaturen-Christologie für die Schriftlehre auf, erweitert es aber um die sakramentale Dimension.117 Die christologische Analogie erlaubt das Ernstnehmen der menschlichen Seite der Schrift, die freilich nicht durch eine Art Vergöttlichung in Frage gestellt werden darf, wie andererseits die Erhöhungschristologie niemals die Tatsache verdrängen darf, dass der Erhöhte der Gekreuzigte ist und bleibt; doch im gekreuzigten Christus ist die Wirklichkeit des Erhöhten verborgen. Dass das Wort Gottes performativen Charakter trägt, ist selbstverständlich zustimmungsfähig. Martin Luther hat diesen Gedanken

112 „… the importance to see all of God’s Word as equally inspired and authoritative“, a.a.O. , 422; als Beleg dienen Sasses „Comments on the Report of the Commission on Theology and Church Relations, A Study Documenton Revelation, Inspiration, Inerrancy (1964), in: a.a.O., 318–336, hier 335f. in nahezu wörtlicher Übereinstimmung mit seinen Ausführungen in Hermann Sasse, Inspiration und Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift. Einführende Überlegungen in: Sacra Scriptura (wie Anm. 10), 289. 113 A.a.O., 275—289, hier 281. 114 A.a.O., 285. 115 A.a.O., 288. 116 A.a.O., 289. 117 Jeffrey H. Kloha, Theological hermenutics after meaning, in: Lutheran Theological Journal 46 (2012), 4–16.

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aus dem effektiv verstandenen Zuspruch der Vergebung in der Beichte entwickelt.118 Ein rezeptionsästhetischer Ansatz, wie James Voelz ihn vorgelegt hat119, wird von Kloha aufgegriffen; dabei ergibt sich ein Befund unleugbar zunehmender Pluralisierung von Verständnisses des Wortes Gottes bzw. der Schrift; dieser kann durch die Annahme einer vorfindlichen Rahmenbedingung für das Verständnis, die jeweils ausgeschildert, bewusst gemacht und so nachvollziehbar werden müsste, gesteuert werden. Freilich ist zu bedenken, dass, wenn man das Verstehen der Schrift bzw. des Wortes Gottes im Rahmen der Interpretationsgemeinschaft der Kirche ansiedelt,120 darauf achtzugeben ist, dass der Kirche nicht ein zu großes Gewicht zugemessen werde. Denn das könnte dazu führen bzw., wie in der Konstitution Dei Verbum des II. Vatikanischen Konzils,121 implizieren, dass die Kirche, anstatt ihre Stellung und Aufgabe als „creatura Verbi“ anzunehmen und auszufüllen, dahin tendierte, die bestimmende Funktion des Wortes Gottes zu ersetzen. Andererseits gilt selbstverständlich für die Bedingungen menschlichen Verstehens, dass der jeweilige Kontext von unübersehbarer Bedeutung für das Verstehen ist. Nichtsdestoweniger ist sicherzustellen, dass die Richtung, die vom Ergehen des Wortes Gottes zum Entstehen von Glaube und Kirche führt, nicht umgekehrt werde. Jedenfalls ist Klohas Aussage im Zusammenhang der Analyse von Konzepten narrativer Theologie uneingeschränkt zuzustimmen, das Christus das Subjekt des performativen Sprechaktes ist, „which he himself performs in us.“122 Dass im Vorgang des Verstehens Übersetzungsvorgänge sprachlicher, kultureller und historischer Art stattfinden, hat Kloha zu Recht von Hans-Georg Gadamer übernommen.123 Darin ist eingeschlossen, dass das Ringen um eine angemessene Wiedergabe biblischer Aussa-

118 Vgl. Ulrich H. J. Körtner, Theologie des Wortes Gottes. Positionen – Probleme – Perspektiven, Göttingen 2001, 75–79. 119 James Voelz, What does this mean? Principles of Biblical Interpretation in the Post-Modern World, St. Louis, MO, ²2003. 120 Kloha, Theological hermeneutics (wie Anm. 117), 14f. 121 Der lateinische und deutsche Wortlaut in LThK² 13, 497–583. 122 Kloha, Theological hermeneutics (wie Anm. 117), 14. 123 A.a.O., 10–12.

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gen in einem neuen Verstehenshorizont nie ganz ohne Konflikte vonstattengehen kann.124 In seiner Auseinandersetzung mit dem Konzept von Schriftauslegung als „performance“ betont Kloha zu Recht die Autorität des Textes.125 Daher votiert er für einen „kanonisch-textuellen Zugang“, selbst angesichts schwieriger Textkonstitutionen des Neuen Testaments126, der eine Hermeneutik der Schriftautorität voraussetzt und anwendet, die in nichts anderem gründet als im Werk Jesu Christi, verdichtet in seinem Tod und seiner Auferstehung.127 Der Transfer biblischer Aussagen und Sachverhalte in neue Zielhorizonte, so lehrt zumindest die Geschichte der Formulierung des christlichen Dogmas, muss sich also als angemessen, nachvollziehbar und überzeugend erweisen. Nach Robert Kolb kann Luther in seiner Lesart der Heiligen Schrift zum Gesprächspartner für Christen im 21. Jahrhundert werden, nicht

124 Als Beispiel dafür mag die Formulierung des trinitarischen und christologischen Dogmas von Nicäa (325) bis Chalcedon (451) dienen. Als nicht-biblischer Begriff beschreibt das in das Ur-Nicänum eingefügte ὁμοούσιο (homooúsios) gleichwohl angemessen, was die Heilige Schrift über Jesus von Nazareth und sein Verhältnis zu Gott dem Vater aussagt. Dennoch führten die Väter der Alten Kirche endlose Debatten über die Bedeutung und das sachgerechte Verständnis dieses Begriffs, bis durch die kongeniale Differenzierung der klassischphilosophischen Terminologie von οὐσία (ousía) und ὑπόστασις (hypóstasis) durch die drei großen Kappadozier auf dem Konzil zu Konstantinopel (381) eine sachgerechte, transparente und plausible Fassung des trinitarischen Dogmas und, zwei Generationen später, durch die Klärung der Terminologie von ὑπόστασις (hypóstasis) und φύσις (phýsis) auf dem Konzil zu Chalcedon, eine bündige, einleuchtende und dem Schriftbefund entsprechende Fassung des christologischen Dogmas möglich wurde; vgl. Wolf-Dieter Hauschild, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte 1, Alte Kirche und Mittelalter, Gütersloh 1995, 41–52; 153–185. 125 Kloha, Theological hermeneutics (wie Anm. 117), 12–14. 126 Jeffrey Kloha, Theological and Hermeneutical Reflections on the Ongoing Revisions of the Novum Testamentum Gaece, in: Achim Behrens/Jorg-Christian Salzmann (Hg.), Listening to the Word of God. Exegetical Approaches (OUH.E 126), Göttingen 2016, 169–206, hier 196–198; 206. 127 A.a.O., 201, Our hermeneutics must ground its view of the authority of the Scripture in nothing other than the work of Jesus Christ, focused in his death and resurrection.

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zuletzt unter dem Vorzeichen krisenhafter Entwicklungen.128 Dabei geht es eben um Übersetzungsarbeit über den Abstand von Jahrhunderten und über kulturelle Grenzen hinweg.129 Dass dies weder bei Luther (und Melanchthon) noch bei uns voraussetzungslos geschieht, versteht sich (fast) von selbst.130 Zwei Grundannahmen müssen hier geltend gemacht werden: Die eine besagt, dass Gott die menschliche Existenz in einer doppelten Weise gestaltet, die andere, dass Gott durch sein Wort wirkt und zwar in vielfältigen Anwendungsgestalten. Die erste, anthropologische Voraussetzung meint zum einen, dass Menschen wahrhaft menschlich, d.h. Gottes Geschöpfe, sind und allein aus Gottes Güte und Gunst leben; zum anderen, dass sich solche Menschlichkeit im Verhältnis zu anderen Geschöpfen in Gestalt von Taten der Liebe erweist. Die zweite, (wort-)theologische Voraussetzung schließt ein, dass die Anwendung des Wortes Gottes in mündlicher, schriftlicher und sakramentaler Gestalt131 nicht nur über himmlische Sachverhalte „informiert“, vielmehr auf der Grundlage des fleischgewordenen Wortes Gottes, Jesus Christus, wirklich und wirksam neues Leben bewirkt und zuführt.132 Tatsächlich lässt sich, so meint Robert Kolb, ein Brückenschlag vollziehen zwischen Luthers (und Melanchthons) Zugangsweisen zur Frage nach dem Menschsein des Menschen und der Frage nach der Selbstmitteilung Gottes hinüber in unsere Zeit und ihre Fragestellungen.133 Wenn Luther Gott immer als Gott in Beziehung zu seinen Menschengeschöpfen begreift und in Übereinstimmung mit dem biblischen Befund darin eine Entfaltung der Gotteserzählung sieht, die in Raum und Zeit, also Geschichte, gar menschlicher Geschichte, spielt134, dann ist das anschlussfähig für heutiges Verstehen und Deuten. Wenn nämlich Gottes Offenbarung sich in der Geschichte 128 A.a.O., 10f.; vgl. Werner Klän, „Echten Glauben und rechtes Leben fördern“ – Laudatio auf Prof. Dr. Robert Kolb, in: LuThK 38 (2014), 3–20. 129 Robert Kolb, Speaking the Gospel Today. A Theology for Evangelism, St. Louis, MO 1984, ²1995, 13f.; Robert Kolb/Charles P. Arand, The Genius of Luther’s Theology. A Wittenberg Way of Thinking for the Contemporary Church, Grand Rapids, MI, 2007, 19. 130 A.a.O., 12. 131 Robert Kolb, Martin Luther: Confessor of the Faith, Oxford 2009, 131–151; A.a.O., 175–203. 132 A.a.O., 12. 133 A.a.O., 20. 134 Kolb, Stories (wie Anm. 9), 2.

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vollzieht, wie sie in der Bibel von der Schöpfung bis zu Christi Wiederkunft zum Gericht geschildert wird, dann ist die Entfaltung menschlicher Geschichte darin eingeschrieben.135 An die Bibel aber weiß sich Luther gewiesen und weist er seine Hörer und Leser, weil er in der Heiligen Schrift als Gottes Wort Gott selbst zu finden ist; insofern ist die Bibel nicht so sehr „Buch“ als Produkt eines Schreibvorgangs, als vielmehr eine Maßnahme der Fürsorge Gottes für seine Menschen und insofern ein kommunikativer Vorgang.136 Dieser Sachverhalt entspricht der kommunikativen Wirklichkeit Gottes selbst. Verdichtet findet sich diese Wirklichkeit im fleischgewordenen Wort Gottes, Jesus Christus: Er stellt die durch menschlichen Aufruhr zerstörte Beziehung zu Gott heilvoll wieder her; von da aus erst gewinnen alle anderen Gestalten der Selbstmittteilung Gottes ihren Ort und Rang.137 Zudem wiederholt sich der in der biblischen Großerzählung erkennbare Verlauf, so ist Luthers Überzeugung, im täglichen Leben der Menschen Gottes;138 dies ist auch der Grund dafür, dass das Wort Gottes seine Adressaten nicht verfehlt.139 Schafft es, indem es sich bei seinen Hörern und Lesern selbst zur Geltung bringt, diese neu, so dass sie im Glauben, indem sie Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen, der wahren Bestimmung ihres Menschseins zugeführt werden140, so kann und wird diese Neuschöpfung nicht folgenlos bleiben. Dies gilt auch und in besonderem Maße unter dem Gesichtspunkt, dass Gottes Volk und seine Menschen im Lauf der Geschichte und im Gang ihres Lebens beständig der Anfechtung durch die widergöttlichen und menschenfeindlichen Mächte ausgesetzt waren, sind und bleiben:141 Die Weltgeschichte ist auch das Schlachtfeld des Kampfes Gottes gegen die Versuche des Teufels, Gottes Herrschaft zu unterhöhlen, und das Leben der Menschen Gottes ist es nicht minder. Leiden wird daher ein unentrinnbarer Bestandteil des christlichen Alltags.142 Erst diese eschatologische Gespanntheit verleiht seiner

135 A.a.O., 6f. 136 A.a.O., 13; 15. 137 Kolb/Arand, Genius (wie Anm. 129), 166. 138 Kolb, Stories (wie Anm. 9), 9. 139 A.a.O., 16. 140 A.a.O., 65–97. 141 A.a.O., 99–123. 142 A.a.O., 117–122.

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Theologie die letzte Tiefe.143 Sie verhindert aber nicht, dass das Leben der Gläubigen sich gestaltet in Gottesdienst, Gotteslob und Gebet – letzteres bereits in der Zuwendung zu anderen.144 Dabei haben Christen in einer Gesellschaft durchaus teil an den Lebensvollzügen und kulturellen Gepflogenheiten ihrer Umgebung, wie sie andererseits ihre Werte in die gesellschaftliche Lebenswelt hineintragen.145 Die Art und Weise der Interaktion zwischen den verschiedenen Einwirkungen ist freilich höchst komplex und dementsprechend die Beurteilung ihrer Wechselwirkungen differenziert vorzunehmen.146 Dies kann jedoch nicht gegen die Beobachtung ausgespielt werden, dass Luthers neue Weise, grundlegende Wirklichkeiten des menschlichen Lebens zu bestimmen, über Generationen und Kulturen weitergewirkt hat und -wirkt.147

Wort und Geist – Geist und Wort Christlicher Glaube jedenfalls hat in der Schrift seinen Inhalt und an der Schrift sein (fundamentales) Kriterium für die kategoriale Unterscheidung von Gottes Wort und Menschenwort. Die Heilige Schrift ist als kanonisch der Kirche vorgegeben auszulegen und hat, bezogen auf Heil und Rettung des Menschen, als suffizient zu gelten. Festzuhalten ist die Einheit von Altem und Neuem Testament bei festgestellter innerer Differenziertheit. Die Selbstauslegung und Selbstdurchsetzung der Schrift, mithin ihre Autopistie, gilt der lutherischen Theologie orthodoxer Spielart als gewiss. Dabei wird die Rechtfertigungslehre zweifellos als Fluchtpunkt der Schriftaussagen und Verdichtung des Gesamtzeugnisses der Schrift angenommen. Im Hintergrund steht die Auffassung, dass die Schrift Organ des Redens Gottes des Heiligen Geistes ist. Ihre Inspiration ist Vorgang, der in der Be-Ur-Kundung des göttlichen Redens zu und durch Menschen auf Glauben zielt, welcher wiederum wortgegründet und wortbezogen ist. Insofern kann von einer „Perichorese“, also wechselseitige Durchdringung von Wort und Geist gesprochen werden: Gott der Heilige Geist bedient sich menschlicher Sprache, in der Gott seinen Willen, sein Heil, seine Selbsterschließung kommuniziert, so 143 Kolb, Martin Luther (wie Anm 131),162–171. 144 Kolb, Stories (wie Anm. 9), 125–240 145 Robert Kolb, The Christian Faith. A Lutheran Exposition, St. Louis, MO 1993. 146 Robert Kolb, Lutheran Ecclesiastical Culture, 1550–1675, Leiden 2008, 6. 147 A.a.O., 7.

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dass die Schrift sein Wort in dem Sinn ist, dass geisterfülltes Wort und wortgebundener Geist unauflöslich zusammengehören. Die Sinnerschließung solches Wortes Gottes in der Schrift erfolgt nach Regeln von Philologie, Grammatik und Historie, ohne dass der Sinn göttlicher Rede darin vollständig aufginge. Denn der zentrale Inhalt des Wortes Gottes, also Sachverhalte wie die Menschwerdung Gottes in Christus, sein Heilswerk, wie es an Karfreitag und Ostern verdichtet ist, eben das Evangelium, muss maßstäblich sein für Lehre und Leben in der Christenheit – gegebenenfalls auch als „Wahrheit über alle exegetische Vernunft“. Lutherische Theologie und Kirche spricht sich gegen eine Ergänzung des Schriftzeugnisses durch menschliche „Tradition“ als „nicht geschriebenes Wort Gottes“ aus, wiewohl sie eine Normengefüge kennt, in dem legitime menschliche Tradition ihren Platz findet148, doch immer nachrangig zur Schrift selbst und nur, wenn der Erweis der Schriftgemäßheit solcher Tradition geführt werden kann; zugleich verwahrt sie sich gegen jede spiritualistische Entleerung die Schriftzeugnisses, die vom „buchstabischen“ Wort meint absehen zu können. Eben so, in der Vorordnung des in der Schrift grundlegend kundgegebenen Evangeliums – oder, was dasselbe ist, dem Gefälle der Schrift hin zum Evangelium – wird die Einheit der Schrift gewahrt. Denn „als Gottes geschriebenes Wort [spiegelt sie] Gottes innerstes Herz“ wider, der in Gesetz und Evangelium zu uns redet; Er tötet und macht wieder lebendig; beide sind darum untrennbar, wohl aber unterscheidbar. Doch ohne den Geist bliebe Gottes Wort bloß äußerlich; verbunden mit dem Geist, ist es der kommunikative (Selbst-)vollzug Gottes. Der Zusammenhang von Geist und Wort ist nur „dialektisch“ bestimmbar: Das Wort bringt den Geist, der sich

148 Dies gilt z. B. für die Autorität Luthers im 16. Jahrhundert, die freilich von der abgeleiteten Norm der Bekenntnisschriften abgelöst wurde; dabei wurde Luther als der „fürnehmste Lehrer der Augsburgischen Confession“ in das Autoritätengefüge aufgenommen; vgl. Robert Kolb, Martin Luther as Prophet, Teacher, and Hero. Images oft eh Reformer 1520–1620, Grand Rapids, MI, Carlisle, Cumbria 1999; dazu Werner Klän, Was machen wir aus Luther?, in: Karl-Hermann Kandler (Hg.), Das Bekenntnis der Kirche zu Fragen von Ehe und Kirche (Lutherisch Glauben 6), Erlangen 2011, 90–117.

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des Wortes bedient, um sich mitzuteilen; hier könnte von einem „sakramentalen“ (d.h. Gnadenmittel-) Charakter des Wortes/Evangeliums gesprochen werden.149

Vom Vorrang des Wortes Gottes in der Schrift Lutherische Hermeneutik muss also ihren Ausgang nehmen von dem unaufgebbaren Vorrang des Wortes Gottes vor allen menschlichen Voraussetzungen, vor allem menschlichen Bemühen, vor aller theologischen Forschung.150 Damit werden wissenschaftliche Forschung und Erkenntnisbemühung nicht entwertet, ihnen aber – in theologischer Absicht – ein Stellenwert zugewiesen, der sie dem Wort Gottes in der Schrift nachordnet. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass das Wort Gottes in Gestalt des biblischen Kanons erste und letzte Instanz für Lehre und Leben der Kirche ist.151 Dass die biblischen Texte dabei auch in ihrer Abständigkeit wahrgenommen werden müssen152 und dass sich innerbiblisch Polyvalenzen eines Textes und Reinterpretationen bestimmter Texte feststellen lassen, wird damit nicht geleugnet.153 Das Motiv einer – bereits innerbiblischen - „theologischen Reflexionsgeschichte“ scheint mir hilfreich zu sein.154 Nicht die Kirche bzw. die kirchliche Auslegung legitimiert die Schrift, sondern die Schrift autorisiert die Kirche und, was in der Kirche für deren Lehre und die Lebensvollzüge der Christen gilt. Denn die Heilige Schrift enthält alles, was zum Heil zu wissen den 149 Ähnlich Achim Behrens, Theologische Reflexionsgeschichte des Alten Testaments. Exegetische Studien im Kontext evangelisch-lutherischer Theologie (OUH.E 15), Göttingen 2015, 243–245. 150 Dies scheint auch Behrens, a.a.O., 164 zu bestätigen. 151 Dies ist die particula veri des „canonical approach“, den Behrens leider allzu forsch abweist, vgl. a.a.O., 41f. 152 A.a.O., 73; 76; 265. 153 A.a.O., 53; 59; 158; Behrens spricht gar von „einer reflektierten Veränderung des theologischen Gehalts alttestamentlicher Texte“, vgl. a.a.O., 61; zu klären wäre, was der Begriff „Veränderung“ hier besagt; ob in solchem Zusammenhang formuliert werden sollte, dass etwa Paulus „keine Skrupel gegenüber einem historisch feststellbaren Sinn des zitierten Textes hat“, scheint mir freilich fragwürdig zu sein; vgl. Behrens, 109; etwas behutsamer sein Urteil, a.a.O., 179 und geradezu affirmativ zur kirchlichen Lesart, a.a.O., 193–195. 154 A.a.O., 144; 152f.; 165; vgl. die Durchführung am Beispiel von Jes. 7, a.a.O., 155–165.

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Menschen nötig ist. Vor allem deswegen richten sich christliche Glaubensaussagen, nicht zuletzt in Gestalt ihrer Bekenntnisse, am Maßstab der Heiligen Schrift aus.155 Dabei versteht sich das lutherische Bekenntnis immer als zugleich sachgemäße und zeitgemäße Auslegung der Heiligen Schrift, deren Urteil es jedenfalls unterworfen bleibt156; dass der Glaube schon alttestamentlich auf das Bekennen angelegt ist, lässt sich exegetisch durchaus zeigen.157 Schrift und Bekenntnis sind also in einem Autoritätengefüge einander zugeordnet. Dabei ist zu beachten158, dass Luther den Verfassern der lutherischen Bekenntnisschriften als autoritativer hermeneutischer Bezugsrahmen eines rechten Verständnisses besonders der Confessio Augustana gilt159. Diesem Luther folgen sie ausdrücklich in der Verhältnisbestimmung des Wortes Gottes in der Heiligen Schrift und den nachgeordneten Bekenntnissen der alten Kirche und der lutherischen Reformation darin, dass die Heilige Schrift „alleine die einige, wahrhahftige Richtschnur ist, nach der alle Lerer und Lere zu richten und zu urteilen seien.“160 Kanon also ist und bleibt die Heilige Schrift ausschließlich, der gegenüber die Bekenntnisse Zeugenfunktion einnehmen,161 freilich mit dem Anspruch auf Wahrheit.162 Hingegen wird den Theologen des eigenen Lagers grundsätzlich eine Irrtumsfähigkeit attestiert.163

Gottes Wort und menschliches Dasein Oswald Bayer hat, von Luther ausgehend, herausgearbeitet, dass der „Gegenstand der Theologie“ wohl „konstitutiv sprachlich“ sei,164 sein Verständnis sich aber nur bilden könne, „wenn sich theologisches Denken auf […] drei Widerfahrnisse einlässt, die sich in keiner Weise aufeinander zurückführen oder einem gemeinsamen Oberbegriff – 155 Vgl. Friedrich Beißer, Wort Gottes und Heilige Schrift bei Luther, in: Schrift und Schriftauslegung (VLAR 10), Erlangen 187, 15–29 156 Behrens, Reflexionsgeschichte (wie Anm. 142), 89–99. 157 A.a.O., 199–220, bes. 202; 219f.; vgl. 223; 242. 158 Vgl. Werner Klän, Luther (wie Anm. 148), 90–117, bes. 113–117. 159 FC SD VII 41, BSELK 1470; vgl. Robert Kolb, Prophet (wie Anm. 140), 63–65. 160 FC SD, Von dem Summarischen Begriff 3, BSELK 1310. 161 FC SD, Von dem Summarischen Begriff 12, BSELK 1314. 162 FC SD, Von dem Summarischen Begriff 13, BSELK 1314–1316. 163 FC SD, Von streitigen Artikeln 19, BSELK 164 Bayer, Theologie (wie Anm. 42), 412.

