Literatur im pädagogischen Blick: Zeitgenössische Romane und erziehungswissenschaftliche Theoriebildung 9783839437230

How and in what way can literary texts also contribute to shedding light on aspects of the realities of learning and ped

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Literatur im pädagogischen Blick: Zeitgenössische Romane und erziehungswissenschaftliche Theoriebildung
 9783839437230

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Kunst als Deutung
Latente Diskriminierung und verdeckter Rassismus
»Ich möchte nur ein Gesicht haben«.
Die Spannung halten
Redevielfalt und der Widerstreit verschiedener Deutungs- und Sinnhorizonte in »Tauben fliegen auf«
Melinda Nadj Abonjs Roman »Tauben fliegen auf«. Eine erziehungswissenschaftliche Spurensuche
Die »ernsten Spiele der Männer« und die »Listen der Ohnmacht« von Frauen
»Ich nehme die zweite Tablette und beschließe, geheilt zu sein«. Notizen zu Wolfgang Herrndorfs Bilder deiner großen Liebe
Responsivität und Medialität in Bildungs- und Erfahrungsprozessen
Erziehung als realistische Erfahrung: Eine Deutung von Karl Ove Knausgårds Roman »Lieben«
Bildungsprozesse im Roman?
Autor*innen

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Bettina Kleiner, Gereon Wulftange (Hg.) Literatur im pädagogischen Blick

Theorie Bilden  | Band 40

Editorial Die Universität ist traditionell der hervorragende Ort für Theoriebildung. Ohne diese können weder Forschung noch Lehre ihre Funktionen und die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen. Zwischen Theorie, wissenschaftlicher Forschung und universitärer Bildung besteht ein unlösbares Band. Auf diesen Zusammenhang soll die Schriftenreihe Theorie Bilden wieder aufmerksam machen in einer Zeit, in der Effizienz- und Verwertungsimperative wissenschaftliche Bildung auf ein Bescheidwissen zu reduzieren drohen und in der theoretisch ausgerichtete Erkenntnis- und Forschungsinteressen durch praktische oder technische Nützlichkeitsforderungen zunehmend delegitimiert werden. Der Zusammenhang von Theorie und Bildung ist in besonderem Maße für die Erziehungswissenschaft von Bedeutung, da Bildung nicht nur einer ihrer zentralen theoretischen Gegenstände, sondern zugleich auch eine ihrer praktischen Aufgaben ist. In ihr verbindet sich daher die Bildung von Theorien mit der Aufgabe, die Studierenden zur Theoriebildung zu befähigen. Die Reihe Theorie Bilden ist ein Forum für theoretisch ausgerichtete Ergebnisse aus Forschung und Lehre, die das Profil des Faches Erziehungswissenschaft, seine bildungstheoretische Besonderheit im Schnittfeld zu den Fachdidaktiken, aber auch transdisziplinäre Ansätze dokumentieren. Die Reihe wird herausgegeben von Hannelore Faulstich-Wieland, Hans-Christoph Koller, Andrea Sabisch und Michael Wimmer, im Auftrag der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg.

Bettina Kleiner, Gereon Wulftange (Hg.)

Literatur im pädagogischen Blick Zeitgenössische Romane und erziehungswissenschaftliche Theoriebildung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: CL. / photocase.de Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3723-6 PDF-ISBN 978-3-8394-3723-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung  | 7 Kunst als Deutung Kreative Formung des Unbewältigten im interkulturellen Generationen- und Adoleszenzroman »Tauben fliegen auf« von M. Nadj Abonji Vera King | 21

Latente Diskriminierung und verdeckter Rassismus »Tauben fliegen auf« als gegenhegemoniale Erzählung Markus Rieger-Ladich | 43

»Ich möchte nur ein Gesicht haben«. »Tauben fliegen auf« gelesen als bildungsbiografische Gegenerzählung Anke Wischmann | 69

Die Spannung halten Erkundungen sprachlicher Formate jenseits der Wissenschaft Nadine Rose | 89

Redevielfalt und der Widerstreit verschiedener Deutungs- und Sinnhorizonte in »Tauben fliegen auf« Bettina Kleiner | 105

Melinda Nadj Abonjs Roman »Tauben fliegen auf«. Eine erziehungswissenschaftliche Spurensuche Gereon Wulftange | 129

Die »ernsten Spiele der Männer« und die »Listen der Ohnmacht« von Frauen Doing gender in Melinda Nadj Abonjis Roman »Tauben fliegen auf« Hannelore Faulstich-Wieland | 149

»Ich nehme die zweite Tablette und beschließe, geheilt zu sein«. Notizen zu Wolfgang Herrndorfs Bilder deiner großen Liebe Eine adoleszenz- und bildungstheoretische Analyse Kathrin Böker / Katarina Busch / Jessica Vehse | 169

Responsivität und Medialität in Bildungs- und Erfahrungsprozessen Andrea Sabisch | 187

Erziehung als realistische Erfahrung: Eine Deutung von Karl Ove Knausgårds Roman »Lieben« Jürgen Oelkers | 217

Bildungsprozesse im Roman? Eine Auseinandersetzung mit Hans-Christoph Kollers Konzept bildungstheoretischer Romanlektüre Rainer Kokemohr | 237

Autor*innen |  273

Einleitung Bettina Kleiner und Gereon Wulftange Verschiedene erziehungswissenschaftliche Beiträge verweisen seit Längerem darauf, dass literarische Texte ein spezifisches Erkenntnis- und Anregungspotenzial für pädagogisches Denken und Handeln enthalten (vgl. Baacke/ Schulze 1979, Oelkers 1985, Mollenhauer 2000, Koller 2014a, Rieger-Ladich 2014). Aber welcher epistemische Status kommt literarischen Texten in Bezug auf die erziehungswissenschaftliche Theoriebildung zu? In welchem Verhältnis stehen sie zu empirischen Daten wie etwa biographischen Interviews? Stellt Literatur eine Empirie eigener Ordnung dar? Und welche Anregungspotenziale bieten literarische Texte im Einzelnen? Literarische Texte thematisieren oftmals Phänomene, die sich in der Erziehungswissenschaft wenig erforscht und diskutiert finden (vgl. Koller 2014a: 341) und können somit auf blinde Flecken der Disziplin aufmerksam machen (vgl. Rieger-Ladich 2014: 362). Darüber hinaus ermöglichen sie auch einen besonderen Modus der (ästhetischen) Erfahrung, indem sie ein Resonanzgeschehen zwischen Buch und Leser*innen in Gang bringen, das neue Erkenntnisse freisetzen kann (vgl. Rieger-Ladich 2014: 356). Anders als in literaturdidaktischen Zugängen, in denen es vor allem um Fragen der Auswahl, Aufbereitung und Vermittlung sowie um bildende Dimensionen ästhetischer Texte in Unterrichtskontexten geht, stehen in der erziehungswissenschaftlichen Debatte solche inhaltlichen und ästhetischen Aspekte im Vordergrund, die ein neues oder anderes Nachdenken über Erziehung, Bildung, Sozialisation und damit zusammenhängende Fragen ermöglichen und anregen. Unter anderem hat Literatur dabei den ›Vorteil‹, dass sie erziehungswissenschaftlich relevante Themen in einer Art und Weise darzustellen vermag, die so nicht oder zumindest nicht ohne weiteres mit Hilfe der gängigen empirischen Methoden zugänglich ist.

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Hans-Christoph Koller begründet die erziehungswissenschaftliche Relevanz literarischer Texte unter anderem mit ihrem sprachlich-ästhetischen Potenzial. So verweist er darauf, »dass viele literarische Werke ähnliche Th ­ emen behandeln wie erziehungswissenschaftliche Theorien, sich aber von diesen durch die größere Anschaulichkeit, Konkretheit und Differenziertheit unterscheiden, mit der darin pädagogisch relevante Situationen und individuelle Erfahrungen beschrieben werden« (Koller 2012: 171). Anders als wissenschaftliche Texte, die vor allem Argumente entwickeln oder biographische Interviews, die vorrangig aus alltagssprachlichen Stegreiferzählungen bestehen, enthalten literarische Texte »dichte Beschreibungen« (Geertz 1987: 7ff) pädagogisch relevanter Situationen und individueller Erfahrungen. Das verweist darauf, dass das Erkenntnispotenzial literarischer Texte über die bloße »Illustration vorliegender pädagogischer Einsichten oder abstrakter Theorien« (Koller 2012: 171) hinausgeht und durch die Entwicklung von Lesarten und Interpretationen neue Erkenntnisse erschlossen und andere Perspektiven gewonnen werden können. Über den Inhalt eines Romans hinaus kommt daher der literarischen Form und den sprachlich-ästhetischen Mitteln bei der Lektüre eine besondere Aufmerksamkeit zu. Für Koller kann vor diesem Hintergrund das besondere Anregungspotential literarischer Texte vor allem dann ausgeschöpft werden, wenn über das was der Darstellung hinaus auch nach der Art und Weise gefragt wird, wie erzählt wird. Die Ebenen der Sprache und Sprachästhetik stellen mithin spezifische Analyseebenen dar – die sprachlichen Formen, die Inszenierung von Figuren, die Perspektiven und Stimmen, die Formen der Autor*innenschaft und das Arrangement einer Erzählung können zu erkenntniserweiternden Einsichten beitragen. Bezogen auf Gegenstände und Themengebiete zeigen sich zwischen Erziehungswissenschaft und Literatur sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede hinsichtlich der Frage, was innerhalb eines gemeinsamen Problemfeldes jeweils fokussiert wird. Koller weist auf die Entstehung und Entwicklung von Subjektivität als ein gemeinsames Gegenstandsfeld hin, das in literarischen Texten jedoch auf eine irritierende Art und Weise thematisiert wird. Denn Literatur beschreibt eher das Scheitern bzw. die negativen Wirkungen von Erziehung, wohingegen die Pädagogik seit dem 18. Jahrhundert die positiven Effekte erzieherischer Einwirkung betont (vgl. Koller 2012: 171). So kommt literarischen Texten neben ihrem erkenntniserweiternden auch das kritische Potential zu, »pädagogische Ambitionen zu entzaubern und optimistische Annahmen über erzieherische Wirkungen in Frage zu

Einleitung

stellen« (ebd.). Damit ist verbunden, dass literarische Texte, ihre Lektüre und Interpretation einen spezifischen Artikulationsraum eröffnen und besondere Artikulationsformen für Widerständiges und tendenziell Tabuisiertes ­ermöglichen. Indem sich Literatur für Spielarten des Scheiterns, für Krisen und Abgründe des Sozialen interessiert, so auch Markus Rieger-Ladich, bildet sie einen schmerzhaften Widerspart zur Pädagogik, die in Teilen immer noch die Auseinandersetzung mit unbequemen Sachverhalten scheut (vgl. Rieger-Ladich 2014: 262). Der vorliegende Sammelband ›Literatur im pädagogischen Blick‹ ist anlässlich des 60. Geburtstags von Hans-Christoph Koller entstanden und schließt an seine langjährige Beschäftigung mit zeitgenössischer Literatur in unterschiedlichen wissenschaftlichen Arbeitszusammenhängen an. Führt man sich Kollers wissenschaftliche Arbeit in inhaltlicher Hinsicht vor Augen, dann kristallisiert sich als eines seiner zentralen und übergeordneten Anliegen die Weiterentwicklung und Ausarbeitung einer empirisch gehaltvollen Theorie transformatorischer Bildungsprozesse heraus. Einen Ansatzpunkt für Kollers frühe Überlegungen bildete eine Reformulierung der klassischen Bildungstheorie von Humboldt und der kritischen Bildungstheorie von Adorno mithilfe von Lyotards diskurstheoretischen Arbeiten zum Widerstreit. Bildung in der Postmoderne bedeutet mit Koller die Anerkennung und das Offenhalten bzw. das Öffnen eines Widerstreits und die Erfindung neuer Diskursarten (vgl. Koller 1999). Die dann folgenden Untersuchungen zeichnen sich durch die interdisziplinäre Breite der Referenztheorien aus: So werden unter anderem soziologische, sozialphilosophische, philosophische, phänomenologische, psychologische und psychoanalytische Theorien systematisch danach befragt, was sie zu einer Bildungsprozesstheorie beitragen und worin ihre jeweiligen Grenzen bestehen (vgl. z.B. Koller 2012). Koller begreift Bildung als »einen Prozess der Transformation grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses angesichts der Konfrontation mit neuen Problemlagen« (Koller 2012: 17), für deren Be- und Verarbeitung bereits vorhandene Welt- und Selbstentwürfe nicht mehr ausreichen, so dass deren Veränderung herausgefordert wird. Kollers aktuelle Theorie transformatorischer Bildungsprozesse kennzeichnet zum Einen, dass sie krisenhafte Erfahrungen, Erfahrungen des Scheiterns, des Nicht-Artikulierbaren als eine Herausforderung oder einen Anlass für Bildungsprozesse in den Blick bringt. Bildung ist in dieser Perspektive weder gänzlich selbstbestimmt oder selbstverfügbar noch einfach pädagogisch herstellbar. Vielmehr legt Kollers Bildungsbegriff eine s­ keptische

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Perspektive auf Bildungsprozesse nah. Vor allem komme der Frage nach Bildung ermöglichenden oder verhindernden Bedingungen große Bedeutung zu. Darüber hinaus ist Kollers bildungstheoretischer Zugang dadurch gekennzeichnet, dass er Anschlussmöglichkeiten an empirische Untersuchungen eröffnet. Damit begegnet er einer seit der sozialwissenschaftlichen Wende der Erziehungswissenschaft zentralen Kritik am Bildungsbegriff, dass dieser nämlich empirisch nicht anschlussfähig sei (vgl. z.B. Ode 2014: 7). Hinsichtlich der empirischen Erforschung von Bildungsprozessen lassen sich vor allem zwei Arten von ›empirischem Material‹ benennen, mit denen sich Koller immer wieder beschäftigt hat: Zum einen handelt es sich um biographische Erzählungen, wie sie insbesondere im Rahmen narrativer Interviews entstehen und zum anderen um zeitgenössische Romane. In beiden Zusammenhängen thematisiert er auch immer wieder die sozialen und psychischen Bedingungen, die für das Zustandekommen von Bildungsprozessen bedeutsam sind. Die verstärkte Beschäftigung mit literarischen Texten als Quelle erziehungswissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung zeigt sich auch in der Herausgabe der Reihe ›Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane‹. Wir haben uns entschieden, diese Akzentsetzung im Rahmen des vorliegenden Bandes aufzugreifen, selbstverständlich nicht nur, aber auch deshalb, weil die Beschäftigung mit zeitgenössischen Romanen zu Hans-Christoph Kollers Leidenschaften zählt. Das Anliegen dieses Buches besteht darin, an einen der inhaltlichen Schwerpunkte von Hans-Christoph Kollers Arbeit der letzten Jahre anzuknüpfen und das in der Form jener Arbeitskultur anzugehen, die wir seit Längerem in verschiedenen Diskussions- und Arbeitszusammenhängen mit und durch Hans-Christoph Koller kennen und schätzen gelernt haben. Kennzeichnend für diese Kultur der Zusammenarbeit ist unter anderem ein ausgeprägtes Interesse an pluralen, vielleicht auch widerstreitenden Perspektiven auf erziehungswissenschaftliche Themenfelder, empirische Materialien und damit verbunden ein hohes Maß an grundsätzlicher Offenheit und Wertschätzung für ganz verschiedenartige Zugänge zu Phänomenen, die in der Erziehungswissenschaft als Erziehung, Bildung und Sozialisation angesprochen werden. Die Artikulation von Verschiedenheit, ggf. auch Dissens möglich zu machen, ohne verschiedenartige Perspektiven in einen Konsens zu überführen, verstehen wir also als einen ganz zentralen Aspekt dieser Arbeitskontexte. Der vorliegende Band knüpft an die Pädagogischen Lektüren zeitgenössischer Romane an, die Hans-Christoph Koller gemeinsam mit Markus

Einleitung

Rieger-Ladich herausgegeben hat und verfolgt das Ziel, die erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit literarischen Texten fortzusetzen. In Bezug auf den vorliegenden Band wurden den Beiträger*innen jedoch anders als in den Pädagogischen Lektüren vorab zwei Romane vorgeschlagen, zu denen sie eingeladen wurden, erziehungswissenschaftliche Perspektiven zu entwickeln. Als Untersuchungsgegenstände wurden der Roman Tauben fliegen auf von Melinda Nadj Abonji und der unvollendete Roman Bilder Deiner großen Liebe von Wolfgang Herrndorf angeboten. Diese beiden Romane wurden unter dem Gesichtspunkt ausgewählt, dass sie möglichst vielfältige erziehungswissenschaftliche Blickrichtungen ermöglichen, eine anregende und anspruchsvolle sprachlich-ästhetische und narrative Form aufweisen und aktuelle gesellschaftskritische Debatten aufgreifen. Während im Mittelpunkt von ›Tauben fliegen auf‹ die transgenerationale Verarbeitung von Migrationsund Fluchterfahrungen steht, lässt sich ›Bilder deiner großen Liebe‹ als Wanderungs- und Entwicklungsprozess einer in mancherlei Hinsicht ver-rückten Protagonistin beschreiben. Sowohl zu einem anderen Roman von Wolfgang Herrndorf (nämlich ›Tschick‹) als auch zu ›Tauben fliegen auf‹ liegen bereits erziehungswissenschaftliche Lektüren von Hans-Christoph Koller vor (vgl. Koller 2014b; Koller 2017). Diesen stellt der vorliegende Band neue und weitere Lektüren zur Seite und trägt auch dadurch dazu bei, Lesarten zu konkreten Romanen und Überlegungen zu der Frage, welches Potenzial literarische Texte für erziehungswissenschaftliche Debatten haben, zu vervielfältigen. Ein Großteil der Beiträge bezieht sich nun auf diese beiden Romane, wobei sehr verschiedene Lesarten entstehen, die sich teilweise wechselseitig kommentieren, ergänzen und in einen Dialog oder Polylog miteinander treten. So werden in dem vorliegenden Band rassismuskritische, gendertheoretische, adoleszenztheoretische und medientheoretische Perspektiven sowie literaturwissenschaftlich angeregte, narratologisch interessierte und bildungstheoretisch orientierte Beiträge versammelt. Diese Beiträge, die sich als vielstimmige Lektüren der beiden Romane beschreiben lassen, werden ergänzt durch weitere Zugänge, die eine eher systematische Perspektive auf Literatur entwickeln. Der Band wird eröffnet mit einem Beitrag von Vera King. Sie untersucht mithilfe von kulturwissenschaftlichen, psychoanalytischen und erziehungswissenschaftlichen Ansätzen Möglichkeiten der adoleszenten Neugestaltung in einer transgenerationalen Migrationsgeschichte im Roman ›Tauben fliegen auf‹. Die besondere Bedeutung von Kunstwerken, darunter auch Romanen, so Vera King, liegt für die Sozial- und Bildungswissenschaften darin, dass sie

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paradigmatische Auseinandersetzungen mit Logiken der Krisenbewältigung und Kreativität ermöglichen. Mithilfe von Literaturinterpretation können so Deutungen rekonstruiert werden, die das Werk über ästhetische Formen zur Geltung bringt und die empirisch gemeinhin nicht leicht zugänglich sind. Vera King macht die transgenerationale Weitergabe des Unbewältigten, versteinerte Trauer sowie Abgrenzungs- und Differenzierungsprozesse der beiden Töchter der Kocsics als zentrale Themen in ›Tauben fliegen auf‹ aus. Bleiben die heranwachsenden Kinder den unbewältigten Themen der Eltern, ihren Schmerzen, Verlusten, ihren Verletzungen durch Diskriminierung, ihrer Angst, verhaftet, oder finden sie einen eigenen Raum zur Bewältigung und zur notwendigen inneren Differenzierung? Wie prägen solche Erfahrungen die Adoleszenz der Kindergeneration und die ›interkulturelle‹ ­Positionierung der Töchter Ildikó und Nomi? Vera King zeichnet in ihrem Beitrag die Schmerzen und Verluste der Eltern nach, aber auch ihre Bemühungen, sich in der Schweiz anzupassen. Aus Ildikós Perspektive rückt hingegen der Preis der Anpassung immer mehr ins Licht, was schließlich zu einem Eklat führt. Im Kontext ihrer Überlegungen zur Adoleszenz im Rahmen von transgenerationalen Migrationserfahrungen arbeitet Vera King einen Kulturbegriff heraus, der sich grundlegend von einem starren, nationalkulturellen Konzept (Herkunftskultur vs. Ankunftskultur) abgrenzen lässt. Kultur ist demnach der Migration nicht vorgelagert, sondern wird durch Migrationserfahrungen erst hervorgebracht: nämlich durch spezifische Deutungs- und Sinnfiguren, symbolische Bewältigungs- und Praxisformen und Neugestaltungen der Sprache, die sich erst im Zuge der Wanderungsbewegungen ereignen. Markus Rieger-Ladich befragt den Roman ›Tauben fliegen auf‹ ausgehend von dem Text ›We Refugees‹ von Hannah Ahrendt danach, inwiefern darin Geschichten und Erfahrungen erzählt werden, die in der deutschsprachigen erziehungswissenschaftlichen Thematisierung von Kultur vernachlässigt werden: (Wie) Werden in Nadj Abonjis Erzählung möglicherweise tabuisierte Erfahrungen des Verlusts, der Demütigung und der rassistischen Diskriminierung thematisch? Und stellen sie einen Gegendiskurs zu dominanten Erzählmustern dar? Er geht mit Arendt davon aus, dass Flucht als eine massive Form der Beraubung und des Verlusts erlebt wird, dass Geflüchtete stets prekär situiert sind und ein breites Spektrum an Artikulationsmöglichkeiten eingebüßt haben. Literatur kann einen spezifischen Zugang zu solchen komplexen Konstellationen bieten. Literarische Texte setzen sich in Form komplexer ästhetischer Übersetzungsprozesse mit dem Erleben von Flucht und Migration auseinander, die bei der Lektüre berücksichtigt werden m ­ üssten.

Einleitung

Markus Rieger-Ladich rekonstruiert dann an ausgewählten Romanszenen zum einen die ›Mikropolitik der Missachtung‹ wie auch Erfahrungen komplexer Gemengelagen der Diskriminierung, mit denen Ildikó und ihre Familie konfrontiert sind. Gleichzeitig gewährt der Roman laut Markus Rieger-Ladich Einblicke in das Seelenleben der Elterngeneration, die zwar in der Schweiz nicht unbedingt das eigene Glück findet, aber doch hofft, den Kindern eine bessere Zukunft bieten zu können. Folglich finden sich darin durchaus einige jener anderen Geschichten, die es zu erzählen und zu archivieren gilt: Solche literarischen Texte stellen einen Bestandteil des vielstimmigen Archivs dar, das die Vertreter*innen des pädagogischen Diskurses mit unbequemen Einsichten konfrontiert und zu Skepsis gegenüber der Rede von Chancengleichheit anhält. Anke Wischmann geht in ihrer Auseinandersetzung mit Melinda Nadj Abonjis ›Tauben fliegen auf‹ davon aus, dass dieser Roman als eine Erzählung gegen ein Bildungsverständnis gelesen werden kann, das Macht und Diskriminierungsverhältnisse nicht oder nicht hinreichend berücksichtigt. Sie fragt deshalb nicht danach, ob und wie sich ein Bildungsprozess der Hauptfigur Ildikó oder dessen Verhinderung rekonstruieren lässt, sondern vielmehr danach, wie sich die Protagonistin zu den oft impliziten Anforderungen positioniert, die mit der hegemonialen Mehrheitsperspektive auf Bildung und deren Setzungen verbunden sind. Wischmann nutzt in diesem Zusammenhang die Methode der ›Gegenerzählung‹ (counter-narratives), um den Roman gegen die großen deutschsprachigen Erzählungen der (adoleszenten) Bildung zu lesen, was zu Anregungen für die Bildungsforschung im Kontext sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit führen soll. Sie arbeitet anhand verschiedener Romanszenen unter anderem heraus, dass Ildikó die Position einer Migrationsanderen zugeschrieben wird, was auch dazu führt, dass sie nicht als gebildet anerkannt wird. Gleichzeitig wird die These vertreten, dass Ildikó offensive und widerständige Handlungsweisen im Umgang mit den verschiedenen Macht- und Diskriminierungsverhältnissen findet, die im Roman zur Sprache gebracht werden. Nadine Rose nähert sich dem Roman ›Tauben fliegen auf‹ mit einer besonderen Aufmerksamkeit für sprachlich-ästhetische Mittel, in denen sich Spannungsverhältnisse artikulieren. Diese Verhältnisse ergeben sich aus der Verbundenheit mit dem Herkunftsland und der Familie auf der einen und der Assimilationserwartung im Ankunftsland Schweiz auf der anderen Seite. Nadine Rose macht ›Verdoppelungen‹ und ›Kippbilder‹ als zentrale literarische Mittel aus, in denen sich unterschiedliche Formen dieser Spannung

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ausdrücken. So zeichnet sie anhand einer eindrücklichen Szene aus dem Roman nach, dass und wie die Figur der Verdoppelung eine Aufspaltung des erzählenden Subjekts ausdrückt, die wiederum eine Zeigegeste ermöglicht: Das ›Ich‹ verweise damit auf ein anderes ›Ich‹ und diese Verdoppelung des Subjekts, so Nadine Rose, deutet auf die Spannung zwischen Anpassung, Distanzierung und gleichzeitigem Widerstandspotenzial hin. Die ›Kippbilder‹ wiederum verweisen auf das Kippen von Werten, auf das Vorhandensein zweier widersprüchlicher Wertesysteme, in denen sich die Ich-Erzählerin orientieren muss. Gerade aufgrund der Eindrücklichkeit und Eigensinnigkeit solcher sprachlicher Mittel und aufgrund der im Roman zum Ausdruck kommenden emotionalen Ambivalenzen, beinhalten Erkundungen von Spannungen, Ambivalenzen und ihren möglichen Artikulationsformen ein anregendes Potenzial für bildungstheoretische Überlegungen. Bettina Kleiner setzt sich in ihrem Beitrag mit der spezifischen Inszenierung von Redevielfalt und Vielstimmigkeit in Melinda Nadj Abonjis Roman »Tauben fliegen auf« auseinander und entfaltet in diesem Zusammenhang die These, dass widerstreitende Diskurse und Verhältnisse das Leben und die Sozialisation der Protagonistin Ildikó ermöglichen und begrenzen. Nach einer Erläuterung der erziehungswissenschaftlichen Relevanz dieses Romans werden einige zentrale Begriffe von Michail Bachtins Literaturtheorie vorgestellt, so zum Beispiel seine Konzeption von Dialogizität, Redevielfalt und Vielstimmigkeit, die ebenso kennzeichnend für den zeitgenössischen Roman seien wie das, was Bachtin ›hybride Konstruktionen‹ nennt. Nach der Erläuterung dieses theoretischen Rahmens wendet sich Bettina Kleiner der Interpretation zweier Romanauszüge zu und arbeitet heraus, wie die Inszenierungen der Redevielfalt Ildikós Verhältnis zu den unterschiedlichen Diskursen abbildet, in denen sie sich bewegt und wie sich ihr Welt- und Selbstverhältnis zwischen widersprüchlichen Diskursen konstituiert und verändert. In diesem Zusammenhang wird auch eine bemerkenswert andere Artikulation von Kritik herausgearbeitet, die diesen Roman auszeichnet und die gerade nicht darin besteht, Gegenreden zu führen oder Urteile zu fällen, sondern vielmehr darin, neuen Ideen phantasievoll zum Dasein zu verhelfen. Abschließend werden in einem Ausblick die Potenziale der Bachtin’schen Theorie für die Rekonstruktion und Analyse anderer sprachlicher Materialien angedeutet, wie z.B. Alltagsgespräche oder narrative Interviews, die zu Forschungszwecken geführt werden und Bettina Kleiner thematisiert die Frage, was erziehungswissenschaftliche Forschung vor diesem Hintergrund von Literaturwissenschaft und Linguistik ›lernen kann‹.

Einleitung

Gereon Wulftange untersucht den Roman ›Tauben fliegen auf‹ im Zuge einer ›erziehungswissenschaftlichen Spurensuche‹ auf erziehungswissenschaftlich relevante Themen. Er macht den Umgang der Ich-Erzählerin mit Zuschreibungen durch die Familie und durch die Schweizer Gesellschaft sowie die Geschehnisse rund um den Konflikt mit den Eltern anlässlich der mit »Scheisse verschmierten Toilette« im Café Mondial als in dieser Hinsicht bedeutsame Aspekte der Erzählung aus. In Anlehnung an Judith Butlers Theorie der Performativität und Subjektivation rekonstruiert Gereon Wulftange zunächst verschiedene Umgangsweisen der Schwestern Ildikó und Nomi mit den unterschiedlich gelagerten Zuschreibungen innerhalb der Familie und durch die Schweizer Gesellschaft. Mithilfe einer Feinanalyse einzelner Romanpassagen arbeitet er heraus, dass Ironie und Hyperbel als diejenigen sprachlichen Mittel verstanden werden können, kraft derer Kontexte verändert und eine Resignifizierung potenziell verletzender Zuschreibungen möglich wird. Solche Bedeutungsverschiebungen und die Eröffnung anderer Bedeutungshorizonte zeigen sich jedoch bezogen auf Zuschreibungen durch die Schweizer Cafégäste auch durch andere sprachliche und literarische Strategien: So weisen kunstvolle pronominale Konstruktionen und musikalische Kompositionen von Textpassagen auf Umdeutungen hin. Ein Bildungsprozess deutet sich laut Gereon Wulftange zum Ende des Romans und anlässlich der Auseinandersetzung zwischen Ildikó und ihren Eltern an: Die zunächst in den Resignifizierungen anklingenden reflexiven Distanznahmen finden schließlich auch eine handlungspraktische Umsetzung in Ildikós Auszug aus dem Elternhaus, womit sich eine Transformation ihrer Welt- und Selbstverhältnisse andeute. Hannelore Faulstich-Wieland wendet sich in ihrem Beitrag der Frage zu, wie Geschlechterverhältnisse (auch vor dem Hintergrund der historischen und politischen Entwicklungen in der Schweiz und in Serbien) im Roman ›Tauben fliegen auf‹ thematisiert und wie und inwiefern sie reflektiert werden. Sie arbeitet im Rekurs auf die Theorien von Pierre Bourdieu, Candace West und Don Zimmerman sowie Harold Garfinkel drei Formen der Präsentation von Geschlechterverhältnissen im Roman heraus: a) Die Bedeutung von Aussehen und Kleidung für doing gender, b) die ernsten Spiele der Männer: harte Arbeit, Technik und Politik als Männerangelegenheiten und c) die Listen der Ohnmacht als Strategien der Frauen. So zeigt sie am Beispiel einzelner Szenen aus dem Roman auf, wie die Kleidung der Mädchen (Ildikó und Nomi) dazu dient, sich als Jugendliche zu inszenieren, kulturelle und soziale Positionen deutlich zu machen und eine Abkehr von starren Regeln zu

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e­ rmöglichen. Bei der Arbeit im Café wiederum ergibt sich der Dresscode aus den am weiblichen Geschlecht orientierten Erwartungen. In die ernsten Spiele der Männer (Politik, Technik und harte Arbeit) sind die Frauen im Roman nicht eingebunden: Teilhabe ist hier nur möglich durch familiäre oder emotionale Beziehungen zu den Männern. Hannelore Faulstich-Wieland zeichnet sodann die Strategien der Frauen nach, mit denen sie im Rahmen der relativ getrennten Geschlechtersphären versuchen, Einfluss zu nehmen. Diese Strategien ermöglichten zwar, die Balance zwischen männlicher Vorherrschaft und dem Durchsetzen eigener Wünsche zu halten. Zeigen sie aber auch eine Reflexion oder gar Veränderung einer hierarchischen Geschlechterordnung? Kathrin Böker, Katarina Busch und Jessica Vehse nehmen eine adoleszenzund bildungstheoretisch informierte Lektüre des Romans ›Bilder deiner großen Liebe‹ von Wolfgang Herrndorf vor. Auch die Form des Romans, so die Autor*innen, korrespondiert mit adoleszenten Prozessen insofern als Kapitelstruktur und Ausdrucksform fragmentarischen und experimentellen Charakter aufweisen. An der zentralen Figur Isa zeigen sie Charakteristika weiblicher Adoleszenz und Bildungspotenziale auf. Mit Arbeiten von Vera King und Hans-Christoph Koller davon ausgehend, dass Adoleszenz einen psychosozialen Möglichkeitsraum darstellt (King) und dass die Bewältigung von Krisenhaftem in der Adoleszenz als Bildungsprozess verstanden werden kann (Koller), beschreiben die Autor*innen zunächst den Möglichkeitsraum von Isa als vorrangig durch Abwesenheiten geprägten: Isas Wanderung lässt sich so als Auseinandersetzung mit Herausforderungen der Adoleszenz betrachten. Die Abwesenheit sorgender und kontinuierlicher Beziehungen und die Abwesenheit geschützter Räume, um sich mit körperlichen Veränderungen auseinander zu setzen, resultiert in einer spezifischen Ausgesetztheit und Gefährdung in Begegnungen mit anderen Menschen. Am Roman werden die Strategien herausgearbeitet, mit denen Isa versucht, den adoleszenten Herausforderungen und Ohnmachtserfahrungen zu begegnen und die damit verbundenen Potenziale für transformatorische Bildungsprozesse werden aufgezeigt. Andrea Sabisch geht in ihrem Beitrag der Frage nach, wie Medien an Bildungsprozessen beteiligt sind und inwiefern Medialität bildungstheoretisch relevant werden kann. Sie nähert sich einer skizzenhaften Beantwortung dieser Fragen, indem sie zunächst Bernhard Waldenfels‘ Erfahrungskonzeption nachzeichnet, um die Bedeutung des Medialen für transformatorische Bildungsprozesse herauszustellen. Andrea Sabisch vertritt im weiteren Verlauf die These, dass das kreative Antworten, wie es von Waldenfels gedacht und

Einleitung

bildungstheoretisch gewendet wird, konstitutiv an eine spezifische Medialität als Zwischeninstanz gekoppelt ist. Anders formuliert: Transformationsprozesse, die mit Waldenfels als Formungen im Übergang verstanden werden können, sind immer auch medial gebunden. Im Anschluss an Überlegungen von Waldenfels und Derrida arbeitet sie heraus, dass Medien nicht nur der Wiedergabe und Weitergabe vorgegebener Erfahrungsgehalte dienen, sondern vielmehr an der Ermöglichung von Erfahrung beteiligt sind und mehr noch, als entscheidende Zwischeninstanzen dynamische Ordnungsbildungen bahnen. Andrea Sabisch begreift ›Erfahrung‹ in diesem Zusammenhang als einen Prozess, in dem die Medialität zum dynamischen Scharnier ­zwischen einer kreativen Responsivität und einer responsiven Kreativität wird. An diesem Punkt stellt sich für sie auch die Frage nach dem Bereicherungspotenzial von Literatur für die Erziehungswissenschaft, weil Literatur an eine spezifische Medialität gebunden ist, durch die hindurch etwas anders gesagt und gezeigt werden kann als dies z.B. durch Bilder geschieht. So wird nicht nur anderes zum Thema, sondern Andersartiges, d.h. andere medienspezifische und medienabhängige Ordnungen werden organisiert und inszeniert. Im weiteren Verlauf wird eine Reihe von Argumenten für eine stärkere Akzentuierung der spezifischen Medialität entfaltet, die sowohl die erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit literarischen Texten als auch Andrea Sabischs Forderung einer stärkeren bildungstheoretischen Reflexion von Medialität begründen. Jürgen Oelkers setzt sich in seinem Beitrag mit der Frage auseinander, wie sich Erfahrungen mit Erziehungssituationen so beschreiben lassen, dass sie als ›realistisch‹ gelten können. Einen Ausgangspunkt seiner Überlegungen bilden die starken Idealisierungen, die nicht nur die öffentliche Sprache über Erziehung kennzeichnen, sondern auch die empirische Forschung, die als idealgetrieben markiert wird. Jürgen Oelkers problematisiert, dass gerade die öffentlichen Idealisierungen zu Reflexionsbeschränkungen und häufig zu Denkverboten führen, die eben dort greifen, wo die realen Erfahrungen mit Erziehung diesen Idealisierungen nicht entsprechen. In diesem Zusammenhang setzt sich Jürgen Oelkers mit dem norwegischen Schriftsteller Karl Ove Knausgård auseinander, der mit seinem autobiographischen Mammutprojekt als radikaler Tabubrecher gilt und in seinem zweiten Roman mit dem Titel ›Lieben‹ die vielfältigen Ambivalenzen von Erziehung zur Sprache bringt, die oft in scharfem Kontrast zu den pädagogischen Idealisierungen stehen. In der Rekonstruktion und Interpretation verschiedener Erziehungsszenen wird der alltägliche, reale ›Erziehungswahn‹ vorgeführt, Erfahrungen mit

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einem hohen Grad an Uneindeutigkeit, die sich nicht mit Theorien erfassen lassen, über die aber vielleicht Romane belehren können. Rainer Kokemohr setzt sich in seinem Beitrag im Interesse an einer Bildungsprozesstheorie, das ihn seit langem mit Hans-Christoph Koller verbindet, in konstruktiv-kritischer Absicht mit dessen Konzept bildungstheoretischer Romanlektüre auseinander. Rainer Kokemohr prüft in seinem Beitrag, ob und inwiefern anhand von Romanen, in Wahrung ihres spezifischen Zeichencharakters, Aussagen über Bildungsprozesse gemacht werden können. Es geht in diesem Zusammenhang nicht zuletzt darum, den Horizont der erkenntnistheoretischen Fragen zu präzisieren und zu erweitern. Zu diesem Zweck setzt er sich zunächst kritisch mit Kollers bildungstheoretischer Interpretation von Imre Kertesz‘ ›Roman eines Schicksallosen‹ auseinander. In einem nächsten Schritt werden narratologische Begriffe entfaltet, die die Analyse, Rekonstruktion und Interpretation des Romans erleichtern und die dazu beitragen sollen, den narratolgischen Ort von möglichen Bildungsprozessen im Roman zu bestimmen und damit auch etwas über das bildungstheoretische Erkenntnispotential von Romanen auszusagen erlauben. Rainer Kokemohr greift hierzu auf die ›Elemente der Narratologie‹ des Slavisten Wolf Schmid zurück und auf dessen Modell der Kommunikationsebenen des Romans, um unter anderem Schmids Unterscheidung zwischen konkretem Autor, abstraktem Autor und fiktivem Erzähler bildungstheoretisch fruchtbar zu machen. Diese Unterscheidungen ermöglichen es Rainer Kokemohr zu begründen, warum Bildung als Prozess sich nicht innerhalb der Instanz des fiktiven Erzählers vollziehen kann, sondern im narratologischen System an anderem Ort zu suchen wäre. Mit diesem abstrakt gewonnenen Argument wendet sich Rainer Kokemohr erneut Hans-Christoph Kollers Interpretation des Kertesz-Romans zu, um anschließend eine alternative Interpretation vorzuschlagen, die in anderer Weise als bei Hans-Christoph Koller einen möglichen Bildungsprozess andeutet, der dem Leser aufgegeben ist. Unser herzlichster Dank gilt allen Autor*innen, die zum Zustandekommen dieses Buches beigetragen haben, sowie Henning Grabbert und Julian Jäger, die die Beiträge Korrektur gelesen haben. Ebenso möchten wir Janes Heuer danken, der gleichfalls bei der Korrektur der Beiträge mitgearbeitet hat und im vergangenen Jahr bei einem tragischen Autounfall plötzlich und völlig unerwartet ums Leben gekommen ist und an den wir in diesem Moment deshalb ganz besonders denken. Für das Erstellen von Satz und Layout möchten wir Manfred Steger unseren herzlichen Dank aussprechen! Außerdem danken wir der Fakultät für

Einleitung

Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg sehr herzlich dafür, dass sie diese Publikation unterstützt und finanziell ermöglicht hat.

L iteratur Baacke, Dieter/Schulze, Theodor (1979) (Hg.): Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens. Weinheim/München: Juventa ­Verlag. Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Koller, Hans-Christoph (1999): Bildung und Widerstreit. Zur Struktur biographischer Bildungsprozesse in der (Post-)Moderne. München: Fink. Koller, Hans-Christoph (2012): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer. Koller, Hans-Christoph (2014a): Bildung als Textgeschehen. Zum Erkenntnispotenzial literarischer Texte für die Erziehungswissenschaft. In: Zeitschrift für Pädagogik 60 (2014), Heft 3, S. 333-349. Koller, Hans-Christoph (2014b): Bildung unter den Bedingungen kultureller Pluralität. Zur Darstellung von Bildungsprozessen in Wolfgang Herrndorfs Roman »Tschick«. In: Rosenberg, Florian von/Geimer, Alexander (Hg.): Bildung unter Bedingungen kultureller Pluralität. Wiesbaden: Springer VS, S. 41-57. Koller, Hans-Christoph (2017): Zum Erkenntnispotential literarischer Texte für die Erforschung intergenerationaler Beziehungen. In: Böker, Kathrin/ Zölch, Janina (Hg.): Intergenerationale Qualitative Forschung. Theoretische und methodische Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS, S. 131-145. Koller, Hans-Christoph/Rieger-Ladich, Markus (2005) (Hg.): Grenzgänge. Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane. Bielefeld: transcript. Koller, Hans-Christoph/Rieger-Ladich, Markus (2005) (Hg): Grenzgänge. Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane. Bielefeld: transcript. Koller, Hans-Christoph/Rieger-Ladich, Markus (2009) (Hg): Figurationen von Adoleszenz. Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane II. Bielefeld: transcript. Koller, Hans-Christoph/Rieger-Ladich, Markus (2013) (Hg.): Vom Scheitern. Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane III. Bielefeld: transcript. Mollenhauer, Klaus (2000): »Über die Schwierigkeit von Leuten zu erzählen, die nicht recht wissen, wer sie sind«. Einige bildungstheoretische Motive

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Bettina Kleiner und Gereon Wulftange

in Romanen von Thomas Mann. In: Dietrich, Cornelie/Müller, Hans-Rüdiger (Hg.): Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer weiterdenken. München: Juventa, S. 49-72. Ode, Erik (2014): Kontinuitäten und Brüche. Der klassische Bildungsbegriff nach der empirisch-sozialwissenschaftlichen Wende. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. Heft 1. 90. Jg. Paderborn, S. 4-16. Oelkers, Jürgen (1985): Die Herausforderung der Wirklichkeit durch das Subjekt. Literarische Reflexionen in pädagogischer Absicht. Weinheim/ München: Juventa. Rieger-Ladich, Markus (2014): Erkenntnisquellen eigener Art. Literarische Texte als Stimulanzien erziehungswissenschaftlicher Reflexion. In: Zeitschrift für Pädagogik 60 (2014), Heft 3, S. 350-367

Kunst als Deutung Kreative Formung des Unbewältigten im interkulturellen Generationen- und Adoleszenzroman »Tauben fliegen auf« von M. Nadj Abonji Vera King

D eutungsmacht der Kunst – L iteraturanalyse in B ildungs und S ozialisationsforschung Die künstlerische Gestaltung eines Sujets repräsentiert eine potenziell Konventionen transzendierende und verschiedene Dimensionen von Wahrnehmung, Anschauung und Fühlen ansprechende, eigensinnige Deutung des Sozialen. Kunstwerke können nicht nur Zugang zu neuen Formen des Erlebens und Wahrnehmens eröffnen, sondern auch das konventionell Ausgeblendete thematisieren, dem kulturell Unsagbaren oder Unbewältigten besonderen Ausdruck verleihen. Sie bieten somit neue Anschauung und Erkenntnisse über Konstitution und Konflikthaftigkeit von Subjektivität, über Bildungsprozesse und soziale Welten. Die künstlerische Gestaltung dieser Themen gewinnt eben dadurch ihre besondere Relevanz auch für Bildungs- und Sozialwissenschaften. Methodologisch ist die Auseinandersetzung mit Literatur – so eine zentrale These dieses Beitrags – im Kern als eine Deutung der Deutung fassbar. Man könnte auch sagen: Literaturinterpretation ist dann als eine Rekonstruktion derjenigen Deutung zu verstehen, die das Werk über seine ästhetische Formung des Gegenstands selbst zur Geltung bringt (King 2013). Literaturanalysen als Quelle, Gegenstand und spezifische Form der Erkenntnis finden sich in verschiedenen Ausrichtungen der Sozial-, Kultur- und Erziehungs- oder Bildungswissenschaften. Kuzmics und Mozetic (Kuzmics/ Mozetic 2003) beispielsweise verweisen auf die Relevanz, die der Analyse von

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Literatur in der Geschichte der Soziologie zukommt, und entwickeln einen Ansatz, bei dem es im Kern darum geht, die »implizite Soziologie eines Werkes freizulegen« (ebd.: 56). Literatur kann in diesem Sinne als »Seismograph« (Priem 2009), als »analytische Beschreibung und Interpretation des Sozialen« (Kuzmics/Mozetic 2003: 32) aufgefasst werden. Ähnlich sieht Böhme (Böhme 1998) Literatur als eine »besondere Thematisierungs‐ oder Perspektivierungsstrategie, durch die Bedeutungen erzeugt werden« (ebd.: 478), als »Form der Selbstbeobachtung von Gesellschaften« (ebd.). In diesem Sinne initiieren literarische Erzeugnisse potenziell Erkenntnisse und Bildungsprozesse des Rezipienten (vgl. Koller 2014a, b). Und indem »viele literarische Werke ähnliche Themen behandeln wie erziehungswissenschaftliche Theorien« (Koller 2012: 171), erweitern sie auch die wissenschaftliche Sicht auf Subjektivität. Kunstwerke bieten insbesondere, so eine der zentralen Annahmen, Zugänge zu den subtilen Verknüpfungen der Ebenen des Sozialen und Individuellen, des Kulturellen und Psychischen, die jeden individuellen Bildungsprozess, jede Ontogenese oder jegliche Sozialisation im Kern ausmachen. Diese Vermittlungen von sozialen Strukturen und Konstitutionsprozessen des Psychischen, die spezifischen Ausdruck in der Gestaltung der Biographie finden, stellen sowohl theoretisch als auch empirisch eine hohe Anforderung dar. Gilt es doch als eines der schwierigsten Unterfangen, etwa den Niederschlag und die Auswirkungen sozialer Wandlungen auf der Ebene der Subjektbildungsprozesse zu rekonstruieren – und dabei auch der Eigenlogik des Gesellschaftlichen ebenso wie der des Psychischen gerecht zu werden (vgl. King 2010). Aus der Sicht der Sozial- und Bildungswissenschaften liegt daher die Bedeutung von Kunstwerken nicht allein im Interesse an der Analyse des Künstlerischen als solchem begründet, sondern im Besonderen auch in der paradigmatischen Auseinandersetzung mit Logiken der Krisenbewältigung und Kreativität. Die Analyse der »Entstehung des Neuen« (King 2002) bildet insofern einen Schwerpunkt der Sozialisations- und Bildungsforschung (vgl. Koller 2009), als eben die »menschliche Sozialisation« (Oevermann 2003: 129) den »zentralen Ort der Erzeugung des Neuen« (ebd.) darstellt. Wie Oevermann betont, sei die Ontogenese »ein in sich zukunftsoffener Prozess der kumulativen Krisenbewältigung par excellence. […] Die Konstitution von Erfahrung ist von diesem Prozess der Erzeugung des Neuen durch Sozialisation eine wichtige Komponente. Und wenn man sie untersuchen will, dann empfiehlt es sich, das künstlerische Handeln als ihre gesteigerte Form zum privilegierten Untersuchungsfeld zu wählen.« (ebd.: 129f.) Dabei wären

Kunst als Deutung

zugleich die unterschiedlichen Varianten der Entstehung des Neuen in differenten sozialen Feldern zu beachten. Auch für das Verständnis interkultureller Neugestaltungen in transgenerationalen Migrationsgeschichten bietet die Analyse von Kunstwerken vielversprechende Zugänge.

D ie erzählte Familiengeschichte: H eimat und M igration , Verletzungen und A ufbrüche Gegenstand des Romans »Tauben fliegen auf« von Melinda Nadj Abonji sind Geschichte, Lebenssituationen und Beziehungen einer Familie, die in Serbien, in der Vojvodina, der ungarischen Minderheit angehörte und in die Schweiz ausgewandert ist. Zunächst migrierten die Eltern, später die beiden Töchter, die zunächst bei der Großmutter »Mamika« blieben. Erzählt wird aus der Perspektive der ältesten Tochter, der jungen Frau Ildiko, die ihre eigene Biographie und die ihrer Schwester Nomi vor dem Hintergrund der Familiengeschichte entfaltet, in Rückblicken auch die der Eltern, die ihnen zu großen Teilen über Erzählungen der Großmutter bekannt geworden ist: eine Erzählung, die den Lücken und Brüchen, den Ambivalenzen und Rätseln, den Sprüngen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und erhofften oder befürchteten Zukünften, zwischen Herkunfts- und Ankunftsorten, eine eigenwillige sprachliche und herausfordernde literarische Form gibt. Eines der Rätsel, die dabei im Laufe des Romans herausgearbeitet und teilweise beantwortet zu werden scheinen, ist die Frage, warum die Eltern überhaupt ausgewandert sind, welche Verletzungen sie erlebt haben und welche traumatischen Erfahrungen das Leiden und den Zorn des Vaters grundieren, der in den 40er-Jahren als Schuljunge miterleben musste, wie sein Vater von Titos Milizen gefangengenommen wurde. Über Narrative im Narrativ – über die Erzählung der Großmutter, eingeschoben in die Erzählung der Protagonistin – wird dem Leser nahegebracht, wie die Töchter erfahren haben, dass ihr Vater die Schreie seines eigenen Vaters im Keller der Schule mitanhören musste. Der Großvater war misshandelt und gebrochen worden, weil er sich geweigert hatte, bei den Milizen mitzumachen – wie er es bereits zuvor gegenüber den Faschisten getan hatte. Ildiko erzählt in Rückblicken von der Geschichte der Großeltern, Eltern und vom Herkunftsort, von ­Verwandten, die sie in größeren Abständen besuchen, von ihrem Heimweh nach Mamika, der geliebten Großmutter, die ihnen Vater und Mutter ersetzt

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hatte. Die Erzählerin erinnert ihre Kindheit und beschreibt zugleich das Leben ihrer Eltern im Einwanderungsland, in der Schweiz, wo sie sich zunächst mit schlecht bezahlten Arbeiten über Wasser hielten, irgendwann eine Wäscherei aufmachten und ihre Töchter holen konnten. Einen Höhepunkt im familialen Migrationsprojekt scheint zunächst der Aufstieg darzustellen, dadurch ermöglicht, dass die Eltern den Zuschlag für ein Café an der Züricher »Goldküste« bekommen. Entsprechend stellt das Arrangement in der Einwanderungsgesellschaft mit all seinen Bemühungen und Bangnissen, seinen Friktionen, Rückschlägen und Nöten, wie es sich verdichtet im Geschehen um das Café, eines der Zentren der Erzählung dar. Im Mittelpunkt des Familienlebens und -betriebs, ihrer gemeinsamen Anstrengung, steht vor allem die Anpassung: Die Bemühungen der Eltern, die es den Schweizer Mitbürgern recht machen wollen und angenommen sein möchten – obwohl die Herablassung gegenüber der Familie aus dem Balkan, die Skepsis und das Misstrauen der meisten Einheimischen gegenüber den von ihnen als kulturell Andere gesehenen, immer spürbar bleiben. Aus der Perspektive der adoleszenten Tochter Ildiko rückt dabei zusehends der Preis der Unterwerfung ins Zentrum ihrer Gefühle. In dramatischen Szenen opponiert Ildiko schließlich erstmals gegen die Rolle, die ihr fraglos im familialen Aufstiegsprojekt zugeschrieben war. Wie noch genauer zu betrachten sein wird, schält sich ein unter Bedingungen prekärer Zugehörigkeit und drohender Ausgrenzung vollzogener Akt schmerzlicher adoleszenter Abgrenzung und Selbstkonstitution als zentrales Thema des literarischen Narrativs heraus. Abonjis Roman »Tauben fliegen auf« wurde 2010 sowohl mit dem Deutschen als auch mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Die autobiographisch geprägte Erzählung der Lebensstränge und -etappen, der Wünsche, Ängste und Hoffnungen der ehemals serbisch-ungarischen Familie erfuhr eine Würdigung als eine kunstvolle »Integrations- wie eine Rebellionsgeschichte«1 . In ihr seien sowohl die – aus der Perspektive der Tochter so wahrgenommene – »Selbstverleugnung«2 der Eltern im Einwanderungsprozess

1 | Aus der Würdigung des Romans anlässlich der Verleihung des Schweizer Buchpreises: youtube.com/watch?v=DxoWD9AkSRI. 2 | Interview mit Abonji in Kultur.21: ­y outube.com/watch?v=wB1K9zZnzAM.

Kunst als Deutung

als auch die Emanzipation der adoleszenten Kinder ebenso »ernst«3 und bewegend wie »leicht«4 und spielerisch poetisch gestaltet worden. Die Autorin selbst betonte insbesondere die Bedeutung der Sprache, der »Spracharbeit« und »Sprachlust«, die ästhetische, gleichsam lautmalerische Formung des Themas, bei der das Geschriebene für die Erzählerin zur »Musik«5 werde. Es handelt sich um eine klangvolle Schöpfung, mit der die Ich-Erzählerin, wie man sagen könnte, ihre besondere Geschichte in die Geschichte des Einwanderungslandes einschreibt – und mit der sie den transgenerational weitergegebenen Bürden der Migration eine eigene sprachlich-ästhetische Form und Ausdruck verleiht. Durch den Roman und seine besondere Formgebung kann deutlich werden, so wird im Folgenden ausgeführt, wie transgenerational Bedrängendes und Unbewältigtes – kaum verarbeitete Trennungen im Migrationsprozess, Verletzungen durch Diskriminierung und Entwertung, Kämpfe um das ökonomische, soziale Überleben – die psychischen und sozialen Entwicklungen und die Adoleszenz der Kindergeneration prägen und somit auch ihre eigene ›interkulturelle‹ Positionierung.

I nterkulturelle A doleszenz und M igrationserfahrung 6 Zunächst einige Überlegungen zum Verständnis und zu Konzepten von Kultur und Interkulturalität im Kontext von Migration. Interkulturalität ist praktisch oder genealogisch nicht zwangsläufig, aber häufig mit Migration verknüpft, teils Folge, Motiv oder Begleiterscheinung derselben. So kann Auswanderung, wie auch im Roman von Abonji ausgestaltet wird, beispielsweise bereits (mit) motiviert sein durch so bezeichnete oder erlebte ethnische oder kulturelle Konflikte im Herkunftsland. Im Zuge von E ­ inwanderung 3 | Aus der Würdigung des Romans anlässlich der Verleihung des Schweizer Buchpreises: youtube.com/watch?v=DxoWD9AkSRI. 4 | Ebd. 5 | Abonji im Interview: »Sprache schert sich nicht um Grenzen«, »die Musik ist für mich das Herzstück« vgl. youtube.com/watch?v=wB1K9zZnzAM; eine Betrachtung des Textes als »Migrantenliteratur« fände sie demgegenüber »nicht interessant«. 6 | Vgl. dazu auch King 2015.

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ergeben sich neue so genannte kulturelle, ethnische oder interkulturelle Konstellationen. Übergreifend bedeutet Migration meist das Verlassen einer vertrauten kulturellen Umgebung – aus unterschiedlichen Motiven – und kann im Zuge dessen zu neuen Formen des Austauschs und der Überlappung von kultureller Erfahrung, zu interkulturellen Neupositionierungen führen. Während viele Konzeptionen und Debatten zu Kultur, teils auch noch zu ›Inter- oder Trans-Kulturalität‹ implizit statische, homogene oder abstrakt auf Bewusstsein bezogene Kulturbegriffe voraussetzen, scheint es dabei sinnvoller, Kultur konsequent prozessual zu fassen (Straub 2007). So wird mit dem Begriff der Interkulturalität in vielen Konzeptionen auf Wechselwirkungen und Austausch verschiedener kultureller Einflüsse verwiesen: auf einen »Interaktionsmodus, der einen Ort der Überschneidung schafft« (Lescovec 2011: 44), eine »dritte Ordnung« (ebd.), die Auswirkungen hat auch auf Konstruktionen von Identität. Insbesondere Bhabha (2000) hatte auf die Potenziale des Aushandelns diskursiver Bedingungen und Bedeutungen verwiesen und ein Konzept vom »dritten Raum« entwickelt, der Interkulturalität als Neukonstellation repräsentiert. In forschungslogischer Hinsicht verweist der Begriff der Interkulturalität auf die systematische Analyse der damit verbundenen »Verfahren der Bedeutungszuschreibung« (Gutjahr 2002: 353), auf die Art und Weise, wie »Differenzidentifikation« (ebd.) hervorgebracht wird. Das heißt bei der Analyse etwa von Bildungs- und Sozialisationsprozessen nicht nur, die Wandlungsdynamik und Fluidität von Kulturen als Ensemble kollektiv bedeutsamer symbolischer Praktiken, Orientierungs- und Handlungsmuster einzubeziehen, sondern auch ihre historisch-spezifische Genese, die Spezifik sozialer Erfahrungen und die mit ihnen verbundenen Gestaltungs- und psychischen Bewältigungsformen, aus denen symbolische Praktiken und Orientierungsmuster entwickelt oder variiert werden. Nur dann wird es möglich, den Zusammenhang zwischen Kultur und Individuum nicht einseitig zu fassen, wie es häufig auch noch in Konzepten der Fall ist, die statische Kulturmodelle durchaus zu überwinden suchen. Diese Einseitigkeit kommt etwa darin zum Ausdruck, dass eindimensional der ›Einfluss‹ einer kulturellen Herkunft oder Zugehörigkeit auf Handeln oder Bewusstsein thematisiert wird. Im Kontext von Migration wird jedoch nicht einfach eine kulturelle Zugehörigkeit vom Herkunftsort in die Ankunftsgesellschaft als ›feste Größe‹ – geradezu wie ein Kleidungsstück, das nicht abgelegt werden kann – mitgebracht. Die Erfahrungen der Migration selbst, des Weggehens, Ankommens und des Sich-Niederlassens in einer mehr oder minder aufnahmebereiten oder abweisenden Umgebung erzeugen vielmehr

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›Kultur‹: also auf diese spezifischen Erfahrungen bezogene Deutungs- oder Sinnfiguren, s­ ymbolische Bewältigungs- und Praxisformen bis hin zu Neugestaltungen von Sprache. Sie sind auch in Abonjis Roman exemplarisch künstlerisch gestaltet, aber kein Privileg des Kunstwerks. Die Erfahrungsverarbeitungen erfolgen individuell und kollektiv, in Familien und transgenerational, insbesondere auch in der Adoleszenz. Adoleszenz im Kontext von Migration zu untersuchen ist besonders vielversprechend, gerade weil Kultur eine generationale Dimension hat: Über die Dynamik und Abfolge der Generationen werden kulturelle Praktiken und Normen, Wissen, oder ästhetische und kognitive Muster weitergegeben und transformiert (King 2002). In der Adoleszenz finden – je nach Bedingungen und Konstellationen – Prozesse der Aneignung, der Adaption oder der Veränderung des Kulturellen statt (King 2011). Über adoleszente Anverwandlungen können interkulturelle Erfahrungen zu neuen, mitunter als hybrid bezeichneten kulturellen Entwürfen und Identitäten führen7. 7 |  In öffentlichen Diskursen fallen demgegenüber, bezogen auf die Adoleszenz der Migrantenkinder, die vielfach vereinfachenden kulturalisierenden Zuschreibungen auf. Eine der Standardformeln, die mit großer Hartnäckigkeit persistieren, ist etwa diejenige, dass Kinder der so genannten ›zweiten Generation‹, dass Adoleszente aus Familien mit migrierten Eltern, hin- und hergerissen seien ›zwischen zwei Kulturen‹. Obwohl es daran prägnante Kritik gegeben hat, etwa mit Verweis auf die darin liegende Simplifizierung und Statik des Kulturbegriffs, scheint diese rhetorische Figur eine starke suggestive Kraft zu haben: Während die migrierte Elterngeneration, so die meist damit verknüpfte Vorstellung, in der Herkunftskultur verhaftet bleibe, erlebten die heranwachsenden Kinder einen Kulturkonf likt. Diese Konstrukte simplifizieren nicht nur. Sie verzerren und verschleiern überdies das Spezifische der Erfahrungen, die mit Migration, mit Positionen des Anderen oder Ausgegrenzten und mit generationalen Dynamiken in Migrantenfamilien typischerweise verbunden sind. Auch im Klappentext zu Melinda Nadj Abonjis Roman »Tauben f liegen auf« kann man nachlesen: »Die Töchter Ildiko und Nomi wachsen zwischen zwei Kulturen auf, sind hin- und hergerissen…«. Die Autorin Abonji selbst hat demgegenüber die vereinfachenden Zuschreibungen zurückgewiesen, wie sie mit Migrations- und Kulturdiskursen oft einhergehen. Mit »dem Etikett Migranten- oder Secondo-Literatur kann ich überhaupt nichts anfangen, es dient Journalisten lediglich zur Vereinfachung«, aus: Corinne Buchser: »Melinda Nadj Abonji gewinnt Schweizer Buchpreis«, URL: swissinfo.

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Interkulturelle Prozesse und Positionierungen müssen insbesondere, so eine weitere These dieses Beitrags, systematisch in Beziehung gesetzt werden zu migrationstypischen sozialen Erfahrungen und der Art ihrer Bewältigung. Typisch für Migration sind beispielweise Trennungs- und Verlusterfahrungen oder Anforderungen an Umgestaltung und Neusituierung sowie, unter den gegebenen Bedingungen für viele Migrantengruppen, regelmäßig auch Ausgrenzung, niedriger Status und Diskriminierung in der Ankunftsgesellschaft (vgl. King 2005a, b; King/Koller 2015; King et al. 2011; Koller et al. 2010). Dabei unterscheiden sich je nach Einwanderungsland auch die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen sowie mögliche soziale Situierungen von Migranten, die Formen des Anpassungsdrucks oder der Exklusion. Diese Bedingungen wirken sich auf einer psychosozialen Ebene auch aus auf die Art der Bewältigung von Trennungen, Verlusten und Umgestaltungen, auf die Spielräume in Familienbeziehungen und Ablösungsprozesse der Kinder: darauf, ob und wie es der Folgegeneration – im Besonderen im Zuge der adoleszenten Entwicklung – gelingen kann, die eigene Geschichte auch als eigene abzugrenzen, oder ob es bei einer inneren Verwobenheit mit der Elterngeneration bleibt.

Transgenerationale Weitergabe des U nbewältigten , versteinerte Trauer und die adoleszenten G egenbewegungen in A bonjis R oman So kann der Anpassungsdruck in der Migration, können enttäuschte Hoffnungen, Verletzungen und Opfer der Elterngeneration die Lebensgeschichte der Kindergeneration auf besondere, schwer bewältigbare Weise prägen. Gerade das Leiden der Eltern kann zur Tabuierung von Differenz in der Kindergeneration führen und deren Leid an der Anpassung – im Verhältnis zu den Eltern und zur Einwanderungsgesellschaft – intensivieren, zugleich die eigensinnige Verarbeitung der Kinder hemmen. Im Roman »Tauben fliegen auf« werden diese Zusammenhänge bearbeitet als ästhetisch in Form gebrachte Auseinandersetzung mit dem transgenerational Unbewältigten und

ch/ger/kultur/Melinda_Nadj_Abonji_gewinnt_Schweizer_Buchpreis.html?cid=28786272, (zitiert nach Hrkic 2012: 5).

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Unsagbaren8 der familialen Migrations- und Beziehungsgeschichte. Das generational Unbewältigte wird auf diese Weise dem Erleben und Erkennen zugänglich gemacht. Das Thema Trennung spielt im Zuge dessen eine zentrale Rolle, vor a­ llem aber das Schicksal und die transgenerationale Folge verhinderter Trauer. Nicht nur wird über verschiedene ästhetische Anordnungen, Metaphorisierungen und Gestaltungen nahegelegt, dass Verluste, Trennungen und sogar Todesbilder im Kontext von Migration eine zentrale Rolle spielen – das Sterben hier als Inbegriff und Sinnbild dessen, was niemals mehr die frühere selbstverständliche Lebendigkeit erlangen kann. Darüber hinaus wird vor allem deutlich, mit welchen Schwierigkeiten es verbunden ist, für diesen Schmerz über das Verlorene und in diesem Sinne Gestorbene im Ringen um Anpassung, Anerkennung und Aufstieg einen gemäßen Raum zu finden oder zu schaffen. Der ohnmächtig stimmende psychische Schmerz, der aus diesem fehlenden Raum entstehen kann – also nicht allein aus dem Verlust, sondern aus der Schwierigkeit, Verluste zu verarbeiten, in einem produktiven Sinne zu betrauern – wird in vielfältigen Formen thematisiert. Er taucht sogleich in einer Passage des ersten Kapitels auf, in der es um die Gräber der Verwandten im Herkunftsort geht. Die Gräber sind mit Steinplatten bedeckt, damit sie nicht verwahrlosen, weil sie niemand besuchen kann: »[…] auch nicht an Allerheiligen, nicht einmal an Allerheiligen, sagt meine Mutter, wenn irgendeine Cousine sie anruft, ihr mit gepresster Stimme ­m itteilt, dass außer ihr niemand auf dem Friedhof war, um ein Lämpchen für die Verstorbenen anzuzünden, wenigstens verwahrlosen die Gräber nicht,

8 | Wie etwa Lorenzer (1986) in seinen Ausführungen zur Bedeutung der Kunstanalyse für die Wissenschaften und Erkenntnis vom Sozialen hervorhob, hat Goethes »Tasso« in seiner berühmten Wehklage paradigmatisch den Leidensgrund künstlerischen Schaffens pointiert: »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide.« (Goethe 1790, zitiert nach Lorenzer 1986: 24) Die künstlerische Gestaltung oder ästhetische Bearbeitung des Unsagbaren, auch des Tabuierten (Gerisch 2008), des Leidens und Sehnens kann etwa neue Erlebensweisen, Versöhnliches oder Trost erzeugen. Im Roman »Tauben f liegen auf« werden in diesem Sinne das Andere oder gar dynamisch Unsagbare der generationalen Verstrickungen, auch das Andere der familialen Selbstverständlichkeiten des Sprechens und der impliziten Übereinkünfte in der Alltagssprache künstlerisch gestaltet.

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sagt meine Mutter dann, und in diesem Satz steckt die tiefe Trauer eines Lebens, das sich nicht einmal um die Toten kümmern kann, weil sie zu weit weg sind, um ihnen wenigstens einmal im Jahr, an Allerheiligen, Blumen hinzustellen.« (Abonji 2012: 10)

Eine der zentralen Fragen, die hier ins Bild gesetzt wird, lautet insofern: Gelingt es im Trennungs- und Neugestaltungsprozess der Migration, der Trauer Raum zu geben und das Verlorene als Verlorenes anzuerkennen? Oder sind die Schmerzen so überwältigend, die Anpassungsbemühungen so erschöpfend oder vergeblich, dass jegliche Trauer davon verdeckt wird? Der Satz der Mutter »nicht einmal an Allerheiligen« würde dann vor allem die ›Not eines Lebens‹ ausdrücken, das nicht genug Ressourcen, Zeit und Kraft für die Trauer hat, die Not eines Lebens, in dem die Trauer gleichsam begraben wird unter den Mühen der Anpassung und wie versteinert ist. Bezogen auf die Kindergeneration stellt sich auf eine zugespitzte Weise die Frage, ob es ihnen, den herangewachsenen Kindern, dann gelingt, einen eigenen psychischen Spielraum der Bewältigung zu erschaffen. Oder ob sie vorwiegend gefangen bleiben in den unbewältigten Themen der Eltern. Ob sie gerade in der Adoleszenz ausreichend Spielraum für die eigene Trauer und Bewältigung schmerzlicher Erfahrungen erlangen, im Besonderen auch für die Unterscheidung zwischen dem von den Eltern und von den Kindern zu Verarbeitenden und zu Betrauernden. So könnte man eine zentrale Frage der Adoleszenz von Söhnen und Töchtern in Migrantenfamilien fassen, zugleich ein Kernthema im Roman »Tauben fliegen auf«. In einem in Reihen von Halbsätzen, Figuren-Perspektiven ständig ineinanderrückenden, dahinflutenden stream of consciousness entfaltet die IchErzählerin und adoleszente Tochter Ildiko ihre Geschichte, in einer Sprachform, die die Verstörungen nachzeichnet und erlebbar macht, zugleich unterschwellig bereits eine Art Gegenbewegung zu den Versteinerungen enthält9. In den Rückblicken tritt zunächst das Ringen um Sprache und Bilder für die Schmerzen des Verlusts hervor, ebenso der innere Kampf um Abgrenzung und Berechtigung des Eigenen gegenüber den Eltern: So erinnert sich die Protagonistin an die Situation, als ihre Großmutter sie in die Schweiz zu

9 | Wie erwähnt, sei Schreiben für sie »Musik«, so die Autorin im Rahmen eines Interviews anlässlich der Verleihung des Deutschen Buchpreises, siehe Anm. 5.