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etwa dem der Selbstoffenbarung Gottes – unterordnen lassen“165. Sie bestimmt er näher so: „a) der sich gegen mich richtende Widerspruch des mich der Sünde überführenden, mich verklagenden und dem Tod überantwortenden Gesetzes, b) der Zuspruch des Evangeliums, in dem mit Jesus Christus Gott selbst für mich spricht, ja an meine Stelle tritt, c) der Ansturm der keineswegs nur als Wirkung des Gesetzes zu verstehenden und dem Evangelium radikal widersprechenden, erdrückend unbegreiflichen Verborgenheit Gottes.“166 Während die ersten beiden „Widerfahrnisse“ – gut lutherisch – die zum Evangelium hin tendierende Bezogenheit von „Gesetz und Evangelium“ spiegeln, kommt für Bayer im letzteren die bedrängende Erfahrung zum Ausdruck, dass „Gott […] meist anonym“ bleibe, „fast immer ins Passivum verhüllt, kein Liebhaber des Lebens, sondern dessen Verkläger und Verneiner, der Gottes offenbarem Willen und dem Evangelium widerspricht“.167 Die Folge solcher Erfahrung als Widerfahrnis ist „die tiefste Anfechtung“, dass Gott, wie Luther in De servo arbitrio sagt, „den Tod nicht beklagt und aufhebt, sondern Leben, Tod und alles in allem wirkt“, dabei ist es derselbe Gott, der sich „in der Zusage des Lebens und ewiger Gemeinschaft vorstellt“168. Hier steht „Gott gegen Gott“. In solchen und gegen solche für uns „unaufhebbaren Differenzen“ hilft nur die Klage, die freilich nicht die innere Einheit der Gotteserfahrung als des Gegenstandes der Theologie herstellt, sondern ihre Disparatheit be-klagt.169 Dagegen setzt und steht Bayer das Evangelium im luther(i)schen Verständnis, strikt als „kategorische[r] Gabe“, für die „es keine menschliche Disposition“ gibt: „Evangelium heißt: Gott spricht für mich in der Fragmentierung der Zeiten und Zersplitterung der Identitäten“.170 Christologisch buchstabiert, heißt das, dass nur „Kraft der Menschwerdung Jesu Christi meine Identität neu“ geschenkt wird; ich habe sie „in einem bleibend Fremden“. Damit sieht Bayer einen Fundamentalwiderspruch sowohl zur „zur vorneu165 A.a.O., 413. 166 Ebd. 167 A.a.O., 415f. 168 A.a.O., 416, vgl. WA 18, 685, 21–23. 169 A.a.O., 416f. 170 Oswald Bayer, Mit Luther in der Gegenwart. Die diagnostische Kraft reformatorischer Theologie, in: Notger Slenczka/Walter Sparn (Hg.), Luthers Erben. Studien zur Rezeptionsgeschichte der reformatorischen Theologie Luthers. Festschrift für Jörg Baur zum 75. Geburtstag, Tübingen 2005, 297–310, hier 307.

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zeitlichen Substanzmetaphysik wie zu einer neuzeitlichen Subjektmetaphysik“ gegeben; hier identifiziert er den „entscheidenden Streitpunkt im Konflikt reformatorischer Theologie mit modernem und postmodernem Denken“.171 Hilfreich und heilsam sei dagegen eine Haltung, „im Glauben, der sich auf das verläßliche Evangeliumswort gründet, […] eine neue – exzentrische – Identität [sc. zu] empfangen“.172 Auf diesem Hintergrund ist Robert Kolb der Überzeugung, dass selbst für das 21. Jahrhundert, da die Welt unter dem Vorzeichen neuer Technologien, neuer wirtschaftlicher Mächte, neuer politischer Konstellationen und neuer sozialer Gegebenheiten bei gleichzeitiger Fortdauer menschlicher Sündhaftigkeit, Gefahr läuft, das Leben zu gefährden und uns unserer Menschlichkeit zu berauben, die lutherische Botschaft von gott-gegebener neuer Identität des Menschen und daraus sich ergebender Gestaltung wahrhaft menschlichen Lebens ihre Gültigkeit nicht nur behält, sondern neue Bedeutsamkeit erhält. Denn „Luthers Theologie des Kreuzes leistet es für jedes Zeitalter, die biblische Botschaft von Gott und seinem Wesen und dem Wesen seiner Geschöpfe zu verdeutlichen – unabhängig von den oberflächlichen Wandlungen in Geschichte und Kultur.“173 Lutherische Theologie und ihr Bekenntnis wären und sind mit ihrer Anhänglichkeit an das „eine wahre Evangelium“174 und damit verbundener Existenzerhellung zugleich ein wesentlicher, weiterführender Beitrag der lutherischen Kirchen zum ökumenischen Gespräch unserer Tage.175

171 A.a.O., 308. 172 A.a.O., 309. 173 Robert Kolb, Deus revelatus – Homo revelatus. Luthers Theologia crusis für das 21. Jahrhundert, in: ders./Christian Neddens, Gottes Wort vom Kreuz. Lutherische Theologie als kritische Theologie, mit einer Einführung von Volker Stolle und einem Ausblick von Werner Klän (OuH 40), Oberursel 2001, 15; sie ist „tatsächlich ein Paradigma für jede Zeit, vielleicht sogar besonders am Anfang des 21. Jahrhunderts“, A.a.O., 23; vgl. A.a.O., 34. 174 Kolb, Faith (wie Anm. 131), 135–137. 175 „In the midst of societies around the world, in which new technologies, new economic forces, new political constellations, and new social structures join with the age-old sinfulness of individuals to unsettle life and deprive human beings of their humanity, Lutheran churches need to witness to Christ using the distinction of identity and performance, the distinction of passive and active righteousness.“, Robert Kolb, Luther on. Two Kinds of Righteousness: Reflec-

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Vermittelt wird diese Botschaft in der Christenheit und durch die Kirche, die ihrerseits dadurch entsteht, dass Gottes Herrschaft sich durch sein neuschöpferisches Wort ausbreitet und so die Kirche ins Dasein ruft. Die Kirche insgesamt und die einzelnen Gläubigen geben Antwort auf dieses neuschöpferische Geschehen, zunächst im Gottesdienst der Gemeinde, dann über deren Grenzen hinaus im Dienst am Nächsten.176 Überdies aber bilden die Christen in Gemeinde und Kirche eine Zeugnisgemeinschaft177, die ihr Recht daher bezieht, dass Gott selbst seine Menschen zu seinen Sprachrohren macht.178 Sie tragen das Wort des Evangeliums, das sie selbst vom Tod zu neuem Leben gebracht hat, zu denen, die es noch nicht erreicht hat.179

Vorläufige Schlussbemerkung Eine grundlegende Trennung zwischen christlicher und theologischer Existenz, zwischen akademischer Theologie und Gottesdienst, wie sie seit der Aufklärung in weiten Bereichen der westlichen Theologie Verbreitung gefunden hat, ist jedenfalls für bekenntnisgebundene lutherische Theologie nicht zulässig.180 Dies gilt auch für die Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft, deren Verhältnis, zumal in postaufgeklärten Kontexten, gewiss „asymmetrisch verfasst“ ist.181 Einerseits gilt: „Der Glaube trägt ein reflexives Bewusstsein seiner selbst in seiner Nicht-Selbstverständlichkeit mit sich.“182 Dieser Sachverhalt, bezogen auf den Vernunftbegriff, schließt mehrere Dimensionen ein – jedenfalls nach Luther: zum einen „Vernunft in der Theologie in Gestalt der logischen Form“, dann eine „irreführende Integration vernünftiger Erkenntnis über das Gerechtwerden in tions on His Two-Dimensional Definition of Humanity at the Heart of His Theology, LQ XIII (1999), 449–466; vgl. Kolb, Faith (wie Anm. 131), 137f. 176 A.a.O., 261–263. 177 A.a.O., 263. 178 Kolb, Gospel (wie Anm. 129), 12. 179 Kolb, Christian Faith (wie Anm 145), 264. 180 So die Fakultät der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel in einem Positionspapier aus dem Jahr 2010, vgl. Werner Klän, Nachwort, in: Behrens, Reflexionsgeschichte (wie Anm. 142), 315–321. 181 Miriam Rose, Glaube und Vernunft in lutherischer Perspektive, in: Rainer Rausch (Hg.), Glaube und Vernunft. Wie vernünftig ist die Vernunft. Dokumentationen der Luther-Akademie 11, Hannover 2014, 27–53, hier 52. 182 A.a.O., 49.

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die Theologie“ und schließlich eine „Vernunfttätigkeit, die dem Glauben und der Theologie gefährlich werden kann, weil sie den Glauben an einem Maß misst, das diesem nicht angemessen ist, und weil die Tätigkeit der Vernunft und ihre Objekte Teil des sündigen Weltumgangs des Menschen sind, wenn er sich nicht in Christus zum Toren hat machen lassen“183. Darum bleibt theologisch zu behaupten: „Die Vernunft ist […] nicht in der Lage, die Rahmenbedingungen zum Verständnis dessen zu bieten, wie das Evangelium Gottes Gnade den Sündern gewährt.“184 Denn der Vernunft ist, „bezogen auf die Gotteserkenntnis, jegliche Eigenkompetenz zu bestreiten“.185 Wer „historisch-kritische Exegese“ vorbehaltlos und wie selbstverständlich als Standard theologischer Schriftauslegung postuliert186, sollte nicht vergessen, dass eben jene Trennungen bei Johann Salomo Semler am Anfang historischer Kritik mitgesetzt sind.187 Er muss sich auch fragen lassen, was es bedeutet, wenn historisch-kritische Forschung methodisch und methodologisch als „streng immanente[n]“ alle „transempirischen Elemente“ des Glaubens ausschließe.188 Zumindest muss problematisiert werden, ob damit nicht ein „atheistischer Geschichtsbegriff für ,,natürlicher‘ erklärt [wird] als ein theis183 Theodor Dieter, Widersprüchliche Vernunft? Beobachtungen zu Luthers Umgang mit ‚der‘ Vernunft, in: a.a.O., 73–97, hier 96. 184 Mark Mattes, Glaube und Vernunft bei Luther im gegenwärtigen Diskurs, in: a.a.O., 99–132, hier 131. 185 Johannes von Lüpke, „Heilig, gerecht und gut“ – Theologische Kritik der Vernunft im Horizont der Aufklärung, in: a.a.O., 149–166, hier 165. 186 Behrens, Reflexionsgeschichte (wie Anm. 149), 156. 187 Vgl. Andreas Lüder, Historie und Dogmatik. Ein Beitrag zur Genese und Entfaltung von Johann Salomo Semlers Verständnis des Alten Testaments. BZAW 233, Berlin/New York 1995; Gottfried Hornig: Johann Salomo Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen. Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 2. Niemeyer, Tübingen 1996; Dirk Fleischer, Lebendige Geschichte: Hermann Samuel Reimarus und Johann Salomo Semler auf der Suche nach der biblischen Wahrheit. In: Albrecht Beutel/Volker Leppin/Udo Sträter/Markus Wriedt (Hg.), Aufgeklärtes Christentum. Beiträge zur Kirchenund Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts. Leipzig 2010, 75–92. 188 Ronald Deines, Der „historische“ und der „wirkliche“ Jesus. Die Herausforderung der Bibelwissenschaften durch Papst Benedikt XVI. und die dadurch hervorgerufenen Reaktionen, in: Christoph Raeder (Hg.), „Mitarbeiter der Wahrheit“. Christuszeugnis und Relativismuskritik bei Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. aus evangelischer Sicht, Gießen-Basel; Göttingen 2013, 20–66, hier 53.

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tischer“.189 Bei einer prinzipiellen „Scheidung der historischen von der dogmatischen Wahrheit“190 wird ein neuer „garstiger Graben“, der unterschiedliche „religiöse Kulturen“ scheidet, ausgehoben. Freilich werden wir kaum darum herumkommen191, die „faktische Nichtuniversalität der beiden großen Kulturen des Westens, der Kultur des christlichen Glaubens wie derjenigen der säkularen Rationalität“, zu respektieren.192 Wie beide Bereiche dennoch sachgemäß aufeinander zu beziehen sind, bleibt nachaufklärerischer Theologie, zumal konkordienlutherischer Prägung noch zu beantworten. Festzuhalten ist jedenfalls, dass die unabdingbare „kritische Arbeit“ bei der Erforschung und Auslegung der Heiligen Schrift „keineswegs bedeutet“, dass „sich der Exeget als Herr über den Text erheben kann“.193 Für die Auslegung biblischer – zumal alttestamentlicher – Texte kann das bedeuten, „dass wir […] die verschiedensten Fragen an alttestamentliche Texte richten und auf diese Weise die verschiedenen Impulse und Einsichten zum Verständnis des Alten Testaments aufgreifen.“194 Jorg-Christian Salzmann behandelt und problematisiert hierbei Hermeneutiken, die das Alte Testament nur als „Zeugnis eines vergangenen Gottesverhältnisses sehen“, oder „als Urkunde verschiedener religionsgeschichtlicher Vorstufen des Christentums“, aber auch Verhältnisbestimmung zwischen dem alten und dem neuen Testament unter dem Vorzeichen der „Heilsgeschichte“ bzw. von „Verheißung und Erfüllung“; er bezieht „Typologie“ und „Allegorese“ in die Diskussion ein, ebenso Strategien unmittelbare Anwendung von Aussagen des Alten Testaments, aber auch Lesarten, die die Identität Gottes in beiden Testamenten festhalten oder von „Christus als Mitte der Schrift“ ausgehen, wenn sie nicht in „selektive[r] Wahrnehmung“ verfahren; Salzmann behandelt auch knapp das „Canonical Approach“ und die „Rezeptionsästhetik“ sowie den Zugang über das 189 A.a.O., 55. 190 A.a.O., 56. 191 A.a.O., 61. 192 A.a.O., 61. 193 Edvin Larsson, Notwendigkeit und Grenze der historisch-kritischen Methode, in: VLAR 10, Erlangen 1987, 113–127, hier 124. 194 Jorg-Christian Salzmann, Das Alte Testament als Bibel der Christen (OUH 53), Oberursel 2014, 39; Zu diesem Komplex vgl. auch Achim Behrens, Verstehen des Glaubens. Eine Einführung in die Fragestellung evangelischer Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 2005, 95–116; 138–157.

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Begriffspaar von „Gesetz und Evangelium“; zu Recht bestreitet er ein simplizistische Gleichsetzung von Gesetz und Altem bzw. Evangelium und neuem Testament.195 Salzmanns Resümee ist zustimmungsfähig: „Theologisch bleibt es unsere Aufgabe, bei aller Vielfalt von Zugängen sagen zu können, wie wir nicht nur das Neue, sondern auch das Alte Testament als Gottes Wort und Offenbarung Gottes begreifen können.“196 Dieser Ansatz ist durchzuführen gemäß der Hierarchie, die der Summarische Begriff der Konkordienformel im Autoritätengefüge von Schrift, Bekenntnis und Schriftauslegung aufstellt, und dem Vorrang, den er der Heiligen Schrift zuweist.197 Noch einmal ist daher zu betonen: Die Priorität des Wortes Gottes vor allen menschlichen Bemühungen um sein Verständnis darf in konkordienlutherischer Theologie nicht zur Disposition gestellt werden. Für die christlich-theologische Lesart der Heiligen Schrift ist jedenfalls „vorausgesetzt, dass in den Schriften der Bibel nicht nur Menschen, sondern eben Gott selbst zu vernehmen ist. Dieses Bekenntnis wurzelt seinerseits im Glauben.“198 Das Bekenntnis der Christen ist also zum einen ein Antwortgeschehen, zum andern ein Zeugnisgeschehen; allemal aber ist es angelegt in der lebensverändernden Macht des Wortes Gottes selbst, die alle Menschen erreichen will.199 Einladend wird solches Bekenntnis auch darin sein, dass es den Brückenbau von Gottes Wort in der Heiligen Schrift hin zu den unterschiedlichen Situationen und Kulturen vollzieht, in denen Gott unser Zeugnis erwartet.200 Dabei werden die Zeugen nicht vergessen, dass die Verheißung des Herrn der Kirche ihnen als der „kleinen Herde“ (Lk 12,32) gilt.201 Das wird sie aber nicht hindern, die großen Taten Gottes unter den Völkern der Erde zu verkündigen.202 Denn das Evangelium will angesagt und auf den Kopf zu gesagt, also adressatengerecht zugesprochen sein.203 In seiner neuschöpferischen Kraft ist es bis heute lebensspendende Ansage 195 A.a.O., 29–27. 196 A.a.O., 40. 197 BSELK, 1216–1219; 1308–1319 198 Behrens, Verstehen des Glaubens (wie Anm. 194), 132. 199 Kolb, Stories (wie Anm. 9), 132f. 200 Kolb, Christian Faith (wie Anm 145), 272. 201 A.a.O., 274. 202 A.a.O., 298. 203 Kolb, Gospel (wie Anm. 129), 9–12.

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und Zusage zugleich204, die ihre Tiefe in endzeitlicher Perspektive und eschatologischer Verantwortung gewinnt.205 Dabei geht es Gott darum, denen, die sein Wort hören, das, was er zu sagen hat, wirksam zukommen zu lassen. In einer Übersetzung von Luthers theologia crucis206 hört sich das so an: „In einer Zeit tiefster Zweifel an der Existenz und Liebe Gottes zeigt uns das Kreuz, wie Gott sich mitten im Bösen offenbart, das unser Leben bedroht. In Christus zeigt das Kreuz, wer Gott ist. In einer Zeit tiefster Zweifel am Menschsein und seinem Wert definiert die Theologie des Kreuzes das menschliche Leben vom Standpunkt der Gegenwart Gottes und seiner Liebe zu seinen Geschöpfen, den Menschen aus. In Christus offenbart das Kreuz Gottes Göttlichkeit und unser Menschsein.“207

Daher wird es im Umgang mit dem Wort Gottes in der Schrift nicht nur um ein verstehendes Lesen und ein geschichtliches Auslegen208, sondern immer auch, ja zunächst um ein „hörendes Hören“ 209 zu tun sein, ist doch selbst angesichts der Tatsache, dass „die Heilige Schrift […] immer schon da“ ist,210 die „Mündlichkeit des Wortes Gottes“211 ein Charakteristikum der Selbstkommunikation Gottes.

204 Kolb/Arand, Genius (wie Anm. 121), 211, 223. 205 Kolb, Gospel (wie Anm. 129), 208; ders., Faith (wie Anm. 131), 140. 206 Vgl. Kolb, Christian Faith (wie Anm 145), 220–29. 207 Kolb, Deus revelatus (wie Anm. 173), 14f., 34. 208 Vgl. Alexander Deeg, Vom Lesen der Heiligen Schrift, in: LuThK 39 (2105, 105– 128. 209 Christoph Barnbrock, Vom Hören der Heiligen Schrift, in: LuThK 39 (2015, 129–152, hier 132. 210 A.a.O., 133. 211 A.a.O., 135.

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„Wort des lebendigen Gottes“ Biblische Lesungen als Teil der gottesdienstlichen Feier 1. Lesungen – als liturgischer Teil neu entdeckt In der christlichen Kirche gibt es unterschiedliche Kontexte, in denen Menschen Texte aus den Büchern der Bibel hören bzw. diese lesen. Entsprechend unterscheiden sich auch die Zugänge zu solchen biblischen Texten. Es ist nicht das Gleiche, ob ich im Rahmen einer Seminararbeit einen biblischen Text erschließe oder ob ich ihn als gottesdienstliche Lesung höre. Unbeschadet dessen, dass ich jeweils davon ausgehe, dass ich es bei diesen Texten mit Gottes Wort zu tun habe, wird ein akademischer Zugang nicht zuletzt auch historische Fragestellungen in den Blick rücken,1 während mir biblische Texte im gottesdienstlichen Ritus in einer anderen Weise begegnen: Sie sind Teil der gottesdienstlichen Gesamthandlung und werden zunächst einmal unkommentiert als Gottesrede in der Gegenwart laut. Mit Thomas Melzl lassen sich so ein Umgang mit der Bibel als kanonischem Text von einem Umgang mit der Bibel als heiligem Text unterscheiden.2 Versteht man das gottesdienstliche Handeln auch als „Inszenierung“, da es nach Michael Meyer-Blanck „keine Mitteilung des Glaubens ohne die Darstellung durch das ‚verbum externum‘ in sprachlichen und anderen Zeichen [gibt]“3, stellt sich unweigerlich 1

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Vgl. dazu und zu den gefühlten Spannungen, die sich zwischen einem akademischen Arbeiten und einem unmittelbar frommen Zugriff ergeben, exemplarisch Jorg Christian Salzmann, Das Alte Testament als Bibel der Christen, OUH 53, Oberursel 2014, 51–55. Vgl. Thomas Melzl, Die Schriftlesung im Gottesdienst. Eine liturgiewissenschaftliche Betrachtung, Leipzig 2011, 101–113. – Erste Gedanken meinerseits zur Frage der Lesungen finden sich hier: Christoph Barnbrock, Lesungen. Mit Büchern kommunizieren, in: Achim Behrens/ders. (Hg.), Theologische Erkundungen in Oberursel, FS H. Adam, OUH 52, Oberursel 2012, 93–109. Michael Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, Tübingen 2011, 383. Zum Gottesdienst als Inszenierung vgl. a.a.O., 374–383. – Vgl. aber auch die in Teilen be-

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die Frage, wie die Verlesung von biblischen Texten im Gottesdienst gestaltet wird. In welchen liturgischen Rahmen werden die Lesungen eingebettet? Welche sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen werden genutzt, um deutlich werden zu lassen, was in der Lesung geschieht? Kritisch ließe sich darüber hinaus fragen: Ist die Gestaltung der Lesungen und ihres unmittelbaren liturgischen Kontextes dem angemessen, was die versammelte Gemeinde von dem Lautwerden biblischer Texte glaubt und bekennt, dass sie hier Gottes Wort hört. Die liturgischen Vollzüge, Worte und Gesten, in die die biblischen Lesungen eingebettet sind, haben jedenfalls im Bereich der evangelischen Liturgik bisher nur geringe Aufmerksamkeit erfahren. Manfred Josuttis etwa kann zunächst recht pragmatisch festhalten: „Sicher besteht eine wichtige Aufgabe der eingeschalteten Zwischengesänge darin, die Aufmerksamkeit der Hörer gegenüber dem Wortgeschehen wachzuhalten.“4 Besondere Aufmerksamkeit hat der Lesungsteil dagegen in Martin Nicols Liturgik erhalten, in der er dem „Kultbuch Bibel“ ein eigenes Kapitel widmet.5 Nicht zuletzt durch Aufnahme von liturgischen Traditionen aus dem Judentum, aus der ostkirchlichen Orthodoxie und der römisch-katholischen Kirche regt er für einen evangelischen Wortgottesdienst liturgische Akte der „Herbeibringung“ und der „Aufbewahrung der Lesungsbibel“6 an. Auf derselben Linie stellt Alexander Deeg fest: „Aus der Art und Weise, wie Lesungen vorgetragen und ggf. noch eingeleitet werden, folgt eine bestimmte Art und Weise der Rezeption, die im Protestantismus eher sinn- als prä-

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rechtigte Kritik am Inszenierungsparadigma bei Albrecht Haizmann, Warum ein evangelischer Gottesdienst keine Inszenierung ist, in: Hans-Peter Großhans/Malte Dominik Krüger (Hg.), In der Gegenwart Gottes. Beiträge zur Theologie des Gottesdienstes, Frankfurt a. M. 2009, 347–368. Manfred Josuttis, Der Weg in das Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage, Gütersloh ²1993, 241. – Darüber hinaus kann er aber auch formulieren: „Der Inhalt dieser Zwischengesänge beschreibt eindeutig ihre Funktion. Sie sollen die Hörenden in jener Haltung anbetender Selbstvergessenheit festhalten, in die sie durch das Kyrie, das Gloria und das Konzentrationsgebet der Kollekte geführt sind.“ (ebd.). Martin Nicol, Weg im Geheimnis. Plädoyer für den Evangelischen Gottesdienst, Göttingen 2009, 135–161. A.a.O., 158f.

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senzkulturell orientiert sein dürfte.“7 Demgegenüber plädiert er für „eine kultische Verfremdung“, „damit diese [sc. die Lesungen, CB] der Einlinigkeit und Eintönigkeit einer einseitig kognitiv verstehenden Rezeption entzogen und auf andere Weisen ihrer Rezeption hin geöffnet werden (ohne dabei das kognitive Verstehen und ggf. emotionale Miterleben auszuschließen).“8 Als eine Möglichkeit solcher kultischen Verfremdung bringt Deeg das Wiederentdecken der Kantillation der Lesungen ins Gespräch.9 Am umfassendsten hat sich in der neueren liturgischen Diskussion Thomas Melzl mit der Schriftlesung im Gottesdienst und eben auch ihrer liturgischen Einbettung befasst und dabei die Entwicklung von der preußischen Agende (1895) zum Evangelischen Gottesdienstbuch (1999) und darüber hinaus bis zu neueren experimentellen Gottesdienstformen nachgezeichnet.10 Im Folgenden möchte ich zunächst eine Bestandsaufnahme der liturgischen Gestaltung des Lesungsteils des Gottesdienstes11 in gegenwärtigen Gottesdienstformularen vornehmen (2.). Von dort aus frage ich nach der Genese liturgischer Gestaltungsformen in diesem konkreten Liturgiebereich (3.) und nehme eigene Gestaltungsvarianten aus der Geschichte des bekenntniskirchlichen Luthertums (4.) mit in den Blick. Schließlich möchte ich einzelne Fragestellungen noch einmal gesondert beleuchten (5.) und Impulse für die Gestaltung des Lesungsteils im Gottesdienst entwickeln (6.).

2. Die Liturgie der Lesungen in der Gegenwart Für die Bestandsaufnahme beschränke ich mich aus pragmatischen Gründen auf das römisch-katholische Messbuch (2.1), das Evangelische Gottesdienstbuch (2.2) sowie auf die Agenden der Selbständigen 7

Alexander Deeg, Das äußere Wort und seine liturgische Gestalt. Überlegungen zu einer evangelischen Fundamentaltheologie, APTLH 68, Göttingen 2012, 498. 8 A.a.O., 499 (kursiv im Original). 9 Vgl. a.a.O., 503f. 10 Vgl. Melzl, Schriftlesung (wie Anm. 2), dort v.a. 341–347. 11 Der Lesungs- und Verkündigungsteil des Gottesdienstes wird in den unterschiedlichen gottesdienstlichen Formularen unterschiedlich gefasst. Ich konzentriere mich hier im Wesentlichen auf die Handlungsfolge, die sich nach Ende des Kollektengebets bis zum Abschluss der Evangeliumslesung ergibt, auch wenn dadurch bestimmte reizvolle Fragen, wie die nach der Beziehung zwischen Credo und Lesungen, außen vor bleiben müssen.

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Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) (2.3) und ihrer größten Schwesterkirche, der Lutheran Church–Missouri Synode (LCMS) (2.4). Als Beispiel für eine Sondertradition im Raum der Evangelischen Kirche in Deutschland wird abschließend auch die Messagende der Evangelischen Michaelsbruderschaft Berücksichtigung finden (2.5). 2.1 Die Lesungen im Messbuch für die Bistümer des deutschen Sprachgebiets12 Für den Wortgottesdienst sind im Normalfall drei Lesungen vorgesehen. Folgender Ablauf ergibt sich:13 Erste Lesung Lektor geht zum Ambo. Lektor trägt die erste Lesung vor (gesungen).14 Lektor (gesungen): „Wort des lebendigen Gottes.“ Gemeinde (gesungen): „Dank sei Gott.“ Kurze Stille Kantor: Antwortpsalm (Gemeinde: Kehrvers) Zweite Lesung Lektor trägt die zweite Lesung vor (gesungen) Lektor (gesungen): „Wort des lebendigen Gottes.“ Gemeinde (gesungen): „Dank sei Gott.“ Kurze Stille Halleluja15 und Vers Sequenz Evangelium Priester legt Weihrauch ein. Diakon verneigt sich und erbittet vom Priester den Segen und erhält ihn zugesprochen. (alternativ: Priester verneigt sich vor dem Altar und spricht 12 Die Feier der heiligen Messe. Messbuch. Für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes. Hg. im Auftrag der Bischofkonferenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sowie der Bischöfe von Luxemburg, Bozen-Brixen und Lüttich. Authentische Ausgabe für den liturgischen Gebrauch. Kleinausgabe. Das Meßbuch deutsch für alle Tage des Jahres, Einsiedeln und Köln u. a. ²1988 [1994]. 13 A.a.O., 334–342. 14 Kursiva dienen hier und im Folgenden bei der Darstellung der Gottesdienstordnungen der Markierung von fakultativen Stücken bzw. Gestaltungsweisen. 15 Dass das Halleluja in allen Liturgien zu bestimmten Zeiten im Kirchenjahr entfällt, sei hier kurz benannt. Es wird im Folgenden nicht extra ausgewiesen.

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ein Gebet.) Diakon/Priester nimmt das Evangeliar vom Altar und geht in Begleitung von Ministranten mit Kerzen und Weihrauch zum Ambo. Diakon/Priester (gesungen): „Der Herr sei mit euch.“ Gemeinde (gesungen): „Und mit deinem Geiste.“ Diakon/Priester (gesungen): Ankündigung des Evangeliums (Dabei: Kreuzzeichen über Buch, Stirn, Mund und Brust.) Gemeinde (gesungen): „Ehre sei dir, o Herr.“ Diakon/Priester inzensiert das Buch. Diakon/Priester verkündigt das Evangelium (gesungen). Diakon/Priester (gesungen): „Evangelium unseres Herrn Jesus Christus.“ Gemeinde (gesungen): „Lob sei dir Christus.“ Diakon/Priester küsst das Buch und spricht: „Herr, durch dein Evangelium nimm hinweg unsere Sünden.“ Es folgen Homilie, Credo und Fürbitten. 2.2 Die Lesungen im Evangelischen Gottesdienstbuch16 Im Evangelischen Gottesdienstbuch sind im Rahmen der verschiedenen Grundformen auch verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten des Lesungsteils vorgesehen: 2.2.1 Liturgie I nach Grundform I17 In der Liturgie, die dem Messtypus folgt, sind folgende Gestaltungsvarianten vorgesehen: Alttestamentliche Lesung Ankündigung Lesung Kantor(in)/(Lektor[in]) (gesungen): „Worte der Heiligen Schrift.“ Gemeinde (gesungen): „Gott sei Lob und Dank.“ 16 Evangelisches Gottesdienstbuch. Agende für die Evangelische Kirche der Union und für die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands. Hg. v. d. Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und im Auftrag des Rates von der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union. Taschenausgabe, Berlin u.a. ³2003. 17 A.a.O., 71–77 bzw. 98–108.

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Gesang (wenn es drei Lesungen gibt) Epistel Ankündigung Lesung Kantor(in)/(Lektor[in]) (gesungen): „Worte der Heiligen Schrift.“ Gemeinde (gesungen): „Gott sei Lob und Dank.“ Chor/Kantor(in)/Liturg(in) und Gemeinde: Halleluja und Vers Wochenlied/Lied des Tages oder ein anderes Lied Evangelium Ankündigung Gemeinde (gesungen): „Ehre sei dir, Herr.“ Lesung Gemeinde (gesungen): „Lob sei dir, Christus.“ Oder: Ankündigung Lesung Kantor(in) (gesungen): „Ehre sei dir, Herr.“ Gemeinde (gesungen): „Lob sei dir, Christus.“ Oder: Ankündigung Lesung Kantor(in)/(Liturg[in]) (gesungen): „Evangelium unseres Herrn Jesus Christus.“ Gemeinde (gesungen): „Lob sei dir, Christus.“ Es folgen Glaubensbekenntnis,18 Gesang, Predigt mit Kanzelliturgie (mit Offener Schuld), Gesang/Musik/Stille, Glaubensbekenntnis, Dankopfer, Lied/Musik, Abkündigungen und Fürbittengebet. 2.2.2 Liturgie II nach Grundform II19 Die Liturgie, die die Tradition eines schlichten Predigtgottesdienstes fortschreibt, sieht für die Lesungen folgendes vor: Schriftlesung durch Liturg(in) oder Lektor(in) Ankündigung 18 In beiden Grundformen kann das Credo vor oder nach der Predigt gebetet werden. 19 A.a.O., 138–141.

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Lesung Gesang/Musik Glaubensbekenntnis Lied Predigt Gebet oder Offene Schuld Glaubensbekenntnis Kanzelsegen Lied/Musik/Stille 2.2.3 Gottesdienst mit reicheren Interaktionsformen20 Neben den beiden Grundformen sind im Evangelischen Gottesdienstbuch noch verschiedene andere Variationsmöglichkeiten erhalten. An dieser Stelle sei exemplarisch noch der „Gottesdienst mit reicheren Interaktionsformen“ benannt. Hier ist unter dem Punkt „Schriftlesung“ folgendes beschrieben: „Biblische Texte können durch kurze Hinführungen eingeleitet und durch Singsprüche und Kanons umrahmt werden. Bei Gottesdiensten mit mehreren Generationen kann eine Lesung, über die später gepredigt wird, entweder hier oder während der Predigt als Erzählung gestaltet werden. Hinführung zur Lesung Singspruch: ‚Gottes Wort ist wie Licht in der Nacht‘ Lesung Singspruch im Kanon Halleluja-Vers“21

Es folgen Bekenntnis, Lied, Predigt und Musik. 2.3 Die Lesungen in der Evangelisch-Lutherischen Kirchenagende der SELK22 Die Evangelisch-Lutherische Kirchenagende steht in einer Traditionslinie, die von der Agende I der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen 20 A.a.O., 227f. 21 A.a.O., 227. 22 Evangelisch-Lutherische Kirchenagende. Hg. v. d. Kirchenleitung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Bd. 1: Der Hauptgottesdienst mit Predigt und Heiligem Abendmahl und sonstige Predigt- und Abendmahlsgottesdienste, Freiburg u.a. 1997 [2009], 258–266.

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Kirche Deutschlands (VELKD) von 195723 herkommt. Hier sind die Lesungen folgendermaßen liturgisch eingebettet: Liturg begibt sich an seinen Platz, und der Lektor tritt ans Lesepult. Oder: Liturg tritt ans Lesepult. Lesung aus dem Alten Testament (ggf. auch anstelle der Epistel, wenn über diese gepredigt wird) Ankündigung Lesung Liedstrophe (Lektor [oder Liturg] kehrt an seinen Platz zurück.) Epistel Ankündigung Lesung (Epistelmotette kann als Teil der Lesung gesungen werden) Lektor (oder Liturg) geht an seinen Platz zurück. Chor/Kantor: Halleluja und Vers – Gemeinde respondiert. Hauptlied (Graduallied) Evangelium Liturg (oder Lektor) tritt ans Lesepult. Stilles Vorbereitungsgebet24 Ankündigung des Evangeliums Gemeinde (gesungen): „Ehre sei dir Herre.“ Lesung (Evangelienmotette kann als Teil der Lesung gesungen werden) Gemeinde (gesungen): „Lob sei dir, o Christe.“ Liturg (oder Lektor) geht an seinen Platz zurück (der Liturg kann an den Altar treten). Es folgen Credo, Predigtlied und Predigt (inkl. Kanzelliturgie) sowie Christenlehre, Abkündigungen, Dankopfer und das Allgemeine Kirchengebet (und je nach Gestaltung an unterschiedlichen Orten weitere Lieder).

23 Agende für evangelisch=lutherische Kirchen und Gemeinden. Bd. 1: Der Hauptgottesdienst mit Predigt und Heiligem Abendmahl und die sonstigen Predigt= und Abendmahlsgottesdienste. Ausgabe für die evangelisch=lutherische (altluth.) Kirche, Berlin 1957. 24 Das entsprechende Vorbereitungsgebet ist offensichtlich der „Ordnung der deutschen Messe“ des Berneuchener Kreises entnommen (vgl. dazu Melzl, Schriftlesung [wie Anm. 2], 354–358, dort 356).

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Das Singen biblischer Lesungen ist im Raum der SELK vor allem im Rahmen der Osternachtsliturgie üblich.25 Als Gestaltungsvarianten benennt die Kirchenagende einerseits schlichtere Formen,26 bei denen einzelne Lesungen, aber auch die Lobrufe zum Evangelium entfallen können. Andererseits sind als zusätzliche Elemente hinführende Präfamina, Stille, Wechselgesang und Antwortgesänge in Form von Chor- oder Gemeindegesang bzw. Instrumentalmusik vorgesehen.27 2.4 Die Lesungen im Lutheran Service Book der LCMS28 Obwohl das Lutheran Service Book gleich fünf verschiedene Varianten für den sonntäglichen Gottesdienst kennt, ist die Ordnung des Lesungsteils in allen fünf „Settings“ weitgehend identisch. Lediglich die musikalischen Ausgestaltungen variieren. In einem Formular kann das Tageslied das Halleluja ersetzen.29 Damit ergibt sich für die Liturgie der LCMS im Wesentlichen folgendes Bild:30 Alttestamentliche Lesung Assistent: Ankündigung Lesung Assistent: „This is the Word of the Lord.“ Gemeinde: „Thanks be to God.“ Psalm oder Graduale Epistel Assistent: Ankündigung Lesung Assistent: „This is the Word of the Lord.“ Gemeinde: „Thanks be to God.“ Gemeinde/Chor: Halleluja und Vers Evangelium Pfarrer: Ankündigung Gemeinde (gesungen): „Glory to You, O Lord.“ Lesung 25 26 27 28

Vgl. Kirchenagende (wie Anm. 22), 309f. Vgl. a.a.O., 313 und 319. Vgl. A.a.O., 320. Lutheran Service Book. Altar Book. Prepared by The Commission on Worship of The Lutheran Church–Missouri Synod, St. Louis 2006. 29 Vgl. a.a.O., 278, 30 Hier wiedergegeben nach dem Divine Service, Setting One, a.a.O., 138–143.

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Pfarrer: „This is the Gospel of the Lord.“ Gemeinde (gesungen): „Praise to you, O Christ.“ Es folgen Tageslied, Predigt (inkl. Kanzelliturgie), Credo, Fürbitten und Gabensammlung, wobei die Reihenfolge dieser Elemente in den einzelnen Gottesdienstformularen variiert. 2.5 Die Lesungen in der Evangelischen Messe der Evangelischen Michaelsbruderschaft31 Im Messformular der Evangelischen Michaelsbruderschaft haben wir es mit einem formenreich ausgestalteten Lesungsteil zu tun: Alttestamentliche Lesung (eine der beiden ersten Lesungen kann entfallen) Diakon/Gemeindeglied: Lesung Kurze Stille Wochenlied oder Schola: Graduale Epistel (eine der beiden ersten Lesungen kann entfallen) Diakon/Gemeindeglied: Lesung Kurze Stille Kantor (oder Liturg): Halleluja und Vers – Gemeinde respondiert (stattdessen möglich: Tractus) Evangelium (gesungen) Diakon (oder Liturg) tritt zum Pult (in Begleitung von Kerzenträgern).32 Ankündigung (gesungen) Gemeinde (gesungen): „Ehre sei dir, Herr!“ Inzensierung des Evangeliars Lesung Diakon (oder Liturg) (gesungen): „Evangelium unseres Herrn Jesus Christus.“ Gemeinde (gesungen): „Lob sei dir, Christus!“ Lied oder Instrumentalmusik Es folgen Predigt, Credo und Fürbittgebet. Je nach Anlass sind auch für diese Liturgie unterschiedliche Ausformungen vorgesehen, zum Beispiel schlichtere Formen in Wochen31 Die Feier der Evangelischen Messe. Hg. i. A. der Evangelischen Michaelsbruderschaft v. Ralf-Dieter Gregorius/Peter Schwarz, Göttingen 2009, 223–235. 32 In der Einführung ist davon die Rede, dass der Ort der Evangeliumslesung der Raum vor dem Altar oder „in der Mitte der Gemeinde“ (a.a.O., 44) ist.

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gottesdiensten oder aber auch reichere Formen, etwa mit der Kantillation der Evangeliumslesung.33 2.6 Zwischenbeobachtungen Die erste Bestandsaufnahme zeigt, dass es in den untersuchten Liturgien sowohl große Überschneidungen als auch einige nennenswerte Differenzen gibt. Das Feld fächert sich auf zwischen der formenreichsten Liturgie dieser Auswahl, wie sie im römischen Messbuch vorliegt, und der schlichtesten Liturgie, wie sie in der Grundform II des Evangelischen Gottesdienstbuches gegeben ist. Auf der einen Seite haben wir somit eine Liturgie, die dem Wortgottesdienst mit drei Lesungen, äußerlichen Zeichen, biblischen Gesängen und Akklamationen viel Raum gibt, während die schlichteste Liturgie aus dem Evangelischen Gottesdienstbuch mit einer Lesung und kaum einer liturgischen Rahmung offensichtlich auf Konzentration setzt. Die allermeisten dargestellten Liturgien kennen in ihrer Vollform drei biblische Lesungen und Akklamationen zum Evangelium. In einigen sind darüber hinaus auch Akklamationen für die alttestamentliche und die epistolische Lesung vorgesehen. Auch das Halleluja mit einem biblischen Vers, das zumeist (in Teilen) mit der Gemeinde gesungen wird, findet sich in den meisten der hier dargestellten Formulare, auch wenn der Ort im liturgischen Ablauf sich von Ordnung zu Ordnung unterscheidet (entweder eher der Epistellesung oder eher dem Evangelium zugeordnet). Nur noch gelegentlich begegnen die traditionellen Stücke der Sequenz bzw. des Tractus. In einzelnen Liturgien findet sich eine Psalmlesung bzw. ein Psalmgesang zwischen den Lesungen. In den meisten der hier vorgestellten Liturgien ist zumindest fakultativ ein Wechsel der Akteure zwischen den ersten beiden Lesungen und dem Evangelium vorgesehen. In den meisten der hier dargestellten Liturgien wird die Evangeliumslesung (eher) als Aufgabe des Diakons bzw. Priesters/Pfarrers/Liturgen beschrieben. Erkennbar ist auch, dass im evangelischen Bereich einzelne Elemente der römischen Messliturgie bewahrt bzw. wiederentdeckt worden sind: Dies gilt zum Beispiel für die Option, die Evangeliumslesung mit Kerzen auszugestalten, oder für die Möglichkeit des Weih33 Vgl. Kantionale zur Feier der Evangelischen Messe. Hg. i. A. der Evangelischen Michaelsbruderschaft v. Ralf-Dieter Gregorius/Peter Schwarz, Göttingen 2010, v.a. 29–31.

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rauchgebrauchs im Messformular der Evangelischen Michaelsbruderschaft. Einen ähnlichen Hintergrund dürfte auch das Vorbereitungsgebet zum Evangelium in der Agende der SELK haben. Wie lässt sich dieser gegenwärtige Befund aber vor dem Hintergrund der Liturgiegeschichte verstehen?