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den Eltern brachte – an das überwältigende Gefühl des Verlusts, als die Großmutter abreiste, und die ohnmächtige Stummheit. »Später, in den wenigen Momenten, wo es möglich gewesen wäre, über diesen plötzlichen Abbruch unseres bisherigen Lebens zu reden, war immer sofort klar, dass Mutter und Vater, im Zusammenhang unserer Heimat, die tieferen, schmerzhafteren Gefühle für sich beanspruchen durften; das, was in Nomi und mir damals vorging, hatte wenig oder kein Gewicht.« (Abonji 2012: 277)

Und auch dafür, dass es aus der Sicht von Ildiko, die die Zeit davor bei der Großmutter getrennt von den Eltern hatte leben müssen, »zwischen mir und meinen Eltern eine unaufholbare Zeit geben würde« (ebd.: 272), gibt es zunächst nur Ahnungen, keine Worte. Die zentrale Bewegung des Romans, die Gestalt des Narrativs kann man so verstehen, dass es darum geht, für die eigenen Empfindungen und Gedanken, für die von denen der Eltern abgrenzbaren Gefühle und Erfahrungen einen Raum und eine Sprache in einem adoleszenten Differenzierungsprozess zu erkämpfen. Auch auf dieser Ebene wird anschaulich, in welcher Weise die Umgestaltungen der Adoleszenz geprägt sind von der Auseinandersetzung mit der Migrationsgeschichte. So wirken die Verletzungen und Anstrengungen der Eltern in ihrer Migrationserfahrung, nicht nur im Roman (vgl. King/Koller 2015), zunächst wie ein stummes Gebot und eine gläserne Grenze im adoleszenten Ablösungsprozess der Kinder: sich nicht zu weit und nicht zu sehr vom familialen Projekt zu entfernen. Solche, meist unausgesprochenen familiendynamischen Konstellationen der Weitergabe von Verletzungen, die teils auch an die von Faimberg (1987) beschriebenen Muster des unbewussten intergenerationalen »Ineinanderrückens« (ebd.) erinnern, finden sich häufig. Denn für die notwendige innere Differenzierung bleibt in »Verletzungsverhältnissen […] der Migrationsgesellschaften« (Straub 2014) häufig zu wenig Raum. Die psychischen Schmerzen und Verluste, Scham oder Angst der Eltern teilen sich dann auf vielfältige Weise, direkt oder indirekt, den Söhnen und Töchtern mit. Sie können als ein nicht ablehnbarer Auftrag empfunden werden, die Schmach und Not der Eltern wiedergutzumachen – sei es im Zorn oder durch Anpassung an Wünsche der Eltern, die so viele Opfer gebracht haben. Manche Erwartungen werden auch direkt kommuniziert. Im Roman »Tauben fliegen auf« führt die Mutter im Streit mit der Tochter ihre schwere Zeit des Anfangs an: »Weißt Du eigentlich, wo wir angefangen

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haben? Die gesichtslosen Tage, fast vier Jahre lang, als die Tage nur dazu da waren, um wie Automaten zu funktionieren, zu arbeiten […]. In dieser Zeit habe ich nie geträumt, nie, sonst wäre ich verloren gewesen« (Abonji 2012: 298). Die Mutter erwartet von den Töchtern, die es leichter hätten, dass sie nun ihren Beitrag leisten im Familienbetrieb. »Wir müssen uns anpassen, sagt Mutter mit einem Blick, den ich nicht mehr sehen will« (ebd.: 101), noch nachdem die Familie fremdenfeindlichen Attacken ausgesetzt war. Erste Anzeichen der abgrenzenden Selbstkonstitution der adoleszenten Kinder sind demgegenüber die Fragen nach dem ›Warum‹. Nicht nur: Warum anpassen? – sondern auch: Warum sind die Eltern überhaupt migriert? Wobei gerade in schwierigen belastenden Konstellationen auch Teile der Motive für die Migration im Dunkeln bleiben können. Aus der Perspektive der Folgegeneration verknüpft sich die Frage des Migrationsmotivs der Eltern mit allen anderen rätselhaften Dimensionen des eigenen Ursprungs, mit den Fragen nach dem Wie und Warum des eigenen Gewordenseins. Die adoleszente Frage »Wer bin ich und Woher komme ich?« verbindet sich mit der Frage »Warum haben die Eltern ihre Heimat verlassen?« Haben es doch die Kinder der Migration auf besondere Weise mit Folgen von Entscheidungen zu tun, die sie nicht selbst getroffen haben (vgl. Sayad 1992). Denn zwangsläufig leben sie mit den Konsequenzen einer Wanderung, von deren Ursachen und Hintergründen sie in gewissem Sinne abgeschnitten bleiben, während diese gleichwohl ihre soziale Position – als die ›Anderen‹ – und ihre psychische Entwicklung in hohem Maße prägen. »Warum sind Vater und Mutter in die Schweiz gekommen, was war der eigentliche Grund?« (Abonji 2012: 211), so eine der beunruhigenden Fragen, die die Protagonistin Ildiko umtreibt. Das Rätselhafte, zugleich unterschwellig Virulente, mit dem die Tochter in Bezug auf diese ›Ursprungsfrage‹ zu kämpfen hat, ergibt sich auch aus den erwähnten, für die Töchter lange Zeit spürbaren, aber nicht kommunizierten, eingangs erwähnten traumatischen Erfahrungen des Vaters. Im Laufe des geschilderten Prozesses der Auseinandersetzung mit der familialen Geschichte wird klarer, warum der Vater, wann immer die Sprache auf all diejenigen Themen kommt, die er mit den ›Kommunisten‹ verbindet, in überschäumende Wut gerät. Ein Zorn, ein Motiv, das ihn mit in die Ferne treibt. Ein Motiv, dessen Folgen das Leben der Töchter in vielen Hinsichten prägt: »Kann man von einem Tag auf den anderen, von einer Nacht auf die Nächste in ein neues Leben hineinfahren«? (ebd.: 172) ist die Frage, die die Erzählerin insofern wiederum mit ihrer eigenen Reise in die Schweiz verknüpft. Die Migration in die Schweiz wird nicht

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nur in zwei Etappen geschildert (vom Heimatdorf nach Belgrad und von Belgrad in die Schweiz; vgl. ebd.: 172ff., 212ff. sowie 270ff.), sondern die Abreise vom Zuhause der Kindheit wird auch in zwei Varianten (vgl. ebd.: 172 ff., 212ff. ;)10 dargestellt, die, so Hrkic (Hrkic 2012: 45f.), Ambivalenz und Erschütterung verdeutlichen. Die Ich-Erzählerin betont, dass sie sich nicht an alles erinnern kann (vgl. z.B. Abonji 2012: 178), und versucht gleichsam in mehreren Anläufen, die Abläufe nachzuvollziehen (ebd.: 212). Das Ein- und Ausreisen mit seinen zwiespältigen Gefühlen wird im Roman überdies ausgestaltet über die Besuche in der alten Heimat. Im Herkunftsort wird zunächst der Gewinn der Migration präsentiert, materialisiert über das Auto, Stolz des Vaters, mit dem sie bei Besuchen im Herkunftsort ›einfahren‹. Erst ein Chevrolet, später ein weißer, dann ein silbergrauer Mercedes, mit dem jeweils Kapitel beginnen, mit dem »Stern des Fortschritts, der uns auszeichnet« (ebd.: 66), so die Ironisierung der adoleszenten Tochter. Der erste Satz des Romans lautet: »Als wir nun endlich mit unserem amerikanischen Wagen einfahren, einem tiefbraunen Chevrolet, schokoladefarben, könnte man sagen […]« »recken wir unsere Hälse, um zu sehen, ob alles noch da ist, ob alles noch so ist, wie im letzten Sommer und all die Jahre zuvor« (ebd.: 5). Das Auto, mit dem sie majestätisch einfahren, steht sogleich in Spannung zu den Ängsten der Mädchen. Zu Beginn werden sie noch beruhigt, im weiteren Verlauf wird nichts mehr so sein, wie es war.

E lterliche A npassung R ingen um E igenes

und adoleszentes

Einen Höhepunkt im familialen Migrationsprojekt scheint dann wiederum darzustellen, dass die Eltern den Zuschlag für ein Café an der Züricher Goldküste bekommen. Vor Freude überwältigt, von »einer guten Fee geküsst« (Abonji 2012: 49), so die Mutter, können die Eltern ihr Glück kaum fassen – zumal es einheimische Konkurrenten gegeben hat. Ein bedrohlicher Schatten baut sich auf: die Angst, dass manche Schweizer dies übel aufnehmen könnten. Eine berechtigte Sorge, wie sich zeigen wird – und umso mehr strengen sie sich an. Ildiko stellt ihr Studium zurück und hilft den Eltern, ebenso wie die 10 | In der ersten Variante wird der Abschied von der Halbschwester Juli ausführlich ausgemalt, in der zweiten Variante treffen sie Juli nicht mehr; vgl. dazu ausführlicher die Thesen von Hrkic 2012: 44.

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Schwester Nomi. Vater und Mutter, durchaus temperamentvolle und stolze Menschen, sind eingeschüchtert, nicht nur von dem ökonomischen Druck, unter dem sie stehen, sondern auch von dem Gefühl, dass »man immer damit rechnen müsse, ausgewiesen zu werden« (Abonji 2012: 101). Überdies verdeutlichen die Kriege im ehemaligen Jugoslawien, die Berichte ihrer Verwandten, dass sie in die Heimat, die doch ein Sehnsuchtsort der Kinder bleibt, nicht mehr gefahrlos zurückkehren könnten. Die Familie bemüht sich, es den Einheimischen recht zu machen, angenommen zu werden. Zugleich bleiben Herablassung und Skepsis der Einheimischen erkennbar. Für das ›bedienende Fräulein‹, die Tochter Ildiko, ist die kaum verhohlene Entwertung stets präsent. Aus der Perspektive der adoleszenten Ildiko rücken dabei zusehends der Preis der Anpassung ins Zentrum ihrer Gefühle, die Selbstentfremdung und der Verlust der Achtung vor sich und den Eltern. Sie hat Panikgefühle beim Servieren, weil sie, das Fräulein, sich im Ambiente des Cafés, das ganz und gar auf die Wünsche der einheimischen Kunden ausgerichtet ist, nicht mehr spüren kann. Der innere Kampf gegen den empfundenen Selbstverlust kulminiert, als bei einer fremdenfeindlichen Attacke gegenüber den ›Scheißausländern‹ jemand in der Toilette mit einer mit Exkrementen beschmutzten Unterhose die Wände beschmiert hat. Ildiko ist zuerst vom Entsetzen gelähmt, möchte sich dann wehren, Anzeige erstatten, während sogleich klar wird, dass die Eltern es hinzunehmen bereit sind als etwas, womit man zurechtkommen muss. Aus dieser Szene heraus entfaltet sich die erste deutliche und nicht mehr hintergehbare Differenzerfahrung zwischen Eltern und Tochter. Ildiko stellt sich dem Anpassungswillen der Eltern entgegen. Zugleich spricht sie erstmalig aus, dass sie niemals die Möglichkeit gehabt habe zu entscheiden, ob sie überhaupt in die Schweiz wolle. Dabei tritt auch der bis dahin tabuisierte Zorn darüber hervor, dass die Eltern die Töchter lange Zeit bei der Großmutter gelassen und sie dann wiederum fraglos weggenommen hatten, als es ökonomisch und rechtlich möglich wurde. Die Eltern: »Als Ihr, Nomi und du, so lange Zeit nicht bei uns wart, das war ein großes Opfer – zu groß?« (Abonji 2012: 298f.) »[…]ihr wart in guten Händen, sagt Vater, ohne die Lippen zu bewegen […], stimmt sage ich, wir waren in guten Händen! […] vielleicht hätte das Opfer größer sein müssen, vielleicht wäre es besser gewesen, ihr hättet noch ein paar Jahre länger auf uns gewartet, Vater, der mich mit sehenden Augen

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anschaut, Mutter, die vom Hocker aufsteht, was willst Du uns damit sagen? Nomi und ich haben uns nie entschieden, hierher zu kommen, nur das; und Mutter, die die Klammer aus ihrem Haar löst, sie an die Brusttasche ihrer Bluse klemmt, Vater, der den Schwamm hinter sich ins Spülbecken wirft, da haben wir es, sagt Vater; deine Mutter hat ganz recht, wenn sie dich an den Krieg erinnert, stell dir mit deinem Dickschädel nur kurz vor, was das bedeuten würde, und ich, die sagt, dass es darum nicht gehe, ich will unsere Verschiedenheit verstehen, und mir fällt das ungarische Wort für ›Verschiedenheit‹ nicht ein, aber die plötzliche Klarheit, warum man, wenn jemand gestorben ist, sagt, er sei ›verschieden‹, der schwere Stand der ›Verschiedenheit‹ denke ich.« (Abonji 2012: 298ff.)

Ildiko vollzieht hier in actu einen adoleszenten Differenzierungs- und Transformationsprozess, in dem sie die Trennungs- und Verlustthemen der Familie benennt und für sich selbst erstmals anerkennt. Indem sie sowohl die Distanz zu den Einheimischen herausstellt, von denen sie missachtet werden, als auch die Verschiedenheit gegenüber den Eltern. Ein schmerzlicher Ablösungs- und Differenzierungsprozess, der sich sowohl für die Eltern als auch für die Tochter in den dargestellten inneren Bewegungen dramatisch gestaltet. Dieser Differenzierungs- und Transformationsprozess wird einerseits in dem für den Roman typischen Sprachstil des stream of consciousness entfaltet, bei dem die einzelnen Abläufe und Dialoge eng miteinander verknüpft, in Halbsätzen aneinander gekettet, mitunter geradezu ineinandergeschoben werden. Eine charakteristische sprachliche Rythmisierung verstärkt das nahezu klangvolle szenische Erleben eines Ringens. Sie erzeugt Empfindungen und Vorstellungen, wie die Eltern sowohl erschrocken als auch machtvoll dagegenhalten – »Vater, der mich mit sehenden Augen anschaut« (ebd.) und »Mutter, die vom Hocker aufsteht« (ebd.). Und schließlich tritt die explizite (Selbst-)Betrachtung von außen auffällig hervor – gerade an jener bedeutsamen Stelle, in der sich das adoleszente Ich abgrenzt von den Eltern und von deren Sicht auf die familiale Migrationsgeschichte: »Ich, die sagt« (ebd.). Das Aufbegehren wird überdies szenisch untermalt durch die Art der Beschreibung von Gesten und die dramatische Verknüpfung der Handlungsbeschreibungen mit der Reflexion von »Verschiedenheit« als »schwerem Stand« und Gestorbensein als radikaler Trennung, als zu Betrauerndem. Am Ende dieses Romans wird Ildiko aus der elterlichen Wohnung ausgezogen sein, obwohl es ihrem Vater fast das Herz bricht: in eine trostlose Gegend und eine minimal ausgestattete Wohnung, deren Zweck zunächst

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einmal einzig darin zu liegen scheint, Wohnung »für sich allein«11 zu sein, die sie allein mit sich, als ihr Eigenes bewohnt, und in der sie ihren eigenen Empfindungen und Gedanken nachgehen kann. Ihre Schwester Nomi wird sie dort besuchen an Allerheiligen. Während zu Beginn des Romans von der Mutter beklagt wurde, dass sie nicht »einmal an Allerheiligen« (Abonji 2012: 10) Gelegenheit hätten, die Gräber zu besuchen, haben die Töchter nun ihre Form der Trauer, des Feiertags und eine eigene Trauerstätte ge- und erfunden. Erstmalig gehen sie, ohne die Eltern, von Ildikos neuer Wohnung zu einem Friedhof mit Gemeinschaftsgrab, um Blumen hinzulegen für die in der Ferne gestorbenen, ihnen zugleich nahen Toten, für die zwischenzeitlich verstorbene Großmutter: »für Sie, Mamika, [so der letzte Satz des Romans, direkt an die verstorbene Großmutter gerichtet] haben wir ein Lied gesungen, und in Ihrem Namen haben wir darum gebeten, dass die Lebenden nicht vor ihrer Zeit sterben.« (ebd.: 315) Die Töchter haben sich ihren eigenen Raum kreiert für ihre Trauer – zugleich Akt des Aufbruchs in ein eigensinnig gestaltetes Leben, das sich von der Logik der elterlichen Migrationsgeschichte abgrenzt und dem transgenerational Unbewältigten – verdichtet in der versteinerten Trauer – eine kreative und die Versteinerung aufhebende Form gibt.

S chlussfolgerungen zu M igration , A doleszenz und I nterkulturalität Im klassischen Verständnis lässt sich ›Kultur‹ fassen als Ensemble kollektiver Praktiken, Symbolisierungsformen und Werte, die im Verlauf des Heranwachsens sozialisiert und verinnerlicht werden. Im Prozess der Migration müssten demnach diejenigen, die aus- und einwandern, die jeweiligen kulturellen Systeme ins Verhältnis setzen und können in Konflikte geraten – so die eingangs erwähnte Kulturkonflikt-These zur zweiten Generation. Die Konzepte der Transkulturalität und Interkulturalität oder Hybridität akzentuieren vor allem die permanente Überlagerung, Vermischung und Dynamik des Kulturellen. Dass die Präfixe Inter- und Trans- in Verbindung mit Kulturalität dabei nicht automatisch alle begriffslogischen Probleme aufheben können, ist evident. Hier ging es um einen weiteren Schritt: das kulturelle 11 | Die nahegelegte Bedeutung der töchterlichen Wohnung im Roman, die eben vor allem einen eigenen Raum kreieren soll, erinnert auch an Woolfs (1929) »Ein Zimmer für sich allein«.

Kunst als Deutung

oder interkulturelle Selbstverständnis von Migranten speist sich nicht einfach nur aus den verinnerlichten sozialisierten Praktiken und Mustern, die sie in diesem Sinne ›kulturell‹ einerseits mitgebracht haben und andererseits vorfinden und adaptieren oder integrieren. Ihr kulturelles oder interkulturelles Selbstverständnis ist vielmehr in hohem Maße gerade auch von den mit Migration als solcher verbundenen psychosozialen Herausforderungen geprägt. Es ist geprägt von den Erfahrungen des Verlusts und der Trennung; von den je nach Einwanderungsland und Bedingungen sich unterscheidenden Arten von Anpassungsdruck oder Ausgrenzung – und nicht zuletzt davon, wie und mit welchen Ressourcen diese verarbeitet oder nicht verarbeitet werden konnten. Bezogen auf die Folgegenerationen geht es insbesondere um die Frage, in welchem Maße es möglich ist, die eigene Geschichte auch als eigene psychisch abzugrenzen und zu symbolisieren – oder ob es bei einer inneren Verwobenheit mit der Elterngeneration bleibt. Differenzierung zwischen dem Eigenen und Anderen bezieht sich in diesem Sinne immer auch auf die intergenerationale Dimension: darauf, ob die Lebensentwürfe der Adoleszenten vorwiegend der Logik der mit der elterlichen Migrationsgeschichte verbundenen Tabus, Aufträge, unausgesprochenen Verpflichtungen, etwa zu Erfolg oder stellvertretenden Kämpfen, unterliegen – oder ob sie sich davon lösen können. Woraus wiederum potenziell größere Freiheitsgrade in verschiedenen sozialen Bereichen und für die kulturelle oder interkulturelle Selbstverortung erwachsen. In einer solchen Konzeption des Kulturellen und der kulturellen generationalen Weitergabe ist ein »dritter Raum« – um bei dieser Metapher von Bhabha (2000) zu bleiben – fassbar über adoleszente Differenzierungsprozesse.

Kunst als D eutung des U nbewältigten

und

F ormung

Die Analyse des Romans bot insofern einen wichtigen Zugang zu zentralen Themen der Migrations- und interkulturellen Bildungsforschung. Welche Praktiken, Symbolisierungsformen und Normen wie angeeignet oder adaptiert, verändert und neu herausgebildet werden, hängt – so die hier entfaltete Lesart – maßgeblich von den adoleszenten und generationalen Umgestaltungen ab. So entfaltet der Roman »Tauben fliegen auf« migrationstypische Eltern-Kind-Konstellationen und entwickelt eine eigene Deutung der mit

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Migration verbundenen Anforderungen an adoleszente Differenzierungsprozesse. Er macht im Besonderen erlebbar, in welcher Weise der Anpassungsdruck in der Einwanderungsgesellschaft verstärkt werden kann durch typische Schwierigkeiten der Abgrenzung von den Erwartungen der Eltern, die selbst viel gelitten und geopfert haben. Im Besonderen wird über die geschilderte ästhetische Gestaltung die im Prozess der Überanpassung versteinerte Trauer der Eltern ins Bild gesetzt, die die Trauer der Kinder erschwert. Zugleich, auf einer anderen Ebene, sind adoleszent-kreative Transformation, Trauer und schöpferische Formung, auch durch den Roman als Kunstwerk selbst repräsentiert – eben durch die ästhetische Deutung, die der Roman der erzählten Herkunfts- und Migrationsgeschichte, der bei aller Kraft und Anstrengung stets spürbaren Leiden, Verletzungen und Sehnsüchte, dem »Unsagbaren«, Unbewältigten gegeben hat. In diesem Sinne unterscheidet sich ein literarisches Narrativ auch von biographischen Erzählungen. Was vielfach als »Autonomie des Kunstwerks« bezeichnet wird, findet in diesem Verständnis insofern darin seinen Ausdruck, dass das Werk eine eigensinnige Deutung der in ihm aufgeworfenen Fragen selbst enthält. In der berühmten Formel vom »Rätselcharakter« der Kunst (vgl. Adorno 1970) wäre somit die Einsicht verdichtet, dass das Werk ein »Rätsel« zugleich birgt und entbirgt (Ritter 2004). Es gestaltet auf charakteristische Weise Fragen, Irritationen sowie mögliche ›Antworten‹ als Lesarten des Rätsels, die jedoch das Rätsel nicht einfach lösen, gleichsam im Sinne einer Auflösung des Rätselcharakters als solchem, sondern das Moment des stets aufs Neue Auffordernden beibehalten. Eben daraus resultiert die Unabschließbarkeit von Deutungen. Der Vorschlag lautete demzufolge, die Analyse eines Kunstwerks als Deutung einer Deutung zu verstehen: Die Lesart eines Kunstwerks stellt dann eine Interpretation der in der jeweiligen ästhetischen Gestaltung und Form aufgehobenen eigensinnigen Deutung dar. Entsprechend gilt es, die ästhetisch-formale Gestaltung des Werks als eine spezifische Deutung der mit dem Werk aufgeworfenen Fragen und »Rätsel« im Sinne Adornos zu dechiffrieren: eine ebenso erkenntnisträchtige wie unabschließbare Aufgabe der Sozial- und Bildungsforschung.

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Latente Diskriminierung und verdeckter Rassismus »Tauben fliegen auf« als gegenhegemoniale Erzählung1 Markus Rieger-Ladich Unter dem Titel Deutschland postkolonial sondierte unlängst der Kulturwissenschaftler Thomas Thiemeyer (2016) neuere Beiträge zur deutschen Erinnerungskultur. In seinem Artikel, der im Merkur erschien, warf er die Frage auf, wie es zu erklären sei, dass die Verständigung über die Praxis des Erinnerns, die Stiftung des kulturellen Gedächtnisses und den Zusammenhang von Macht und Repräsentation, die bislang doch zumeist nur von einer kleinen Gruppe von Expert*innen betrieben werde, neuerlich in der Öffentlichkeit auf beträchtliche Resonanz treffe. Wenn gegenwärtig der Blick zurückgelenkt werde auf die – lange Zeit verdrängte – eigene koloniale Vergangenheit, geschehe dies nicht länger weitgehend unbemerkt. Gerade weil es politische Initiativen dieser Art auch schon in den 1960er und 1970er Jahren gab, falle die starke mediale Resonanz – so Thiemeyer – umso schärfer ins Auge. Dabei zeichne sich die Selbstbefragung, die hierin zum Ausdruck komme, nicht nur durch eine neue Qualität aus, sie »erreicht […] [nun] eine breite, überregionale Öffentlichkeit und wird national relevant. Gemeinsam ist diesen Gruppen, dass für sie die Kolonialzeit Symbol einer Ignoranz der westlichen Welt bei den grundsätzlichen Fragen der Eigen- und Fremdwahrnehmung ist« (Thiemeyer 2016: 35). Mit beträchtlicher Verzögerung würden nun auch hierzulande die Arbeiten der Postcolonial Studies rezipiert, Praktiken der Kulturalisierung kritisch 1 | Mein Dank gilt Bettina Kleiner und Gereon Wulftange für die sehr genaue Lektüre einer früheren Fassung dieses Textes sowie Herrn Möls für die tatkräftige Unterstützung bei der Erstellung der Schlussfassung.

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erörtert und Ideologien der Ungleichheit auf ihre sozialen und politischen Effekte hin untersucht. Der Erziehungswissenschaft, der für den Bereich der Theoriebildung hierzulande nicht eben häufig eine Avantgarderolle bescheinigt wird (vgl. Ricken 2007), attestiert nun Thiemeyer, dass sich hier bereits »das neue Selbstbild als Einwanderungsland« widerspiegele und Prozesse der kritischen Selbstbefragung deutlich erkennbar seien. Ohne auf die Ausländerpädagogik einzugehen, mit der die Erziehungswissenschaft in den 1970er Jahren auf die Anwerbung von Arbeitskräften insbesondere aus Italien und Griechenland reagierte, um sich dann später, in den 1980er Jahren in Interkulturelle Pädagogik umzubenennen (vgl. Nohl 2014), erkennt Thiemeyer hier eine kritische Form disziplinärer Selbstverständigung, die er exemplarisch an einem Beitrag Astrid Messerschmidts erläutert. Diese hat in ihrer Studie Weltbilder und Selbstbilder (2009) die Konturen einer neuen Form kritischer Bildungstheorie entwickelt, die sich fortwährend einer grundlagentheoretischen Vergewisserung und Selbstbefragung unterziehen müsse und sich insbesondere an der Analyse der Phänomene Globalisierung, Migration und Zeitzeugenschaft zu bewähren habe (vgl. Hormel/Emmerich 2012; Broden/Mecheril 2014). Eine der größten Herausforderungen der zeitgenössischen Erziehungswissenschaft besteht nach Messerschmidt mithin darin, Formen der Reflexion zu entwickeln, welche die Bringschuld nicht einfach auf der Seite der Eingewanderten verorten und dabei zugleich der Neigung widerstehen, diese in Form einer Gegenbewegung zum Gegenstand eines Opferdiskurses zu machen. Es gelte daher, Globalisierung und Migration zu untersuchen, ohne dabei stigmatisierende, kulturalisierende und rassifizierende Denkmuster zu bemühen und ohne erneut einen verdeckten Paternalismus zu praktizieren (vgl. Sternfeld 2010; Rieger-Ladich 2014b). Messerschmidt führt diesbezüglich aus: »Wer von Diskriminierung spricht, untersucht nicht mehr Integrationsdefizite von Minderheiten, sondern konfrontiert sich mit deren Erfahrungen, diskriminiert zu werden.« Um dies zu bewerkstelligen, seien allerdings neue narrative Verfahren notwendig: »Dann müssen andere Geschichten erzählt werden, Geschichten aus einer Einwanderungsgesellschaft, die sich beharrlich weigert, eine solche zu sein, und in der Eingewanderte vorwiegend hinsichtlich ihrer Hilfsbedürftigkeit oder Bedrohlichkeit wahrgenommen oder als Bereicherung angesehen werden« (Messerschmidt 2009: 142; HV durch MRL).

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Paternalismus und H egemonie: A ndere G eschichten Damit ist nun eine Herausforderung benannt, die auch von Vertreter*innen der Sozialtheorie und des Feminismus intensiv diskutiert wird. Nachdem Chakravorty Spivak (2008) in den 1980er Jahren die Frage aufgeworfen hatte, ob die Subalternen (für sich) zu sprechen in der Lage seien, wurde diese wieder thematisch in einer Debatte, die zwischen dem Soziologen Pierre Bourdieu und dem Philosophen Jacques Rancière geführt wurde. Ohne diese hier in der gebotenen Gründlichkeit rekonstruieren zu können – das habe ich an anderer Stelle getan (Rieger-Ladich 2017) –, sei nur knapp der zentrale Konflikt benannt: In der Studie Der Philosoph und seine Armen, die in Frankreich 1983 erschien, also wenige Jahre nach der Veröffentlichung der Feinen Unterschiede (Bourdieu 1979/1982), warf Rancière seinem Kollegen aus der Soziologie vor, dass er jene, deren Schicksal er doch zu erforschen behaupte, tatsächlich fortlaufend entmündige. Mit beträchtlichen deterministischen gesellschaftlichen Kräften rechnend, könne Bourdieu die einzelnen Subjekte nur noch als an ihren kollektiven Habitus gekettet denken. Der sich als kritisch gerierende Sozialwissenschaftler wiederhole damit auf fatale Weise genau jenen elementaren Denkfehler, der schon die frühe Ideologiekritik gekennzeichnet – und später zu deren Diskreditierung beigetragen – habe. Statt den Verlierer*innen der Kämpfe um Anerkennung und Ressourcen, um Wertschätzung und Aufmerksamkeit gleichsam »auf Augenhöhe« zu begegnen und sie grundsätzlich als zurechnungsfähige Subjekte zu betrachten, die ihre eigenen Interessen sehr wohl zu artikulieren vermögen, könne Bourdieu allenthalben nur noch machtförmige Reproduktionsmechanismen und gesellschaftliche Verblendungszusammenhänge erkennen, auf deren Entzauberung er sich denn auch in der Folge kapriziere (vgl. Rancière 2010). Ob diese Vorwürfe an Bourdieu, die durchaus auch von anderer Seite erhoben werden – etwa von Michel de Certeau, Luc Boltanski und Judith Butler –, gerechtfertigt sind, will ich an dieser Stelle nicht diskutieren (vgl. RiegerLadich 2017); ungleich wichtiger als die Frage der Berechtigung dieser Vorwürfe an die Adresse Bourdieus ist, dass damit eine schwerwiegende Kritik formuliert ist, auf die Vertreter*innen einer Kritischen Gesellschaftstheorie zu reagieren gehalten sind. In Frage steht daher, wie Formen der Kritik entwickelt werden können, die eben nicht länger dem überkommenen Paradigma der Stellvertreter*innenschaft folgen (vgl. Jaeggi 2013; Celikates 2009). Diese Verständigung über die Fallstricke einer sich kritisch ­wähnenden

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Sozialtheorie hat bereits zu einer Reihe interessanter konzeptueller Vorschläge geführt. Die vielleicht am intensivsten erprobte – und wohl auch naheliegendste – Variante besteht darin, jene, von deren Interessen doch die Rede sein soll, endlich selbst zu Wort kommen zu lassen. Statt also die Kräfte der Imagination zu bemühen und auf die Empathie zu vertrauen, geht es diesen Konzepten viel eher darum, eine Form zu finden, in der sich die Objekte der kritischen Sozialforschung schrittweise emanzipieren, auf diese Weise sukzessive zu Subjekten werden und in Folge dessen auch nicht länger darauf hoffen müssen, dass andere ihre Nöte möglichst präzise erschließen – und dann (für sie) sachkundig und verantwortungsbewusst das Wort erheben. Während Rancière (1981/2013) in seiner Studie Die Nacht der Proletarier, die aus intensiven Studien im Archiv hervorgegangen ist, Dokumente der 1830er Revolution zusammenstellt und dergestalt Einblicke in die Träume und Wünsche der Arbeiter*innen verschafft, erteilen Bourdieu und seine Mitarbeiter*innen in ihrer großen Studie Das Elend der Welt (Bourdieu et al. 1997), welche die soziale Malaise Frankreichs erschließen soll, jenen das Wort, deren Leiden an der Gesellschaft im Zentrum steht. Auch innerhalb der Erziehungswissenschaft sind in der Vergangenheit solche Überlegungen angestellt worden. So ging die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung eben auch aus dem Bestreben hervor, neue Formen eines partizipativen Forschungsdesigns zu entwickeln und die Betroffenen als Experten ihrer eigenen Erfahrungen zu betrachten (vgl. Koller/Kokemohr 1996). Und als es Klaus Wünsche Ende der 1970er unternahm, die Welt der Hauptschüler zu erschließen, experimentierte er ebenfalls mit neuen Formen der Darstellung: Statt auf statistisches Datenmaterial zurückzugreifen und dieses nach den Regeln der quantitativ verfahrenden Sozialforschung zu interpretieren, suchte er das Gespräch mit Hauptschüler*innen und protokollierte die Interviews; er stellte ethnographische Beobachtungen an und legte die verdeckte Logik des Unterrichtsgesprächs frei (vgl. Wünsche 1974). Die Forderung nach anderen Geschichten, die Messerschmidt erhoben hat, kann freilich auch noch auf eine weitere Weise ausgelegt werden. Wenn es darum geht, die hegemonialen Narrative zu Einwanderung, zu Flucht und Migration zu durchkreuzen, wenn das Augenmerk endlich auch hierzulande auf weitgehend tabuisierte Erfahrungen von Diskriminierung und Demütigung, von Ausgrenzung und Rassismus gelenkt werden soll, wenn die Mikropolitik der Deklassierung thematisch werden soll, geraten auch andere Textsorten in den Blick. Gerade weil Migrant*innen und Geflüchtete hinreichend oft zum Gegenstand von Kommentaren, Reportagen und wissenschaftlichen

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Studien werden, erscheinen die unterschiedlichen Formen von Selbstzeugnissen umso interessanter. Sie können als ein kritisches Korrektiv gelten, als ein Gegendiskurs zu den dominanten Erzählmustern, welche die massenmedial verstärkten Formen der gesellschaftlichen Selbstverständigung prägen. Gegendiskurse sind dabei freilich nicht der Ort, an dem nun endlich rohe, gleichsam »vordiskursive« Erfahrungen unverstellt zum Ausdruck gebracht werden können, wie dies manche frühe Studien von Michel Foucault (1988) suggerieren, sondern ihrerseits mediale Zeugnisse, über die andere – eben: abweichende, weniger stark repräsentierte – Erfahrungen artikuliert werden können (vgl. Häder 2004).

M inoritäre P ositionen Literarische Texte geraten daher in der Debatte über Migration, Einwanderung und kulturelle Identität nicht nur insofern in den Fokus, als sie sich dadurch auszeichnen, dass sie die soziale Wirklichkeit besonders genau und facettenreich zu erschließen vermögen (vgl. Koller 2002; 2014) und in der Folge auch deren Antagonismen zum Ausdruck bringen; ästhetische Zeugnisse können eben auch als ein vielstimmiges Archiv betrachtet werden, in dem sich Erfahrungen unterschiedlichster Art sedimentieren. Fiktionale Texte – Gedichte, Erzählungen, Novellen, graphic novels, Romane und (Auto-) Biographien – bilden diese Erfahrungen freilich nicht einfach ab, sondern machen sie zum Gegenstand und können, durch den Einsatz textanalytischer und rekonstruktiver Verfahren, erschlossen und gleichsam zurückübersetzt werden (vgl. Pamuk 2012; Rieger-Ladich 2014). Es spricht nun manches dafür, dass besondere erkenntnistheoretische Anstrengungen unternommen werden müssen, wenn Flucht und Migration thematisch werden. Nachdem hierzulande nicht länger geleugnet wird, dass auch Deutschland (längst) ein Einwanderungsland ist, dass es zur Heimat einer großen Zahl von Geflüchteten geworden ist (und dies wohl auch weiterhin werden wird), gilt es darüber nachzudenken, wie sich jener Austausch von Erfahrungen und Geschichten, von Lebensentwürfen und Wünschen organisieren lässt, der notwendig ist, wenn nicht länger Klischees und Stereotypen die unterschiedlichen Aushandlungsprozesse prägen sollen. Wenn das Denken in Oppositionen überwunden werden soll, das einem vermeintlich homogenen »Wir« ein nicht näher bestimmtes, bisweilen auch dämonisiertes »Die« gegenüberstellt (vgl. Emcke 2016), gilt es, auch in der Wissenschaft

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für diskursive Räume Sorge zu tragen, in denen sowohl Erfahrungen unterschiedlichster Art als auch widerstreitende Interessen artikuliert werden können (vgl. Koller 1999; Mouffe 2014; Rieger-Ladich 2013). Auch wenn durchaus nicht bei jeder Fluchtbiographie die Register der kulturellen Differenz bemüht werden müssen – nicht eben selten führt dies zu einer Essentialisierung, die wenig hilfreich ist (vgl. Radtke 2017) –, gilt es doch damit zu rechnen, dass hier bisweilen verstärkte Bemühungen des Verstehens notwendig sind. Und dies von allen Beteiligten. Ohne damit einer plumpen »Wut des Verstehens« (Hörisch) das Wort zu reden, das alle Phänomene der Differenz zu überwinden sucht, gilt es sich zu vergegenwärtigen, dass auch die deutsche Gesellschaft künftig von sozialen Gruppen gebildet werden wird, deren Vergangenheit nicht mehr über ein großes Narrativ – wie etwa das der Erfahrung der Shoah und den Bemühungen, diesen »Zivilisationsbruch« (Adorno) als kritischen Stachel der Erinnerung zu betrachten (vgl. Thiemeyer 2016) – organisiert wird. Wenn dieses neue »Wir« nun ungleich pluraler, differenter und vieldeutiger ausbuchstabiert werden soll, ist es notwendig, diskursive Räume zu stiften, in denen alle Beteiligten sich äußern und (möglichst) angstfrei für ihre Interessen eintreten können. Die Kultivierung von Dissens, die mit der Logik des Hegemonialen zu brechen sucht, hat daher zur Voraussetzung, dass Pluralität praktiziert und der Widerstreit der Perspektiven immer wieder eingeübt werden (vgl. Arendt 1981, Koller 1999). In Frage steht daher, wie künftig auch jenen Perspektiven Geltung verschafft werden kann, welche von minoritären Gruppen eingenommen werden. Wird Repräsentation immer auch als ein Machtspiel verstanden, gilt es nach gegenhegemonialen Strategien zu suchen – mithin nach narrativen Verfahren, welche nicht nur die herrschende Ordnung als herrschende Ordnung ausweisen und dabei die Interessen jener aufdecken, die von dieser am meisten profitieren, sondern auch den Stimmen weniger privilegierter sozialer Gruppen Gehör zu verschaffen (vgl. Broden/ Mecheril 2014).

L oyalität

und

E rpressbarkeit

Eines der eindringlichsten Dokumente, welches einen Zugang zum Erleben einer Geflüchteten verschafft, stammt aus der Feder Hannah Arendts und trägt den Titel We Refugees (Arendt 1943/1996). Ihre Flucht vor den Nationalsozialisten führte Arendt zunächst nach England, dann über Frankreich und

Latente Diskriminierung und verdeckter Rassismus

schließlich in die USA. Hier lebte sie in New York City und lehrte an der New School for Social Research und schließlich an der nicht weniger renommierten Columbia University. Obwohl diese wenigen Zeilen zu dem, was gemeinhin ein »Lebenslauf« genannt wird (vgl. Hahn 1988), durchaus den Eindruck nähren, dass ihr die USA nicht nur zu einem neuen Lebensmittelpunkt wurden, sondern sie hier auch heimisch wurde, hält sie in ihrem frühen Text, der 1943 von dem jüdischen Journal Menorah publiziert wird, die schmerzhafte Erfahrung der Vertreibung fest, ohne diese – so scheint es – zu beschönigen. Arendt setzt ein mit dem Hinweis darauf, dass das Wort Flüchtling von ihr, und eben auch vielen anderen, nicht sonderlich geschätzt wird – »In the first place, we don’t like to be called ›refugees‹« – und erläutert dann auf sehr präzise und zugleich anschauliche Weise, was die neue Lebenssituation so schmerzhaft macht: »We lost home, which means the familiarity of daily life. We lost our occupation, which means the confidence that we are of some use in the world. We lost our language, which means the naturalness of reactions, the simplicity of gestures, the unaffected expressions of feelings. We left our relatives in the Polish ghettos and our best friends have been killed in concentration camps, and that means the rupture of our private lives-« (Arendt 1943/1996: 110)

Flucht, so lässt sich diese Passage interpretieren, wird von Arendt als eine massive Form der Beraubung und des Verlusts erlebt. Als Geflüchtete wird sie nicht nur zum Verlassen ihrer Heimat und der vertrauten Lebenskontexte gezwungen; sie ist eben auch an ihrem neuen Lebensmittelpunkt elementarer Formen des sozialen Lebens beraubt. Was Geflüchtete zuallererst einbüßen ist demnach die unmittelbare Vertrautheit im Umgang mit den alltäglichen Dingen. Das, was sich gemeinhin »von selbst versteht«, was durch den routinierten Vollzug entlastet und zugleich Sicherheit stiftet, wurde unwiderruflich zurückgelassen.2 Das Eingebundensein in alltägliche Praktiken, in 2 |  Dies ist denn auch der Kontext, der erschließt, weshalb sich etwa Theodor W. Adorno in einer Miniatur seiner Minima Moralia der Form von Türgriffen zuwendet: Der drehbare Türknauf, der in den USA weit verbreitet ist, kann dann – ganz unabhängig von seiner Funktionalität – zu einem Objekt werden, das die Fremdheitserfahrungen anschaulich – bzw. hier: »handgreif lich« – werden lässt.

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tausendfach intuitiv vollzogene Lebensbezüge existiert nicht mehr. Der Geflüchtete spürt auf schmerzhafte Weise, so ließe sich im Rückgriff auf einen Begriff formulieren, der von Helmuth Plessner (1948) geprägt wurde, dass er keine »Mitte« hat, dass er aus dem Zentrum gerückt – eben: exzentrisch positioniert – ist. Mit dieser Erfahrung geht für Arendt auch der Verlust der eigenen Bestimmung einher: Es scheint, als sei nicht allein das »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« (Arendt 1981: 222) lockerer gestrickt, auch der »eigene Faden« (ebd.), den es doch in das Webstück zu schlagen gilt, erscheint nun als völlig verzichtbar. Die Welt scheint auf die Beiträge jener, die als »Refugees« bezeichnet werden, sehr gut verzichten zu können; sie werden nicht adressiert, wenn an ihrem neuen Bestimmungsort Fragen des Gemeinwohls, der politischen Kultur oder der Teilhabe diskutiert werden. So schmerzhaft diese Erfahrung des Privativen ist, sie wird noch dadurch verstärkt, dass die hiervon Betroffenen augenscheinlich nicht mehr über jene Mittel verfügen, um genau diese Erfahrung der Beraubung artikulieren zu können. Sie haben, so Arendt, ihre Sprache verloren – und dies in einem umfassenden Sinne: Nicht allein ist ihre Muttersprache über Nacht entwertet und in vielen Kontexten völlig wertlos; die Geflüchteten haben ein breites Spektrum von Artikulationsmöglichkeiten eingebüßt: Mit dem (erzwungenen) Verlust der lebensweltlichen Eingebundenheit in dichte Sozialbeziehungen geht auch jenes Vertrauen darauf verloren, dass das Gegenüber die feinsten Regungen zu entziffern vermag – die Gestik und die Mimik, aber auch dezente Andeutungen und taktvolle Auslassungen versteht. Auch Gefühle werden daher von Arendt nicht als ein individuelles, gleichsam privates Phänomen gedeutet, sondern als ein Modus der Verständigung, der voraussetzt, dass jene, die hierbei involviert sind, bestimmte Erfahrungen teilen. In der Folge dieser prekären Situiertheit werden die »Neuankömmlinge« (Arendt) leicht erpressbar. Ihre Hoffnungen richten sich nicht länger auf den Bereich des Privaten und verlässliche Freundschaften, sondern nun auf die Gesellschaft: »We are – and always were – ready to pay any price in order to be accepted by society« (Arendt 1943/1996: 119). Und so erklärt Arendt denn auch die bedingungslose Loyalität, die geflüchtete Juden den sie aufnehmenden Gesellschaften entgegenbrachten und die sie am Beispiel eines Herrn Cohn erläutert, nicht als kollektiv zu beobachtende, charakterliche Besonderheit, sondern als Reaktion auf eine von vielen geteilte, besondere Form der Verletzbarkeit, die auf den rechtlichen wie auf den sozialen Status der Geflüchteten verweist. Die elementare Form der Verletzbarkeit liegt hier gleichsam in gesteigerter Form vor. Und so war Herr Cohn, als er in Deutschland

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lebte, nach Aussage von Arendt »a 150% German«, und im Anschluss, nach seiner Übersiedelung in die CSSR, »a convinced Czech patriot«, bevor es ihn nach Wien und schließlich nach Paris verschlug – stets mit den entsprechenden Bekenntnissen. Doch bei allen Bemühungen darum, die neuen Gegebenheiten als eine Herausforderung zu betrachten, die es zu bewältigen gilt, und dem Versuch, eine entsprechende Zuversicht zu verkörpern, wissen die Betroffenen doch in jedem Moment, dass sie hierfür einen sehr hohen Preis zahlen: »[U]nder the cover of our ›optimism‹ you can easily detect the hopeless sadness of assimilationists« (Arendt 1943/1996: 117). Es ist unstrittig, dass Hannah Arendts eindringliche Beschreibungen auch einer spezifischen historischen Situation geschuldet sind: In ihr kommen die Erfahrungen einer Jüdin zum Ausdruck, die schon als Kind in der Schule mit antisemitischen Schmähungen konfrontiert war, die enge Freunde sowie Verwandte in den Konzentrationslagern verlor und im Jahr 1933 zur Flucht gezwungen wird. Aber trotz dieser Situierung ihrer persönlichen Erfahrungen lassen sich ihnen doch auch verallgemeinerungsfähige Hinweise auf die Charakteristika jener Konstellation entnehmen, unter der Geflüchtete ihr Leben zu führen gezwungen sind. Arendt deckt in ihren dichten Formulierungen das komplizierte Ineinander von Verletzbarkeit und Streben nach Anerkennung, von Loyalität und Diskriminierung, von Zuversicht und Verlustgefühlen auf. Und sie zeigt, dass die eigentümliche Schutzlosigkeit und die tief empfundene Dankbarkeit gegenüber der aufnehmenden Gesellschaft die »Neuankömmlinge« nicht eben selten zu besonders loyalen, stets um Anerkennung und Respekt bemühten Bürger*innen werden lässt (vgl. Prizkau 2016).

R epräsentation

und

H egemonie

Zeitgenössische literarische Texte, die das Thema Flucht und Migration behandeln, sind nun für die pädagogische Reflexion deshalb besonders interessant, weil sie einen Zugang zu dieser besonderen Konstellation ermöglichen. Wenn in einer Migrationsgesellschaft, die von unterschiedlichen Erfahrungen, widerstreitenden Interessen und heftiger werdenden Auseinandersetzungen um Ressourcen geprägt ist (vgl. El-Mafaalani 2017), tatsächlich alle Perspektiven gleichberechtigt zum Ausdruck kommen sollen und den Erfahrungen der differenten sozialen Gruppen (zunächst) das selbe Gewicht beigemessen werden soll (vgl. Mecheril 2014), erschließt sich leicht,

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dass wir insbesondere auf die Erzählungen jener angewiesen sind, deren Lebensentwürfe bislang noch nicht angemessen repräsentiert sind – weder in ästhetischen Zeugnissen, noch in öffentlichen Debatten oder in wissenschaftlichen Studien. Weil in diesen Formen der Repräsentation hegemoniale Kräfteverhältnisse zum Ausdruck kommen, muss es nicht verwundern, dass diese unzureichende Repräsentation nicht allein für die Biographien von Geflüchteten gilt; dies lässt sich auch bei jenen beobachten, welche aus deprivierten sozialen Milieus stammen oder deklassierten Berufsgruppen angehören, deren Alltag reich ist an Erfahrungen der Diskriminierung.3 Dabei gilt, dass fiktionale Texte, welche nicht allein den schwierigen Alltag von Geflüchteten beschreiben, sondern eben auch ihr Ringen um Normalität und ihre Kämpfe um Selbstachtung, durchaus nicht von den »Biographien« ihrer Verfasser*innen »beglaubigt« werden müssen: Ein literarischer Text wird nicht durch ähnlich gelagerte persönliche Erfahrungen der Autor*in geadelt oder gewinnt dadurch notwendig an Qualität; aber gleichwohl sind die Verfasser*innen migrantischer Literatur eben doch auffällig häufig selbst Migrant*innen. Ich plädiere daher dafür, das Etikett »Migrationsliteratur« nicht für jene zu reservieren, die selbst migriert sind und in ihren Texten die eigenen Erfahrungen verhandeln, sondern auch dieses Genre strikt über den Gegenstand zu bestimmen – wie das auch für Internats-, Bildungs- oder etwa Kriminalromane gilt (vgl. Rieger-Ladich 2014a).4 Aus diesem Grund gehe ich im Folgenden auch nicht weiter auf die Biographie von Melinda Nadj Abonji, der Autorin des Romans Tauben fliegen 3 |  Die Diskriminierungen in der Dienstleistungsbranche werden zum Gegenstand in Robert Kischs (2015) erschütterndem »Tatsachenroman« Möbelhaus. 4 |  Weil sich dieses Klischee sehr hartnäckig hält, erlaube ich mir an dieser Stelle einige Hinweise. Vladimir Nabokov musste nicht pädosexuell sein, um Lolita schreiben zu können; Pete Dexter musste nicht zum Mörder werden, um zum Autor von Train werden zu können; Rainald Goetz musste kein windiger Geschäftsmann sein, der mit Millionen spielt, um eine solche Figur in Johann Holtrop zu porträtieren; Philipp Winkler musste auch kein Hooligan sein, um diese Szene in seinem Roman Hool zum Gegenstand machen zu können. Und schließlich musste Heinz Strunk nicht zum Alkoholiker werden, um in Der goldene Handschuh der gleichnamigen Kneipe auf der Reeperbahn ein Denkmal zu setzen. Und dabei jenes Milieu zu beschreiben, das sich hier regelmäßig einfindet, um die Nächte mit dem Konsumieren von »Fako« (= Fanta-Korn), »Herrengedecken« und anderen Spezialitäten zu verbringen.

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auf, den ich nun einer Lektüre unterziehen werde, ein. Als Randnotiz sei hier nur erwähnt, dass Nadj Abonji erst fünf Jahre alt war, als sie mit ihren Eltern, die zur ungarischen Minderheit in Jugoslawien zählten, den serbischen Teil verlies und in die Schweiz floh, wo sie seither lebt. Für Tauben fliegen auf, ihren zweiten Roman, wurde sie im Jahr 2010 sowohl mit dem Deutschen wie auch mit dem Schweizerischen Buchpreis ausgezeichnet. Stattdessen interessiere ich mich dafür, auf welche Weise hier vom Alltag einer Familie erzählt wird, die ihre Heimat zurückgelassen hat, die in einem neuen Land anzukommen, sich Respekt zu erwerben sucht – und zu diesem Zweck größte Anstrengungen in das berufliche Fortkommen investiert. Von Arendts Text We Refugees informiert, befrage ich den Roman auch darauf hin, ob hier eine jener »anderen Geschichten« erzählt wird, in denen die Erfahrungen der Beschämung und Diskriminierung, der Demütigung und Zurücksetzung thematisch werden – mithin genau jene, welche in der erziehungswissenschaftlichen Thematisierung von »Kultur« hierzulande gerne zugunsten der Bearbeitung von »Differenz« vernachlässigt werden (vgl. Radtke 2017). Es gilt daher, hier schließe ich mich den Überlegungen etwa Paul Mecherils, María do Mar Castro Varelas, Frank-Olaf Radtkes, Mechtild Gomollas und Astrid Messerschmidts ausdrücklich an, den notorischen Optimismus, der unsere Disziplin auszeichnet (vgl. Rieger-Ladich 2002), nicht weiter zu befördern, sondern sehr viel stärker als dies in der Vergangenheit der Fall war, Fragen der Repräsentation, der Hegemonie, des alltäglichen und institutionellen Rassismus und der strukturellen Benachteiligung stigmatisierter sozialer Gruppen zum Gegenstand zu machen (vgl. Sternfeld 2010). Literarische Texte können – wie dies auch für das Phänomen des Scheiterns gilt – daher für blinde Flecken des pädagogischen Diskurses sensibilisieren und dazu beitragen, diese etwas aufzuhellen (vgl. Koller/Rieger-Ladich 2013). Ästhetische Zeugnisse, das sei an dieser Stelle ausdrücklich betont, »widerlegen« daher nicht einfach die wissenschaftliche Reflexion; sie können aber die Selbstbeobachtung wissenschaftlicher Disziplinen provozieren, sie können zur Erschließung vernachlässigter Gegenstandsbereiche beitragen (vgl. Mollenhauer 1983) und auf Eigentümlichkeiten des pädagogischen Denkstils aufmerksam machen.

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»Papierschweizer«

an der

G oldküste

Der Roman, der aus der Perspektive Ildikos, der älteren Tochter der Familie Kocsis, erzählt wird, weist zwei Erzählstränge auf. Das Leben in der Schweiz, das im Zentrum steht und auf unterschiedlichen Zeitebenen geschildert wird, wird kontrastiert durch Erzählungen von Reisen, welche die Familie in ihre alte Heimat unternimmt. Dieses kontrastive Verfahren verschafft dem helvetischen Alltag eine gewisse Tiefendimension und versieht ihn zugleich mit einem besonderen Index: Das Ineinander von rechtlichen Bestimmungen, von ökonomischen Verfahren, von sozialen Grammatiken und sprachlichen Konventionen, das den Alltag ausmacht, wird von den Mitgliedern der Familie nicht einfach als die unverrückbare und vertraute »Ordnung der Dinge« erlebt, sondern als eine neue Ordnung. Die Flucht aus der Vojvodina, die in ihren Erinnerungen durchaus noch präsent ist, und die Kontakte zu den Freund*innen und der Verwandtschaft aus der alten Heimat lassen sie symbolische Ordnungen als Ordnungen erleben; sie machen also das, was in der Sozialtheorie eine veritable Kontingenzerfahrung genannt wird: An die Stelle von Beobachtungen erster Ordnung treten Beobachtungen zweiter Ordnung und das Gegebene verliert das Kleid des Natürlichen (vgl. Baecker 2000). Allerdings wird schnell deutlich, dass die Mitglieder der Familie Kocsis durchaus keinen spielerischen Umgang mit diesen Konventionen praktizieren. Als sie die Gelegenheit erhalten, in dem kleinen Dorf an der Ostküste des Zürichsees, in dem sie leben, eine Cafeteria zu übernehmen, wird dieses Angebot des Ehepaars Tanner von den Eltern als einmalige Gelegenheit begriffen, die es unbedingt wahrzunehmen gilt. Dieses Angebot, das sie als ein Geschenk begreifen, verlangt allerdings ein besonderes Geschick: Den Vorgängern, der Kundschaft wie auch der Gemeinde gilt es umgehend zu signalisieren, dass von den neuen Pächtern keinerlei unliebsame Überraschungen zu erwarten sind. Und so übernehmen sie nicht nur sämtliche Vorräte, sondern auch das komplette Personal: »Wir, die wir nicht nur Ochsenschwanzsuppe, Brät, Bratensauce, Ravioli und Bohnen aus der Büchse von unseren Vorgängern übernommen haben, sondern auch noch die beiden Serviertöchter, Anita und Christel, und Marlis, die Küchenhilfe, nur Dragana, die Hilfsköchin, haben wir neu eingestellt.« (Abonji 2014: 52f.)

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Wichtig ist das Signal der Kontinuität und der Verlässlichkeit, das davon ausgeht – und das von der Lokalzeitung auch umgehend aufgegriffen wird: »Das Mondial wird ab dem 3. Januar 1993 von der Familie Kocsis im gewohnten Stil, mit unveränderten Öffnungszeiten weitergeführt.« (Ebd.: 53)

Und die Dorfpost schreibt weiter: »[W]ir kennen die Familie Kocsis von der örtlichen Wäscherei, die sie sieben Jahre lang vorbildlich geführt hat. Die Familie, die aus dem ehemaligen Jugoslawien stammt, hat sich gut integriert und hat vor sechs Jahren die Schweizer Staatsbürgerschaft erhalten.« (Ebd.: 53)

Erhellend ist nun, dass das Kapitel, dem diese Passage entnommen ist, den Titel »Die Familie Kocsis« trägt. Hier wird also die Perspektive einer Außenbeobachtung aufgegriffen – und damit ein wichtiger Hinweis auf den besonderen Status der Familie gegeben: Deren Mitglieder sind zwar durchaus im Besitz der Staatsbürgerschaft; sie sind also vor dem Gesetz Schweizer – und folglich mit allen Rechten ausgestattet. Aber dies ist eben nur der formale rechtliche Status; noch Jahre nach ihrer Einbürgerung wird Ildiko von manchen als »Papierschweizerin« tituliert (ebd.: 53): Es scheint daher, als sei ihnen die Staatsbürgerschaft nur unter Vorbehalt verliehen worden, auf Abruf gleichermaßen. Im Alltag, so lässt sich die Mitteilung der Dorfpost interpretieren, muss dies noch von ihnen beglaubigt werden; es wirkt, als müsste der Vertrauensvorschuss, der von den Schweizer Behörden – und hier: von der Versammlung der Gemeindemitglieder, die darüber zu befinden hatten – ausgesprochen wurde, von den derart »Beschenkten« zurückgezahlt und gleichsam verifiziert werden. Anders formuliert: »Familie Kocsis« steht unter fortwährender Beobachtung; sie muss sich auch weiterhin bewähren, sie muss sich der Gunstbezeugung erst noch als würdig erweisen. Besondere Brisanz erhält diese auf Dauer gestellte Bewährungsprobe dadurch, dass sie in der Öffentlichkeit stattfindet – und damit vor aller Augen. Die Familie der Erzählerin hat, wie schon erwähnt, eine Cafeteria gepachtet. Sie suchen also in der Gastronomie zu reüssieren – und sind damit im Bereich der Dienstleistung, der auch deshalb besondere Belastungen bereithält, weil nicht eben wenige Kunden erwarten, von den Servicekräften überaus zuvorkommend behandelt zu werden. Der Schlüsselbegriff lautet hier »Professionalität«: Alle Mitglieder des Teams – die vier Familienmitglieder wie auch die

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Angestellten – bemühen sich daher um einen reibungslosen Ablauf; sie legen größten Wert darauf, die einzelnen Arbeitsschritte so miteinander zu koordinieren, dass der Kunde keinerlei Einblicke in die komplexen Verrichtungen erhält, die »backstage« und unter beträchtlichem zeitlichem Druck vollzogen werden müssen. Nomi, die jüngere Schwester von Ildiko, beherrscht dies – und hilft dieser immer wieder, wenn sie droht, genau jene Mischung aus Freundlichkeit, Aufmerksamkeit und Unterwürfigkeit zu verlieren, die eben als »professionell« gilt: »[E]s ist eine Kunst, im Service auch beim schlimmsten Ansturm allen das Gefühl zu geben, dass sie, das Fräulein, nur dazu da ist, die unterschiedlichsten Wünsche schnell und ohne Hektik zu erfüllen, und wenn man wirklich professionell ist, kann man da und dort noch etwas Passendes sagen, ein unaufdringliches Kompliment platzieren (Sie haben aber eine schöne Brosche), und wenn man so professionell ist, dass einem niemand die Professionalität anmerkt, dann läuft wirklich alles spielend, rund, und jeder Gast fühlt sich individuell bedient, nicht abgefertigt, merkt nicht, dass jeder Platz in der Cafeteria besetzt ist.« (Ebd.: 103)

Die eigentümliche Herausforderung besteht mithin darin, in einer Dienstleistungsbranche auf eine solche Weise die entsprechenden Dienstleistungen zu erbringen, dass diese als solche gar nicht wahrgenommen werden. Die Freundlichkeit und die Aufmerksamkeit würden an Wert einbüßen, wenn sie lediglich als Kennzeichen einer hohen Professionalität erlebt würden – das Servicepersonal muss stattdessen den Eindruck vermitteln, als würden diese um ihrer selbst willen praktiziert und die Kunden wären letztlich keine Kunden, sondern Personen, die eine persönliche Zuwendung erfahren. Und so gilt für alle Praktiken, dass für sie nur sehr geringe Toleranzen gelten. Anschaulich erläutert die Erzählerin das am Beispiel des Tempos, mit dem sich die Bedienungen in der Cafeteria bewegen: »Laufen, das ist ein weiterer Grundsatz, ist absolut verboten, egal, was passiert, egal, wie rasch sich die Cafeteria füllt, man darf höchstens schnell gehen (zackig, aber nicht überhastet, flink, aber niemals übereilt), eine Kellnerin, die rennt, hat bereits etwas verpasst, ist schon zu spät (wir müssen den Gästen das Gefühl geben, dass uns unsere Arbeit leicht fällt, versteht ihr?).« (Ebd.: 105)

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Aber auch wenn die Cafeteria damit einer Bühne gleicht, auf der – jeden Tag aufs Neue – das Stück der Bewährungsprobe der Familie Kocsis inszeniert wird, werden die Rollen, die hierbei zu spielen sind, von Ildiko als unterschiedlich (un-)angenehm erlebt. Dem Service etwa zieht sie eindeutig die Arbeit hinter der Theke vor: »Ich sehe mir zu, ich, die in einer notwendigen Verkleidung bereitsteht, zeige, dass ich eine geeignete Buffettochter bin, ich, der Kuckuck hinter der Theke, glücklicherweise, denn im Service bin ich vogelfrei, freie Sicht auf sie, die ich bin, aber heute nicht, heute schützt die armeegrüne Theke wenigstens den unteren Teil des Körpers, ja, ich bin jedes Mal froh, wenn ich mit Nomi den Dienst tauschen kann, sie für mich im Service arbeitet.« (Ebd.: 88f.)

Ildiko geht also in ihrer Rolle keineswegs auf: Sie beobachtet sich selbst bei ihrer Performance; sie fühlt sich ungeschützt, weiß sich im Fadenkreuz männlicher Blicke. Nicht weniger belastend sind die Ressentiments, denen sie immer wieder begegnet und die sich an ihrer Herkunft festmachen. Ohne dass die meisten Kunden genau wissen, aus welcher Region die neuen Betreiber der Cafeteria stammen und aus welchen Gründen sie seinerzeit geflohen sind, werden sie in einer perfiden Weise adressiert: Der Familie Kocsis wird zwar von den langjährigen Gästen ›großzügig‹ attestiert, dass sie mit der Einbürgerung »die Sitten und Gepflogenheiten unseres Landes« [d.i. der Schweiz] kennen- und schätzen gelernt hätten, aber gleichwohl gelten sie eben doch auch als besonders kompetente Gesprächspartner, wenn es darum geht, die (vermeintliche) Minderwertigkeit jener »Völker« zu diskutieren, welche den »Balkan« zu einer brandgefährlichen, von vielen Krisen geschüttelten Region machen. Das erhöhte Maß an Affektkontrolle, das dabei von Ildiko verlangt wird, zeigt sich in einer auch stilistisch interessanten Passage, in der sich überlagernde Gesprächsbeiträge ineinander montiert sind und die ganz ohne Kennzeichnung der einzelnen Beiträge der wörtlichen Rede auskommt: »Du, wie sich die auf dem Balkan die Köpfe einschlagen, und die Serben, das ist eine ganz schön kriegerische Meute, die sind wie die Hyänen (Herr Pfister, der Umzüge organisiert, weltweit, auch nach Übersee, der sich mit einem Freund unterhält), Sie haben eine halbe Schale bestellt, oder? Ja, danke schön, und wie heisst der Serbenführer in Bosnien? Ah ja, Mladic,

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genau, danke, Fräulein, der und der Milosevic, die sind noch schlimmer als echte Nazis, glaub mir.« (Ebd.: 105)

Situationen wie diese sind nicht eben selten – und sie sind es, die Ildiko wiederholt an die Grenzen ihrer Belastbarkeit bringen. Ist die Konstellation zwischen einem Gast der Cafeteria und dem Personal, das im Service eingesetzt ist, ohnehin von einer deutlichen Asymmetrie geprägt – das, was sagbar ist, unterscheidet sich auf beiden Seiten beträchtlich –, verschärft sich hier die Situation noch einmal. Ähnlich wie Kinder der zweiten oder dritten Einwanderergeneration, die längst die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, hierzulande aber dennoch immer wieder auf die ethnische Zugehörigkeit ihrer Eltern und Großeltern angesprochen und damit als »Ausländer« adressiert werden (vgl. Terkessidis 2010), wird Ildiko hier in ein Gespräch verwickelt, das sich um den »Balkan« dreht. Dieser wird von dem Gast ersichtlich als Kontrastfolie aufgerufen, um den »Westen« in einem strahlenden Licht erscheinen zu lassen. Die Gräueltaten, die in den Jahren zwischen 1992 und 1995 von Angehörigen der serbischen Armee insbesondere an bosnischen Muslim*innen begangen wurden, werden so zum Beleg für die (vermeintlich) höhere Zivilisationsstufe der schweizerischen Gesellschaft (und en passant noch zur Relativierung der Verbrechen der Nationalsozialisten eingesetzt). Dass Familie Kocsis zur ungarischen Minderheit zählte, die in der Vojvodina lebte, fällt dabei nicht weiter ins Gewicht – sie stammt eben auch aus dieser »kriegerischen Region« und ist entsprechend infiziert. Dies wird freilich nicht als Vorwurf artikuliert; vielmehr wird die Bedienung mit einem vergifteten Kompliment bedacht: Obwohl sie ebenfalls aus dieser Region stamme, habe sie sich doch in der Schweiz erfreulicherweise schon auf sehr gute Weise integriert. Das Ressentiment, dem sie hier begegnet, hat daher die Gestalt eines Komplimentes, das sich schlecht zurückweisen lässt; es ist in die Form einer beiläufigen Herablassung gekleidet.

Q uellen

von

D iskriminierung

Tauben fliegen auf erweist sich auch deshalb als ein reizvoller und erkenntnisstiftender Roman, weil er nicht allein in einer gleichsam phänomenologischen Perspektive die unterschiedlichen Formen des Ressentiments und der Herabsetzung schildert, denen die Mitglieder der Familie Kocsis immer wieder ausgesetzt sind, sondern auch die differenten Reaktionen auf diese.