3. Die Entstehung einer Lesungsliturgie 3.1 Die Wurzeln im Synagogengottesdienst Jorg Christian Salzmann hat in seiner Dissertation die These vertreten, „daß der Gottesdienst am Sonntagmorgen aus Wortgottesdienst und Eucharistiefeier zusammengewachsen ist“.34 Dabei sieht er die Wurzeln eines eigenständigen christlichen Wortgottesdienstes im jüdischen Synagogengottesdienst gegeben. Entsprechend kann er folgern: „Damit sind die Grundelemente des Synagogengottesdienstes auch im christlichen Wortgottesdienst gegeben: Schriftlesung, Predigt, Gebet und Gesang. Die neue Botschaft der Christen wird dabei mehrere Verschiebungen bewirkt haben: zum Erweis des Evangeliums eine Verschiebung von der Schriftlesung zur Predigt; eine stärkere Betonung des Gesangs; und ein weit größeres Hervortreten der Wirkungen des Geistes als es in den normalen Synagogen der Juden üblich war.“35

Unabhängig von der Frage, ob und in welchem Umfang es tatsächlich eigenständige Wortgottesdienste im frühen Christentum gegeben hat, ist doch der beschriebene Nachweis der Verwandtschaft des Wortteils im christlichen Gottesdienst mit dem jüdischen Synagogengottesdienst schlüssig. Das, was die christusgläubigen Juden in den Synagogen als gottesdienstliche Form kannten, behielten sie auch in ihren Gottesdiensten außerhalb der Synagoge bei.36 Welche 34 Jorg Christian Salzmann, Lehren und Ermahnen. Zur Geschichte des christlichen Wortgottesdienstes in den ersten drei Jahrhunderten, WUNT II/59, Tübingen 1994, 465f. 35 A.a.O., 469. 36 Diese These wurde auch in jüngerer Zeit von Folker Siegert vertreten: „In early Christian times Christian worship had only one model: the Jewish synagogue service.“ (Folker Siegert, The Sermon as an Invention of Hellenistic Judaism, in:

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geschichtliche Fortentwicklung ist zu beobachten? Einige Wegmarken seien hier zumindest kurz benannt. 3.2 Die weitere Entwicklung bis zur tridentinischen Messliturgie37 In den ersten Jahrhunderten haben vielerorts die Lesungen offensichtlich unmittelbar am Beginn des Gottesdienstes gestanden. Erkennbar werden spätestens in den sog. Apostolischen Konstitutionen Lesungen aus Gesetz, Propheten, Briefen, Apostelgeschichte und Evangelien,38 ohne dass präzise erkennbar wäre, wie viele Lesungsteile sich dadurch ergeben haben. Später ist dann ein entfalteter Eingangsteil vor dem Lesungsteil zu stehen gekommen. Im Ordo Romanus primus, der die gottesdienstlichen Verhältnisse um das Jahr 700 beschreibt und ordnet, ist bereits eine Lesungsliturgie dokumentiert. Das Evangeliar wird zu Beginn des Gottesdienstes in den Kirchraum gebracht und auf den Altar gelegt. Nach der Evangeliumslesung wird das Buch wieder an den entsprechenden Aufbewahrungsort zurückgebracht. Die erste Lesung wird durch den Subdiakon gehalten. Ihr folgen ein Responsum und das Halleluja, die von unterschiedlichen Personen aus einem Cantatorium gesungen werden. Vor der Evangeliumslesung, die Aufgabe des Diakons ist, folgen Wertschätzungsgesten (Küsse) gegenüber dem Bischof und dem Evangeliar. Dieses wird in einer Prozession (mit Leuchtern und Weihrauch) vom Altar zum Ambo gebracht und von dort verlesen. Nach der Lesung spricht der Bischof einen Friedensgruß, den die Gemeinde erwidert. Das Evangeliar wird den Klerikern vor der Aufbewahrung noch zum Kuss gereicht.39 Bestimmte wirkungsgeschichtlich bedeutsame Tendenzen lassen sich hier schon erkennen: Die unterschiedliche Bedeutung, die den beiden Lesungen zukommt; unterschiedliche Akteure bei Lesungen Alexander Deeg/Walter Homolka/Heinz-Günther Schöttler. (Eds.), Preaching in Judaism and Christianity. Encounters and Developments from Biblical Times to Modernity, SJ XLI, Berlin/New York 2008, 25–44, dort 36. 37 Vgl. zum Folgenden Gerhard Kunze, Die Lesungen, in: Leit. II, 87–180, und Karl-Heinrich Bieritz, Liturgik, Berlin/New York 2004, dort v.a. 306–309, 342– 344, 382–405. 38 Die „Klementinische Liturgie“ in den Apostolischen Konstitutionen, in: Joachim Beckmann [Hg.], Quellen zur Geschichte des christlichen Gottesdienstes, Gütersloh 1956, (18)19–36, dort 19. 39 Der Ordo Romanus primus, in: Beckmann, Quellen (wie Anm. 38), 99–107, dort Nr. 30f. und Nr. 55–65.

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und Gesängen; die besondere Würdigung des Evangeliars als Buch mit einer besonders kostbaren Botschaft; besondere Gesten und Handlungssequenzen (Prozessionen), die diese Hochschätzung zum Ausdruck bringen. Im tridentinischen Messformular ist dann im Wesentlichen schon die Form des Wortgottesdienstes greifbar, die noch heute im römischen Messbuch beschrieben ist. Allerdings ist keine alttestamentliche Lesung vorgesehen. Bei der Epistel fehlt noch jede Form von Akklamation. Auf die Epistel folgen Graduale, Tractus oder Halleluja mit Vers oder einer Sequenz. Die Umrahmung der Evangeliumslesung ist noch etwas reicher gestaltet als im heutigen römischen Messbuch. Im Wesentlichen ist der Ablauf aber parallel angelegt.40 3.3 Die Gesänge und Akklamationen in der Lesungsliturgie41 „Die Gesänge zwischen den Lesungen stammen noch aus der Zeit, in der es mindestens drei Lesungen gab, eine alttestamentliche, Epistel und Evangelium. Nur so erklärt sich auch, daß in der römischen Messe zwei Gesänge zwischen Epistel und Evangelium folgen. Ursprünglich lag einer dieser Gesänge, und zwar das Graduale, vor der Epistel.“42

Beim Graduale, dem Halleluja mit Vers und dem Tractus haben wir es jeweils mit Gesängen zu tun, deren Texte in weit überwiegendem Maß dem Psalter entnommen sind. Das Graduale lässt sich als eine „[m]usikalisch reich ausgestattete Kümmerform des Antwortpsalms außerhalb der Osterzeit“43 beschreiben. Der ursprünglich responsoriale Charakter des Graduale lässt sich noch daran erkennen, dass die (bald nur noch zwei) vorgesehenen

40 Ordo et Canon Missae Romanus, in: Beckmann, Quellen (wie Anm. 38), 109– 120, dort 111f. 41 Vgl. zum Folgenden Joachim Beckmann, Das Proprium Missae, in: Leit. II, 47– 86, dort 67–76, Bieritz, Liturgik (wie Anm. 37), 399f., und Luigi Agustoni (in Zusammenarbeit mit Johannes B. Göschl, Godehard Joppich, Heinrich Rumphorst), Gregorianischer Choral, in: Hans Musch (Hg.), Musik im Gottesdienst 1: Historische Grundlagen, Liturgik, Liturgiegesang, Regensburg 51994, 199–335, dort v.a. 310–323. 42 Beckmann, Proprium (wie Anm. 41), dort 67 (Hervorhebung im Original gesperrt). 43 Art. Graduale, in: Rupert Berger, Pastoraltheologisches Handlexikon. Das Nachschlagewerk für alle Fragen zum Gottesdienst, Freiburg/Basel/Wien 42008, 184.

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Psalmverse von einem Vorsänger und als Antwort vom Chor gesungen werden. Das Halleluja, das offensichtlich zunächst eine recht freie Form des gemeindlichen Gesangs darstellte, gewinnt im Missale Romanum eine feste Form: „der Vorsänger stimmt das Halleluja an, der Chor wiederholt es mit dem reichen ‚Jubilus‘ (dem melodisch ausgeweiteten Schluß-a), es folgt der Vorsänger mit dem Vers, dann wiederholt der Chor das Halleluja. Dem österlichen Charakter des Halleluja gemäß wird vom Sonntag nach Ostern bis Pfingsten einschließlich ein zweifaches Halleluja vollständig gesungen, wobei das Graduale durch das erste Halleluja ersetzt wird.“44

Eine Entwicklung aus dem Halleluja stellen die Sequenzen dar, bei denen es sich um Prosadichtungen zu einem reich ausgestalteten Melodieverlauf des Schluss-A des Hallelujas handelt. Aus dem großen Reichtum der Sequenzen sind aber schon in der Tridentinischen Messreform nur vier bewahrt worden. In der Passionszeit tritt in der römischen Messliturgie an die Stelle des Halleluja der Tractus: „Wahrscheinlich handelt es sich bei diesen Stücken um ganz alte, ursprünglich responsorial gesungene Psalmen, wie man auch aus den überlieferten einfachen Melodien erschließen kann. Der Tractus besteht aus einer längeren Reihe von Psalmversen, die nacheinander – ursprünglich von einem Sänger, später auch vom Chor – vorgetragen werden.“45

Die Huldigungsrufe zum Evangelium „Lob sei dir, Christus“ und „Ehre sei dir, Herr“, aber auch die Rufe, die sich in etlichen Liturgien als Antwort zu den ersten beiden Lesungen entwickelt haben, lassen sich als Akklamationen46 verstehen. Hier reichen die Wurzeln bis in den römischen Kaiserkult zurück. Von hier aus fanden entsprechende Rufe auch Eingang in den christlichen Gottesdienst. Zum Teil sind sie auch als Antwort auf einen Ruf des Priesters oder Diakons gestaltet.

44 Beckmann, Proprium (wie Anm. 41), 72. 45 A.a.O., 75. 46 Vgl. dazu Art. Akklamation, in: Berger, Handlexikon (wie Anm. 43), 8f.

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3.4 Impulse aus der lutherischen Reformation Martin Luther bewahrt in seiner „Formula Missae et Communionis“ (1523)47 noch große Teile der überkommenen Lesungsliturgie. Doch auch hier stellt er schon den gesamten Gottesdienst bis zum Credo unter das Vorzeichen der christlichen Freiheit: „sed tamen liberos nos ratio ista non ligat, praesertim quod omnia, quae usque ad Symbolum in missa fiunt, nostra sunt et libera, a deo non exacta, quare nec ad missam necessario pertinent.“48 Luther sieht zwei Lesungen vor. Das Graduale will er beibehalten, das Graduale der Passionszeit dagegen soll wegen seiner Länge entfallen. Hier sieht Luther eine Überlastung für die Gemeinde gegeben. Das Halleluja sieht Luther dagegen auch für die Fastenzeit vor: „Alleluia enim vox perpetua est Ecclesiae, sicut perpetua est memoria passionis et victoriae eius.“49 In einer Verkürzung des Gottesdienstes in der Passionszeit sieht er eine Parallele zur Austeilung des Abendmahls unter nur einerlei Gestalt. Die Sequenz möchte Luther am liebsten entfallen lassen. Bei vielen Sequenzen fehlt ihm der geistliche Charakter („Neque ferme sunt, quae spiritum redoleant […].“50). Ausnahmen gesteht er den zuständigen Bischöfen allerdings zu. Für die Ausgestaltung der Evangeliumslesung will Luther Kerzen und Weihrauch weder verbieten noch gebieten. Den Abschluss des Verkündigungsteils bildet das (gesungene) Credo und die Predigt, falls diese nicht schon vor dem Introitus vorgesehen ist. In seiner „Deutschen Messe“ (1526)51 geht Luther selbstverständlich von einer gesungenen Verlesung der Epistel und des Evangeliums aus, für die er jeweils auch Notenbeispiele angibt (das Singen des Evangeliums wird wohl auch für die „Formula Missae“ vorauszusetzen sein, auch wenn es dort nicht explizit vermerkt ist). Als Lektor ist für beide Lesungen der Priester vorgesehen. Trotz der ausführlichen Darstellung fehlen in diesem Teil jegliche Akklamationen. Auch 47 Martin Luther, Formula Missae et Communionis pro Ecclesia Vuittembergensi, in: WA 12,(197)205–220. – Vgl. auch die Gegenüberstellung von lateinischem Text und deutscher Übersetzung bei Wolfgang Herbst (Hg.), Evangelischer Gottesdienst. Quellen zu seiner Geschichte, 2., völlig neubearb. Aufl. v. „Quellen zur Geschichte des evangelischen Gottesdienstes“, Göttingen 1992, 16–49. 48 WA 12,211,11–13. 49 WA 12,210,11f. 50 WA 12,210,14f. 51 Martin Luther, Deudsche Messe und ordnung Gottis diensts, in: WA 19,(44)72– 113

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das Halleluja ist entfallen. Zwischen den Lesungen ist stattdessen ein deutsches Lied vorgesehen. Luther schlägt als Beispiel vor: „Nun bitten wir den heiligen Geist“. Trotz des sich später einbürgernden Namens „[entspricht] [d]as Graduallied der lutherischen Meßordnung, das vom liturgischen Charakter des jeweiligen Sonntags bestimmte ‚Wochenlied‘, […] funktional eher der Sequenz.“52 Als Graduallied ist es wohl bezeichnet worden, weil es anstelle des Graduales gesungen worden ist. Auf das Evangelium folgen schließlich das gesungene Glaubensbekenntnis „Wir glauben all an einen Gott“, das die ganze Gemeinde singt, und die Predigt. So haben wir es in den beiden großen Messentwürfen Luthers hinsichtlich der liturgischen Einbettung der Lesungen mit einer fortschreitenden Ausdünnung des liturgischen Rahmens zu tun. Als Kriterien sind erkennbar: theologische Qualität (bei der Sequenz), gemeindepädagogische Überlegungen (beim langen Graduale der Fastenzeit), Partizipation der Gemeinde53 (Einfügung des deutschen Liedes – und parallel dazu: Singen des Credo auf Deutsch) und insgesamt eine Konzentration auf das Wortgeschehen selbst. Dabei wird man Luthers Eingriffe nur von seiner Überzeugung her verstehen können, dass der erste Gottesdienstteil der Gestaltungsfreiheit der Kirche (und damit nicht zuletzt der Verantwortung des zuständigen Bischofs) überlassen ist. So konnte er überkommene Riten (z. B. Kerzen und Weihrauchgebrauch) einerseits ohne Not beibehalten, die genannte Freiheit dann aber eben auch dazu nutzen, den Verkündigungsteil später radikal zu kürzen. Die reformatorischen Kirchenordnungen stehen in der Traditionslinie, die über die Messordnungen Luthers führen, und setzen dann, was die Lesungsliturgie angeht, durchaus unterschiedliche Akzente. So sieht Johannes Bugenhagen in der Braunschweiger Kirchenordnung recht umfangreiche Gesänge zwischen den Lesungen vor:54 Die Kinder singen ein Halleluja mit Vers (wo es keinen Kinderchor gibt, kann es entfallen). Darauf folgt ein deutsches Lied. An den hohen Festen ist sogar eine lateinische und deutsche Sequenz vorgesehen. Nach dem Evangelium stimmt der Priester das deutsche Credo an. Die Gemeinde fällt mit „Wir glauben all an einen Gott“ ein. Es folgt die Predigt. 52 Art. Graduale (wie Anm.43), 184. 53 Vgl. Beckmann, Proprium (wie Anm. 41), 71. 54 Ordnung der Messe aus der Braunschweiger Kirchenordnung 1528 (Joh. Bugenhagen), in: Herbst, Gottesdienst (wie Anm. 47), 88–93, dort 88.

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In der Brandenburg-Nürnberger Kirchenordnung von 1533 findet sich nicht nur eine Ankündigung der Epistellesung (wie es auch in den anderen reformatorischen Ordnungen üblich war), sondern auch ein gleichlautender Beschluss „Das ist das erst capitel der epistel zu den Römern des heiligen Pauli.“55 Als Zwischengesänge sind alternativ das Halleluja mit Vers oder ein biblisches Graduale, ggf. sogar auf Latein, vorgesehen. Es folgen dann eine Evangeliumslesung (alternativ: eine Lesung aus der Apostelgeschichte), das Credo (von den Schülern auf Lateinisch oder von der Gemeinde auf Deutsch gesungen) und die Predigt. Erkennbar ist, dass beide beispielhaft ausgewählten Ordnungen Luther grundsätzlich in der Reduktion der liturgischen Elemente im Lesungsteil folgen. Allerdings wird dabei noch keine neue feste reformatorische Fassung dieses Gottesdienstteils erkennbar. Vielmehr werden traditionelle Stücke in unterschiedlicher Weise bewahrt und zum Teil Bewährtes (Halleluja/Graduale) mit reformatorischen Neuschöpfungen (deutsches Lied) kombiniert.

4. Die Liturgie der Lesungen in der Geschichte des konfessionellen Luthertums 4.1 Wilhelm Löhes Agende (²1853)56 Die liturgische Wiederbelebung ist gerade für den Bereich des konfessionellen Luthertums eng mit dem Namen Wilhelm Löhes verbunden, dessen Impulse sich sowohl für entstehende Agenden in Deuschland als auch für das kirchliche Leben in den USA nachweisen lassen. Löhes Agende sieht in der zweiten Auflage zwei Lesungen (Epistel und Evangelium) vor, die beide vom Pfarrer am Altar verlesen werden (die Epistel gesprochen oder gesungen, das Evangelium wird gesprochen oder gesungen angekündigt, der Text des Evangeliums selbst wird gesungen.)57 Zwischen den beiden Lesungen singt die Gemeinde das Halleluja (ohne Vers?) und ein deutsches Lied. Zum 55 Ordnung der Messe aus der Braundenburg-Nürnberger Kirchenordnung 1533, in: Herbst, Gottesdienst (wie Anm. 4747), 96–102, dort 97. 56 Wilhelm Löhe, Agende für christliche Gemeinden des lutherischen Bekenntnisses. Erster Theil. Nördlingen 21853, dort 34–36. 57 In der Fußnote sieht Löhe allerdings auch das Sprechen des Evangeliums vor (s. Anm. 59).

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Entfallen der traditionellen liturgischen Stücke an dieser Stelle bemerkt Löhe pragmatisch: „Da man die alten Gradualien, Sequenzen und Prosen gegenwärtig nicht singen kann, auch wenn sie reinen Inhalts sind, weil sie zu unbekannt und fremd geworden; so singt nun die Gemeinde an dieser Stelle ein deutsches Lied […]“.58

Die Evangeliumslesung wird liturgisch bei Löhe wieder in besonderer Weise ausgestaltet: Lichter können entzündet werden. Es folgen der liturgische Gruß („Der HErr sei mit euch.“) und die Antwort der Gemeinde („Und mit Deinem Geiste.“). Nach der Ankündigung des Evangeliums antwortet die Gemeinde stehend mit „Ehre sei Dir, HErre.“ Nach der Evangeliumslesung singt die Gemeinde (ohne weitere Ankündigung) „Lob sei Dir, o Christe.“ Es folgen die Intonation des Credo, das die Gemeinde singt oder spricht, und schließlich die Predigt. Die besondere liturgische Ausgestaltung der Evangeliumslesung begründet Löhe folgendermaßen: „Die Lection des Evangeliums, als die aus dem Munde des Herrn selbst genommen ist, ist liturgisch vor der Epistel ausgezeichnet. Zu ihr bereitet sich Pfarrer und Gemeinde durch ein erneutes Zeugnis der Gemeinschaft in Gruß und Gegengruß; und der doppelte Ruf: ‚Ehre sei Dir, Herre‘ und ‚Lob sei Dir, o Christe‘ spricht auf das Unverkennbarste das Bewußtsein der hörenden Gemeinde aus, daß Christus zu ihr rede. – Das Halleluja, welches ich in der vorigen Ausgabe an den Schluß der evang. Lecition gesezt habe, ist falsch; dagegen ist das Laus tibi, Christe, ,Lob sei Dir, o Christe‘ – wirklich alt, wie die röm. Liturgie beweist. Auf das Evangelium unverweilt die Intonation des Credo folgen zu laßen, paßt nicht. Man erwartet ein Intervall, zumal der Pfarrer das Evangelium gesungen oder gesprochen hat und eben so das Credo intonieren soll. Das Bedürfnis des Intervalls war es, um des willen ich in der ersten Auflage ein Halleluja sezte. Das ‚Laus tibi, Christe‘ ist ein untadeliches Wort, ist alt und vermittelt die Intonation

58 A.a.O., 35.

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des Credo mit dem Evangelium, welche beide sonst mit einer Art von geistl. Hyatus auf einander stoßen würden.“59

Während Löhe also bei den Zwischengesängen keinen Anschluss an die ältere liturgische Tradition sucht und findet, greift er doch bei der Umrahmung der Evangeliumslesung auf vorreformatorische Traditionen zurück, indem er Gruß und Wechselgruß als präparatorischen Akt einfügt, die Akklamationen aufnimmt und als Möglichkeit auch die Wiederaufnahme der Lichtersymbolik vorsieht. 4.2 Die Agenden der evangelisch-lutherischen (altlutherischen) Kirche (1886/1935)60 Die erste eigene Agende der altlutherischen Kirche bietet zwischen den beiden vorgesehenen Lesungen von Epistel und Evangelium einen Vers mit einem abschließenden Halleluja. In der Rubrik wird der Vers als „Graduale“ gekennzeichnet. In der zweiten Agende aus dem Jahr 1935 ist hier nur noch von einem „Spruch“ die Rede. Die Bibelsprüche, die im Ordinarium der beiden Agenden als solche Gradualverse bzw. Sprüche aufgeführt sind, sind inhaltlich explizit auf das Wort bzw. Wirken Gottes bezogen (z. B.: „Heiliger Vater, heilige uns in Deiner Wahrheit; Dein Wort ist die Wahrheit. Halleluja.“).61 Wo in vorreformatorischer Zeit Psalmengesänge ihren Platz hatten, bildet sich nun also ein Vers mit anschließendem Halleluja heraus, der explizit als Akklamation, die auf die Epistel antwortet, gestaltet ist. Nur an Festtagen ist hier ein besonderer Kirchenjahresbezug erkennbar. An den übrigen Sonntagen dient dieser Vers mit Halleluja vor allem als Antwort auf die Epistel. Auffällig ist, dass sich ausgerechnet in der preußischen Unionsagende ebenfalls im Nachgang zur Epistellesung als zumindest eine Variante ein Spruch 59 A.a.O., 35, *) – Hervorhebung im Original gesperrt. 60 Agende für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen. Erster Teil. Die Gottesdienstordnung, Leipzig 1886, 5f., und Agende der Evangelischlutherischen Kirche Altpreußens, Breslau 1935, 10f. – Vgl. als geschichtlichen Überblick zu den hier und im Folgenden genannten lutherischen Bekenntniskirchen Werner Klän/Gilberto da Silva (Hg.), Lutherisch und selbstständig. Einführung in die Geschichte selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland, Göttingen 2012. 61 A.a.O., 5. – „Während der Passionszeit (vom Sonntag Septuagesimä bis zum Charfreitag) und am Bußtage verstummt das ‚Halleluja‘ und wird durch ‚Amen‘ ersetzt.“, (ebd.).

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findet, der ebenfalls das Wort Gottes als Thema und Inhalt hat und mit einem nachfolgenden Halleluja abgeschlossen wurde.62 Die Agende von 1886 sieht vor der Evangeliumslesung ein Gemeindelied (und zuvor eventuell einen Chorgesang) vor, „während dessen der Pastor in die Sakristei zurückkehren kann“.63 Vor dem Evangelium kann eine weitere Salutatio ihren Platz finden. Eine Akklamation nach Ankündigung der Lesung gibt es nicht, aber nach der Lesung antwortet die Gemeinde, ggf. auf das „Gelobt seist Du, HERR Jesu!“ des Pastors, mit dem „Lob sei Dir, o Christe!“. Es folgen das gesungene oder gesprochene Credo und die Predigt. Die zweite altlutherische Agende von 1935 sieht die Rückkehr des Pastors in die Sakristei nun als Normalfall vor. Außerdem ist das Hauptlied nun auch der liturgische Ort, an dem die Kollekte eingesammelt wird. Dadurch treten die beiden Lesungen in der Wahrnehmung der Hörer gewiss noch weiter auseinander. Eine weitere Salutatio vor dem Evangelium ist nun allerdings nicht mehr als Option vermerkt. Auch in dieser Agende ist noch keine Akklamation nach der Ankündigung der Evangeliumslesung vorgesehen. Neu vermerkt ist in der Agende die Möglichkeit, die Lesungen zu singen „wie das bis ins 18. Jahrhundert in der lutherischen Kirche Deutschlands geschah.“64 Das Credo wird nun ausdrücklich als antwortendes Handeln auf die Lesungen verstanden, wenn es in einer der möglichen Einleitungen heißt: „Laßt uns nun der Botschaft Gottes antworten mit dem Bekenntnis unsers christlichen Glaubens.“65 Als Lesender ist in beiden Agenden für Epistel und Evangelium jeweils der Pastor vorgesehen, als Ort der Altar.66

62 Vgl. Kirchen=Agende für die Hof- und Domkirche in Berlin 1822, in: Herbst, Gottesdienst (wie Anm. 47), 172–192, dort 175 (als Alternative markiert). „Herr laß unsere Seele in Deinem Worte leben, daß sie Dich lobe immer und ewiglich. Alleluja!“ (frei nach Psalm 119,175?). 63 Agende 1886 (wie Anm. 60), 5. 64 Agende 1935 (wie Anm. 60), 10 bzw. 11. 65 A.a.O., 11. 66 Vgl. a.a.O., 297f.

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4.3 Die Agende der Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche in den hessischen Landen (1892)67 Die Agende „Gedenke, Gott“ ist in vielerlei Hinsicht eine eigenständige Agende. Leitmotiv ist die „Communion“. So gibt es im Gottesdienstverlauf neben der „Communion im Gebet“68, der „Communion des Leibes und Blutes JEsu Christi“69 und der „Communion des Dankes“70 auch „Die Communion im Wort“71. Dieser Teil („Die Communion im Wort“) setzt mit einem kirchenjahreszeitlich geprägten Versikel ein, auf den eine Salutatio mit Antwort der Gemeinde und das Kollektengebet folgen. Daran schließt sich die Epistellesung an, die der Pfarrer folgendermaßen abschließt: „Du aber, o Herr, erbarm dich unser“: worauf die Gemeinde antwortet: „Dank sei dir, o Jesu.“72 Unmittelbar daran schließt sich die Evangeliumslesung an, die mit einer Salutatio und der Antwort der Gemeinde eröffnet wird. Auf die Ankündigung des Evangeliums folgt die Antwort der Gemeinde „Ehre sei dir, HErre!“. Nach der Lesung schließt der Pfarrer mit den Worten: „Das Evangelium von Christo ist eine Kraft Gottes, selig zu machen alle, die daran glauben“: Die Gemeinde antwortet mit ihrer Akklamation: „Lob sei dir, o Christe Amen.“73 Es schließt sich das Credo (gesprochen oder gesungen) an. Wenn das Glaubensbekenntnis gesprochen wird, folgt das Hauptlied zwischen Credo und Predigt. Bemerkenswert an dieser Ordnung ist die Akklamation zur Epistel, das Fehlen eines musikalischen Zwischenstücks zwischen Epistel und Evangelium,74 die erneute Salutatio vor dem Evangelium und die Einleitung der Akklamation nach der Evangeliumslesung nach Röm 1,16. 67 Gedenke, Gott, an Deine Gemeinde! Handreichung zur Uebung des Gemeindegebets in Kirche und Haus. Zu beziehen durch K. Müller in Michelstadt, Melsungen 1892. 68 A.a.O., 15. 69 A.a.O., 18. 70 A.a.O., 25. 71 A.a.O., 11. 72 A.a.O., 13. 73 A.a.O., 13. 74 Als Möglichkeit ist lediglich, vor allem an Festtagen, ein Gradualgesang des Chores vorgesehen (vgl. a.a.O., dort in der Fußnote).

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4.4 Die Gottesdienstordnungen der Hannoverschen ev.-luth. Freikirche (1904/1911)75 In den Gottesdienstordnungen der Hannoverschen Freikirche sehen wir schon einen Teil der Wirkungsgeschichte der Agende der Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche in den hessischen Landen. Schon 1880 kam es zur Kirchengemeinschaft zwischen diesen beiden Kirchen.76 Ganz offensichtlich nahm man im Raum der Hannoverschen Freikirche liturgische Impulse aus Hessen gerne auf. Als Gottesdienstordnung stand bis dahin noch die alte Lüneburger Kirchenordnung77 in Geltung.78 Diese sah für die Städte zwar eine umfangreiche Liturgie mit Bußcharakter zu den Lesungen vor,79 allerdings wird man kaum davon ausgehen dürfen, dass sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch in Übung war. Zudem entstanden die Gemeinden der Hannoverschen Freikirche überwiegend im ländlichen Raum, für den eine eher schlichte Liturgie vorgesehen war:80 Epistel (gesungen/gesprochen), deutscher Psalm, Evangelium (gesungen/gesprochen), Credo-Lied, Predigt. In den neuen agendarischen Ordnungen vom Beginn des 20. Jahrhunderts folgte man in wesentlichen Teilen der hessischen Ord-

75 Ordnung der Gottesdienste für die Gemeinden der Hannov. ev.-luth. Freikirche, Leipzig 1904, und Agendarischer Anhang zu der Lüneburg. Kirchenordnung, Leipzig 1911. 76 Vgl. Gilberto da Silva, Die Selbständige evangelisch-lutherische Kirche in den hessischen Landen, in: Klän/da Silva, Lutherisch (wie Anm. 60), 42–45, dort 44. 77 Kirchen-Ordnung. Des Durchleuchtigen Hochwürdigen, und Hochgebornen Fürsten und Herrn, Herrn Friedrichen, Hertzogen zu Braunschweig und Lüneburg, […] Wie es mit Lehr und Ceremonien, auch andern geistlichen Sachen und Verrichtungen in beyden Sr. Fürstl. Gn. Fürstenthümern […] gehalten werden sol. Auf Sr. Fürstl. Gnaden Befehl und Anordnung im Druck gegeben Anno MDCXLIII. Mit Genehmigung des Königlichen Ministerii der geistlichen und Unterrichts=Angelegenheiten von Königlichem Consistorio veranstalteter unveränderter Nachdruck, Hannover 1853. 78 Das lässt sich neben den Nachdrucken bis ins 19. Jahrhundert (wie Anm. 77) eben auch daran erkennen, dass die Hannoversche Freikirche ihre Gottesdienstordnung lediglich als „Agendarische[n] Anhang zu der Lüneburg. Kirchenordnung“ (wie Anm. 75) verstanden haben. 79 Vgl. Kirchen-Ordnung (wie Anm. 77), 169–179, §§ 23–29. 80 Vgl. a.a.O., 187, § 59.

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nung:81 Versikel vor Salutatio und Kollektengebet, Epistel mit dem entsprechenden Schluss und der entsprechenden Akklamation. Lediglich zwischen Epistel und Evangelium, die jeweils vom Pastor gelesen wurden, ergibt sich hier eine größere Abweichung, indem noch ein „Dankspruch“, ein Halleluja und das Hauptlied vorgesehen sind, während die nochmalige Salutatio entfällt. Die weitere Rahmenliturgie der Evangeliumslesung ist aber im Wesentlichen identisch. 4.5 Die Gottesdienstpraxis der Sächsischen Freikirche und die älteren Agenden Missouri-Synode (1896/1922)82 Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle auch noch die liturgische Praxis der Evangelisch-Lutherischen Freikirche (in Sachsen und anderen Staaten) erwähnt, die für ihre Gottesdienste bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die älteren Agenden der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Synode von Missouri, Ohio und anderen Staaten (heute: The Lutheran Church–Missouri Synod) genutzt hat. Hier zeigt sich ein Bild einer ganz schlichten Lesungsliturgie, die sich im Wesentlichen an Luthers Überlegungen in seiner „Deutschen Messe“ orientiert: Nach dem Kollektengebet erfolgt die Ankündigung der Epistel und die Epistel. Dann wird das Hauptlied gesungen. Es schließen sich die Ankündigung des Evangeliums und das Evangelium an. Darauf folgen Luthers Credo-Lied und die Predigt. Eine Besonderheit stellen lediglich die Einleitungen der Lesungen dar,83 die ein pädagogisches Interesse erkennen lassen. Akteur bei 81 Vgl. Ordnung Hannov. Freikirche (wie Anm. 75), 5f., und Agendarischer Anhang (wie Anm. 75), 2f. 82 Kirchen=Agende für Evang.-Luth. Gemeinden ungeänderter Augsburgischer Confession. Zusammengestellt aus den alten rechtgläubigen Sächsischen Kirchen=Agenden und herausgegeben von der Allgemeinen deutschen Evangelisch=Lutherischen Synode von Missouri, Ohio und anderen Staaten, St. Louis 1896, und Kirchenagende für Ev.-Luth. Gemeinden ungeänderter Augsburgischer Konfession. Zusammengestellt aus alten rechtgläubigen Kirchenagenden und in mehrfach veränderter Form herausgegeben von der Evangelisch=Lutherischen Synode von Missouri, Ohio und andern Staaten, St. Louis 1922. 83 Vgl. Kirchen=Agende 1896 (wie Anm. 82), 42f.: „Eine christliche Gemeinde (oder: Euere christliche Liebe) vernehme hierauf mit gebührender Andacht des Herzens die heutige Festtags=Epistel […]“ bzw. „Eine christliche Gemeinde vernehme mit herzlicher Andacht auch das heutige Festtags=Evangelium […]“. Die

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den Lesungen ist auch hier durchgehend der Prediger. Ort der Lesung ist auch hier der Altar.

5. Offene Fragestellungen 5.1 Die Hervorhebung des Evangeliums In fast allen hier dargestellten Gottesdienstordnungen ist die Lesung des Evangeliums gegenüber der bzw. den anderen Lesung(en) in besonderer Weise hervorgehoben. Selbst in Luthers knappem Formular in der „Deutschen Messe“ geschieht eine solche Hervorhebung durch die besondere musikalische Gestaltung der Lesung.84 Am deutlichsten ist diese Hervorhebung innerhalb des Bereichs der hier in den Blick genommenen Agenden im römischen Messformular erkennbar. Ob eine solche Hervorhebung angemessen ist, lässt sich durchaus bestreiten.85 Eine historisch orientierte Herangehensweise könnte etwa die frühere Entstehung der paulinischen Briefe im Gegenüber zu den vier Evangelien anführen. Eine schrifttheologische Argumentation könnte darauf pochen, dass die ganze Heilige Schrift Wort Gottes ist.86 Demgegenüber könnte jede Hervorhebung einer bestimmten Lesung implizit auch als eine Abwertung der anderen Lesung(en) verstanden werden. Warum also erhält das Evangelium solch besonderes Gewicht? Reinhard Meßner macht den Unterschied zunächst an der Form fest: „Was die Lesung aus den Evangelien von den übrigen neutestamentlichen Schriftlesungen unterscheidet, ist ihr narrativer Charakter.“87 Dies aber fasst er dann gleich auch grundsätzlich: „Die Vergegenwärtigung des Ursprungsgeschehens in Form von Erzählung ist Kennzeichen von menschlichem Ritual und Fest generell.“88 Theolo-

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Agende von 1922 bietet außer kleinen orthographischen Veränderungen jeweils denselben Text. Vgl. WA 19,90–94. Vgl. als Beispiel für solch eine kritische Stimme Eckhard Jaschinski, Gottes Wort und menschliche Antwort. Zur dramaturgischen Entfaltung des Wortgottesdienstes, HlD 53 (1999), 191–201, dort 198–200. So etwa Gert Kelter, Gott ist gegenwärtig. Anregungen für die Feier des lutherischen Gottesdienstes, LuthBei(B).B 5, Groß Oesingen 2003, 41. Reinhard Meßner, Der Wortgottesdienst der Messe als rituell inszenierte Christusanamnese, HlD 66 (2012), 171–185, dort 179. A.a.O., 179.

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gisch lässt sich das, was in solcher Vergegenwärtigung geschieht, mit Meßner so beschreiben: „Die Erzählung von Leben, Sterben und Auferstehung Jesu Christi ist daher die zentrale Gestalt der verkündigenden Anamnese des christlichen Ursprungsgeschehens. Die evangelische Lesung holt die glaubenden Hörer in dieses herein.“89

Selbstverständlich wird die frohe Botschaft auch in alttestamentlichen Texten und der neutestamentlichen Briefliteratur laut und entfaltet, aber im Letzten eben doch immer bezogen auf das Christusgeschehen, das narrativ in den Evangelien dargestellt wird.90 So ist die Evangeliumslesung nicht substantiell wichtiger oder in höherem Maß Gottes Wort als die anderen biblischen Lesungen. Aber die Form und der Inhalt der evangelischen Lesungen lassen den redenden und handelnden Christus hier leichter wahrnehmen als in den anderen Lesungen, sodass eine entsprechende (liturgische) Ausgestaltung gerade dieser Lesung als des Ortes, an dem Christus zu seiner Gemeinde spricht, angemessen sein kann. Genau dies tut ja auch Martin Luther, wenn er in seiner „Deutschen Messe“ durch die musikalische Gestaltung die jeweilige Lesung als Rollenhandeln inszeniert, indem er etwa die Stimme Jesu von den Stimmen anderer handelnder Personen unterscheidet und so das Geschehen mit den Mitteln seiner Zeit vergegenwärtigt.91

89 Ebd. 90 Vgl. Thomas Söding, Wort des lebendigen Gottes? Die neutestamentlichen Briefe im Wortgottesdienst der Eucharistiefeier, in: Benedikt Kranemann/Thomas Sternberg (Hg.), Wie das Wort Gottes feiern? Der Wortgottesdienst als theologische Herausforderung, QD 194, Freiburg/Basel/Wien 2002, 41–81, dort 73: „Die anderen Lesungen bleiben auf das Evangelium bezogen – nicht unbedingt in dem Sinn, dass sie den Wortlaut und Hintergrund der jeweils ausgewählten Perikope beleuchten, aber in dem Sinn, dass sie durch ihre Auswahl und Abfolge die Grundlinie Ex Deo per Christum et in Christo et cum Christo in Deum nachzeichnen, die sich in der Grundstruktur der Eucharistie und des christlichen Kanons abbilden.“ (Hervorhebung im Original). 91 Vgl. WA 19,90. – Versuche, dies in unserer Zeit ohne Kantillation umzusetzen, gibt es z. B. hier: Göttinger Bibelgesellschaft e.V. (Hg.), Im Dialog durchs Kirchenjahr. Texte der Bibel zum Vortragen mit verteilten Rollen, Göttingen 2013.

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5.2 Lesungshandeln als Rollenhandeln Vor diesem Hintergrund einer dramaturgischen Ausgestaltung des Lesungsteils gewinnt auch die Unterscheidung der lesenden Personen Plausibilität. War in der tridentinischen Messe die Lesung der Epistel Aufgabe des Subdiakons, die Lesung des Evangeliums dagegen Aufgabe des Diakons, so ist im heutigen römischen Messformular die Evangeliumslesung dem Diakon bzw. Priester vorbehalten, während die beiden anderen Lesungen auch von einem Lektor vorgetragen werden können. Aus den hier analysierten evangelischen Agenden ergibt sich das Bild, dass beide Lesungen (Epistel und Evangelium) bis ins 20. Jahrhundert wie selbstverständlich vom Liturgen (Pastor/Pfarrer) übernommen wurden. In der Gegenwart hat sich in den evangelischen Kirchen aber ein anderer Trend weitgehend durchgesetzt: Die Lesungen werden von Gemeindegliedern als Lektorinnen und Lektoren übernommen.92 Die Evangelisch-Lutherische Kirchenagende der SELK markiert in Aufnahme der Regelungen der Agende I der VELKD (1957)93 durch die Klammersetzungen zumindest eine Präferenz für die Verlesung des Evangeliums durch den Liturgen. Welche Gründe lassen sich dafür anführen? Zum einen ließe sich liturgiehistorisch argumentieren. Aber auch die Ökumenizität ließe sich an dieser Stelle als Argument ins Feld führen. Auf der Gestaltungsebene wäre insbesondere bei drei Lesungen zu bedenken, ob nicht gerade auch eine unterschiedliche Gestaltung der Lesungen (und dazu würde eben durchaus auch der Wechsel der Rollenträger gehören) der Wahrnehmung des Gehörten als „Einerlei“ entgegenwirkt. Versteht man das Evangelium, wie oben ausgeführt, in inszenatorischer Hinsicht als Höhepunkt der Vergegenwärtigung Christi in seinem Wort, ist es durchaus naheliegend, das Evangelium durch den ordinierten Amtsträger verlesen zu lassen, lässt sich doch mit Apologie VII sagen, dass die Ordinierten „repraesentant Christi personam propter vocationem Ecclesiae“94. Meiner Wahrnehmung nach lässt 92 Entsprechend ist es im Evangelischen Gottesdienstbuch (wie Anm. 16) in der Grundform I so als Normalfall vorgesehen: „Der Lektor/die Lektorin trägt die Lesungen vor“ (a.a.O., 41). 93 Vgl. Agende I (wie Anm. 23), 203. 94 AC VII, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition. Hg. v. Irene Dingel im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen/Bristol 2014 [BSELK], 398–421, dort 411,23.

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sich daraus aber nicht ableiten, dass grundsätzlich nur Ordinierte das Evangelium lesen dürften oder sollten. Es wäre von daher unangemessen, aus dieser konkreten Gestaltungsfrage eine grundsätzliche Zuständigkeits- oder gar Lehrfrage zu machen.95 Problematisch kann in der Gemeinde der Austausch über diese Fragen werden, wenn entsprechende Gestaltungsimpulse als theologisch gewollte Einschränkung der Partizipation von Gemeindegliedern am Gottesdienst verstanden werden. Hier wäre darauf zu achten, Gestaltungsfragen nicht übermäßig theologisch aufzuladen, auch wenn sie immer theologisch reflektiert sein wollen. 5.3 Orte der Lesungen In der Kirchengeschichte war jedenfalls in den evangelischen Kirchen überwiegend der Altar der Ort, von dem aus die Lesungen vorgetragen wurden. Heute ist es überwiegend der Ambo (das Lesepult). Ralph Bente beschreibt die aus seiner Sicht für die SELK anzustrebende Ortswahl so: „Der liturgische Ort für die Lesungen ist nicht der Altar, sondern das Lesepult (Ambo). Wo zwei Ambonen stehen, wird die Epistel auf der (vom Altar aus gesehen) linken Seite, das Evangelium auf der rechten Seite gelesen. Daher spricht man auch von der Epistelseite bzw. von der Evangelienseite des Altar(raum)s. Wo kein Lesepult vorhanden ist, können die Lesungen, statt vom Altar aus, auch von der Kanzel gelesen werden, sofern diese in Gestaltung und Höhe nicht zu sehr vom Altarraum abgesetzt ist. Das hat auch den Vorteil, daß der Altar nicht als Ablage für das Lektionar dienen muß und das Lektionar ohne

95 Wollte man die Zuständigkeitsfrage stellen, wäre mit Gert Kelter festzuhalten, dass die gesamte Verkündigung (und damit auch die Lesungen) grundsätzlich in den Zuständigkeitsbereich des Pfarrers fallen (vgl. Kelter, Gott [wie Anm. 86], 43–45). Dabei wäre aber nicht zwischen dem Evangelium und den anderen Lesungen zu differenzieren. Thomas Melzl dagegen sieht gerade in der Mitwirkung von Gemeindegliedern an Lesungen eine wichtige Voraussetzung dafür gegeben, dass erkennbar bleibt, „dass auch er [sc. der Liturg, CB] ‚unter‘ dem Wort Gottes steht und auf dieses Gegenüber angewiesen bleibt.“ (Melzl, Schriftlesung [wie Anm. 2], 280).

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Umstände auch für die Verlesung des Predigttextes benützt werden kann.“96

Für bedenkenswert halte ich darüber hinaus Überlegungen, wo der Ambo seinen Platz finden soll. In vielen Kirchen befindet sich das Lesepult in großer räumlicher Nähe zum Altar, oft wie der Altar auch durch Stufen gegenüber dem übrigen Kirchraum erhöht. Im Messformular der Evangelischen Michaelsbruderschaft ist dagegen auch die Möglichkeit vorgesehen, das Evangelium in der Mitte der Gemeinde vorzutragen.97 Dies entspricht durchaus einer breiteren Tradition.98 Ein Weg mit dem Evangelium in den Gottesdienstraum hinein, in dem die Gemeindeglieder sitzen, könnte so die katabatische Bewegung des Gottesdienstes, in dem Gott in seinen Gnadenmitteln zu seiner Gemeinde kommt, exemplarisch zum Ausdruck bringen. Reinhard Meßner beschreibt den Grundgedanken der Evangelienprozession in der römisch-katholischen Messliturgie entsprechend: „Die Prozession zum Evangelium ist eine Inszenierung des ‚adventus Christi‘, d. h. seines Kommens als Herr der Welt, als ein präsentatives Symbol, das auf sein letztes Kommen ‚in Herrlichkeit‘ vorausweist und dieses Kommen in seinem Wort – dem Evangelium – rituell repräsentiert.“99

Inwieweit die räumlichen Gegebenheiten in den Kirchen eine solche sinnenfällige Bewegung tatsächlich zulassen, steht auf einem anderen Blatt. Allerdings wäre zu prüfen, ob alternativ die Evangeliumslesung nicht wahlweise auch ohne Pult, dafür aber in der Mitte der Gemeinde denkbar wäre.