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Die beiden Töchter und die Mutter, die am meisten Publikumskontakt haben – der Vater ist in der Küche und kocht mit großer Hingabe –, interpretieren die fraglichen Situationen allerdings durchaus unterschiedlich. Während die Mutter sich aller Bewertungen und Positionierungen strikt zu enthalten versucht 5 und das gemeinsame Unternehmen – das Betreiben der Cafeteria, das eben auch den Grundstock dafür legen soll, später in die Bildung der beiden Töchter investieren zu können – auf keinen Fall gefährdet sehen möchte, kommt es zwischen Ildiko und Nomi immer wieder zum Dissens bei der Auslegung von Blicken, Gesten und Äußerungen. Nomi, die Ildiko einmal als »aus einer Laune heraus unangepasst (Abonji 2014: 225)« beschreibt und als auf »eine frische Art gedankenlos« (ebd.), interpretiert manche Szenen anders als ihre ältere Schwester – sie misst einzelnen Bemerkungen weniger Bedeutung bei; sie betrachtet manche Äußerungen ganz schlicht als Unüberlegtheiten, die nicht darauf abzielen, die Mitglieder ihrer Familie zu verletzten oder herabzusetzen. Ildiko besitzt ersichtlich nicht das Talent, Handlungen, die als herabsetzend ausgelegt werden können, zu entschärfen und elegant zurückzuweisen. Wenn sie in der Cafeteria arbeitet und – entsprechend gekleidet – die Bühne betritt, praktiziert sie nicht eben selten eine »Hermeneutik des Verdachts« (Ricoeur), die von einer Vielzahl entsprechender Erfahrungen gespeist ist. Den Diskriminierungen innerhalb der Cafeteria entgegenzutreten, ist schon deshalb kaum möglich, weil sie hier auf ihre Rolle als Servicekraft verpflichtet ist. Kaum minder schwierig ist es, zu entscheiden, als wer sie diskriminiert wird: Ist es dem Sexismus männlicher Gäste geschuldet, wenn diese sie mit ihrem Blick unverhohlen taxieren und sie zu einem Objekt des Begehrens machen? Oder kommt in den überheblichen Gesten beim Aufgeben einer Bestellung ein unverhüllter Klassismus zum Ausdruck, der sich auch darin verrät, dass manche Gäste dem Dienstleistungspersonal kaum anders als »Menschen zweiter Klasse« zu begegnen vermögen? Oder zeigt sich in den Kommentierungen des Krieges im ehemaligen Jugoslawien und der Rede vom »Balkan« der von einer »kriegerischen Meute« bevölkert werde (vgl. Abonji 2014: 105), 5 |  Hierzu führt sie einmal aus: »[W]ir können es uns nicht leisten, im Geschäft über Politik zu reden, sagt Mutter, vor allem jetzt nicht, wo die Lage angespannter ist – wisst ihr was, wir müssen den Leuten zeigen, wir sind Individuen, und irgendwann werden sie uns nicht mehr bemerken, dann sind wir Luft für sie, das ist am besten, und wenn euch irgendjemand nach eurer Meinung fragt, wir haben keine Meinung.« (Abonji 2014: 151)

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nicht ein manifester Rassismus? Oder wäre nicht eher damit zu rechnen, dass es sich hierbei gar nicht um Disjunktionen handelt, sondern um eine komplizierte Gemengelage von Diskriminierungen und verachtenden Herabsetzungen unterschiedlicher Art, um komplizierte Formen der Überlagerung, so dass mit einer unheilvollen Vermischung und Gleichzeitigkeit von Misogynie und Sexismus, von Klassismus und Rassismus zu rechnen ist? Dieses Phänomen, das unter dem Stichwort Intersektionalität auch innerhalb der Erziehungswissenschaft intensiv diskutiert wird (vgl. etwa: Casale/ Rendtorff 2008; Riegel 2015), wird in Nadj Abonjis Roman immer wieder thematisch. Dabei wird auch deutlich, dass manche Handlungen und Äußerungen durchaus uneindeutig sind, dass die Intentionen der beteiligten Akteure nicht immer zweifelsfrei zu erschließen sind und sie daher auf unterschiedliche Weise ausgelegt werden können. Die Konflikte, die sich bei der Arbeit der Interpretation ergeben können, werden überdeutlich, als es zu einem Vorfall in der Herrentoilette kommt. Nachdem sie diese in der Vergangenheit wiederholt von Urinlachen reinigen mussten, die sich – bei sehr wohlwollender Auslegung – womöglich noch als Ergebnis einer Unachtsamkeit interpretieren ließen (vgl. Abonji 2014: 86, 160), werden sie eines Tages von einem Gast verstohlen auf einen »Unfall« hingewiesen. Die Herrentoilette ist in einer Weise defäkiert, dass hier nun kein Zweifel mehr an der Mutwilligkeit bestehen kann – die Wände sind verschmiert, eine verschmutzte Herrenunterhose liegt auf dem Boden, neben der Kloschüssel. Ildiko, der sofort beschwichtigende Kommentare ihrer Mutter durch den Kopf gehen, »in den allermeisten Fällen macht niemand absichtlich daneben, schlimm genug, wenn jemand sein Wasser nicht halten kann« (ebd.: 281), lässt diese in ihrem inneren Monolog freilich nicht gelten: »[J]a, es ist vorstellbar, dass jemandem ein Missgeschick passiert ist, dass es nicht mehr gereicht hat, die Kacke in der Schüssel zu platzieren, weswegen die Klobrille angeschissen ist, und weil eben ein Teil schon in die Unterhose ging, musste dieser Jemand sie auch ausziehen […]. Aber wie lässt sich eine verschmierte Wand […] entschuldigend erklären?« (Ebd.: 281)

In den sich überstürzenden Gedanken, die ein imaginiertes Zwiegespräch mit ihrer Mutter anklingen lassen, lässt sich hierfür keine plausible Erklärung finden. Und als würde sie den unmittelbaren Kontakt zu dem Hass, der hier zum Ausdruck kommt, suchen, streift sie die Handschuhe ab – und wendet sich den Exkrementen zu: »[E]s fällt mir nichts ein, was die verschmierte

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Wand zu einem Missgeschick werden lassen könnte, und weil mir nichts Beschwichtigendes einfällt, ziehe ich die Handschuhe aus, werfe sie auf den Boden; es ist also offensichtlich, dass jemand die Wand absichtlich verschmiert hat, deshalb will ich auch kein Plastik zwischen mir und der Scheisse haben […].« (Ebd.: 282)

A lterität

und

M issachtung

Blickt man nun – vor dem Hintergrund der Debatte um Bildung und Erziehung in der Migrationsgesellschaft – auf den Roman von Melinda Nadj Abonji, kann dieser als ein eindrücklicher Beleg für die These von Hans Ulrich Gumbrecht gelten, dass uns ästhetische Zeugnisse – und eben auch: literarische Texte – mit fremden Erfahrungswelten vertraut machen können, dass sie uns ungewohnte Perspektiven vorstellen und dergestalt mit Alterität konfrontieren (vgl. Gumbrecht 2011). Ähnlich überzeugend wie es etwa Robert Kisch (2015) in seinem Roman Möbelhaus gelingt, dieses aus der Perspektive jener vorzustellen, die dort – mit einem geringen Grundgehalt ausgestattet und auf Prämien für Abschlüsse dringend angewiesen – den Launen der Kundschaft ausgeliefert sind und auf die fortgesetzten Demütigungen nicht einmal mit der Solidarität unter dem Personal rechnen können, weil diese als Konkurrenten um Prämien erlebt werden, zeigt Nadj Abonji den Gastraum einer Cafeteria in einem kleinen, sehr wohlhabenden Dorf am Ufer des Zürichsees als eine Bühne, auf der jeden Tag eine Reihe unterschiedlicher Stücke zur Aufführung gebracht werden. Neben der echten Wertschätzung, die den neuen Pächtern von den Schwestern Köchli und Freuler entgegengebracht wird, und der stillen, freundlichen Ignoranz, welche die Bauarbeiter ausstrahlen, die einfach nur die Pause von ihrer körperlich anstrengenden Arbeit genießen, werden sie hier mit unterschiedlichen Spielarten der Herabsetzung konfrontiert. Ihr rechtlicher Status als Schweizer Staatsbürger schützt sie vor diesen Nadelstichen durchaus nicht: Nadj Abonji zeigt die Mikropolitik der Missachtung, die sich in kleinen Gesten, in versteckten Anspielungen und in ignoranten Wendungen verrät. Sie zeigt die Hartleibigkeit jener, die materielle Not nicht kennen und denen echte Anteilnahme fremd ist, die aber virtuos darin sind, die soziale Etikette zu bedienen. Fast noch schmerzhafter als die offene Abneigung, die in den Rufen »Schissusländer« (Abonji 2014: 283) zum Ausdruck kommt, erlebt die Protagonistin die Herablassung jener, die ihre Bürgerlichkeit zelebrieren und »mit aufrechter Haltung und

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gedämpfter Stimme einen Kaffee bestell[en] (samstags vielleicht noch einen zweiten), wirklich bedrohlich ist […] das Nette, Wohlanständige, Kontrollierte, Höfliche«, das einer Maske gleiche: »sie hat den nicht e­ inzuholenden Vorteil, dass man jemandem die Maskenhaftigkeit nicht vorwerfen kann« (ebd.: 283). Gleichzeitig verschafft der Roman – am Beispiel der Mutter der Erzählerin – einen Einblick in das Seelenleben jener Generation, die ihre Heimat verlassen hat, um in der Fremde nicht unbedingt das eigene Glück zu finden, aber doch wenigstens ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Die Mutter, die als einzige über Erfahrung in der Gastronomie verfügt, muss nicht allein ihren Ehemann in der Küche einweisen (und dessen Empfindlichkeiten berücksichtigen) sowie das übrige Personal im Blick behalten, darunter die beiden eigenen Töchter, sie muss zuallererst den zahlenden Gästen ihre Aufmerksamkeit schenken – und dies, wie schon erwähnt, unter der Maßgabe, dass alles mit spielerischer Leichtigkeit geschieht. Wie groß die Belastung für ihre Mutter ist, erfährt die ältere Tochter erst, als sie mit ihr in einem Gespräch darüber, wie der eigenen, in Serbien zurückgebliebenen Verwandtschaft zu helfen sei, aneinandergerät. Nachdem sie sich selbst bei dem Gedanken ertappt hat, dass keine der Verwandten in der Cafeteria angestellt werden könne – die »Onkel würden mit ihrem je speziell schadhaften Gebiss jeden Gast misstrauisch machen« und auch ihre Tanten und eine Cousine, die nicht über die finanziellen Mittel für ein Gebiss verfügt (ebd.: 90) –, kommt es zu einem heftigen Streit mit der Mutter, die ihren beiden Töchtern deren Naivität vorwirft. Sie suche längst verzweifelt nach Möglichkeiten, den Verwandten zu helfen, aber die Briefe, mit denen sie diese finanziell unterstützen will, erreichten sie nicht mehr. Als die Mutter das kurze, überaus hitzige Gespräch beendet, wird der Erzählerin – und damit eben auch uns, den Leser*innen – deutlich, unter welch beträchtlichem Stress die Mutter der Familie steht: »[W]ahrscheinlich ist es ihr Kleid, die Art, wie ihr Kleid seitlich und energisch ausschwingt, die mir verrät, dass es eine fast unmenschliche Energie braucht, um die Normalität, den Alltag hier aufrechtzuerhalten – eine Energie, die ich nicht werde aufbringen können« (ebd.: 94).

U nbequeme E insichten In dem Roman Tauben fliegen auf finden sich daher tatsächlich einige jener »anderen Geschichten« (Messerschmidt), die es zu erzählen und zu

Latente Diskriminierung und verdeckter Rassismus

a­ rchivieren gilt, wenn Deutschland als ein Einwanderungsland mit seinem ganzen Facettenreichtum in den Blick genommen werden soll. Dass die Zunahme von Konflikten nicht per se als problematisch gelten muss, sondern mit g­ uten Gründen auch als Hinweis darauf interpretiert werden kann, dass nun jene, die schon seit vielen Jahren in Deutschland leben und bisweilen auch längst über die deutsche Staatsbürgerschaft verfügen, ihre Anliegen klar artikulieren und einvernehmlich für ihre Interessen eintreten, zeigt Aladin El-Mafaalani (2017) in einer seiner neuesten Arbeiten. Wenn der Ton der Auseinandersetzungen bisweilen etwas rauer wird, kann dies somit auch ein Indiz dafür sein, dass Diskriminierungen nicht länger stillschweigend hingenommen, sondern nun von den Betroffenen öffentlichkeitswirksam problematisiert werden. Gesellschaftliche Antagonismen werden dann als solche kenntlich – und damit auch verhandelbar. Allerdings ist eben auch damit zu rechnen, dass es hier zu ganz unterschiedlichen Reaktionen und zu Ungleichzeitigen kommt: Auch wenn es manchen Personen und Gruppen in the long run immer besser gelingen mag, die Zurücksetzungen und Demütigungen offen anzusprechen und sich (gemeinschaftlich) dagegen zu wehren, dass die Bringschuld für eine gelungene Integration allein auf ihrer Seite liegt (und damit bei Individuen, und eben nicht bei Institutionen und Organisationen), ist doch damit zu rechnen, dass es immer wieder auch zu einer stummen Kapitulation vor der Macht der Verhältnisse kommt. Sachverhalte als ungerecht zu markieren und dergestalt Kritik zu üben, bleibt eine voraussetzungsreiche soziale Praxis (vgl. RiegerLadich 2014b). Wenn literarische Texte nun tatsächlich eine Möglichkeit darstellen, etwas zur Erhellung der blinden Flecken des pädagogischen Diskurses beizutragen – wie das Hans-Christoph Koller und ich am Beispiel des Scheiterns zu zeigen versucht haben (Koller/Rieger-Ladich 2013) –, scheint es lohnenswert, dies auch für die Thematisierung jener Aufgaben zu betreiben, die in einer von Migration geprägten Gesellschaft gemeinhin an die Akteure des pädagogischen Feldes adressiert werden. Ähnlich wichtig wie die Ausschau nach sozialen Arrangements, welche widerstreitende Interessen auf überzeugende Weise in eine Balance bringen, wäre daher die Auseinandersetzung mit literarischen Zeugnissen von Diskriminierungen und Herabsetzung, von Rassismus und Sexismus. Es gibt ersichtlich eine Vielzahl literarischer Texte, die genau diese Erfahrungen zum Gegenstand machen. Sie gilt es als ein wertvolles, vielstimmiges Archiv zu betrachten, das uns – als die Vertreter*innen des pädagogischen

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Diskurses – mit unbequemen Einsichten konfrontiert und dazu anhält, den wohlklingenden Formeln von Chancengleichheit und Meritokratie, die von Bildungseinrichtungen und politischen Akteuren gerne bemüht werden, mit der gebotenen Skepsis zu begegnen. Es handelt sich hierbei häufig genug nur um Versatzstücke einer Rhetorik, die zwar gekonnt die »Ökonomie der Aufmerksamkeit« bedient, aber letztlich wenig hilfreich ist, wenn es darum geht, einen Zugang zu den heftiger werdenden Auseinandersetzungen und Verteilungskämpfen zu erhalten, die sich hierzulade derzeit beobachten lassen – und die sich an der Frage der Einwanderung meist nur entzünden, tatsächlich jedoch auf andere, tieferliegende Konflikte und Strukturen verfestigter sozialer Ungleichheit verweisen (vgl. Nachtwey 2016).

L iteratur Romane Dexter, Pete (2003): Train, München: Liebeskind. Goetz, Rainald (2012): Johann Holtrop, Berlin: Suhrkamp. Kisch, Robert (2015): Möbelhaus. Ein Tatsachenroman, München: Knaus. Louis, Édouard (2015): Das Ende von Eddy, Frankfurt a.M.: Fischer. Nabokov, Vladimir (1995): Lolita, Reinbek: Rowohlt. Nadj Abonji, Melinda (2014): Tauben fliegen auf, München: dtv. Strunk, Heinz (2016): Der goldene Handschuh, Reinbek: Rowohlt. Winkler, Philipp (2016): Hool, Berlin: Aufbau Verlag.

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Latente Diskriminierung und verdeckter Rassismus

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»Ich möchte nur ein Gesicht haben«. »Tauben fliegen auf« gelesen als bildungsbiografische Gegenerzählung Anke Wischmann Hans-Christoph Koller versteht Bildung als eine Transformation bestehender Welt- und Selbstverhältnisse, die sich einstellen kann, wenn an ein Subjekt sich stellende Aufgaben oder Problemlagen nicht mithilfe zur Verfügung stehender Handlungsoptionen bearbeitet werden können (vgl. Koller 2012: 16). Insbesondere in der Adoleszenz und unter Bedingungen von Migrationserfahrungen sei zu erwarten, dass Bildungsprozesse herausgefordert würden (vgl. King/Koller 2015). Die Bedingungen, unter denen junge Menschen – vor allem jene mit eigener oder familialer Migrationserfahrung – aufwüchsen, seien derart unterschiedlich und komplex, dass sich zu bilden nahezu als eine Notwendigkeit angesehen werden könne (vgl. Peukert 2000; Koller 2014a). Allerdings birgt diese Annahme einige Schwierigkeiten, auf die im Folgenden mithilfe der (pädagogischen) Lektüre des Romans Tauben fliegen auf von Melinda Nadj Abonji (2012) als Gegenerzählung aufmerksam gemacht werden soll. Der Roman kann nämlich als eine Erzählung gegen ein Bildungsverständnis gelesen werden, das Macht- und Diskriminierungsverhältnisse nicht oder nicht hinreichend berücksichtigt, indem es bestimmte Setzungen vor- oder übernimmt, die einer hegemonialen Mehrheitsperspektive – gerade auf Bildungsprozesse junger Menschen mit Migrationshintergrund – entsprechen. Es geht also um die den verwendeten Konzepten, Theorien und Methoden inhärenten Bias, die bestimmte Sichtweisen nicht, oder nicht so sehr zulassen wie andere. Unter Bias werden hier konkret auf Migrationsandere bezogene, oft (aber nicht immer) implizite Überzeugungen und Annahmen verstanden, die den Forschungszugang immer mitkonstituieren. In Bezug auf Bildung heißt dies beispielsweise dass dieser aufgrund seiner

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­europäischen und aufklärerischen Tradition bestimmte Bilder vom gebildeten Menschen in sich trägt; und diese sind zumindest eher ›weiß‹ und männlich (vgl. Wischmann i. E.). Im Folgenden wird nicht danach gefragt, ob und wie sich anhand des Romans ein Bildungsprozess der Hauptfigur Ildikó oder dessen Verhinderung rekonstruieren lässt (Koller 2014b), sondern vielmehr danach, wie sie sich zu jenen oft impliziten Anforderungen positioniert, die mit der eben angedeuteten hegemonialen Mehrheitsperspektive auf Bildung und deren Setzungen verbunden sind. Anschließend wird die Methode der Gegenerzählung (counter-storytelling) erläutert, die dann im nächsten Schritt genutzt werden soll, um den Roman gegen die großen deutschsprachigen Erzählungen der (adoleszenten) Bildung zu lesen. Möglicherweise ergibt sich daraus ein »Anregungspotential« (Koller/Rieger-Ladich 2005a: 10) für Bildungsforschung im Kontext sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit.

Tauben

fliegen auf

Der Roman Tauben fliegen auf (Nadj Abonji 2012) erzählt die Geschichte von Ildikó Kocsis und ihrer Familie, die in den 1970er Jahren aus der Vojvodina im damaligen Jugoslawien in die Schweiz ausgewandert ist. Die Eltern Miklós und Rósza migrieren zunächst ohne ihre beiden kleinen Töchter, Ildikó und die zwei Jahre jüngere Nomi, die sie bei Miklós‘ Mutter Mamika, wie ihre Enkelinnen sie nennen, zurücklassen. Als die Eltern die Aufenthaltserlaubnis erhalten, lassen sie die beiden Mädchen nachkommen. Zunächst arbeiten Rósza und Miklós in verschiedenen Bereichen als Angestellte. Miklós findet heraus, dass sein Arbeitgeber ihn zunächst »schwarz« (ebd.: 46 ff) arbeiten lässt, was dazu führt, dass sich die Erlaubnis für den Nachzug der Kinder verzögert. Später machen sie sich selbständig, zuerst mit einer Wäscherei, dann mit einer Caféteria und dann mit einer weiteren, dem »Mondial«. Die Zeit nach der Eröffnung dieses Lokals in bester Lage in Zürich bildet den Ausgangs- und Endpunkt des Romans im Jahr 1993. Die Kinder besuchen die Schule in der Schweiz und insbesondere Ildikó ist dabei sehr erfolgreich und beginnt ein Studium (zunächst der Rechtswissenschaften, dann wechselt sie ohne das Wissen der Eltern in die Geschichtswissenschaften). Gleichzeitig helfen sie beide im »Mondial«. Das Verhältnis der Schwestern ist sehr freundschaftlich und auch außerhalb des familialen

»Ich möchte nur ein Gesicht haben.«

Kontextes verbringen sie Zeit miteinander, gehen etwa zusammen aus und bewegen sich in einem linksautonomen Milieu. Zwischenzeitlich wird die Familie eingebürgert. Dafür müssen die Eltern zunächst einen entsprechenden Test bestehen und dann entscheidet die Gemeinde in Abwesenheit der Betroffenen, ob dem Antrag auf Einbürgerung zugestimmt wird oder nicht. Es wird zugestimmt, wenn auch nicht ohne Gegenstimmen (ebd.: 284ff)1 . Die Vojvodina bleibt ein zentraler Bezugsort der Familie, an den sie regelmäßig zurückkehrt bis der Krieg 1991 beginnt. Es werden sehr intensive Besuche beschrieben, bei denen es um familiale Bindungen ebenso geht wie um politische Verstrickungen mit dem jugoslawischen und dem ihm folgenden serbischen Regime. So wird beispielsweise von einer Hochzeitsfeier erzählt, die am 4.8.1980 stattfindet und damit »exakt drei Monate nach Titos Tod« (ebd.: 26). Miklós, der die sozialistische Jugoslawische Regierung ablehnt, weil sein Vater, Papuci, von ihr enteignet und interniert worden war, was letztlich seinen frühen Tod zur Folge hatte, betrinkt sich und streitet mit seinem älteren Bruder. »[D]as Politische bringt Gift« (ebd.: 24) sagt Mamika. Wenngleich die Familie nur mehr zu Besuch in die Vojvodina fährt, spricht Ildikó von ihr als ihrer Heimat, von der sie sich wünscht, dass sie sich niemals verändern solle und von der die Schwestern nach Auffassung ihrer Mutter in manchen Dingen »keinen blassen Schimmer« (ebd.:122) mehr hätten. Während die beiden Mädchen die alte Heimat romantisieren und mit schönen Kindheitserinnerungen verbinden, ist sie für die Eltern, vor allem für Miklós überaus ambivalent besetzt. So hat er erlebt, wie seine Eltern enteignet wurden und konnte sich dann auch selbst nie mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen des real existierenden Sozialismus arrangieren und sah sich gezwungen, das Land zu verlassen. Somit haben Eltern und Töchter je 1 | Nach dem Schweizer Einbürgerungsgesetz können in der Schweiz lebende Ausländer_innen nach 12 Jahren einen entsprechenden Antrag stellen. Sie müssen sich dann einem Test unterziehen und es wird geprüft, ob Sie sich hinreichend »integriert« haben. Über das Gesuch entscheiden der Bund und das jeweilige Kanton. In den Kantonen sind die Verfahren unterschiedliche geregelt. In einigen – wie im Roman – bedarf es einer demokratischen Zustimmung der Bevölkerung der Gemeinde, in der die ­A ntragsteller_innen leben. (vgl. sem.admin.ch/sem/de/home/themen/buergerrecht.html). Auf der Gemeindebene werden Einbürgerungsanträge immer wieder abgelehnt (z. B. swissinfo.ch/ger/zitterpartie---fall-emmen--vor-bundesgericht/3400358)

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ganz unterschiedliche Perspektiven auf ihre neue Heimat, die Schweiz. Die Eltern unterwerfen sich den Anforderungen der Ankunftsgesellschaft unbedingt, akzeptieren, dass sie sich ein menschliches Schicksal (in der Schweiz) erst erarbeiten müssen, dass es ihnen nicht automatisch zusteht (ebd.: 85). Dabei blenden sie – jedenfalls aus Ildikós Perspektive, aus der erzählt wird – alles Negative aus oder wehren sich zumindest nicht, vor allem nicht gegen Diskriminierungen. Gerade diese Haltung irritiert Ildikó zunehmend. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass für sie Rassismen nahezu allgegenwärtig sind und dass der Umgang damit für sie die größte Herausforderung darstellt. Deshalb kann dieser Roman als eine Gegenerzählung (vgl. Delgado 2013) gelesen werden, die gegebene Strukturen und Praktiken hinterfragt und anklagt.

Z ur M ethode

der

G egenerzählung

Die Gegenerzählung (counter-narrative) ist eine Methode der Critical Race Studies (CRT) (Delgado/Stefancic 2013), die sich im Verlauf der 1980er Jahre aus den Critical Legal Studies (Crenshaw 1991) zunächst in den USA entwickelt und dort auch Einzug in die Erziehungswissenschaft gehalten haben (Ladson-Billings/Tate 1995). Die CRT gehen davon aus, dass gegenwärtige Gesellschaften rassistisch strukturiert sind und sich dies nicht mehr vorwiegend an einer offenen, expliziten Unterdrückung rassialisierter Anderer zeigt, sondern darin, dass gegebene Strukturen bestimmte Bevölkerungsgruppen systematisch diskriminieren und gleichzeitig andere privilegieren. Die wichtigsten Grundannahmen sind dabei (vgl. Decuir/Dixson 2004), dass Rassismus persistiert (trotz etwa des Affirmative Action Act in den USA oder des Artikels 3 des Grundgesetzes), dass Weißsein (Whiteness) ein Wert an sich ist, der jedoch verschleiert wird. Des Weiteren wird im Anschluss an Bell (1980) davon ausgegangen, dass die Anerkennung von Gleichheit nur so weit reicht, wie sie den privilegierten Status der ›weißen‹ Mehrheit nicht infrage stellt und diese von ihrem vermeintlich altruistischen Verhalten profitiert. Außerdem wird angenommen, dass Liberalismus Rassismus nicht etwa entgegenwirkt, sondern diesen im Gegenteil forciert, indem strukturelle Ungleichheiten, die immer mit Rassialisierungen verbunden sind, zugunsten einer meritokratischen Logik verleugnet werden. Das Erzählen von Geschichten (storytelling) bzw. von Gegenerzählungen könne vor diesem Hintergrund zur Aufdeckung und Kritik dieser ­Strukturen

»Ich möchte nur ein Gesicht haben.«

und Mechanismen der Benachteiligung von Minderheiten beitragen (vgl. Delgado 2013). »Stories, parables, chronicles, and narratives are powerful means for destroying mind-set – the bundle of presuppositions, received wisdoms, and shared understandings against a background of which legal and political [and also pedagogical, AW] discourse takes place.« (Ebd.: 71)

Dieser Einschätzung liegt die Annahme zugrunde, dass soziale Wirklichkeit(en) konstruiert werden und dass diese Konstruktionen je nach sozialer Position der sie beschreibenden oder eben erzählenden Personen variieren. Dabei gibt es dominante Erzählungen (majoritarian narratives)2 , die der Perspektive der ›weißen‹ (einheimischen, der Mittelschicht angehörigen, oft weiterhin männlichen) Mehrheit entsprechen, und es gibt Gegenerzählungen (counter-narratives), die aus marginalisierten Positionen heraus erzählt werden und blinde Flecken der dominanten Erzählungen sichtbar werden lassen (Solorzano/Yosso 2002). Zwar wird darauf hingewiesen, dass diese Geschichten nicht fiktiv sein, sondern sich auf reale Erfahrungen beziehen sollen (vgl. Love 2004), aber es gibt auch andere Positionen, die vertreten, dass fiktive Geschichten ebenso als Gegenerzählungen fungieren können, gerade weil sie in kreativer Weise Konzepte und Argumente ins Feld führen, die die immer auch normativen dominanten Erzählungen herausfordern und unterminieren (Rollock 2012: 72). Nicola Rollock macht deutlich, dass gerade aufgrund der marginalisierten Position, die für Angehörige der privilegierten Mehrheit schlichtweg unsichtbar ist, fiktive Geschichten, in denen sich eine Gegenposition zeigt, einen überaus wichtigen Stellenwert haben sollten, denn es geht nicht um »Wahrheit«, sondern um Sichtbarkeit. Auch in der bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung im deutschsprachigen erziehungswissenschaftlichen Diskurs wird auf Geschichten Bezug genommen, die es ermöglichen sollen, subjektive und ­plurale ­Bildungsprozesse zu rekonstruieren (vgl. z.B. Koller/Wulftange 2014). Dabei geht es auch um Geschichten, die aus marginalisierten Positionen heraus erzählt werden und die kritisch befragen, was als Bildung verstanden werden 2 | Duncan (2005) bezieht sich in diesem Zusammenhang kritisch auf Lyotards Rede vom Ende der Großen Erzählungen, die eben doch weiterhin überaus wirkmächtig seien und nicht inzwischen von vielen unterschiedlichen Erzählungen abgelöst worden seien – dies stehe noch aus.

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kann und was nicht (vgl. Wischmann 2010; Rose 2012). So wurden in den bisher erschienen Bänden der Pädagogischen Lektüren literarischer Texte (vgl. Koller/Rieger-Ladich 2005b, 2009, 2014) Geschichten auch als Gegenerzählungen gelesen, die sich pädagogischen Theoretisierungen widersetzen oder allgemein anerkannte Konzepte herausfordern (z. B. Liesner 2005). Die Methode des Gegenerzählens geht insofern einen Schritt weiter, als dass sie ein politisches Anliegen verfolgt und es ihr nicht allein um ein Anregungspotential für pädagogische Theoriebildung geht. Dieses Anliegen ist freilich nicht neu in der neueren Diskussion um Bildungsprozesse im Kontext sozialer Benachteiligung, insbesondere dann nicht, wenn sie Bildung als Subjektivationsprozess im Anschluss an Judith Butler versteht, weil hier die Widerständigkeit des immer auch unterworfenen Subjekts in ihrer Paradoxie herausgearbeitet wird (vgl. z.B. Koller 2012: 130-135 oder Rose 2014). Deshalb erscheint es mir möglich und fruchtbar, den Roman Tauben fliegen auf als Gegenerzählung zu spezifischen hegemonialen Diskursen um Bildung zu ­lesen.

» Tauben fliegen auf«: eine

G egenerzählung

Die junge Frau Ildikó, um die es geht und aus deren Perspektive der Roman erzählt wird, spricht aus einer Situation heraus, in der sie kürzlich die elterliche Wohnung verlassen hat und in eine kleine Wohnung in Zürich gezogen ist. Ausgezogen ist sie, nachdem sie auch ihre Mitarbeit im elterlichen Restaurant aufgrund folgenden Vorfalls aufgekündigt hat: Ein Gast hat die Toilette derart mit Fäkalien beschmutzt, dass sich dies aus Ildikós Sicht nur als böse Absicht verstehen lässt. »Eine verschissene Klobrille, eine Männerunterhose, die neben der Kloschüssel liegt, die gemaserte Wand, die nicht mehr weiss, sondern mit Scheisse verschmiert ist (der Spiegel führt alles zusammen) – ich schaue, ich warte, gleich wird etwas passieren, mein Herz wird rasen, so schnell, dass ich seinen pochenden Rhythmus an den Schläfen spüren werde, zwischen meinen Schulterblättern wird ein ganz bestimmter Punkt wüten, ein stechender Schmerz, der mir den Atem verschlagen wird, ich warte, und Rumpelstilzchens irrer Tanz fällt mir ein, wie plötzlich die ­M armeladenfüllung herausquillt, wenn man in einen Pfannkuchen beisst, aber sonst passiert – nichts. […] und wenn ich nichts fühle, werde ich wenigstens meinen Kopf

»Ich möchte nur ein Gesicht haben.«

einschalten, die Szene hier zu Ende denken –, ja, es ist vorstellbar, dass jemandem ein Missgeschick passiert ist, dass es nicht mehr gereicht hat, die Kacke in der Schüssel zu platzieren, weswegen die Klobrille angeschissen ist, und weil eben ein Teil schon in die Unterhose ging, musste dieser Jemand sie auch ausziehen; und eine verschissene Unterhose kann man nicht gut mitnehmen, deshalb liegt sie jetzt da, neben der Kloschüssel – vielleicht müsste es auch in Männerklos Hygienebeutel haben? Aber wie lässt sich eine verschmierte Wand, die eigentlich gar nicht so schlimm aussieht, entschuldigend erklären?, ich, die sich die Wand anschaut, die braunen Spuren, Buchstaben?, nein, eine Botschaft ist nicht zu entziffern (ich müsste mich beim schüchternen Lehrer bedanken, ihm sagen, dass ich seine Verklemmtheit nachvollziehen kann); es fällt mir nichts ein, was die verschmierte Wand zu einem Missgeschick werden lassen könnte, und weil mir nichts Beschwichtigendes einfällt, ziehe ich die Handschuhe aus, werfe sie auf den Boden; es ist also offensichtlich, dass jemand die Wand absichtlich verschmiert hat,[…]« (Nadj Abonji 2012: 280-282).

Ildikó versucht den Vorfall zunächst zu rationalisieren, indem sie eine nicht rassistische Absicht (oder eben nicht Absicht) als Ursache sucht. Aber dieser Versuch misslingt: die Botschaft ist nicht anders zu entziffern als ein rassistischer Übergriff auf die Familie. Was für Ildikó besonders schwerwiegend ist, ist, dass die Gäste ihres Restaurants »Mondial«, auf das ihre Eltern so stolz sind, durchweg von bürgerlicher Herkunft sind – bis auf ein paar Bauarbeiter, die aber an diesem Tag nicht anwesend sind, die sich gediegen und höflich, überlegen verhalten. Hier bricht also etwas durch, das sich anhand der »braunen Spuren« zeigt und nicht mehr verleugnen lässt. Dieser offene Angriff macht für Ildikó endgültig deutlich, dass die Strategie ihrer Eltern, sich dem meritokratischen Prinzip zu unterwerfen und die rassistischen Ressentiments und Diskriminierungen so gut es geht zu ignorieren, gescheitert ist. Die Eltern waren sich immer bewusst, dass sie es besonders schwer haben, waren aber gleichzeitig davon überzeugt, sich mit harter Arbeit ein »menschliches Schicksal erarbeiten zu können« (ebd.: 85). Jedoch handelt es sich nicht um eine plötzliche neue Einsicht. Vielmehr werden in dem Buch eine ganze Reihe von Rassismuserfahrungen beschrieben, die jedoch nicht in dieser stinkenden Dramatik daherkommen. So etwa, wenn Nomi und Ildikó übereinkommen, ihren ­Schulfreundinnen nicht von ihrem jugoslawischen Lieblingsgetränk Traubisoda zu erzählen, weil dieses Getränk aus »dem Osten« dem Pendant aus »dem Westen« das Wasser

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nicht reichen kann (ebd.: 15f). Oder wenn erzählt wird, dass ihr Vater zunächst durch den Arbeitgeber nicht ordentlich angemeldet worden ist (ebd.: 46ff). Oder wenn die Angestellte der Eltern darüber spekuliert, ob die Familie Kocsis den Vorbesitzern des »Mondial« Schmiergeld gezahlt hat, um es übernehmen zu können, nachdem sie zuvor Asylant_innen unterstellt, sich bereichern zu wollen (ebd.: 63). Sehr eindeutig und zugleich in einer zugespitzten Weise zynisch wird es, als zwei Gäste sich über den »homo balcanicus« austauschen, nachdem der Leser_in zuvor erzählt wurde, dass nahezu alle im »Mondial« arbeitenden Menschen vom aktuellen Krieg auf dem Balkan (es ist 1993) betroffen sind: »Du, wie die sich auf dem Balkan die Köpfe einschlagen, und die Serben, das ist eine ganz schön kriegerische Meute, die sind wie Hyänen (Herr Pfister, der Umzüge organisiert, weltweit, auch nach Übersee, der sich mit einem Freund unterhält), Sie haben eine helle Schale bestellt, oder? Ja, danke schön, und wie heisst der Serbenführer in Bosnien? Ah ja, Mladic, genau, danke, Fräulein, der und Milosevic, die sind noch schlimmer als die Nazis, glaub mir. […] ich bin ja selbst Arbeitgeber, ich weiss ja, dass der Schweizer heute andere Ansprüche hat, und dann, wenn die Schweizer erst mal weg sind, muss man sich mit Albanern oder sonstigen Balkanesen zufrieden geben; Herr Pfister, der jetzt erst irgendwas merkt, bei Ihnen, das ist ja etwas anderes, Sie sind ja schon eingebürgert und kennen die Sitten und Gepflogenheiten unseres Landes, aber die, die seit den 90ern kommen, das ist ja rohes Material, sagt Herr Pfister und sitzt wieder aufrecht, spricht nicht mehr zu mir und seinem Hund [die sich beide unter dem Tisch befinden, weil Ildikó einen Schuh für einen Gast sucht, AW], sondern wieder zu seinem Freund, der sicher auch Arbeitgeber ist, wissen Sie der homo balcanicus [Hervorhebung im Original] hat die Aufklärung einfach noch nicht durchgemacht« (ebd.: 105 und 108).

Die sich hier findenden rassistischen Argumentationsmuster werden später noch deutlicher in Bezug gesetzt zum Rassediskurs, der zwischen ›schwarz‹ und ›weiß‹ unterscheidet: »Tito hatte Jugoslawien im Griff, muss man sagen, wiederholt Herr Berger, wussten sie, dass er mit bürgerlichem Namen Josip Broz hiess?, und Herrn Bergers Pfeife raucht, während ich am Tisch stehe, darauf warte, was Herr Berger und Herr Tognoni bestellen wollen (einen Gast darf man nie hetzen,

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am Samstag schon gar nicht). Der Balkan ist eine einzige Krise, Herr Tognoni bestellt ein grosses Frühstück ohne Konfitüre, dafür mit Drei-Minuten-Ei, der Balkan ist aber keine Einheit, Herr Berger, dessen Rauchzeichen in meine Nase steigen, meine breiten Nasenflügel kitzeln (Sie haben fast eine Afro-Nase, sagte einmal jemand, ein Gast, ihre Nase würde gut zu einem schwarzen Gesicht passen. Ja, finden Sie, finden Sie wirklich?)« (Ebd.: 237)

Die Familie Kocsis und mit Ihnen alle Menschen vom Balkan werden rassialisiert, indem bekannte koloniale und auch nazistische Argumentationsmuster bemüht werden, die die grundsätzliche Unterlegenheit bestimmter Menschengruppen konstatieren und entsprechende Redefiguren (»die Balkanesen«) verwenden. Dabei wird Ildikó als Anwesende nur scheinbar ausgenommen. Daraus, dass »die Balkanesen« als unzivilisiert 3 und nicht aufgeklärt dargestellt werden, ergibt sich, dass sie nun auch selbst verantwortlich sind – allesamt – für die Krise, für die Verbrechen, für die Morde, die nur wenige Kilometer entfernt geschehen. Es ist tatsächlich nicht so, dass diejenigen, die davor fliehen, bemitleidet werden; vielmehr werden jene noch eher anerkannt, die vor dem Krieg gekommen und bestenfalls bereits eingebürgert sind. Mit dem Krieg spitzt sich die Lage für Ildikó zu. Die Anfeindungen werden deutlicher. Und zwar nicht nur durch die die so gerne am Rand der Gesellschaft verorteten Rechtsextremen, sondern vor allem seitens bürgerlicher Demokrat_innen, die gemeinhin als gebildet gelten. Das Wissen, das sie äußern, erinnert an das, was Adorno als Halbbildung bezeichnet (Adorno 2006): Eine gefährliche Mischung aus Halbwissen und Zuschreibungen, die, wie im Roman immer wieder deutlich wird, den in der Schweizer Presse prominenten Ansichten entsprechen. Dies zeigt sich etwa in dem Gespräch zwischen Herrn Berger und Herrn Tognoni (vgl. ebd.: 236-243). Auf der anderen Seite wird Ildikó immer wieder gespiegelt, dass sie nicht als gebildet anerkannt wird, dass ihre Bildung nicht zählt, und zwar gerade nicht, weil sie sich dem Bildungsideal widersetzt, sondern weil ihr, ob ihrer Position als Migrationsandere (vgl. Mecheril et al. 2010), abgesprochen bzw. nicht zugetraut wird, gebildet zu sein. Sie kommt sich jedoch paradoxerweise »billig« vor, wenn sie daran denkt, den Gästen ihr Wissen, ihre Bildung zu präsentieren, als Mensch vom Balkan, der Schweizer Geschichte studiert. Eindrücklich zeigt sich dies m. E. in folgendem Absatz, in dem Ildikó 3 | Dies geschieht übrigens auch durch Ildikó selbst als sie die Gegend in der Vojvodina beschreibt, in der ihre Familie lebt (vgl. Nadj Abonji 2014: 6ff ).

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f­ ormuliert, was Herr Tognoni und die Bergers erwarten dass sie erzählt – und was nicht: »([…] Fräulein, wir dachten da an etwas Anderes, wir wollten etwas über die Kultur, die Geschichte, die Sprache, die Probleme erfahren – und nicht über die Luft zwischen den majestätischen Pappeln und Akazien, die winzigen Blumen, die zwischen den Pflastersteinen wachsen, den Staub, den Dreck, über Béla…). Leider habe ich keine Zeit, um von meinem… schon gut, Fräulein, wir sehen ja, dass Sie beschäftigt sind, aber bringen Sie uns doch allen noch einen frisch gepressten Orangensaft, und ich lächle, drehe mich weg (vielleicht stelle ich Ihnen nächstes Mal eine Frage, denke ich, über die Glaubenskriege, die Schlacht bei Sempach, die Reisläufer oder die Teufelssage würde sie, die ich bin, Tisch sechs und sieben befragen, und Frau Berger würde vor Schreck vergessen, dass Milchschäumchen unauffällig vom Mundwinkel abzulecken, da sie nicht erwartet hat, dass das Fräulein eine Frage zur Schweizer Geschichte, zur Schweizer Kultur stellen kann; ich komme vom Balken und studiere Geschichte, werde ich sagen, Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte; wie billig von mir, dass ich mich beweisen will« (Nadj Abonji 2012: 241-242).

Und doch muss sie, müsste sie beweisen, dass sie nicht nur über das andere Wissen (das ja aber auch schon bekannt ist) verfügt, sondern sich mit dem eigenen Wissen auskennt, mit der Schweizer Kultur. Im Kontrast zu dieser Erfahrung steht die Prämisse des (Schweizer) Bildungssystems, das sich dem meritokratischen Prinzip im Kontext einer demokratischen Ordnung verschreibt, wie es die in der folgenden Passage abgebildete Rede von Ildikós Lehrer verdeutlicht: »Die direkte Demokratie, meine eigenwillig komische Vorstellung damals, als ich in der Primarschule davon gehört habe, wir sind das Sinnbild der Urdemokratie, sagte mein Lehrer, und weil er ›wir‹ sagte, gehörte ich natürlich auch dazu, obwohl ›wir‹damals noch einen jugoslawischen Pass hatten, ich also noch keine Papierschweizerin war, wie man später da und dort sagen würde. Mein Primarlehrer hatte nichts gegen Ausländer, wie er einmal sagte, für ihn zähle nur die Leistung, das gehöre dazu, zu einem Menschen, der urdemokratisch eingestellt sei, gleiche Chancen für alle!, mein Lehrer, der sicher damit zu tun hatte, dass ich mir die direkte Demokratie als ein Heer vorstellte, viele, wehrhafte Soldaten, die in Reih und Glied standen, mit

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­e inem unbestechlichen Gesicht, weil sie etwas Wichtiges verteidigen mussten, nämlich die Idee, dass alle die gleichen Chancen haben.« (Ebd.: 53)

Es geht also um eine Idee, nicht um reale Gerechtigkeit für alle, sondern nur für jene, die dazugehören. Vor denen, die nicht dazugehören, muss sie verteidigt werden. Dass Ildikó nicht dazu gehört, wird immer wieder deutlich. In einer Rezension des Buches ist von einem Zwischen die Rede, von dem erzählt wird, und welches die Situation von Migrant_innen angemessen beschreibe (Birrer 2010). Die Rede von den vielen Gesichtern scheint jedoch passender zu sein. Mamika, Ildikós Großmutter, hatte gesagt, dass »jeder Mensch mehr als ein Gesicht hat« (ebd.: 84) als sie ihren Enkeltöchtern aus dem Leben ihres Vaters erzählt. Darauf verweist Nomi (ebd.: 143) als sie sich um Ildikó kümmert, die auf einem Konzert wegen Drogen und Alkohol zusammengebrochen war. Ildikó allerdings sagt: »Ich möchte nur ein Gesicht haben« (ebd. 143). Daraufhin erwidert Nomi, dass es überlebensnotwendig sei, verschiedene Gesichter zu haben. Es geht also um Identität, jedoch nicht um eine Verortung, sei sie nun vermeintlich eindeutig (als Schweizerin) oder in einem wie auch immer gearteten Zwischen. Es geht darum, so lässt es sich interpretieren, nicht darüber nachdenken zu müssen, wem man, warum und in welcher Situation welches Antlitz zeigt. Also geht es gerade nicht um Veränderung, um Transformation, sondern um Vereindeutigung und Verstetigung, um Sicherung und Erhalt (wie z.B. in Bezug auf die Orte der Kindheit, die Ildikó und Nomi unbedingt unverändert, gleich-bleibend wissen wollen (ebd.: 13)). Hier zeigt sich m. E. ein Riss zwischen einer gemeinhin unterstellen Identität bzw. Autonomie des Subjekts (vgl. Meyer-Drawe 2000) und dem permanenten Ringen um dieselbe. Auch wenn alle Subjekte die Illusion einer kohärenten und stabilen Identität andauernd herzustellen haben, zeigt sich in Ildikós Fall, dass das Bewusstwerden derselben nicht dazu führen muss, dass sich neue Perspektiven oder gar Handlungsoptionen eröffnen, sondern dass, gerade im Kontext von Diskriminierung, die Sehnsucht nach Eindeutigkeit, Einfachheit und Unhinterfragbarkeit obsiegt. Oder anders gesagt: Das eine Gesicht soll dasselbe bleiben, für sich selbst und für die anderen. Die Illusion der autonomen Identität ist hier nicht gegeben, aber gerade sie ist die Voraussetzung für transformatorische, biografische Bildungsprozesse. Ildikó sieht sich immer wieder mit Rassismus konfrontiert, auf den sie reagieren muss. Er diktiert gleichsam, wie sie sich verorten muss, an welche Prämissen sie zu glauben hat (etwa die Demokratie und die Meritokratie), welche

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Rechte sie hat und welche Möglichkeiten, sich zu bilden. Bildung allerdings, verstanden als eine Transformation von Welt-Selbstverhältnissen, die zudem verbunden ist mit einer kritischen Selbstreflexion hin zu einem besseren und umfassenderen Verständnis von sich und der Welt, wird in dem Roman als Zumutung erfahren, denn diese Bildung kann sie nicht erfahren. Vielmehr wird sie immer wieder mit der Paradoxie konfrontiert, dass Anforderungen, dass Herausforderungen nichts mit ihrer Realität zu tun haben. »ich, die explodieren will, ich will gegen uns [die Familie, AW] sein, gegen unseren Fleiss, unser andauerndes Bemühen, noch besser zu werden, ich, die ich meinen Lehrer nicht hören will, der sagt, dass er nichts gegen Ausländer habe, bei ihm zähle einzig und allein die Leistung, ich will meinen Lehrer nicht hören, wenn er die Stimme meiner Eltern hat, der Glaube, dass man mit der eigenen Leistung, mit einer permanenten Leitungssteigerung alles erreichen, die Realität wegschieben kann« (ebd.: 289)

Ildikó ist wütend, weil es für sie eben nicht darum gehen kann, ihr WeltSelbstverhältnis zu transformieren, weil dieses gar nicht als solches anerkannt wird (Wischmann 2010). Ihr Platz wird ihr zugewiesen. Sie kann lediglich – und das tut sie, immer wieder und im Anschluss an die Szene in der Toilette ganz offensiv – widerständig handeln. Doch ist das dann Bildung?

H egemoniale E rzählungen

der

B ildung

Bildung im Anschluss an Koller (2012) wird gemeinhin als ein selbstreflexiver Prozess verstanden, in dem ein Subjekt seine Beziehung zur Welt verändert – transformiert. Daher umfasst Bildung mehr als die Aneignung von Wissen und Qualifikationen; es geht immer um das Subjekt selbst und dessen Welt-Selbstverhältnis und damit um die Art, wie es sich selbst und seine Welt erlebt und wahrnimmt. Wie diese Reflexion stattfindet, ist nicht beliebig; vielmehr sollte sie dem Subjekt ermöglichen, sich kritisch mit sich ihm stellenden Anforderungen auseinanderzusetzen und geeignete Formen des Umgangs mit neuen Problemen zu erarbeiten. Gleichzeitig bleibt das Bildungsdenken jedoch bestimmten idealistischen Traditionen verhaftet, die nicht nur bestimmte Vorstellungen davon transportieren, wie sich Bildung vollzieht, nämlich im Kontext intellektueller Muße und frei von Nützlichkeitserwägungen, sondern auch davon, wer

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sich überhaupt bilden und somit als gebildet gelten kann (Münte-Goussar et al. 2009; Meyer-Drawe 2015). Die nach wie vor viel zitierten Bezugstheorien des 19. Jahrhunderts schließen sowohl Frauen als auch nicht Europäer sowie arme Menschen systematisch aus. Frauen und Mädchen werden aufgrund ihrer Natur, die als der männlichen komplementär entworfen wird, als nicht in derselben Weise bildsam beschrieben wie Männer. Um sich bilden zu können, bedarf es einer Distanzierung vom Sinnlichen, auch vom Leiblichen im Sinne einer Hinwendung zur Vernunft. So schreibt Wilhelm von Humboldt: »Daher ist es den Frauen in so hohem Grade eigen, ihr forschendes Streben überall nach dem wahren Wesen der Dinge zu richten; aber ebendaher erreichen sie doch dies letztere so selten in seiner objektiven Reinheit.« (Humboldt 1964: 51f)

Es ist nicht so, dass Humboldt Frauen einfach defizitär betrachtet. Vielmehr weist er ihnen aufgrund ihrer »Natur« andere Fähigkeiten zu, die aber gerade im Hinblick auf akademische Bildung hinderlich erscheinen. Ähnliche Ausschließungen lassen sich in Bezug auf Nicht-Europäer (sic) finden. Während sich bei Humboldt Eurozentrismen vor allem in seiner Hierarchisierung von Kulturen und Sprachen zeigen, die dann auch mehr oder weniger geeignete Bildungsinhalte darstellen (vgl. ebd.), zeigt sich bei Hegel eine klare rassistische Differenzierung zwischen bildsamen Europäern (und weißen Nordamerikanern) und »Negern«: »Aus allen diesen verschiedentlich angeführten Zügen geht hervor, daß es die Unbändigkeit ist, welche den Charakter der Neger bezeichnet. Dieser Zustand ist keiner Entwicklung und Bildung fähig, und wie wir sie heute sehen, so sind sie immer gewesen.« (Hegel 1840: 122)

Im neuhumanistischen und idealistischen Bildungsdenken finden sich demnach Rassismen und hierarchische und stereotype Geschlechterkonstruktionen, die mitbestimmen, wer sich in welcher Weise bilden kann bzw. nicht bilden kann. Es wird sehr deutlich, dass dieses Bildungsideal sich auf einen ›weißen‹, männlichen Europäer (oder Menschen mit europäischen Wurzeln) bezieht. Aktuelle Bildungstheorien berücksichtigen immer mehr, dass Bildung als ein wechselseitiger Prozess zwischen dem Subjekt und der Welt – nicht nur

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der ideellen, sondern der sozialen und materiellen – zu verstehen ist. In diesem Zusammenhang war der Bildungstheorie ihre eigene Weltvergessenheit vorgeworfen worden, weil sie sich zu sehr auf das sich bildende Subjekt fokussiert habe (Wigger 2009; Koller/Wulftange 2014). Durch die Bezugnahme auf verschiedene aktuelle Theorien sehen sich Bildungstheoretiker_innen immer mehr in der Lage, die sozialen Bedingungen bzw. die Bedingtheit von Bildung zu konzeptualisieren. So wird Bildung z.B. im Anschluss an Bourdieu als Habitustransformation (vgl. Rosenberg 2011) entworfen und ein anderes Mal mit Butler als Subjektivation (vgl. Rose 2012). Außerdem wurde bereits auf einige der Probleme, die auch dem aktuellen Bildungsdenken inhärent sind, insbesondere dem transformatorischen Bildungsbegriff, eingegangen. So weist Rainer Kokemohr, der, wie er selbst sagt »nicht ganz unschuldig« (Kokemohr 2014: 19) ist an der Entwicklung des von Hans-Christoph Koller umfassend ausgearbeiteten transformatorischen Bildungsbegriffs, darauf hin, dass der Transformationsbegriff deshalb nicht unproblematisch ist, weil er zum einen eine gewisse logische Stringenz der Veränderungen von Welt-Selbstverhältnissen impliziere (ebd.: 20) und zum anderen, weil er dadurch dem »okzidentalen Identitätsprinzip« folge (ebd.: 21), das den Blick gleichsam festlegt. Darüber hinaus beginnt eine kritische Auseinandersetzung mit dem, was ich als Erbe des Bildungsdenkens seit dem 18. Jahrhundert bezeichnen möchte (vgl. Messerschmidt 2015; Wischmann im Druck). Im Mittelpunkt dieser Arbeiten steht die Kritik, dass oft nicht hinreichend berücksichtigt wird, welche impliziten normativen Annahmen der Bildungsbegriff auch heute noch, auch noch in seiner weiterentwickelten Form, die sich bemüht, weniger normativ zu sein, in sich trägt und die in der Bildungsforschung wirksam werden. Eine dieser Annahmen ist die, dass Bildung zu mehr sozialer Gerechtigkeit beitragen könne (vgl. Münte-Goussar et al. 2009). Ein anderer, dass Bildung für alle gleichermaßen zugänglich und auch erstrebenswert ist (vgl. Ehrenspeck et al. 2008). Ähnlich erscheint es mir im Adoleszenzdiskurs zu sein, den zumindest anzusprechen deshalb wichtig ist, weil es in Tauben fliegen auf um diese Phase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter geht. Auch wenn viele Autor_innen (z. B. King 2013; Hummrich 2009; Riegel/Geisen 2009) mittlerweile darin übereinstimmen, dass Adoleszenz von in komplexer Weise ­ineinandergreifenden Bedingungen sozialer Differenzierung hervorgebracht wird, bleibt die universelle Annahme bestehen, dass Adoleszenz eine notwendige Individuierung umfasst, die mit familialen Ablösungsprozessen einhergeht (vgl. King 2013) oder anders gesagt: es geht um Identitätsbildung, um

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die Ausbildung eines handlungsfähigen (autonomen) Subjekts. Diese vollziehe sich in der Transformation vom Kind zum Erwachsenen. Diese Transformation wird von Vera King als adoleszenzspezifische Herausforderung verstanden, die in ganz unterschiedlicher Weise aufgegriffen und vollzogen werden kann. Unter Bedingungen einer Migrationserfahrung lasse sich dann von einer »verdoppelten Transformationsanforderung« (King/Schwab 2000) sprechen, mit der es sich auseinanderzusetzen gilt. Bildung und Adoleszenz beschreiben demnach subjektive Veränderungsprozesse anderer und legen gleichzeitig fest, worum es dabei geht bzw. gehen sollte. Der Bildungsbegriff steht dabei in einer Tradition, die bestimmte Genderbias und Rassismen beinhaltet, welche in der aktuellen Debatte wenig Berücksichtigung finden und gleichzeitig – vor allem in Alltagsdiskursen um Bildung und im Bildungssystem – virulent sind.

Woran

man glauben muss , aber nicht glauben kann Aus dem skizzierten Bildungsdenken ergibt sich aus Sicht der Erzählerin eine abstruse Situation: Sie muss an das meritokratische Prinzip glauben, kann es aber nicht, weil ihre Rassismuserfahrungen, ebenso wie die Erfahrungen mit Genderbias (vgl. z. B. Nadj Abonji 2012:: 102f oder 118ff) auf die ich nicht weiter eingegangen bin, ihr zeigen, dass das Prinzip (für sie) nicht nur nicht gilt, sondern auch dazu genutzt wird, ihre Perspektive zu marginalisieren. Wie es die Mutter treffend formuliert, hat die Familie (noch) kein menschliches Schicksal, sondern muss es sich erst verdienen. Dies impliziert aber – und das ist der Glaube, um den es geht – dass das meritokratische Prinzip für sie gilt, was nicht der Fall ist. Sowohl die formale Bildung als auch die transformative Bildung der Subjekte wird also gleichsam gerahmt, was dazu führt, dass, selbst wenn die Kocsis sich bilden, ihre Welt-Selbstverhältnisse transformieren, so hätte dies keinen Einfluss auf ihre Anerkennung als Menschen, denn diese muss dem vorausgegangen sein. Sicherlich lässt sich formulieren, dass Rassismus bildet (vgl. Broden/Mecheril 2010), wenn Bildung als Subjektivation verstanden wird. Doch diese paradoxe Entunterwerfungsstrategie, die Butler beschreibt, ist immer auch gewaltsam und zwar insbesondere für jene, denen Menschlichkeit abgesprochen wird (vgl. Butler 2010). Es geht also um die Position, die Situation, die Lage im sozialen Raum und damit in sozialen Machtbeziehungen, die wirksam wird, die irgendwie als gegeben

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a­ ngenommen wird, die sich aber vor allem jenen, die durch sie diskriminiert werden, nicht erschließt. So fragt Ildikó, um »was für eine Lage, Schieflage? Schräglage? Ablage? Zulage?« (Nadj Abonji 2012: 180) es gehe, wenn von ihrer, der Lage der Schweizer_innen, die Rede ist. Es scheint als würden sich Zuschreibungen und Erwartungen, gerade wenn es um ›Integration‹ – eben auch im Bildungssystem – geht, widersprechen. Wenn man Ildikós Geschichte als Gegenerzählung zu dem skizzierten Bildungsdenken und den als allgemeingültig angenommenen Prämissen von Bildungsprozessen in der Adoleszenz liest, zeigt sich, dass Ildikó – und andere junge Menschen mit so genanntem Migrationshintergrund – sich in einer paradoxen Situation befinden: Sie müssen an etwas glauben, an das sie nicht glauben können.

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Die Spannung halten Erkundungen sprachlicher Formate jenseits der Wissenschaft Nadine Rose

1. L esarten Wie kann ich den Roman »Tauben fliegen auf« von Melinda Nadj Abonji (2014) (pädagogisch) lesen? Anders als bei anderen wissenschaftlichen Texten habe ich den Eindruck über dieses Buch, über Literatur nicht in (ver)allgemeiner(nder) und (ver)sachlich(t)er Form sprechen zu können, schließlich bin ich keine ausgebildete Literaturwissenschaftlerin, sondern nur indem ich betont ›ich‹ sage und von mir als Leserin, von meinen Leseeindrücken spreche. Und ob dieses Gefühls steht mit diesem Einsatzpunkt, diesem Anfang auch zur Frage, ob das, was ›ich‹ dazu zu sagen weiß und zu sagen habe, dieser Lektüreeindruck, eigentlich überhaupt eine ›pädagogische Lektüre‹ des Romans darstellt. Warum fällt schreibende Sachlichkeit oder sachliches Schreiben angesichts dieses Romans so schwer? Der Roman »Tauben fliegen auf« hat aus meiner Sicht etwas Rauschhaftes an sich, er hat mich auf eigentümliche Weise in seiner besonderen, geradezu fliegenden Sprachlichkeit berührt, in seinen Bann gezogen und so schließlich zu diesem Schreiben veranlasst. Trotzdem erscheint bereits der Versuch zu beschreiben, worum es in dem Roman geht, mir einigermaßen heillos. Man könnte (recht sachlich) sagen: Erzählt wird – aus der Perspektive einer Ich-Erzählerin heraus – die Geschichte der Protagonistin Ildiko und die ihrer engeren und weiteren Familienangehörigen, insbesondere von Vater und Mutter Koscic und Schwester Nomi, die in den späten 70er Jahren die Vojvodina, eine ungarisch-sprachige, relativ e­ igenständige Provinz Jugoslawiens, verlassen und in die Schweiz übersiedeln. Es ist die

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Geschichte der Eltern, samt ihrer familiären Verstrickungen, die sich in der Schweiz über undokumentierte Arbeitsstellen und eine Wäscherei schließlich zum eigenen Café in bester Lage in einer »der reichsten Gemeinden am rechten Zürichseeufer« (Abonji 2014: 51) hocharbeiten. Und es ist noch viel mehr die Geschichte von ihren Töchtern, insbesondere von Ildiko, denen – anders als den Eltern – weniger klar zu sein scheint, was sie (in der Schweiz) eigentlich wollen und sollen und die entsprechend ihres jugendlichen Alters noch ihren Platz im Leben zu finden suchen. Und man könnte vielleicht ergänzen: Es geht um kindliche Sehnsuchtsbilder in Bezug auf die Vojvodina und um jugendliche Parallelwelten in der geordneten Schweiz, um familiäre Verpflichtungen und sukzessive gelüftete Familiengeheimnisse, es geht um das Nebeneinander von Zugehörigkeitsgefühlen und Differenzerfahrungen und es geht um vielerlei Formen der Liebe und die Schwierigkeiten sie zu leben und zu artikulieren. Und bereits wenn ich die Geschichte in dieser Weise – höchst rudimentär – zusammenfasse, wird sichtbar, dass zwei Lesarten dieses Romans möglich wären, sich vielleicht sogar aufdrängen: Man könnte ihn als Adoleszenz-Roman lesen, was durch die Altersspanne, in der sich die Protagonistin situiert findet, etwa im Alter zwischen 10-25 Jahren, nahe gelegt wäre. Aus dieser Perspektive wären die unzähligen Szenen der stummen1 und verbalisierten Auseinandersetzung mit den Eltern und ihrem Lebensstil genauer zu betrachten, ebenso der Moment der Ablösung Ildikos von Elternhaus und Café (der nicht zufällig in eins fällt). Auch die Suche der Töchter nach einem eigenen Ort in der alternativen Szene Zürichs, ihre ersten sexuellen und Liebesbeziehungen mit jungen Männern und schließlich Ildikos Auszug und die erste eigene Wohnung (samt deren Bedeutung für sie) wären in adoleszenztheoretischer Perspektive sicher ausdeutbar. Ebenso überzeugend und ertragreich wäre es sicherlich, den Roman als Migrationsroman zu lesen, als eine zwischen unterschiedlichen Orten, ›Welten‹ und ›Heimaten‹ changierende Geschichte, in der die satt-süßen Kindheitsbilder und die sommerlichen Urlaubsbesuche der Familie in der Vojvodina einer wohltemperierten und arbeitssamen Schweiz gegenüber gestellt werden könnten, in der ›Ausländer*innen‹ keinen leichten Stand haben – mit und ohne Schweizer Pass. Aus dieser Perspektive wären die unzähligen Szenen der Herabwürdigung aber auch der Neugierde

1 | Präziser formuliert müsste man von als stumm beschriebenen Auseinandersetzungen sprechen.

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in Bezug auf die Herkunft der Familie interessant, ebenso wie der sich abzeichnende Konflikt zwischen Eltern und Töchtern als der zwischen 1. und 2. Generation in der Migration oder auch der Blick auf die unterschiedlichen Strategien der Familienmitglieder sich gegenseitig zu entlasten, um den arbeitsamen Alltag in einem Familienunternehmen zu bewältigen. Jede dieser Lesarten wäre dazu geeignet, an Überlegungen anzuschließen, die Hans-Christoph Koller bislang im Blick auf transformatorische Bildungsprozesse unter Bedingungen von Adoleszenz und Migration bewegt haben. So hatte er beispielsweise als »zentrale Annahme«  der gemeinsamen Forschungsprojekte mit Vera King formuliert, »dass der Bildungserfolg von Jugendlichen mit Migrationshintergrund entscheidend von der Bewältigung der doppelten, miteinander verschränkten Herausforderung von Adoleszenz unter Migrationsbedingungen bestimmt wird« (Koller 2012a: 55) und dieser Roman könnte entsprechend in dieser Frageperspektive untersucht werden. Aber – Sie merken es schon – ich spreche die ganze Zeit im Konjunktiv, ich folge keiner der Fährten, die mit den Schlagworten ›Migration‹ oder ›Adoleszenz‹ verknüpft sind, weil ich das Gefühl habe, den Roman unter diesen Perspektiven irgendwie vereinseitigen, einzuhegen und zurichten zu müssen. Nun ist jegliche Form der Interpretation – auch das habe ich von Hans-Christoph Koller gelernt – eine Form der Zurichtung, der Verkürzung oder, ungleich schöner ausgedrückt, eine »Lesart« (Koller 1999), die mit anderen Lesarten konkurrieren und vielleicht sogar in Widerstreit geraten kann, gerade ohne dass es möglich wäre, zu einer privilegierten Perspektive vorzudringen. Vielmehr geht es also gerade darum, die Spannung zwischen den verschiedenen Lesarten zu halten. Entsprechend möchte ich also den Blick, jenseits der Schlagworte Adoleszenz und Migration, die zweifelsohne für diesen Roman wichtig sind, gewissermaßen auf ein aus meiner Sicht noch davor liegendes ›Allgemein(er) es‹ lenken: Denn es scheint mir aussichtsreich und wichtig – auch bildungstheoretisch – die eigentümliche Spannung zu erkunden, die den Roman beseelt und die ihn aus meiner Sicht so berauschend macht: Eine Spannung, die sich zum einen Teil aus der manchmal spöttischen, manchmal ratlosen, manchmal ­verzweifelt-wütenden Distanz der Ich-Erzählerin zu ihrer Umgebung, den darin handelnden Personen und sich selbst speist. Eine Distanz, die – zumindest mir – das Gefühl vermittelt, dass die Protagonistin Ildiko in den geschilderten Situationen zwar anwesend und für sie auch zentral ist, aber dennoch bisweilen seltsam ­unverbunden-abwesend darin erscheint, ­obwohl maßgeblich der Eindruck vermittelt wird, dass gewissermaßen durch

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ihre Augen betrachtet und erzählt wird. Diese erzählerisch hergestellte und bisweilen auch erzählte Distanz steht dabei in direkter Spannung – so jedenfalls mein Eindruck – zu der hohen Intimität und Intensität im Erzählgestus dieses Romans, der aus meiner Sicht nicht allein durch die Ich-Erzähler*inPerspektive sondern auch durch das hohe Erzähltempo, den zeitweiligen Bekenntnischarakter des Erzählten und die sich ineinander verschlingenden inhaltlichen Aspekte eines Geschehens (mit Vor-, Rückblenden und Reflexionen) erzeugt wird. Ein Erzählgestus, der jede Chronologie der Ereignisse aushebelt, ohne dabei je wirr zu werden, aber auch über eine große Liebe zum Detail, zur Materialität und Sinnlichkeit der Dinge seine Kraft bezieht. Was mit dieser Art des Erzählens, in dieser eigentümlichen Verquickung von Inhalt und Form entworfen oder gezeichnet wird, sind aus meiner Sicht wunderbar spannungsreiche Bilder, denen ich selbst mich nur metaphorisch, angelehnt an die Sprache der Fotografie, anzunähern suche, wenn ich nachfolgend a.) Verdopplungen und b.) Kippbilder als Stilfiguren dieses Romans herauszuarbeiten und abschließend bildungstheoretisch zu kommentieren suche.

2. S pannungsvolle B ilder a.) Verdopplung Die Figur der Verdopplung durchzieht aus meiner Sicht den gesamten Roman, wird allerdings am stärksten auf die Spitze getrieben in der Dopplung von »ich« und »Fräulein«: Vom »Fräulein« ist immer dann die Rede, wenn es um das Bedienen im Café als sog. »Serviertochter« oder »Buffettochter« (je nach Standort, vor oder hinter der Theke) geht, eine Position, die die Protagonistin Ildiko, ebenso wie ihre Schwester Nomi im »Mondial«, dem elterlichen Café, regelmäßig übernimmt. Wenn es ums Mondial geht, dann dominiert im Rahmen der Erzählung eigentlich das »wir« die Szenerie: So heißt es z.B. »Wir übernehmen alles von den Tanners: Büchsenbohnen, unzählige Beutel Bratensauce, gefrorenes Brät, Pommes Duchesse, egal, auch wenn wir wissen, dass wir das meiste gar nicht brauchen können« (ebd.: 49). Das Mondial, das wird bereits früh klar, ist ein Familienprojekt, alle helfen mit, alle packen mit an, so auch Ildiko, die dafür ihr Studium in den Hintergrund stellt, ebenso wie ihre Schwester. Und dieses Familienprojekt wird eben auch als ­»Glückslos« (ebd.) präsentiert, das alle verpflichtet und dem alle verpflichtet

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sind, das neben viel Arbeit auch Gesten der Anpassung, der Unterwerfung und der Dankbarkeit angesichts dieser großen, beinahe unglaublichen Chance für die Familie fordert. Diese angepasste Dankbarkeit äußert sich auch darin, nicht viel zu verändern, und damit den Tanners, den Vorbesitzer*innen, wie den Kunden zu signalisieren, dass beinahe alles so bleibt, wie es war, auch wenn jetzt die Familie aus Jugoslawien mit den Schweizer Pässen das Geschäft weiter führt. Und falls es Veränderungen gibt, dann selbstverständlich nur zum Besseren, z.B. mit selbstgebackenen Vanillekipferln. In dieses starke, familiär geprägte »wir« hinein (»Am dritten Januar 1993 eröffnen wir das Mondial« [ebd.: 49]) schleicht sich im Laufe der Zeit, in der die Erzählung vermittelt, dass Ildikos Handgriffe im Service immer perfekter, die Abläufe immer reibungsloser vollzogen werden (»[wir müssen den Gästen das Gefühl geben, dass uns unsere Arbeit leicht fällt, versteht ihr?], und ich, die versteht, versuche um neun Uhr den Überblick nicht zu verlieren, elegant beiläufig Kaffee zu servieren, einzukassieren, die Gäste nicht zu drängen« [ ebd.: 105]), eine Differenz ein: Im Laufe der Sätze, die (in einer Wiederholungsschleife) eine intensive Szenerie wiedergeben, in der »das Fräulein« Ildiko auf den Knien und unter den Sitzbänken den Schuh einer Stammkundin sucht und dabei die rassistischen Fragen und Bemerkungen eines anderen Stammkunden pariert, der vom »homo balcanicus« (ebd.: 108) annimmt, dieser habe »die Aufklärung einfach noch nicht durchgemacht, sagt Herr Pfister, übrigens, mein Hund beißt nicht« (ebd.), wird eine gewisse Spannung geradezu greifbar. Am Ende dieser grotesken, bedrückenden und verschwitzten Szenerie »sagt Herr Pfister, als er aufsteht, sich sein Jackett zuknöpft, ich finde, Sie machen Ihre Sache sehr gut (danke schön, ja, ich wünsche Ihnen auch einen schönen Tag Herr Pfister, bis morgen!)« (ebd.: 109) und das ist der Moment an dem sich die schleichende Differenz zwischen »ich« und »Fräulein« nun auch sprachlich Bahn bricht, wenn es direkt im Anschluss heißt: »ich, die sich trotz allem geschmeichelt fühlt, ärgere mich über sie, die ich bin« (ebd.). Nicht allein wird hier in Bezug auf das »ich« eine Gleichzeitigkeit von – widerstreitenden? – Gefühlen artikuliert: Es wird nahegelegt, dass die ­Protagonistin Ildiko sich geschmeichelt fühlt, während sie sich gleichzeitig über sich, auch als Geschmeichelte, ärgert. Sondern diese Differenz wird sprachlich weiter über die Wahl der Personalpronomina auf die Spitze getrieben, indem das »ich« formuliert, sich über »sie, die ich bin« zu ärgern. Es ist offenbar die emotionale Ambivalenz, die Pfisters Lob auslöst und der hier über die Verdopplung in »ich, die sich [...] geschmeichelt fühlt« und »sie, die

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ich bin«, über die sie sich ärgert, Ausdruck gegeben wird. Obwohl der Modus des Erzählens aus der Perspektive der ersten Person, die Ich-Erzählung, beibehalten wird, wird hier von Ildiko nun kurzfristig auch distanzierend, in der dritten Person gesprochen. Man könnte sagen, hier zeigt die Ich-Erzählerin auf sich als ›andere‹ hin oder vielleicht besser zurück, was eine gleichzeitige Objektivierung und Distanzierung dieses »ich« als »sie« impliziert.2 In dieser sprachlichen Verdopplung des »ich« kommt eine Spannung endgültig zum Ausdruck, die der Erzählung der gesamten Szenerie bereits über 2 Seiten hinweg unterlegt war: Wie kann die Protagonistin Ildiko, wie kann jemand diese Szene samt der dazu erzählten Gefühlsqualitäten (schwitzen, kriechen, suchen, freundlich bleiben, zuhören, überhören, zuvorkommend antworten) eigentlich aushalten? Diese Frage drängt sich beim Lesen dieser Szenerie bereits unwillkürlich auf und findet hier in der über die kurzfristige Differenz von »ich« und »sie« eingeführten Verdopplung aus meiner Sicht eine vorläufige Antwort. Die Verdopplung markiert und ermöglicht zu verdeutlichen, dass das »ich« Ildikos nicht im höflich antwortenden und sich auch angesichts des Lobes geschmeichelt fühlenden »Fräuleins« Ildiko aufgeht, sondern die zwischen beiden bestehende Differenz nun als klare Spannung zwischen beiden Figuren der Geschichte, die allerdings in einer einzigen Person situiert sind, hervortritt und nun auch als solche artikuliert werden kann: »ich« entkomme dem »Fräulein« in mir nicht, das sich – wie der Rest der Familie – extrem anstrengt, um die Erwartungen der Gäste möglichst umfassend zu erfüllen und sich von einem Lob geschmeichelt und bestätigt fühlt, aber »ich« ärgere mich eben auch »über sie, die ich bin«, weil »sie« eben nicht (vollständig) »ich« ist, sondern gewissermaßen nur dessen höfliche, sozial angepasste Cafe’-Bedienungs-Variante. Und der Hinweis auf diese Verdopplung lässt etwas von der Kraft (an Selbstbeherrschung) aufscheinen, die es offenbar kostet, weiter als

2 | Interpretativ spannend und semantisch unklar ist übrigens an dieser Stelle, worüber das »ich« sich eigentlich ärgert: Über ihr Gefühl geschmeichelt zu sein? Darüber, dass sie von Pfister und anderen zu einem objektivierten »sie« gemacht wird? Darüber, dass sie dieses »sie« nicht nicht ist, sie sich also diesen Zuschreibungen nicht völlig entziehen kann? Oder darüber, dass sie sich nicht einfach über die Pfisters dieser Welt ärgern kann, sondern sich (trotz allem) von deren scheinbar anerkennenden Worten geschmeichelt fühlt? Ein wertvoller Hinweis für meine Interpretation, den ich Gereon Wulftange verdanke.

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»Fräulein« zu agieren und die Wut des »ich« auf das (geschmeichelte) »sie/ ich«, das eben auch »ich« ist, im Zaume zu halten. Fast fühlt man sich in der Unterscheidung und Gegenüberstellung von »ich«, »mich« (und »sie«) an Mead (1978) erinnert, der mit »I« und »Me« Aspekte des »Self« ausweist und voneinander unterscheidet, die nahelegen, dass jede für ihr interaktives Agieren bereits ihr Gegenüber und dessen Erwartungen an sie, im Aspekt des »Me« in sich hineingenommen und gewissermaßen vorweg genommen hat bzw. haben muss, um sozial angemessen agieren zu können. Im Unterschied zu Mead, bei dem das »I« gerade den Aspekt des spontanen, unmittelbaren Handelns eines »ich« akzentuiert, das potentiell immer auch ungeachtet der internalisierten Erwartungen des generalisierten Anderen agiert, scheint im Roman das zuerst benannte »ich« in diesem Satz gerade für denjenigen Aspekt der Protagonistin Ildiko zu stehen, der eher den sozialen Erwartungen entsprechend höflich (nach außen) agiert und sich (innerlich) auch durchaus über das Lob von Herrn Pfister geschmeichelt fühlt. Aber gegenüber diesem »ich« – das in Meadscher Terminologie eher dem »Me« nahe zu stehen scheint, als dem »I« – bezieht nun das selbe »ich« (»ich [...] ärgere mich, über sie, die ich bin«) von einer reflexiven, distanzierteren Warte aus gerade Stellung, was dadurch sprachlich gelingt, dass das »ich« kurzfristig als ein »sie« objektiviert und distanziert wird, ein »sie«, über die »ich« sich ärgern und über die »ich« urteilen kann – eine sprachliche Volte, die vermutlich überhaupt nur in literarischen Texten so gelingen kann, das deuten meine etwas ungelenken Versuche an, diese Verdopplung zu ­beschreiben.3

3 | In Bezug auf das Sprechen vom Subjekt weist Judith Butler uns zwar wiederholt darauf hin, dass unser Sprechen das Subjekt bereits als Subjekt voraussetzt, während es noch versucht, sein Werden als Geworden-Sein in Abhängigkeit von Adressierungen zu entschlüsseln: »To say that I am affected prior to ever becoming an ‚I’ is to deliver the news by using the very pronoun that was not yet put into play« (Butler 2015: 4). Aber während Butler damit eher den Prozess der Subjektivation als ›Umwendung‹ insgesamt charakterisiert, die erschafft, was sie voraussetzt, scheint die hier literarisch beschriebene ›Umwendung‹ eher auf der – einfacheren – Ebene einer ref lexiven Wende auf sich selbst hin situiert, gleichwohl sich hier sprachlich auch die Spannung anzudeuten scheint, der Butler theoretisch dezidiert nachzugehen sucht: Die Anderen geben mir zu verstehen, als wer »ich« für sie anerkennbar bin.

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Und vielleicht ist der*die eine oder andere Leser*in nun geneigt diese Differenz zwischen den »ichs« als eine Differenz in der Zeit, zwischen Protagonistin (über die und von der erzählt wird) und Ich-Erzählerin des Romans (die – letztlich retrospektiv – erzählt) zu lesen (zur Unterscheidung der Ebenen vgl. Schmid 2003). Aber ich habe den Eindruck, dass eine solche Perspektive zwar irgendwie zutreffend, aber dennoch nicht gänzlich überzeugend ist, weil sie dazu tendiert, die Ambivalenz in der Situation in einen bereits deutend eingeordneten (und insofern eher überwundenen) Konflikt zu überführen. Stattdessen finde ich genau diese Gleichzeitigkeit spannend und spannungsvoll, die – hier kunstvoll pointiert formulierte – Gleichzeitigkeit zweier gegenläufiger Gefühle innerhalb einer Protagonistin, die ein verdoppeltes »ich« (und vielleicht auch die Markierung einer Differenz in den Figuren »Fräulein« und (impulsives) »ich«) nötig macht: sich über ein Lob geschmeichelt fühlen und sich über genau diese Reaktion vielleicht auch gerade angesichts der (rassistischen) Zumutungen durch diesen Gast zu ärgern; sich also vom eigenen, ­geschmeichelten »ich«, das diese Zumutungen beschweigt, als verärgertes »ich« zu distanzieren, was nur um den Preis gelingt, aus dem eigenen »ich« übergangsweise ein Objekt der Betrachtung, ein »sie«, zu machen, mit dem man sich in Differenz befindet. Insgesamt tritt in dieser Szene hinter dem »Fräulein« Ildiko bzw. dem sich »fräuleingemäß« verhaltenden und geschmeichelten »ich« also noch ein anderes »ich« hervor, das nicht nur zunehmend die Rollenförmigkeit (und die damit verbundenen Zumutungen) des Bedienens sichtbar werden lässt, sondern auch mit der Lust und dem Gedanken an ein aus der Rolle fallen in diesem, Anpassung bis zur Selbstpreisgabe nahelegenden, Kontext spielt – ohne dieses Herausfallen je faktisch zu realisieren. Doch allein der Gedanke an die Differenz und die Möglichkeit eines Herausfallens des »ich« aus dem »Fräulein« scheint bereits befriedigend, wenn es an anderer Stelle heißt: »und nächstes Mal werde ich länger bleiben, werde mich womöglich zu Herrn Pfisters Hund legen [...] mit meiner umständlichen Bluse und meiner ­Stützstrumpfhose, […] ein amüsanter Gedanke, ein erschreckender Gedanke« (Abonji 2014: 109).

b.) Kippbilder Eine weitere Spannung, die den Roman durchzieht und sich an einer Stelle aus meiner Sicht als quälende Untätigkeit besonders sprachlich zugespitzt findet, betrifft das Verhältnis Ildikos und ihrer Familie zum Rest der Familie,

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der sich noch in der Vojvodina befindet, eine Spannung, die sich unter der Bedingung, dass dort in den 1990er Jahren Krieg herrscht, noch verschärft. Wiederum vor dem Hintergrund eines kollektivierten, kleinfamiliären »wir«, eines »wir«, das es plausibel macht von »unsere[n] Kunden« (ebd.: 17) ebenso zu sprechen wie von »unserem amerikanischen Wagen« (ebd.: 5) und »unserer Heimat« (ebd.: 15), wird die Protagonistin Ildiko auch eingeführt und situiert als Teil einer Großfamilie, in der die Großmutter, liebevoll Mamika genannt, gerade für die Kinder Ildiko und Nomi den zentralen Bezugs- und Ankerpunkt in der Vojvodina bildet, während Onkel Piri und Tante Icu, Onkel Móric und Tante Manci, Cousine Csilla und Cousin Bela und viele andere mehr dieses großfamiliäre Panorama weiter anreichern und mit ihren je eigenen Geschichten ausgestalten. In den Beschreibungen der Familienbesuche und der Familienfeste (wie Hochzeiten und Beerdigungen) dominieren Impressionen von Verbundenheit die Darstellung: Es wird eng zusammengerückt, gemeinsam um unterschiedlich große Tische und Tafeln herum gesessen, unendlich viel vielfältiges und leckeres Essen aufgetischt und verspeist und gerade von den Männern mit Alkohol herunter gespült, es werden Geschichten ausgetauscht und es wird unter einfachen, ländlich-bäuerlichen Bedingungen nah beieinander im Haus gelebt, dessen staubiger Hof von Hühnern, Katzen und anderen Tieren bewohnt wird. Aber bereits während diese Verbundenheit und Nähe sich noch in der kindlichen Freude über das Lieblingsgetränk »Traubi!« (ebd.) ausdrückt, das Mamika extra für die Schwestern gekauft hat, wird gleichzeitig auch auf die privilegierte Stellung von Ildiko und Nomi gegenüber den Verwandten angespielt, die als »verwöhnte Westgören« (ebd.) einerseits wissen, wie verächtlich-uninteressiert ihre Freundinnen in der Schweiz auf dieses Getränk, das Heimatgefühl bedeutet, reagieren würden, die andererseits aber auch wissen, dass ihr Vorfahren mit dem Chevrolet bei den Verwandten in Jugoslawien ein »Spektakel« (ebd.: 23) provoziert, das dem eigentlich im Mittelpunkt stehenden Brautpaar auf einer Hochzeitsfeier den Rang abzulaufen droht. Und so findet sich der liebevolle Blick der Ich-Erzählerin auf die Großfamilie in der Vojvodina immer wieder gebrochen durch sprachliche Einlassungen, die auch das Gefühl einer räumlichen aber auch innerlichen Distanz Ildikos zu ihren Verwandten hervortreten lässt. Eine Distanz, die sofort mit Schuldgefühlen einher zu gehen scheint, wenn z.B. Ildiko sich für die unendlich großen Unterhosen ihrer Großmutter schämt (vgl. ebd.: 169f.) oder für die schlechten Zähne ihrer Cousine (vgl. ebd.: 90f.) – beides Dinge, die in der Schweiz absolut deplatziert wären und die der schweizerische Blick sofort

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abschätzig beurteilen würde. Und da auch dieser antizipierte schweizerische Blick noch im Gestus des Ich-Erzählens vollzogen wird, wird er eben auch als eigener, wenn auch ungeliebter und am liebsten uneingestandener Blick der ›Ausgewanderten‹ auf die ›Zurückgebliebenen‹ artikuliert. Gleichzeitig ist aber auch die Einsicht in die eigene Privilegierung (und der darin angelegte Zug der Herablassung) für die Protagonistin Ildiko schambehaftet, wie es sich z.B. ausdrückt, wenn sie sich schnell – noch bevor Bewunderer eintreffen können – vom Auto, dem »Wunderwerk der Technik« (ebd.: 69) wegstielt, weil »ich mich in diesen Momenten [der sehnsüchtigen Blicke, NR] auf eine ganz bestimmte Weise elend fühle, mickrig« (ebd.: 69f.) wie es heißt. Was in Szenen wie diesen irgendwie beständig kippt und deshalb spannungsvolle und aus meiner Sicht spannende Kippbilder erzeugt, sind die Wertigkeiten, die den Dingen und Personen zugeordnet werden, weil im Blick der Ich-Erzählerin zwei Wertsysteme gleichzeitig anwesend zu sein scheinen und jeweils gegenläufig auf das Betrachtete angewendet werden: Einerseits, mit den nüchternen Augen der Schweizer*innen betrachtet, erscheint das Leben der Verwandten in der Vojvodina, ihre Einrichtung, ihre Kleidung, ihre Zähne m ­ inderwertig, und diesen Blick denkt die Protagonistin beständig mit, kann sich auch nicht gänzlich von ihm frei machen, gleichwohl sie ihre Verwandten und deren Lebensverhältnisse liebt und genießt, obwohl diese eben bisweilen auch Scham auslösen. Andererseits be-fremdet der bewundernd-respektvolle Blick der Vojvodina-Bewohner*innen auf die familiären Attribute der Privilegierung und des Reichtums, des ›Es-Geschafft-Habens‹ die Protagonistin und ihre Familie auch in einer Weise, die ihr Zugehörigkeitsgefühl zur Vojvodina-Großfamilie in Teilen untergräbt, sie als nicht-richtig-zugehörig markiert, so dass auch hier Gefühle der Scham für das materiell bessere Schicksal und Gefühle der Sehnsucht nach der (­verlorenen) p ­ aradiesischen Kindheit in bäuerlichen Verhältnissen sich beständig ineinander verwickeln. Auf die Spitze getrieben wird dieses Kippbild, diese Ambivalenz einer distanzierten Verbundenheit mit der Großfamilie dann in einer Szene, die noch einmal zuspitzt, was in einer früheren Überlegung zu der Frage bereits anklang, was die Familie Koscic eigentlich tun könnte, vielleicht sogar tun müsste, angesichts der Kriegssituation in Jugoslawien und der Bedrohung, die das für die dort lebenden Familienangehörigen bedeutet (vgl. ebd.: 90f.). Es ist die Nachricht, dass Bela, der Cousin, in die jugoslawische Volksarmee eingezogen wurde, der die Frauen der Familie erreicht und erschüttert, ohne dass diese Erschütterung voreinander artikuliert wird und worin sich die ­eigentümliche Hilf- und Sprachlosigkeit (in) der Familie offenbart: »Und ich

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weiß, dass ich nichts fragen darf, dass ich jetzt still sein muss, dass wir uns anziehen müssen, dass wir nichts tun können [...] ich verziehe mich ins Badezimmer, um das zu tun, was ich täglich tue: Gesicht, Hals und Achselhöhlen waschen, Zähne putzen, Wimpern tuschen, einen unauffälligen Mund malen, um schon bald angenehm in Erscheinung treten zu können. [...] und ich habe keine Ahnung, was man tun könnte, ja was denn? Man müsste man müsste man müsste... « (Ebd.: 231f.). Die Perspektive der Ich-Erzählerin, die die Sprachlosigkeit der Familie beschreibt, indem sie das implizite Sprech- und Frageverbot (»ich weiß, dass ich jetzt still sein muss«) als eigenes, als auf sich angewendetes artikuliert, ebenso wie die gleichfalls implizite Erwartung »zu tun, was ich täglich tue«, also den ›normalen‹ Alltag aufrecht zu erhalten, erlaubt diese paradoxe Konstellation hervortreten zu lassen: Vom Schweigen in einer Weise zu sprechen, die einem eine Idee vom impliziten Imperativ dieses Schweigens gibt. Und in eben dieser virtuosen Manier wird auch die Hilflosigkeit angesichts dieser Nachricht innerhalb des Romans artikuliert: Indem es nicht gelingt zu benennen und gedanklich auszuführen, gar miteinander zu besprechen, was man für die Verwandten tun könnte, was man vielleicht sogar tun müsste. Vielmehr liegt die unbeantwortete Verantwortung bleischwer als Anspruch ohne Inhalt in der Luft: »man müsste man müsste...«. In diesem »man müsste, man müsste, man müsste...« ist aus meiner Sicht die ganze Spannung pointiert, die sich aus dem Kippbild, dem ambivalenten Zustand der emotionalen Verbundenheit unter distanziert-privilegierten Bedingungen gegenüber der Großfamilie ergibt. Eine Spannung, die sich als Hilf- und Sprachlosigkeit, sowohl im Aufrechterhalten der Normalität und ihrer Routinen als auch im Schweigen über das alle Bewegende artikuliert bzw. eben gerade nicht voreinander artikuliert findet. Es herrscht eine – wie es anderer Stelle explizit mit Bezug auf den Vater heißt – »unüberhörbar[e]« (ebd.: 225), eine laute Stille, eine Flucht in Geschäftigkeit und Routine, die gleichzeitig auch hervortreten lässt, dass angesichts des »man müsste« in Bezug auf den existenzielleren Überlebenskampf der Verwandten unter Kriegsbedingungen auch ein alltäglicher Überlebenskampf bestritten werden muss, der die übergeordneten potentiellen Verpflichtungen (»müsste«) gegenüber der eigenen Familie auf seltsam unpersönlicher Distanz (»man«) zu halten erlaubt – und damit vielleicht auch auszuhalten erlaubt. Unter Bedingungen, zu denen die Mutter an anderer Stelle festhält »Wir haben hier noch kein menschliches Schicksal, das müssen wir uns erst noch erarbeiten« (ebd.: 85) und die für den praktischen Alltag bedeuten, »dass es«,

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wie die Ich-Erzählerin in Bezug auf die Mutter notiert, »eine fast unmenschliche Energie braucht, um die Normalität, den Alltag hier aufrechtzuerhalten« (ebd.: 94), unter solchen Bedingungen wird aus dem Impuls, etwas für die Verwandten tun zu wollen, recht schnell die Erkenntnis wenig tun zu können (»von unseren Verwandten könnte niemand hier arbeiten« (ebd.: 90)). Diese Erkenntnis mündet letztlich im hilf-, rat- und sprachlosen »man müsste«, in einem Verhaftet-Sein mit der moralischen Verantwortung für die eigene Untätigkeit und dem Gefühl sich wieder – nun noch radikaler als durch die Ausreise – unschuldig schuldig zu fühlen und zu machen gegenüber denen, mit denen man privilegiert-distanziert verbunden ist.

3. B ildungstheoretische Kommentierung oder R e -L ektüre Über viele Jahre hinweg verfolgen Hans-Christoph Koller und Markus Rieger-Ladich (2005, 2009, 2013) nun die Fährte, »literarische Texte zum Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Reflexionen zu machen« (Koller 2012b: 170f.) und schließen damit ihrerseits an eine Traditionslinie bildungstheoretischer Beschäftigung mit Literatur an, die wiederum mit den Namen Klaus Mollenhauer und Jürgen Oelkers verbunden ist. In dieser Linie verspricht die ›pädagogische Lektüre‹ zeitgenössischer Romane einen doppelten wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn hinsichtlich pädagogischer Gegenstände: Zum einen können literarische Texte Hans-Christoph Koller zufolge »als ‚dichte’ Beschreibungen bildungstheoretisch relevanter Sachverhalte und Situationen verstanden« (ebd.: 172) werden, zum anderen sind die literarischen Texte auch als »Gegen- oder besser noch: Widerstand« (ebd.) nutzbar, an dem bildungstheoretische Konzepte und Theorien »weiterentwickelt und ausgearbeitet oder aber einer grundlegenden Revision unterzogen werden sollen« (ebd.). Wenn ich nun mit Blick auf die gerade entfalteten spannungsvollen Bilder im Roman »Tauben fliegen auf« deren bildungstheoretische Re-Lektüre versuchen möchte, so läuft diese, wie mir scheint, eher darauf hinaus, unter der Hand bildungstheoretische Konzepte und Theorien zu befragen, während ich bildungstheoretisch relevante Sachverhalte nachzuzeichnen suche. ­Wollte ich – naheliegender Weise – im Rahmen dieser Kommentierung die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse ins Spiel bringen und zugrunde legen, deren Ausarbeitung und Formulierung Hans-Christoph Koller (1999,

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2012) ebenso wie Winfried Marotzki (1991) und Rainer Kokemohr (2007) verpflichtet sind, dann müsste der Roman in dieser Perspektive eigentlich daraufhin untersucht und befragt werden, a.) welche Selbst- und Weltverhältnisse sich darin artikuliert finden, b.) welche Anlässe für transformatorische Bildungsprozesse sich rekonstruieren lassen und c.) welches die Bedingungen und Verläufe solcher Bildungsprozesse wären. Eine solche umfassende Interpretation des Romans im Lichte der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse möchte – und kann – ich hier aber gar nicht leisten. Vielmehr verlege ich mich auf einige viel begrenztere Überlegungen im Lichte dieser Theorie und der Frage, wie man sie für die empirische Rekonstruktion von Bildungsprozessen nutzbar machen kann. Denn bis zu einem gewissen Grad finde ich es naheliegend, die spannungsvollen Bilder, die ich im Roman nachzuzeichnen und zu rekonstruieren suchte, als Anlässe für Bildungsprozesse zu verstehen: Es handelt sich, folgt man meinen Überlegungen dazu, um Situationen und Konstellationen, für die charakteristisch ist, dass sich in ihnen ein Unbehagen der Protagonistin mit einzelnen Situationen ebenso wie mit sich und vielleicht auch ein empfundenes Ungenügen der Protagonistin selbst in diesen Situationen artikuliert findet. Diese spannungsvollen Konstellationen, die sich pointiert in den Formulierungen »ich [...] ärgere mich über sie, die ich bin« und »man müsste, man müsste, man müsste...« literarisch formuliert finden, lassen sich durchaus als schwierige, vielleicht sogar als krisenhafte Momente innerhalb des Romans i­ nterpretieren. Gleichzeitig finde ich es vorschnell diese Momente direkt als eine Krise im Sinne der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse zu lesen, für die ja gelten müsste, dass in ihr Figuren des bisher gültigen und tragfähigen Selbstund Weltverhältnisses an ihre Grenzen stoßen, so dass eine Transformation dieser Figuren nötig wird. Und gerade wenn man dann jene theoretischen Referenzen hinzuzieht, die Hans-Christoph Koller zur Konzeption von Anlässen für Bildungsprozesse ausweist, z.B. die Idee der »negativen Erfahrung« bei Buck im Anschluss an Husserl (vgl. Koller 2012b: 71ff.), die Vorstellung einer »Erfahrung des Fremden« im Sinne Waldenfels’ (vgl. ebd.: 79) oder das Konzept des Widerstreits bei Lyotard (vgl. ebd.: 87), ergibt sich aus meiner Sicht eine Kluft: Zwischen einerseits den philosophischen Konzepten eines krisenhaften Phänomens, als eines, das sich z.B. »einer gegebenen Ordnung ‚entzieht’« (ebd.: : 80, Hervorh. i. O.) oder in dem ein Konflikt zwischen »zwei unterschiedlichen Diskursarten« (ebd.: 92) zu Tage tritt und andererseits der beschriebenen, alltäglich schwierigen, spannungsvollen Situation oder Konstellation, wie sie in den oben genannten Sätzen zum Ausdruck kommt. Es

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wirkt, als würde die Leichtigkeit und Schönheit der literarisch formulierten Sätze, in denen sich das Spannungsvolle, das Schwierige, so wunderbar pointiert findet, vor dem Gewicht und der Größe der philosophischen Konzepte geradezu erstarren. Aus meiner Sicht wirkt entsprechend jeder Versuch, diese Sätze im Lichte der theoretischen Konzepte zu lesen bzw. zu interpretieren so, als versuchte man mit Kanonen auf Tauben, Verzeihung, auf Spatzen zu schießen. Was in beiden spannungsvollen Bildern deutlich wird und sich an einer Stelle des Romans ja auch bezogen auf die Mutter konkret artikuliert findet, ist aber, wie viel Energie es das »wir« der Familie kostet, ihre Normalität unter den beschriebenen Bedingungen aufrecht zu erhalten und dass die Protagonistin Ildiko, anders als ihre Eltern, nicht diesen Weg eines Aufrechterhaltens von Normalität gehen mag oder kann (dies würde »eine Energie [erfordern], die ich nicht werde aufbringen können« (Abonji 2014: 94), heißt es dazu). Und ich finde es auch durchaus plausibel diese Einsicht, die vielleicht auch eher ein Entschluss ist, wie mir scheint, und sich bereits über den ganzen Roman hin andeutet und abzeichnet, als Bildungsprozess zu verstehen. Relativ unzweifelhaft kann die Entscheidung der Protagonistin, auszuziehen, nicht weiter im elterlichen Café zu helfen und den Toilettenvorfall polizeilich anzuzeigen, bei dem mutmaßlich ein Gast seine Exkremente über die Wand der Toilette verteilt hat, um seine Missbilligung gegenüber der Familie auszudrücken, als Bruch mit dem Schweigen, als Bruch mit den Eltern und auch als Bruch mit dem »Fräulein« interpretiert werden. Aber dennoch erscheint mir fraglich, ob dieser Distanzierungs-Prozess als Bildungsprozess im Sinne einer Transformation grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses gefasst werden kann, weil ja gerade die Distanzierung, die in diesen Handlungen nun auch praktisch vollzogen wird, das Sprechen der Ich-Erzählerin über den ganzen Roman hinweg bereits ausgezeichnet hatte. Es scheint sich bei diesem Distanzierungs-Prozess, der schließlich in den erwähnten, zahlreichen Brüchen gipfelt, eher um eine lange im Stillen gepflegte Konstante zu handeln, die eben jene Doppelbödigkeit in die Erzählung einzieht, die ich über die spannungsvollen Bilder zu (be-)greifen suchte, eine Distanzierung, die nun nicht mehr allein sprachlich und innerlich vollzogen sondern deutlicher als zuvor auch nach außen hin von der Protagonistin sichtbar gemacht wird. Im Sinne der eingangs angestellten Überlegungen zum spannungsvollen Verhältnis zwischen bisweilen spöttischer, ratloser oder auch verzweifelt-­ wütender Distanz gegenüber den erzählten Begebenheiten und der hohen Intimität im Erzählgestus der Ich-Erzählung steht aus meiner Sicht dann gerade

Die Spannung halten

zur Frage, um wessen Bildungsprozess es einer pädagogischen Lektüre hier eigentlich gehen kann, eher um den der Protagonistin Ildiko oder vielmehr um den der potentiellen Leser*innen? In jedem Fall scheinen die spezifisch literarisch-sprachlichen Formate des Romans »Tauben fliegen auf«, mit seinen imposanten Stilmitteln und Erzählperspektiven, die ich als Verdopplung oder auch als Kippbilder charakterisiert und rekonstruiert hatte, eine mehrperspektivische Spannung zu halten oder auch emotionalen Ambivalenzen Ausdruck verleihen zu können. Und solche Spannungen oder Ambivalenzen zu erkunden und ihren möglichen Artikulationsformen nachzugehen wird sicherlich auch weiterhin ein aussichtsreiches und anregendes Terrain für bildungstheoretische Überlegungen sein.

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Redevielfalt und der Widerstreit verschiedener Deutungs- und Sinnhorizonte in »Tauben fliegen auf« Bettina Kleiner Möchte man sich pädagogisch relevanten Sachverhalten nähern (wie etwa Situationen oder Konstellationen, die in der Erziehungswissenschaft als Erziehung, Bildung, Sozialisation, Entwicklung oder Lernen bezeichnet werden) haben literarische Texte nach Hans-Christoph Koller besondere Potenziale: diese lägen u. a. darin, dass die (Innen)perspektiven einer oder mehrerer Figuren im Mittelpunkt stünden (Koller 2014: 341). Gerade die Subjektivität und Perspektivität literarischer Texte, ihre Bindung an spezifische gesellschaftliche und historische Verhältnisse betrachtet Koller als spezifische Stärke. Je genauer und differenzierter sich ein Sachverhalt und die damit untrennbar beschriebenen Gefühle, Bedeutungen und Bewertungen beschrieben finden, umso mehr seien Erzählungen geeignet zur Erfassung pädagogisch relevanter Situationen und Prozesse (ebd.: 347). Kollers wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit literarischen Texten auf der einen und biographischen Erzählungen auf der anderen Seite ist seine Aufmerksamkeit für die sprachlich-ästhetische Verfasstheit des jeweiligen Materials gemeinsam: Es existiere kein Zugang zu Welt- und Selbstverhältnissen von Subjekten, der nicht über Sprache und damit verbundene Bedeutungszuweisungen verbunden sei und gerade deshalb komme sprachlichen Merkmalen wie Wortwahl, rhetorischen Figuren, syntaktischen Besonderheiten – also der Frage, wie etwas präsentiert wird – eine besondere Aufmerksamkeit zu (vgl. Koller 2012: 155). Ungeachtet dessen, dass sich literarische Texte und biographische Stegreiferzählungen in vielen Aspekten unterscheiden, etwa darin, dass der literarische Text in der Regel mit spezifischen ­ästhetischen Mitteln gestaltet, lektoriert und daraufhin überarbeitet wird,

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insgesamt Schreiben andere Reflexionen ermöglicht als spontanes Erzählen, besteht in dieser Perspektive eine mögliche Gemeinsamkeit zwischen literarischer und biographischer Erzählung doch darin, dass die sprachlich-ästhetische Verfasstheit an sich Deutungen von Gegenständen und Erfahrungen zum Ausdruck bringt und deshalb eine eigene Analyseebene darstellt. An die Assoziationen mit Christoph Kollers Arbeit – mithilfe der Aufmerksamkeit für sprachliche und rhetorische Mittel vielfältige und widerstreitende Lesarten entwickeln und befördern – knüpft dieser Beitrag an: Im Mittelpunkt steht eine Lektüre einzelner Passagen des Romans Tauben fliegen auf, der sich durch eine spezifische Orchestrierung von Sprachen, Rede und Gedanken auszeichnet. Die nachfolgende Lektüre bezieht sich deshalb vor allem auf die ästhetische Form der ausgewählten Passagen. Die darin vorzufindende Inszenierung von Rede- und Gedankenvielfalt repräsentiert, so meine These, die widerstreitenden Diskurse und Verhältnisse, die das Leben und die Sozialisation der autodiegetischen Erzählerin Ildikó ermöglichen und begrenzen. Gleichzeitig zeigen sich darin auch ihre Erfahrungs- und Umgangsweisen mit diesen Diskursen und Verhältnissen. Dem Gegenstand und der Fragestellung angemessen, wird als Analyseperspektive Michail Bachtins Konzept der Organisation von Redevielfalt in Romanen gewählt. Der mit dem russischen Formalismus assoziierte Literaturtheoretiker Michail Bachtin hat die ›Polyphonie der Stimmen‹ – ein aus der Musikwissenschaft stammender Begriff – als ein Charakteristikum der Werke von Fjodor Dostojewski herausgearbeitet (vgl. Schmid 2005: 105). Der Fokus der so genannten Formalisten lag auf der poetischen Sprache sprachlicher Kunstwerke, besondere Aufmerksamkeit galt deshalb dem Verhältnis von künstlerischer und nicht künstlerischer Sprache (vgl. Grübel 2015b: 24). Ein polyphoner Roman erlangt durch die ästhetische Organisation von Redeund Stimmenvielfalt eine spezifische Deutungsoffenheit, denn die Erzählung wird von verschiedenen Perspektiven und Wertungen getragen, die nicht immer eindeutig einem Äußerungssubjekt zugeordnet werden können (vgl. Bachtin 2015: 195 ff.; Lahn/Meister 2013: 132). Im ersten Abschnitt (1) gehe ich zunächst auf den Inhalt des Romans sowie auf die Frage, warum gerade dieser Roman einen pädagogisch interessanten Gegenstand darstellt, ein. Darauf folgt (2) eine kurze Erläuterung der zentralen Begriffe der Literaturtheorie Bachtins und insbesondere der Inszenierung von Redevielfalt in Romanen, bevor (3) am Beispiel von zwei Romanauszügen auf verschiedene Formen der Inszenierung von ­Redevielfalt und ihre Bedeutung im Roman Tauben fliegen auf eingegangen wird. ­Abschließend

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(4) werden Überlegungen dazu angestellt, inwiefern eine solche literaturwissenschaftlich inspirierte Analyse einen Gewinn für eine rekonstruktive erziehungswissenschaftliche Forschung darstellen kann.

»taubBen flLiegen auf « als literarischer Z ugang zu widerstreitenden D iskursen und R epräsentationen von M igrationserfahrungen Der Roman erzählt in vielen Episoden die Jugend- und Kindheitserinnerungen der autodiegetischen Erzählerin Ildikó Kocsis in der Schweiz sowie die Migrationsmotive und -erfahrungen und die davon geprägten (Generationen)verhältnisse der Familie Kocsis. Die Erzählung verwebt dabei in Form von Rückblenden (Analepsen), Vorschau (Prolepsen) und Gegenwartserzählungen verschiedene Raum- und Zeitverhältnisse: die Geschichte von Ildikós Kindheit in der Vojvodina der 70er Jahre mit dem späteren Leben ihrer Familie (Eltern und zwei Töchter, Ildikó und Nomi) in der Schweiz, wo die Eltern nach den ersten entbehrungsreichen Jahren ein Café übernehmen können. In die präzise Beschreibung des von mechanischen Abläufen und fordernden Gästen geprägten Alltags im Café Mondial, dem nach mehreren Etappen der Niedriglohnarbeit erreichten ›Aufstiegsprojekt‹ der Eltern, finden sich Kindheitserinnerungen an die Zeit im vojvodischen Dorf eingewoben, die einen süßen und Ferienstimmung verströmenden Charakter haben. So beginnt der Roman mit einem Rückblick, der die unterschiedlichen Perspektiven von Eltern und Kindern auf das alte vojvodische Dorf ausmalt: einmal im Jahr, so auch zu Beginn der Erzählung, reist die inzwischen in der Schweiz lebende Familie zurück in die Vojvodina, um die dort lebende Verwandtschaft zu besuchen; die verschiedenen großen Autos (Chevrolet, Mercedes) mit denen sie einfahren, demonstrieren den hart erarbeiteten Wohlstand und die ›Fortschrittlichkeit‹ der Familie, die im Kontrast zu dem dörflichen Leben und der von ihnen beobachteten Armut in der Vojvodina stehen. Während sich die Äußerung des Vaters »hat sich nichts verändert, gar nichts« beim Hineingleiten ins Dorf als Ausdruck des Unmuts und der Abwertung der Armut und der Einfachheit des dörflichen Leben lesen lässt, fürchtet Ildikó Veränderung und nichts so sehr wie den Abschied vom vertrauten Leben, das für sie mit vielen Erinnerungen an eine unbeschwerte Kindheit verknüpft ist ­(gleichwohl diese Erinnerungen durchbrochen sind von den schon von den

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Kindern wahrgenommenen konflikthaften Ereignissen). Die Kindheitserinnerungen werden insbesondere anlässlich der Besuche bei der Großmutter, der »Mamika«, wach: »Gott hat euch gebracht, Mamika, die nicht lächelt, die nicht weint, die diesen Satz mit der ihr eigenen zarten Stimme sagt, uns einzeln die Wangen streichelt, auch meinem Vater, ihrem Kind, Gottes Gunst, die uns in ihr Wohnzimmer, das gleichzeitig ihr Schlafzimmer ist, führt, seine Gnade, die uns Traubisoda, Tonic, Apa Cola und zwischendurch ein Schnäpschen serviert, Papst Johannes Paul II, der uns wie immer in Form eines farbigen Bildchens anlächelt, und ich, die in ängstlicher Genauigkeit das Zimmer inspiziert, mit einem Blick die Kredenz, den Haussegen, die Flickenteppiche sucht, hoffe, dass alles noch so ist wie früher, weil ich, wenn ich an den Ort meiner frühen Kindheit zurückkehre, nichts so sehr fürchte wie Veränderung: Das Erkennen der immergleichen Gegenstände, die mich vor der Angst schützt, als Fremde in dieser Welt dazustehen, von Mamikas Leben ausgeschlossen zu sein.« (Nadj Abonji 2014: 12/13)

Das Dorf und die dort lebende »Mamika« rufen bei den Kindern ebenso wie die vertrauten Gegenstände, Geschmäcker und Gerüche Heimatgefühle hervor, die in einem merkwürdigen Kontrast zu dem von Herabwürdigungen, Rassismus und Fremdheitsgefühlen geprägten Alltag der Familie in der Schweiz stehen: Der Versuch ihrer Beheimatung dort stellt sich als eine andauernde und anhaltende Herausforderung dar. Der von den Eltern erreichte soziale Aufstieg hat einen hohen Preis: nicht nur mussten sie zunächst für einige Jahre ihre Kinder zurücklassen, sondern sie sehen sich auch gezwungen, die mehr oder weniger offene Abwertung, den Argwohn und die Demütigungen der Schweizer Bürger hinzunehmen und sich den gesellschaftlichen Erwartungen anzupassen. Erst nach und nach erfahren die Leser*innen, wie das abweisende gesellschaftliche Klima, die Diskurse in der Familie und in der gesellschaftlichen Umgebung das Leben der Tochter prägen und wie sie sich schließlich immer mehr von den Bewältigungsstrategien der Eltern entfernen muss, um eigene Orientierungen und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Neben den Anstrengungen der Eltern, in der Schweiz »ein menschliches Schicksal« zu erlangen, dem Aufwachsen der beiden Schwestern Ildikó und Nomi, ihrer Arbeit im Familienbetrieb und ihren ersten Liebschaften, stellen Verdrängung und Tabuisierung zentrale Motive des Romans dar: So stellt

Redevielfalt und der Widerstreit

sich erst spät heraus, dass sich hinter Wutausbrüchen, Suff und Sprachlosigkeit des Vaters auch das Erleben von Folterung und Tod des Papuci, des Großvaters, verbergen: der hatte sich zunächst den Faschisten und später dann Titos Partisanen widersetzt und wurde in dem Schulhaus gefoltert, in dem Ildikós Vater zur Schule ging und sein Schreien hören musste. Später wurde der Großvater in ein Arbeitslager deportiert und starb schließlich an den Folgen der Folter und Internierung. Ebenso wie die Schwestern Ildikó und Nomi erfahren die Leser*innen nur sukzessive und relativ spät von diesen politischen Hintergründen, die verstehen helfen, warum die Eltern nicht mehr die Kraft haben, in der Schweiz gegen die erlebten Ungerechtigkeiten und Demütigungen aufzubegehren. Auch die Tabuisierung unehelicher Kinder in der Familie – Nomi und Ildikó erfahren nur beiläufig, dass sie eine weitere Schwester haben – und sexueller Beziehungen außerhalb der heterosexuellen Ehegemeinschaften, die gleichzeitig die Norm darstellen, trägt zu einem Klima der Sprachlosigkeit zwischen Eltern und Töchtern bei. Nur langsam setzt sich so beim Lesen ein Bild der Geschichten einzelner Familienmitglieder zusammen, das es schließlich ermöglicht, den Zusammenhang zwischen politischen Ereignissen und ihren Effekten auf die Bewältigungsstrategien der einzelnen Figuren nachzuvollziehen. Als erziehungswissenschaftlich interessant kann der Roman nun zunächst aufgrund seiner Gegenstände betrachtet werden: weil es darin maßgeblich um das Erleben der Adoleszenz und der damit verbundenen Ablösungsprozesse und Neuorientierungen unter den Bedingungen der durch Armut und politische Verhältnisse bedingten Migration geht. Die vielfach als fremd und abweisend erlebte Schweizer Gesellschaft bringt spezifische Herausforderungen für die beiden jugendlichen Töchter mit sich und formt gewissermaßen die »Chancenstrukturen adoleszenter Möglichkeitsräume« (King/Koller 2009). Folgt man den Überlegungen von Vera King und HansChristoph Koller (2009) zur Bedeutung dieser Chancenstrukturen im Zusammenhang mit Migrationsprozessen, spielen Generationenbeziehungen und Familiendynamiken, in denen die Verarbeitung von Migrationserfahrungen zum Ausdruck kommt, eine spezifische Rolle: wie Migration gestaltet werden konnte, wie das Verhältnis von Erfahrungen der Anerkennung oder Missachtung jeweils erlebt wurden und welche Erwartungen an die folgende Generation gerichtet werden sind demnach bedeutsame Themen für Familiendynamiken in der Migration und insbesondere im Rahmen adoleszenter Umgestaltungsprozesse (vgl. King/Koller 2009: 12); mit einer ­»verdoppelten Transformationsanforderung« (King/Koller 2009: 12) beschreiben die

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Autor*innen die spezifischen Herausforderungen, mit denen Jugendliche konfrontiert sind, wenn sie mit der Migration verbundene Transformationen ebenso wie den Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein bewältigen müssen. Tauben fliegen auf kann folglich als EIN Beispiel für die Adoleszenz der Töchter unter solchen migrationsgesellschaftlichen Bedingungen gelesen werden. Davon ausgehend, dass Erfahrungen der Migration, des Weggehens und Ankommens und des Sich-Niederlassens in einer anderen Umgebung spezifische Umgangsweisen und damit einhergehende symbolische Praktiken und Orientierungsmuster hervorbringen, Kultur also erzeugen (Vera King in diesem Band), rücken insbesondere sprachlich-symbolische Formen in den Blick. Versteht man Kultur als Ort des Widerstreites zwischen Repräsentationen von Welt, Subjekt und Geschichte (vgl. Bronfen 1997: 11), kommt dabei insbesondere solchen Formen Aufmerksamkeit zu, die einen solchen Widerstreit von Diskursen und Repräsentationen abzubilden vermögen. Aus meiner Sicht stellen die in Tauben fliegen auf vielfach verwendeten Strategien der Stimmen- und Redevielfalt sowie Redewiedergabe einen vielversprechenden Zugang zu diesen widerstreitenden Repräsentationen und Diskursen dar, die Ildikós Adoleszenz und Sozialisation strukturieren.

Bachtins literaturtheoretisches Konzept der R edevielfalt als A nalyseperspektive Der Roman Tauben fliegen auf zeichnet sich unter anderem, darauf haben verschiedenste Kritiken und Rezensionen hingewiesen, durch seine besondere Sprache und Musikalität aus. Die Sprache lässt sich auf den ersten Blick als sehr bildhaft beschreiben, die Erzählung besticht durch Rückblenden und Vorschauen, durch Verschachtelungen und lange Satzkonstruktionen, die überwiegend im Präsens formuliert sind. Vielfach finden sich in der Erzählung Stimmen und Gedanken, deren Autorschaft uneindeutig bleibt. Den Leser*innen wird somit die eindeutige Identifikation des verantwortlichen Äußerungssubjekts oder gar der Zuordnung der Rede zu Erzählerin oder Figur schwergemacht. Diese Gestaltungsform kann als Appell aufgefasst werden, sich aktiv mit unterschiedlichen Sinn- und Wertungshorizonten auseinanderzusetzen (vgl. Lahn/Meister 2013: 132) – sie lenke »den ­Mitteilungsvorgang selbst in den Vordergrund der Wahrnehmung« (ebd.: 113) und damit auf die Ebene des Bedeutens durch sprachliche Mittel (ebd.: 112).

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Die Entscheidung, die nachfolgenden Romanpassagen mithilfe der Bachtin‘schen Literaturtheorie zu untersuchen, ist durch die Gegenstandsangemessenheit dieses theoretischen Bezugs begründet. Die sprachliche Verfasstheit des Romans, die sich durch eine spezifische Rhythmik, durch auf eigensinnige Art verwobene Gedanken, Stimmen und Dialoge auszeichnet, legt eine Analyseperspektive nah, die diesen sprachlich-ästhetischen Mitteln und der damit einhergehenden Vieldeutigkeit und Deutungsoffenheit des Romans Rechnung trägt. Michael Bachtins Denken und Arbeiten zum Charakter der Sprache in der Kunst lässt sich, darauf verweist Rainer Grübel in seiner Einführung, nicht losgelöst von den politischen Entwicklungen in dieser Zeit verstehen (Grübel [1979] 2015a, b). Bachtin schließt sein Studium in der Zeit der Oktoberrevolution ab, arbeitet zunächst als Lehrer und Autor. Seine Arbeiten zu Fragen der Methodologie der Ästhetik und des Wortkunstschaffens schreibt er nach der Oktoberrevolution und in den Wirren und Nöten der Kriege. 1929 wird er von Stalin für 7 Jahre nach Kasachstan verbannt, wo er seine Arbeiten zur Sprache und Ästhetik weiterführt. Aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive ist ebenfalls interessant, dass Bachtin 1936 an das Mordwinische Pädagogische Institut berufen wird, um dort Literaturgeschichte zu lehren und ein Jahr später eine Untersuchung über den deutschen Erziehungsroman abschließt. Der Druck des Buches kommt aufgrund des zweiten Weltkrieges nicht zustande (vgl. Grübel [1979] 2015a, 15). Bachtins politische Unliebsamkeit lässt sich wohl darauf zurückführen, dass sich die von ihm entwickelte Dialogik zeitgeschichtlich dem kollektiven für die Sowjetunion in den 20er und 30er Jahren charakteristischen Monolog widersetzte. Seine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Spracheinheit (dem er künstlerische Abbildungen der Redevielfalt gegenüberstellt, Anm. BK) müsse, so Grübel, im Zusammenhang mit der damaligen „Diskussion über die Sprache“ (51, kursiv im Original) gesehen werden, die »im Jahr des ersten sowjetischen Schriftstellerkongresses (1934) eine neue Grundlage für das Verständnis der Sprache in der Doktrin des Sozialistischen Realismus schaffen sollte. […] Das Einhalten der Normen der Hochsprache (literaturnyi jazyk) wird zum Kennzeichen für die Wahrung ideologischer Normen erhoben […]« (Grübel 2015b: 51). Die aus der Kanonisierung der Sprache einiger Werke russischer Dichter gewonnene Einheit der Sprache habe Bachtin als Ausdruck eines ideologischen Zentralismus verstanden, dem er seine ­Ü berlegungen zur Redevielfalt entgegenstellt (ebd.: 52). Sie lassen sich folglich als eine kritische Auseinandersetzung mit den politischen Ü ­ berzeugungen

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der Zeit verstehen. »Die Kategorie einer einheitlichen Sprache ist der theoretische Ausdruck der historischen Prozesse sprachlicher Vereinheitlichung und Zentralisierung, ein Ausdruck der zentripetalen Kräfte der Sprache. Die einheitliche Sprache ist nicht gegeben, sondern immer ein Projekt und steht in jedem Augenblick des sprachlichen Lebens der tatsächlichen Redevielfalt gegenüber.« (Bachtin [1979] 2015: 164). Bachtin betont in seinen Überlegungen zum Gegenüber von anerkannter Hochsprache und Redevielfalt den konstruierten Charakter einer durch Normen geregelten Hochsprache, die einerseits ein Höchstmaß an gegenseitigem Verständnis sichere, andererseits jedoch immer der Aufgabe der Zentralisierung dient und andere Sprachen verdrängt und unterdrückt (ebd.). Bachtin konzeptualisiert also mit seinen Überlegungen einen Zusammenhang zwischen Sprache, Literatur, Politik und Gesellschaft, in dem Sprache und Literatur nicht allein Ausdruck spezifischer politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse sind, sondern auch produktiv in dem Sinne, dass sie spezifische Verhältnisse bekräftigen oder gar schaffen. So habe die Dichtung »auf der Höhe des offiziellen sozioideologischen Kontextes die kulturelle, nationale und politische Zentralisation der verbal-idoeologischen Welt bewerkstelligt« (ebd.: 166), während die Vielfalt der Rede, die sich auf den Straßen, in Schaubuden und auf Jahrmarktsbühnen entwickelte, parodistisch und polemisch gegen die offiziellen Sprachen der Gegenwart gerichtet gewesen sei. Den Gegensatz zwischen einer zentralisierten herrschenden Sprache und der Redevielfalt und Differenzierung von Sprachen fasst Bachtin mithilfe der für seine Theorie zentralen Konzepte Monologizität und Dialogizität: Während Monologizität einen Zusammenhang zwischen Gesellschaft, Sprache und Literatur beschreibt, der von zentralistischen Tendenzen, von einem erzwungenen Konsens, geprägt ist, repräsentiert Dialogizität eine Vielfalt von sozialen Standpunkten sowie Sprach- und Redevielfalt, eine Tendenz der Dezentralisierung also. Der Monologizität entspricht in Bachtins zeitgenössischem Denken die Dichtung, während Dialogizität, die Zerstreuung von Sinn, ein Kennzeichen zeitgenössischer Romane darstellt (vgl. Bachtin [1979] 2015: 154ff.). Der Roman, so Bachtin, »ist künstlerisch organisierte Redevielfalt, zuweilen Sprachvielfalt und individuelle Stimmenvielfalt« (ebd.: 157). Zu der von Bachtin beschriebenen sozialen Redevielfalt gehören „soziale Dialekte, Redeweisen von Gruppen, Berufsjargon, Sprachen von Generationen und Altersgruppen, Sprachen von Interessengruppen, Sprachen von Autoritäten, Sprachen von Zirkeln und von Moden bis hin zu Sprachen von sozial-politischer Aktualität […]“ (Bachtin [1979] 2015: 157). ›Die Sprache‹ existiert in

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diesem Verständnis nicht, sie ist konzeptualisiert als innerlich aufgespalten in die »je einzelnen Momente ihres geschichtlichen Daseins« (ebd.) Die Spezifik des Romans besteht nach Bachtin darin, dass er seine auszudrückende Welt mit den Mitteln der sozialen Redevielfalt und der auf ihrem Boden entstehenden Stimmenvielfalt orchestriert. Stimmen sind in diesem Zusammenhang als subjektive Redeweisen, als Vermittlungsinstrument für spezifische literarische Intentionen zu verstehen. Sie stellen literarische Stilmittel dar, mit denen Redevielfalt inszeniert wird. Der sprechende Mensch und sein Wort sind nach Bachtin die Eigenart des Romans konstituierende Gegenstände. Drei Momente führt er als dafür zentral an: Erstens, dass das Wort des sprechenden Menschen im Roman nicht schlicht wiedergegeben werde wie in der Alltagssprache, sondern künstlerisch abgebildet sei. Zweitens, dass die Spezifika der Worte der Romanhelden Anspruch auf soziale Bedeutung erheben und keinen individuellen Charakter haben. Und drittens, dass der sprechende Mensch des Romans insofern ein Ideologe ist, als besondere Sprachen immer für einen besonderen Standpunkt gegenüber der Welt stehen, der auf soziale Bedeutsamkeit pocht (vgl. Bachtin [1979] 2015: 220f.). Bachtin führt im Zuge seiner Überlegungen zur Inszenierung von Dialogizität im Roman verschiedene Ebenen ein, auf denen Dialogizität orchestriert werden kann. Dass sich die Vieldeutigkeit und Zerstreuung von Sinn auf der Ebene von Worten zeigen kann, wird mit der kontingenten Beziehung zu anderen Wörtern und Bedeutungen begründet, das Wort lebe gleichsam auf der Grenze zwischen seinem eigenen und dem fremden Kontext (vgl. ebd.: 176). Das Wort im Roman ist nach Bachtin ein »zweistimmiges Wort« (vgl. ebd. 213), denn es drücke gleichzeitig verschiedene Intentionen aus, die der Figur 1 und die gebrochene des Autors. Die Stimmen seien dialogisch aufeinander bezogen. Als eindrückliche Beispiele für solche innerlich dialogisierten Wörter führt Bachtin das »humoristische, ironische, parodistische Wort« (ebd.) an: In diesen seien zwei Stimmen, zwei Weltanschauungen und zwei Sprachen angelegt (ebd.).

1 |  Bachtin spricht in „Die Ästhetik des Wortes“ nicht von Figuren, sondern von Personen. In Bachtin rekonstruierenden Passagen habe ich diesen Begriff in Anlehnung an neuere narratologische Ansätze durch den inzwischen gebräuchlicheren Begriff „Figur“ ersetzt, wohlwissend, dass damit Bedeutungsveränderungen einhergehen.

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Schließlich führt Bachtin das Verhältnis von Erzähler und Figurenrede als eine weitere Ebene an, auf der Dialogizität inszeniert werden kann. Im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zu den »kompositorischen Formen der Einführung und Organisation der Redevielfalt im Roman« (Bachtin [1979] 2015: 192) setzt sich Bachtins Text auch mit Fragen des Verhältnisses des Autorwortes mit der Rede der Figuren auseinander. Das Autorwort könne, so Bachtin, als solches identifizierbar sein oder aber sich mit der Figurenrede in einer Art verschränken, dass Sprecher*innen nicht mehr eindeutig zuordenbar sind. Das Autorwort verschmelze mit der fremden Rede (Redewiedergabe) oder umgekehrt (vgl. Bachtin [1979] 2015: 194ff.). Dieses Phänomen wird von Bachtin als »hybride Konstruktion mit zwei Akzenten und zwei Stilen« (ebd.: 195) beschrieben: »Wir nennen diejenige Äußerung eine hybride Konstruktion, die ihren grammatischen (syntaktischen) und kompositorischen Merkmalen nach zu einem einzigen Sprecher gehört, in der sich in Wirklichkeit aber zwei Äußerungen, zwei Redeweisen, zwei Stile, zwei »Sprachen«, zwei Horizonte von Sinn und Wertung vermischen. Zwischen diesen Stilen, Sprachen und Horizonten gibt es, wie wir wiederholen, keine formale – kompositorische und syntaktische Grenze; die Unterteilung der Stimmen und Sprachen verläuft innerhalb eines syntaktischen Ganzen, oft innerhalb eines einzigen Satzes, oft gehört sogar ein und dasselbe Wort gleichzeitig zwei Sprachen und zwei Horizonten an, die sich in einer hybriden Konstruktion kreuzen, und sie hat folglich einen doppelten in der Rede differenzierten Sinn und zwei Akzente […]. Die hybriden Konstruktionen sind beim Romanstil von eminenter Bedeutung.« (Bachtin [1979] 2015: 195)

Die Mehrdeutigkeit, die Deutungsoffenheit von solchen hybriden Konstruktionen liegt folglich darin, dass Stimmen nicht ohne Weiteres Sprecher*innen zugeordnet werden können, dass sich Bachtin zufolge, selbst in einem Satz Worte nicht einem einzigen Autor zuordnen lassen. Über die verschiedenen Stimmen und Redeweisen im Roman und ihre Kontextualisierungen, so eine zentrale These, werden Perspektiven und Standpunkte eingeführt, die nicht ohne Weiteres sichtbar sind. Der innere Aufbau der hybriden Konstruktion resultiert also daraus, dass in ein und derselben Aussage bestimmte Merkmale auf den Erzähler und andere auf die Figur als verantwortliche ­Sprechinstanz verweisen – Erzählertext und Figurentext überlagern sich also (vgl. Schmid 2005: 106-107). Eine solche Durchmischung oder Überlagerung

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von Stimmen, wenn sich z. B. die Stimme der Erzählerin in den Diskurs einbringt, kann zur Folge haben, dass ihre Perspektive und Bewertung die Figurenrede durchdringt. Polyphone Darstellungsformen stellen eine Möglichkeit dar, die Vielstimmigkeit, die widerstreitenden Stimmen und Deutungen einer (historisch-gesellschaftlichen) Situation über die ästhetische Form zur Geltung zu bringen. Mithilfe der Dialogizität, der Redevielfalt im Roman werden also Perspektiven, Bedeutungen, Bewertungen und soziale Standpunkte inszeniert. Aus den hier nur kurz angeführten Überlegungen lassen sich nun folgende Fragen für die Lektüre ableiten: Welche Intentionen, Bedeutungen, Bewertungen und sozialen Standpunkte zeigen sich in den Worten und in der künstlerisch inszenierten Rede in Tauben fliegen auf? Wessen Stimmen kommen zum Tragen? Und welche Funktion haben spezifische ästhetische Formen im Roman?

R ekontextualisierung und hybride Konstruktionen als Verfahren zur E inführung und O rganisation der R edevielfalt im R oman »taubB en fLli egen

auf «

Stehen die Szenen in der Vojvodina vor allem für die Erinnerungen an eine teils unbeschwerte Kindheit, den politischen Kontext und die Geschichte der Herkunftsfamilie Ildikós, ist das Leben in der Schweiz vorrangig assoziiert mit den Herausforderungen, unter denen das Leben dort stattfindet, dem Aufstiegsprojekt Café Mondial und mit der Adoleszenz der Töchter, ihren Freundschaften, ersten Lieben und ihren Zukunftsträumen. Zentrale räumliche und soziale Kontexte in der Schweiz stellen der Alltag im Café, die Zusammentreffen in der Wohnung der Familie und die von Peers geprägten Räume, in denen sich die Töchter bewegen, dar. Das Café wird im Roman als der zentrale Ort präsentiert, an dem die ganze Familie Kocsis mit den Schweizer Gästen zusammentrifft. Etwas zugespitzt könnte man sogar sagen, dass das Café den Ort der Begegnung zwischen der ›zugewanderten‹ Familie und den Schweizer*innen darstellt, da die Kocsis einen großen, wenn nicht den größten Teil ihrer Zeit dort zubringen. Die Wahrnehmung und das Verhältnis zu dieser sozialen Welt im Café führt zu verschiedenen A ­ useinandersetzungen zwischen den Eltern und den Kindern, weil sich gerade im unterschiedlichen Verhältnis und Verhalten der Generationen zu den Gästen kontroverse

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­ mgangsweisen mit Migrationserfahrungen und mit Positionierungen als U Migrationsandere zeigen, die wiederum spezifische Welt- und Selbstverhältnisse der Elternteile und der Töchter zum Ausdruck bringen. Wie ich im Folgenden an der Rekonstruktion einer Szene im Café, einer Interaktion zwischen Ildikó und zwei Schweizer Gästen sowie einer Auseinandersetzung zwischen Ildikó und ihren Eltern rekonstruieren werde, dienen die Inszenierungen der Redevielfalt darin dazu, Ildikós Verhältnis zu den unterschiedlichen Diskursen, in denen sie sich bewegt, abzubilden. Die Art und Weise, wie sich Rede und Gedanken inszeniert finden, verweist darauf, inwiefern sich Ildikó daran orientiert oder davon abgrenzt bzw. wie sich ihr Welt- und Selbstverhältnis am Schnittpunkt widersprüchlicher Diskurse konstituiert und verändert.

Im Café Mondial: Rekontextualisierungen als ästhetisches Verfahren zur Vervielfältigung von Bedeutung »Vor allem Samstag ist der Tag, den ich überstehen muss«, so ordnet Ildikó ihre Samstagsschicht im Mondial ein, die sich durch unerbittliche Gäste, durch »all die Samstagskönige und Samstagsköniginnen, deren Fingerzeige wir befolgen« (Nadj Abonji 2014: 237) auszeichnet. In der nachfolgenden Passage steht ein Dialog zwischen zwei Gästen, Herrn Berger »dessen Rauchzeichen in meine Nase steigen, meine breiten Nasenflügel kitzeln (Sie haben fast eine Afro-Nase, sagte einmal jemand, ein Gast, Ihre Nase würde gut zu einem schwarzen Gesicht passen. Ja, finden Sie, finden Sie wirklich?)« und Herrn Tognoni (»einem Einwanderer, der es geschafft hat, mehrere Bauunternehmen besitzt«), im Mittelpunkt, die sich über die politische Situation im ehemaligen Jugoslawien unterhalten. Herr Berger bespricht sich mit Herrn Tognoni über den Balkan – »eine einzige Krise«. »Tito hat Jugoslawien mit eiserner Faust zusammengehalten«, so Herr Berger, »auch wenn der Balkan keine Einheit, sondern ein Vielvölkerstaat ist«.

In der literarischen Einführung der Samstagsschicht, die mithilfe einer eindrücklichen Metaphorik »Samstagskönige und Samstagsköniginnen« »Fingerzeige befolgen« illustriert wird, deuten sich die machtvollen Verhältnisse der Über- und Unterordnung an, die den Alltag im Café und insbesondere den Samstag kennzeichnen. Die nachfolgende Charakterisierung der Gäste Berger und Tognoni und der weiter unten aufgeführte Dialog der Herren

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s­ tellen durch eine ganz spezifische Form der Inszenierung und Stilisierung der Rede der beiden Herren die Normalität und Salonfähigkeit des Rassismus heraus, dem die Ich-Erzählerin bei der Arbeit im Café ausgesetzt ist und dem sie aufgrund ihrer Position als »Servierfräulein« und den damit verbundenen Erwartungen der Eltern auch kaum etwas entgegensetzen kann. Dieser Rassismus, das wird in dem Roman immer wieder deutlich, stellt kein Ausnahmephänomen dar, sondern artikuliert sich ganz un-verschämt in den Stimmen der erfolgreichen Schweizer Mittelschicht, deren Angehörige hier bei Milchkaffee und Drei-Minuten-Ei in Anlehnung an rechtsnationalistische Diskurse ihre Unterhaltung führen. Die oben zitierte Charakterisierung weist Herr Tognoni zunächst als Beispiel eines Aufsteigers aus, der es »geschafft hat«. Sein Gegenüber Herr Berger wiederum wird im Zusammenhang mit der rassistischen Rede eines anderen, hier nicht vorgestellten, Gastes eingeführt, der offensichtlich Ildikós Nase kommentierte. Die metaphorische Verwendung der »Rauchzeichen« von Herrn Bergers Pfeife verstehe ich hier im Bachtin‘schen Sinne als eine Form des innerlich dialogisierten, zweistimmigen Wortes, in dem mehrere Perspektiven anklingen. »Rauchzeichen« verbildlichen nämlich nicht nur den Pfeifenrauch, sondern spielen auf eine Kommunikation zwischen Herrn Berger und Ildikó an, die unterschwellig verläuft. Die Metapher verweist dabei auf eine Kommunikation über die Distanz, die ursprünglich mit der indigenen Bevölkerung Nordamerikas in Zusammenhang stand, und damit einen weiteren semantischen Kontext eröffnet. »Rauchzeichen« lässt sich also als Kontextualisierungshinweis deuten, der aufmerksamen Leser*innen eben diesen weiteren Kontext zu verstehen gibt. Im Zusammenhang mit der Formulierung »meine breiten Nasenflügel« wird auf ein rassistisches Diskursfragment angespielt, das die Ich-Erzählerin hier, möglicherweise ironisierend, auf sich bezieht. Die in Klammern eingeschobene fremde Rede eines anderen Gastes, der Ildikós Nase kommentierte, stellt dann nicht nur ein Diskurselement dar, auf das sie sich mit der Selbstbeschreibung bezieht, sondern dient auch als Kontextualisierung, mit der auf koloniale Blickverhältnisse verwiesen wird, die die angeführte Situation im Café strukturieren: In die Schweiz migrierte Menschen, so wird an der Kommentierung von Ildikós Nase exemplarisch deutlich, werden mithilfe von Naturalisierungen äußerlicher Merkmale und rassifizierender Zuordnungen zu exotischen Objekten und zu Anderen gemacht. Sie sind (und werden) ­aufgrund solcher Mechanismen der Differenzerzeugung und des Othering in der Schweiz keine fraglos zugehörigen Bürger*innen. Der koloniale Blick

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wird hier zwar Herrn Berger nicht direkt zugeschrieben, doch aber in seine Nähe gerückt und das durch die Metaphern erzeugte semantische Feld kontextualisiert das Sprechen der Herren als ein kolonial gerahmtes. Beim Kaffee räsonieren die Gäste dann über die Balkankrise. Mit der Anspielung auf den zänkischen Balkan und Titos Politik wird hier in homogenisierender Weise das Bild von einer Bevölkerung gezeichnet, die nicht zum ›zivilisierten Westen‹ gehört und mit strenger Hand geführt werden muss. Der im Zitat angeführte Rekurs auf die »eiserne Faust« gibt wiederum zu verstehen, auf welche politischen Diskurse Herrn Bergers Stimme rekurriert: die Metapher spielt auf die gleichnamige völkisch-nationalistische Organisation von Reichswehroffizieren an, die später auch für die Kontakte der Nationalsozialisten große Bedeutung hatte. Der Zynismus von Herrn Bergers Bemerkung zu Titos Regierungsstil, mit dem er zu sympathisieren scheint, wird erst im Zusammenhang mit der Lektüre des gesamten Romans deutlich: Ildikós Großvater – das wird erst im letzten Teil des Romans deutlich – hatte sich sowohl gegenüber den Faschisten als auch gegenüber Titos Partisanen widerständig gezeigt und war deshalb von letzteren in ein Arbeitslager interniert worden. Zwar hatte er dieses überlebt, starb aber wenig später an den Folgen der Internierung und der erlebten politischen Krisen. Im Sympathisieren mit Titos Regierungsstil in Ildikós Anwesenheit wird ihr, deren Familie als Opfer dieser Regierung betrachtet werden kann, also eine politische Haltung zugemutet, die implizit auch über den Tod ihres Großvaters urteilt. In der nachfolgenden Passage finden sich dann die Stimmen der zuvor charakterisierten Herren Berger und Tognoni mit den Kommentierungen der autodiegetischen Erzählerin verschachtelt. »Ja, Slowenien hat mit dem Balkan eigentlich nichts zu tun, davon bin ich auch überzeugt, sagt Herrn Bergers Pfeife, Fräulein, meine Frau scheint doch nicht zu kommen, und ich nehme den hellen Milchkaffee mit Assugrin selbstverständlich wieder mit, und Herr Tognoni möchte statt der Semmel ein Milchbrötchen, ein helles oder ein dunkles?, und Herr Tognoni ist ein Einwanderer, der es nicht nur beruflich geschafft hat, sondern auch im Gemeinderat politisiert, für die Schweizerische Volkspartei, und ausserdem hat er, wie er erzählt, letzte Woche mit seiner Frau eine japanische Algenkur gemacht, ein dunkles sagt Herr Tognoni akzentfrei. Der Balkan macht auch vor nichts halt sagt er (der bestimmt in den 70er Jahren gekommen ist, als die Schweizer über die vielen Tschinggen geflucht haben, die Italiener, die damals noch zu Feindbild Nummer eins gehört haben) bald haben wir auch

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einen Kebab-Stand mitten in der Gemeinde!, und ich serviere Herrn Tognoni sein Drei-Minuten-Ei, und es ist ja auch nicht so, dass die Slowenen kommen (die Bauarbeiter, deren Einsilbigkeit ich samstags vermisse), und Herrn Tognonis Aftershave ist dezent, denke ich, als ich ihm den Orangensaft serviere, der zum grossen Frühstück gehört, ich hätte gern ein paar Slowenen in meinem Betrieb, und Herr Tognoni bedankt sich bei mir.« (Ebd.: 238f.)

Was auf den ersten Eindruck anmutet wie eine »hybride Konstruktion«, also eine Überlagerung von Stimmen, bei der die Stimme der Erzählerin die der Figuren durchdringt, stellt sich beim genaueren Hinsehen als eine eigenwillige Inszenierung und Wiedergabe der Rede der Gäste heraus. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sich Gedanken und Rede der Erzählerin und die Rede der beiden Figuren nebeneinander angeordnet finden. Aufgrund der Pronomina und der metapragmatischen Zeichen lassen sich die einzelnen Stimmen jedoch beim genauen Lesen zuordnen. Mithilfe dieser Stilisierung von Stimmenvielfalt wird nun zum einen die Gleichzeitigkeit der Rede der Gäste und der einordnenden Gedanken von Ildikó inszeniert, womit vor den Leser*innen eine Innen- und eine Außenperspektive entfaltet wird. Die Hierarchie, die in der beschriebenen Situation entsteht, ist zum einen also Ildikós Position als Fräulein geschuldet, einer beruflichen und vergeschlechtlichten Position, die sie zu Höflichkeit, servilem und nettem Verhalten verpflichtet und sie den (hier männlichen) Gästen unterordnet. In ihrer Rolle als Serviererin ist sie dazu da, zuzuhören und die Herren zu bedienen. Zum anderen konstituiert sich diese Hierarchie aber auch aus dem Gefühl der Richtigkeit und der Legitimität, das dem Sprechen der Gäste zugrunde liegt. Dieses ›Gefühl der Richtigkeit‹ (ein Gefühl, das Althusser in seinem Buch Ideologie und ideologische Staatsapparate als einen Mechanismus herrschender Ideologien ausweist 2) speist sich wohl aus deren Staatsbürgerschaft – ihrer Zugehörigkeit zur wohlhabenden Schweizer Gesellschaft – und aus den hegemonialen Diskursen sowie den damit einhergehenden Normalitätsvorstellungen, auf die ihr Sprechen rekurriert. In der Anspielung auf den migrationsfeindlichen Diskurs zur ›Überfremdung‹ artikuliert sich die Befürchtung, dass zu viele Menschen in die Schweiz migrieren und den Lebensstandard dort verschlechtern könnten, damit also implizit auch nationalistische Einstellungen. Wer immigrieren darf und wer nicht, folgt 2 |  Althusser, Louis 1977: Über die Ideologie. In: Ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. S. 130-153.

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ganz offensichtlich einer utilitaristischen Logik: gute Arbeitskräfte stellen in dieser Logik erwünschte Zuwanderer dar (»die Slowenen«), während andere ›Gruppen‹, die nicht über gesuchte Qualifikationen verfügen, als Bedrohung betrachtet werden. Dass natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten willkürlich zugestanden oder verweigert werden können, zeigt sich an dem Beispiel der Figur Tognoni: Der akzentfrei sprechende Herr Tognoni, erfährt man hier, ist nicht nur integriert, sondern politisiert auch noch für die konservative Schweizer Volkspartei. Angedeutet wird hier die perfide Logik der Selbstkonstruktion eines Subjekts, das in der Schweiz als ungeliebter italienischer Einwanderer ankam und sich heute für die nationalistische Schweizer Volkspartei stark macht. Dieses Engagement und die damit einhergehende Positionierung als Schweizer Bürger stellen Legitimierungsstrategien dar, die ihm in einem gewissen Sinne die fraglose Zugehörigkeit zu den konservativen Schweizern ermöglichen. Er, der sich selbst nicht mehr als ein Migrant versteht, der die Grenzen der Schweizer Gesellschaft bedroht, verfährt im obigen Abschnitt nach einer willkürlichen Teile-und-Herrsche-Logik: während er sich also erfolgreicher Schweizer positioniert, der es sich – dem Einschub der Erzählerin folgend – leisten kann, kulturelle Errungenschaften, wie japanische Algenkuren in Anspruch zu nehmen, nimmt für sich auch in Anspruch, bestimmen zu können, welche Nationalitäten in die Schweiz Eintritt finden können und welchen er verweigert wird. Inszeniert findet sich hier die Grammatik der symbolischen Gewalt, die sich insofern (auch) gegen Ildikó richtet, als sie implizit angesprochen ist als eine unerwünschte Zugewanderte vom »Balkan«, die gehörten Abwertungen somit auch auf sich beziehen könnte3 . Explizit wird sie jedoch nur als 3 |  Dass Ildiko ebenfalls dem Balkan zugerechnet wird, wird in einem Abschnitt wenig später deutlich: »Erzählen Sie uns doch etwas über die Verhältnisse in Ihrem Land, sagt Herr Berger, als ich die beiden Kaffees für die Schärers hinstelle, Herr Berger, der nach seiner Pfeife langt, die gestopft werden will. Sie müssen wissen, dass das Fräulein aus dem ungarischen Teil des Balkans stammt, wissen Sie, da, wo es sicher auch bald chlöpft, knallt, Vojvodina, so heisst die Region, und sie war bis vor kurzem eine autonome Provinz, nicht wahr?« (Nadj Abonji 2014: 240-214) Damit zeigt sich deutlicher als zuvor, dass sich das zunächst eher abstrakt geführte Gespräch über den Balkan auch auf sie beziehen lässt, dass sie den als Andere konstruierten zugerechnet wird.