96 Ralph Bente, „Vernünftiger Gottesdienst“. Bemerkungen zu den Anweisungen und Rubriken der Evangelisch-Lutherischen Kirchenagende, OUH 33, Oberursel 1997, 18. 97 Vgl. Anm. 32. 98 Art. Ambo, in: Berger, Handlexikon (wie Anm. 43), 20f., dort 20: „Er [sc. der Ambo, CB] kann auch frei im Gläubigenraum stehen.“ – Vgl. auch Albert Gerhards, Dem Wort Gottes Gestalt geben. Heutige Anfragen an die tradierte Form des Wortgottesdienstes, in: Kranemann/Sternberg, Wort Gottes (wie Anm. 90), 146–165, dort v.a. 159–164, der die verschiedenen Lesungsorte in den Blick nimmt und sie nicht zuletzt auch als „Kommunikationsort[e]“ (a.a.O., 162) beschreibt. 99 Meßner, Wortgottesdienst (wie Anm. 87), 181.

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5.4 Das Lesungsbuch Wie eingangs bereits erwähnt, wird sowohl evangelischer-100 als auch katholischerseits101 erwogen, eine (kostbar gestaltete) Lesungsbibel als Buch, aus dem gelesen wird, zu nutzen. Die Gründe dafür sind vielfältig. So wird für die Lesungsbibel gegenüber einem Evangeliar ins Feld geführt, dass so die ganze Heilige Schrift, auch wenn nur in Teilen aus ihr gelesen wird, im gottesdienstlichen Geschehen einen Ort erhält, anschaulich wird und entsprechende Ehrung erfährt.102 Gerade in einer Zeit, in der Texte im Überfluss zur Verfügung stehen und vor allem konsumiert werden, könnte eine besondere Gestaltung einer Lesungsbibel dazu beitragen, an die Kostbarkeit ihres Inhaltes zu erinnern und diesen anschaulich werden zu lassen. Die Bibel, aus der im besten Fall Gemeindeglieder auch während der Woche lesen, hätte so einen erkennbaren Ort im Sonntagsgottesdienst. Sonntag und Alltag wären auf diese Weise miteinander verbunden. Ein gewisses Vorbild hätte eine solche Lesungsbibel in den Kanzelbibeln früherer Zeiten, von denen es etwa in der altlutherischen Agende von 1935 heißt: „Die Kanzelbibel soll vor Beginn des Gottesdienstes an der richtigen Stelle aufgeschlagen auf dem Kanzelpult liegen, und zwar in würdigem Format. Eine Taschenbibel gehört nicht auf die Kanzel.“103 Gegen die Verwendung einer Lesungsbibel sprechen meines Erachtens eher praktische Gründe. In einem Lektionar sind die Lesungen des Sonntags an einer Stelle zusammengestellt, sodass das Auffinden des genauen Textabschnitts (Anfang und Ende) erleichtert wird. Gegebenenfalls sind die Lesungen hier auch entsprechend eingeleitet, wenn etwa die handelnden Personen schon vor der zu verlesenden Perikope eingeführt worden sind. All das wäre in einer Lesungsbibel so nicht gegeben. Außerdem würde eine Lesungsbibel, die ein ähnlich großes und übersichtliches Schriftbild wie ein Lektionar bietet, vermutlich auch vom Umfang her eher unhandlich sein. 100 Vgl. Anm. 6. 101 Entsprechende Überlegungen von Benedikt Kranemann sind wohl von Thomas Söding (vgl. Söding, Briefe [wie Anm. 90], 73f.) als auch von Eckhard Jaschinski (vgl. Jaschinski, Wort [wie Anm. 85], 198) positiv aufgegriffen worden. 102 Vgl. Söding, Briefe (wie Anm. 90), 73f. 103 Agende (1935) (wie Anm. 60), 298 (Hervorhebung im Original gesperrt).

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Für unpassend halte ich den Vorschlag von Martin Nicol, die Lesungsbibel außerhalb des Lesungsteils des Gottesdienstes in einem „Logophoron“ zu verwahren.104 So könnte allzu leicht der Eindruck entstehen, als sei nun das Lautwerden des Wortes Gottes im Gottesdienst beendet. Dabei ist auch der weitere Gottesdienst gesättigt an biblisch geprägten Worten, Bildern und Handlungen. Auch mit Blick auf die persönliche Frömmigkeit der Gemeindeglieder wäre solch eine demonstrative Verwahrung der Bibel eher kontraproduktiv. Die biblischen Worte sollen ja gerade nicht bis zum nächsten Sonntag in der Kirche deponiert sein, sondern auch im Alltag und der persönlichen Bibellektüre ihren Platz haben und weiterhin laut werden. 5.5 Die Präparation für die Lesungen Für die Lesungen (vor allem für die Verlesung des Evangeliums) lassen sich in den ausgewerteten Liturgien unterschiedliche Präparationsakte beobachten. Am ausführlichsten sind sie in der römischkatholischen Messliturgie wahrzunehmen. Aber auch das stille Gebet, das vor der Verlesung des Evangeliums fakultativ in der Evangelisch-Lutherischen Kirchenagende der SELK vorgesehen ist, aber meiner Wahrnehmung nach kaum Verwendung findet, lässt sich als solch ein Vorbereitungshandeln verstehen. In der Agende Wilhelm Löhes und in den Agenden der Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche in den hessischen Landen (sowie in ihrer Folge in den Gottesdienstordnungen der Hannoverschen Freikirche) ist die abermalige Salutatio vor dem Evangelium solch ein Präparationsgeschehen.105 Manfred Josuttis deutet die Salutationes im Gottesdienst durchgängig als Zurüstungsgeschehen.106 Versteht man aber den Eingangsteil des Gottesdienstes grundsätzlich als Präparation für den weiteren Gottesdienst, kann eine erneute Vorbereitung hier leicht als Doppelung erscheinen, die das, was vorher geschehen ist, auch entwerten kann. Versteht man darüber hinaus das Kollektengebet (mit vorangehender Salutatio) nicht als Abschluss des Eingangsteils, sondern als Beginn der „Communion im Wort“, wie dies in der hessischen Agende gestaltet ist, wäre neben 104 Vgl. Nicol, Weg (wie Anm. 5), 159f. 105 Vgl. Löhe, Agende (wie Anm. 56), 35, *): „Zu ihr [sc. der Lection des Evangeliums, CB] bereitet sich Pfarrer und Gemeinde durch ein erneuertes Zeugnis der Gemeinschaft in Gruß und Gegengruß […].“ 106 Vgl. Josuttis, Weg (wie Anm. 4), 234f., 272 und 306.

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der grundsätzlichen Zurüstung im ersten Teil des Gottesdienstes auch die Salutatio vor dem Kollektengebet auf den nachfolgenden Lesungsteil bezogen. Es ist von daher nicht überraschend, dass sich diese zusätzlichen Salutationes vor der Evangeliumslesung nicht durchgesetzt haben. 5.6 Ausdeutende Zeichen In seiner „Formula Missae“ ist Martin Luther sehr unbefangen mit den die Evangeliumslesung umrahmenden Zeichen, also Gebrauch von Kerzen und Weihrauch, umgegangen. Solche oder ähnliche Zeichen für die Gegenwart auch in den evangelischen Kirchen wiederzuentdecken, wäre also nicht nur deswegen möglich.107 Allerdings wäre auch Luthers zurückhaltende Position gegenüber äußerlichen Zeichen zu berücksichtigen, insofern sie immer in Gefahr stehen, als das Unwesentliche das Wesentliche zu verdecken.108 Zudem sind gerade solche äußerlichen Zeichen als „Zeichen“ wahrzunehmen und ernst zu nehmen.109 Beim Gebrauch von Weihrauch wäre dementsprechend danach zu fragen, ob auch nur ein nennenswerter Teil der im Gottesdienst einer evangelischen Gemeinde Versammelten benennen könnte, wofür der Weihrauchgebrauch steht, geschweige denn, dass die Versammelten in der Bedeutungszuschreibung übereinstimmen würden. Wo solche Herausforderungen im Kommunikationsgeschehen nicht beachtet werden, sind Irritationen vorprogrammiert, und das Wesentliche wird durch die irritierenden Zeichen am Ende verdeckt. Für gut denkbar halte ich es allerdings, Kerzen im Zusammenhang mit den Lesungen zu entzünden. Selbst Prozessionen mit Kerze(n) sind vielen Gemeinden aus der Osternachtsliturgie vertraut, sodass hier womöglich sogar Anknüpfungspunkte für eine Evangeliumsprozession im evangelischen Gottesdienst zu finden wären. Zumindest aber aus der Taufliturgie dürfte den allermeisten Gottesdienstbesu107 Vgl. als ein Plädoyer für die Wiederendeckung des Weihrauchgebrauchs: Horrace Hummel, Weihrauch im lutherischen Gottesdienst, in: Jürgen Diestelmann/Wolfgang Schillhahn (Hg.), Einträchtig lehren, FS Jobst Schöne, Groß Oesingen 1997, 215–222. 108 Vgl. exemplarisch am Beispiel des Taufritus: Martin Luther, Das Tauffbüchlein verdeutschet und auffs neu zu gericht, in: BSELK (wie Anm. 94), 905–910, dort 906. 109 Vgl. hierzu als Überblick Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre (wie Anm. 3), 18–22.

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chern die Kerzensymbolik bekannt sein. Dass es im Leben hell wird, wo Jesus Christus als „Licht der Welt“ (Joh 8,12) zu Wort und im Wort zu seiner Gemeinde kommt, ließe sich so anschaulich machen. 5.7 Akklamationen und Gesänge In fast allen hier untersuchten agendarischen Ordnungen finden sich Akklamationen zur Evangeliumslesung. Diese unterscheiden sich von den Akklamationen zu den übrigen Lesungen dadurch, dass „es […] sich [dabei, CB] nicht um die Akklamation der Kenntnisnahme („Deo gratias – Dank sei Gott“) [handelt], sondern um die Akklamation der Huldigung an den im Evangelium selbst redenden Christus: ‚Gloria tibi, Domine – Ehre sei dir, o Herr‘; ‚Laus tibi, Christe – Lob sei dir Christus‘.“110

Ralph Bente gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass das sich mancherorts eingebürgerte „Gelobt seist du, Herr Jesu“ durch den Liturg/Lektor als Einleitung der Akklamation der Gemeinde einen Akt der Selbstakklamation darstelle, der dazu noch die folgende Gemeindeakklamation vorwegnehme.111 Zwar scheint es mir durchaus möglich und notwendig zu sein, zwischen dem Lesendem und dem verkündigten Christus zu unterscheiden, sodass von einer Selbstakklamation meinem Verständnis nach nicht die Rede sein kann. Andererseits wäre es durchaus ein Zeichen ökumenischer Verbundenheit, gegen das theologisch nichts spricht, auch im evangelischen Bereich die römisch-katholisch gebräuchliche Wendung „Evangelium unseres Herrn Jesus Christus“ zum Abschluss der Evangeliumslesung zu verwenden, wie es das Evangelische Gottesdienstbuch und das Lutheran Service Book vorsehen und auch Bente als Möglichkeit empfiehlt.112 Den Abschluss der Evangelienlesung mit einem Votum nach Röm 1,16 wie in den Liturgien der selbstständigen Lutheraner in Hannover und Hessen empfinde ich als weniger passend, da damit fast eine weitere (Kurz-)Lesung an das Evangelium angeschlossen wird. Weit weniger einheitlich ist das Bild, das sich beim Abschluss der Lesung und den Akklamationen zur Epistel (und ggf. Alttestamentlichen Lesung) ergibt. Während die römisch-katholische Messliturgie 110 Meßner, Wortgottesdienst (wie Anm. 87), 182. 111 Vgl. Bente, Gottesdienst (wie Anm. 96), 19. 112 Vgl. Ebd.

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„Wort des lebendigen Gottes.“ – „Dank sei Gott.“ vorsieht, bietet das Evangelische Gottesdienstbuch „Worte der Heiligen Schrift.“ – „Gott sei Lob und Dank.“ Das Lutheran Service Book wiederum bietet im Wesentlichen eine Übersetzung der römisch-katholischen Fassung: „This is the Word of the Lord.“ – „Thanks be to God.“ Die römischkatholische Fassung des Lesungsabschlusses scheint mir glücklicher zu sein,113 wird hier doch Gott als der Redende benannt und nicht nur die „Heilige Schrift“. Lesungsabschluss und Akklamation entsprechen so einander.114 Für eine Übernahme solcher liturgischen Stücke auch bei den nichtevangelischen Lesungen spricht das, was Wilhelm Löhe für die Umrahmung des Evangeliums ins Spiel gebracht hatte, nämlich das „Bedürfnis des Intervalls“.115 Dies gilt insbesondere dann, wenn man das Halleluja mit Vers stärker auf das Evangelium bezieht, wie es heute in der Liturgiewissenschaft meiner Wahrnehmung nach in überwiegendem Maße geschieht. Die Epistel wird so durch die Akklamation abgeschlossen, und das Halleluja könnte ganz an das Evangelium heranrücken, wie Reinhard Meßner für die römisch-katholische Messliturgie so formuliert: „Es ist daher ein für die Ästhetik des Wortgottesdienstes entscheidender Punkt, dass das Alleluia in seinem Bezug zum Evangelium zur Geltung kommt, als Begleitgesang der AdventusProzession zum Ambo, bei der Christus […] von seiner Gemeinde empfangen wird. Ein Alleluia als bloßer ‚Zwischengesang‘, sozusagen als Pauseneinlage zwischen zwei Lesungen, ist ort- und funktionslos.“116

Auch wenn es wohl nicht gelingen wird, den Tractus wieder neu als kirchenjahreszeitliche Alternative zum Halleluja zu etablieren, würde es sich lohnen, als Alternative zum Halleluja für die Fastenzeit einen Huldigungsgesang vorzusehen, der der Kirchenjahreszeit angemessen ist und dennoch dazu dient, dass diese besondere Form der Akklamation nicht einfach entfällt. 113 Vgl. dazu als kritische Würdigung Söding, Briefe (wie Anm. 90), 66–68. 114 Thomas Melzl plädiert dafür, Abschluss und Akklamation in Analogie zu den Spendeworten des Abendmahls zu gestalten, sodass die Gemeinde mit einem „Amen.“ auf das „Wort des lebendigen Gottes“ antwortet. (Melzl, Schriftlesung [wie Anm. 2], a.a.O., 475). 115 Löhe, Agende (wie Anm. 56), 35, *). 116 Meßner, Wortgottesdienst (wie Anm. 87), 181f.

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5.8 Psalm, Lied und Kollektensammlung Das römisch-katholische Messformular und auch das Lutheran Service Book sehen zwischen den beiden nichtevangelischen Lesungen einen Psalm vor. Damit restituieren diese Messformulare vermutlich alte liturgische Praxis. Auch für evangelische Gottesdienste in Deutschland könnte es eine Möglichkeit sein, drei Lesungen vorzusehen, dann aber den Psalm, der in den evangelischen Gottesdiensten in der Form des Introitus zu Beginn einen Platz hat, zwischen den beiden nichtevangelischen Lesungen zu verorten.117 Damit würde zugleich die Doppelung aufgelöst, die letztlich das Nacheinander von Introitus und Eingangslied darstellt.118 Zeitlich dagegen würde der erste Teil des Gottesdienstes nicht neben der Lesung noch durch ein weiteres Stück (z. B. einen weiteren Gesang/Liedstrophe) ausgeweitet. Das kirchenjahreszeitlich geprägte Hauptlied, das im evangelischen Messgottesdienst zwischen Epistel und Evangelium seinen Platz hat, dürfte faktisch als Unterbrechung des Lesungsteils wahrgenommen werden. Die Gemeinde ist dadurch an dieser Stelle zwar aktiv eingebunden. Aber es geht auch etwas vom Zusammenhang, den die Lesungen bilden, verloren.119 Nicht ohne Grund ließ die Agende der hessischen selbstständigen Lutheraner die beiden Lesungen unmittelbar aufeinander folgen, ohne dass ein Lied dazwischengeschaltet gewesen wäre. Auch das Lutheran Service Book sieht heute keine Lieder zwischen den bis zu drei Lesungen vor. In Deutschland dagegen ist heute das Hauptlied aus dem evangelischen Messgottesdienst an dieser Stelle kaum noch wegzudenken. Die Choräle, die hier ihren Platz gefunden haben, haben eine große Bedeutung für die Frömmigkeit evangelischer Christen gewonnen 117 So auch Nicol, Weg (wie Anm. 5), 160. 118 Das Lutheran Service Book sieht deswegen auch Introitus, Psalm oder Eingangslied als Alternativen vor (vgl. z. B. a.a.O., 214). 119 Am schärfsten und ganz grundsätzlich hat diese Kritik Martin Mosebach vertreten: „Man erinnere sich, wie es zur Blüte der Kirchenlieder kam: Luthers Reformation war eine singende Bewegung, das Kirchenlied drückte das reformatorische Glaubensgut aus […]. […] Allerdings gab es in der Meßliturgie eigentlich keinen Platz für ein Lied.“ (Martin Mosebach, Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind [erweiterte Neuausgabe], München 2007, 35). – Vgl. ähnlich auch Eckhard Jaschinski gegen ein Lied zwischen den Lesungen: „Ein Lied würde zu starke Eigendynamik entwickeln und das eben gehörte Wort in den Hintergrund drängen.“ (Jaschinski, Wort [wie Anm. 85], 194).

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und lassen sich ihrerseits (auch) als Akt der Verkündigung verstehen. Eingriffe an dieser Stelle sollten von daher, wenn überhaupt, behutsam erfolgen. Die Praxis, dass an dieser Stelle die Kollekte eingesammelt wird, wie dies in der altlutherischen Agende von 1935 vorgesehen war und noch heute in manchen Gemeinden üblich ist, sollte allerdings nach Möglichkeit vermieden werden, wird hier der Verkündigungsteil doch durch einen sachfremden Vorgang unterbrochen, der eher im Vorfeld der Gabenbereitung seinen auch liturgiehistorisch angemessenen Platz hätte.

6. Lesungen im lutherischen Hauptgottesdienst gestalten Es ist auffällig, dass das Evangelische Gottesdienstbuch innerhalb der Grundform I in fast allen Gottesdienstteilen unterschiedliche Formen und auch besondere Ausformungsvarianten kennt, des Lesungsteil dagegen bis auf wenige Ausnahmen relativ feststeht. Ein ähnliches Bild ergibt sich in der Evangelisch-Lutherischen Kirchenagende. Während für den Abendmahlsteil zwei verschiedene Formen vorgesehen sind, gibt es für den Lesungsteil nur eine Variante. Ich möchte anregen, neben den in Geltung stehenden Ordnungen des Lesungsteils zwei weitere Ordnungen zu etablieren: Eine erste neue Variante könnte den Lesungsteil in Anlehnung an Luthers Überlegungen in seiner „Formula Missae“ und in Aufnahme von Impulsen aus der Ökumene reich entfalten. Dabei könnten die Lesungen kantilliert120 werden, Zwischengesänge neu geformt werden, und die Evangeliumslesung könnte mit Kerzensymbolik oder sogar einer von Kerzen begleiteten Prozession in die Gemeinde hinein ausgestaltet werden. Ein solcher Lesungsteil würde von seinem Charakter gut zur ausgestalteten Ersten Form der Abendmahlsfeier in der Grundform I im Evangelischen Gottesdienstbuch bzw. zur Form B der Abendmahlsfeier in der Evangelisch-Lutherischen Kirchena120 Vgl. zum Mehrwert der Kantillation nicht nur die Überlegungen von Deeg (wie Anm. 7), sondern auch die Überlegungen von Reinhard Meßner, der als römisch-katholischer Liturgiewissenschaftler an dieser Stelle ausdrücklich Martin Luther aufnimmt: „Die Kantillation hebt das verlautete Wort Gottes vom alltäglichen Reden ab, in ihr gewinnt gegenüber allem menschlichen Reden Gottes Wort seine Lautgetsalt, die – mit Martin Luther – darauf abzielt, dass die Hörer die Botschaft ‚im Herzen fühlen‘.“ (Meßner, Wortgottesdienst [wie Anm. 87], 182, in Aufnahme von Überlegungen von Birgit Stolt).

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gende passen, ohne dass er auf ein solches Zusammenspiel beschränkt sein müsste. Eine zweite Variante könnte den Impuls Luthers aus seiner „Deutschen Messe“, der etwa in den älteren Agenden der Missouri-Synode lange bewahrt worden ist, aufnehmen und dem Lesungsteil durch radikale Reduktion von Gestaltungselementen einen eigenen Charakter verleihen, um das verlesene und verkündigte Wort umso mehr ins Zentrum zu rücken. Ein Akzent könnte hier auf dem Weiterwirken und Aneignen des biblischen Wortes liegen,121 ohne dass der Gottesdienstverlauf die Feiernden gleich schon zur nächsten Aktion führt.122 Phasen der Stille nach den Lesungen könnten in einer solchen Gestaltungsvariante ebenso einen Platz finden wie Instrumentalmusik und einfache Singsprüche, wie sie im Evangelischen Gottesdienstbuch für Gottesdienste mit reicheren Interaktionsformen vorgesehen sind. Diese Form wiederum würde gut mit der eher schlichten Zweiten Form der Abendmahlsfeier in der Grundform I im Evangelischen Gottesdienstbuch bzw. der Form A in der Evangelisch-Lutherischen Kirchenagende zusammenstimmen. Vielleicht sind dies Impulse, die in ihrer Unterschiedlichkeit dazu beitragen könnten, dass die Feiernden umso deutlicher wahrnehmen, dass gottesdienstliche Lesungen mehr sind als Informationsweitergabe oder Rezitation antiker Texte, sondern eben „Wort des lebendigen Gottes“.