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­ edienung angesprochen, der keine inhaltliche Meinung zusteht. Es liegt hier B in der Macht der sprechenden Männer, sie ins Gespräch einzuschließen oder nicht. Sie widersetzt sich in dieser Situation der Adressierung des freundlichen, gesichts- und geschichtslosen Servierfräuleins, das keine eigene (politische) Stimme hat, nicht. Das Einflechten der mechanisch erscheinenden Tätigkeiten ins Gespräch dokumentiert zum einen die Beiläufigkeit, mit der solche Gewalt in Gesprächen transportiert wird, wie auch, wie Situationen wie diese vielleicht überhaupt nur auszuhalten sind. Beim Lesen wird also zum einen eine spezifische Mikropolitik der Missachtung und Unterordnung erkennbar, die dadurch konstituiert wird, dass Ildikó der Status eines vollständig anerkennbaren und zugehörigen Subjekts verweigert wird. Die Verweigerung dieser Position zeigt sich nicht zuletzt in distanzlosen Kommentierungen und im verletzenden Sprechen über sie in ihrem Beisein und ohne dass sie direkt angesprochen wird; der implizite Rekurs auf koloniale und nationalistische Diskurse im Sprechen über Politik und Migration bringt darüber hinaus Ildikós Unterordnung auch dadurch hervor, dass sie von diesen Diskursen zwar implizit angerufen wird, gleichzeitig aber den Finger nicht auf direkt verletzende Äußerungen legen kann – im Zweifelsfall könnten sich die Sprecher*innen damit verteidigen, dass sie nicht gemeint sei. Gleichzeitig beinhaltet die ›künstlerische Orchestrierung‹ der Redevielfalt in dieser Romanpassage aber auch eine filigrane Form der Vervielfältigung von Bedeutung und der Kritik. Kritik artikuliert sich hier nicht offen als Urteil oder Bewertung und auch nicht, indem Effekte der Rede der Gäste auf Ildikó beschrieben werden. Jedoch schreibt sich die Stimme von Ildikó in Form von Kontextinformationen und Gedanken wieder ein – eine Stimme, die ihr in ihrer Rolle als Servierfäulein vor Ort verwehrt scheint. Diese Gedanken, die Kommentierungen und Kontextualisierungen, charakterisieren die mit den Stimmen verbundenen Figuren und lassen ihre Äußerungen in einem anderen Licht erscheinen. Deren Äußerungen werden nämlich nicht nur in Form einer direkten Redewiedergabe zitiert, sondern in einen neuen Kontext eingebettet, der ihnen auch neue Bedeutungen hinzufügt, sie werden anders zitiert. In diesem Rekontextualisieren und Anders-Zitieren verflicht sich die Perspektive der Ich-Erzählerin mit den Aussagen der sprechenden Figuren. Sie macht auf Widersprüche in der Argumentation und auf Diskurse und Verhältnisse aufmerksam, an die die Äußerungen der Gäste anschließen, ohne dass sie explizit werden. Eine ähnliche Funktion haben die Metaphern und fremden Diskursfragmente: Auch sie deuten auf Kontexte und Diskurse

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hin, die in den Aussagen anklingen. Durch das Offenlegen dieser Kontexte werden Perspektiven und Bedeutungen so vervielfältigt, dass durch die rassistische Rede zunächst verdrängte Bedeutungen offensichtlich gemacht werden. So wird dieser der Boden des Selbstverständlichen und Fraglosen entzogen. Zusätzlich wird durch die Abwesenheit der Skandalisierung und durch die scheinbare Salonfähigkeit der Aussagen ein großes Unbehagen bei den Leser*innen erzeugt, die die Situation aus der Perspektive der Ich-Erzählerin betrachten. Diese Form der Rekontextualisierung lässt sich in Anlehnung an Foucault als eine kreative Form des Anders-Denkens und der Kritik fassen. In dem Aufsatz Der maskierte Philosoph (Foucault 2007) führt Foucault seine Vorstellung dieser Form der Kritik aus: »Ich kann mir nicht helfen, aber ich stelle mir eine Kritik vor, die nicht zu urteilen versucht, sondern einem Werk, einem Buch, einem Satz, einer Idee zum Dasein verhilft; die ein Licht entzündet, dem Gras beim Wachsen zusieht, dem Wind lauscht und dem Schaum im Fluge ergreift, um ihn zu zerstreuen. Sie vermehrte nicht Urteile, sondern Zeichen des Daseins; sie riefe sie und wecke sie aus ihrem Schlaf. Und falls sie solche Zeichen gelegentlich erfände – umso besser. Die auf Urteilssprüche fixierte Kritik langweilt mich. Ich wünschte mir eine vor Fantasie sprühende Kritik. Sie wäre nicht souverän und kleidete sich nicht in rote Roben. Sie trüge den Blitz möglicher Gewitterstürme.« (Foucault 2007: 52)

Die Idee von Kritik, die sich hier artikuliert, besteht eben nicht darin, eine Gegenrede oder ein negatives Urteil zu äußern, sondern vielmehr, neuen Ideen zum Dasein zu verhelfen. Während Urteile und Entgegensetzungen in der Regel den Denkmustern des kritisierten Gegenstands verhaftet bleiben, ermöglicht die hier von Foucault geäußerte Idee von Kritik einen Paradigmenwechsel, indem die »Zeichen des Daseins« fantasievoll vermehrt werden. In dieser Hinsicht zeigt sich in dem hier analysierten literarischen Text eine solche neue Form der Kritik genau dadurch, dass einerseits die Rede der Gäste als eine an spezifische Diskurse anschließende Rede ausgestellt wird, gleichzeitig aber auch kunstvoll neue und widerständige Lesarten dieser Rede im vielstimmigen Text angelegt sind.

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Weggehen: Überlagerung von Stimmen als Hinweis auf gleichzeitige Orientierung und Abgrenzung Mit der fortschreitenden Zeit in der Schweiz rücken für Ildikó, die mit dem Anpassungswillen der Eltern verbundenen Nachteile in den Fokus, sie kann deren Verhalten und Einstellungen immer weniger nachvollziehen. Der Konflikt zwischen Ildikó und ihren Eltern eskaliert an einem Tag im Herbst als die Familie zusammensitzt, um eine Herbstkarte für das Café Mondial zu kreieren (Nadj Abonji 2014: 289). Ildikó, die kurze Zeit davor die mit Scheisse verschmierte Gästetoilette hat reinigen müssen (»ein kultivierter Mensch« (ebd.: 283) hat die Scheisse verschmiert; »das gehört dazu, sagt Mutter, in den allermeisten Fällen macht niemand absichtlich daneben« (ebd.: 281)) versucht in dieser Situation einen Dialog mit den Eltern, konfrontiert nun auch den Vater mit dem Ereignis und schlägt vor, eine Anzeige zu erstatten, anstatt den Vorfall totzuschweigen. Die Eltern willigen nicht ein und in Ildikó formiert sich der Wunsch, zu »verschwinden aus dieser Gemeinde, das nette Fräulein endlich abschütteln« (ebd.: 293). Denn »wenn wir uns jetzt nicht wehren, wenigstens versuchen, irgendwas zu tun, dann sind wir niemand mehr, sage ich«. In diesem Moment beschließt Ildikó ihren Abschied – vom Café, ihrem Studium, ihren Eltern und geht hinaus, will »verschwinden aus diesem halbierten Leben«, in dem sie nur eine Stimme hat, nämlich die der Büffettochter. Die Stimme der Mutter noch im Ohr geht sie aus dem Dorf: »Die einzige Chance ist, sich hochzuarbeiten, und das, glaub mir, gelingt dir nicht, wenn du dich nicht taub oder stumm stellst. Ich dürfe sie nicht falsch verstehen, wenn sie sage, dass ich es nicht gewohnt sei, Opfer zu bringen, Opfer? Ja, schweigen können, Sachen wegstecken, und wenn hinhören, dann eben nur mit halbem Ohr; hätten dein Vater und ich eine richtige Ausbildung, könnten wir vielleicht – dann hätten wir die Möglichkeit, den Mund aufzumachen, aber so? Weisst du eigentlich, wo wir angefangen haben?, die gesichtslosen Tage, fast vier Jahre lang, als die Tage nur dazu da waren, um wie Automaten zu funktionieren, […] In dieser Zeit, Ildi, habe ich nie geträumt, nie, sonst wäre ich verloren gewesen, und ich gehe weiter, an der Apotheke vorbei, überquere eine Straße, zu meiner rechten das Einkaufszentrum, zu meiner Linken ein Kleidergeschäft, dann ein Kiosk, ein Strumpfgeschäft, ein Hotel, gibt es ein Opfer, das zu groß ist? Und jemand winkt mir zu, von der anderen Strassenseite her, ich gehe weiter, ohne zurückzuwinken, am Schuhgeschäft vorbei, an einem Schaufenster, in dem

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Brillengestelle an durchsichtigen Fäden hängen. Als ihr, Nomi und du, lange Zeit nicht bei uns wart, das war ein großes Opfer – zu gross? und ich hebe den Kopf, schaue zur protestantischen Kirchturmuhr, die Zeiger, die goldgelb leuchten« ( 298).

Die Ansprache der Mutter appelliert an Ildikó, doch die Gründe zu verstehen, aus denen die Eltern nicht haben aufbegehren können, den Mund nicht aufmachen können. Die einzige Chance, für sich und die Kinder ein besseres Leben zu erreichen, lag demnach darin, sich hochzuarbeiten und nicht aufzubegehren. Indem die Stimme der Mutter hier den Preis des Lebens in der Schweiz beschreibt – schweigen können, Sachen wegstecken, nur mit halbem Ohr hinhören – gibt sie indirekt die eigenen Diskriminierungs- und Herabwürdigungserfahrungen zu. Für das gute Leben, das die Eltern sich und den Kindern haben ermöglichen wollen, mussten demnach Opfer gebracht werden. Während zu Beginn der Passage an den Pronomina und der indirekten Rede noch deutlich wird, dass Ildikó die Angesprochene ist, der die Mutter zunächst vorhält, dass sie keine Opfer bringen wolle, überlagern sich die Stimmen in den dann folgenden Zeilen, die maßgeblich die Auseinandersetzung über den Preis der Migration zum Thema machen, das in der ersten Person sprechende Subjekt ist nicht immer eindeutig zuzuordnen. So bleibt es hier unklar, wer die Frage nach der Qualität des Opfers stellt und danach, ob das Opfer zu groß gewesen sei. Die Stimmenüberlagerung bezogen auf den Stellenwert des Opfer-Erbringens verweist auf unterschiedliche Bewertungen der Ich-Erzählerin und der Mutter: Während einerseits in den Aussagen zum Opfer-Erbringen die Erwartung transportiert wird, dass sich auch die Kinder anpassen, um ein besseres Leben zu ermöglichen, zeigen sich an den Rückfragen aber auch Zweifel diese Strategie betreffend. Ob diese Zweifel der Stimmer der Mutter oder Stimme der Ich-Erzählerin zuzuordnen sind oder beiden, bleibt hier unklar. Diese Unklarheit weist auf die Verstrickung elterlicher Erwartungen und Bewertungen mit Wahrnehmungen, Deutungen und dem Handeln der Kinder hin. Die Stimme der Mutter verbindet sich in dieser Passage mit Ildikós Wahrnehmung der Stationen ihres Weges, wie sie das Dorf verlässt. Sie entfernt sich räumlich von dem Dialog mit den Eltern, während die Stimme der Mutter nachhallt. Beim Verlassen des Ortes über vertraute Wege vollzieht Ildikó gewissermaßen performativ den Abschied von den Eltern. Die noch nachklingende Stimme der Mutter und die Stimmenüberlagerung weisen zum einen darauf hin, dass die möglicherweise lange Zeit nicht ­artikulierten

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Erwartungen der Eltern zwar mit dem Denken und Handeln der Kinder verstrickt sind, dass sie nun aber – artikuliert in den Aussagen der Mutter – reflexiv werden, was Ildikó eine Distanzierung ermöglicht. In Ildikós Antwort auf die Frage, ob das Opfer für das Erreichte zu gross gewesen sei, wird schließlich deutlich, dass die Kinder keine Möglichkeit hatten, sich für oder gegen die Migration zu entscheiden: »und ich, die allein auf dem Dorfplatz steht, höre das gleichmässige Plätschern des Dorfbrunnens, vielleicht hätte das Opfer grösser sein müssen, vielleicht wäre es besser gewesen, ihr hättet noch ein paar Jahre länger auf uns gewartet, Vater, der mich mit sehenden Augen anschaut, Mutter, die von ihrem Hocker aufsteht, was willst du uns damit sagen? Nomi und ich haben uns nie entschieden, hierher zu kommen, nur das;« (ebd.: 299). Ildikó hinterfragt hier schließlich die Motive der Eltern, sie und ihre Schwester als Kinder nachzuholen und stellt damit auch die Entscheidung der Eltern in Frage, die den Kindern zugemutet wurde. Immer deutlicher wird zum Ende des Romans, dass die Ironie und Kritik, die sich in den zuvor analysierten Passagen bezogen auf die Aussagen der Gäste artikulierte, einen Ausdruck im Handeln finden muss: Ildikó muss sich von den Eltern entfernen, denn die von ihnen erwartete Anpassung schränkt ihren Handlungsspielraum ein und lässt keine Neuorientierung zu.

Das P otenzial der Bachtin ’schen Theorie für die R ekonstruktion sprachlichen D atenmaterials Die exemplarische Analyse von Romanpassagen, die sich auf Gespräche im Café (als Ort des Zusammentreffens der Kocsis mit der Schweizer Gesellschaft) und in der Familie – als Ort des Zusammentreffens und der Weitergabe von transgenerationalen Migrationserfahrungen – bezieht, hat gezeigt, dass mit unterschiedlichen Formen der Inszenierung von Redevielfalt verschiedene Intentionen verbunden sind: Die Anordnung von Stimmen und die Kontextualisierung durch Gedanken der Ich-Erzählerin in der Passage, die das Gespräch zwischen Herrn Berger und Herrn Tognoni fokussiert, fügt dem Sprechen der Schweizer Gäste neue Bedeutungen hinzu, stellt ihm eine andere Perspektive zur Seite und beinhaltet auch eine Form der Kritik. Diese äußert sich in den Wiedereinschreibungen der Stimme der Ich-Erzählerin in den Dialog. Die Metaphorik und die Kontextualisierungen in der Passage verweisen auf zunächst nicht sichtbare Bedeutungen und Diskurse, auf die

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die Gespräche der Gäste rekurrieren. Diese Diskurse und damit einhergehende Normen und Normalitätsvorstellungen strukturieren gewissermaßen das Lebens der Familie Kocsis in der Schweiz. Die einzelnen Familienmitglieder nehmen zwar einen unterschiedlichen Umgang damit, können sie aber nicht ignorieren. Gerade das Herausarbeiten solcher Diskurse oder Diskursfragmente aus dem dichten literarischen Text erlaubt eine Annäherung an die Bedingungen der Subjektkonstitution der Ich-Erzählerin und ihrer Familie im Roman. Der Ablösungsprozess, den Ildikó in der zweiten hier rekonstruierten Passage vollzieht, wird notwendig, weil sie den Anpassungserwartungen der Eltern nicht mehr folgen kann. Die Anpassungsbereitschaft der Eltern, die den Kindern ein gutes Leben ermöglichen wollen, bedingt den Wunsch nach Distanz. Gleichzeitig bleibt aber eine Orientierung an und Verbindung zu den Eltern bestehen. Die Grundlage des Gesprächs, das hier mithilfe einer hybriden Konstruktion inszeniert ist, bilden Fragen nach dem Preis und den Zumutungen der Migration und der Zugehörigkeit. Auch in den unterschiedlichen Antworten auf diese Fragen bleiben Eltern und Kinder dennoch verbunden, Ablösung und Orientierung bestehen nebeneinander. Wie an diesen beiden Passagen gezeigt werden konnte, werden durch ästhetische Mittel wie Metaphern, Rekontextualisierungen und Kommentierungen gesellschaftliche und soziale Verhältnisse, politische Haltungen und soziale Orientierungen zum Ausdruck gebracht. Darüber hinaus lässt gerade das Einbetten der Rede der Gäste in neue Kontexte, das Anders-Zitieren, zu, dass ihrer Rede neue Bedeutungen hinzugefügt werden und mitunter auch erst deutlich wird, an welche Diskurse und Herrschaftsverhältnisse diese Rede anschließt. Es werden gewissermaßen verschiedene Redearten und Perspektiven miteinander konfrontiert. Eine solchermaßen künstlerische Sprachgestaltung stellt, wie eingangs erläutert, eine spezifische Möglichkeit und Eigenart von Romanen dar. Inszenierungen der Redewiedergabe sind jedoch nicht nur in der Literatur, sondern auch in Alltagsgesprächen und in mündlichen Daten, die zu Forschungszwecken generiert werden, etwa narrativen Interviews, aufzufinden: Auch in Alltagsgesprächen und Interviews führen Sprecher*innen die Rede anderer Personen an und ordnen diese ein bzw. bewerten sie im Zuge der ästhetischen Stilisierung (vgl. Günthner 2002, S.63). Solche Neu-Einordnungen und Bewertungen erfolgen gerade nicht explizit, sondern auf der Ebene der Darstellungsweise. Die Linguistin/Sprachwissenschaftlerin Susanne Günthner hat in ihrem Beitrag »Stimmenvielfalt im Diskurs« gezeigt,

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wie Sprecher*innen in Alltagsinteraktionen und Erzählungen die Rede anderer Charaktere in ihre eigene einflechten, rekontextualisieren und ihren Zuhörer*innen und Gesprächspartner*innen auf der Grundlage der Inszenierung vergangener Dialogsequenzen kleine Dramen bieten. Günthner zeigt anhand von Gesprächsprotokollen einige Typen der Stilisierung auf und arbeitet heraus, welche kommunikativen Ziele mit diesen verfolgt werden. Wenn ich mich abschließend mit der Frage auseinandersetze, was Erziehungswissenschaft von Literatur/wissenschaft (und Linguistik) ›lernen kann‹, wäre eine mögliche Antwort darauf, dass sie sich von literaturwissenschaftlichen Theorien wie der hier angewandten inspirieren lassen könnte, sich empirischen Daten (wie etwa biographischen Interviews) zu nähern, indem verstärkt Ästhetisierungs- und Inszenierungsverfahren der Rede und Stimmen sowie ihre Funktionen im jeweiligen Text berücksichtigt werden. Die Inszenierung der Redevielfalt im Roman Tauben fliegen auf stellt eine der sprachlichen Besonderheiten dar, die nach Hans-Christoph Koller Rückschlüsse auf die Welt- und Selbstverhältnisse der Ich-Erzählerin und Figuren zulassen. Eine Sensibilisierung für Verfahren der Redewiedergabe im Zuge von Interviewrekonstruktionen etwa würde demnach einen spezifischen Zugang zur ästhetischen Ebene der Sprache sowie damit verbundenen Bedeutungen ermöglichen. Literaturtheorie und Literatur als konkreter Gegenstand können ästhetische Formen in den Blick rücken, die auch im Zuge von Rekonstruktionen empirischer Daten mehr Aufmerksamkeit als bisher verdienen.

L iteratur Roman Nadj Abonji, Melinda N. (2014): Tauben fliegen auf, München: dtv.

Wissenschaftliche Literatur Bachtin, Michail M. ([1979] 2015): Die Ästhetik des Wortes. Herausgegeben von Rainer Grübel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 9. Auflage. Bronfen, Elizabeth/Marius, Benjamin (1997): »Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte«, in: Elizabeth

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Bronfen/Benjamin Marius/Therese Steffen (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen: Stauffenberg Verlag, S. 1-29. Foucault, Michel (2007): »Der maskierte Philosoph«, in: Ders. (Hg.), Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt a. M.: Suhrkamp , S. 49-57. Grübel, Rainer ([1979] 2015a): »Michail M. Bachtin. Biographische Skizze«, in: Michail M. Bachtin (Hg.), Die Ästhetik des Wortes. Herausgegeben von Rainer Grübel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 7-20. Grübel Rainer ([1979] 2015b): »Zur Ästhetik des Wortes bei Michail M. Bachtin«, in: Michail M. Bachtin (Hg.), Die Ästhetik des Wortes. Herausgegeben von Rainer Grübel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 21-90. Günthner, Susanne (2002): »Stimmenvielfalt im Diskurs. Formen der Stilisierung und Ästhetisierung in der Redewiedergabe«, in: Gesprächsforschung Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion, Heft 3, S. 59-80. King, Vera/Koller, Hans-Christoph (2009): »Adoleszenz als Möglichkeitsraum für Bildungsprozesse unter Migrationsbedingungen. Eine Einführung«, in:Dies. (Hg.), Adoleszenz – Migration – Bildung. Bildungsprozesse Jugendlicher und junger Erwachsener mit Migrationshintergrund, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 9-26. 2. erweiterte Auflage. Koller, Hans-Christoph (2012): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer. Koller, Hans-Christoph (2014): »Bildung als Textgeschehen. Zum Erkenntnispotenzial literarischer Texte für die Erziehungswissenschaft«, in: Zeitschrift für Pädagogik 60, Heft 3, S. 333-349. Lahn, Silke/Meister, Jan Christoph (2013): Einführung in die Erzähltextanalyse. Weimar: J. B. Metzler. Schmid, Wolf (1973): Die Interferenz von Erzählertext und Personentext als Faktor ästhetischer Wirksamkeit in Dostoevskijs Doppelgänger. In: ­Russian Literature, Volume 2, Issue 2, 1973. S. 100-113.

Melinda Nadj Abonjs Roman »Tauben fliegen auf«. Eine erziehungswissenschaftliche Spurensuche Gereon Wulftange

E inleitung »Das ist sie also: die zeitgemäße Form, über Emigration, entschwindende Heimat und das Leben im Dazwischen zu schreiben«. Mit diesen überschwänglichen Worten beschreibt Sybille Birrer, die Journalistin der Neuen Zürcher Zeitung, den 2010 erschienenen Roman Tauben fliegen auf von Melinda Nadj Abonji und dieser werbewirksam klingende Slogan ziert denn auch den Klappentext des Romans. Nun steht jedoch nirgendwo geschrieben, dass Formulierungen, die vor allem den Buchverkauf fördern sollen, per se in die Irre führen müssen und nicht zumindest ausnahmsweise auch etwas Treffendes sagen können. Das gilt in diesem Fall, in dem also meines Erachtens eine zeitgemäße Form gefunden wurde, über das Leben im Dazwischen zu schreiben. Worum geht es? Im Zentrum des Romans steht die Geschichte der jugendlichen Ildikó Kocsis und ihrer Familie. Die Familie gehört zu einer kleinen ungarischen Minderheit im ehemaligen Jugoslawien (und heutigen Serbien) und verlässt ihr Heimatdorf in der Vojvodina, um sich in der Schweiz ein neues und besseres Leben aufzubauen. Während Ildikós Eltern die Vojvodina bereits in den 1970er Jahren verlassen und in der Schweiz mit einer Reihe verschiedener Jobs erst einmal schrittweise Fuß zu fassen versuchen, bleiben die Kinder Ildikó und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Nomi zunächst bei ihrer geliebten Großmutter Mamika in ihrem Heimatdorf, bevor auch sie einige Jahre später

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in die Schweiz nachkommen, um von nun gemeinsam mit ihren Eltern dort zu leben. Der Vater Miklós arbeitet zunächst in zumeist prekären und unterbezahlten Anstellungsverhältnissen, so z.B. als Metzgergehilfe und Hauswart, die Mutter Rósza verdient unter anderem als Wäscherin, Putzfrau und Kellnerin ihr Geld. Die Handlung des Romans spielt in weiten Teilen kapitelweise abwechselnd in der Schweiz und in der Vojvodina. In einer der reichsten Schweizer Gemeinden am rechten Zürichseeufer übernimmt die Familie Kocsis schließlich durch einen Glücksfall und nach langen Jahren mühsamer Arbeit das ›Café Mondial‹, ein gut gehendes Geschäft in allerbester Lage, in dem auch Ildikó als ›Servierfräulein‹ mitarbeitet. Dieser Schauplatz wechselt mit Erzählungen des Lebens in der ländlichen Atmosphäre des kleinen Heimatdorfes in der Vojvodina ab, von dem in Rückblenden und unvermittelt auftauchenden, häufig eingewobenen Erinnerungen an Kindheitserlebnisse und Ferienaufenthalte immer wieder die Rede ist. Im Zusammenhang mit dem heimatlichen Dorf in der Vojvodina werden auch die Nachrichten über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien und die damit verbundene Situation der dort lebenden Verwandten und Freunde immer wieder thematisiert. Im Verlauf des Romans kommt es zum Konflikt zwischen Ildikó und ihren stark um Anpassung an ihr schweizerisches Umfeld bemühten Eltern, als Ildikó die Toilette des Café Mondial in offensichtlich mutwilliger Absicht von einem Gast »mit Scheisse verschmiert« (280)1 vorfindet und die Eltern über dieses Ereignis hinwegsehen wollen. Zum Ende des Romans verlässt Ildikó schließlich das Café Mondial, ihr Elternhaus und das Wohnviertel und zieht alleine in eine kleine Wohnung in direkter Nähe zu einer vielbefahrenen Autobahn mitten in Zürich. Das Geschehen im Roman wird aus der Perspektive der etwa 20-jährigen Ich-Erzählerin Ildikó dargestellt und erzählt insgesamt von einem Leben zwischen zwei recht verschiedenen Welten, von den Gedanken, den Herausforderungen, Fragen, Träumen, Eigenarten und Spannungen, die sich für sie und ihre Familie mit ihrem Leben zwischen der Vojvodina und der Schweiz ergeben. Der Roman wurde im Jahr 2010 sowohl mit dem ›Deutschen‹ als auch mit dem ›Schweizer Buchpreis‹ ausgezeichnet. So viel zu einem knappen Überblick über den Roman.

1 |  Bei der von mir benutzten Fassung handelt es sich um die 2014 veröffentlichte, 5. Auf lage des Romans, die im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen ist (vgl. Nadj Abonji 2014). Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden nur unter Angabe der Seitenzahl zitiert.

Eine erziehungswissenschaftliche Spurensuche

Während der Lektüre des Romans sind mir vor allem drei Aspekte aufgefallen, die mir auch aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive bemerkenswert erscheinen und die ich deshalb im Folgenden in Form einer erziehungswissenschaftlichen Spurensuche etwas genauer nachzeichnen und in den Blick nehmen möchte: Erstens die spezifische Art und Weise, wie Ildikó mit den verschiedenen Zuschreibungen, denen sie sowohl in der Vojvodina als auch in der Schweiz immer wieder ausgesetzt ist, umgeht. Zweitens ist mir eine besondere und auffällige Art und Weise aufgefallen, wie das ›Ich‹ (das auf die Ich-Erzählerin und Protagonistin verweist) dargestellt und artikuliert wird, eine Form, die im gesamten Roman sehr häufig zu beobachten ist und die mit den Zuschreibungen in einem Zusammenhang stehen könnte. Und schließlich erscheinen mir drittens die Geschehnisse rund um den Konflikt mit den Eltern bemerkenswert, der im Zusammenhang mit der mit ›Scheisse verschmierten‹ Toilette aufbricht. Diese drei Auffälligkeiten möchte ich im Folgenden möglichst nah am Roman nachzeichnen, genauer betrachten und Interpretationsspuren aus dem Roman heraus entwickeln. Sie sollen genauer analysiert werden, um einen Einblick in einige spezifische, sprachlich-ästhetische Besonderheiten des Romans zu gewinnen und es sollen theoretische Anschlussmöglichkeiten skizziert werden, die aus einer solchen Lektüre des Romans gewonnen werden können.

Z u I ldikós U mgang mit Z uschreibungen: D ie H ochzeit in der Vojvodina Nach einer langen und anstrengenden Autofahrt erreicht die Familie Kocsis, die inzwischen bereits seit einigen Jahren in der Schweiz lebt, endlich ihr Dorf und alle recken die Hälse, »um zu sehen, ob alles noch da ist, ob alles noch so ist wie im letzten Sommer und all die Jahre zuvor.« (5) Anlass der Reise ist die Hochzeit von Ildikós Cousin Nándor, die im Verlauf des ersten Kapitels des Romans im Mittelpunkt der Erzählung steht und Ildikós soziale Position in ihrem Heimatdorf gewinnt in diesem Zusammenhang erste Konturen. Am Tag vor der Hochzeit sitzen Ildikó und Nomi gemeinsam mit ihrer Großcousine Lujza zusammen, um die Dekoration für das Hochzeitszelt vorzubereiten, wobei sich die Schwestern ziemlich unbeholfen anstellen und sich von ihrer geschickten und flinken Großcousine jeden Handgriff zeigen lassen müssen:

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»[…], ich finde es erstaunlich, dass ihr so was nicht auf die Reihe kriegt, sagt Lujza, ohne uns anzuschauen, ich dachte, ehrlich gesagt, dass ihr im Westen alles könnt, und natürlich lästern Nomi und ich auf Schweizerdeutsch weiter über sie, über ihre Flaschenbodenbrille und ihre naive Freude, dass sie die Schleppe der Braut mittragen darf, bei uns gibt’s gar kein Krepppapier mehr, sage ich laut, und Nomi und ich zwinkern uns zu, […].« (32)

Die Bemerkung der Großcousine, dass ›ihr im Westen alles könnt‹ adressiert die Schwestern als angehörig und zugehörig zu einer anderen Welt als der dörflichen Welt der Vojvodina. Nomi und Ildikó werden in dieser Passage einem ›ihr im Westen‹ zugerechnet, dem ein zwar nicht explizit ausgesprochenes, aber implizit mitschwingendes ›wir in der Vojvodina‹ gegenübersteht. Lujza entwirft ein stark idealisiertes Bild dieses ›ihr‹, wenn sie ihre Vorstellung äußert, dass sie doch eigentlich alles können müssten, wo sie doch nun Teil dieses ›Westens‹ seien. Es fällt weiter auf, dass Lujza die beiden Schwestern nicht in ihrer spezifischen Individualität in den Blick zu nehmen scheint, sie spricht mit ihnen ohne sie anzuschauen. So werden Nomi und Ildikó einer Art Kollektivphantasie subsummiert, in der der Westen als ein Ort der unbegrenzten Möglichkeiten imaginiert wird. Diese Zuschreibung der Schwestern zu einem ›ihr im Westen‹ lässt sich als ein Hinweis darauf lesen, dass sie von ihrer Verwandtschaft, also von ihrem sozialen Umfeld nicht mehr als fraglos zugehörig zu einem ›wir‹ im Sinne der dörflichen ›Welt der Vojvodina‹ betrachtet werden. Wie aber lässt sich der Umgang der Schwestern mit dieser Zuschreibung beschreiben? Nomis und Ildikós ›Strategie‹ besteht hier im Kern darin, sich über ihre Großcousine lustig zu machen, indem sie die von Lujza angebotene Idealisierung in ironischer Weise so sehr übertreiben, dass die Zuschreibung als letztlich naiv und kaum ernst zu nehmend entlarvt wird. Das geschieht interessanterweise, indem Ildikó Lujzas stumme Entgegensetzung von ›ihr‹ und ›wir‹ in der semantischen Grundfigur aufnimmt und wiederholt, wenn sie laut und mit einem Augenzwinkern sagt, ›bei uns gibt’s gar kein Krepppapier mehr‹. Mit dieser Reaktion deutet Ildikó das ihr zugeschriebene Defizit, dass sie die Basteleien nicht ›auf die Reihe kriegt‹ in eine Art Beleg für ihre eigene, westliche Fortschrittlichkeit ironisch um. Es ließe sich paraphrasieren: Nicht weil sie etwa ungeschickt wäre, bereitet ihr der Umgang mit dem Krepppapier Schwierigkeiten, sondern weil solche Bastelmaterialien so dermaßen veraltet und überholt sind, dass es sie ›bei uns‹, im hypermodernen Westen nicht

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e­ inmal mehr gibt. Ildikós Umgang mit einer Zuschreibung, die sie aus dem vojvodinischen ›wir‹ ausschließt und sie stattdessen einem positiv idealisierten ›ihr im Westen‹ subsummiert, besteht also nicht in einer direkten Zurückweisung oder konfrontativen Abwehr oder Ablehnung. Hier geschieht etwas anderes, etwas Subtileres: Ildikó übernimmt und wiederholt zwar die von Luijza angebotene Grundfigur der Opposition von ›ihr‹ und ›wir‹ und scheint sich daher, zumindest auf den ersten Blick, mit der ausschließenden Zuschreibung zu identifizieren, weil sie diese ja in der Grundfigur übernimmt. Allerdings übertreibt und ironisiert sie die Idealisierung semantisch so sehr, dass sie gleichsam performativ entkräftet wird und als schablonenhaftes Klischee erscheint. Ildikó deutet zudem das ihr zugeschriebene Defizit im Rahmen der gleichen Deutungsfigur von ›ihr‹ und ›wir‹ um. Sie scheint ihr insofern zwar gewissermaßen unterworfen zu sein und sich dieser Deutungsfigur zu unterwerfen. Allerdings geschieht das hier in einer ironischen Art und Weise, die der Grundfigur gleichzeitig ihre unterwerfende, weil eine bestimmte ›Identität‹ zusprechende Wirkung nimmt und das, obwohl die Zuschreibung in der semantischen Grundfigur wiederholt und aufgenommen wird. Verliert diese Zuschreibung vielleicht gerade deshalb an Macht und Wirksamkeit, weil sie in dieser spezifischen (ironischen bzw. übertreibenden) Art und Weise wiederholt und dadurch indirekt zurückgewiesen wird? Möglicherweise ist in dieser literarisch fingierten Situation eine heuristische Hypothese eingehüllt, der sich etwas weiter nachzugehen lohnt. Mollenhauer hat auf dieses Erkenntnispotenzial literarischer Texte hingewiesen und die Auffassung vertreten, »dass die erzählende Literatur, in herausgehobenen und bemerkenswerten Fällen nicht nur illustriert, was ohnehin bekannt ist, nicht nur narrativ ausbreitet, was man im szientistischen Wissensstand in kürzeren Formulierungen zur Hand hat, sondern darüber hinausgehende oder intern subtiler differenzierende Vorkommnisse fingiert, in denen gleichsam heuristische Hypothesen eingehüllt sind.« (Mollenhauer 2000: 50)

Eine solche Vermutung könnte z.B. lauten, dass diese Szene darauf aufmerksam macht, dass die rhetorischen Figuren der Ironie und der Hyperbel (Übertreibung) das Potenzial enthalten, auf eine widerständige Art und Weise mit tendenziell verletzenden Zuschreibungen und Anrufungen umzugehen. Diese Vermutung deutet eine theoretische Anschlussmöglichkeit an, die kurz skizziert werden soll.

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Hans-Christoph Koller zeichnet in seiner letzten Monographie »Bildung anders denken« unter anderem Judith Butlers Konzepte der ›Subjektivation‹ und der ›Resignifizierung‹ nach, um sie für die Weiterentwicklung einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse fruchtbar zu machen (vgl. Koller 2012: 55-68 und 130-136). Butlers Konzept der Subjektivation bezieht er dabei auf die Frage, wie die »Struktur und Genese des Verhältnisses, in dem Subjekte zur Welt, zu anderen und zu sich selbst stehen« (Koller 2012: 55) gedacht werden kann. Das Konzept der Resignifizierung greift er auf, um die Entstehung des Neuen in transformatorischen Bildungsprozessen theoretisch genauer zu erfassen. Beide Konzepte können und sollen im vorliegenden Rahmen nicht ausführlich erläutert werden. Ich will lediglich eine Überlegung skizzieren, die durch die Lektüre und Interpretation von Ildikós Umgang mit Lujzas Zuschreibung angeregt wurde. Butler bezeichnet mit Subjektivation (engl. subjection) bekanntlich den »Prozeß des Unterworfenwerdens durch Macht und zugleich den Prozeß der Subjektwerdung. Ins Leben gerufen wird das Subjekt, sei es mittels Anrufung oder Interpellation im Sinne Althussers oder mittels diskursiver Produktivität im Sinne Foucaults, durch eine ursprüngliche Unterwerfung unter die Macht« (Butler 2001: 8). Das heißt nun einerseits, dass das Subjekt nur in der Unterwerfung oder genauer, durch (qua) Unterwerfung unter die Macht überhaupt entsteht. ›Macht‹ ist aus Butlers Perspektive insofern eine Konstitutionsbedingung für die ›Entstehung‹ eines Subjekts. Andererseits ermöglicht und erhält die grundlegende Abhängigkeit von einem machtvollen Diskurs oder einer Anrufung paradoxerweise erst unsere Handlungsfähigkeit. Ein entscheidendes Argument von Butler besagt nun, »dass diese Handlungsfähigkeit sich potentiell auch gegen die Macht richtet, d.h. sich als Widerstand bzw. Auflehnung gegen die Macht artikulieren kann.« (Koller 2012: 59). Butler unterscheidet zwei Erscheinungsformen der Macht, um die Unterwerfung zu denken und die Frage zu beantworten, wie sie zu einem Schauplatz der Veränderung werden kann, nämlich eine »auf das Subjekt ausgeübte Macht« (Butler 2001: 16) und eine »vom Subjekt angenommene Macht« (ebd.). Koller wiederum nennt diese beiden Formen der Macht der Einfachheit halber Macht I und Macht II (vgl. Koller 2012: 59). Diese zweite Form der Macht, die vom Subjekt nicht nur angenommen wird, sondern auch ausgeübt werden kann, bereitet den Boden, der Butler zu klären ermöglicht, »wie die Handlungsfähigkeit sehr wohl darin bestehen kann, sich zu den gesellschaftlichen Bedingungen, die

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sie erst hervorbringen, in Opposition zu setzen und sie zu verändern« (Butler 2001: 33). Für Koller folgt aus Butlers Konzept der Subjektivation für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse insgesamt, dass »sie ihre Aufmerksamkeit über die Struktur von Welt- und Selbstverhältnissen hinaus auf die Analyse gesellschaftlicher Normen zu richten hätte, die die Frage betreffen, wer innerhalb einer Gesellschaft als vollgültiges Subjekt anerkannt wird oder nicht. Davon ausgehend hätte eine solche Theorie danach zu fragen, ob und in welcher Weise Subjekte die Erfahrung machen, dass ihnen selbst oder anderen, zu denen sie in Beziehung stehen, die soziale Anerkennung als Subjekt verweigert wird. Sie hätte weiter zu fragen, wie Subjekte auf diese Erfahrung reagieren und welche Bedingungen dazu beitragen, dass daraus Widerstandspotential bzw. Handlungsfähigkeit erwächst.« (Koller 2012: 68)

Wenn man nun unter ›Anerkennung als vollgültige Subjekte‹ im Beispiel von Nomi und Ildikó die Anerkennung ihrer fraglosen Zugehörigkeit zu einem ›wir‹ der Vojvodina versteht, dann wird eben diese Anerkennung dadurch infrage gestellt, dass Lujzas sie als zugehörig zu einem ›ihr im Westen‹ anruft. Sie werden insofern nicht als zu jenem ›wir in der Vojvodina‹ vollgültig zugehörige Subjekte anerkannt. Auch wenn hier keine explizite und offensichtliche Beleidigung zur Sprache kommt wie sie beispielsweise in rassistischen oder sexistischen Beschimpfungen offensichtlicher vorliegt, kann Lujzas Anrufung dennoch als eine Form verletzenden Sprechens interpretiert werden, weil sie die Schwestern aus dem heimatlichen ›wir‹ der Vojvodina ausschließt und ihnen damit abspricht, als Teil jenes kollektiven ›wir‹ zu gelten, dem sie sich selbst (möglicherweise) zugehörig fühlen. Sie werden eben nicht als umstandslos zugehörig adressiert. Wie reagiert Ildikó nun auf diese Erfahrung? Inwiefern erwächst aus dieser Situation Widerstandspotential bzw. Handlungsfähigkeit und welche Bedingungen tragen möglicherweise dazu bei? Widerstandspotenzial erwächst aus der verweigerten sozialen Anerkennung insofern als Ildikó darauf reagiert, indem sie mit Hilfe der rhetorischen Figuren der Ironie und der Übertreibung offen legt, dass sich die Unterscheidung zwischen einem ›ihr im Westen‹ und einem ›wir in der Vojvodina‹ einer naiven, idealisierten und klischeehaften Vorstellung verdankt. Dadurch wird den hier zur Geltung gebrachten Bedingungen für soziale Anerkennung oder Nicht-Anerkennung

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sozusagen der argumentative Boden entzogen, der sie legitimiert und seine Wirksamkeit garantiert. Koller weist nun in seiner Auseinandersetzung mit Butlers Konzept der ›Resignifizierung‹ zunächst darauf hin, dass performative Sprechakte auf Konventionen beruhen (vgl. Koller 2012: 131). »Denn die Kraft, durch eine sprachliche Handlung das zu bewirken, wovon darin die Rede ist, setzt voraus dass der Sprecher zu dieser Handlung in irgendeiner Weise legitimiert ist und sich auf entsprechende Konventionen berufen kann. Das gilt auch für das verletzende Sprechen, auch wenn die Konventionen dabei nicht in derselben Weise formalisiert sind wie etwa bei einer Eheschließung oder anderen amtlichen Akten« (Koller 2012: 131). Nun könnte man sagen, dass Lujza die Legitimation für ihr die Schwestern auschließendes Sprechen daher bezieht, dass sie als Vojvodinerin spricht, die ständig in der Vojvodina lebt. Man könnte sagen, dass sie sich auf eine diskursiv bereit liegende Konvention berufen kann, nach der zwischen ›ihr‹ und ›wir‹ auf der Grundlage des geographischen Lebensmittelpunkts unterschieden wird und dass damit verallgemeinerte, idealisierte Eigenschaften von ›ihr‹ und ›wir‹ legitim verbunden werden können. Allerdings greift Ildikós ironische Reaktion sozusagen die ›Legitimität‹ dieser Konvention an und Lujzas Sprechen verliert dadurch an Autorität. Zur Ermöglichung dieser widerständigen Reaktion mögen auch situative Bedingungen beitragen. So ist Lujza in etwa gleich alt wie die beiden Schwestern und sie sind in der erzählten Situation in der Überzahl und können sich daher miteinander solidarisieren und gemeinsam ihre ironische, augenzwinkernde Position beziehen. Auf den ersten Blick könnte es aus einer von Butlers Überlegungen angeregten Perspektive scheinen, dass Ildikós Entgegnung ›bei uns gibt’s gar kein Krepppapier mehr‹ die von Lujza vorgenommene Zuschreibung schlicht übernimmt und die verletzende, weil ausschließende Wirkung dadurch noch einmal wiederholt und bekräftigt (ein Risiko, auf das auch Koller in seiner Auseinandersetzung mit Butler verweist). Allerdings weist Butler in ihrem Konzept der Resignifizierung vor allem darauf hin, dass Wiederholungen ebenso das Potenzial einer Transformation zukommen kann. Folgt man Butlers Grundgedanken, dann ermöglicht es dieses Potenzial der Sprache, der Unterwerfung unter Zuschreibungen etwas entgegenzusetzen und mit (subjektivierenden) Anrufungen auf eine widerständige Art und Weise umzugehen. Denn das Konzept der Resignifizierung bezeichnet eine nicht identische Wiederholung, die das Wiederholte in einen anderen Kontext rückt und so in seiner Bedeutung verändert. Es geht hierbei um eine

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Art Fehlaneignung, »eine Wiederholung der ursprünglichen Unterordnung zu anderen Zwecken, deren Zukunft zum Teil offen ist« (Butler zitiert nach Koller 2012: 132). Eine Resignifizierung stellt insofern eine Form der Wiederholung dar, die dem Wiederholten seine »degradierende Bedeutung« nehmen und zu einer »ins Positive umgedeuteten Selbstbezeichnung« (Koller 2012: 134) werden kann. Solche Formen des Sprechens können laut Butler als ein »Akt des Widerstands« (Butler zitiert nach Koller 2012: 134) verstanden werden. Das Spannende ist nun, dass Ildikós Wiederholung der semantischen Grundfigur von ›ihr‹ und ›wir‹ zwar eine degradierende Zuschreibung in eine positive Selbstbezeichnung umdeutet und hier insofern eine Resignifizierung stattfindet. (Lujza: ›erstaunlich, dass ihr das nicht auf die Reihe kriegt, wo ich doch dachte, dass ihr im Westen alles könnt‹ und Ildikó: ›bei uns gibt’s gar kein Krepppapier mehr‹). Allerdings entsteht der ›Akt des Widerstandes‹ gegen diese Grundfigur weniger dadurch, dass das Wiederholte in einen anderen Kontext gerückt wird, sondern die Äußerung gewinnt ihre Widerständigkeit vor allem durch die Kraft der rhetorischen Figuren der Ironie und der Hyperbel. Oder vielleicht präziser: Diese rhetorischen Figuren werden hier als sprachliche Mittel bemerkbar, als Konkretisierung einer ›Fehlaneignung‹, kraft derer der Kontext verändert wird. Damit geraten diese rhetorischen Figuren in ihrem Potenzial in den Blick, sprachlich nicht-identische Wiederholungen zu vollziehen, die einen widerständigen Akt darstellen können und eine Resignifizierung ermöglichen, die das Wiederholte in seiner Bedeutung verändert. Auch auf der Hochzeitsfeier selbst werden Ildikó und Nomi mit Zuschreibungen von Verwandten und Bekannten in Bezug auf das ›wir in der Vojvodina‹ konfrontiert, die an dieser Stelle jedoch nicht mit ironischen Kommentaren beantwortet und ›resignifiziert‹ werden. Die Familie Kocsis wird bei ihrer Ankunft im Festzelt vom Brautführer begrüßt und die Hochzeitsgesellschaft vergisst »[…] weiterzuessen, Suppenlöffel bleiben in der Luft, an Brotbissen wird nicht mehr gekaut, und einen Moment lang kommt es mir so vor, als müssten wir rückwärts wieder raus, damit alles seinen gewohnten Lauf nehmen kann, ohne uns […].« (34)

Die Hochzeitsgesellschaft hält angesichts der Familie Kocsis gebannt inne. Zwar wird die Familie schon kurz darauf lachend zu Tisch gebeten, trotz-

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dem deutet dieser kurze Augenblick bereits an, dass Ildikó und ihrer Familie eine besondere Position in ihrem heimatlichen Umfeld z­ ugewiesen wird. Ihre Anwesenheit zieht eine besondere Aufmerksamkeit auf sich, auch wenn zunächst noch offen bleibt, ob sie lediglich neugierig-gespannt oder eher kritisch-ablehnend betrachtet werden. Allerdings lässt sich festhalten, dass Ildikó sich im Blick dieser Hochzeitsgesellschaft als ein Störfaktor wahrnimmt, als jemand, der nicht wirklich dorthin gehört, sondern eine Art Fremdkörper im heimatlichen Gefüge darstellt, der den ›gewohnten Lauf‹ durcheinander bringt. Ildikó erinnert sich im Zusammenhang mit dieser Hochzeit vor allem daran, »dass Nomi und ich mit unseren Kleidern auffallen, aber nicht so, wie wir uns das vorgestellt hatten, und dabei fällt mir das Wort ›Schandfleck‹ ein (Schandfleck und Festtagskleid, mit einem Mal gehört das unzertrennlich zusammen). Hat da wirklich jemand, da soll noch einer wissen, wer die Braut ist, gesagt? Hört nicht hin, sagt Mamika, ihr seht ganz einfach hübsch aus. Also hören wir nicht hin – ich möchte bloß wissen, warum diese Schweizer ihre Kinder so anziehen, als wären sie irgendwas, nur keine Kinder! – und bewegen uns mit den dreihundert Gästen lachend, singend, tänzelnd, rufend, klatschend zum Hochzeitszelt zurück, wo das eigentliche Hochzeitsessen beginnt, […]« (36)

Nomi und Ildikó, die sich für die Hochzeit hübsch gemacht hatten, fallen der Hochzeitsgesellschaft unangenehm auf. Die Familie Kocsis wird auch in dieser Passage als Teil eines anderen, in diesem Fall nationalen Kollektivs adressiert, hier allerdings deutlich abwertend als ›diese Schweizer‹, deren Kleidung als offenbar fehl am Platze beurteilt wird. Die Strategie im Umgang mit den in diesem Beispiel offen ablehnenden (und nicht wie noch bei Lujza positiv idealisierenden) Zuschreibungen besteht hier in dem Versuch, Mamikas Ratschlag folgend, einfach nicht hinzuhören, die abfälligen Kommentare also zu ignorieren. Diese Strategie geht jedoch nicht so recht auf, denn direkt nach der zu verstehen gegebenen Befolgung dieses Ratschlags (›Also hören wir nicht hin‹) dringen in dieser Passage sofort wieder die abfälligen Kommentare zu den Schwestern durch, (›ich möchte bloß wissen, warum diese Schweizer ihre Kinder so anziehen, als wären sie irgendwas, nur keine Kinder!‹). Die abfälligen Kommentare lassen sich offenbar nicht einfach überhören. Allerdings lassen sich die Schwestern durch diese Bemerkungen, die zunächst wie zwar lästige, aber nicht weiter wichtige Nebengeräusche erscheinen, auch nicht

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­ avon abhalten, in die wogende Atmosphäre des rauschenden Hochzeitsfests d einzutauchen. Am Ende des Abschnitts entsteht jedoch der Eindruck, dass die abfälligen Kommentare und Zuschreibungen alles andere als spurlos an den Schwestern vorbeigehen, wenn Ildikó kurz darauf erzählt, wie sie sich während der Hochzeitsfeier aus dem Zelt schleichen: »[…] wir eilen in Tante Mancis Sommerküche, ziehen uns rasch um, und wir verlieren kein Wort darüber, wie erleichtert wir sind, als wir wieder unsere Alltagskleider tragen, eine Sommerhose und ein T-Shirt.« (38)

Aus einer an Butlers Überlegungen angelehnten Perspektive zeigt sich hier weniger ein widerständiger, resignifizierender Umgang mit Anrufungen, die Ildikó und Nomi die soziale Anerkennung verweigern, sondern eher der Aspekt des Unterworfenseins unter jene Macht, die auf das Subjekt ausgeübt wird und die zuvor mit Koller als Macht I bezeichnet wurde. Der Versuch, auf die tendenziell verletzenden Zuschreibungen der Hochzeitsgesellschaft zu reagieren, indem sie ignoriert und ›überhört‹ werden, schlägt im Sinne eines widerständigen Aktes eher fehl. Die abfälligen Kommentare bewirken letztlich sogar eine Form von Sprachlosigkeit oder vielleicht genauer, eine Art stummer Übereinkunft (›und wir verlieren kein Wort darüber‹), die sich auf das Gefühl der Erleichterung darüber bezieht, endlich wieder die gewohnten Alltagskleider zu tragen. Wie lässt sich das verstehen? Über die Erleichterung zu sprechen und ›ein Wort darüber zu verlieren‹ hieße zunächst einmal, sich die affektive Wirkung der Zuschreibungen, die eigene Verletzbarkeit einzugestehen. Es hieße, sich die Abhängigkeit von dem Urteil ihres sozialen Umfelds einzugestehen und es hieße sich einzugestehen, dass dieses Urteil Ildikós und Nomis Verhalten maßgeblich bestimmt und sie nicht ›drüberstehen‹ (nicht nur schleichen sie sich heraus, sie wechseln auch ihre eigens für die Hochzeit ausgesuchten Kleider, mit denen sie eigentlich positiv hatten auffallen wollen). Alle diese Eingeständnisse sind jedoch gewissermaßen ›beschämend‹, weil sie z.B. in Frage stellen, dass Ildikó und Nomi fähig sind, ihr Handeln eigenmächtig und weitgehend autonom zu bestimmen, so dass diese Eingeständnisse eine Art Kränkung und eine »eklatante Bedrohung« (Koller: 57) für das Subjekt darstellen. Die stille Übereinkunft, nicht über ihre ›Erleichterung‹ zu sprechen, lässt sich vor diesem Hintergrund als ein Ausdruck der Beschämung angesichts der beschriebenen Abhängigkeit lesen und gleichzeitig als eine Verleugnung der Abhängigkeit angesichts dieser Beschämung.

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Z u I ldikós ›I ch -A rtikulation ‹ als H inweis auf den U mgang mit Z uschreibungen . Auch in der Schweiz wird Ildikó mit Zuschreibungen konfrontiert, die sich als verletzende Anrufungen interpretieren lassen. Sie wird von ihrem Umfeld einem häufig degradierenden ›ihr‹ subsummiert, das sie in ihrer Zugehörigkeit und Angehörigkeit zu einem wie auch immer gearteten ›wir‹ in Frage stellt. Der Familie Kocsis wurde inzwischen das gut gehende Café Mondial in bester Lage am rechten Zürichseeufer angeboten und Ildikó fragt sich am Tag der feierlichen Neueröffnung mit skeptischem Vorbehalt ob das »gut gehen« (51) kann. In diesem Zusammenhang erinnert sie sich an ein Erlebnis mit einem Nachbarn, der sie und Nomi, die pfeifend über die Straße gegangen waren, zurechtgewiesen habe, dass hier (in der Schweiz) nicht gepfiffen werde wie »in Italien oder in der Mongolei« (ebd.) und der weiter gerufen habe: »Seit ihr hier seid, ist alles verludert!, und ›verludert‹ fand ich gar nicht schlimm, aber ›seit ihr hier seid‹ ging mir nicht mehr aus dem Kopf, ich, die in Tränen ausbrach, […].« (51)

Wenn man diese Erinnerung als eine Antwort auf Ildikós Frage liest, ob der Familienbetrieb Café Mondial gut gehen kann, dann scheint die Antwort eher negativ auszufallen. Denn die Familie Kocsis wird in einem Umfeld arbeiten, das sie einem kollektivierten ›ihr‹ zuordnet. Die Vorstellung, die mit diesem ›ihr‹ verbunden wird, ist vor allem dadurch kennzeichnet, dass es dafür verantwortlich gemacht wird, dass ›alles‹ (die Schweiz? die Gesellschaft? das schöne Zürichseeufer?) immer mehr verkommt und verwahrlost. Anders als in der Vojvodina, in der die Schwestern zwar auch mit Kollektivzuschreibungen konfrontiert werden, sind die Schwestern wegen ihres Migrant*innenstatus‘ jedoch in der Schweiz in andere hierarchische und auch rechtliche Strukturen eingebunden, die ihre untergeordnete soziale Position mitbestimmen. Der Ausdruck ›verludert‹ stammt im Übrigen aus der Jägersprache und wird dort im Zusammenhang mit unwaidmännisch vorgehenden Jägern verwendet. Dadurch, dass diese Jäger sich nicht an die bestehenden Konventionen halten oder sich gesetzeswidrig verhalten, also Tiere z.B. lediglich anschießen und keine ›Nachsuche‹ durchführen, geht viel wertvolles Wild verloren und verkommt bzw. ›verludert‹ zu Aas. Im vierten Kapitel des Romans wird erzählt, wie sich die Anfangseuphorie angesichts der Neueröffnung des Café Mondial langsam legt. Die

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­ rbeitsabläufe funktionieren zunehmend routinierter und reibungsloser, der A gastronomische Alltag beginnt Einzug ins Café Mondial zu halten und I­ ldikó kümmert sich an einem ganz normalen Mittwoch gemeinsam mit ihrer Schwester um die Bewirtung der Gäste: »Der Samstag ist normalerweise der hübsche Tag mit der rosaroten Schleife und dem toll aufgeschäumten Milchkaffee, so Nomi - aber heute ist nicht Samstag, sondern ein ganz normaler Mittwoch, an dem der Turnverein bei uns Jubiläum feiert, ich also Milchschaumberge fabriziere, hinter dem Buffet hantiere, ich, die übrigens eine schwarz-weiss gestreifte Bluse trägt und einen Jupe, der mich zum Trippeln zwingt. Ich sehe mir zu, ich, die in einer notwendigen Verkleidung bereitsteht, zeige, dass ich eine geeignete Buffettochter bin, ich, der Kuckuck hinter der Theke, glücklicherweise, denn im Service fühle ich mich vogelfrei, freie Sicht auf sie, die ich bin, aber heute nicht, heute schützt die armeegrüne Theke wenigstens den unteren Teil des Körpers, ja, ich bin jedes Mal froh, wenn ich mit Nomi den Dienst tauschen kann, sie für mich im Service arbeitet.« (S.88-89)

Auf den ersten Blick scheint diese Passage in etwa folgende Interpretation nahezulegen: Ildikó, die auch in der Schweiz damit konfrontiert wird, dass sie von ihrem sozialen Umfeld (wie z.B. von ihrem Nachbarn) als ›fehl am Platz‹ betrachtet wird, als jemand, die dort ›nicht hingehört‹ und dafür verantwortlich gemacht wird, dass ›alles verludert‹, identifiziert sich mit dieser ihr zugeschriebenen Position. In der Metapher des Kuckucks, (›ich, der Kuckuck hinter der Theke‹) übernimmt sie die Zuschreibung in ihrer Grundfigur. Denn der Kuckuck nistet sich bekanntlich in einem fremden Nest ein und wirft die Eier oder Jungvögel heraus, nachdem er geschlüpft ist und vertreibt so jene aus ihrem ›Lebensraum‹, die dort ›von Natur aus‹ und deshalb ›rechtmäßig‹ hingehören. Ildikó fühlt sich vor diesem Hintergrund als ›vogelfrei‹ und also gleichsam zum ›Abschuss‹, zum Ausschluss aus der Gruppe freigegeben. Im Service hätten nun alle Gäste freie Sicht auf diesen ›Kuckuck‹, der sie ist und der sich aus der Perspektive der Cafégäste in ihrem Schweizer ›Nest‹ breit gemacht hat, so dass Ildikó ihren vernichtenden Blicken und möglichen Anfeindungen schutzloser ausgeliefert wäre als hinter der ›armeegrünen Theke‹. Diese schützt zumindest den unteren Teil des Körpers, weshalb sie immer froh ist, wenn Nomi für sie die Arbeit im ungeschützten und offenen Feld des Service übernimmt.

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Vor dem Hintergrund einer solchen Interpretation würde Ildikó hier als eine Figur dargestellt, die die degradierenden, verletzenden und a­ usschließenden Anrufungen ihres Umfeldes übernimmt und im s­trukturellen Grundzug wiederholt, insofern sie sich mit ihnen bruchlos identifiziert, eine Figur, der es an dieser Stelle in keiner Weise gelingt, diesen Zuschreibungen etwas Widerständiges entgegenzusetzen. Eine solche Interpretation, auch wenn sie sich dem flüchtigen Blick aufdrängen mag, ist jedoch vorschnell und sehr oberflächlich, weil sie die Vielzahl der sprachlich-ästhetischen Eigenheiten dieser Passage und die damit potenziell verbundenen semantischen Mehrdeutigkeiten völlig außer Acht lässt und dadurch vielleicht gerade dasjenige aus dem Blick verliert, was diese Passage spannend und anregend macht. Dieser dichte Abschnitt lohnt also einen etwas genaueren Blick. Wie wird hier z.B. das ›Ich‹ artikuliert, also das Zeigwort, das Pronomen der ersten Person, das auf die Sprecherin Ildikó als Senderin im aktuellen Signalverkehr verweist (vgl. Bühler [1934] 1965: 79-80). Wie geschieht das hier? ›ich, die übrigens eine schwarz-weiss gestreifte Bluse trägt…‹, ›Ich sehe mir zu, ich, die in einer notwendigen Verkleidung bereitsteht…,‹ ›ich, der Kuckuck hinter der Theke, glücklicherweise… ‹, ‹freie Sicht auf sie, die ich bin‹. Das ›Ich‹ wird in diesen Beispielen in Form von Relativsatzkonstruktionen (bzw. an einer Stelle in Form einer Apposition) artikuliert, die dem ›Ich‹ verschiedene Attribute beifügen. Solche Relativsatzkonstruktionen, die mit den Worten ›ich, die…‹ beginnen, lassen sich im Übrigen nicht nur in dieser Passage, sondern auf den 315 Seiten des Romans insgesamt 135 Mal finden. Sie stellen also eine Eigenheit dar, die den gesamten Roman durchzieht. Diese Beifügungen (in Form von Relativsätzen) sind als solche nicht ungewöhnlich, weil die Funktion von attributiven Relativsätzen in der Regel eben genau darin besteht, eine oder mehrere Eigenschaften eines Individuums oder einer ›Sache‹ zu benennen. Ungewöhnlich ist aber, dass sich die Relativsätze auf ein ›Ich‹ beziehen, weil Relativsätze üblicherweise verwendet werden, um Eigenschaften anderer Personen oder Eigenschaften von Dingen zu benennen, nicht aber, um das Personalpronomen ›Ich‹, also die ›eigene Person‹ näher zu bestimmen. Z.B.: ›Peter, der gefärbte Haare hat.‹, ›das Auto, das am Straßenrand geparkt steht‹. etc.. Hinzukommt, dass in dieser Passage mehrfach die Verbkonjugation der dritten Person verwendet wird und nicht etwa die der ersten Person. Es heißt im Text z.B.: ›ich, die eine schwarzweiss gestreifte Bluse trägt‹ und nicht etwa ›ich, die ich eine schwarz-weiss gestreifte Bluse trage‹. Es heißt: ›ich, die […] bereitsteht‹ und nicht etwa: ›ich, die ich […] bereitstehe‹. Die Protagonistin Ildikó artikuliert hier eine Art

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­objektiviertes ›Ich‹. Dieses ›Ich‹ gerät durch den Kunstgriff der ungewöhnlichen Relativsatzkonstruktion und der Verbkonjugation der dritten Person in eine Art distanziert-reflexiven ›Abstand‹ zur Sprecherin Ildikó. Der Abstand, diese objektivierende Distanznahme, die durch diese syntaktische Struktur bereits angelegt ist, wird im weiteren Verlauf der Passage auch semantisch noch einmal verstärkt, wenn es heißt: ›Ich sehe mir zu, ich, die in einer notwendigen Verkleidung bereitsteht […]‹. Melinda Nadj Abonji lässt ihre Protagonistin Ildikó gewissermaßen ›aus sich heraustreten‹ und es wird ein sowohl betrachtendes als auch betrachtetes ›Ich‹ artikuliert, das sich gleichsam von oben oder von außen, aus einer distanzierten Beobachterposition beim Arbeiten zusieht. Von dieser Position aus bemerkt Ildikó ein Bild, das sich ihr präsentiert, ein Bild, das sie von sich abgibt, nämlich die verkleidete Buffettochter, die in schwarz-weiss gestreifter Bluse hinter dem Buffet trippelt, ein Bild, das eher wie eine ironische Karikatur bürgerlicher Kaffeehauskonventionen wirkt und gerade nicht wie ein Bild, mit dem sich Ildikó schlicht und bruchlos identifizieren würde. Die objektivierende Geste wird dann durch die Verwendung des Pronomens der dritten Person noch einmal verstärkt, wenn es heißt, ›freie Sicht auf sie‹, bevor dieser gesamte Prozess der objektivierend-distanzierenden ›Ich-Artikulation‹ sozusagen wieder aufgehoben wird und durch den direkt angeschlossenen Relativsatz ›freie Sicht auf sie, die ich bin,‹ gewissermaßen in sich zusammenfällt. Es wirkt nun als hätte Ildikó ihre ›beobachtende‹ Perspektive wieder verlassen. In dieser Passage wird mit den Artikulationsmöglichkeiten des ›Ich‹ gespielt, ein Spiel, in dem das ›Ich‹ an den Rand einer Art Objektivierung getrieben wird, ein Spiel mit dem Versuch, eine reflexive und ironische Distanz zum ausgesagten ›Ich‹ zu gewinnen, ein ›Ich‹, das gerade in der Spannung von beobachtendem ›Ich‹ und beobachteten Rollenbildern des ›Ich‹ artikuliert wird. Von einer schlichten und eindeutigen Identifikation der Protagonistin Ildikó mit den zuvor angedeuteten, gesellschaftlich-konventionellen Zuschreibungen und hier zur Sprache gebrachten Bildern, kann angesichts dieser sehr viel komplexeren Konstruktion nicht die Rede sein.2 Eine weitere Besonderheit dieser Passage besteht m.E. in dem, was man vielleicht als ihre spezifische ›Musikalität‹ bezeichnen kann. Die Passage ist insgesamt wie eine Art Sprechgesang aufgebaut, sie enthält eine Reihe von Stilelementen, die an ›Hip-Hop-Kompositionen‹ erinnern und es werden Reimfolgen und 2 |  Vgl. zu dieser spannenden Form der ›Ich‹-Artikulation auch Nadine ­R oses Beitrag in diesem Band.

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metrische Schemata aufgegriffen, die auch im ›Rap‹ benutzt werden, wie z.B.: ›ich also hinter dem Buffet hantiere, Milchschaumberge fabriziere‹. Der ­Doppelvokal ›ei‹ bestimmt den Klang, die Melodie und den Rhythmus dieser Passage wie eine Art Lautmotiv (normalerweise, Schleife, ein, Turnverein, bei, feiert, schwarz-weiss gestreifte, einer, Verkleidung, bereitsteht, zeige, eine, geeignete, glücklicherweise, vogelfrei, etc.). Wird aus dem metaphorisch präsenten ›Ei‹ des vogelfreien Kuckucks im fremden Nest ein klangliches und rhythmisches Spiel mit dem Laut ›ei‹, das dessen verfestigte Bedeutung in eine musikalische Bewegung bringt und dadurch Deutungsverschiebungen anregt? Öffnet sich vor dem Hintergrund dieser ›Musikalität‹ vielleicht eine andere, differenziertere Lesart der Metapher des ›vogelfreien Kuckucks‹? Für den Kuckuck ist nicht zuletzt sein charakteristischer Ruf kennzeichnend, seine enorme Stimmstärke, die mit dem eher unscheinbaren Äußeren in Kontrast steht.3 Und das Adjektiv ›vogelfrei‹ meint seiner etymologischen Herkunft nach ursprünglich ›frei von Herrschaftsdiensten, frei wie ein Vogel in der Luft‹ zu sein (vgl. Etymologisches Wörterbuch 1995: 1520). Nimmt man diese andere Besonderheit des Kuckucks auf, also die ›musikalische‹ Stärke seiner Stimme, wozu ich als Leser durch die musikalische Komposition der Passage insgesamt angeregt oder herausgefordert werde und nimmt man die im Adjektiv ›vogelfrei‹ ursprünglich angelegte Bedeutung im Sinne von ›frei wie ein Vogel‹ hinzu, dann eröffnet sich eine andere Lesart, eine ganz andere Tönung dieser Passage. Das hier entworfene ›Ich‹ zeigt sich dann als ein ›Ich‹, das durch seine stimmliche Stärke, durch seinen unverwechselbar eigenen Ton, seine musikalische Ausdruckskraft gekennzeichnet ist und das ›Ich‹ setzt den zuvor beschriebenen Zuschreibungen mit diesen Eigenschaften durchaus einen anderen Welt-Selbstentwurf entgegen. Ildikó erscheint dann als eine Figur mit einer eigenen Stimme, eine Figur, die einerseits gesellschaftlich verfestigte Bedeutungen degradierender Metaphern aufnimmt und vorführt und sie aber andererseits in einer Art und Weise zum Klingen bringt, die die verfestigte Bedeutung aufbricht und andere Bedeutungshorizonte eröffnet. Ildikó setzt damit den vereindeutigenden Zuschreibungen ihrer Umgebung etwas entgegen. Der ›Witz‹ dabei ist, 3 |  Die kleine Terz des Kuckucksrufs fand als so genannte Kuckucksterz sogar Eingang in die Tonsprache der klassischen Musik. (So z.B. in Beethovens 6. Sinfonie F-Dur, „Pastorale“ (Szene am Bach), Mozarts Kindersymphonie, oder Vivaldis Sommer, und vielen anderen Werken der klangredenden Musik, insbesondere in Barock und Romantik.)

Eine erziehungswissenschaftliche Spurensuche

dass die ›widerständigen Entgegensetzungen‹ auf eine sehr feine und kunstvolle Weise vollzogen werden, die die machtvolle und verletzende Wirkung gesellschaftlicher Zuschreibungen weder negiert noch bagatellisiert, weil sie auf der Ebene des eingangs beschriebenen Oberflächensinns dieser Passage gleichzeitig gegenwärtig gehalten wird. Die Musikalität dieser Passage kann vor diesem Hintergrund als eine Form von Umdeutung und Resignifizierung gesellschaftlicher Zuschreibungen verstanden werden, die gleichzeitig in ihrer machtvoll-unterwerfenden Wirkung präsent gehalten werden.

D er Konflikt

mit den

E ltern

Zum Ende des Romans wird Ildikó von einem ihrer Gäste in leicht verlegenem Flüsterton darauf hingewiesen, sich doch einmal die Toilette des Café Mondial anzuschauen. Ildikó, die sich auf den Weg macht, sieht schon im Spiegel der Herrentoilette nicht nur sich, »sondern das, was das Fräulein erwartet. Eine verschissene Klobrille, eine Männerunterhose, die neben der Kloschüssel liegt, die gemaserte Wand, die nicht mehr weiss, sondern mit Scheisse verschmiert ist (der Spiegel fügt alles zusammen) […].« (280)

Ildikó wartet geschockt darauf, dass sie gleich ausrastet, dass ein stechender Schmerz ihr den Atem verschlagen wird, aber es passiert nichts. Sie beginnt mechanisch die Toilette zu reinigen und es wird immer offensichtlicher, dass hier kein Missgeschick passiert sein kann, sondern »dass jemand die Wand absichtlich verschmiert hat, […]« (282). Diese Situation mündet in einen heftigen Konflikt zwischen Ildikó und ihren Eltern, vor allem mit der Mutter, die diesen Vorfall anders als Ildikó unter den Teppich kehren will. Die Mutter will ihn als einen Einzelfall behandeln, der nicht wieder vorkommen werde und sie möchte vor allem, dass das »unter uns«(290) bleibt, weil es nichts bringe, »das an die große Glocke zu hängen« (ebd.). Ildikós Haltung ist eine ganz andere: »[…] ich, die explodieren will, ich will gegen uns sein, gegen unseren Fleiss, unser andauerndes Bemühen, noch besser zu werden, ich, die meinen Lehrer nicht hören will, der sagt, dass er nichts gegen Ausländer habe, bei ihm zähle einzig und allein die Leistung, ich will meinen Lehrer nicht hören, wenn

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er die Stimme meiner Eltern hat, der Glaube, dass man mit der eigenen Leistung, mit einer permanenten Leistungssteigerung alles erreichen, die Realität wegschieben kann, die verschissene Unterhose, im Plastikkübel, im Abfalleimer, und niemand muss sich fragen, was das wohl zu bedeuten hat; hört mal zu, will ich sagen, können wir darüber reden, ob wir vielleicht eine Anzeige erstatten, gegen unbekannt, wie formuliert man so eine Anzeige, darüber sollten wir doch diskutieren, […].« (289)

In diesen Zeilen klingt eine deutliche und entschiedene Zurückweisung jenes ›uns‹ an, das durch die Haltung der Eltern geprägt ist, die von einer tendenziell bedingungslosen Anpassungsbereitschaft an ein Leistungsprinzip gekennzeichnet ist, das von Ildikó hier als eine Art ›Mythos‹ zum Vorschein gebracht wird. Sie positioniert sich klar und entschieden gegen die Haltung der Eltern, die sogar diesen grenzüberschreitenden Vorfall fatalistisch hinzunehmen bereit sind und die Realität des Vorfalls in der Toilette ausblenden und seine Bedeutung ignorieren. Ildikó wendet sich damit gegen jene Haltung, die in dem mehrfach wiederholten Satz der Mutter zum Ausdruck kommt: »Wir haben hier noch kein menschliches Schicksal, wir müssen es uns zuerst noch erarbeiten, […]« (290) Sie will endlich über diesen Einzelfall reden und öffentlich machen, dass die mit ›Scheisse beschmierte‹ Toilette offenbar zu »unserem Schicksal gehört; […]« (290). Das ›Schicksal‹ wird von Ildikó nicht mehr als etwas gedeutet, das es hinzunehmen und anzunehmen gilt, dem es sich, wenn auch zähneknirschend, zu fügen gilt, sondern als etwas, das skandalisiert werden kann, dass öffentlich gemacht werden muss und das sich vor allem zurückweisen lässt. Im weiteren Verlauf der Szene zeigt sich außerdem, dass es nicht bei Willensbekundungen, Absichtserklärungen und inneren Reflexionen bleibt, sondern dass Ildikó ihre entschieden andere Haltung zu diesem Vorfall im Mondial gegenüber ihren Eltern auch offensiv ausspricht und vehement vertritt: »[…], wenn wir uns jetzt nicht wehren, wenigstens versuchen, irgendetwas zu tun, dann sind wir niemand mehr, sage ich, zu Vater, zu Mutter, […].« (295) Ildikó verlangt nach einer Antwort und fordert ihre Eltern auf, ihr in die Augen zu schauen. Sie konfrontiert die Eltern damit, dass sie am nächsten Tag nicht die Speisetafel schreiben, sondern Anzeige erstatten wird, dass sie aufhören wird, weiter im Café Mondial zu arbeiten und dass sie sich nicht mehr anpassen will. »[…] nein, ich, die sich nicht setzt, will keine Wildkarte schreiben – Ildi, die so schön und korrekt schreibt –, will verschwinden aus diesem halbierten

Eine erziehungswissenschaftliche Spurensuche

Leben, diesem Alltag, in dem der Dienstleistungsbetrieb zum Schicksal wird, ›mundtot‹ geht mir durch den Kopf, ich werde mundtot gemacht mit Sätzen wie: Ihr sollt es einmal besser haben als wir, wir arbeiten nur für euch; […].« (294)

Ildikó erzählt in diesem Zusammenhang, dass sich ihre »[…] Gedanken nicht mehr in den gewohnten Laufbahnen bewegen« (294) und sie setzt der stillschweigenden Hinnahme des vermeintlichen Schicksals in der Schweiz mit nun deutlich hörbarer Stimme den Abschied von dem ›netten Fräulein‹ entgegen: »mit allem aufhören, mit dem Studium, meinem Russischkurs, […] vor allem aber aufhören mit der Arbeit hier, im Mondial, verschwinden aus dieser Gemeinde, das nette Fräulein endlich abschütteln (vielen Dank und auf Wiedersehen!), […]« (293)

Vielleicht kommt in diesen Zeilen eine Bewegung zu einem vorläufigen Abschluss, der den Aufbruch in einen neuen, veränderten Welt-Selbstentwurf markiert. Eine Bewegung, die mit den ironischen, übertreibenden und musikalisch resignifizierenden Umgangsweisen mit Zuschreibungen und verletzenden Anrufungen Fahrt aufgenommen hatte. Es geht hier vielleicht um einen Prozess, der als ein Bildungsprozess im Sinne einer Veränderung »grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses« (Koller 2012: 17) interpretiert werden kann. Im Zusammenhang mit dem Konflikt weist Ildikó gesellschaftliche Zuschreibungen und familiär eingespielte Deutungsmuster in einer neuartigen Entschiedenheit zurück, Deutungsmuster, zu denen sie bis dahin eine zumindest ambivalente Haltung eingenommen hatte. Ihre Gedanken beginnen nun aber, sich nicht mehr in den ›gewohnten‹ Bahnen zu bewegen. Die Veränderung besteht auch darin, dass Ildikós Welt-Selbstentwurf nicht mehr durch eine zwar ambivalente, widerständige und ironische, aber dennoch latent vorhandene und wirksame Anpassungsbereitschaft gekennzeichnet zu sein scheint, sondern durch eine nun offene Ablehnung und entschiedene Zurückweisung von Rollenerwartungen (z.B. ›das nette Fräulein endlich abschütteln‹), mit denen sie konfrontiert wird. Diese Veränderung findet auch einen handlungspraktischen Ausdruck in den Geschehnissen im letzten Kapitel des Romans, in dem Ildikó ihr Elternhaus und das rechte Zürichseeufer verlässt, mit der Arbeit im Café Mondial aufhört und in eine eigene, kleine Wohnung mitten in der

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Stadt zieht. Ildikós Umgang mit verletzenden Zuschreibungen in den Formen der Resignifizierung, der reflexiven Distanznahme und der handlungspraktischen Veränderung der gewohnten Lebenspraxis gibt vor diesem Hintergrund einen Prozess zu verstehen, der einen Aufbruch in einen veränderten Welt- und Selbstentwurf in literarischer Form zur Sprache bringt.

L iteratur Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bühler, Karl ([1934] 1965): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der ­Sprache. Stuttgart: Gustav Fischer Verlag. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1995): Pfeifer, Wolfgang ­(Leitung) München: Deutscher Taschenbuchverlag. Koller, Hans-Christoph (2012): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer. Koller, Hans-Christoph (2014): Bildung als Textgeschehen. Zum Erkenntnispotenzial literarischer Texte für die Erziehungswissenschaft. In: Zeitschrift Pädagogik, Jg.60, Heft3. Weinheim: Beltz Juventa, S. 333-349. Mollenhauer, Klaus (2000): »Über die Schwierigkeit von Leuten zu erzählen, die nicht recht wissen, wer sie sind«. Einige bildungstheoretische Motive in Romanen von Thomas Mann. In: Dietrich, Cornelie/Müller, Hans-Rüdiger (Hg.): Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer weiterdenken. München: Juventa, S. 49-72. Nadj Abonji, Melinda (2014): Tauben fliegen auf. München: Deutscher ­Taschenbuchverlag, 5. Auflage.

Die »ernsten Spiele der Männer« und die »Listen der Ohnmacht« von Frauen Doing gender in Melinda Nadj Abonjis Roman »Tauben fliegen auf« Hannelore Faulstich-Wieland Melinda Nadj Abonjis Roman »Tauben fliegen auf« von 2010 wurde mit dem Deutschen und dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Er wird vor allem als ein Meisterwerk der Darstellung von Migrationserfahrungen angesehen, denn er beschreibt aus Sicht einer jungen Frau, deren Eltern in den 1970er Jahren aus der Vojvodina in die Schweiz emigriert sind, wie das Pendeln der Familie Kocsis zwischen neuer und alter Heimat bis in die Zeit des Jugoslawienkriegs aussieht. Im Mittelpunkt stehen die Erzählerin Ildikó, deren zwei Jahre jüngere Schwester Nomi, die Eltern Miklós und Rósza sowie deren Verwandte in der Vojvodina, die sie bis zum Ausbruch des Jugoslawienkriegs noch einmal im Jahr besuchen können. Die zahlreichen Besprechungen des Romans betonen immer wieder die Schwierigkeiten, mit denen Migrant*innen zu kämpfen haben. Diese betreffen zum einen die Integration in der Schweiz, die mit vielfältigen Anpassungszwängen verbunden ist. Sie betreffen aber auch die Identifikation mit der Herkunftsregion, die in Serbien bereits eine Minderheitensituation bedeutete und im Zuge des Jugoslawienkriegs noch einmal verstärkt die Frage aufwarf, als was man sich empfindet – zumal angesichts der Unkenntnis der Schweizer Mitbürger*innen über den Vielvölkerstaat. Obwohl es um das Aufwachsen zweier Mädchen geht, spielt die Genderfrage in der Betrachtung des Romans bisher so gut wie keine Rolle. Mir ist nur eine Abschlussarbeit am Fachbereich für deutsche Literatur der U ­ niversität Gent von 2012 bekannt, die anhand dieses Romans einen

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»­genderspezifischen Blick auf Transkulturalität« wirft: Aleksandra Hrkic Arbeit »Die Emanzipation der Migrantin in Melinda Nadj Abonjis Tauben Fliegen Auf - Befreiung aus Zeit, Raum und Gesellschaft in der transkulturellen Migrationserfahrung« (Hrkic 2012). Die Genderfrage steht jedoch trotz des expliziten Anspruchs (vgl. ebd., Kap. 2) keineswegs im Zentrum, sondern Hrkic versucht, durch die Herausarbeitung der literarischen Struktur aufzuzeigen, dass der Protagonistin Ildikó Emanzipation auf verschiedenen Ebenen gelingt. In der folgenden Betrachtung soll nicht diese literaturwissenschaftliche Bearbeitung aufgegriffen werden. Stattdessen geht es darum, wie Geschlechterverhältnisse explizit thematisiert werden und ob bzw. inwiefern sich darüber eine Reflexion von Gender zeigen lässt. Die Autorin Melinda Nadj Abonji ist 1968 in Becsej, einer Stadt im westlichen Teil der Vojvodina in dem heutigen Serbien geboren und als Fünfjährige 1973 mit ihren Eltern in die Schweiz migriert. Ihre Familie gehörte folglich ebenso wie die Protagonistin ihres Romans zur ungarischen Minderheit im ehemaligen Jugoslawien. In der Schweiz studierte sie an der Universität in Zürich und lebt dort als Schriftstellerin und Musikerin (https://de.wikipedia. org/wiki/Melinda_Nadj_Abonji - Abruf 30.3.16). Inwieweit der Roman autobiografische Züge trägt, wird nicht klar, allerdings spielt er genau in der Zeit, in der auch Abonji ihre Jugend verbrachte. Insofern kann man vermuten, dass ihr sowohl die Schweizer wie die Serbischen Geschlechterverhältnisse vertraut sind und sie auch informiert ist über die Frauenbewegungen in beiden Ländern. Wenngleich Frauen in der Schweiz erst zu Beginn der 1970er Jahre das politische Stimmrecht erhalten haben, gab es eine ähnliche Entwicklung der neuen Frauenbewegung wie auch in Deutschland: Es ging um die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, um Gewalt gegen Frauen, aber auch um Gleichstellungsbemühungen auf den verschiedenen Ebenen (vgl. die Dokumentation der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen: h ­ ttp:// www.ekf.admin.ch/dokumentation/00444/00517/index.html?lang=de – Abruf 30.3.16). Die sozialistische Verfasstheit des ehemaligen Jugoslawien bedeutete, dass in Anlehnung an Friedrich Engels davon ausgegangen wurde, Frauen würden Gleichberechtigung erreichen, wenn sie im sozialistischen Arbeitsprozess integriert wären. Es gab zwar durchaus eine Frauenbewegung (vgl. Gršak et al. 2007), aber ihr Einfluss war nicht sehr groß in diesen Ländern. Zudem kam es in Serbien ab den 1980er Jahren zu einer Retraditionalisierung der Geschlechterverhältnisse:

Ernste Spiele und Listen der Ohnmacht

»Als Stützpfeiler der Gesellschaft wurde in Jugoslawien zunächst einmal die Familie im gesellschaftlichen Diskurs deutlich aufgewertet. Damit einhergehend erfolgte auch eine Neuaushandlung des Leitbilds für Frauen. Wurde zuvor noch dem sozialistischen Gedankengut entsprechend das Bild der ›erwerbstätigen Mutter‹ propagiert, wurde bald wieder die Bedeutung der häuslich-familiären Tätigkeiten von Frauen hervorgehoben (vgl. Bracewell 1996, 25). Dabei wurde ihnen verstärkt die Rolle der ›aufopferungsvollen Mutter‹ zugedacht, die sich aus dem öffentlichen Leben zurückzieht, um die Familie in der wirtschaftlichen und politischen Krise zusammenzuhalten (womit Frauen auch die bezahlten Arbeitsplätze und die politische Entscheidungsfindung den Männern überlassen sollten).« (Friedrich 2012: 68)

Wie spiegeln sich solche Entwicklungen nun im Roman »Tauben fliegen auf« wider? Markiert man alle Stellen des Romans, in denen explizit auf Geschlecht Bezug genommen wird, so lassen sich m.E. drei Formen der Präsentation von Geschlechterverhältnissen bzw. der Bedeutung von Geschlecht ausmachen: • Bedeutung von Aussehen und Kleidung für doing gender. • Die ernsten Spiele der Männer: harte Arbeit, Technik und Politik als Männerangelegenheiten. • Listen der Ohnmacht als Strategien der Frauen. Diese drei Formen sollen im Folgenden anhand von Textbeispielen ­ genauer beleuchtet und eingeordnet werden.

B edeutung

von A ussehen und für doing gender

K leidung

Der gendertheoretische Ansatz des ›doing gender‹ ist bereits in den 1970er Jahren im Kontext der amerikanischen Frauenbewegung entstanden, allerdings erst 1987 das erste Mal von Candace West und Don Zimmerman publiziert worden (vgl. West/Zimmerman 1987; vgl. zur Nachzeichnung der Entwicklung des Konzepts Faulstich-Wieland 2015). Zurückgreifend auf Forschungen insbesondere von Harold Garfinkel (1967) zu Transsexualität zeigen sie auf, dass Geschlecht keine biologische Kategorie ist, die über das Verhalten von Menschen entscheidet, sondern dass die Zuordnung zu einem Geschlecht erfordert, sich dieser gemäß zu verhalten. In den alltäglichen

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­Interaktionen müssen die Einzelnen immer wieder ihre Geschlechtszugehörigkeit inszenieren, indem sie deutlich machen, dass sie sich geschlechtsadäquat verhalten. Was das heißt, ist historisch und gesellschaftlich durchaus unterschiedlich – und zudem haben Menschen immer auch die Freiheit, gegen die damit verbundenen Zumutungen zu verstoßen. Dies allerdings ist risikoreich, denn es birgt die Gefahr von Ausgrenzung – neben der ebenfalls bestehenden Möglichkeit, als besonders interessant zu gelten. Relativ leicht identifizierbare Kennzeichen für die Geschlechtszugehörigkeit bilden Kleidung, Haarstile und Accessoires. Für Frauen galt im 20. Jahrhundert noch relativ lange, dass die angemessene Bekleidung im Tragen von Röcken oder Kleidern und nicht von Hosen bestand. Neben langen Haaren bilden hohe Schuhe – bis heute, wenn man die Inszenierung z.B. von Nachrichtensprecherinnen im Fernsehen ansieht – ein wichtiges Merkmal für Weiblichkeit. Hohe Absätze stellen zudem ein Kennzeichen dar, mit dem zwischen Kindern und Erwachsenen – zwischen Mädchen und Frauen – unterschieden werden kann. Im Roman gibt es eine Stelle, in der dies explizit angesprochen wird: Als die Familie mit Janka, der bisher unbekannten Tochter von Miklós aus erster Ehe zusammentrifft, merkt Ildikó an, dass Janka schon erwachsen sei, festgemacht an ihren Schuhen mit hohen Absätzen: »Und schon von weitem sehen wir sie, wie sie da steht, in einem zitronengelben Kleid, dessen luftiger Stoff mit dem lauen Sommerwind spielt, Janka, die sich schon vergrößern darf, hohe Schuhe trägt, das ist sie, sagt Nomi« (Abonji 2014: 70).

Die Formulierung »die sich schon vergrößern darf« impliziert auch eine Bezugnahme auf Geschlechterbilder: Frauen sind im Mittel kleiner als Männer. Entscheidender als dieser statistische Unterschied ist jedoch die gesellschaftliche Norm bei der Bildung heterosexueller Paare, die erfordert, dass der Mann größer zu sein hat als die Frau. Größere Männer gelten entsprechend als »stattlicher«. Frauen können durch das Tragen von hohen Absätzen ihren Anspruch auf einen besonders »großen« Partner verdeutlichen – indem sie sich selbst »vergrößern«. Kleider spielen auch eine zentrale Rolle bei der Hochzeit von Nándor, dem Sohn von Onkel Móric, dem älteren Bruder des Vaters von Ildikó, d.h. dem Cousin von Ildikó und Nomi, zu der die Familie in die Vojvodina fährt:

Ernste Spiele und Listen der Ohnmacht

»Nomi, Mutter und ich, wir haben uns stundenlang vor Spiegeln gedreht, wir haben uns einen Nachmittag lang von zierlichen Damen beraten lassen, ob wir mit unserem Geschmack richtig liegen, und wir haben uns davon überzeugen lassen, dass man Kleider in ihrer Gesamtheit beurteilen muss, wir haben uns Kleider gekauft, damit wir bei der Hochzeit unseres Cousins von hinten genauso schön aussehen wie von vorn.« (Ebd.: 31)

Die Mühe, sich mit besonderen Kleidern zu inszenieren, verweist allerdings auf kulturelle Unterschiede: Während die gewählten Kleider für die Schweiz angemessen sind, gilt dies für die Vojvodina und den Anlass keineswegs. Die beiden Mädchen stechen mit ihren Kleidern so heraus, dass dies kein beglückendes Erlebnis wird. Ihre Kleider sind im Vergleich zum Hochzeitskleid viel zu aufwändig: »Hat wirklich jemand, da soll noch einer wissen, wer die Braut ist, gesagt?« (ebd.: 36) Entsprechend erleichternd erleben die beiden Schwestern es, als sie sich noch während der Hochzeit wieder umziehen können: »wir verlieren kein Wort darüber, wie erleichtert wir sind, als wir wieder unsere Alltagskleider tragen, eine Sommerhose und ein T-Shirt« (ebd.: 38). Diese Romanstelle verweist auf eine Verschränkung von kulturellen, sozialen und genderbezogenen Aspekten – von doing culture und doing gender: Nur die Frauen, nicht aber Miklos, der Mann, bemühten sich um Kleidung, in der sie »schön« aussehen und die extra für den Anlass erworben wurde. Der Maßstab für diese »Schönheit« allerdings war der Schweizer und nicht derjenige der Vojvodina – und man darf vermuten, dass die finanzielle Frage – was kann sich das Brautpaar leisten und was nicht – ebenfalls relevant für den Misserfolg war. Hosen sind im Alltag mittlerweile ein akzeptables Kleidungsstück für junge Mädchen. Für Jugendliche bedeuten sie aber zu der Zeit, in der Abonijis Roman spielt, offenbar in der Schweiz noch Ambivalenzen für die Inszenierung. Als die beiden Schwestern abends »in die Stadt« fahren, um sich mit anderen Jugendlichen in einem besetzen Haus zu treffen, gibt es mit ihrem Vater eine Auseinandersetzung um »falsche Freunde« und »richtiges V ­ erhalten«: »Nomi und ich, wir trinken Bier, wir schauen uns an, wie wir uns spiegeln im Zugfenster, wir sind es doch, obwohl wir ganz anders aussehen als sonst, im Mondial, wir sehen aus wie Männer, wie schmuddelige Männer, findet Vater und ereifert sich, endlos lang seine Ausführungen über seine Töchter, die die falschen Freunde hätten, falsche Freunde mit falschen Ideen!, und ich sag’s euch, wenn ihr euch so im Mondial blicken lässt … und Mutter sagt gar

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nichts, wenn sie uns so sieht, höchstens schüttelt sie den Kopf, da, wo wir hingehen, spielen die Kleider keine Rolle, sagen wir, und manchmal glauben wir uns, und manchmal wissen wir, dass wir lügen, wenn wir vor dem Spiegel stehen, schauen, ob die Handwerkerhose, die dunkelblaue, so sitzt, dass man meinen könnte, man hätte ihr doch gar nie Beachtung geschenkt – wo geht ihr denn hin, fragt Vater. An einen Ort, wo es keine Gesetze gibt, da ist alles erlaubt, alles, was einem anderen nicht weh tut, sagt Nomi oder sage ich, unsere verwaschenen, überdimensionierten Sweat-Shirts, die uns geschlechtslos machen.« (Ebd.: 133f.)

Die Kleidung symbolisiert hier zugleich eine Abkehr von starren Regeln, sie steht für einen Lebensstil, der nur durch die Verletzung anderer eingeschränkt ist, nicht aber durch die üblichen Konventionen. Zu diesen gehört auch die Inszenierung der Geschlechterdifferenz. Männliche Bekleidung erlaubt es den Mädchen, sich nicht »weiblich« präsentieren zu müssen, sondern »geschlechtslos« sein zu können. Allerdings erfordert die Inszenierung von Lässigkeit, für die hier die Handwerkerhose steht, durchaus Arbeit. Auch bleibt offen, ob die »Geschlechtslosigkeit« der Anziehsachen tatsächlich funktioniert: In den Augen des Vaters werden die Töchter zu »schmuddeligen Männern« und ihr Umgang mit den anderen bedroht das für ihn gültige Wertesystem. »Falsche Freunde« mit »falschen Ideen« zeigen sich auch in der Adäquatheit von Kleidung. Das wird an weiteren Stellen im Roman deutlich: Als Ildikó mit ihrer Schwester und anderen Jugendlichen überlegt, welche Art von Mann ihr Vater wohl akzeptieren würde – wer kein »falscher Freund« wäre, spricht sie explizit das Aussehen an: »er hat ausserdem Haare oberhalb der Lippen und kurzes Haupthaar, […] seine Kleidung ist korrekt, vor allem seine Schuhe, er war im Militär« (ebd.: 204). Bart, kurze Haare, korrekte Kleidung und angemessene Schuhe – als Mann solche, die militärische Ordnung symbolisieren – sind wichtig. Angemessenheit spielt auch eine Rolle bei der Wahl der Bekleidung während der Arbeit von Ildikó als Buffettochter im Mondial, dem Lokal, das die Eltern übernehmen konnten: »ich, die übrigens eine schwarz-weiss gestreifte Bluse trägt und einen Jupe, der mich zum Trippeln zwingt. Ich sehe mir zu, ich, die in einer notwendigen Verkleidung bereitsteht, zeige, dass ich eine geeignete Buffettochter bin.« (Ebd.: 88)

Ernste Spiele und Listen der Ohnmacht

Auch an einer weiteren Stelle denkt Ildikó über die Notwendigkeit nach, wie sie sich zu kleiden hat, um ein angemessenes »Fräulein« zu sein: »ich, die ratlos vor ihren Mondial-Kleidern steht (hübsch soll es sein, aber nicht auffällig, farbig, aber nicht grell, ich kombiniere, wähle so aus, dass ich dem allgemeinen Geschmack entspreche, das heisst oben nie zu dunkel, keinesfalls eine schwarze Bluse, im Allgemeinen oben immer heller als unten, ein schwarzer Jupe, das geht, eine schwarze Bluse niemals).« (Ebd.: 234f.)

Die Bezeichnungen »Buffettochter« und »Fräulein« verweisen sowohl auf die berufliche Tätigkeit wie auf die Tatsache, dass diese von einer Frau auszuüben ist. Die Regeln dafür, welche Kleidung angemessen ist, ergeben sich primär aus dem Geschlechterbild, nicht aus den Anforderungen der Arbeit. Ein Rock, mit dem man nur trippeln kann, ist eigentlich eher hinderlich für eine Serviererin. Die Farbkombination von Bluse und Rock darf zudem nicht dazu führen, dass die Frau zu viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Sie muss aber dennoch so gewählt werden, dass ihr Anblick »hübsch«, also angenehm für die Kunden ist. Auch nachdem es zu dem Zwischenfall im Mondial gekommen ist, der schließlich dazu führt, dass Ildikó ihre Arbeit aufgibt und die Familie verlässt – jemand hat die Herrentoilette absichtlich mit Kot beschmiert – sinniert sie darüber, wer von den Gästen so etwas tun kann: »unsere Gäste sind im Allgemeinen gepflegt gekleidet, tragen gute, saubere Schuhe und Accessoires, Schmuck, Taschen, Hunde, die zu ihrer Kleidung passen.« (Ebd.: 283)

Die Beschreibung der Gäste skizziert hier keine Genderadäquatheit, betrifft aber wie schon bei der Frage nach den richtigen oder falschen Freunden den sozialen Habitus, der auch über Kleidung inszeniert wird. Wie doing gender mit Macht zusammenhängt, lässt sich auch unter Rückgriff auf Bourdieus Analyse der männlichen Herrschaft verdeutlichen und im Roman an entsprechenden Stellen aufzeigen.

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Pierre Bourdieu hat sich für seine Ausführungen zur »männlichen Herrschaft« auf die »anthropologische Analyse eines besonderen historischen Falles« gestützt, nämlich jenen der Kabylei, da diese - in Nordafrika gelegen - »eine lebendige und paradigmatische Momentaufnahme einer männlichen Kosmogonie in actu« (Bourdieu 1997b: 91) sei. Ein solcher »Kunstgriff« sei nötig, »zur Aufdeckung der Strukturen des archaischen Unbewussten, das wir unserer Ontogenese und Phylogenese als geschlechtliche Wesen verdanken und das dazu führt, dass wir an eben dem Phänomen teilhaben, das wir ergründen wollen« (ebd.: 90). Männliche Herrschaft funktioniert vor allem als symbolische Macht, denn sie »kann ihre Wirkung nicht ohne den Beitrag derer entfalten, die ihr unterliegen und die ihr nur deshalb unterliegen, weil sie sie als solche konstruieren. […] Sie ist vielmehr der Effekt eines Vermögens, das in Form von Wahrnehmungsschemata und Dispositionen (zu bewundern, zu achten, zu lieben usf.), die für bestimmte symbolische Äußerungen der Macht empfänglich machen, dauerhaft in die Körper der Beherrschten eingeprägt ist.« (Bourdieu 2005: 74f.)

Über Sozialisationsprozesse werden vergeschlechtlichte Habitus ausgebildet, mit denen – vor allem durch die vorherrschende Geschlechtertrennung in der Kabylei – Geschlechterhierarchien aufrechterhalten werden. Den Männern werden dabei die Spiele zugeordnet, die es einzig wert sind, gespielt zu werden – Krieg, Politik, Spiele um Ehre – und welche die soziale Welt als ernste konstituieren. Bourdieu nennt dies die Ur-illusio, die den Mann erst wahrhaft zum Mann macht. Sie verpflichtet ihn zugleich, an den Spielen teilzunehmen, mit den anderen Männern zu rivalisieren, um als Mann anerkannt zu werden. »Die illusio, die für die Männlichkeit konstitutiv ist, liegt allen Formen der libido dominandi zugrunde, d.h. allen spezifischen Formen von illusio, die in den verschiedenen Feldern entstehen. Diese ursprüngliche illusio bewirkt, dass Männer (im Gegensatz zu Frauen) gesellschaftlich so bestimmt sind, dass sie sich, wie Kinder, von allen Spielen packen lassen, die ihnen gesellschaftlich zugewiesen werden und deren Form par excellence der Krieg ist.« (Bourdieu 1997a: 195f.)

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Frauen sind in diese Spiele einerseits nicht eingebunden – haben deshalb auch den »Scharfblick der Ausgeschlossenen«, andererseits sind sie in der Regel nicht frei genug, um eine Entzauberung der männlichen illusio zu betreiben. Ihre Sozialisation weist ihnen nämlich eine Stellvertreterinnenrolle zu: Während die Männer sozialisiert werden, die Spiele zu lieben, lernen die Frauen, die Männer, die sie spielen, zu lieben. »Von den Machtpositionen ausgeschlossen, sind sie darauf vorbereitet, an ihnen über die Männer, die sie innehaben, sei es der Ehemann, sei es [...] der Sohn, teilzuhaben« (ebd.: 200). Dieser Ausschluss von der direkten Teilhabe an den Machtspielen ist Privileg und Falle zugleich. Virginia Woolf – auf die Bourdieu sich bezieht – verweist darauf, dass Frauen dadurch sowohl die Ruhe gewinnen, die einem die Gleichgültigkeit gegenüber dem Spiel verschafft, wie auch die Sicherheit, die durch die Delegation an diejenigen, die an den Spielen teilnehmen, garantiert wird. Zugleich damit aber konstituiert sich Herrschaft noch einmal doppelt: Männlichkeit und männlicher Habitus vollendet sich nur im männlichen Raum, im Spiel des Wettbewerbs unter den Männern. »Anders gesagt, wirklich Ehre machen kann nur die Anerkennung, die von einem Mann (im Gegensatz zu einer Frau) gezollt wird, und zwar von einem Ehrenmann, d.h. von einem Mann, der als ein Rivale im Kampf um die Ehre akzeptiert werden kann. Die Anerkennung, auf die die Männer in den Spielen Jagd machen, hat desto größeren symbolischen Wert, je reicher derjenige, der sie zollt, selbst an symbolischem Kapital ist.« (Ebd.: 204)

Frauen sind in der Kabylei aus diesem Spiel ausgeschlossen. Sie kommen nur als Objekte, nämlich als Tauschobjekte auf dem Heiratsmarkt ins Spiel. Betrachten wir nun erneut, inwiefern sich in Abonjis Roman Stellen finden, die zeigen, wie solche alten Strukturen männlicher Herrschaft ­aufrechterhalten werden. Politik als Männersache wird an sehr vielen Stellen im Roman deutlich: Immer wieder geht es dabei um die Auseinandersetzung zwischen den Männern über den Sozialismus. Dass Politik reine Männersache sei, wird gegen Ende des Romans explizit durch Miklós Äußerungen zum Ausdruck gebracht: Die beiden im Mondial beschäftigten Frauen Dragana und Glorija sind wegen der ethnischen Zugehörigkeit während des Jugoslawienkriegs in einen Streit geraten und Miklós echauffiert sich am Abend darüber innerhalb der Familie.

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»Es ist nach zehn, als Vater zu reden anfängt, er flucht über die beiden Hühner, dass man sich ja fragen müsse, wenn zwei Hühner sich in die grosse Politik einmischten, als hätten sie eine Ahnung, eine Ahnung wie ein Süsswasserfisch vom Meer, nämlich keine! Und ich begreife erst jetzt, dass Vater von Dragana und Glorija spricht, sich nochmals darüber ereifert, dass sie es wagen konnten, so laut zu streiten, es gibt nichts Schlimmeres als zwei Hühner, die aufeinander loshacken.« (Ebd.: 226)

Fragt man nach der symbolischen Bedeutung von Hühnern – denn die beiden Frauen werden von Miklós mehrfach als »Hühner« etikettiert –, so stehen sie zum einen für den Archetyp von Mutter und Kind, symbolisch aber auch für Unterwürfigkeit, einfache Handhabbarkeit, Dummheit und Abhängigkeit (vgl. Davis 2002). Als Traumsymbol findet man im Internet noch Deutungen als »verzettelte, unorganisierte Gedanken, kleinmütige Ängste« (z.B. http://www.traumdeuter.ch/texte/4073.htm - Abruf 7.4.16). Die Verwendung der Bezeichnung »Hühner« stellt folglich die Frauen als unfähig zur Politik, wenn nicht gar zum Denken überhaupt, heraus. Sehr deutlich werden im Roman auch »Männerarbeiten« beschrieben, die Frauen nicht machen können oder müssen: So ist das Aufhängen von Lichterketten im Festzelt für die Hochzeit Männersache (vgl. ebd.: 33). Als das Auto der Koscis im Schlamm stecken geblieben ist, sind es die Männer, die es daraus schieben, während die Frauen nur zuschauen (ebd.: 113). Schließlich imaginiert Ildikó, als sie nach dem Vorfall in der Herrentoilette zunächst aus dem Mondial flieht, die Argumente ihrer Mutter, froh zu sein, nicht im Krieg leben zu müssen, denn »wahrscheinlich müsstest du sogar Männerarbeit machen, du weisst ja, was mit den Männern passiert« (ebd.: 296f.). Politik, harte Arbeit und schließlich Technik gehören zu den männlichen Domänen: So beginnt der Roman mit dem Besuch der Familie Kocsis in der Vojvodina aus Anlass der bereits oben erwähnten Hochzeit von Nándor. Sie fahren einen schokoladenbrauen Chevrolet. Der Umgang mit dem Auto weist eine Reihe von sehr geschlechterdifferenten Verhaltensweisen auf: So wird der Wagen unmittelbar nach der Ankunft zunächst von Mamika – der Mutter von Miklós und Móric und damit der Großmutter von Ildikó und Nomi – bestaunt: »Was für ein Automobil!, sagt Mamika und legt die Hände h ­ inter ihrem Rücken ineinander, dass du mit so einem Ding überhaupt fahren kannst, Miklós, siehst du überhaupt, wo’s vorne und hinten aufhört?« (Ebd.: 22) Miklós nötigt seine Mutter dann, sich auf den Beifahrersitz zu setzen und ihr den Komfort des Wagens nahezubringen:

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»In Amerika fährt jeder so ein Ding, antwortet Vater, Tatsache!, meint er, als Mamika ihn mit erhobenen Augenbrauen anschaut, kommen Sie, setzen Sie sich rein, und Vater öffnet die Tür zum Beifahrersitz, fährt über das helle Sitzleder, ist noch angenehmer, als im Bett zu schlafen, und Vater zündet sich eine Zigarette an, Mamika zögert, sagt, ich bin zu grau für so etwas Modernes, und Mutter meint, morgen sei auch noch ein Tag, aber Vater fasst Mamika schon an den Händen, hält sie sanft und sicher, als sie sich bückt, sich hineinsetzt, ihre Beine hebt, um dann auf dem breiten Leder Platz zu nehmen. Vater, der mit einem eleganten Schwung die Tür des Beifahrersitzes schliesst, und Nomi und ich, wir haben uns auf die Koffer gesetzt, wir sehen zu, wie Mamika durch die Frontscheibe blickt, zu lächeln versucht, Vater, der sich schon ans Steuerrad gesetzt hat und Mamika jetzt sicher alles erklärt, die automatische Gangschaltung, die Fenster, die auf Knopfdruck reagieren, die Klimaanlage, den Komfort, ein Wort, das Vater falsch betont, aber gern gebraucht.« (Ebd.: 22f.)

Das amerikanische Auto, mit dem die Familie ankommt, stellt eine Art Sensation dar. Dem kann sich auch die Mutter bzw. Großmutter nicht verschließen, die allerdings eher auf die unpraktischen Seiten des zu großen Wagens verweist – vielleicht aber auch ihren Sohn bewundert dafür, dass er »mit so einem Ding« fahren kann. Miklós nutzt das Auto, um sich als weltoffen zu geben – »in Amerika fährt jeder so ein Ding« – und nötigt Mamika, die Bequemlichkeiten des Autos selbst zu erfahren. Er ignoriert, dass sie sich dabei offenbar gar nicht wohl fühlt und erklärt ihr, welchen Komfort der Wagen biete, obwohl sie vermutlich nichts mit diesen Informationen anfangen kann. Dennoch bleibt sie freundlich und versucht zu lächeln, zollt ihm also auf jeden Fall Anerkennung. Der Umgang der Männer mit dem Auto wird als ganz anders wahrgenommen. So beschreibt Ildikó, was ihrer Meinung nach passieren wird, wenn sie beim Hochzeitsfest ankommen: Dort »werden sich die Männer in ihren festlichen Anzügen innerhalb kürzester Zeit um unseren Chevrolet versammeln, als wären sie gekommen, um dem Wagen die Ehre zu erweisen und nicht dem Brautpaar, wir sehen sie schon, die Männer, wie sie mit langsamen, denkwürdigen Schritten den Wagen umkreisen, sein glänzendes Metall streicheln, weil jede kleine Berührung damit Glück bringen muss, und irgendeiner, nein, nicht irgendeiner, sondern Nándor, der Bräutigam, darf dann die Kühlerhaube öffnen, die Handlung

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­vollführen, die endlich das Kernstück preisgeben wird, den Motor!, und Vater wird ihn starten, und die Männer werden sich bei laufendem Motor unterhalten, sie werden reden, reden, reden, rauchen und auf die wichtigen Einzelheiten zeigen, die es eben braucht, damit es ein Ganzes gibt, ein schönes Ganzes, das nicht nur rollt und fährt, sondern eben auch ein perfektes Fahrgefühl bietet.« (Ebd.: 23)

Die Männer – so Ildikós Konstruktion – werden sich auf die Technik stürzen und ihrer Symbolwirkung erliegen. Technik erfährt hier geradezu einen heiligen Nimbus: Die Männer nähern sich langsam, umkreisen das Auto, seine Berührung verheißt Glück. Man muss auserwählt sein, um die Motorhaube zu öffnen – dem Bräutigam kommt diese Ehre zu. Zugleich steht Miklos als Besitzer über dieser Verehrung der Technik: Er beherrscht sie, führt das Auto vor und startet den Motor. Die Frauen, so vermutet Ildikó, werden während dieser Zeit »ein bisschen abseits stehen, auf die Männer zeigen, uns im erlaubten Rahmen über die Ausdauer und Ernsthaftigkeit, mit der sich die Männer der Technik widmen, lustig machen, in diesen Momenten sind wir tatsächlich nichts anderes als blöde Hühner, die ständig gackern, um davon abzulenken, wovor es uns allen graut, dass nämlich das einmütige Schwärmen plötzlich in einen Streit ausartet, weil einer womöglich behauptet, das sozialistische System habe trotz allem seine Vorteile, wir blöde Hühner wissen, dass es einen einzigen Satz braucht, und plötzlich sehen die Hälse der Männer wüst und nackt aus: Ja ja, eine gute Idee, der Kommunismus, auf dem Papier …! Und der Kapitalismus! die Ausbeutung von Menschen durch Menschen …! Wir Plaudertaschen wissen, dass es ein winziger Sprung ist von der Technik zur Politik, von einer Faust zu einem Kiefer – und wenn die Männer ins Politische kippen, dann ist es so, wie wenn man zu kochen anfängt, und man weiß von Anfang an, aus irgendeinem Grund, dass das Essen misslingen wird, zuviel Salz, zu wenig Paprika, angebrannt, ganz egal, das Politische bringt Gift, so Mamika.« (Ebd.: 23f.)

Die Frauen – auch dies Ildikós Konstruktion von Geschlecht – werden wie Bourdieu es beschrieben hat, außerhalb des Spiels sein, aber mit dem »Scharfblick der Ausgeschlossenen« versuchen, zu verhindern, dass die ernsten Spiele der Männer in die falsche Richtung laufen. Ildikó übernimmt einerseits die

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Zuschreibung »Hühner« für die Frauen, akzeptiert damit die Sicht auf Frauen, die nichts von Politik verstünden. Andererseits weiß sie eben sehr wohl, wie wenig bei den Männern dazu gehört, statt politische Differenzen auszufechten, gewalttätig zu werden. Frauen sind zwar »Hühner« und »Plaudertaschen«, aber tatsächlich verfügen sie eben über »Scharfblick« und es gehört gerade zu ihren Aufgaben, das Spiel der Männer möglichst nicht eskalieren zu lassen. Sie bedienen sich dafür der »Listen der Ohnmacht«.

L isten der O hnmacht der F rauen

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S trategien

Claudia Honegger und Bettina Heintz haben in einem Sammelband die Entwicklung weiblicher Widerstandsformen gegen gesellschaftliche Zumutungen untersucht und diese unter das Schlagwort der »Listen der Ohnmacht« (Honegger/Heintz 1984) gestellt. Sie beschreiben damit vor allem eine Entwicklung in der historischen Frauenforschung, die einen neuen Blick auf den Alltag von Frauen geworfen hat: »Über die schimärenhafte Gestalt eines bloßen Anhängsels schieben sich Bilder von produktiven Wesen und rebellischen Weibern, die ausgiebig gekeift und gekämpft, ihre Machtbereiche verteidigt und ihre Erdenschwere lange Zeit bewahrt haben, aber auch von sanften Rebellinnen, die sich mit stiller Schläue neue Handlungsräume zu erschleichen wußten. Kurz, die Frau taucht vermehrt als handelndes Subjekt, als arbeitsames, widerspenstiges, listiges Geschöpf auf.« (Heintz/Honegger 1984: 7)

Die Widerstandsformen machen sie jedoch nicht zu »autonom handlungsfähigen Subjekten« (ebd.), sondern behalten nach wie vor die Ohnmacht in hierarchischen Verhältnissen bei, stützen folglich die Ideologie der jeweiligen Geschlechterverhältnisse. Für die Agrargesellschaften gilt dies nicht nur im 19. Jahrhundert – mit dem sich der Sammelband von Honegger und Heintz befasst –, sondern vermutlich auch für die Situation in der Vojvodina in der Zeit vor dem Jugoslawienkrieg. Männliche Vorherrschaft wird von den ­Frauen vorgeblich aufrechterhalten, während sie tatsächlich die Geschehnisse lenken.

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»Weibliche Macht in agrarischen Zusammenhängen beruht also auf Produktion und direkter Kontrolle lebensnotwendiger Ressourcen sowie auf einer indirekten Steuerung sozial relevanter Entscheidungen. Dagegen gerät die gesellschaftlich allein sichtbare und faktisch approbierte Vormacht der Männer eigentümlich ›symbolisch‹. Das soziale Prestige der Männer scheint allerdings von den Frauen selten direkt in Frage gestellt zu werden.« (Heintz/ Honegger 1984: 15)

In dem Roman zeigt sich dies vor allem an Stellen, in denen problematisches Verhalten von Männern nicht offen kritisiert wird, sondern so gelenkt wird, dass es letztlich akzeptabel oder zumindest erträglich wird. An drei Beispielen, die während der Besuche in der Vojvodina spielen, soll dies erläutert werden: Als die Familie Janka, Miklós‘ Tochter aus erster Ehe, das erste Mal besucht, wird sie an der Grenze sehr gründlich kontrolliert. Während der Begegnung mit Janka entsteht eine Situation, die problematisch wird, weil Miklós zu viel trinkt – »aber Vater muss die Unsicherheit aus seinen Augen trinken, damit sie diesen trügerischen Glanz von ›ich habe alles im Griff‹ bekommen« (Abonji 2014: 71) – und dann wieder nahe ans Politisieren kommt: »Vater, der natürlich erzählen muss, dass wir an der Grenze schikaniert worden sind, Mutter, die die in die heisse Sommerluft geschleuderten Anschuldigungen gekonnt ins Leere laufen lässt, wir haben dir ein Geschenk über die Grenze geschmuggelt, sagt Mutter und überreicht Janka ein Paket« (ebd.). Während das Verhaltensmuster des Mannes durch zu viel Alkohol und wenig reflektiertes Politisieren bestimmt wird, lenkt die Frau die Aufmerksamkeit davon weg auf den Zweck der Begegnung, die Herstellung einer Verbindung zu der bisher unbekannten Tochter, durch die Übergabe eines Geschenks – sie lässt damit das Verhalten des Mannes »ins Leere laufen« ohne es jedoch zu ändern. Sie akzeptiert die Rolle des Alkohols, mit dem Miklós sich das Gefühl der Überlegenheit beschafft, bremst ihn auch nicht explizit aus, sondern interagiert direkt mit Janka. Auch an einer anderen Stelle geht es um den zu hohen Alkoholgenuss der Männer und die Frage, wer im Haus welche Räume wie nutzen darf: Die Männer schlafen ihren Rausch in den hinteren Zimmern des Hauses aus. Dort sollen die Rolläden im Sommer immer geschlossen bleiben, was aber angesichts verbrauchter Luft beim Rauschausschlafen nicht geht, so dass Tante Icu ab und zu die Rolläden auch tagsüber hochzieht:

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»dann will sie einen schweren Schädel ärgern, ihren Piri, der so viel säuft, als wären seine Füsse immer am Verdursten, und wenn ihr Mann sich die Hand schützend vor die Augen hält, damit sein Mund umso hemmungsloser wüste Wörter speien kann, dann sagt Tante Icu gelassen, ab und zu brauchen meine Pflänzchen ein bisschen Licht, ausserdem hast du mir versprochen, den Maschendraht zu flicken, die Hühner picken mir die Blumen weg! Ja, ja, und Onkel Piri zieht sich die Decke über den Kopf, und die schmalen Füsse, die zum Vorschein kommen, erzählen nichts darüber, dass da einer liegt, der so unglaublich viel gesoffen hat.« (Ebd.: 118f.)

Icu bleibt trotz der verbalen Injurien ihres Mannes gelassen. Zugleich erinnert sie ihn an seine Pflichten, an die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, nach der er für Reparaturen zuständig ist. Wenn er diesen nicht nachkommt, dann kann sie umgekehrt ihre Arbeit – die Herstellung eines schönen Ambientes durch die Blumen z.B. nicht erledigen. Mindestens erreicht sie damit im ersten Schritt, dass die Rolläden und Fenster geöffnet werden können. Die »Listen der Ohnmacht« verhindern allerdings nicht, dass Frauen durch die Entscheidung von Männern existentiell massiv getroffen werden können. Dazu gehört u.a. die Entscheidungsmacht über das Schicksal von Töchtern bei der Wahl eines Ehepartners: Mindestens zweimal wird über Schicksale von Frauen berichtet, die mit einem Mann leben wollten, den ihre Väter nicht akzeptiert haben. Ildikós Mutter muss erleben, dass ihr V ­ ater ­intrigiert und so ihre erste Liebesbeziehung zerstört; die Cousine Csilla verlässt die Familie, um mit dem Mann ihrer Träume in großer Armut und verstoßen vom Vater zu leben. Sie wird von den Frauen heimlich besucht, während die Männer ihren Rausch ausschlafen (vgl. ebd.: 118ff.). Beide Frauen fügen sich letztlich in ihr Schicksal: »Wenn du etwas gegen den Willen deines Vaters tust, dann hast du die ganze Welt gegen dich, sagt Mutter, du musst dich mit ihm versöhnen, ihm wenigstens das Gefühl geben, dass du nichts über seinen Kopf hinweg ­e ntscheidest.« (Ebd.: 128) – »die Männer ablenken, das ist ein Handwerk, das gelernt sein will, sagt Tante Icu.« (Ebd.: 129)

Die notwendige Balance zwischen dem Durchsetzen eigener Wünsche und der zumindest vermeintlichen Aufrechterhaltung der männlichen Vorherrschaft gehört zu den Kompetenzen, über die Frauen verfügen sollen. Offener Widerstand wird von ihnen jedoch dann geleistet, wenn die Kinder bedroht

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sind. Dazu findet sich eine Geschichte, die Ildikós Mutter auf ihrem 50. Geburtstag einer Frau so erzählt, dass Ildikó sie mithören kann und die von Eifersucht und männlicher Vorherrschaft handelt. Es geht ganz offensichtlich um Ildikós Großmutter mütterlicherseits, die sie nie kennengelernt hat. Der Großvater schlug sie und war der Meinung, dass das Kind – Ildikós Mutter – nicht von ihm sei: »Und der Vater schlägt so heftig zu, dass das Kind weinend die Tür öffnet und seine Mutter es in die Arme nimmt, es streichelt und jetzt endlich etwas sagt. Du behauptest, das Mädchen sei dem Józsi wie aus dem Gesicht geschnitten, ach ja? Ich sage dir, unsere Tochter hat gar nichts vom Józsi, deine Eifersucht macht dich nicht nur blind, sondern auch vergesslich: Weisst du nicht mehr, wie früh unser Kind auf die Welt gekommen ist, hast du daran gedacht, bei deinen merkwürdigen Berechnungen? Wenn du also wirklich von dem überzeugt bist, was du sagst, dann pack du meine Sachen und stell uns auf die Strasse, jetzt, sofort! Grossmutter, die offenbar in ihrem Leben noch nie so geredet hat, so bestimmt, fast kämpferisch, ihr Mann, der daraufhin ein paar Tage verschwindet, und als er wiederkommt, öffnet er die Tür, setzt sich an den Tisch, und während Großmutter niederkniet, um ihm die Stiefel von den Beinen zu ziehen, sagt er, mach mir was zu essen, ich habe Hunger.« (Ebd.: 209)

Hier wird die Großmutter kämpferisch, als es um ihr Kind geht: Sie weist ihrem Mann nach, dass er unüberlegt und irrational handelt. Zugleich aber wirft sie ihn nicht aus dem Haus, was heutige Rechtsprechung unterstützt und ermöglicht hätte. Stattdessen verlangt sie, dass er seine Frau und Tochter auf die Straße setzen solle. Damit zwingt sie ihn zum Rückzug, weil er seiner männlichen »Beschützerrolle« nicht mehr gerecht würde, wenn er dies täte. Tatsächlich verschwindet der Mann für einige Tage, verlangt aber, als er zurück kommt sofort wieder, dass seine Frau die untergeordnete Rolle ­einnimmt und ihm Essen serviert – was sie auch tut, nachdem sie ihm zuvor die Schuhe ausgezogen hat. Die »Listen der Ohnmacht« betreffen nicht nur die ländlichen Strukturen in der Vojvodina, sondern zeigen sich auch in den Auseinandersetzungen mit dem Vater in der Schweiz, vor allem bei der Frage danach, welche Männer als Partner geduldet werden: Als Ildikó sich in Dalibor verliebt, gibt es ein Gespräch mit Freunden darüber, in dem die Rolle der Väter thematisiert wird, denn Dalibor ist

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»Serbe, der in Kroatien gelebt hat, in Dubrovnik. Also schwierig für deinen Vater, schwierig oder unmöglich, antworte ich (und wir haben schon oft scherzhaft spekuliert, wie wir die Stecknadel im Heuhaufen finden könnten, den idealen Mann, den sich unsere Väter für ihre Töchter wünschen, zuallerletzt einen Serben, sicher keinen Russen, aber auch keinen Schweizer, der ideale Mann ist ein Ungar, am allerliebsten ein vajdasági magyar, ein Vojvodiner Ungar, dem man Geschichte nicht erst erklären muss, der weiss, was es heisst, einer Minderheit anzugehören, und weil er das weiss, ist er auch ausgewandert, in die Schweiz, ein Vojvodiner Ungar, der erfolgreich ist in der Schweiz, einen richtigen Beruf hat, also nichts mit Reden oder Malen oder Musik; er hat ausserdem Haare oberhalb der Lippen und kurzes Haupthaar, zückt immer als Erster, unauffällig, das Portemonnaie, er lässt sich nie von einer Frau einladen und isst gern schweres, männliches Essen, das Gegenteil also von jenen bleichen Männern, die so viel Gemüse und Salat essen wie die Kühe Gras, seine Kleidung ist korrekt. Vor allem seine Schuhe, er war im Militär und geht sicher nie demonstrieren in einem demokratischen Land, womöglich noch am 1. Mai!), vielleicht trauen wir unseren Vätern zu wenig zu, meint Nomi, wir glauben ja ständig zu wissen, wie sie reagieren, sicher nicht grundlos, meint Attila und bittet mich zum Tanz, dagegen kann ja dein Vater nichts haben, wenn ich mit dir tanze.« (Ebd.: 204f.)

Ildikó verheimlicht lange Zeit ihre Beziehung zu Dalibor vor dem Vater, da er nicht dem Bild entspricht, dass nach Ildikós Meinung ihr Vater von ihrem Partner hat. Weder genügt er den ethnischen Anforderungen – die wohl nur durch ein Ebenbild des Vaters als Vojvodiner Migrant in der Schweiz erfüllt würden -, noch ist er beruflich erfolgreich, denn er ist arbeitslos. Es gibt keine offene Auseinandersetzung darüber, sondern ein Durchlavieren, um den Vater gar nicht erst zu provozieren. Dennoch hält Ildikó die Beziehung zu Dalibor aufrecht und verschafft sich damit einen eigenen Handlungsraum. Eine andere Stelle betrifft die Art und Weise, wie man Miklós besänftigen kann, wenn nicht alles so läuft, wie er es will. Als die Familie das Mondial eröffnet, arbeitet der Vater als Koch und bereitet ein Festmenü vor. Dabei kann er offenbar nicht einschätzen, wie viel Essen nötig ist: »wir erwarten keine Armee, sagt Mutter, als sie den größten Topf sieht, der randvoll mit Kalbshaxen gefüllt ist, die Hälfte würde vollkommen ausreichen, wir werden sehen, sagt Vater und verzieht sich beleidigt hinter seinen Topf, Vater, der erst wieder versöhnt ist, als wir ihm sagen, dass seine

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Haxe ­h ervorragend schmeckt (aber Mutter hat natürlich recht, wir werden die nächsten Abende zu Hause Haxe essen, weil Vater unter kochen die Töpfe füllen versteht, so Mutter, und es wird Monate dauern, bis Vater sich mässigt, bis Mutter ihm einigermassen das Kalkulieren beibringen kann.« (Ebd.: 59f.)

Obwohl Miklós erkennbar im Unrecht ist, agiert er beleidigt und muss versöhnt werden, was seitens der Frauen auch geleistet wird, obwohl es zugleich bedeutet, die Folgen ausbaden zu müssen: tagelang das gleiche Essen zu konsumieren. Der Prozess, mit dem der Vater so gesteuert wird, dass er sich rational verhält und zugleich nicht merkt, wie seine Frau ihn dazu bringt, dauert erfahrungsgemäß lange.

Fazit Inwieweit Ildikó und ihre Schwester sich von den in den verschiedenen Beispielen aufgezeigten hierarchischen Geschlechterverhältnissen distanzieren, bleibt weitgehend offen. Stellen der Reflexion finden sich selten. Eine bezieht sich auf die Feier zum 50. Geburtstag der Mutter, bei dem gegen Ende die Männer »Bier mit Zusatz« trinken, die Frauen beschließen, »hart zu bleiben, heute fahren wir nach Hause« (ebd.: 210), die Männer dann über Politik streiten und die Mütter unhörbar am anderen Ende des Tisches miteinander sprechen. Nomi, Aranka und Ildikó stehen am Fenster und auf Nomis Bemerkung, dass Ildikó so abwesend wirke, antwortet diese: »es komme mir so vor, wie wenn wir Stellung bezogen hätten: die Männer betrunken, politisierend am Tisch, die Mütter flüsternd geheimnisvoll am Tischrand, und wir, die Töchter, stünden hier, am Fenster, könnten das ­G anze beobachten, seien beteiligt und unbeteiligt. Ja, wir sind weder Fisch noch Vogel, sagte Aranka, oder eben beides, meinte Nomi.« (Ebd.: 211)

Da unmittelbar vorher allerdings der Streit der Männer um die Politik in Serbien beschrieben wurde und die Szene mit der Frage endet »warum sind Mutter und Vater in die Schweiz gekommen, was war der eigentliche Grund?« (ebd.), bleibt unklar, ob sich das »Stellung beziehen« eher auf die Rolle als Migrantinnen oder als Frauen bezieht – vermutlich betrifft sie beides, das zudem ja miteinander verschränkt ist.

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Nomi wird als diejenige beschrieben, die »Dinge tut, die ich nie wagen würde«, die »aus einer Laune heraus unangepasst ist« (ebd.: 225). Bereits in der Primarschule hat sie sich getraut, sich nicht an den tonangebenden Mädchen zu orientieren, sondern ihren eigenen Kopf zu haben. Sie war deshalb durchaus »umschwärmt«, konnte darüber lachen, wenn die Clique sie als »eine Bubenschmöckerin, eine, die den Jungs nachhängt« (ebd.: 226) bezeichnete. Sie bleibt denn auch einmal über Nacht weg und provoziert damit einen Wutausbruch des Vaters, der jedoch nur während ihrer Abwesenheit gegen die Mutter gerichtet wird und vorbei ist, als Nomi wieder auftaucht – auch hier also eher mit den Listen der Ohnmacht als mit einer Genderreflexion einhergeht. Die Emanzipationsbestrebungen der Töchter richten sich auf den freieren Umgang mit Männern, bei Ildikó allerdings auch auf die Wahl ihres ­Studiums. Die Teilhabe an formaler Bildung scheint immerhin schon selbstverständlich zu sein, zugleich jedoch nicht zu einem eigenständigen Leben zu führen. Nomi arbeitet im Lokal ihrer Eltern. Ildikó zieht am Schluss aus und lebt allein, jedoch ohne klar erkennbare Perspektive. »Hier in der Schweiz ist das normal, das Ausziehen, alle ziehen hier früh aus, mit sechzehn oder siebzehn, selten ist jemand älter als zwanzig, das gehört zum Erwachsenwerden, haben Nomi und ich immer wieder unseren Eltern zu erklären versucht, auf Deutsch und Ungarisch, und wir wussten beide: es würde ausbleiben, das Verständnis von Mutter und Vater, dass man unverheiratet auszieht, es vorzieht, in einem ›Loch‹ zu wohnen, wo man doch die Möglichkeit hat, an einem Ort zu leben, wo alles da ist.« (Ebd.: 309)

Ildikó emanzipiert sich von der Vorstellung, nur als verheiratete Frau die Eltern verlassen zu können, aber sie bleibt dennoch hinter den M ­ öglichkeiten, die ihr ein Studienabschluss geboten hätte, deutlich zurück. Geschlecht stellt für sie – bzw. für die Autorin des Romans – kein wirkliches Feld der ­Auseinandersetzung dar.

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L iteratur Abonij, Melinda Nadj (2014): Tauben fliegen auf: Roman, München: dtv. Bourdieu, Pierre (1997a): »Die männliche Herrschaft«, in: Irene Dölling und Beate Krais (Hg.), Ein alltägliches Spiel - Geschlechterkonstruktion in der Praxis, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 153-217. Bourdieu, Pierre (1997b): »Männliche Herrschaft revisited«, in: Feministische Studien 15, S. 88-99. Bourdieu, Pierre (2005): Die männliche Herrschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Davis, Karen (2002): Die Würde, Schönheit und Misshandlung von Hühnern: Als Symbole und in der Realität. Vortrag auf der Internationalen Konferenz »The Chicken: Its Biological, Social, Cultural, and Industrial History«. Yale University New Haven, CT, USA, Mai 2002. Online verfügbar unter www.simorgh.de/davis/davis_23-38.pdf. Faulstich-Wieland, Hannelore (2015): »Doing und Undoing Gender in der Schule«, in: Karin Bräu und Christine Schlickum (Hg.), Soziale Konstruktionen in Schule und Unterricht, Leverkusen: Budrich, S. 153-165. Friedrich, Stefanie (2012): »Mutter der Nation oder Vaterlandsverräterin? Die politische und religiöse Festschreibung einer militarisierten Frauenrolle in Serbien in den 1990er Jahren«, in: Femina Politica 1, S. 63-72. Garfinkel, Harold (1967): Studies in Ethnomethodology, New Jersey: Prentice Hall. Gršak, Marijana/Reimann, Ulrike/Franke, Kathrin (2007) (Hg.): Frauen und Frauenorganisationen im Widerstand in Kroatien, Bosnien und Serbien, Lich: Verl. Ed. Heintz, Bettina/Honegger, Claudia (1984): »Zum Strukturwandel weiblicher Widerstandsformen im 19. Jahrhundert«, in: Claudia Honegger und Bettina Heintz (Hg.), Listen der Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen, Frankfurt am Main: EVA, S. 7-68. Honegger, Claudia; Heintz, Bettina (1984) (Hg.): Listen der Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen, Frankfurt am Main: EVA. Hrkic, Aleksandra (2012): Die Emanzipation der Migrantin in Melinda Nadj Abonjis ›Tauben Fliegen Auf‹. Befreiung aus Zeit, Raum und Gesellschaft in der transkulturellen Migrationserfahrung. Unveröffentlichte Dissertation, Gent. West, Candace/Zimmerman, Don H. (1987): »Doing gender«, in: Gender & Society 1, S. 125-151.

»Ich nehme die zweite Tablette und beschließe, geheilt zu sein«. Notizen zu Wolfgang Herrndorfs Bilder deiner großen Liebe Eine adoleszenz- und bildungstheoretische Analyse Kathrin Böker / Katarina Busch / Jessica Vehse In Wolfgang Herrndorfs nachgelassenem Roman Bilder deiner großen Liebe entkommt die vierzehnjährige Isa offenbar unbemerkt aus einer psychiatrischen Einrichtung und begibt sich barfuß, alleine und ohne Geld, aber mit ihrem Tagebuch und einer Adresse auf Wanderung. Sie vagabundiert durch sich bruchstückhaft zusammensetzende Landschaften, läuft mal am Tag, mal in der Nacht, und versorgt sich mit dem, was sie findet, durch Einbruch, Betteln und bezahlte Hilfstätigkeiten. Auf ihrem Weg begegnen Isa verschiedene, teils obskur bis bedrohlich wirkende Personen, darunter ein ehemals krimineller Binnenschiffer, ein taubstummes Kind, ein wollüstiger Fernfahrer, ein toter Jäger; und auch Maik und Tschick, aus Herrndorfs vorangegangenem Roman Tschick, denen sie sich für eine Zeit anschließt. Der Weg der unerbittlich wirkenden Heldin endet schließlich auf einem Bergplateau, von dem aus sie ins Tal hinabblickt.1

1 | In dem Wissen, dass Wolfgang Herrndorf während des Fortschreitens seiner Krebserkrankung bis zu seinem Suizid an Bilder deiner großen Liebe gearbeitet hat, fällt es bei diesem Werk auf besondere Weise schwer, die Figur Isa losgelöst von der Biographie ihres Autors zu betrachten. Trotz dieser bedeutungsschweren Kulisse wird im Rahmen dieses Artikels der Versuch unternommen, die Figur Isa einzig in Hinblick auf die ihr spezifische Eigenlogik zu betrachten.

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Herrndorfs barfuß wandernde Hauptfigur Isa, die sich selbst bereits zu Beginn des Romans als ›verrückt‹ bezeichnet – eine Einschätzung, die auch ihre Umwelt überwiegend zu teilen scheint – mag zunächst als eine eher eigentümliche junge Frau erscheinen. Bemerkenswert und damit von adoleszenzund bildungstheoretischem Interesse ist Isa hingegen, da sich an ihr als eindrücklichem ›Fall‹ Charakteristika von weiblicher Adoleszenz pointiert, d.h. wie unter einem Brennglas gebündelt, abbilden lassen. In Anbetracht dessen wird im vorliegenden Artikel 2 der Versuch unternommen, die Figur Isa mit dem ihr eigenen Selbst- und Weltverhältnis als eine Figuration von weiblicher Adoleszenz zu beschreiben. Im ersten Abschnitt wird dabei die theoretische Rahmung von Adoleszenz, Bildung und der Arbeit mit literarischen Texten vorgenommen, die als Grundlage der Romananalyse dient. Im Anschluss wird die Figur Isa zunächst im Hinblick auf ihre adoleszenztypische Struktur analysiert und das ihr eigene Selbst- und Weltverhältnis dargestellt. Im Rahmen eines Ausblicks wird der Frage nachgegangen, ob sich im Verlauf der Erzählung eine Transformation von Isas Selbst- und Weltverhältnis im Sinne eines Bildungsprozesses nach Hans-Christoph Koller (2012) nachzeichnen lässt.

2 | Für konstruktive Anmerkungen zu diesem Artikel danken wir Bettina Kleiner und Gereon Wulftange.

Notizen zu Wolfgang Herrndorfs Bilder deiner großen Liebe

Theoretische R ahmung: A doleszenz , B ildungstheorie und ihre E rforschung an literarischen Texten (Weibliche) Adoleszenz 3 In Anschluss an Vera King (2013) wird Adoleszenz in modernen Gesellschaften nicht ausschließlich als ein in Hinblick auf bestimmte Altersnormen definierter Abschnitt im Lebenslauf begriffen, sondern vielmehr als ein psychosozialer Möglichkeitsraum verstanden, »der jene weitergehenden psychischen, kognitiven und sozialen Separations-, Entwicklungs- und Integrationsprozesse zulässt, die mit dem Abschied von der Kindheit und der schrittweisen Individuierung im Verhältnis zur Ursprungsfamilie, zu Herkunft und sozialen Kontexten in Zusammenhang stehen« (King 2013: 39, Herv. i.O.). Die Adoleszenz als Phase des ›nicht-länger-Kind-seins‹ und ›noch-nichtErwachsen-seins‹ vollzieht sich auf verschiedenen Ebenen4 , sodass dabei

3 | Während sich männliche und weibliche Adoleszenz nicht nur in ihren jeweiligen historischen Ausprägungen unterschieden, sondern auch gegenwärtig diverse Ausprägungen haben (King 2013: 92ff.), kann eine Ausdifferenzierung von männlicher und weiblicher Adoleszenz hier nicht geleistet werden. In Hinblick auf den Charakter Isa in Bilder deiner großen Liebe wird im Verlauf dieses Kapitels lediglich auf einige Besonderheiten der weiblichen Adoleszenz eingegangen. 4 | Diese Ebenen umfassen nach Vera King (2013: 42) sowohl das Psychische (v.a. im Hinblick auf adoleszenzspezifische Anforderungen der Verarbeitung von Trennungs- und Verlusterfahrungen wie etwa dem Ringen um veränderte Beziehungen mit den Eltern), die soziale Identität (bezogen auf die Konstruktion und Integration neuer Lebensentwürfe bezüglich des Berufs und der Generativität), das Geschlechtliche (»sofern in der Adoleszenz Geschlechterbedeutungen hergestellt und Vorstellungen von ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹ entworfen und angeeignet (oder einfach adaptiert) werden« (ebd.: 42)), das Intergenerationale (in dem Sinne, dass sich hierbei die Übernahme oder Verwerfung von ›Bisherigem‹ sowie Innovationsprozesse vollziehen) sowie die soziale Ordnung (im Hinblick auf die Weitergabe oder Veränderung sozialer Schichtung resp. Ungleichheit).

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einerseits phasenspezifische Herausforderungen und Krisen kumulieren, andererseits aber auch neue Potenziale für Individuations- und Innovationsprozesse entstehen. Als Beginn der Adoleszenz werden dabei häufig die Veränderungen des ehemals kindlichen Körpers beschrieben: Der Beginn der Geschlechtsreife und die damit einhergehenden Fragen der eigenen Geschlechtlichkeit evozieren für Adoleszente eine Wandlung in der Bedeutung und Ausgestaltung des Körperlichen; zugleich jedoch entbehrt der adoleszenzspezifische ›Rückstand des Psychischen‹ zunächst die Fähigkeit einer Verarbeitung bzw. Integration dieser neuen »›genitalen Leiblichkeit‹« (ebd.: 197). Vor diesem Hintergrund avanciert der Körper als Träger und Auslöser adoleszenter Fremdheitserfahrungen zum Austragungsort daraus resultierender Spannungen. Ein möglicher Bewältigungsversuch kann im adoleszent-destruktiven Risikoverhalten gesehen werden, der mehr oder minder ausgeprägten Realisierung oder Erprobung von Grenzsituationen. Gerahmt sind diese Prozesse zugleich von gesellschaftlich aufgeladenen Körper- bzw. Geschlechterbedeutungen und -stereotypen, wie etwa, so Vera King, die geradezu alltägliche, eindeutige und wirkmächtige Sexualisierung des weiblichen Körpers von außen (ebd.: 196), die einer Auseinandersetzung mit geschlechtsbezogenen sozialen Rollen bedarf. Vor diesem Hintergrund fungiert die Adoleszenz in kultureller bzw. gesellschaftlicher Hinsicht als Ort, in dem im Rahmen einer binären Geschlechterordnung »aus männlichen und weiblichen Kindern Männer und Frauen gemacht werden« (ebd.: 67), was mit einer Ein- oder Unterordnung in hierarchische Verhältnisse einhergehen kann (ebd.: 169). Überdies verändern sich mit der neuen Geschlechtsreife des adoleszenten Körpers die Beziehungen zwischen Kindern und Eltern; und neben dem Ringen um neue Beziehungsformen mit den Eltern findet zugleich eine Hinwendung zu außerfamilialen freundschaftlichen wie Liebesbeziehungen statt: im günstigen Fall können intergenerationale, familiale Beziehungen durch intragenerationale reziprok ergänzt, hinterfragt, verändert oder ausgebaut werden (ebd.: 129, 176ff.). In der Adoleszenz als einem ›Umarbeitungsprozess‹ bedarf es vor diesem Hintergrund einer umfassenden psychischen Arbeit an Trennungen, Abschieden und Trauer. Individuation, so schlussfolgert Vera King, »gelingt in dem Maße, wie es Adoleszente aushalten können, gerade in ein Anerkennungsvakuum einzutreten, die damit verbunden Schmerzen-, Einsamkeitsund Verlustempfindungen auszuhalten und diese Erfahrung produktiv zu wenden« (ebd.: 67f., Herv. i.O). Grundlegend dafür ist die Möglichkeitsstruk-

Notizen zu Wolfgang Herrndorfs Bilder deiner großen Liebe

tur5 der Adoleszenz, die das Experimentieren6 mit Potenzialen und Risiken ebenso gewährt wie das Infragestellen und Übertreten von Grenzen. Folgt man Vera King, ist eine generative Haltung sowohl Fluchtpunkt adoleszenter Entwicklungen als auch deren Bedingungsfaktor. Generativität beruht dabei auf der Akzeptanz von Verzicht, »wie er mit der Anerkennung von Differenz immer verbunden ist: nicht alles und nicht für immer sein zu können.« (Ebd.: 69, Herv. i.O.)7

B ildungsprozesse und ihre E rforschung an literarischen Texten Der Adoleszenz kommt vor diesem Hintergrund eine Scharnierfunktion zu: So wirkt sich die psychische Verarbeitung und Integration adoleszenter Krisen in dem Sinne auf die biographischen Entwicklungen aus, dass hier bedeutsame Weichen für Individuation gestellt werden, kehrseitig jedoch Unbewältigtes im weiteren Lebensverlauf wirksam bleibt. Die gelungene Bewältigung von Krisenhaftem in der Adoleszenz kann dabei als ­Bildungsprozess

5 | Diese Möglichkeitsräume sind nach Vera King sozial ungleich verteilt und variieren auch im Hinblick der ihnen inhärenten »Chancen-, Risiko- oder Ressourcenstruktur[en]« (ebd.: 43). 6 | Auch Peter Blos (2011: 25f.) beschreibt das Experimentieren als eine charakteristische Verhaltensweise von Adoleszenten: Nicht zuletzt die verbliebenen kindlichen Elemente führen hierbei zu den beobachtbaren, teils eigentümlichen und regressiven Verhaltensweisen, die sich mit oppositionellen, auf begehrenden und zuweilen einengenden Trieben überlagern. Ebenso geht der Individuationsprozess zumeist mit Empfindungen von Isolierung, Konfusion, Bedrohung und Dringlichkeit einher, die in Verbindung mit der Einsicht des Endes der Kindheit stehen. Denn, so Blos, indem die Kindheit zur Geschichte wird, verengt sich auch die Zukunft im Sinne von limitierten Chancen und Perspektiven. 7 | Vera King verweist hier auf Ulrich Oevermann, der treffend resümiert: »›Man kann sogar sagen, dass sich erst im Bewusstsein dieser Endlichkeit des eigenen Lebens das Subjekt als Subjekt endgültig konstituiert‹« (Oevermann in ebd.: 69).