121 Vgl. Jaschinski, Wort (wie Anm. 85), 194. 122 Vgl. Gerhards, Gestalt (wie Anm. 98), 153: „Dennoch bietet der Bereich der ‚Zwischengesänge‘ im Prinzip jenen Raum, in dem Aneignung und Vertiefung geschehen kann, wobei gerade hier das subjektive Moment seinen Platz haben muss – nicht zuletzt durch das Moment der Stille. Dieses ‚Dazwischen‘ erscheint als ein wesentliches Moment des liturgischen Geschehens, das weitgehend vernachlässigt ist. Forderungen nach mehr Meditation und Stille bei der Liturgie sind eindeutige Symptome.“

BUCHSCHAU Norbert Baumert/Maria-Irma Seewann, In der Gegenwart des Herrn. Übersetzung und Auslegung des ersten und zweiten Briefes an die Thessalonicher (Paulus neu gelesen 5), Echter Verlag, Würzburg 2014, 335 S. – ISBN 978–3–429–03700–0, 16,80 Euro. Die Besonderheit dieser Reihe liegt darin, dass Norbert Baumert, in Wien lebender emeritierter Professor an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt/Main, traditionelle, eingefahrene Lesegewohnheiten durchbricht und den Text der Paulusbriefe unverstellt zum Klingen bringen will. Er macht auf viele überraschende Möglichkeiten aufmerksam, den Text in anderer Weise, mit anderer Akzentuierung oder auch völlig anders zu verstehen, als es im Trend herkömmlicher Auslegungen liegt. Gerade diese Tatsache, dass im paulinischen Text sprachliche Möglichkeiten liegen, die bei Übersetzung und Auslegung bisher übersehen wurden, verdient Beachtung, mahnt sie doch zu Behutsamkeit bei der Interpretation der Paulusbriefe und zu aufmerksamen Wahrnehmen auch eines so bekannten Textes. Dazu leitet auch dieser Band an, den Baumert zusammen mit einer Co-Autorin verfasst hat, seiner ehemaligen Assistentin Diplomtheologin Maria-Irma Seewann. Ihre Forschungen zum II Thess haben besondere Bedeutung, weil sie diesen Brief als echten Paulusbrief zu erweisen versucht hat (Auszüge und Resümee ihrer Arbeit 299–313), so dass nun beide Briefe an die Thessalonicher als Zeugnis aus der frühen Wirksamkeit des Paulus ausgelegt werden können. Der Übersetzung und Auslegung des Textes folgen drei Exkurse, noch einmal eine Arbeitsübersetzung mit zusätzlichen Erläuterungen und Nachweisen, dann drei Anhänge zur Vertiefung der inhaltlichen Auseinandersetzung, ehe Literaturverzeichnis und Register den Band abschließen. Grundlegend ist die Bestreitung einer Naherwartung Christi in beiden Briefen. Der Titel „In der Gegenwart des Herrn“ ist programmatisch gemeint. Parusie meint demnach nicht ein zukünftiges Kommen Christi, sondern sein gegenwärtiges Zugegensein. Allerdings engen Baumert und Sewann die Bedeutung des griechischen Begriffs Parusie nicht grundsätzlich auf den Gegenwartsaspekt ein, sondern finden auch den jüngsten Tag so bezeichnet, an dem Gott selbst seine Gegenwart schenkt (I Thess 4,15–17). Das hieße, dass Parusie auch einen Zukunftsaspekt hat. Dann aber fragt sich, wieso dies nur in Verbindung mit Gott, nicht aber mit Christus geht. Die Argumentation, dass kyrios in I 4,15–17 „eindeutig“ Gott meine und nicht Christus (58–60.63f), vermag nicht zu überzeugen, da das absolute kyrios auch sonst Christus meint (I 1,6). Doch lassen sich das gegenwärtige und das künftige Kommen Christi überhaupt so alternativ betrachten? Eins schließt das andere nicht aus, da Paulus den Faktor Zeit erheblich relativiert (I 4,15). Weitere sonst eschatologisch interpretierte Begriffe wie „Zorn(-gericht)“ und „Tag des Herrn“ werden konsequenterweise als Bezeichnungen gegenwärtiger Erfahrungen verstanden.

LuThK 40 (2016), 118–130

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Die Argumentation stützt sich vor allem auf semantische und syntaktische Unersuchungen. Doch mitunter fallen die interpretatorischen Entscheidungen nicht mit philologischen Argumenten, sondern aufgrund psychologischer Erwägungen (vgl. etwa den Rekurs auf Erfahrungen der Nähe Gottes 46.53f.70f oder die inhaltliche Unterscheidung bei identischem Wortlaut S. 84). Zudem arbeitet sie immer wieder mit scharf profilierten Alternativen, die man bisweilen als künstlich überzogen empfindet. Der Dank des Paulus gilt der Gemeinsamkeit (I 1,9; 3,9-13), nicht etwa einseitig der „Offenheit“ der Adressaten (kein Begriff aus dem Text); die Entgegensetzung „von ihrer Offenheit, nicht von seinem eigenen Bemühen“ und einer „Anstrengung ganz auf Seiten des Paulus“ (13f) überzeugt nicht. Auch der Sinn der Entgegenstellung von „Voraussage“ und „offen davon reden“ bleibt mir verborgen, wenn es sich dabei doch „um eine aktuelle Ankündigung von Bedrängnissen“ handelt: Die gegenwärtige „innere Ahnung“ bleibt doch im Vorfeld der tatsächlichen Ereignisse (41 zu I 3,4). Wenn „Glaube“ auf die vertrauensvolle „persönliche Beziehung“ der Adressaten zu Paulus zugespitzt wird (43f), liegt der Vertrauensgrund doch nicht in der Person des Paulus, sondern in ihrer Verbundenheit in Gott Vater und dem Herrn Jesus Christus. Geht es wirklich zum zweierlei? Wieso wäre eine „Hervorhebung der Gemeinsamkeit Christus“ im Hinblick auf den Endzustand „merkwürdig“, während sie „im gegenwärtigen Lebenskampf“ als „durchaus passend“ erscheint (75)? Gerade dieses Miteinander von sprachlicher Analyse und Plausibilisierung der Interpretation aus der Rekonstruktion eines möglichen Kommunikationsprozesses macht die vorliegende Auslegung reizvoll. Auch wenn man der Textinterpretation nicht an jedem Punkt folgen will, so macht sie doch nachdenklich und fordert dazu heraus, sich noch einmal neu mit dem biblischen Text auseinanderzusetzen. Volker Stolle, Mannheim

Bilder der Reformation und die Reformation der Bilder – Forschungsbeiträge und Ausstellungs-Kataloge zum Cranachjahr 2015 Lucas Cranach der Jüngere. Entdeckung eines Meisters (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Augusteum, Lutherstadt Wittenberg, 26. Juni bis 1. November 2015), hg. v. Roland Enke/Katja Schneider/Jutta Strehle im Auftrag der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachen-Anhalt, Hirmer Verlag München 2015 (432 Seiten, 39,90 Euro, ISBN 978–3–7774–2349–4) Lucas Cranach der Jüngere und die Reformation der Bilder (Beiträge zum internationalen Symposium vom 20. bis 22. März 2014 in Lutherstadt Wittenberg), hg. v. Elke Anna Werner/Anne Eusterschulte/Gunnar Heydenreich, Hirmer Verlag München 2015 (336 Seiten, 45,00 Euro, ISBN 978–3–7774–2368–5)

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Norbert Michels (Hg.), Cranach in Anhalt. Vom alten zum neuen Glauben, (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in Dessau vom 26. Juni bis 1. November 2015), Imhof Verlag Petersberg 2015 (304 Seiten, 29,95 Euro, ISBN 978–3–7319–0227–0) Cranach im Gotischen Haus in Wörlitz (Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung in Wörlitz, 15. Mai bis 4. Oktober 2015), hg. v. Wolfgang Salvelsberg im Auftrag der Kulturstiftung Dessau-Wörlitz, Hirmer Verlag München 2015 (288 Seiten, 39,90 Euro, ISBN 978–3–7774–2398–2) Bild und Botschaft. Cranach im Dienst von Hof und Reformation (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in Schloss Friedenstein Gotha vom 29. März bis 19. Juli 2015, Schloss Wilhelmshöhe Kassel vom 21. August bis 29. November 2015), hg. von Stiftung Schloss Friedenstein Gotha und Museumslandschaft Hessen Kassel, morio-Verlag Heidelberg 2015 (366 Seiten, 24,95 Euro, ISBN 978–3–945424–09–4) Bild und Bekenntnis. Die Cranach-Werkstatt in Weimar, hg. v. Franziska Bomski/ Hellmut Th. Seemann/Thorsten Valk, Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar, Wallstein Verlag Göttingen 2015 (404 Seiten, 28,00 Euro, ISBN 978–3–8353–1643– 0)1 Das Jahr 2015 war „Cranach-Jahr“. Zum 500. Mal jährte sich die Geburt des „zweiten“ Cranach, Lucas d. J. (1515–1586). In großen Werkschauen und Themenausstellungen, in zahlreichen illustrierten Kongressbänden, Katalogen und Monografien wurde des Malers der Reformation gedacht. Wenn dabei etwas großspurig von der „Entdeckung“ eines Meisters die Rede war, dann dokumentierte diese Schlagzeile doch die Forschungsleistung der letzten Jahre, in der sich das Bild der Malerfamilie deutlich differenziert hatte. Zunächst war es die These vom „katholischen Cranach“ (Andreas Tackes) gewesen – also die Tatsache, dass die Cranach-Werkstatt noch bis in die 1530er Jahre Großaufträge für die altgläubige Seite ausführte, darunter ausgerechnet für Luthers Lieblingskontrahenten Albrecht von Brandenburg –, die die herkömmliche Cranach-Deutung infrage gestellt hatte. Cranach erschien im neuen Licht eines frühneuzeitlichen Unternehmers, der seine Bilder-Manufaktur nach unternehmerischen und nicht nach theologischen Gesichtspunkten leitete. Inzwischen

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Weitere interessante Ausstellungskataloge, die hier aus Platzgründen nicht besprochen werden konnten, sind: Cranachs Kirche, hg. v. Jan Harasimowicz/Bettina Seyderhelm im Auftag der Ev. Stadtkirchengemeinde Wittenberg, Sax-Verlag Beucha 2015 (224 Seiten, 20,00 Euro, ISBN 978–3–86729–156–9); Cranach in Weimar (Katalog anlässlich der gleichnamigen Ausstellung in Weimar, 3. April bis 14. Juni 2015), hg. v. Wolfgang Holler/Karin Kolb im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar, Sandstein Verlag 2015 (216 Seiten, vergriffen, ISBN 978–3–9549–8162–5); Cranach, Luther und die Bildnisse: Thüringer Themenjahr ‚Bild und Botschaft‘ (Katalog anlässlich der Ausstellung Die Lutherporträts der Cranach-Werkstatt auf der Wartburg, Eisenach, 2. April bis 19. Juli 2015), hg. v. Günter Schuchardt/Grit Jacobs, Schnell und Steiner Verlag 2015 (208 Seiten, 12,95 Euro, ISBN 978–3–7954–2977–5).

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ist nun der Sohn aus dem Schatten des Vaters getreten und das Bild hat sich weiter differenziert. Die Freundschaft zwischen Luther und Cranach und der Einfluss der Theologie des Reformators auf die Stilentwicklung des älteren Cranach ist wieder stärker gewürdigt worden. Vor allem ist aber Lucas Cranach d. J. als eigenständige Künstlerpersönlichkeit in den Blick geraten: ein Künstler, der den „Cranach-Stil“ des Vaters perfekt weiterführte, der aber gleichzeitig neue Sujets und stilistische Mittel entwickelte und damit eine eigenständige protestantische Bildersprache schuf. Jubiläen bieten eine willkommene Gelegenheit, Geschichte neu zu erzählen: Das war im Lutherjahr 1983 der Fall, als Werner Hofmann mit seiner legendären Ausstellung „Luther und die Folgen für die Kunst“ in der Hamburger Kunsthalle die These aufwarf, „daß die entscheidenden Strömungen der um 1500 anbrechenden Moderne vom Religionskonflikt geformt“ seien und dass „die Kunstgeschichte der letzten fünf Jahrhunderte umzuschreiben“ 2 sei. Luther selbst habe die Grundlage einer modernen Betrachterästhetik gelegt, indem er die Bilder von ihrem Kontext und Gebrauch her definierte. Auch das jetzige Jubiläum bietet die Gelegenheit, die Geschichte einer der führenden frühneuzeitlichen Maler-Werkstätten in ihrem Verhältnis zur Reformation neu zu erzählen. Die großen Lucas-Cranach-Schauen dieses Jahres verfolgten im Wesentlichen drei Anliegen: 1. Lucas Cranach der Jüngere tritt zurecht aus dem Schatten seines namensgleichen Vaters getreten und wird als eigenständige Künstlerpersönlichkeit gewürdigt. Die Entwicklung des Cranach-Stils wird nicht mehr als Verfallsgeschichte angesehen, sondern als reflektierte Weiterführung nach stilistischen und theologischen Gesichtspunkten. 2. Die Reformation der Bildauffassung in der frühen Neuzeit tritt stärker in den Blick und rückt Kontinuität und Wandel von Bildergebrauch und Frömmigkeit zwischen Spätmittelalter und Reformation in den Fokus. 3. Gleichzeitig wird den Bildern selbst eine wesentliche Rolle bei der Prägung und Durchsetzung reformatorischer Ideen zugesprochen. Anders als noch Hans Belting meinte, sei die Reformation – jedenfalls in ihrer lutherischen Variante – keineswegs als Medienwechsel vom Bild zum Wort zu begreifen, sondern sei zu guten Teil auch ein Bildereignis.3 2 3

Werner Hofmann, Vorwort, in: ders. (Hg.), Luther und die Folgen für die Kunst, München 1983, 18. Belting vertrat die wirkmächtige These, dass der „Machtverlust der Bilder in der Reformation“ zur „Auslieferung des Bildes an den Betrachter“ in den Museen und Galerien der Neuzeit geführt habe und damit zur Entstehung dessen, was wir ‚Kunst‘ nennen. In der ‚Machtergreifung‘ der Theologen des Wortes sei die Macht der Bilder zwar aus dem Kult ausgetrieben worden, sie habe sich aber verselbstständigt und – gerade gegen den Willen der Theologen – die Kunst zur „Alleinerbin“ der Religion in der Moderne gemacht. Vgl. Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 62004, 24 und 26.

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Sechs große Ausstellungen in Wittenberg, Dessau und Wörlitz, in Gotha, Weimar und Erfurt waren 2015 zeitgleich dem Andenken des jüngeren Cranach gewidmet. Möglich wurde diese Vielfalt durch die Eigenart der Cranach-Werkstatt, ein und denselben Bildtyp in zahlreichen Varianten herzustellen und zu verbreiten. Insofern ergeben sich zwischen den Ausstellungen und ihren Katalogen manche Redundanzen. Doch wurden auch erkennbar unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Wer sich vor allem für den Künstler und sein Schaffen interessiert, dem sei der Katalog zum Wittenberger Part der sachsen-anhaltinischen Landesausstellung empfohlen, der am stärksten künstlerbiografischen Charakter hat: „Lucas Cranach der Jüngere. Entdeckung eines Meisters“. In elf allgemein verständlichen Aufsätzen führt der Ausstellungsband in das Leben und Werk des jüngeren Cranach ein und bietet im Katalogteil eine Fülle interessanter Aspekte zum Beziehungsgefüge der Cranach-Werkstatt, zum Malprozess und zur ikonographischen Entwicklung des Cranach-Opus. Lucas der Jüngere wurde 1515 in die florierende Wittenberger Malerwerkstatt hineingeboren. Als der ältere Bruder Hans 1537 auf einer Italienreise am Fieber verstarb, war es Lucas, der allmählich in die Nachfolge seines Vaters (1472–1553) trat. Wie jener war er nicht nur Hofmaler, sondern verwaltete eine Bildermanufaktur mit vielen Angestellten, war Weinhändler, Bürgermeister und kurfürstlicher Steuereinnehmer und besaß den größten Immobilienbestand der Stadt. Nach der Niederlage Kurfürst Johann Friedrichs I. von Sachsen in der Schlacht bei Mühlberg 1547 folgte der ältere Cranach seinem Landesherrn ins Exil, und Lucas d. J. übernahm die Regie der Wittenberger Werkstatt, die er nach dem Verlust des Hauptauftraggebers neu ausrichtete. Porträts adliger und bürgerlicher Persönlichkeiten nahmen nun zu. Für die geschlagenen Ernestiner entwickelte Cranach neue Bildformulare, die Johann Friedrich als Märtyrer des evangelischen Glaubens inszenierten. Und es wuchs der Bedarf an lutherischen Kirchenausstattungen und Epitaphien, die neue Bildlösungen erforderlich machten. Das Verhältnis Cranachs zur Reformation beleuchtet knapp und mustergültig Ruth Slenczka, die Lucas d.J. anders als seinen Vater, der noch im ‚alten Glauben‘ aufwuchs, nicht nur als Kind der Reformation beschreibt, sondern auch als maßgeblichen Impulsgeber einer evangelischen Bilderpraxis: „Erst er schuf Reformatorenporträts, die zum kommunikativen Gegenüber des Betrachters wurden, indem sie diesem in Lebensgröße gegenübertraten und sich in Inschriften an ihn wandten. Erst er füllte mit seiner auch quantitativ bedeutenden Produktion den Bilderhaushalt des Protestantismus mit Glaubensbildern und erst er verhalf den Gläubigen zur Ausstattung ihrer Kirchen mit persönlichen Bekenntnisbildern, mit Epitaphien sowie Bildern für Emporenbrüstungen.“ (136) „Das Spezifikum der Reformation besteht darin, dass Glaube und Religion alle Bereiche des Lebens durchdrangen und so zu epochenbestimmenden Größen wurden.“ (136) Mit dieser Einschätzung liegt Slenczka keineswegs im Trend gegenwärtiger kunstgeschichtlicher Forschung, bietet aber gleichwohl den Schlüssel, um das komplexe Ineinander von Kunst, Politik, Ökonomie und Religion angemessen zu begreifen. Nebenbei räumt sie auch mit einem sich zäh

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haltenden Missverständnis der unter dem Titel „Gesetz und Evangelium“ bekannten und meist als Lehrbilder lutherischer Dogmatik verzeichneten Bilder auf, indem sie deren kommunikative Struktur hervorhebt: „Es geht nicht darum, den Betrachter über den Glauben zu informieren und zu belehren. Das Bild tritt vielmehr in einen Dialog mit dem Betrachter, indem es ihm zum Spiegel wird, in welchem er sich selbst als Sünder erkennt, der durch den Gekreuzigten gerechtfertigt wird“ (128f.). Wie übrigens alle Kataloge dieser Besprechung zeichnet sich auch der Wittenberger durch großformatige, farbgetreue Abbildungen in hervorragender Qualität aus. Detailaufnahmen und Infrarotreflektografien machen verborgene Tiefenschichten und Bearbeitungen der Gemälde sichtbar. Auch das ist ja Bestandteil des digital verstärkten „iconic turn“, dass neue bildgebende Verfahren subkutane Strukturen der Wirklichkeit in einer Weise dem Auge präsentieren, wie dies vor kurzem noch undenkbar war. Wer sich stärker fachwissenschaftlich für den gegenwärtigen Stand der CranachForschung interessiert, dem sei „Lucas Cranach d. J. und die Reformation der Bilder“ empfohlen. Der Aufsatzband bündelt die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Tagung, die sich in Vorbereitung der Ausstellungen dem Leben und Werk des jüngeren Cranach widmete. In dreißig Einzelbeiträgen werden Biografie und Netzwerke des jüngeren Cranach, die Cranach-Werkstatt als Ort der künstlerischen Produktion und das Verhältnis von Bild und Reformation bearbeitet. Erkennbar wird die Bemühung, das Leben und Wirken Lucas Cranachs d. J. zu kontextualisieren. Um so erstaunlicher ist es, dass fast ausnahmslos Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker zu Wort kommen, aber kaum Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Kirchen- und Profangeschichte, Soziologie, Ethnologie, Philosophie oder Theologie. Gerade diese einseitige Fokussierung widerspricht aber der in der Einführung von Elke Anna Werner zurecht betonten „Verflechtung der religiösen Bewegung mit dem Wandel des Bildes“ (8) in der Reformationszeit und dem Vorhaben, die künstlermonografische Forschung für Fragestellungen zu öffnen, „die nach den übergreifenden Verflechtungen der Entstehungsbedingungen von Bildern mit dem komplexen kulturellen Wandel in dieser Zeit fragen“ (9). Der Mangel an interdisziplinärer Besetzung bei gleichzeitig interdisziplinärer Ausrichtung des Projekts mindert natürlich nicht den Wert der einzelnen Beiträge, ist für die Gesamtkonzeption aber bedauerlich. Gleichwohl ist das Anliegen des Tagungsbandes von erheblichem Interesse: er wirft die Frage auf, inwiefern nämlich analog zum religiösen Reformprozess ein Wandel des Bildverständnisses im 16. Jahrhundert stattfindet, der für die konfessionelle Spaltung ebenso wie für den Übergang in ein neuzeitliches Wirklichkeitsverständnis von erheblicher Bedeutung ist. Elke Anna Werner weist in der Einführung darauf hin, dass hier gegenwärtig – etwa durch Heike Schlie – neue Wegen in der Forschung beschritten werden, die die „ästhetische Evidenz“ der Bildproduktionen Cranachs in den Mittelpunkt stellen und „das Augenscheinlichwerden von Sinn und Bedeutung an die materialen Eigenschaften der Werke und Phänomene der subjekti-

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ven Wahrnehmung“ (11) binden. Doch kommt dieser verheißungsvolle Ansatz im Sammelband noch recht verhalten zum Tragen, am stärksten vielleicht in den Aufsätzen von Martina Sitt und Désirée Monsees zum Bildtypus des einsamen Christus am Kreuz und von Anja Grebe zum Bildprogramm des Colditzer Altars, dessen sich öffnende Herzform sie metaphorisch auf die Öffnung des göttlichen Herzens bezieht. Der Sammelband kann auf jeden Fall den Beweis erbringen, dass die bisherige Einschätzung, „dass hier ein Künstler mit beschränkten ästhetischen Ausdrucksmitteln den Bildtraditionen seines Vaters weitgehend verhaftet blieb und sie lediglich zu formelhafter Verhärtung trieb, […] der Fülle von innovativen ikonografischen, maltechnischen, stilistischen und konzeptuellen Entwicklungen in seinem Œuvre nicht gerecht“ (15) wird. Die Dessauer Ausstellung „Vom alten zum neuen Glauben“ machte es sich im Rahmen der Landesausstellung Sachsen-Anhalt zur Aufgabe, „ästhetische und stilistische Eigenheiten reformatorischer Bilder in ihrem dogmatischen Sinn zu erkennen und somit zu Verständnis und Wertschätzung der Erneuerung des christlichen Bildes durch lutherische Kunst zu gelangen“ (13), wie Norbert Michels in seiner Einführung zum Katalog schreibt. Um das Neue zu erkennen, ist in Dessau ein Schwerpunkt auf den „katholischen Cranach“ in vorreformatorischer Zeit gelegt worden, der sich wie Altdorfer, Dürer, Grien oder Grünewald in hohem Maße der Mittel „einer auf stark emotionale und pathetische Wirkung, auf naturalistische Illusion sowie unmittelbare Überzeugung angelegte Kunst“ (14) bediente. Im Zuge der Reformation habe die Cranach-Werkstatt die stilistischen Mittel bewusst reduziert, um damit einem neuen protestantischen Begriff des christlichen Bildes zu entsprechen, das der demütigen Person Christi wie auch einem breiten Publikum angemessen war. Die Cranachs hätten so zwischen Ikonoklasmus und Idolatrie einen neuen Weg für die christliche Kunst in lutherischer Absicht gebahnt. Andreas Tacke beleuchtet, wie zwar erst in den 1540er Jahren die altgläubigen Auftraggeber ausbleiben, Cranach sich aber schon in den 1520er Jahren auf einen Programmwechsel vorbereitete und mit neuen Stilmitteln und Bildsujets experimentierte. Hartmut Kühne betont die Kontinuitäten, indem er nachweist, dass Rosenkränze in der lutherischen Frömmigkeitskultur auch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts – und möglicherweise noch lange danach – in Gebrauch blieben. Und Ruth Slenczka schildert, wie die Anhaltinischen Askanier ihr Verhältnis zur protestantischen Reichspartei in reformatorischen Bildprogrammen darstellten und die Landesherren sich damit in die unmittelbare Nähe zur Heilsgeschichte brachten. Der Gewinn der Dessauer Ausstellung und ihres Katalogs liegt vor allem in der kontinuierlichen Darstellung von vier zentralen Bildthemen vom Spätmittelalter bis zur Spätreformation (109–270): der Darstellung Mariens im Wandel von der Himmelskönigin zur Magd Gottes, der sich wandelnden Passionsbetrachtung und Frömmigkeitsrepräsentation und der neuen Christusdarstellung als Heiland und Herrschaftsgarant.