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beschrieben werden, den Vera King im Hinblick auf das Adoleszenzspezifische typisiert: »In gewisser Weise lässt sich ein adoleszenter Bildungsprozess gerade dadurch charakterisieren, dass reflexiv die Bedingungen des eigenen Gewordenseins, die eben so und nicht anders waren, auf neue Weise betrachtet, ver- oder bearbeitet werden können und damit potenziell an determinierender Kraft verlieren. Die dezentrierende Befreiung vom Ursprung kann letztlich nur in einer reflexiven Aneignung gelingen, ebenso wie eine Erweiterung der Spielräume lediglich durch eine Anerkennung der Begrenzungen ermöglicht wird« (King 2009: 115, Herv. i.O.)

Diese Beschreibung korrespondiert mit dem Verständnis von Bildung bzw. von transformatorischen Bildungsprozessen, das Hans-Christoph Koller (1999; 2012) in der Reformulierung des Humboldt’schen Bildungsbegriffs entwickelt hat. Im Vergleich zur Theorie Wilhelm von Humboldts, der B ­ ildung etwa im Sinne einer einträchtigen, von ›innen‹ entstehenden Kräfteentfaltung verstand, charakterisiert Hans-Christoph Koller Bildung demgegenüber als krisenhaftes Entstehen, wonach bislang disponible Möglichkeiten die Verarbeitung einer Herausforderung nicht länger adäquat ermöglichen: »Formelhaft verdichtet kann man das skizzierte Konzept so zusammenfassen, dass Bildung darin verstanden wird als ein Prozess der Transformation grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses in Auseinandersetzung mit Krisenerfahrungen«8 (Koller 2017: 134, Herv. i. O.). In seine Theorie von Bildungsprozessen als Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen integriert Hans-Christoph Koller gesellschaftstheoretische Überlegungen, die Prozesse der persönlichen Entwicklung als konflikthaft, machtvoll und ambivalent beschreiben. Zugleich zielt er mit der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse darauf, den Bildungsbegriff anschlussfähig für (qualitativ-)empirische Untersuchungen zu machen und damit als zentrale 8 | Angeregt ist diese Theorie vor allem von Rainer Kokemohrs (2007) und Winfried Marotzkis (1990) Überlegungen, in welchen sie Bildungsprozesse von Lernprozessen unterscheiden: Lernprozesse umfassen dabei die Aneignung neuer Informationen, während Bildungsprozesse darüber hinaus auch eine Veränderung der Informationsverarbeitung mit sich ziehen. Bildungsprozesse sind angesichts dessen als Lernprozesse höherer Ordnung zu verstehen (Koller 2014: 133).

Notizen zu Wolfgang Herrndorfs Bilder deiner großen Liebe

Orientierungskategorie für die erziehungswissenschaftliche Reflexion zu erhalten (ebd.:10ff.). Mit Blick auf die empirische Erforschung von transformatorischen Bildungsprozessen unterstreicht Hans-Christoph Koller die Möglichkeiten der Analyse literarischer Texte, die auch in anderen Disziplinen wie der Soziologie eine gewisse Tradition besitzt (Koller 2017: 136). Eine besondere Eigenschaft literarischer Texte liegt demnach vor allem in ihrer erzählerischen Dichte, Anschaulichkeit, Detailliertheit, Differenziertheit und Multiperspektivität; sowie darin, auch missliche und konflikthafte Sujets zu thematisieren. Damit ermöglicht die Arbeit mit literarischen Texten einen Zugang zu Zusammenhängen, die der wissenschaftlichen Analyse ansonsten, wenn überhaupt, nur schwerlich zugänglich wären. Für die Bearbeitung dieser Texte schlägt Hans-Christoph Koller weiter vor, sich besonders der Literarizität des Textes zu widmen und die Aufmerksamkeit für die Rekonstruktion von Bildungsund Transformationsprozessen auf die rhetorischen Mittel und Figuren zu richten, und diese unter Zuhilfenahme von erzähltextanalytischen Mitteln zu analysieren (vgl. Koller 2017: 135ff.; Koller/Rieger-Ladich 2009: 7ff.). Der vorliegende Artikel schließt an diesen Vorschlag an. Die Adoleszenz bzw. adoleszente Bildungsprozesse eignen sich dabei als Perspektive für eine Romananalyse, da die Adoleszenzforschung nicht selten von einer »›pädagogische(n) Fremdheitsperspektive‹« (Zinnecker in Koller/Rieger-Ladich: 8) geprägt ist, wie Koller und Rieger-Ladich bemerken. Um aber die Lebenswelt und die spezifischen Sichtweisen Adoleszenter aufnehmen zu können, ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung notwendigerweise auf andere Zugänge verwiesen. Einen solchen Zugang »stellt nun die Literatur dar – und zwar insbesondere solche Texte, welche die Leiden und Freuden, die Irrungen und (Ver-)Wirrungen der Adoleszenz aus der Perspektive Heranwachsender selbst zum Thema machen« (ebd.: 8). Für die Analyse von Wolfgang Herrndorfs Bilder deiner großen Liebe wurde die von Koller vorgeschlagene Erzähltextanalyse erweitert, indem zusätzlich in Anlehnung an die Prinzipien der Objektiven Hermeneutik nach Ulrich Oevermann (1979; 1981) gearbeitet wurde. Das Selbst- und Weltverhältnis der Figur Isa als das Ergebnis einer objektiv-hermeneutischen Sequenzanalyse steht dann – in ähnlicher Weise wie bei der Arbeit mit empirischem Material (z.B. Interview-Transkripte oder Dokumente) – für einen bestimmten Typus von Selbst- und Weltverhältnis: »Nicht nur typisch auf den konkreten Fall selbst, sondern typisch in Hinsicht auf die Handlungsproblematik bzw. die Handlungskonstellation« (Wernet 2009: 19).

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I sa: A doleszenz und O hnmacht

zwischen

A llmacht

Im Verlauf dieses Abschnitts wird zunächst unter Einbeziehung des gesamten Romans die Figur Isa aus adoleszenztheoretischer Perspektive herausgearbeitet. Im Anschluss daran wird die für Isa charakteristische Strategie im Umgang mit ihrer Erfahrungswelt, d.h. das ihr eigene Selbst- und Weltverhältnis, rekonstruiert. Abschließend wird anhand einer Einzelszene zum Ende des Romans untersucht, ob sich bei Isa eine Veränderung ihrer Strategie – und damit ein (adoleszenzspezifischer) Bildungsprozess – ausmachen lässt9.

Isa als Figuration weiblicher Adoleszenz Bilder deiner großen Liebe erscheint bereits im Hinblick auf den Inhalt als auch auf die Form auffallend passförmig mit adoleszenten Prozessen. Der Roman hat einen fragmentarischen Charakter; die einzelnen Szenen in den oftmals recht kurzen Kapiteln reihen sich lose aneinander, sind meist nur wenig aufeinander bezogen und erscheinen in ihrer Reihenfolge zum Teil austauschbar. Die Handlung des Romans wirkt demzufolge in mancherlei Hinsicht zufällig; Isas Wanderung wirkt wie ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Dieser Eindruck, den der Roman erzeugt, bebildert damit zugleich auch adoleszente Prozesse insgesamt: Die Form des Romans wirkt analog zur Adoleszenz wie ein experimentelles Unterfangen mit ungewissem Ausgang, es wird ausprobiert und verworfen und mit widersprüchlichen Positionen experimentiert. Und auch die Hauptfigur Isa befindet sich mittendrin in einer offenen und experimentierenden Übergangsphase hin zu einer erwachsenen Position und Individuiertheit, deren Ausgang zu Beginn nicht absehbar ist.

9 | Herrndorf selbst hat den Roman zu Beginn seiner Arbeiten daran als „Tschick-Fortsetzung aus Isas Perspektive“ (Herrndorf 2014: 133) bezeichnet. Gerade die Tatsache, dass beide Romane aus der Hand desselben Autors stammen und sich zudem inhaltlich überschneiden, lässt einen Vergleich besonders vielversprechend erscheinen; zumal Stimmung und Verlauf der Road Novels sich so unterschiedlich darstellen. Hierauf verzichtet der Artikel in dem Versuch Isa in ihrer Eigenlogik zu betrachten. Eine bildungstheoretische Untersuchung des Tschick-Stoffs liegt von Hans-Christoph Koller (2014) vor.

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Isas adoleszenter Möglichkeitsraum scheint besonders durch ihr Alleinsein und eine Schutzlosigkeit geprägt, die sich unter anderem darüber vermittelt, dass Isa für die Wanderung, die sie unternimmt, denkbar schlecht ausgerüstet ist. Sie verlässt die Psychiatrie lediglich mit einer langen Hose und einem T-Shirt bekleidet und sie trägt keine Schuhe. Vor allem dadurch, dass sie ihre Wanderung größtenteils barfuß zurücklegt, zuweilen mit blutigen Füßen, entsteht ein Leseeindruck großer Verletzlichkeit und Ausgesetztheit, der sich wie eine Spur durch das ganze Buch zieht. Der Eindruck ihrer Schutzlosigkeit bzw. ihres Ausgeliefert-Seins scheint besonders in der Abwesenheit schützender Figuren und Beziehungen begründet zu sein. So ist Isas Welt eine auffallend beziehungslose Welt. Über Isas Eltern ist der Leser*in kaum etwas bekannt. Lediglich ihr Vater taucht in einzelnen erinnerten oder erdachten Episoden und widersprüchlichen Bemerkungen auf und es bleibt unklar, ob er noch lebt (»Als er starb, wurde ich eingeschult. Die Wahrheit ist: Ich kann mich nicht erinnern«, 17)10 . Zugleich hat der Vater dennoch eine prägnante Stellung innerhalb des Romans inne. So beschreibt die einzige auftauchende familiale Kindheitserinnerung eine Zeltübernachtung mit dem Vater (13f.) und der Vater ist auch die einzige Figur, an die sich Isa an einer Stelle des Romans innerlich wendet (»Ich muss an meinen Vater denken und wie schlecht es ihm geht und welchen Kummer ich ihm wahrscheinlich verursache, wenn das alles hier rauskommt«, 118). Beziehungen zu weiteren signifikanten Anderen außerhalb der Familie, wie etwa gleichaltrigen Freunden oder anderen Erwachsenen, werden im Roman nicht deutlich. Aus den zahlreichen Begegnungen, die Isa auf ihrer Wanderung hat – bis auf zwei Ausnahmen ausschließlich mit Jungen oder Männern – entstehen, wenn überhaupt, punktförmige Beziehungen (wie zu einem Binnenschiffer, mit dem sie auf ihrem Weg wohl die längste Zeit verbringt). Es sind Beziehungen, die zufällig und aus dem Nichts entstehen und die Zeit der Begegnung nicht überdauern11 . In den meisten Fällen haben die

10 | Sämtliche Zitate dieses Abschnittes entstammen Herrndorf (2014). 11 | Zwei fiktive Geschichten, die Isa innerhalb des Romans zum Thema Beziehung erzählt (die Rückkehr des treuen Schäferhunds, 67ff.; eine Liebesgeschichte mit einem Afghanistanheimkehrer, 26ff.), haben bedingungslose Treue und Dauerhaftigkeit als zentrales Motiv und stehen damit in deutlichem Gegensatz zu den im Roman tatsächlich fehlenden Beziehungen. Gleichzeitig zeigen beide Geschichten keine wechselseitigen emotionalen Beziehungen,

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Begegnungen mit anderen sogar einen potenziell bedrohlichen Charakter, da sie häufig sexuell aufgeladen erscheinen, was zum Teil von Isa, zum Teil von ihrem Gegenüber inszeniert oder gestärkt wird und vor allem in den intergenerationalen Begegnungen für Isa die Möglichkeit eines Entgleitens oder eines Kontrollverlustes enthält. Die Sexualisierung einer Situation gegen Isas Willen schwingt dabei nicht nur unterschwellig mit, sondern taucht in der Erzählung an einigen Stellen explizit als übergriffige Handlung ihr gegenüber auf (vgl. 10, 110ff). Isas adoleszenter Möglichkeitsraum lässt sich somit an erster Stelle durch die Abwesenheit kontinuierlicher Beziehungen charakterisieren, die eine Form von Schutz oder Zuwendung bieten könnten, und durch eine daraus resultierende Gefährdung oder Ausgesetztheit in den Begegnungen mit anderen. Isas adoleszenzspezifische Entwicklungen sind durch diese Struktur ihres Möglichkeitsraums geprägt. So scheint sich ihre konfliktreiche Auseinandersetzung mit ihrem Körper und ihrer Weiblichkeit (»Als Mädchen ist man wie behindert, man hat auf einmal einen Körper«, 29) auch aus ihrer ausgesetzten Lage in einer sexuell aufgeladenen, sie sexualisierenden Umwelt zu ergeben. In einer extremen Form scheint Isa in ihrer weiblichen adoleszenten Phase kein geschützter Raum zur Verfügung zu stehen, in welchem sie sich in einer ihr gemäßen Weise ihren veränderten Körper und ihre Geschlechtlichkeit aneignen kann. Die Bedeutung des Körpers umfasst dabei für Isa nicht nur die körperliche Entwicklung der Geschlechtsreife (»Nicht wegen dieser Blutgeschichte, sondern generell«, 29), sondern verweist zugleich auf die gierigen Blicke oder die sentimentalen Projektionen (vgl. 79ff.), die Isa nun auf sich zieht. Wie für die Adoleszenz charakteristisch, scheint sie durch ihren heranwachsenden Körper gezwungen, sich darüber auch mit dem gesellschaftlichen Bild von Weiblichkeit und der an ihr Geschlecht geknüpften sozialen Rolle auseinanderzusetzen. Einige Stellen, etwa ihr Bestehen der Mutprobe und die einhergehende Irritation der geschlechtlichen Rollenverteilung in der Peer-Group ihrer Kindheit (60ff.) oder ihre Aussagen gegenüber einem »Dr. Vollhorst«, dem sie wiederholt zu verstehen gibt, dass sie »kein Mädchen

die Beziehung wird jeweils vielmehr durch die einseitige Treue eines/r Beziehungspartners/in garantiert. Eine anerkennende, wechselseitige Beziehung ist im Roman daher in jeglicher Hinsicht abwesend, sie scheint für Isa nicht einmal imaginierbar.

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wie andere Mädchen« (29) sei, was sie auch mit den Worten ausdrückt: »Ich wollte ein Junge sein, solange ich denken kann« (29), verweisen in diesem Zusammenhang auf eine adoleszenztypische hohe Bereitschaft, Rollen- und Identitätszumutungen zurückzuweisen (vgl. King 2013: 86). Trotz der Abwesenheit von Schutzräumen erscheint Isas Auftreten hingegen weder besonders ängstlich noch verletzlich. Vielmehr wirkt Isa ausgesprochen mutig, stellenweise verwegen und waghalsig. Sie beeindruckt durch ihre Ausdauer und Eigenständigkeit. Diese Merkmale verleihen der Figur heldenhafte Züge. Insofern stehen Isas Auftreten und die erzählerische Darstellung, die eine tendenziell bedrohliche Welt entstehen lässt, in einer Diskrepanz zueinander, die darauf hinweisen könnte, dass Isa ihre Welt in adoleszenzsspezifischer Weise als weniger bedrohlich oder sich selbst als in höherem Maße unverletzlich wahrnimmt, als die Leser*in dies tut. Zusammenfassend zeigt sich, dass sich die Darstellung der Figur Isa durch adoleszenzspezifische Züge auszeichnet und sich ihre Wanderung auch als Auseinandersetzung mit adoleszenzspezifischen Herausforderungen lesen lässt. Der adoleszente Möglichkeitsraum, der Isa dafür zur Verfügung steht, ist durch das Fehlen von Beziehungen und Schutzräumen gekennzeichnet, was sich erschwerend und verschärfend auf die Bearbeitung der adoleszenten Herausforderungen auswirkt.

Allmachtsphantasien als Welt- und Selbstverhältnis Als eine konkrete Umgangsweise mit der (bedrohlichen) Welt lässt sich eine adoleszenzspezifische Strategie ausmachen, mit der Isa Situationen, in denen sie sich als ohnmächtig erleben könnte, umdeutet, und darin eine scheinbar allmächtige Position einnimmt (vgl. King 2013: 176ff.). Diese Omnipotenzphantasien, die zugleich eine Umgangsweise mit der Welt in Form einer Umdeutung, wie auch ein Verhältnis zur Welt in Form einer Allmachtsposition darstellen, sollen im Folgenden näher untersucht werden. Bereits zu Anfang des Romans stellt Isa sich als »Isabel, Herrscherin über das Universum, die Planeten und alles« (8) vor, die mit ihrem Finger die Sonne verschieben und sich selbst zum Ausbruch aus der psychiatrischen Einrichtung verhelfen kann. Auch an anderen Stellen im Roman helfen die Allmachtsvorstellungen Isa bei der Bewältigung von Situationen, in denen sie sich tendenziell als ohnmächtig erleben dürfte – wie angesichts des grenzenlosen Weltalls, das »nicht zum Aushalten« (106) ist und bei Isa »sich unendlich im Kreis«

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(106) drehende Gedanken provoziert, die sie (nach einem Schreianfall) nur »(a)uf Beschluss der Herrscherin des Universums« (106) beenden kann. In dieser Szene dient der Bezug auf eigene Allmacht Isa dazu, einen Ausweg aus der in die Verrücktheit führenden Gedankenspirale (106) und den damit einhergehenden Ohnmachts- und Angstgefühlen zu finden. Auch an anderer Stelle scheint sie sich auf diese allmächtige Weise im Umgang mit ihrer eigenen ›Verrücktheit‹ weiterhelfen zu wollen. So ›heilt‹ sie sich in einem späteren Teil des Buches nach einer unangenehmen und belästigenden Begegnung mit einem Schweinetransporter-Fahrer auf eigenen Beschluss selbst: »Ich nehme die zweite Tablette und beschließe, geheilt zu sein. Ich spüre die Heilung klar« (113). Durch den Rekurs auf eigene (All)Mächtigkeit scheint Isa inneren Widerstand gegen Gefühle von Ohnmächtigkeit mobilisieren zu können. Es gelingt ihr darüber situativ, sich von bedrängenden Empfindungen abzugrenzen und handlungsfähig zu bleiben, indem sie sich selbst Macht und Kontrolle zuschreibt. Angesichts ihrer ›Selbstheilung‹ zeigen sich jedoch bereits die Grenzen dieser Umgangsstrategie. So kann die Allmachtsfiktion, über die hier die Heilung erwirkt werden soll, zugleich als Symptom ihrer ›Verrücktheit‹ gelesen werden; sie erscheint also ungeeignet, um eben dieser zu entrinnen. Zusätzlich geht mit der Vorstellung umfassender Macht kehrseitig auch eine umfassende Verantwortung einher. Isa ist auch in dieser Hinsicht ganz auf sich allein gestellt – sie schreibt sich größte Macht zu, muss damit aber auch alles Geschehende selbst verantworten. Zugleich entheben die allmächtigen Fiktionen Isa der Realität und entfernen sie gewissermaßen von der Welt. Die Allmachtsphantasien erscheinen somit zum einen dienlich in der Bewältigung einer ungeheuren Welt, in der Isa auf sich allein gestellt ist. Zum anderen wirken sie aber auch verhindernd in dem Sinne, dass sie Isas isolierte Position tendenziell verschärfen und eine auf die Welt bezogene Auseinandersetzung erschweren (und damit die Möglichkeiten von Transformationsanlässen einengen).

Mögliche Transformation des Weltund Selbstverhältnisses Während sich die Figur Isa, was die Auseinandersetzung mit ihrem Körper und ihrer Geschlechtsidentität betrifft, mitten in einem offenen Entwicklungsprozess befindet, in dem sich Transformationen eher ankündigen und verschiedentlich erschwert oder blockiert erscheinen, findet sich gegen Ende

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des Romans eine Szene, die auf einen Transformationsprozess ihres Umgangs mit Ohnmacht und die Umdeutung in Allmacht hindeuten könnte. Im Hinblick auf diese konkrete Szene soll nun untersucht werden, ob Isas Welt- und Selbstverhältnis eine Transformation erfahren könnte. Am Ende der Erzählung befindet sich Isa auf einem Bergplateau und betrachtet, direkt am Abgrund stehend (»die Stiefelspitzen bis vor an die Abrisskante und einen Zentimeter darüber«, 127), das unter ihr liegende Tal: »Und wie ich hinunterschaue, habe ich das Gefühl, dass ich das alles kenne. Dass ich das alles schon einmal gesehen habe, die Spielzeugbäume und -autos, ich weiß nicht mehr, wo, aber ich weiß, dass ich das alles schon einmal erlebt habe, dass ich genau hier schon einmal genau so gestanden und den gleichen Gedanken gehabt habe, nämlich den Gedanken, diesen Gedanken schon einmal gehabt zu haben, und dass ich genau diesen Gedanken jetzt wieder habe, und in diesem Moment ist plötzlich klar, dass das keine Erinnerung an diesen Gedanken ist und auch keine Erinnerung an eine frühere Erinnerung und auch kein Déjà-vu, sondern dass das einfach das ist, was geschieht, dass das mein Leben ist.« (128)

Isa befindet sich in dieser Szene in Distanz zum Geschehen, sie beobachtet und scheint der Szene enthoben zu sein, blickt auf sie hinunter. Sowohl ihre erhöhte Position als auch die dazu gegensätzliche Kleinheit und Uneigenständigkeit der Welt mit ihren „Spielzeugbäume(n) und -autos“ lassen sich auf den ersten Blick als Ausdruck der beschriebenen Allmächtigkeitsvorstellung lesen. Die insgesamt unbelebte und menschenleere Welt erscheint als ihr Spielzeug, der gegenüber sie in einer machtvollen Position steht. Isa nimmt zugleich nicht an der Welt teil, ihre enthobene Position lässt sie wie aus der Welt und aus der Zeit gefallen wirken. In dieser Hinsicht schillert die Szene in gewisser Weise zwischen Macht und Ohnmacht – aus erhöhter, beobachtender Distanz blickt Isa auf das Weltgeschehen hinab, welches sie als Spielzeugszenerie kennzeichnet; zugleich bleibt sie aus diesem Geschehen, aus dem Lauf der Welt ausgeschlossen und damit auch ohne Gestaltungsmacht oder Einfluss darauf. Der sich anschließende Gedankenstrom führt in eine zirkuläre, in sich geschlossene Endlosschleife (»dass ich das alles schon einmal erlebt habe [...] den gleichen Gedanken gehabt habe, nämlich den Gedanken, diesen Gedanken schon einmal gehabt zu haben, und dass ich genau diesen Gedanken jetzt wieder habe«) aus der Isa letztendlich durch Bezug auf den konkreten,

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­jetzigen Zeitpunkt (»in diesem Moment«) und einer »plötzlich« einbrechenden Erkenntnis entkommt. Die Erkenntnis und der Ausweg aus dem kreisförmigen Gedankenstrudel besteht in der Bezugnahme oder im Zurückfallen auf das, was ist, ohne zwischengeschaltete Reflektion (»dass das einfach das ist, was geschieht«). Obgleich ihre Erkenntnis der kreisförmigen, auf sich selbst verweisenden Struktur des vorangegangenen Gedankengangs verhaftet bleibt (»das ist, was geschieht« erscheint geradezu als absolute Form der Tautologie), gelingt es Isa mit dieser Einsicht, den Gedankenkreisel zu unterbrechen und einen Bezug zur umgebenden Welt herzustellen. Damit zeichnet sich in dieser Szene ein Muster ab, welches sich von Isas sonstiger, zuvor rekonstruierter Umgangsweise unterscheidet. Sie ­rekurriert hier nicht auf eine Allmachtsvorstellung, um dem Strudel ihrer Gedanken zu entkommen. Mit dem Zurückfallen auf das »was geschieht« nimmt Isa eine auf die ›reale Welt‹ und den Augenblick bezogene, beobachtende und deskriptive Haltung ein und scheint damit der ›fiktionalen Welt‹ und ihren Vorstellungen in diesem Moment eine Absage zu erteilen. Zugleich scheint es ihr über die Beobachtung dessen, was geschieht, auch möglich zu sein, in eine reflexive Distanz zu sich selbst zu treten und ihr eigenes Leben zum Gegenstand der Betrachtung zu machen (»dass das mein Leben ist«). Wie weit trägt diese hier rekonstruierte Veränderung? Zeichnen sich hier bereits eine Transformation in Isas Selbst- und Weltverhältnis und ein adoleszenter Bildungsprozess ab? Die beschriebene Szene am Schluss des Buches lässt dafür zwei Lesarten zu. Einerseits könnte die Anerkennung der Situation, wie sie sich darstellt – ohne Flucht in eine fiktive Vorstellung darüber – dazu führen, dass Isa zu einem neuen Umgang mit sich selbst in dieser Welt findet. Erst in der Anerkennung der Situation liegt die Möglichkeit, sich mit dieser auseinanderzusetzen. Im Kontrast zu allmächtigen Phantasien, die Isa der Welt weiter entheben, bietet die Konzentration auf den Augenblick ihr die Möglichkeit, auf die realen Gegebenheiten Bezug zu nehmen. Darüber hinaus könnte die Feststellung, dass »das einfach das ist, was geschieht, dass das mein Leben ist«, von der Entwicklung einer generativen Haltung zeugen, die von einer Akzeptanz der realen Möglichkeiten, Begrenzungen und auch der eigenen ›Verrücktheit‹ gekennzeichnet ist. Andererseits, und gewissermaßen konträr dazu, scheint die Feststellung, ›mein Leben ist, was geschieht‹, kaum eigene Handlungs- oder Gestaltungsspielräume zuzulassen. Die Formulierung lässt ein Ich als potenzielles Handlungsagens mit Einfluss auf das Geschehen vermissen und provoziert ­darüber

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ein Gefühl der Ohnmächtigkeit. Entsprechend dieser Lesart besteht für Isa keine Handlungsmacht, die es ihr ermöglichen würde, eigene Wünsche und Ziele zu verfolgen und auf ihr Leben gestalterisch Einfluss zu nehmen. Im direkt anschließenden Absatz lassen sich beide Lesarten weiter mitführen, da die Spannung zwischen einer sich möglicherweise andeutenden Transformation und einer tendenziell ohnmächtigen Position in der Welt aufrechterhalten wird. »Der Abgrund zerrt an mir. Aber ich bin stärker. Ich bin nicht verrückt. … Ich bin dieselbe. Ich bin das Kind.« (128)

Angesichts einer sich als zerrender »Abgrund« darstellenden Welt kann Isa hier offenbar Widerstandskräfte mobilisieren. Die Sätze »Aber ich bin stärker. Ich bin nicht verrückt…« lesen sich geradezu wie eine Beschwörungsformel und lassen die Hoffnung zu, dass es Isa gelingt, dem Abgrund etwas entgegenzusetzen und ihre eigene Deutungshoheit zu behaupten. In den abschließenden Sätzen des Absatzes »Ich bin dieselbe. Ich bin das Kind« scheint sich zudem einerseits eine gelingende Fortschreibung ihrer eigenen Identität über Umbrüche hinweg anzudeuten. Sich über die Zeit ­hinweg als »dieselbe« zu erleben, eine Kontinuität über die eigene Biographie hinweg aufbauen und sich trotz Veränderungen als »dieselbe« empfinden zu können, deutet auf eine gelingende Integration eigener, verschiedener Anteile hin. In diesen Sätzen scheint es Isa zu gelingen, eine Brücke zu bilden zwischen kindlichem und heranwachsendem Ich, zwischen ›verrückten‹ und ›un-verrückten‹ Zuständen. Andererseits konterkariert der abschließende Satz »Ich bin das Kind« gleichzeitig diese Lesart. Die im Präsens gehaltene Selbstbeschreibung gestattet grade keine Veränderung, sondern lässt sich als Festhalten an einem vergangenen Zustand lesen, schreibt diesen bis in die Gegenwart fort. Alle in der Zwischenzeit geschehenen Entwicklungen bleiben unbeachtet, finden hier keinen Platz. Isa scheint hier das Heranwachsen auszublenden und im kindlichen Zustand verharren zu wollen. Solche Formen des Widerstands gegen die eigene Veränderung werden (beispielsweise von King 2013: 196) als durchaus charakteristisch für den Adoleszenzprozess beschrieben. Isa scheint insofern mittendrin zu stecken in den Umbrüchen des Heranwachsens und dem Ringen mit den damit verbundenen Entwicklungsprozessen. Zugleich zeichnet sich an dieser Stelle jedoch noch kein gelingender Umwandlungsprozess ab, vielmehr scheint der Prozess unterbrochen.

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Im Hinblick auf einen Transformationsprozess lässt sich festhalten, dass trotz denkbar ungünstiger Bedingungen in Bezug auf den adoleszenten Möglichkeitsraum in der Figur Isa Potenzial zu einem transformatorischen Bildungsprozess vorhanden zu sein scheint. Gleichzeitig lässt sich (bislang) nicht erkennen, inwiefern es Isa gelingt, diesen Prozess erfolgreich umzusetzen und ein neues Gleichgewicht mit sich und der Welt zu finden. So bleibt am Ende der Erzählung offen, ob die Einsicht in die Eigenart des eigenen Seins und dessen Situiertheit zu einer Akzeptanz desselben führen kann – oder ob gerade dieses eigene Sein im Gegenteil unerträglich erscheint: »Ich halte die Waffe senkrecht hoch und sehe mit offenem Mund der Kugel hinterher, sehe sie steigen, sehe sie immer kleiner und kleiner und fast unsichtbar werden […], bevor sie sich aus dem Verschwundensein wieder materialisiert und zu fallen beginnt, millimetergenau zurück in den Lauf der Waffe.« (129)

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Responsivität und Medialität in Bildungs- und Erfahrungsprozessen Andrea Sabisch Obwohl die alltagsweltliche Bedeutung von Medien spätestens seit der digitalen Zäsur offensichtlich geworden ist und Medien auch im pädagogischen Diskurs als Werkzeuge und Quellen, wie auch in den Methoden und Methodologien eine zunehmend wichtige Rolle spielen, stehen wir mit einer systematischen Diskussion darüber, wie Medien an Bildungsprozessen beteiligt sind und inwiefern Medialität bildungstheoretisch relevant werden kann, immer noch am Anfang. Mit dem vorliegenden Text versuche ich skizzenhaft einige Annäherungen an diese Fragen zu entwerfen. Mein Ausgangspunkt beginnt mit der Frage, wie Bildungsprozesse und die in ihnen sich vollziehenden Transformationen zu denken sind. Damit knüpfe ich an den Diskurs um eine transformatorische Bildungsprozesstheorie an, die ausgehend von Kokemohr die generative Dimension der Bildung hervorhebt. Kokemohr konturiert damit einen Bildungsbegriff, der sich an den Erfahrungsbegriff von Waldenfels anlehnt: »Von Bildung zu sprechen sehe ich dann als gerechtfertigt an, wenn der Prozess der Be- oder Verarbeitung subsumtionsresistenter Erfahrung eine Veränderung von Grund legenden Figuren meines je gegebenen Welt- und Selbstentwurfs einschließt.« (Kokemohr 2007: 22) Dass die Bezugnahme auf den Erfahrungsbegriff bildungstheoretisch gegenwärtig relevant sein kann, indem Bildung »als durch Grenzen konturierter Erfahrungsprozess in den Blick gebracht« wird, hat Christiane Thompson zuletzt, u.a. in Bezug auf Kokemohr, herausgearbeitet. (Thompson 2009: 69-74). In seiner Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse bezieht sich auch Hans-Christoph Koller auf die Erfahrungskonzeption von Waldenfels, wenn er beschreibt, dass Bildung »ebenfalls als ein Prozess der Erfahrung beschrieben werden [kann], aus dem ein Subjekt ›verändert

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hervorgeht‹« (Koller 2012: 9) An anderer Stelle heißt es ferner: »Transformatorische Bildungsprozesse sind mit Waldenfels als responsives Geschehen zu begreifen, das auf einen Anspruch antwortet, der vom Fremden ausgeht.« (Ebd. 86) Diese Bezüge haben dazu geführt, dass ich nach meiner intensiven Auseinandersetzung mit der Phänomenologie von Bernhard Waldenfels während der Dissertation, in der es um das Verhältnis von Erfahrungen zu (ihren) Aufzeichnungen ging (Sabisch 2007), eine Relektüre unter Einbezug der neueren Bände vorgenommen habe, um sie zur Frage der Medialität und Prozessualität der Erfahrung zu Rate zu ziehen. Im ersten Teil der folgenden Argumentation zeichne ich also die Erfahrungskonzeption von Waldenfels nach, um die Bedeutung des Medialen für transformatorische Bildungsprozesse herauszustellen. Im zweiten Teil frage ich danach, inwiefern Medialität im bildungstheoretischen Diskurs in den letzten Jahren zum Thema wurde und auf welchen Ebenen die Medialität bildungstheoretisch relevant werden kann oder weiterentwickelt werden sollte.

E rfahrung

und

Fremderfahrung

Eine Phänomenologie der Erfahrung steht dem Problem gegenüber, dass Erfahrung als prozessuale Bewegung zu denken und zu beschreiben ist, d.h. vom Verb ›erfahren‹ her (vgl. Waldenfels/Mersch 2015: 173). Während das Nomen Erfahrung dem Prozess eine nachträgliche Kontur gibt, die der Prozessualität des Erfahrens selbst nicht gerecht wird, deutet das Verb erfahren darauf hin, dass jede Erfahrung mit vorgängigen Erfahrungen und Ordnungen zu tun hat und ebenso mit zukünftigen. Sie kann Spuren der Wiederholung oder des Erinnerns aufweisen oder Übergehen in ein Werden. Die Notwendigkeit und gleichzeitige Schwierigkeit dieses Werden zu denken und allererst ein Vokabular dafür zu entwerfen, hat jüngst Olaf Sanders als Aufgabe der Bildungsphilosophie betont.1 In der responsiven Erfahrungskonzeption nach Waldenfels sehe ich eine Möglichkeit, dieses Werden nicht länger als Entwicklung, sondern als vom Ereignis ausgehendes Antwortgeschehen zu begreifen (vgl. Waldenfels 2008: 67-81). 1 | »Um ›Werden‹ zu denken, fehlt uns ein wissenschaftliches Vokabular oder Sprachspiel. Ein derartiges Vokabular oder Sprachspiel hervorzubringen, lässt sich als Aufgabe für Bildungsphilosophie festhalten.« (Sanders 2013: 89)

Responsivität und Medialität in Bildungs- und Erfahrungsprozessen

Aber gerade diese zeitliche Enthobenheit, die wir immer nur nachträglich ansatzweise ein- und wiederholen können, kann nicht mehr in einer Zeitschiene und schon gar nicht als lineare Schiene gedacht werden. Sie stellt kein kontinuierliches, konstantes Geschehen im Sinne einer alten Entwicklungslogik dar (Waldenfels 2015: 147), wie es in pädagogischen Kontexten und in Bildungsplänen immer wieder suggeriert wird und wie es auch mit dem Begriff der Krise als Durchgangsstadium einer nur vermeintlich durchgehenden, gerichteten oder gar teleologischen Ordnung immer wieder aufgerufen wird.2 Mit dem Phänomenologen Bernhard Waldenfels ist Erfahrung vielmehr als brüchiges Geschehen zu denken, das sich stets selbst entgleitet und ausgehend vom Ereignis betrachtet wird. Um zunächst einmal das Spektrum zu erfassen, in dem sich dieser Erfahrungsbegriff bewegt, unterscheidet Waldenfels eine »schwache Variante« der Erfahrung, die lediglich »unsere Vorannahmen und Vorentwürfe bestätigen oder entkräften« und eine »starke Variante«, die hervorhebt, dass »wir Erfahrungen machen und durchmachen, die uns und unsere Welt verändern«, die also über unsere Erwartungen hinausgehen (Waldenfels 2002: 30). Insofern aktualisiert sich die Erfahrung zwischen den Polen der »Gewöhnung und Überraschung« (ebd.), das heißt zwischen der Wiederholung bis hin zur Fixierung in »Klischees und Stereotypen« einerseits und den »Störungen, Verwirrungen und Erfahrungsschocks« andererseits (ebd.: 30-31). Während die »Schwächung der Erfahrung«, die »man positiv als Habitualisierung, als Normalisierung und schließlich als Programmierung verstehen kann« (ebd.: 31) darin besteht, die Erfahrung einzupassen in bestehende Ordnungen, zeichnen sich »starke Erfahrungskonzeptionen« dadurch aus, dass sie »ihrer selbst nicht Herr wird« (Waldenfels 2012: 9) und stattdessen dem Fremden, »der Überraschung und so auch dem produktiven Zufall ein relativ großes Gewicht einräumen bei der Strukturierung und Umstrukturierung der Wirklichkeit.« (Waldenfels 2002: 30-31). Diese beiden Pole von Erfahrungen sind jeweils gebunden an jemanden, der sie erfährt und »gemessen an einem bestimmten Normalitätspegel« (Waldenfels 2010: 286). Wie die Überraschung setzt auch das Fremde einen bestimmten Erwartungsstand und bestimmte Bezugsgrößen voraus (vgl. ebd.: 287). 2 | Vgl. zur Kritik am Krisenbegriff bei Waldenfels das Kapitel: Antwortlogik statt Entwicklungslogik. Zur Frage nach Krise und Dynamik in der Kultur. Waldenfels (2008), S. 67-81.

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Analog zu dieser Erfahrungskonzeption unterscheidet Waldenfels auch bei der Fremderfahrung zwischen einer relativen Fremdheit, in der das Fremde im Rahmen einer bestehenden Ordnung in Vertrautes überführt und angeeignet wird, es also nur vorübergehend als fremd erfahren wird und einer radikalen Fremdheit, in der ein »Stachel des Fremden« erhalten bleibt: »Die Fremdheit, die aus der Abweichung von einem Hintergrund des Vertrauten erwächst, steigert sich ins Abgründige und Untergründige, wenn wir in eine Welt eintauchen, die nicht nur von der vertrauten Welt verschieden ist, sondern einer anderen Logik gehorcht. Dies gilt für die Welt des Traums, des Rausches, des Wahns« etc. (Vgl. ebd.) Wie ich mit der anderen Logik oder anderen Ordnung bereits angedeutet habe, ist sie jedoch nach Waldenfels nicht als symmetrisches Ineinander von Eigenem und Fremden zu begreifen, das eine gemeinsame Grundlage voraussetzte, sondern als genuine Asymmetrie. (Vgl. Waldenfels 2002: 222-233) Um diese Asymmetrie besser zu verstehen, werde ich im Folgenden die paradoxale Struktur und Erscheinungsweise der Erfahrung genauer erläutern.

Z wischen Pathos

und

R esponse

Die paradoxale Struktur der Erfahrung, die Waldenfels bereits seit 1994 in seinem Buch Antwortregister mit dem Begriff der Responsivität entfaltet hat und die er 2002 in Bruchlinien der Erfahrung hinsichtlich einer Neugewichtung der pathischen Dimension einerseits und dem leiblichen und sinnlichen Antworten andererseits erweiterte (vgl. ebd.: 11), kann ich an dieser Stelle nur verkürzend wachrufen. Ausführlich habe ich die Erfahrungsphilosophie hinsichtlich einer responsiven Kunstpädagogik und einer responsiven Forschungspraxis dargelegt (vgl. Sabisch 2007 und 2009). Erfahrung wird hier modelliert als Wechselverhältnis von Widerfahrnis (Pathos) und Antwort (Response), die durch einen Bruch (Diastase) voneinander getrennt und verschoben werden. Unter Widerfahrnis und Pathos versteht Waldenfels, »daß uns etwas zustößt, zufällt, auffällt oder einfällt, daß uns trifft, glückt und auch verletzt« (Waldenfels 2015: 20) aber etwas, das wir nicht beobachten können, sondern dass sich nur »aus der Teilnehmerperspektive [erschließen]« lässt (ebd.: 21). Das Widerfahrnis tritt immer als starke Variante der Erfahrung auf, die sich dadurch auszeichnet, dass es eine »Fremdheitsschwelle« überschreitet, dass es nicht im Eigenen beginnt und dass wir es nicht in der Hand haben (vgl. ebd.). Das zeigt sich auch an der

Responsivität und Medialität in Bildungs- und Erfahrungsprozessen

grammatischen Form, denn »Verben wie ›widerfahren‹, ›auffallen‹ oder ›einfallen‹ [lassen sich, AS] nicht im Aktiv verwenden; sie sind nicht als Akte zu verstehen, die wir uns als eigene Leistung zurechnen« können (ebd.). Wenn ich bisher behauptet habe, dass die Erfahrung im Widerfahrnis an jemanden gebunden ist, der sie erfährt, so muss ich mit Waldenfels nun ergänzend hinzufügen, dass zwar »durchaus jemand beteiligt ist, nur eben nicht im Nominativ des Autors, sondern im Dativ oder Akkusativ eines im weiteren Sinne zu verstehenden Patienten: ›Mir stößt etwas zu‹, ›Mich hat etwas getroffen‹« (ebd.). Das Subjekt erfährt sich als dezentriertes. Was die Intensität des Pathos jeweils ausmacht, wird »gemessen an unserer Störanfälligkeit und unseren Abwehrmöglichkeiten« (Waldenfels 2002: 33). Die Beispiele, die sich hier anführen lassen, reichen von banalen Alltagserfahrungen bis hin zu pathologischen Erfahrungen, wie etwa traumatischen Verletzungen und Schockerlebnissen. Im Widerfahrnis »taucht etwas auf, bevor es als etwas aufgefaßt, verstanden oder abgewehrt wird. Die Störerfahrung ist aber nicht zu verwechseln mit der nachträglichen Deutung als Störung und entsprechenden Abwehrmaßnahmen, mit denen wir unsere Fassung zurückgewinnen« (ebd). Widerfahrnisse bleiben in jedem Falle unbewusst (ebd.: 193). Sie überkommen uns. Sie sind Vorgänge in der Zeit, die wir immer nur im Nachhinein berücksichtigen können. Gleichwohl zeitigen sie eine starke Wirkung, indem wir das, wovon wir getroffen sind, umwandeln in das, worauf wir antworten. Aber wie vollzieht sich diese Umwandlung von einem Patienten zum Respondenten? Und wie ist der Übergang, das Dazwischen zu denken? »Antworten im Sinne der Response« ist nach Waldenfels »nie etwas, was für sich geschieht« (Waldenfels 1994: 324). Stattdessen knüpft das Antworten an etwas an, von dem wir angezogen, bewegt, getroffen oder gerührt, kurz: affiziert werden. Während antworten im engeren Sinne (to answer) bedeutet, eine Frage zu beantworten und damit Leerstellen versuchsweise auszufüllen oder eine Entscheidungslücke zu schließen (ebd.: 191) und somit insgesamt auf die Erfüllung einer Wissenslücke zielt (Waldenfels 2000: 365), geht »das Geben der Antwort [..., AS] nicht auf in der gegebenen Antwort« (Waldenfels 1994: 192). Indessen besagt das Antworten im weiteren Sinne (to respond), »daß ich überhaupt auf fremde Ansprüche eingehe, ganz gleich, was ich im einzelnen von mir gebe«; dazu gehört auch die Möglichkeit der »Antwortverweigerung« (Waldenfels 2000: 366). Das Antworten ist unausweichlich, wir können in Anlehnung an Watzlawick nicht nicht antworten. Aber das heißt nicht, dass »da ein Subjekt zugrunde liegt, das etwas erleidet und etwas

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a­ ntwortet; es bedeutet vielmehr, daß wir zu dem Subjekt werden, das wir sind, indem wir auf Einwirkungen antworten« (Waldenfels 2015: 82), Auto- und Heterogenese greifen ineinander. Diese »weite Form des Antwortens« ist allerdings nicht »auf die Sprache beschränkt, sie kann auch in einem Wegsehen oder im Weghören bestehen« (Waldenfels 2000: 366). Sie wird bei Waldenfels als leibliches Antworten konzipiert als »ein Grundzug allen menschlichen Verhaltens und Schaffens« (Sternagel 2016: 38). Das Antworten auf einen »fremden Anspruch« besagt nach Waldenfels, dass Appell und Ansprucherheben sich überlagern, »sofern in der Art und Weise, wie mich jemand anspricht, bereits ein Anspruch auf Antwort liegt« (Waldenfels 2000: 366). Indem Waldenfels das Antworten vom persönlichen Getroffensein her denkt, schimmert die »pathische Färbung« hindurch (Waldenfels 2002: 60). So, »wie ich jemanden nur dann vermisse, wenn seine Abwesenheit mich schmerzt«, zeigt sich das Fremde, indem es sich entzieht (Waldenfels 2012: 114). Wie ist dieser Entzug zu denken? »Der Entzug, von dem häufig die Rede ist, darf nicht mit einem subjektiven Mangel verwechselt werden, der einem Ganzheitsstreben verhaftet bleibt. Es geht nicht lediglich darum, daß mir etwas fehlt, sondern darum, daß ich mir selbst im Entzug des Anderen entzogen bin. Indem ich sehe, daß du mich siehst, sehe ich mich, wie ich mich selbst nicht sehen kann. Auf indirekte Weise sehe ich, was ich nicht sehen kann. Sehen und Gesehen werden, Gesehenes, Begehren und Begehrtwerden und Begehrtes kommen nicht zur Deckung. Diese Fremdheit, mit der ich mich selbst im Anderen verdopple, und die mich außer meiner selbst geraten läßt, bezeichne ich einerseits als dublikative, andererseits als ekstatische Fremdheit.« (Waldenfels 2015: 61)

Dieser Entzug und die Selbstverdopplung über einen Dritten, aktualisieren sich jedoch nicht auf der Folie einer gemeinsamen Ordnung. Vielmehr setzt die Konzeption einer radikalen Fremdheit eine »Kontingenz der Erfahrungsordnung« voraus sowie eine immer wieder neu zu erfahrende Begrenzung der Ordnung (Waldenfels 1999: 111): »So hat sich die Fremdheitskonzeption von begrenzten Ordnungen her entfaltet. Das Außerordentliche als Unruhe, als ein nicht normalisiertes Moment, unbenennbar. Unruhe wäre, was einen auf unerwartete Weise überrascht. Was ich dann als Antwort ins Auge fasse, besagt, daß das Reden und Handeln woanders beginnt, selbst wenn es sich in Ordnungen bewegt.

Responsivität und Medialität in Bildungs- und Erfahrungsprozessen

Das, wovon die Antwort ausgeht, paßt nicht in die Ordnung hinein. Hier liegt also die Differenz zum Zwischenreich des Dialogs: das Fremde ist nichts mehr, worüber wir uns unterhalten und einigen können, es gibt keine Symmetrie zwischen Eigenem und Fremdem.« (Gehring/Fischer 1999: 434)

Erfahrung ist also etwas, das sich als Doppelereignis von Pathos und Response ereignet. Beide bleiben aufeinander bezogen, werden aber dennoch durch einen Bruch (Diastase) voneinander getrennt. Passend zur generativen Dimension der Erfahrung, tritt auch der Begriff Diastase als »Verbalsubstantiv« auf; er bedeutet »Auseinanderstehen« und beschreibt den brüchigen und zugleich dynamischen Übergang, der ein erleidendes von einem antwortenden Selbst trennt. Entscheidend ist nun, dass die Diastase erneut nichts Vorhandenes auseinander treten lässt, sondern eher ein komplexes Differenzierungsgeschehen in Gang setzt und eine zeiträumliche Verschiebung herbeiführt, »in dem das, was unterschieden wird, erst entsteht« (Waldenfels 2002: 174). Diese Verschiebung von Raum und Zeit, Selbst und Anderen, Eigenem und Fremden, bringt eine ursprüngliche Nachträglichkeit des Antwortens mit sich: »Erst im Antworten auf das, wovon wir getroffen sind, tritt das, was uns trifft, als solches zutage« (ebd.: 59) Das Fremde konstituiert sich als Fremdes, als eine Art Überschuss, »indem wir darauf antworten«, es erweist sich damit als das »Unvorstellbare und Undarstellbare in allen Vorstellungen und Darstellungen«, vergleichbar mit dem sogenannten »Paradox des Ausdrucks« (Waldenfels 1999: 150). Ebenso wie das Fremde als etwas zu denken ist, was »anderswo« beginnt, ist »eine Darstellung, die Fremdes zur Darstellung bringt nur denkbar als indirekte Rede« (ebd.: 151). Das Indirekte kann nur über Substitute und Symptome erfasst werden, wie Waldenfels an anderer Stelle ausführt. Als Beispiel führt er die Psychoanalyse an, die »ein indirektes Verfahren par excellence [darstellt], das nicht nur der Entzifferung eines verborgenen Sinnes dient, sondern sich um die Durchbrechung einer Antwortblockade bemüht« (Waldenfels 2012: 182). Aber wenn das Indirekte vom Prozess des Antwortens her ansetzt, stellt sich mir die Frage, wie der Wirkungszusammenhang zwischen Pathos und Response, d.h. der Umwandlungsprozess vom Patienten in einen Respondenten zu denken ist und welche Rolle dabei die Medialität spielt.

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R esponsive »A rbeit

der

E rfahrung«

Die Frage, »wie aus dem Ereignis des Widerfahrens oder Erleidens [...] ein bestimmter Affekt [...] und wie aus dem Ereignis des Antwortens (responding) eine bestimmte Antwort (answer) hervor[geht]« (Waldenfels 2015: 262), lässt sich nach Waldenfels – analog zu »Hegels Arbeit des Begriffs und Freuds Trauerarbeit« – als »Arbeit der Erfahrung« beschreiben (ebd.). Diese Arbeit sei zu verstehen als »eine Art Laboratorium, worin neue Erfahrungen gemacht und erprobt werden und nicht nur Vergangenes aufgearbeitet wird wie eine verpaßte Lektion« (ebd.: 263). Sie hebt an mit dem Widerfahrnis und durchläuft verschiedene Ereignisse der Differenzierungen, von denen ich im Folgenden die für meine Frage relevantesten auswähle. Ich beginne mit der minimalen Grundannahme der Phänomenologie und der Hermeneutik, dass etwas als etwas erscheint. Aber ebenso wie das Eigene und Fremde, das Subjekt und Andere, das Ordentliche und Außerordentliche, Zeit und Raum sich in der Diastase erst herausbilden, ist auch das etwas bei der radikalen Erfahrung nicht als etwas Vorhandenes zu verstehen, das schon da ist, vielmehr betont Waldenfels mit einer originären Formbildung das Werden, »das etwas zu etwas wird, indem es als solches aufgefaßt wird« (ebd.: 268). Gibt die signifikative Differenz dem Prozess des Bedeutens ihr Gepräge, indem sie eine Unterscheidung markiert, zwischen dem, was wir sagen und tun, und der Art und Weise, wie wir es tun (Waldenfels 2008: 65-66), die sich auch als »originäre Verschiebung oder Versetzung« deuten lässt (Waldenfels 2002: 30), so »entspringt das Begehren einer appetitiven Differenz«, wenn »etwas in etwas erstrebt oder gemieden wird« (Waldenfels 2015: 268). Beide Differenzen bilden zudem einen gebrochenen Zusammenhang, »Auffassenals-etwas und Begehren in etwas gehen ineinander über; Begehrenswertes erhält Bedeutung, Bedeutsames wird affektiv aufgeladen« (ebd.: 269). Im dynamischen Prozess des Antwortens bildet sich »das Bedeutsame, das als etwas Gestalt annimmt, und das Begehrenswerte, das in etwas seine Wirkung entfaltet«; ihren Halt finden sie, indem sie »sich schließlich in medialen Zwischendingen [verkörpern]« (ebd.: 274). Dementsprechend besteht die mediale Differenz darin, dass etwas durch (dia, per) (Waldenfels 2004: 127) etwas hindurch erscheint (Waldenfels 2015: 279) und die soziale Differenz darin, dass sich etwas mit (cum) Anderen zeigt (vgl. ebd.: 264). Schließlich verbindet und scheidet die responsive Differenz das Antwortereignis vom Antwortgehalt. Das, worauf wir antworten ist zwar bezogen auf

Responsivität und Medialität in Bildungs- und Erfahrungsprozessen

das, was wir antworten, zugleich wird es jedoch im Antwortereignis davon getrennt. Der Anspruch des Fremden ist ein Worauf, das unserer »Antwortlichkeit des Verhaltens zuvorkommt« (Waldenfels 2000: 368). Es entzieht sich der Einbildungskraft und »steht nicht zur Wahl« (Waldenfels 2015: 286). Diese Differenz ist jedoch »weder ontologisch noch hermeneutisch angelegt, sondern entspringt dem Erfahrungsvollzug. Sie prägt nicht nur das Bedeuten und Begehren des Einzelnen, sondern auch die Gemeinsamkeit unserer durch Bedeuten und Begehren artikulierten Erfahrung« (ebd.: 270). Entscheidend für die Konzeption der Responsivität bei Waldenfels ist nun, »daß der Anspruch jenseits dieser Differenzen auftritt«; was besagt, dass er nicht nachträglich hinzu kommt, sondern immer schon im Antworten enthalten ist und unserer Initiative vorauseilt. (Gehring/Fischer 1999: 448). Damit verlagert Waldenfels die Gewichtung der Fremderfahrung innerhalb des Erfahrungsprozesses zugunsten des Pathischen. Das Intentionale wird so »kontrapunktiert durch das Affektive«, was Voraussetzung ist für die Ermöglichung eines kreativen Antwortens und die Entstehung des Neuen, wie auch der neuartigen Ordnung, indem es »zwar Sinn provoziert, aber nicht selbst produziert« (Waldenfels 2015: 75). Das Konzept der Responsivität geht insofern über die Intentionalität und die Kommunikativität als Grundzüge des Verhaltens hinaus, als es nicht einfach als drittes Moment hinzukomme, sondern eine Gewichtsverlagerung des Verhaltens insgesamt anzeige (vgl. Waldenfels 2000: 369). Legt man die responsive Verschiebung zum Affektiven auch für eine Bildungstheorie zugrunde, stellt sich die Frage, wie eine Arbeit an der Erfahrung aussehen kann, die auch als Umgang mit deren affektiven und attentionalen Widerständen zu denken ist.3 Dass dabei die psychoanalytische Dimension eine große Rolle spielt, hat Karl-Josef Pazzini und die von ihm initiierte Hamburger Forschungsgruppe, u.a. über das Phänomen der Übertragung, immer wieder thematisiert (u.a. Pazzini 2015). Gereon Wulftange, der ebenfalls in diesem Kontext wirkt, hat die Verschiebung des Pathischen exemplarisch am Thema der Angst für die Bildungstheorie entwickelt (Wulftange 2016). Aber

3 | Um die Rehabilitierung des Affektiven und der Passivität geht es auch in der folgenden kulturwissenschaftlichen Arbeit, die sich an Waldenfels anlehnt (vgl. Busch/Därmann 2009).

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wie sind die Transformationsprozesse, auf die eine transformatorische Bildungstheorie ja ebenfalls Bezug nimmt4 , bei Waldenfels zu denken?

Transformationsprozesse Die Frage, wie »der Übergang vom Worauf zum Was und zum Wie des Antwortens zu denken« ist, beantwortet Waldenfels, indem er sich auf das Präfix ›Um‹, ›Meta‹ oder ›Trans‹ bezieht und diesen Prozess als Umwandlung beschreibt: »Transformation bedeutet also Formung im Übergang, die entstehende Form ist transitorisch. Insofern ist die responsive Phänomenologie zugleich als transformative Phänomenologie zu verstehen« (Waldenfels 2015: 267-268). Aber wenn die »entstehende Form« als transitorische zu denken ist, wie kann man sich dann ein Werden vorstellen? Wie ich bereits mit den Differenzen angedeutet habe, denkt Waldenfels die werdende Erfahrung weder als eine Entwicklungslinie oder ein stetiges Wachsen, indem das Neue schon in Ansätzen vorhanden wäre, noch als radikal vom Alten Getrenntes, sondern als »Ereignisfolge, die ihre eigenen Bedingungen mit entstehen lässt. [...] In diesem Geschehen vollzieht sich das, was wir in moderner Diktion als Sinn-, Gestalt- oder Strukturbildung, andererseits als Selbstbildung bezeichnen« (ebd.: 263). Dieser Übergang sei als Zone des Zwischenreichs, als Schwellenerfahrung zu begreifen, die symptomatische Bedeutung erhalten oder aber Ersatzbildungen, wie Symptome und Substitute hervorbringen könne (vgl. ebd.: 227). Als Zwischeninstanzen dieser Transformationen seien u.a. Übergangsorte (Wartezonen, Reiseorte), Übergangszeiten (Halbschlaf), Übergangsrituale, Übergangsfiguren (Übersetzer), Übergangsobjekte und -instanzen zu unterscheiden (vgl. ebd.: 221-225). Laut Waldenfels habe auch Freud – im Sinne der Arbeit an der Erfahrung, in der er Momente wie »Verdichtung, Verschiebung oder Verdrängung« beschrieb – solche Schwellen vorausgesetzt. Aber woraus speist sich diese »Formung im Übergang«? Meine These ist, dass das kreative Antworten bei Waldenfels konstitutiv an die Medialität als Zwischeninstanz gekoppelt ist. Das pathische

4 |  Nach Kokemohr geht der Transformationsbegriff der Hamburger Bildungstheorie auf Marotzki zurück (vgl. Kokemohr 2014a: 20).

Responsivität und Medialität in Bildungs- und Erfahrungsprozessen

­ eschehen, das untrennbar mit der Aufmerksamkeit assoziiert ist, ist nach G Waldenfels »immer auch medial gebunden« (Waldenfels 2004: 129). Während eine Sprachlosigkeit im Medium der Sprache zur Grenze des Ausdrucks wird, stellt die Blendung im Medium des Lichts und deren technischen Aufzeichnungsweisen (Fotographie, Videographie etc). eine Grenze des Sehens im Medium der Bildlichkeit dar. Es macht einen Unterschied, ob ich jemanden von einer Verletzung des Auges erzählen höre oder ob ich inmitten eines Sehprozesses im Kino den Schnitt durch das Auge im Film Ein andalusischer Hund Buñuels und Dalís visuell erfahre. Insofern gehören die Medien genuin mit zur Modalisierung der Erfahrung (ebd.: 127). Sie spielen in andere Modi leiblicher, ästhetischer, hyperbolischer und sozialer Erfahrung hinein, denen Waldenfels in den letzten Jahren je eigene Bände widmete. Die Medien verweisen auf unseren Leib aber sie sind mehr als Prothesen; sie sind an die Sinne gekoppelt und erscheinen stets nur indirekt, durch etwas hindurch (dia, per) (Waldenfels 2015: 279). Mit den Begriffen der originären Medialität oder der originären Repräsentanz betont Waldenfels im Anschluss an Derrida, dass Medien an der »Ermöglichung von Erfahrung beteiligt« sind und nicht nur »der Wiedergabe und Weitergabe vorgegebener Erfahrungsgehalte dienen« (Waldenfels 2004: 128), sondern außerdem bereits unsere Aufmerksamkeit lenken, die »immer auch medial gebunden ist« (ebd.) und mehr noch: als Zwischeninstanzen die dynamische Ordnungsbildung bahnen. Eine Phänomenologie begnüge sich nicht darin, beim »direkten Augenschein und an der Oberfläche der Erfahrung« zu verweilen, sondern stehe vor der Aufgabe, »Verborgenes aufzuweisen«, was sich nach Husserl »zunächst und zumeist gerade nicht zeigt« und doch die Erfahrung grundiere (Waldenfels 2015: 279). Genau an dieser Stelle setzt m.E. eine mediale Phänomenologie ein, die das Zeigen nicht länger ausschließlich in Zeichenprozesse oder rhetorische Figuren verlagert, sondern von einem Sich-Zeigen durch spezifische Medien (Bild, Film etc.) und dessen praktischen Umgang damit ausgeht. Radikale Erfahrung ermöglicht auch radikale Umbrüche und Transformation und stellt sich demnach »als ein Übergang dar, in dem verarbeitet und ausgearbeitet wird, was sich einzig im Medium der Verarbeitung und Ausarbeitung fassen lässt« (ebd.: 262). Die Medialität wird nicht allein aber durchaus essentiell zur überbrückenden und doch brüchigen Zwischeninstanz der Transformationen, die nicht nur Neues hervorbringt, sondern auch »Neuartiges, das die Ordnung der Dinge verändert« (ebd.: 282). Im Prozess des Erfahrens wird die Medialität zum dynamischen Scharnier zwischen einer kreativen Responsivität und einer responsiven Kreativität.

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M edialität

und

E rfahrung

Die Frage, inwiefern Literatur für Erziehungswissenschaft bereichernd wirkt, stellt sich von hier aus, denn Literatur ist an eine spezifische Medialität gebunden, durch die hindurch etwas anders gesagt und gezeigt werden kann, als dies z.B. durch Bilder geschieht. Dabei wird je nach Medialität nicht nur anderes zum Thema, es wird auch andersartig, d.h. in anderen Ordnungen organisiert und inszeniert (vgl. Westphal 2002).5 Die Schwierigkeit besteht darin, dass der Medienbegriff nicht positiv bestimmt werden kann. Er bezeichnet ein »dazwischen«, das »chronisch prekär« bleibt (vgl. Mersch 2006: 9). Ich folge hier der negativen Medientheorie Merschs, die das Mediale als Paradox fasst: als »Verschwinden im Erscheinen« (ebd.: 224), welches der Störungen durch die Künste bedarf, um mediale Reflexionen und die Erschließung ihrer spezifischen Eigenlogiken zu ermöglichen (ebd.: 227). Während Koller die Begründungsfiguren für das erziehungswissenschaftliche Interesse an literarischen Texten ausgehend von inhaltlichen Überschneidungen oder Abgrenzungen der Erfahrungen auffächert und dann jeweils auf die Form zu sprechen kommt (Koller 2017: 137f), schlage ich hier ergänzend eine andere Perspektive vor, die das Gewicht auf die Zugangsweise und ihre Modalisierung verlagert. Es geht also nicht um einen konträren Zugang, der lediglich umkehrte, was in sich nachvollziehbar plausibiliert wird. Medialität ist mehr und anderes als die Form. Vielmehr soll über die Medialität eine Umgewichtung erreicht werden, indem sie zum einen von vorneherein die Tücken der Repräsentationslogik umgeht (die darin liegen, die Form- und Gestaltbildung als etwas Sekundäres anzusehen) und stattdessen das Konstitutive der Medien betont, wie Koller es an anderer Stelle ebenfalls stark macht (vgl. Koller 2012: 12). Erst die Medialität lässt ein Phänomen so und nicht anders erscheinen. Auch Waldenfels hebt dies immer wieder hervor: »Die Tatsache, dass sich etwas als etwas zeigt, spielt sich auf diese Weise innerhalb von Medien ab oder durch Medien hindurch« (Waldenfels/Mersch 2015: 180). Und mit Mersch könnte man ergänzen: »Das Mediale ist also in der Tat der Schlüssel für die Produktion des ›Als‹« (ebd.: 181). 5 | Ich knüpfe hiermit an die Überlegungen von Westphal an, die sich ebenfalls, ausgehend von Waldenfels um die Grundlegung einer Theorie der medialen Erfahrung bemüht.

Responsivität und Medialität in Bildungs- und Erfahrungsprozessen

Aber für die Akzentuierung der Medialität sprechen noch weitere Argumente, die zugleich auch als Begründung literarischer Texte für die Erziehungswissenschaft herangezogen werden können. Indem ich den Fokus von dem, was erfahren wird auf die Weise verschiebe, wie und wodurch etwas erfahren wird, geraten erstens die Bedingungen der Erscheinung in den Blick. Darunter verstehe ich Ordnungsweisen der Aufmerksamkeitsbildung und damit unsere medial bedingte und kulturell geprägte Positionierung, Perspektivierung und Ausrichtung. Dass Perspektivierungen auch hinsichtlich der Lektüre literarischer Texte bedeutsam sind, stellt Koller übergreifend für die unterschiedlichen erziehungswissenschaftlichen Legitimationen heraus (Koller 2017: 137f). Perspektivierungen stellen sich jedoch in jedem Medium anders dar und modellieren die großen Bereiche der Intentionalität und der Attentionalität. Wie ich im Anschluss an Mersch an anderer Stelle dargelegt habe, kann eine Bildfolge, die exakt die gleichen Bilder enthält, zu sehr unterschiedlichen Seherfahrungen führen, je nachdem, ob sie als animierter Film oder im Medium eines Buches betrachtet wird (Sabisch 2017). Was sich dabei jeweils verändert, ist eine intentionale und attentionale Ausrichtung und Positionierung des Rezipienten. Diese Perspektivierungs- und Aufmerksamkeitspraxis lässt sich – neben dem situativen Gebrauch – vor allem durch die Medialität, im Sinne des (dia/per) nach Mersch erschließen.6 Damit hängen auch die Aufführungsweisen zusammen, wie z.B. Seh- und Schreibrhythmen, Schnittund Verkettungstechniken, Identifizierungs- und Projizierungsweisen, die erst von der spezifischen Medialität her ihre Wirkung entfalten. Aber auch kulturelle Dimensionierungen, wie die Debatten über die Zentralperspektive oder die Datenbank als symbolische Form gehören in diesen Kontext, der hier nur skizzenhaft angedeutet werden kann. Zweitens besteht die Bedeutung einer betonten Medialität im erziehungswissenschaftlichen Kontext darin, dass die Möglichkeiten des Antwortens auf einen fremden Anspruch allererst erweitert werden können. Eine Sensibilisierung hinsichtlich einer normalisierenden oder verfremdenden Antwortweise ebenso wie ihrer Widerständigkeit erscheint mir insbesondere vor dem Hintergrund eines kreativen Antwortens sinnvoll und ergiebig. An dieser Stelle kommen die Künste im Plural ins Spiel, denn sie zeichnen sich durch einen denormalisierenden Umgang mit je verschiedenen 6 | »Die Art der Stellung, der ›vor‹-liegenden ›Positionierung‹ manifestiert sich im ›Durch‹« (dia/per). (Mersch 2014: 22).

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­ edialitäten aus, indem sie unsere Erfahrung unterbrechen und umbrechen M lassen. Die Künste bieten einen reichen Fundus an singulären Beispielen für ein kreatives Antworten jenseits des eigenen, disziplinären und kulturellen Horizonts. Indem sie durch Verfremdungen, Störungen und Irritationen unsere gewohnheitsmäßige Normalisierung erst aufscheinen lassen, erzeugen und zeigen sie gleichermaßen durch die medialen und modalen Zwischeninstanzen eine »Matrix« für die Konstitution von Bildungsprozessen zwischen Phänomenbildung und Selbstbildung (vgl. Waldenfels 2015: 303), die sich u.a. im Vergleich der medialen Erfahrungsweisen herauskristallisiert. Das Interesse für diese Bildungen und Bahnungen, im Sinne einer medialen Modellierung der Erfahrung, stellt drittens die genetische, generative und auch die performative Dimension der Erfahrung im »Horizont der Medialität« (Jörissen 2014: 18) heraus. Neben der jeweils spezifischen Eigenlogik medialer Erfahrungsprozesse, wären hier Forschungen anschlussfähig, die sich jenseits einer reinen Mediennutzungsforschung, mit kreativen und poetischen Praktiken und einem impliziten, handlungsleitenden Praxiswissen auch in experimenteller Hinsicht auseinandersetzen. Während bildungstheoretisch nur die grundlegenden Umbrüche von Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses von Erfahrungen geltend gemacht werden, wäre zu fragen, ob von der Medialität her gedacht, nicht auch unbedeutendere, kleinere Bildungen und schwächere Umbrüche zur Reflexion herangezogen werden sollten, um den Übergang zwischen medialen Erfahrungskonstellationen und den Durchgang (im Sinne des dia/per nach Mersch), also die intermediale und intermodale Dimension zu beleuchten. Darüber hinaus könnte eine Akzentuierung der Prozesshaften möglicherweise auch dazu führen, ein Vokabular zu entwickeln, um ein Werden überhaupt reflektieren zu können (Sanders 2013: 89). Die Betonung der Medialität sehe ich viertens darin begründet, dass der große Konnex zwischen Medialität und Affizierung ein vernachlässigtes Moment innerhalb der Erziehungswissenschaft darstellt. Hier hat Gereon Wulftange eine theoretische Grundlage entworfen, indem er, inspiriert von Kokemohrs Bildungsprozesstheorie, das Phänomen der Angst, die mit dem fremden Anspruch einhergehe, im Anschluss an Lacan und Waldenfels für eine Bildungsprozesstheorie anschlussfähig gemacht hat. Dabei fragt er nach der Produktivität der Angst (Wulftange 2016: 111) und nach ihrer konstitutiven Funktion für Bildungsprozesse (ebd.: 233). Ausgehend von der Medialität wäre weitergehend zu fragen, wie Affizierungen sich medienspezifisch unterscheiden und wie widerständige Erfahrungen zu denken wären.