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Die Cranach-Ausstellung im Gotischen Haus in Wörlitz zeigte im Gegensatz zu den beiden anderen Ausstellungen keine Werkschau im eigentlichen Sinne. Vielmehr ging es darum, „an originaler Stätte die ungewöhnlich frühe Rezeption der Kunst beider Cranachs im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts anschaulich vor Augen“ zu führen (XVI). So präsentierte die Wörlitzer Ausstellung die rekonstruierte originale Hängung des ehemaligen Cranach-Bestands und beleuchtete auf diese Weise die Rezeptionsgeschichte der altdeutschen Malerei und insbesondere der Cranach-Kunst am Vorabend der Romantik. Ein großer Teil des Katalogs ist dementsprechend dem Gotischen Haus selbst und der Rekonstruktion seiner Bildersammlung in zeittypischer „Petersburger Hängung“ gewidmet. Johann Caspar Lavater nannte 1786 das Gotische Haus ein „Denkmal alter Kunst und gottvertrauter Zeiten“ (XXI) und traf damit genau die religiöse Strahlkraft, die auch im 18. Jahrhundert an der Cranach-Kunst wahrgenommen wurde. Die Gothaer Ausstellung „Bild und Botschaft“ legte das Augenmerk einerseits auf das „Spannungsverhältnis zwischen höfischer Repräsentation und reformatorischer Propaganda“ und andererseits auf das „Verhältnis von Text und Bild“ (13), das gerade bei den Cranach-Werken von herausragender Bedeutung ist. Gerade der zweite Schwerpunkt markiert das besondere Merkmal dieser Ausstellung und ihres Katalogs im Gesamtbild des Cranachjubiläums. Timo Trümper, Justus Lange und Sebastian Dohe beleuchten die höfischen Inszenierungsstrategien und unterstreichen die politischen, theologischen und sozio-ökonomischen Verflechtungen der Cranach-Zeit. Benjamin D. Spira skizziert prägnant das Verhältnis zwischen der Cranach-Familie und Martin Luther. Hanne Kolind Poulsen, Birgit Ulrike Münch und Andreas Tacke reflektieren das Verhältnis von Cranachs Bildsprache und dem neuen Glauben. Poulsen bewertet – weit stärker als Tacke – den Stilwandel Cranachs d. Ä. während der Wittenberger Anfangsjahre als bewusste Reaktion auf Luthers neue Theologie und sein Bildverständnis. So entspricht ihre Sicht auch dem Ertrag der erwähnten Dessauer Cranach-Ausstellung. Interessant ist, dass sie die lutherische Identität der Bilder weit stärker in stilistischen denn in ikonografischen Eigenheiten sieht – im Wechsel vom expressiven, illusionistischen Stil der Donauschule hin zum einfachen, flächigen und grundsätzlich antirealistischen Wittenberger Stil (65). Ob allerdings die Dialektik in Luthers Bildbegriff – und auch in Cranachs Stilistik – von Poulsen nicht einem simplifizierenden Zeichenbegriff geopfert wird, demzufolge das Zeichen nur auf eine andere Wirklichkeit verweist, die es nicht zu vergegenwärtigen vermag, wäre einer eingehenderen Untersuchung wert. Elke Anna Werner oder Anja Grebe haben mit Begriffen wie der „ästhetischen Evidenz“ oder „metaphorische Öffnung“ andere Fährten des Verstehens gelegt, die dem Bildverständnis Luthers und Cranachs möglicherweise näher kommen. Der Katalogteil schließlich würdigt das Gesamtwerk Cranachs d. J. mit einer eher konventionellen Gruppierung der Arbeiten. Nützlich sind die Transkriptionen der Bildinschriften (336–347).

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Ausdrücklich dem Weimarer Rechtfertigungsretabel von 1555 als Programmbild der sich neu konsolidierenden sächsischen Herrschaft nach der verlorenen Schlacht bei Mühlberg 1547 ist das Jahrbuch der Klassik Stiftung 2015 gewidmet. Die Weimarer Cranach-Ausstellung hatte ihren Fluchtpunkt in jenem Altarretabel in der Stadtkirche, auf dem „Bild und Bekenntnis, die am Beginn der Reformation weit auseinandergelegen hatten, tatsächlich in eins zu rücken“ (10) scheinen. Der Altar – so legen es die aus sehr unterschiedlichen Perspektiven angelegten Beiträge nahe – könne als die „im Blid verdichtete Lehre vom geistlichen und weltlichen Regiment“ (11) verstanden werden und stehe für die Botschaft der Rechtfertigung allein aus Gnade und für die Botschaft von der Rechtmäßigkeit und Souveränität der sächsischen Herzöge und ihrer Blutsgerichtsbarkeit. Das Cranach-Jubiläum ist zum Anlass genommen worden, die Geschichte der Cranach-Werkstatt und ihre Verflechtung mit der Wittenberger Reformation neu zu erzählen. Das wirft die spannende Frageauf, wie wohl 2017 die Geschichte der Wittenberger Reformation selbst neu erzählt werden wird. Christian Neddens

Jürgen Kampmann/Werner Klän, Preußische Union, lutherisches Bekenntnis und kirchliche Prägungen. Theologische Ortsbestimmung im Ringen um Anspruch und Reichweite konfessioneller Bestimmtheit der Kirche. (OuH.E 14). Edition Ruprecht Göttingen 2014, ISBN 978–3–8469–0157–1, 376 S., 78,00 Euro Dieses Sammelwerk, das vorläufige Ergebnisse der in 2009 begonnenen und noch andauernden Gesprächsreihe zwischen der Union Evangelischer Kirchen in der Evangelischen Kirche Deutschlands (UEK) und der Selbständigen EvangelischLutherischen Kirche (SELK) der interessierten Öffentlichkeit vorstellt, ist ein begrüßenswerter Meilenstein im fortlaufenden und sich zunehmend konzentrierenden ökumenischen Reformationsgedenken (1517–2017), das zusehends breitere Kreise einbezieht und als vorläufiges Ziel ein „Gemeinsames Wort“ zum 200. Jahrestag des preußischen Unionsaufrufs zu erarbeiten sucht, „das im Geist ökumenischer Selbstverpflichtung die Grundlage zu einer um gegenseitiges Verstehen und Lernen ringende Wahrnehmung und Wertschätzung trotz der jahrzehntelang getrennten Wege bieten kann“ (14). Es ist bemerkenswert und durchaus zu begrüßen, dass die akademische Klärung, geschichtliche Positionierung, systematische Orientierung und gottesdienstliche Einordnung durch das bischöfliche Geleitwort obendrein kirchliche Einbindung signalisiert und deswegen hoffentlich auch von den jeweiligen Trägerkirchen entsprechend rezipiert, aufgearbeitet und angemessen umgesetzt wird. Das könnte Entscheidendes zu den Fragenkreisen erbringen, die z. B. Barnbrock zu „kirchlicher bzw. konfessioneller Identität“ (156 vgl. Ziegler 353) und Großhans: „Was soll der nächste Schritt sein?“ (302) aufgeworfen haben. Er macht deutlich, dass es dabei nicht „um Selbstbestätigung und -vergewisserung – auch nicht einer kirchlichen Tradition und Identität“ (315) geht, „sondern um ein kritisches Hören

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auf den biblischen Text aus dem Wort Gottes in Bezug zu unserem je eigenen und gemeinsamen Leben in seinem jeweiligen Kontext und seiner jeweiligen Situation. Voraussetzung dafür ist das konsequente Ernstnehmen der Heiligen Schrift in ihrer Literalität.“ (ebd.) Klän ergänzt die übergreifende Schriftgebundenheit mit praktischem Lebensbezug: „Insofern kann die Selbstständige Evangelisch-Lutherische Kirche der […] postulierten Option nicht zufallen, ,Kirchengemeinschaft ohne lehrmäßige Übereinstimmung‘ sei für lutherische Kirchen ein denk- und gangbarer Weg, der ihre konfessionelle Identität in kirchlicher Verbindlichkeit nicht beeinträchtige – im Gegenteil.“ (328, vgl. 340ff) Das wird dann im folgenden von ihm weiterhin konkretisiert: „Die Gestaltung kirchlicher Einheit hat dem Maßstab des Evangeliums zu entsprechen, wie es im Konsens kirchlich verbindlicher Lehre zum Ausdruck kommt. Die Feststellung der Einmütigkeit im Glauben, Lehren und Bekennen ist unabdingbare Voraussetzung für die Bestätigung und Betätigung von Kirchengemeinschaft im Sinn von Interkommunion und Interzelebration.“ (339) In diesem Sinne fasst Ziegler unter den „neue Herausforderungen“ (358) die bleibende Aufgabe zusammen: „die Aussagen der Bekenntnisschriften in der gegenwärtigen Diskussion zu verantworten. Bindung an das Bekenntnis ist zuerst Bindung an die Heilige Schrift, und die lutherische Kirche bindet sich an das Bekenntnis, weil es ,aus Gottes Wort zusammengezogen‘ ist. Dass dies nicht nur eine leere Behauptung ist, muss in der Tat immer neu gezeigt werden.“ (359, vgl. Grünhagen 209) Die englischen Zusammenfassungen der Aufsätze sind auf eine wünschenswerte Breitenwirkung in weltweiter Leserschaft ausgerichtet. Leider sind die konzentrieren, gewichtigen und orientierenden Vor- und Geleitworte von Herausgebern und entsprechenden Oberhirten als auch die grundlegende und richtungsweisende Predigt vom ehemaligen Präses Hildebrandt (1967) von dieser hilfreichen und heute doch schon weitgehend üblichen Übersetzung ausgespart worden. Die weiterführenden Beobachtungen des lutherischen Dogmatikers aus CTS Ft. Wayne, Roland Ziegler, belegen ihrerseits das internationale Interesse und die Aktualität der Thematik, die selbst von der Verwurzelung und Entstehung der dortigen Kirche in eben dieser konfliktreichen Kirchengeschichte in der „alten Heimat“ abhängen und von dieser in ihrer Gründungsgeschichte motiviert und nachhaltig bestimmt und geformt worden sind (354 und auch Wenz 293). Ein vergleichbarer Kommentar aus reformierten oder unierten Reihen aus der weitergespannten (nicht-deutschen) Ökumene wäre ebenfalls begrüßenswert gewesen, da er wahrscheinlich Wesentliches zur weiteren Rezeptionsgeschichte der ursprünglichen Weichenstellung im 19. Jahrhundert in der Diaspora und auf dem Missionsfeld hätte beitragen können. Somit hätte auch die anhaltende Brisanz des Themas noch weiter ausgeleuchtet werden können. Die wird ja vor allem dort realisiert, wo unterschiedliche Denominationen mehr oder weniger zusammen ihren Glaubens leben und sich missionarisch angestrengt um konfessionelle bzw. evangelische Ausstrahlung bemühen, wie das im globalen Dorf nicht anders von Christen in ihren unterschiedlichen Ausrichtungen und Bestimmungen zu erwarten ist. Gerade in den ehemaligen britischen Kolonien, die Flucht- und

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Sammelbecken christlicher Flüchtlinge und Minderheitsgruppierungen aus dem absolutistischen Europa von damals waren, wurde das verwirklicht. Es bleibt für ökumenisches Verständnis bedeutsam wie Hundt zu Recht hervorhebt, dass der Scheibelsche Protest weniger gegen die reformierte Kirche als gegen den Rationalismus als „Herrschaft der Vernunft in der Theologie […] Vernunftvergötterung“ (79) gerichtet war. Der Sammelband lädt ein, die Bemühungen der nun fast zweihundertjährige Geschichte der unierten „Staatskirche“ einerseits und der lutherischen „Freikirche“ andererseits durchaus kritisch, aber doch vornehmlich versöhnlich und wohlwollend aufzuarbeiten, zur Kenntnis zu nehmen und auch theologisch weiter zu vertiefen, vor allem weil sich die unterschiedlichen Kirchentypen inzwischen als selbstverständliche Gegebenheiten nebeneinander arrangiert und nach zwei Jahrhunderten zum Teil wohl auch gegenseitiger Profilierung und Etablierung soweit verfestigt haben, dass kaum von großen Bewegungsräumen gesprochen oder mit riesigen Schritten des Entgegenkommen gerechnet werden kann, obwohl weiterhin genügend Bedarf zur wechselseitigen Erbauung und Ergänzung besteht, da sich die Parteien im Gegenüber Wesentliches zu sagen haben und wohl auch schuldig geblieben sind und durch die andauernde Nachbarschaft voraussichtlich auch in gegenseitiger Angewiesenheit und Zuordnung gegenseitig verantwortlich bleiben werden. Noack fasst die Anklänge wie folgt zusammen: „Wir brauchen einander zur gegenseitigen Korrektur und als Ergänzung im Sinne einer ,Komplementarität‘.“ (351) So wird dann auch als „Ausgangs- und Angelpunkt dieses Buches“ (9) das „Eingeständnis kirchlichen Versagens“ vom ehemaligen Präses in der bereits oben genannten Predigt hervorgehoben und anschließend erneut begutachtet in der Hoffnung, dass die durch solche kirchlichen, amtlichen und politischen Verfehlung und Verschuldung verhärtete Fronten doch noch künftig aufgeweicht und eventuell sogar durchlässiger gemacht werden könnten. Den überaus positiven und nachhaltigen Einfluss, den solche theologische Wechselseitigkeit und -wirkung haben kann, betont Wenz einleuchtend in seinem Artikel „Kirchengemeinschaft als Bekenntnisgemeinschaft“ mit Hinweis auf Brunner, Sasse und Wirsching (289f). Hund dagegen kann aufzeigen, wie die schon fast vergessene Forderung Scheibels nach „Freiheit der Kirche von allen staatlichen Eingriffen, also das ius in sacra als kirchlichen Besitz“ die „altlutherische Bewegung zur Avantgarde in der Entwicklung des juristischen Verhältnisses zwischen Staat und Kirche“ (79 u. Klän 321) machen konnte. Klän definiert weiter: „Selbstständigkeit der Kirche bedeutet für seine (Huschkes WW) Zeit zugleich Freiheit von ‚Menschenherrschaft‘, als Staatsfreiheit.“ (319) Die Entwicklung im außerdeutschen Raum scheint dieser Bewegung im Nachhinein Recht zu geben und selbst in Deutschland ist das juristische Kapitel in der Kirchengeschichte noch nicht zu Ende geschrieben. Die jüngsten Entwicklungen im skandinavischen Kirchenraum und in den USA zeigen auf, wie brennend aktuell und kritisch, ja geradezu gefährlich das Thema von staatlicher Einmischung, politischer Korrektheit, drohenden zivilen Ungehorsams in kirchliche Angelegenheiten weiterhin bleibt – und nicht nur

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für ordinierte Amtsträger, sondern für die Kirche als solche. Somit ist Barnbrock zuzustimmen, wenn er auf das „Nadelöhr, an dem die nachwachsenden Theologen nicht vorbeikamen, das Gesamtkonstrukt der Union inklusive der umstrittenen rechtlichen Basis für die Ordinanden rechtsverbindlich festgezurrt werden sollte“ (143, vgl. Grünhagen 210 und besonders Anm. 15, aber auch Neddens 268 Ziffer 2+3) hinweist und resummiert: „Dies musste auf die Kritik von altlutherischer Seite stoßen.“ (ebd.) Das führt notwenigerweise wie Wenz zeigt, dazu, dass „die Mütter und Väter der altlutherischen Kirchen die Union nur als ihren Ausschluss aus den ihnen bisher vertrauten Kirchenmauern im realen und im übertragenen Sinn verstehen“ (292) konnten und schließlich sogar ins Exil auswanderten (293). Daran – an solchem status confessionis - hat sich bis heute nichts geändert und es sollte uns nicht wundern, wenn wachsame Pfarrer und Laien kraft ihres prophetischen Auftrags und Berufung auf die bedrohliche Konstellation hinweisen, die gerade dort die Kirche in Frage stellt, wo der demokratische Staat mit mehrheitlicher Zustimmung und in der Lage des aktuellen Summepiskopats des Volkes und mit fast schon absolutistischen Allmachtsallüren selbstherrlich Gottes Gebote aus den Angeln hebt: Vox populi vox dei. Da kommen wir auch heute nicht vorbei. So ist Grünhagens Gedankengang zuzustimmen, wenn sie schreibt, „dass die Frage nach einem Bekenntnis, wie immer man es heute auch nennen mag, Grundtext oder Referenzrahmen, sich der Kirche aus sachlicher Notwendigkeit immer stellen wird, damit sie rechenschaftsfähig sagen kann, was sie ist, was sie glaubt und was nicht, und wer mit ihr das Gleiche glaubt und wer nicht, und dass dies Bemühungen um die Einheit der Kirche gerade ein- und nicht ausschließt.“ (211, vgl. Neddens 265–268) Herms bringt es auf den Punkt, wenn er fragt: „Was sind die Bedingungen dafür, dass in diesen für das geschichtliche Leben der Kirchen wesentlichen Prozessen der Selbstbestimmung und Selbststeuerung eine ständige Regeneration des Lebens in der Gemeinschaft mit Christus stattfindet?“ (285) Für die Gesprächspartner bleibt die Erarbeitung einer „angemessene Bekenntnishermeneutik“ (Stolle 10) als Zielvorstellung zukünftiger Beratung und Zusammenarbeit aufgrund, anhand und im Rahmen der Bekenntnisse bestehen, während die Kirchen von der anhaltenden Aufgabe der unbewältigten Möglichkeiten von Kanzelund Abendmahlsgemeinschaft (Hüffmeier 30) gefordert und in theologischer Anspannung und Bekenntnisbereitschaft bleiben. Schließlich lässt sich kirchliche Identität nicht auf das historisch konservierte Bekenntnis reduzieren, sondern bleibt eine durchaus „komplexe Wirklichkeit […] aus Bekenntnisstand, kirchlicher Verfassung, zeitgenössischen Prägungen, gottesdienstlichem Leben, praktizierter Frömmigkeit – und dieses alles in der Dynamik weitergehender Entwicklungen und charakteristischen Wandlungen“ (10). Da Silva zeigt bei aller Gesprächsbereitschaft und Verhandlungswilligkeit auf, was bei diesen interdenominationellen Begegnungen mit konfessionellen Lutheranern keinesfalls vergessen werden darf. Ihr Problem ist ja nicht „die Union per se, sondern die Unvereinbarkeit verschiedener Glaubensbekenntnisse, die uniert werden“ (130) sollen – und wenn es als Paradigmenwechsel

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begrüßt wird und im Namen Leuenbergs geschieht (vgl. Brunn 201f, Wenz 295 u. Klän 339). Darum sind Lehrgespräche und wohl auch z.T. cooperatio in externis möglich und u.U. sogar wünschenswert, auch wenn das die communication in sacris noch ausschließt, da sie dem großen satis est von CA VII nicht entsprechen und auch nicht Genüge tun. Darum zitiert Wenz Buchrucker zustimmend, der das kirchliche Verhalten prägnant erklärt: „Die kirchliche Einigkeit ist nicht Zweck der Abendmahlsfeier, sondern ihre unerlässliche Bedingung. Bei Uneinigkeit im Bekenntnis kann nicht gemeinsam kommuniziert werden.“ (296) Das ist der Weg der konkordienlutherischen Kirchen, wie Klän 327 bestätigt (vgl. auch 332). Vorteilhaft wirkt sich bei einem solchen Sammelband die unterschiedliche Akzentsetzung und perspektivische Vielfalt der Autoren aus. Das liegt zum Teil an dem disziplinarischen Übergreifen von historischen Überblicken und Spezialuntersuchungen, über systematische Klassifizierung und Darstellung bis hin zur pastoralen und gottesdienstlichen Explikation und praktischen Anwendung. So kommen neben den bewährten Wortführern wie Herms, Großhans, Stolle, Theissen, Klän, Wenz und Ziegler auch eine Reihe von Nachwuchstheologen und -theologinnen wie Hund, da Silva, Barnbrock, Brunn, Grünhagen und Neddens zu Wort, die durch ihre gelungene Darlegung Hoffnung und Vorfreude auf die Fortführung der Debatte wecken, da sie ertragreiche Ergebnisse in Aussicht stellen und durchaus plausibel erscheinen lassen. Wilhelm Weber, Murrayfield