Responsivität und Medialität in Bildungs- und Erfahrungsprozessen

Wenn ich die immense Bedeutung des Medialen für Transformationsprozesse im Rahmen des kreativen Antwortens nach Waldenfels nun skizzenhaft gezeigt habe, stellt sich mir die Frage, wie die Medialität innerhalb der Erziehungswissenschaft, insbesondere innerhalb der Bildungstheorie, thematisiert und kritisch reflektiert wurde. Da ich bislang nicht auf eine systematischere Zusammenfassung zu dieser Thematik zurückgreifen kann, begreife ich die folgenden Überlegungen als erste Annäherung.

Z ur F orderung einer bildungs ­ theoretischen R eflexion der M edialität In der bislang weitgehend uneingelösten Forderung nach einer bildungstheoretischen Reflexion der Medialität, für die ich Torsten Meyer und Werner Sesink exemplarisch heranziehe, geht es darum, die Medialität nicht nur als ein Thema von vielen innerhalb der bestehenden Bildungstheorie zu verorten, sondern zugleich deren Wirkmacht und Relevanz für Bildungsprozesse anzuerkennen und die Bildungstheorie selbst zu modifizieren. Sowohl Meyer als auch Sesink kritisieren außerdem die Diskrepanz zwischen der enormen Protegierung des Medialen in Forschungs- und Lehrprojekten einerseits und der gleichzeitig marginalisierten Bedeutung des Medialen im theoretischen Bildungsdiskurs andererseits. Sie selbst thematisieren mit dem Medialen vor allem die Dimension des Internets. Indem sie den Begriff »Medium« im Singular gebrauchen, wenden sie sich gegen eine Verkürzung, im Sinne eines instrumentellen Medienbegriffs. Meyer betont dabei das Verständnis von »Medium« als »Kultur«, als »Set von Bedingungen kognitiven, kommunikativen und sozialen Prozessierens« und verweist zudem auf das mediale Apriori allen Bildungsgeschehens als »eine Art epochenspezifischen blinden Fleck des Denkens, Wissens und Erkennens« (Meyer 2008: 14; Sesink 2007: 74f). Sesink hingegen imaginiert das Internet als leeren Raum und hebt die Bedeutung von Bildung als Kulturierung dieses Raumes hervor, für den es keinen Standpunkt außerhalb gäbe. Stattdessen könne man nur Kritik üben, wenn man »Bildung als Gestaltung« im Medialen verstehe (Sesink 2008: 214). Noch im gleichen Jahr fand auf der Herbsttagung der Bildungs- und Erziehungsphilosophie der DGFE eine Auseinandersetzung über die Frage der Bildung im Zusammenhang mit Medialität statt, die Roland Reichenbach, Ludwig Pongratz und Michael Wimmer veranstalteten und die 2009

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­publiziert wurde. Im Unterschied zum programmatischen Status des Internets und der Begrifflichkeit als Medium im Singular bei Meyer und Sesink, werden in dieser Publikation Beiträge versammelt, die die Medien im Plural, wie z.B. Sprache (Wimmer u.a.) und Film (u.a. Zahn, Sanders) thematisieren und deren jeweilige Relationen zur Technik, Bildung und Ethik reflektieren. Auch hier wird im Vorwort darauf hingewiesen, dass eine systematische Reflexion für die Bildungstheorie noch ausstehe: »Denn trotz des aufgeklärten Bewusstseins über die Wichtigkeit und Bedeutung der neuen Medien sind die bildungstheoretischen Implikationen dieses inzwischen als Selbstverständlichkeit geltenden Zusammenhangs bisher nur unzureichend bedacht worden.« (Wimmer et al. 2009a: 8)

Folgt man diesen Diagnosen und Forderungen, stellt sich die Frage, w ­ elche Dimensionen und Aspekte in dieser ausstehenden Debatte zur Stellung des Medialen eigentlich bildungstheoretisch relevant sind? Wie sind Medien an Bildungsprozessen beteiligt? Welche Medienbegriffe werden verwendet?

D imensionen

des

M edialen

Um ausgehend von der Bildungstheorie Dimensionen des Medialen zu verorten, beziehe ich mich im Folgenden vor allem auf zwei bildungstheoretische Ansätze, die sich als unterschiedliche Versuche verstehen lassen, Aspekte der Medialität zu reflektieren. Während die von Marotzki und Jörissen vorgestellte »strukturale Medienbildung« (Jörissen/Marotzki 2009), die zurückgeht auf Marotzkis »strukturale Bildung« (Marotzki 1990) bereits 2009 im programmatischen Titel den Bezug zum Medialen betont, wird der Begriff des Medialen im zweiten Ansatz, der »transformatorischen Bildungstheorie« nach Kokemohr und Koller gar nicht verwendet. Dennoch erhellt dieser Ansatz über die sprachtheoretische Konstitution von Bildung einen Zugang zum Medialen, den ich hier ansatzweise darstellen möchte. In Bezug auf das Verständnis eines reformulierten Bildungsbegriffs teilen beide Ansätze, wie Hans-Christoph Koller kürzlich herausstellte, drei Grundannahmen, die hier als Ausgangspunkt dienen: »Bildungsprozesse

werden

erstens

als

Transformationen

aufgefasst,

die nicht nur einzelne Aspekte des Wissens oder Könnens einer Person

Responsivität und Medialität in Bildungs- und Erfahrungsprozessen

­b etreffen, sondern deren gesamtes Welt- und Selbstverhältnis, d.h. die ­g rundlegenden Muster oder Figuren, kraft derer ein Mensch sich zur Welt, zu anderen und zu sich selber verhält. Eine zweite Gemeinsamkeit stellt die Annahme dar, dass solche Bildungsprozesse nicht einfach einem inneren Drang nach Entfaltung menschlicher Potenziale entspringen, sondern – wie es bei Marotzki (1990: 52) heißt – als Prozesse ›der gesellschaftlich ­a uferlegten Problembearbeitung‹ zu begreifen sind, also auf soziokulturelle Herausforderungen reagieren, die mit den bisher zur Verfügung stehenden Mitteln nicht angemessen bewältigt werden können. Und drittens gehen die genannten Arbeiten mit Marotzki davon aus, dass es sich bei dem Transformationsprozess um ein emergentes Geschehen handelt, bei dem nicht nur bereits Vorhandenes umstrukturiert wird, sondern in dessen Verlauf Neues, d.h. neue Muster oder Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses entstehen.« (Koller 2016: 149)

Eine vierte Annahme, die ebenfalls beide Ansätze geltend machen, wenn sie auch unterschiedliche Heuristiken anwenden, ist die Anschlussfähigkeit für empirische Untersuchungen (ebd.: 150). Fragt man nun, ausgehend von diesen Grundannahmen, nach den Dimensionen des Medialen innerhalb von Bildungsprozessen, kann man diese auf mindestens vierfache Weise verorten: erstens bezüglich der Struktur jener Selbst- und Weltverhältnisse, zweitens bezüglich ihrer Anlässe und der Problembearbeitung, drittens bezüglich der Transformationsprozesse selber und viertens bezüglich der empirischen Anschlüsse (Koller 2012: 17f).

S truktur

der

Welt-

und

S elbstverhältnisse

Der erste Einsatz des Medialen bezieht sich also auf die Struktur jener Selbstund Weltverhältnisse, bzw. deren Erweiterung in Welt-, Anderen- und Selbstverhältnis (ebd.: 58). Dieser Einsatz geht historisch auf die sprachtheoretische Positionierung von Wilhelm von Humboldt zurück und wurde von Kokemohr und Koller in der transformatorischen Bildungstheorie weiter entwickelt. Entscheidend für deren Anknüpfung an Humboldt ist dabei, dass Humboldts sprachtheoretische Ausrichtung, wie Koller jüngst ­hervorgehoben hat, »nicht abbildtheoretisch bzw. repräsentationistisch« zu begreifen sei, »d.h. nicht als Repräsentation von etwas, was vor bzw. außerhalb der Sprache existieren würde, sondern vielmehr ›konstitutionistisch‹,

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d.h. als Medium der Hervorbringung, bzw. der Konstitution von Gegenständen und Gedanken.« (Ebd.: 12) Mit dieser Auffassung des Medialen, hier: der Sprache, die konstituierend wirke, ist sowohl das Verhältnis von Selbst- und Welt, als auch der Aspekt der Subjektwerdung, als eine Soziogenese verbunden. Im Zusammenhang mit den verschiedenen Nationalsprachen beschreibt Humboldt, dass sich erst durch Sprachen im Plural die eigene Weltsicht relativiere (vgl. Humboldt 1997: 75). Dabei skizziert er die konstitutive Organisation und ihre Grenzen folgendermaßen: »Der Mensch fühlt, denkt und lebt allein in der Sprache, und muß erst durch sie gebildet werden, um auch die gar nicht durch Sprache wirkende Kunst zu verstehen. Aber er empfindet und weiß, daß sie ihm nur Mittel ist, daß es ein unsichtbares Gebiet außer ihr gibt, in dem er nur durch sie einheimisch zu werden trachtet. Die alltägliche Empfindung und das tiefsinnigste Denken klagen über die Unzulänglichkeit der Sprache, und sehen jenes Gebiet als ein fernes Land an, zu dem nur sie und sie nie ganz führt.« (Ebd.: 85)

Die Sprache bedingt bei Humboldt das Denken, sie wird zum medialen Geländer auf dem Weg der Erkenntnis, auch wenn sie immer unzulänglich bleibt und noch nicht als Medium deklariert wird (vgl. Wimmer 2009). Ihre Zweckbestimmung sieht Humboldt erstens in der intersubjektiven Verständnisvermittlung, zweitens dem Ausdruck der Empfindung und drittens der Bildung von Neuem. Die Sprache, so hebt er hervor, »regt, selbst schaffend, durch die Gestalt, die sie dem Gedanken ertheilt, zu neuen Gedanken und Gedankenverbindungen an« (Humboldt 1997: 84). Sprache wirkt also gestaltund sinnbildend und wird somit konstitutiv für die Subjektwerdung. In der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse knüpfen Kokemohr und Koller sowohl an Humboldts Konzeption von Bildung als »grundlegende Veränderung des Verhältnisses von Ich und Welt« an, als auch an deren sprachtheoretische Grundierung des Veränderungsprozesses, die bei Kokemohr in dem Begriff der »Figuren« des Selbst- und Weltverhältnisses aufscheinen (vgl. Kokemohr 1992:16-30; ders. 2007: 15; Koller 2012: 16) und Bildung als »rhetorischen Prozess« (Kokemohr 2007: 15) begreifen. Koller zufolge gehe die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse insofern über Humboldt hinaus, als sie erstens die Bildungsanlässe von der Konfrontation mit fremden Sprachen erweitern in Bezug auf die allgemeinere »Konfrontation mit einer Problemlage, für deren Bewältigung sich das bisherige Selbst­­­­­­

Responsivität und Medialität in Bildungs- und Erfahrungsprozessen

und Weltverhältnis als nicht mehr ausreichend erweist« (Koller 2012: 16). Die Konfrontation mit fremden Sprachen erfuhr durch die Konfrontation mit anderen Krisen- und Fremdheitserfahrungen eine Ausweitung. Zweitens ergänze sie die Bildungstheorie um empirische Untersuchungen von Bildungsprozessen (ebd.: 17). Diese Erweiterungen spielen insofern eine bedeutende Rolle, als sie die Struktur der Selbst- und Weltverhältnisse als mediale überhaupt denkbar werden lassen und zugleich einen Zugang für ihre Erforschung herstellen. Das Spektrum der empirischen Analysen umfasst vornehmlich narrative Interviews sowie literarische Quellen (vgl. Koller 2014), die Analysemethode arbeitet mit rhetorischen Textanalysen zu spezifischen Figuren (wie Satzverknüpfungen, Metaphern, Metonymien, etc.) und begreift Bildung als Textgeschehen (vgl. Kokemohr/Koller 1994). Um nun die Struktur jener Selbst- und Weltverhältnisse zu konkretisieren und zu differenzieren, wählt Koller zudem explizit solche Theorien aus, die es erlauben, »die sprachliche, bzw. semiotische Dimension subjektiver Selbst- und Weltverhältnisse zu erfassen. Die Wahl fiel deshalb auf die Gesellschaftstheorie Pierre Bourdieus [...], das Konzept der narrativen Identität bei Paul Ricoeur [...], Judith Butlers Theorie der Subjektivation [...], sowie Jacques Lacans strukturale Konzeption des Unbewussten [...], weil dort auf je unterschiedliche Weise versucht wird, Struktur und Genese individueller Haltungen zur Welt und zu sich selber theoretisch zu erfassen sowie die Bedeutung symbolischer Ordnungen in diesem Kontext zu reflektieren.« (Koller 2012: 17) Wenngleich diese Theorien vor allem sprachtheoretisch argumentieren und die Subjektwerdung eingebettet in eine kulturelle und gesellschaftliche Dimension der Kommunikation betrachten, betont Koller mittels der Theorien, im Anschluss an Kokemohrs Betonung der Bildungsprozesse, wiederholt die genetische Dimension der sprachlichen Artikulation. Er fragt nach einer genaueren Erfassung der »symbolischen Praktiken« bei Bourdieu (ebd.: 33), akzentuiert das Verhältnis von Erzählung und Erfahrung nach Ricoeur als performatives, statt als repräsentationistisches (ebd.: 39), und überlegt theorieübergreifend, wie Veränderungsprozesse gedacht werden können (ebd.: 66). Darüber hinaus ermöglichen die in diesen Theorien aufscheinende Reflexivwerdung sowie die im Plural verwendeten ›symbolischen Ordnungen‹ ­indessen eine Distanzierung von der Sprache als einzigem Medium. Sie deuten eine Öffnung auf die Möglichkeit weiterer medialer Konstitutionsweisen an, auch wenn diese nicht eigens expliziert werden. Insofern lässt sich sagen,

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dass die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse zwar sowohl theoretisch als auch in der empirischen Analyse im Medium der Sprache verhaftet bleibt, dass sie aber die Reflexion der individuellen wie sozialen Bildungsprozesse durch Sprache als Medium mitsamt der genetischen Dimension ausdifferenziert und bildungstheoretisch einordnet. Mit dem Begriff der »Medienbildung« gehen Marotzki und Jörissen 2009 noch weiter. Sie setzen die Dimension des Medialen ebenfalls an der Struktur der Welt- und Selbstverhältnisse an und verstehen darunter »die in und durch Medien induzierte strukturale Veränderung von Mustern des Weltund Selbstbezugs« (Jörissen 2014: 106). Sie grenzen sich vom Fortschrittsglauben Humboldts ab, knüpfen jedoch an die sprachtheoretische Ausrichtung an und erweitern sie um die (audio)-visuelle Dimension: »Aber das grundlegende bildungstheoretische Reflexionsformat, nämlich die sprachlich organisierte Selbst- und Weltreferenz des Menschen, kann übernommen und weiterentwickelt werden. Die Weiterentwicklung bezieht sich im Wesentlichen darauf, dass bei einer bildungstheoretischen Betrachtungsweise auch bildhafte Artikulationen in das Zentrum der Aufmerksamkeit geraten können. Sie sind Manifestationen des menschlichen Geistes genauso wie sprachliche Artikulationen, sodass aus ihnen ebenfalls Selbstund Weltreferenzen des Menschen erschlossen werden können.« (Jörissen/ Marotzki 2009: 110)

Inspiriert vom Artikulationsbegriff bei Schlette und Jung (vgl. Jung 2005) unterscheiden sie dabei verschiedene Reflexionsstufen. Während die »präreflexive Zone« somatische Ausdrucksvarianten bezeichne, umfasse die »reflexive/ narrative Zone« alle »(medialen) Ausdrucksformen qualitativer Erfahrung« und die »metareflexive Zone« verorte die »Sonderposition von (begrifflicher) Sprache als Einbettungs- oder Verknüpfungsrahmen für alle anderen Artikulationen, ohne diese zu ersetzen (Jörissen/Marotzki 2009: 38-39). Mit dieser Stufenfolge gebühre der Sprache als metareflexivem Medium in der Medienbildung immer noch eine enorme Vorrangstellung, wenngleich sowohl Schlette und Jung als auch Marotzki und Jörissen ausdrücklich allen multimedialen Äußerungen einen »systematischen und nicht substituierbaren Stellenwert« beimessen (vgl. ebd.). Wenngleich ich eine derartige Stufenfolge als Hierarchisierung und als Entwicklungslogik als problematisch erachte und die responsive ­Erfahrungskonzeption mit der Waldenfels‘schen Antwortlogik bevorzuge,

Responsivität und Medialität in Bildungs- und Erfahrungsprozessen

teile ich doch die Annahme, dass es für das Verständnis der Medienbildung insgesamt maßgebend sei, dass »erstens Artikulationen von Medialität nicht zu trennen sind und dass zweitens [...] mediale soziale Arenen in den Neuen Medien eine immer größere Bedeutung für Bildungs- und Subjektivierungsprozesse einnehmen« (ebd.: 39). Indem Marotzki und Jörissen die Struktur des Selbst- und Weltverhältnisses prinzipiell als mediale ausweisen (vgl. ebd.: 240), erweitern sie den Fokus von der Sprache als einzigem Medium auf audiovisuelle und visuelle Artikulationsformen als konstituierende Kraft. Sie behaupten, Sozialisation sei in der Moderne immer schon mediale Sozialisation und es gäbe »kaum mehr medienfreie Räume« (ebd.: 239), daher bestehe sowohl auf theoretischer als auch methodologisch-methodischer Ebene keine »vorgängige, künstliche Trennung von medialen und außermedialen lebensweltlichen Räumen« (Jörissen 2014: 89). Wie Kokemohr und Koller legen sie den Fokus auf die medialen Formen und die »Formeigenschaften«, um über sie die Wirkung von Medien zu analysieren (Jörissen; Marotzi 2009: 40). Nach eigener Aussage gehe es »weniger um die Inhalte der jeweiligen Medien, sondern um ihre strukturalen Aspekte« und daher münde die Bildungstheorie in eine »Analyse der strukturalen Bedingungen von Reflexivierungsprozessen« (ebd.). Ausgangspunkt ihrer Analyse sind dann sowohl »Medienprodukte«, wie u.a. Spielfilme und Fotografien als Quelle für die erziehungswissenschaftliche Forschung, als auch die medialen sozialen Arenen, wie z.B. Wikipedia, Blogs, Plattformen etc. Indem sie das Internet als neuen Artikulationsraum untersuchen, wird implizit die Unterscheidung eines Medienbegriffs im Singular (das Internet als Architektur) und im Plural aufgegriffen (mediale Artikulationen). Insgesamt geht es ihnen darum, die »Orientierungspotenziale verschiedener Medien zu analysieren« (ebd.: 37) und deren Reflexionspotenzial für das Subjekt auszuloten. Dabei werden »rekonstruktive Forschungsstile, insbesondere der Grundsatz des ›Theoretical Sampling‹ in der Grounded ­Theory« bevorzugt (Jörissen 2014: 89). »Von Medienbildung zu sprechen bedeutet dann, der Strukturalität, Komplexität und Transformationsdynamik medialer Formen in diesen Prozessen einen systematischen Platz im bildungstheoretischen Denken einzuräumen. Über die traditionelle Betrachtung von Sprache hinausgehend, bedeutet

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dies mithin, Bildung als Prozess der Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen im Horizont von Medialität zu verstehen.« (Ebd.: 18)

Diese kurze bildungstheoretische Skizze zum Einsatz des Medialen lässt ahnen, wie sehr das Denken von Bildung im Sinne eines sprachlichen Prozesses normierend wirkt(e), bis eine pluralistisch verstandene mediale Bildung ­entstehen konnte. Die bildungstheoretische Öffnung besteht darin, Strukturen der Welt- und Selbstverhältnisse als mediale überhaupt in den Blick zu nehmen, eine weitere Öffnung bestünde darin, die medienspezifischen Strukturen von Welt- und Selbstverhältnissen zu fokussieren, wie dies u.a. Olaf Sanders und Manuel Zahn im Rahmen der Filmbildung, Jenny Lüders in Bezug auf Weblogs, Karl-Josef Pazzini und ich selbst im Bereich visueller Bildung untersuchen. Aber wie können die oftmals als »Herausforderungen« beschriebenen Bildungsanlässe ›im Horizont von Medialität‹ gedacht werden?

B ildungsanlässe Der zweite Einsatz des Medialen kann auf der Ebene der Bildungsanlässe verortet werden. Wenn die transformatorische Bildungstheorie »die Herausforderung für Bildungsprozesse« als »eine Art von Krisenerfahrung« versteht, »in der sich das bisherige Welt- und Selbstverhältnis eines Menschen als nicht mehr ausreichend erweist« (Koller/Marotzki/Sanders 2007: 7) stellt sich die Frage, wie das Mediale hier Einzug hält. Angesichts der gegenwärtigen medialen Umbrüche einer Schriftkultur zur audiovisuellen Kultur habe ich 2007 die Frage aufgeworfen, inwiefern die vielzitierte und wissenschaftlich bedeutsame »Krise der Repräsentation« als Medienkrise betrachtet werden kann, die unsere Erfahrungen und auch unser Wissenschaftsverständnis kulturell rahmt (Sabisch 2007: 63f). In ähnlicher Weise hat Pazzini die Veränderungen um die Erfindung der Zentralperspektive als bildend beschrieben, in der es plötzlich möglich wurde, einen gleichen Standpunkt der Beobachtung erneut einzunehmen. Und in Bezug auf die schulische wie universitäre Kultur der immer noch normierenden Sprachlichkeit schlägt er im Rahmen einer bildbasierten Bildung den »Entzug aus den sprachnahen Symbolisierungsmodi als Bildungsanlass« vor (Pazzini 2015: 30-31). Die Liste der medial bedingten oder medial flankierten Bildungsprozesse ließe sich hier sowohl für die gesellschaftliche Ebene als auch für die Erfahrungsebene ausweiten.

Responsivität und Medialität in Bildungs- und Erfahrungsprozessen

Hinsichtlich der medialen Erfahrungskonzeption von Waldenfels verweise ich auf den verfremdenden Umgang mit unterschiedlichen Medialitäten in den Künsten, die in Praktiken der Rezeption wie Produktion zum Anlass für Gestalt- Sinn- und Subjektbildungen werden können. Dafür entwickelt die Kunstpädagogik einen Fundus an Möglichkeiten für Bildungs- und Erfahrungsprozesse. Neben diesen markanten, auch gesellschaftlich relevanten Einschnitten in die Erfahrung, wäre jedoch zu fragen, ob nicht auch leisere Anlässe bildungsrelevant werden können. Damit einher geht eine Kritik bezüglich des Krisenbegriffs. Wie eingangs bereits mit Waldenfels dargestellt, stellt sich mir die Frage, inwiefern er geeignet ist, die Ein- und Umbrüche einer responsiven Antwortlogik zu erfassen (vgl. Waldenfels 2008: 67-81). Als Alternative bietet sich m.E. der Begriff der Irritation an, der bescheidender und undramatischer ansetzt und nicht die Tradierung einer Entwicklungslogik unterstellt.

Trans -

und

P erformationsprozesse

Den dritten Einsatz des Medialen sehe ich in den Transformationsprozessen, die ich mit der Modalisierung der Erfahrung nach Waldenfels im kreativen Antworten bereits beschrieben habe. Während die transformatorische Bildungstheorie, wenn ich es richtig sehe, den Bildungsbegriff analog zu einem starken Erfahrungsbegriff entwickelt, und auch den Ort des Nachdenkens analog zu Waldenfels als Grenze zwischen »Ordentlichem und Außerordentlichem« begreift, stellt sich die Frage, ob die Unterscheidung zwischen starken und schwachen Medienbegriffen für die Frage der Transformationsprozesse eine Rolle spielt. Der Medienphilosoph Dieter Mersch hat in diesem Sinne zwei unterschiedliche »Zugänge zum Medialen« entwickelt, indem er zwei Begriffe heuristisch einander gegenüberstellt, um unterschiedliche Weisen der medialen Konstitution, bzw. Generativität zu entwickeln. Auf der einen Seite stehe der Begriff des Meta, (lateinisch Trans), auf der anderen Seite stehe Dia, (lateinisch Per). Während der erste Zugang zum Medialen, den Mersch dem Begriff Meta zuordnet, als »radikaler Medienbegriff« zu verstehen sei, »der das Mediale als ein unhintergehbares Apriori postuliert, und zwar so, dass das Medium immer schon auf das Mediatisierte einwirkt, es ­verwandelt und umprägt«, sei der zweite Zugang (Dia, Per) als ein gemäßigter Medienbegriff zu begreifen, der das Mediale zurückbinde an konkrete Praktiken (Mersch 2010: 187).

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Er begründet seine Überlegungen damit, dass mit dem starken Medienbegriff, der in Bezug auf den Modus der »Übersetzung« und »Übertragung« verwendet werde und in dem Begriff der ›Metapher‹ aufscheine und der fortan »für alle weitere Medientheorie leitend geworden« (ebd.: 187) sei , eine Indifferenz »zwischen dem Medialen und Nichtmedialen« einhergehe und der Medialität kein Ort zuzuweisen wäre (ebd.: 188). Zudem erweise sich die Beschreibung der spezifischen Medialität als Problem. Um diesem Problem zu begegnen, entwickelt er – inspiriert von Wittgensteins ›Sprachspielen‹ – einen zweiten Zugang zum Medialen, den er mit dem Begriff ›Dia‹, bzw. dem lateinischen Synonym ›Per‹ fasst. Im Unterschied zur grundlegenden, ereignishaften Verwandlung in der Transformation, aktualisiere eine Performation im Sinne des ›Dia‹ eine Aufführung, Verkörperung oder Darstellung. Dazu Mersch: »Nicht die Verwandlung ist dann das Resultat, sondern, im Wortsinne, die ›Dar-Stellung‹ [...]. Dann steht auch nicht länger die ›Über-Tragung‹ oder das metapherein als Paradigma für den Prozess der Mediation ein, sondern jene Formen des experiens oder Experimentellen, durch welche etwas zur Erscheinung gelangt, ›gesetzt‹ oder ›ausgesetzt‹ wird, um sich ebenso in der Wirklichkeit zu manifestieren wie diese zu ›ent-setzen‹« (ebd.: 203) und so Neues hervorzubringen (ebd.: 202). Die Weise des Überspringens werde beim ›Dia‹ gekoppelt an die »Materialität von Übergängen sowie die Praktiken der Verwandlung von etwas in etwas ›durch‹ etwas anderes« (ebd.: 201). Sie setze insofern »weniger vertikal und ›sprunghaft‹« ein als die Transformation, sondern verlaufe »vielmehr horizontal und damit flacher und bescheidener« (ebd.). Im Unterschied zum ereignishaften, ortlosen Begriff des Medialen beim ›Meta‹, deuten sich im ›Dia‹ »verschiedene Wege oder Modalitäten an, den Übergang zu gewährleisten«; eingebettet »in ein Netzwerk von Dingen und Handlungen beruht das Mediale folglich auf performativen Praktiken und nicht im Ereignis einer différance. Deswegen auch die Betonung auf die Praxis der Künste: Anstelle einer Metabasis, eines Übergangs in eine andere Ordnung, verfolgen sie eine Diabasis, die zwar gleichfalls einen Übergang nennt, jedoch vermöge solcher Passagen, die auf konkreten ›Architekturen‹ bauen.« (Ebd.: 203) Im Hinblick auf die Frage, wie sich Umgestaltungen und Umwandlungen hinsichtlich der Bildungsprozesse vollziehen, halte ich Merschs ­Differenzierung für bedeutsam, da sie die virulente Konstitutionsfrage des Medialen in eine Frage der Modalitäten und der Produktion überführt (ebd.: 206). Mersch behauptet: »Vielmehr wandelt sich die Konstitutionsfrage zum

Responsivität und Medialität in Bildungs- und Erfahrungsprozessen

Modusproblem«, es gehe im Medialen »um das Ereignis des Als«, das sich »je nach der Szene des Performativen in ein mediales Als allererst umschreibt. Das Mediale fungiert also nicht als eine primordiale Hypothese, sondern existiert allein in Abhängigkeit jener Praktiken und Materialitäten, deren ›Ver-Wendung‹ es zugleich auf immer neue Weise ›wendet‹. Was das Mediale ist, kann nicht gesagt werden – es entzieht sich seiner Feststellbarkeit; ­gleichwohl zeigt es sich durch seine ›Bewegungen‹ und deren ›Wendungen‹ hindurch. Sie dulden sowenig eine Synopsis wie eine allgemeine Theorie, bestenfalls nur regionale Kasuistiken von Fall zu Fall. Medien situieren sich, jenseits operativer Strukturen, in einem indeterminativen Feld von Potentialitäten: Sie sind nicht – sondern sie werden erst.« (Ebd.: 206) Überträgt man die von Mersch beschriebenen medialen Zugänge und deren generative Dimension auf die Bildungstheorie, wäre zu fragen, wie sich mediale Modalitäten der Transformationsprozesse überhaupt unterscheiden lassen und was sich ihnen entgegenstellt. Zudem könnte im Anschluss an Mersch die Frage nach dem Begriff der Transformation neu aufgerollt werden und Kokemohrs Verzicht auf denselben als Skepsis an der Möglichkeit der Rekonstruktion von Bildungsprozessen neu diskutiert werden.

E mpirische A nschlüsse Der vierte Einsatz des Medialen besteht in den empirischen Anschlüssen. Hier sehe ich einen Bedarf zur Arbeit an der Begrifflichkeit und dem Verständnis von Empirie. Fasst man den Begriff Empirie als Erfahrung auf, ergeben sich andere Möglichkeiten den Anschluss zu denken, als wenn man darunter die Rekonstruktion oder die Repräsentanz von Bildungsprozessen versteht. Wenn Waldenfels an vielen Stellen auf die indirekte Beschreibung der Fremderfahrung verweist, die sich nicht direkt zeige, frage ich mich, ob es nicht auch Möglichkeiten für eine indirekte Empirie gibt. Ebenso wie Kokemohr eine Schreibweise findet, seine empirischen Untersuchungen mit der Bildungstheorie derart zu konfrontieren, dass die Grenzen des Denkens mit aufscheinen, wäre es lohnenswert, über Fälle und Beispielbildungen als indirekte Empirie nachzudenken. Im Hinblick auf das Mediale wären dann ­Beispiele aus den Künsten als Beispiele des kreativen Antwortens zu suchen, die nicht in der gegebenen Antwort aufgehen (vgl. Waldenfels 1994: 192).

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Erziehung als realistische Erfahrung: Eine Deutung von Karl Ove Knausgårds Roman »Lieben« Jürgen Oelkers

Z um P roblem Wie beschreibt man Erfahrungen mit Erziehungssituationen so, dass sie als ›realistisch‹ gelten können? Oder anders: Wie beschreibt man sie auf eine Weise, dass sie nicht einfach die Spiegelung der pädagogischen Ideale und in diesem Sinne ›unrealistisch‹ sind? Die Frage klingt vielleicht etwas abseitig, denn wie anders sollte man Erfahrungen machen können als ›realistisch‹, wenn Realismus meint in Übereinstimmung mit den Fakten und den bisherigen Erfahrungen. Erlebnisse können eindeutig sein, aber Erfahrungen sind notwendig ambivalent und ›realistisch‹ heisst dann einfach in Einsicht und Bearbeitung der Ambivalenzen. Sie können nicht ausgeschaltet oder vermieden, sondern nur übersehen oder verdrängt werden und das gilt umso mehr für Erziehungserfahrungen, die moralischen Reinheitsgeboten unterworfen sind und mit irritierenden Ambivalenzen nichts zu tun haben sollen. Aber niemand handelt ausschließlich selbstlos, wie in der Erziehung vorausgesetzt wird, jeder Vater und jede Mutter muss mit der Begrenztheit der eigenen Kräfte und der Knappheit der Ressourcen umgehen, doch von Überforderung mit den Aufgaben darf keine Rede sein und die eigenen Spannungen dürfen das Glück des Kindes oder der Familie nicht stören. Das Wort ›Erziehung‹ ist mit den höchsten Erwartungen besetzt und für die Artikulation der Erfahrungen steht eine öffentliche Sprache zur Verfügung, die die Erwartungen bestätigt sehen will und Abweichungen sanktioniert. Die Ideale leiten die Erwartungen und die sprachlichen Mittel, vor

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allem die Metaphern, sind darauf zugeschnitten (vgl. Guski 2007). Erziehung gilt als ›Weg‹, der zum Ziel führt, wenn man es nur richtig macht. Theorie, Empirie und die gesamte Ratgeberliteratur folgen dieser Vorgabe. Aber das Gegenteil kann niemand ausschließen, Erziehungserfahrungen, die an kein ›Ziel‹ führen, weil sie nie eines verfolgt haben, die keinem ›Weg‹ folgen, weil der gar nicht vorhanden ist (vgl. Oelkers 2002), und die sich nur in Situationen konkretisieren können, für die es Anschlüsse gibt oder auch nicht. Kontinuitäten über eine Zeitspanne sind nicht einfach vorhanden, sondern müssen von den Handelnden hergestellt werden, was auch heisst, dass man sie verpassen kann oder neu knüpfen muss und dabei helfen keine Ideale. Doch die öffentliche Sprache der Erziehung ist eine der Idealisierung, sie lässt negative Erfahrungen nicht gleichberechtigt zu und sie akzeptiert erst recht keine radikale Negation, weil zu viel auf dem Spiel steht. Wer würde auf die »selbstverschuldete Unmündigkeit« verzichten, wenn das den Bildungsimperativ stark macht? Oder wer könnte die »Pädagogik vom Kinde aus« preisgeben, wenn davon der gesellschaftliche Konsens über die richtige Erziehung abhängig gemacht wird? Aber solche appellativen Zitate, die Autorität beanspruchen und Widerspruch nicht dulden, sagen nichts aus über das, was Mütter und Väter erleben, wenn sie den Umgang mit ihren Kindern gestalten. An Mündigkeit denkt man dann nicht und auch die Idealisierung der Kinder hält sich in Grenzen, weil die Bestätigung im Alltag meistens ausbleibt. Reale Eltern müssen sich mit den Kindern auf Situationen einlassen, die einen unerwarteten Verlauf nehmen können, sie müssen Schlüsse ziehen, wie sich künftige Erfahrungen herstellen oder vermeiden lassen, sie müssen dabei gesellschaftliche Erwartungen erfüllen und zugleich den Kindern gerecht werden, weil nur das mit dem Selbstwertgefühl verträglich ist. Im öffentlichen Raum der Erziehung agiert niemand allein. Aber wie artikuliert man diese Erfahrungen, wenn denn die Selbstidealisierung leicht in Kitsch abgleiten und man den pädagogischen Idealen doch nicht entkommen kann. Vor diesem Problem stand Peter Handke mit seiner Kindergeschichte (Handke 1981/Oelkers 1981): Wie findet man eine Sprache für Erfahrungen, die ständig von Besserwissern umgeben ist? Und wie kann man von Kindern reden, wenn in der öffentlichen Kommunikation über Erziehung reale Kinder nie vorkommen? Auch empirische Forschung über Erziehung ist idealgetrieben. Fragebögen müssen von dem her verstanden werden, was sie ausschließen oder erst

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gar nicht zulassen. Bei quantitativen Verfahren ist ein normativer Rahmen vorausgesetzt, der beachtet werden muss, häufig aber gar nicht thematisiert wird. Die Fragen und Auswertungen müssen etwa genderkorrekt sein, Diskriminierungen aller Art ausschließen und sie dürfen pädagogische Ideale nicht einfach missachten. Qualitative Verfahren sind ebenfalls normativen Geboten unterworfen, etwa im Blick auf den Respekt vor den Aussagen oder die Grenzen der Interpretationsfreiheit. Das Normative wird oft als ›subjektiv‹ angesehen. In der Öffentlichkeit herrscht die Erwartung vor, dass für die Forschung generell Objektivitätsideale massgeblich sein sollen, die das ›Subjektive‹ entwerten oder unter einen Vorbehalt stellen. Das ›bloß Subjektive‹ soll durch bessere Kenntnis des Objektiven oder die überlegene Datenbasis in Schach gehalten werden. Mit der Forschung sollen Hypothesen getestet und dann angenommen oder verworfen werden. Aber was für Physik oder Medizin gilt, die Überlegenheit der objektiven Forschung gegenüber der subjektiven Meinung oder Befindlichkeit, trifft auf die Erziehung nicht zu. Es gibt keine Metainstanz, die über Erfahrungen entscheiden könnte, auch wenn noch so viel zwischen ›subjektiven‹ und ›objektiven‹ Theorien unterschieden wird. Das ›Objektive‹ ist dem ›Subjektiven‹ nie überlegen und kann so auch nicht korrigierend eingreifen, sondern stellt nur eine andere, abstraktere Beschreibungsform dar, der Handlungsrelevanz abgeht. Die Erfahrung der Handelnden im Erziehungsfeld werden anders eingeschränkt, nämlich durch öffentliche Idealisierungen, die häufig mit Denkverboten oder Reflexionsbeschränkungen verbunden sind, die dort greifen, wo die Erfahrungen den Idealisierungen nicht entsprechen und für den ausgelagerten Rest – oft der grössere Teil – die Sprache fehlt. Dazu gehören die Niederlagen im Umgang mit den Kindern, der Slapstick in den Realsituationen, das Unbehagen an der eigenen Arbeit, aber auch die unbändige Freude über die Kinder, ihre Unberechenbarkeit und wie man damit fertig wird, die Nähe nach dem Streit, die Friktionen mit dem Ehepartner, die Abschirmung der Erfahrung gegenüber der beobachtenden Umwelt oder die persönliche Bilanz, was wirklich gut war, wenn vieles schlecht gewesen sein kann. Aber kann man sich in der Pädagogik unbefangen den Erfahrungen nähern, die man macht? Kann man den Ballast der Ideale einklammern und reduzieren wie in der Epoché der Phänomenologie? Jedenfalls gibt es immer einen Vorbehalt der konkreten Erfahrung und so eine Distanz gegenüber

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a­ llen Idealen, die für sich praktische Relevanz beanspruchen und dann leicht pathetisch werden können (vgl. Rorty 1998: 96), was vermutlich gerade für die justes milieus der Erziehung gilt. Auf der anderen Seite: Wenn es um die Ambivalenzen, Paradoxien und Ungereimtheiten der lebensweltlichen Erfahrung gehen soll, dann muss die Gefahr vermieden werden, nach dem ›Echten‹ oder ›Eigentlichen‹ zu suchen. Authentisch wäre einzig das Aushalten der Ambivalenzen. Ideale sind nicht zu vermeiden, aber müssen den Schmirgel der Erfahrung aushalten. Und wenn Leben resistent ist gegenüber Theorien wie umgekehrt die Theorien gegenüber dem Leben, dann muss ein anderer Zugang gewählt werden.

D ie M ethode K nausgård Was der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård in seinen Büchern anstrebt, wird in einem deutschen Interview aus dem Jahre 2011 mit »Schreiben, ohne zu gefallen« bezeichnet. Er gilt als »radikaler Tabubrecher«, der mit seinem »autobiographischen Mammut-Romanprojekt« »gnadenlos die ­eigenen Gefühle und Gedanken« aufgeschrieben und öffentlich gemacht hat. Mit den Folgen muss er nun fertig werden.1 »Eigentlich wollte Karl Ove Knausgård in verschlüsselter Form einen Roman über den Tod seines Vaters schreiben, eines Alkoholikers, den die beiden Söhne als unnahbar und lieblos erlebten. Aber die fiktiven Worte wirkten unglaubwürdig. Also entschied er sich für die radikale Autobiografie. Die allerdings hat Knausgård mit seiner Sprache, seinem Blick und seinen theoretischen Betrachtungen über den Tod und die Kunst zu großer Literatur geformt.« (Ebd.)

Mit »Mammutprojekt« ist die sechsteilige Romanfolge gemeint, die im norwegischen Original mit Min Kamp überschrieben ist. Das ist für deutsche Ohren bereits eine Provokation, erschien doch 1941 eine norwegische Übersetzung von Hitlers Mein Kampf, wobei offen bleibt, ob Knausgårds Min Kamp wirklich darauf anspielen wollte.

1 | Deutschlandradio Kultur vom 8. März 2011. deutschlandradiokultur.de/ schreiben-ohne-zu-gefallen.1013.de.html?dram:article_id=171583

Erziehung als realistische Erfahrung

Die Übersetzungen von Min Kamp erscheinen im Luchterhand Verlag, der auf den Obertitel, also die Klammer des ganzen Projekts, verzichtet. Die englische Ausgabe wählt die Übersetzung My Struggle.2 Die meisten skandinavischen Besprechungen beziehen sich auf Min Kamp und lassen das unkommentiert. Die Zuschreibungen »radikale Autobiographie«, »Mammutprojekt« oder »gnadenlose« Selbstenthüllung halten sich bis heute in den deutschsprachigen Feuilletons, wo aber selten über die Methode des Autors geschrieben worden ist. In der amerikanischen Kritik wird auf Proust verwiesen (vgl. Stokes 2014), wird als Stilmittel auch »completely without dignitiy« erwähnt (vgl. Barron 2013) und wird gefragt, was eigentlich der Kampf in »mein Kampf« sein soll (vgl. Rothman 2014). Tatsächlich ist die Größe des Projekts furchteinflössend, die sechs Bände umfassen im norwegischen Original sage und schreibe 3.616 Seiten,3 die in der deutschen Übersetzung auf sechs verschiedene Titel und so Schwerpunkte aufgeteilt werden. Im Original ist unter dem Titel Min Kamp einfach vom ersten bis zum sechsten Buch die Rede. In den Büchern erzählt Knausgård von seinem Leben, also weder von der verlorenen Zeit noch von der einen grossen Konfession. Aber mit Rousseau verbindet ihn der Anspruch, sein Leben so zu erzählen, wie es war, ohne wie Proust künstlich werden zu müssen. Knausgård bezeichnet die Teile seines literarischen Hexagons alle mit ›Roman‹, also nicht als Lebensbeschreibung. In einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung sagt er zur Begründung: »Für mich handelt es sich um Romane. Ursprünglich ging es mir um ein Experiment – um die Frage, auf welche Weise man heute noch realistische Prosa schreiben könne. Dafür musste ich den Unterhaltungsfaktor und alles aufgeben, was einen Roman für gewöhnlich auszumachen scheint. Wie weit kann ich gehen, ohne eine Geschichte erzählen zu müssen, bevor sich das Ganze auflöst und unsichtbar wird?« (NZZ vom 26.Oktober 2015: 31)

Autobiografien behaupten, das Ganze eines Lebens oder wenigstens die wichtigsten Stationen erfassen zu können, deshalb erzählen sie immer die ›eine‹ Geschichte, die gleichbedeutend sein soll mit dem Leben des Protagonisten. 2 | Hitlers „Mein Kampf “ wurde in England mit My Struggle und in den ­Vereinigten Staaten mit My Battle übersetzt. 3 | bibliografi.no/kok.pdf

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Aber das Leben, zumal das eigene, geht in keiner Geschichte auf, hat keine Gliederung und verweigert sich der Übersichtlichkeit, wie sie jede Chronologie erzwingt. Das versucht Knausgård erst gar nicht, er beschreibt die Kämpfe seines Lebens, eingeschlossen die als Kind und Jugendlicher, und kann so viele Geschichten erzählen, die kein Nacheinander kennen und nur ein Zentrum haben, ihn als den Erzähler. Zu seiner Methode sagt er: »Ich betreibe in den Büchern eine Art Simulation von Leben, weil mich Realismus interessierte. Ich war nicht an Fiktion interessiert, sondern am realen Leben.« (Ebd.) Das Leben selbst ist nicht erfassbar, mit keiner Art von Prosa und auch mit keiner Wissenschaft. Das ›reale Leben‹ sind jene Szenen und Ausschnitte, die man erlebt und nicht vergessen hat, an die man sich erinnern und die man in Worte fassen kann. Eine Erinnerung existiert nur dann, wenn man sie aufschreibt und genau das bedroht sie auch. Sie ist nunmehr Literatur und wie immer sie ›realistisch‹ sein mag, sie erfasst Erinnerungen nur zu einem bestimmten Zeitpunkt. »Wer wie ich Bücher über seine Erinnerungen schreibt, fixiert diese Erinnerungen, und für eine kurze Zeit mögen sie ihre Gültigkeit behalten, aber irgendwann erscheinen sie einem nicht mehr wahr, weil man älter geworden ist und sich verändert hat. Erinnerung und Fiktion haben denselben Ursprung, und man muss Erinnerung auf ganz ähnliche Weise schaffen wie Fiktion, um sie überhaupt sehen zu können.« (Ebd.)

Das gilt für den Autor, nicht für den Leser, der mit den Geschichten anders umgehen kann, nämlich als eine für ihn gültige Beschreibung. Er spielt nicht, wie der Autor, mit dem Stoff seines Lebens (vgl.: ebd.), sondern liest in die fremde Erzählung seine Erfahrung hinein. Und ›realistisch‹ heisst dann eine Erfassung der eigenen Ambivalenzen durch den fremden Text. Da es keine Widerspiegelung des Lebens durch den Text geben kann, wie im sozialistischen Realismus, bleibt für den Autor nur die nachträgliche Aufzeichnung seiner Erinnerungen und die Anforderung ist nicht die einer ­Passung zwischen Roman und Gesellschaft, sondern des Eingehens auf unverschlüsselte Erfahrungen, die niemand wollte oder vorhergesehen hat. Das Leben kann so weder heroisch sein noch lächerlich wirken, der Autor muss sich ernst nehmen, aber mit allen seinen Facetten, die sich erst zeigen, wenn die Situation es verlangt. Deshalb gibt es keinen festen Ort des Geschehens, sondern nur verschiedene Stationen, an denen die Erfahrungen

Erziehung als realistische Erfahrung

gemacht werden konnten, die man nicht vergessen hat. Zusammengehalten werden die Geschichten durch das erzählende Ich, das sich durch die Erzählungen selbst verändert. Die Erinnerungsarbeit ist kein Selbstzweck, sie gilt den grossen Rätseln des Lebens, also den Eltern, der Verwandtschaft, den Freunden, den Ehepartnern und nicht zuletzt den eigenen Kindern. Knausgård versucht die Beziehungen seines Lebens und damit sich zu entschlüsseln und soviel er auch von der eigenen Bildung spricht, es ist kein Bildungsroman, sondern das Panoptikum der Menschen seines Lebens. Das Ich formt und verändert sich mit der ­Erfahrung, die trivial sein kann oder bedeutsam, aber sich nie einklammern und unter Vorbehalt stellen lässt.

A mbivalenzen Lieben ist der zweite Roman der Serie. Der erste, Sterben, handelt vom Tod des Vaters und der Frage, was bleibt, wenn man sich als Kind nicht geliebt gefühlt hat und sich im Nachlass des Vaters darauf auch keine Antwort findet. Lieben dagegen schildert, wie die grosse Liebe gefunden wird, wie sich das Leben durch das erste Kind verändert und wie die Vaterrolle angenommen werden kann. Der dritte Roman, Spielen, ist der eigenen Kindheit und so der Entdeckung der Welt gewidmet. Lieben ist der Roman, in dem es um das Hineinfinden in die Erziehung geht und auch um die Frage wie man es besser machen kann als die eigenen Eltern. Sie, ihre Persönlichkeit, Handlungen und Entscheide, waren die schmerzhaften Rätsel der Kindheit, die sich mit den eigenen Kindern nicht wiederholen sollen, obwohl darüber nur die Kinder entscheiden können. Die grossen Fragen der Erziehung stellen sich nur für die Erwachsenen. »Als Kind ist man ja ganz von der Welt erfüllt« und hat keine Distanz (Lieben: 303). Aber in der eigenen Kindheit hatte man auch keine Wahl (ebd.: 575). Wie wird ein Schriftsteller dann Vater und übernimmt Verantwortung? An einer Stelle heisst es: »Ich war allein und arbeitete an einem Text. Mehr brauchte ich nicht« (ebd.: 476). Alles andere »nahm ich wie es kam. Lief es gut, nun, dann lief es gut. Lief es nicht gut, nun, dann lief es eben nicht gut. Der Unterschied spielte für mich keine grosse Rolle« (ebd.: 573). Doch Erziehung kann man nicht lakonisch betreiben. Knausgård der Vater verhält sich anders und muss sich anders verhalten als Knausgård der

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Schriftsteller, spätestens mit dem Wunder der Geburt der Tochter Vanja und so der neuen Dreisamkeit. Das Wunder jedoch muss in den Alltag übergehen. »Aber so sehr ich mich auch bemühte, ich fand einfach keinen Zugang zu ihm, es gab immer etwas anderes, das wichtig war. Vanja saß im Wagen und schaute sich um, wenn ich in der Stadt mal hierhin, mal dorthin trabte, oder saß mit einer Schaufel in der Hand im Sandkasten und grub auf dem Spielplatz im Park Humlegården, wo die ranken und schlanken Stockholmer Mütter um uns herum pausenlos mit ihren Handys telefonierten und den Eindruck erweckten, als säßen sie in irgendeiner verdammten Modenschau, oder sie saß in ihrem Stühlchen in unserer Küche und schluckte das Essen, mit dem ich sie fütterte. Das alles langweilte mich zu Tode.« (Ebd.: 93)

Wer das öffentlich sagt, gar mit der Aura des moralisch verantwortlichen Schriftstellers, löst unweigerlich Empörung aus. Zwar kann man über die Prinzipien der Erziehung trefflich streiten, entlang der erstaunlich zählebigen Achse ›progressiv‹ oder ›konservativ‹ und so autoritätsbezogen oder kindzentriert, aber sich als Vater mit dem eigenen Kind langweilen und das auch noch sagen, das geht nicht und wird sofort sanktioniert. Die pädagogische Norm verlangt Glücksgefühle, Zurückstellung der eigenen Wünsche und grenzenlose Empathie, während das Erleben von und mit Kleinkindern irritieren und den gewohnten Alltag ohne positiven Ersatz stören kann. Aber die Frage, was man mit dem Kind preisgibt und nicht zurückerhält, darf erst gar nicht gestellt werden. »Mit der Zeit beherrschte ich die gesamte Kleinkindapparatur, es gab nichts, was ich im Zusammenleben mit ihr nicht bewältigte, wir waren überall, aber egal, wie gut alles klappte, und egal, wie gross die Zärtlichkeit war, die ich für sie empfand, Langeweile und Fruchtlosigkeit waren grösser.« (Ebd.: 94)

Der progressive Vater der Norm dürfte nie Ambivalenzen empfinden, die Normen der Erziehung kennen keine Belastungsgrenzen und sie lassen sich durch Irritationen nicht verunsichern. Wer mit den Normen Mühe hat, muss sich befragen, nicht die Normen, und wer ihnen nicht folgen kann oder will, wird gerade in progressiven Milieus ausgegrenzt. Und ein Wort wie ›Kleinkindapparatur‹ wäre fast eine Sache für den Kinderschutz, denn die Normen kontrollieren die Sprache und falsche Wörter verweisen auf falsche ­Haltungen.

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Warum das so ist, fragt sich in pädagogisch selbstgewissen Milieus nicht. Dass die moderne Erziehung ein einziger ›Irrsinn‹ sein kann, lässt sich nach einigen Erfahrungen schnell einmal vermuten, aber das hebt die Welt der progressiven Normen nicht aus den Angeln. »Was früher etwas völlig Normales gewesen war, über das man nicht viele Worte verloren hatte, also Kinder, wurde nun ganz in den Vordergrund des Daseins gerückt und mit einer Energie beackert, die eigentlich jeden veranlassen sollte, die Augenbrauen zu heben, denn was hatte das zu bedeuten? Mitten in diesem Irrsinn schob ich als einer von vielen Vätern, die ihrer Vaterschaft Vorzug vor allem anderen einräumten, mein Kind durch die Gegend.« (Ebd.: 95f)

Über Kinder werden heute öffentlich wie privat ungezählt viele Worte verloren, denen eines gemeinsam ist, nämlich der Positivierungszwang der Pädagogik, also das Gute der Erziehung annehmen zu müssen, ohne Widerspruch einlegen zu dürfen. Und wenn Knausgård dann noch von seiner »Verweiblichung« spricht (ebd.: 96), dürfte für viele das Maß voll sein. »Dass ich mit diesen Gefühlen allein stand, bezweifelte ich, denn gelegentlich meinte ich, den unruhigen Blick einzelner Männer auf dem Spielplatz wiederzuerkennen, genau wie die Ratlosigkeit in ihren Körpern, denn sie machten nicht selten ein paar Klimmzüge am Klettergerüst, während die Kinder ringsum spielten« (ebd.: 96). Bei aller geteilten Verantwortung für das Kind (ebd.), als »Vater in Elternzeit« (ebd.: 92), muss auch der Preis bedacht werden, den die Priorität Kind hat. Ein Jahr Verzicht für Linda, die Ehefrau, ist theoretisch kein ›Preis‹, wohl aber eine durch und durch ambivalente Anstrengung, die niemand honoriert, weil sie gar keine sein soll und als selbstverständlich erwartet wird. Schliesslich ist es ein grosser Fortschritt für alle, wenn die Kinder »ganz in den Vordergrund des Daseins gerückt« werden. Damit erfüllt sich eine reformpädagogische Prophezeiung, die nur von Reaktionären angezweifelt wird. Niemand geringerer als John Dewey hat ja von der »kopernikanischen Wende« (Dewey 2002: 42) zum Kind g­ esprochen,4

4 | Unterstützt wurde diese Metapher mit ideengeschichtlichem Aufwand durch Hans Blumenberg (2011: 311ff ), natürlich ohne sich auf Dewey zu beziehen.

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allerdings zu einer Zeit, als niemand eine Vorstellung davon hatte, was sich konkret mit dieser Mittelpunktstellung verbinden würde, nicht zwingend ein Segen für das Kind, wohl aber eine normative Last für die Eltern, die inzwischen von der Öffentlichkeit auch eingeklagt wird. Die Last wird aus normativen Gründen heruntergespielt und mit der Pflicht für das »heilige Kind« aufgewertet. In Knausgårds Werk spielen Engel eine wichtige Rolle, aber nicht als »Symbol für Reinheit«, sondern in ihrer körperlichen und physischen Seite (ebd.: 610), also als wären sie eine Art Kinder, die reale Kinder nie sein können. Engel kann man sich vorstellen und so erwarten, auch weil sie selbst keine Forderungen stellen, Kinder – und zumal ganz kleine – stellen Forderungen, ja bestehen geradezu aus solchen, auch deshalb gibt es, anders als bei ökonomischen Investitionen, keinen Return und ist Verzicht gefragt. Und der kann doch nicht so schwer sein. »Warum sollte ich nicht ein Jahr darauf verzichten können, zu schreiben und stattdessen für Vanja ein Vater sein, während Linda ihre Ausbildung abschloss? Ich liebte die beiden, sie liebten mich. Warum hörte all das andere nicht auf, an mir zu reissen und zu zerren?« (Lieben: 118)

Liebe schützt nicht vor Irritationen und Versagungsängsten gerade dort, wo man sich der Liebe würdig erweisen will. Liebe ist nur in fragilen Balancen möglich und die vertragen nicht sehr viele Kränkungen. Aber dann müssen eben die Anstrengungen verdoppelt werden. »Ich musste mich einfach mehr darauf einlassen. Alles andere vergessen und mich tagsüber nur auf Vanja konzentrieren. Linda alles geben, was sie brauchte. Ein guter Mensch sein. Zum Teufel, ein guter Mensch, sollte das für mich etwa nicht zu erreichen sein?« (Ebd.)

Gemeint ist der »gute Mensch« der Erziehung, also der Vater, der nicht an sich denkt und selbstlos agieren kann. Aber das Ideal wird täglich gestört, nicht nur durch die finanzielle Lage (ebd.: 131), sondern durch die Ambivalenz der selbstgewählten Aufgabe ›Erziehung‹. In Liebe kann der Kinderwunsch die Zukunft nur verklären und als er ausgesprochen war, von ihm, fühlte er sich zum ersten Mal in seinem Leben »vollkommen glücklich« (ebd.: 291f). Aber jede Emphase kommt an den »Punkt«, an dem sie endet (ebd.: 304) und dann schwebt niemand mehr, sondern mit der »Wende« des Lebens

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durch das Kind müssen die schmerzlichen Überraschungen, die, die nicht im Lehrbuch des Glücks stehen und der Test sind auf die Liebe, ausgehalten werden. »Wir wollten ein Kind bekommen. Dass uns etwas anderes als Glück erwarten könnte, kam uns niemals in den Sinn. Mir jedenfalls nicht. In solchen Fragen, die nicht mit Philosophie, Literatur, Kunst oder Politik zusammenhängen, sondern ausschliesslich das Leben betreffen, wie es gelebt wird, in mir und um mich herum, denke ich nie. Ich fühle, und die Gefühle bestimmen mein Handeln. Für Linda galt, vielleicht sogar in einem noch grösserem Masse, das Gleiche.« (Ebd.: 310)

Auf etwas anderes als das eigene Gefühl kann man sich bei dieser Entscheidung auch tatsächlich kaum verlassen. Aber die Entscheidung verfügt nicht über die Folgen, der langsame Wandel der Beziehung ist im Lehrbuch des Glücks ebenso wenig vorgesehen wie der Zweifel an der Liebe aufgrund der Schwangerschaft. Linda fiel in einen »Abgrund« und er stand ganz schnell am Rande (ebd.: 311f). »Wenn sie sagte, dass ich sie im Grunde nicht liebte, in Wahrheit nicht mit ihr zusammen sein, die ganze Zeit allein sein und meine Ruhe haben wollte, dann wurde es mit jedem Mal ein wenig wahrer. Woher kam ihre Verzweiflung? War ich der Auslöser für sie? War ich kalt? Dachte ich etwa nur an mich?« (Ebd.: 312)

Die Spannungen verstärkten sich, sie brauchte eine Therapeutin, einmal schlug sie ihn (ebd.: 314), sie standen vor der Trennung (ebd.: 315), sprachen sich aus und die Ambivalenz blieb. »Ich wollte Kinder mit ihr haben. Das hatte ich nie zuvor empfunden. Und dass ich so erfüllt davon gewesen war, liess mich sicher sein, dass es richtig war. Ohne jeden Zweifel. Aber zu jedem Preis?« (Ebd.: 319) Nicht die Geburt macht den Preis sichtbar, sondern erst das Leben mit dem Kind, nur dass von einem »Preis« keine Rede sein darf. Die wahre Erzie-

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hung kennt keinen Preis, nicht einmal den der Erschöpfung, der am ehesten ­erwartbar wäre. Auch zerplatzte Träume sind kein Preis, sondern nur die Folge der falschen Vorstellung. Illusionen gibt es in der Erziehung immer nur im Nachhinein. Die pädagogische Alltagswelt wird beherrscht von merkwürdigen Geistern wie »Helikoptereltern«, Kindertherapeuten, die gegen »kleine Tyrannen« helfen können, Reformpädagogen, die das »Lob der Disziplin« singen oder Professorenmütter, die auf strenge Autorität schwören oder wieder andere, für die durch die Versöhnung mit dem »inneren Kind« die Lösung der Erziehungsprobleme gegeben ist (vgl. Stahl 2015). Alle können für sich in Anspruch nehmen, das Beste für das Kind zu wollen, das eigene, das fremde oder das innere, und müssen doch nie einen Preis nennen. Aber reale Erziehung hat immer ihren Preis, den man erst erkennt, wenn man von der Propaganda der besten Lösungen absieht und sich auf das Geschehen mit Kindern einlässt.

S zenen

der

E rziehung

Der Roman Lieben beginnt mit einer Feststellung, die die Autorität, über Erziehung sprechen zu können, genau festlegt, nämlich auf die bezieht, die die Erfahrung machen: »Menschen, die selber keine Kinder haben, begreifen nur selten, was dies bedeutet, ganz gleich, wie reif und intelligent sie ansonsten sein mögen, zumindest traf das auf mich zu, bevor ich selber Vater wurde« (ebd.: 6). Das wird an einem befreunden Ehepaar demonstriert, das so unvorsichtig war, Karl Ove Knausgård und seine Frau Linda, nunmehr mit drei Kindern, einzuladen. Die beiden Freunde leben einzig für ihre Karrieren (ebd.). »In dieses Leben platzten wir mit unseren feuchten Tüchern und Windeln und John, der überall herumkrabbelte, Heidi und Vanja, die sich streiten und schreien, lachen und weinen, die niemals am Tisch essen, niemals tun, was wir sagen, jedenfalls nicht, wenn wir bei anderen Leuten sind und wirklich wollen, dass sie sich benehmen, denn das merken sie, und je mehr für uns auf dem Spiel steht, desto wilder werden sie, und obwohl das Sommerhaus gross und geräumig wirkte, war es doch nicht so gross und geräumig, dass sie zu übersehen gewesen wären.« (Ebd.: 7)

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Erik, der Freund, tat so, »als könnte ihm in seinem Haus nichts Furcht einflössen« und er wollte sich »gerne grosszügig und kinderfreundlich zeigen«, aber seine »Körpersprache sagte kontinuierlich etwas anderes, diese eng an den Körper gepressten Arme, seine Art ständig Sachen an ihren richtigen Ort zu legen, und die grosse Distanz in seinem Blick« (ebd.). Niemand hat heute etwas gegen Kinder, jedenfalls in der Öffentlichkeit und gesteuert durch normative Überzeugungen. Insofern findet die pädagogische Kindzentrierung auch kaum noch Widerspruch. »Vom Kinde aus« ist zur Überzeugung mit Pathosgefahr geworden. Noch die »Kinderhasserbücher« sind Ratgeber für Eltern, die das Geschick zum Besseren wenden oder mindestens für Entlastung sorgen wollen (vgl. Mansbach 2011).5 Aber im realen Leben sind Kinder Fremdkörper, auf die sich außer den Eltern niemand wirklich einlassen will, nur darf man nicht sagen, dass sie stören, wo sie doch willkommen sein müssen. Über Eric und die Kinder heisst es: »Den Dingen und dem Ort, die er sein Leben lang gekannt hatte, war er nah, fern dagegen denen, die es in diesen Tagen bevölkerten, er betrachtete sie in etwa so, wie man Maulwürfe oder Igel betrachtet.« (Lieben: 7)

Eltern müssen lernen, mit diesem Doublebind umzugehen, genauso wie sie lernen müssen, sich in Slapstick-Situationen zurechtzufinden, auf die niemand vorbereitet werden kann. Eine Situation spielt auf einem Ausflug der Familie zu dem heruntergekommenen Freizeitpark »Märchenland«, wo alles »so traurig, so wenig und so billig war« (ebd.: 9f). Nach dem Besuch eines kleinen Zirkus wurde eine Losbude gesichtet. Die beiden älteren Kinder sollten ihr Vergnügen haben. Der Rahmen für die Handlung wird so beschrieben: »Wir mussten für neunzig Kronen Lose kaufen, bis jede der beiden ihre kleine Stoffmaus in der Hand hielt. Am Himmel über uns brannte die Sonne, die Luft im Wald stand, die allgegenwärtigen klingelnden und gellenden Töne der Spielautomaten vermischten sich mit der Discomusik aus den achtziger Jahren aus den Buden ringsum.« (Ebd.: 11)

5 | Bedarf war vorhanden, bis Mai 2011 waren bei Amazon mehr als 200.000 Vorbestellungen eingegangen und die Startauf lage lag noch höher (Die Welt vom 16. Juni 2011).

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Das ist grässlich genug, aber nur für Erwachsene, nicht für die Kinder und ihren ausgeprägten Hang, in einer solchen Situation weitere Forderungen zu stellen, weil sie wissen, dass die Eltern nicht ›nein‹ sagen werden. »Vanja wollte Zuckerwatte haben, so dass wir zehn Minuten später an einem Tisch neben einem Kiosk saßen, umschwirrt von aggressiven und aufdringlichen Wespen und im gleissenden Sonnenlicht, weshalb der Zucker an allem klebte, was er berührte, also an der Tischplatte, dem Wagenrücken, an Armen und Händen, und zwar zum lautstarken Ärger der Kinder, denn so hatten sie sich das nicht vorgestellt, als sie den Behälter mit dem schwirrenden Zucker am Kiosk gesehen hatten.« (Ebd.)

Das war noch nicht alles, Slapstick heisst ja, dass noch ein Akteur hinzukommen muss, der den Schmerz steigert,6 die Verwirrung komplett macht und eine Reaktion nahelegt. »Mein Kaffee war bitter, fast ungeniessbar. Ein kleiner schmutziger Junge kam mit seinem Dreirad auf uns zu, fuhr geradewegs gegen Heidis Wagen und sah uns erwartungsvoll an. Er hatte dunkle Haare und dunkle Augen, mochte rumänischer oder albanischer Abstammung sein, vielleicht auch griechischer. Nachdem er das Dreirad noch ein paar Mal gegen den Wagen gefahren hatte, stellte er sich so, dass wir nicht hinauskommen konnten, und blieb dort stehen, den Blick nun jedoch zu Boden gerichtet.« (Ebd.: 11f)

Weiter auf dem Parkgelände: Baby John schreit, Vanja, die Älteste, hat sich versteckt und Heidi, zwei Jahre alt, will nicht, dass der Vater zu Linda geht, die in einiger Entfernung John im Arm hält. »Ich griff Heidis Hand. ›Will nicht‹, sagte sie ›will nicht an die Hand‹. ›Dann eben nicht‹, sagte ich, ›Aber dann setzt dich in den Wagen.‹ ›Will nicht Wagen‹, erwiderte sie. ›Soll ich dich lieber tragen? ‹ ›Will nicht tragen‹, sagte sie.

6 | »No pain no gain« (Peacock o.J.).

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Ich ging hinunter und holte den Wagen. Als ich zurückkam, war sie auf den Zaun geklettert. Vanja hatte sich auf die Erde gesetzt. Auf der Hügelkuppe hatte Linda mittlerweile das Restaurant verlassen, stand auf dem Weg und winkte uns mit der freien Hand zu sich. John schrie noch immer« (ebd.: 15).

Wenn Interaktionen pädagogisch beschrieben werden, dann gehen sie immer gut aus, weil ja ein Ziel erreicht werden soll. Und wird das Ziel verfehlt, dann kann ein neuer Anlauf genommen werden. Reale Interaktionen kennen missliche Abzweigungen und ungeahnte Steigerungen des Problemgehalts. John schreit, Heidi ist bockig und Vanja will nicht gehen, weil ihre Beine müde sind. Der Vater lässt sich auf eine Verhandlung ein und versucht es mit Vernunft, wobei er es mit einem doppelten Eigenwillen zu tun hat, der sich nicht koordinieren lässt und doch irgendwie ausgehalten sein will. »›Du bist doch den ganzen Tag kaum ein paar Meter gegangen‹, sagte ich. ›Wie kannst du da müde Beine haben? ‹ ›Ich habe keine Beine. Du musst mich tragen. ‹ ›Nein Vanja, was ist denn das für ein Unsinn. Ich kann dich nicht tragen.‹ ›Doch.‹ ›Setz dich in den Wagen, Heidi‹, sagte ich. ›Dann gehen wir zum Reiten.‹ ›Will nicht Wagen‹, sagte sie. ›Ich habe keine Beeeiiine‹, sagte Vanja. Das letzte Wort schrie sie« (ebd.: 15f).

Einsichtige Kinder in diesem Alter dürften die Ausnahme sein, in der Theorie für den Vater wären Geduld und Nachsicht erforderlich, es darf keinen Kontrollverlust geben, die Situation aber ist öffentlich und sie muss schnell gelöst werden. »In mir blitzte Wut auf. Der Impuls, die beiden hochzuheben und unter die Arme geklemmt zu tragen. Es war mehr als einmal vorgekommen, dass ich mit ihnen zappelnd und schreiend unter den Armen gegangen bin, ohne den Passanten gegenüber auch nur eine Miene zu verziehen, die uns immer wieder anglotzten, wenn wir unsere Szenen hatten, als trüge ich eine Affenmaske oder etwas in der Art.« (Ebd.: 16)

Diesmal gibt er nach und lässt Vanja gewinnen. Wieso gewinnen, fragt sie noch und damit beruhigt sich die Lage (ebd.: 16f). Aber das Gefühl, in

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­öffentlichen Erziehungssituationen der »Affe« zu sein, dürfte vielen Eltern geläufig sein, zumal Passanten sich nicht scheuen, mit Hinweisen auf die richtige Erziehung einzugreifen und nach der ersten Bloßstellung durch die Kinder für eine zweite zu sorgen. Andererseits sorgen die Kinder für die grossen Einsichten, nicht nur weil das erste Kind »alles verändern würde« (ebd.: 43), sondern auch in dem Sinne, dass Kinder die Absichten der Erwachsenen durchschauen und zugleich wissen, dass sie geschützt werden. »Aber da ihnen die Firnis der Erwachsenen aus Höflichkeit und Anstand vollkommen abgeht, heisst dies auch, dass sie ungehindert hinter die äussere Erscheinung meines Charakters gelangen können, um dort nach Belieben zu wüten« (ebd.: 53). Kinder können auch hemmungslos streiten und Eltern ausnutzen (ebd.: 56f), sie bilden untereinander Koalitionen, tun Dinge, die sie nicht tun sollten (ebd.: 61), haben »grandiose Wutanfälle« (ebd.: 64) und lachen dann wieder vor Freude, wenn sie erfahren, wie einzigartig sie sind (ebd.: 65f). Dazu muss man keinen »primären Narzissmus« bemühen, sondern auf die Erfahrung achten und verstehen, dass Kinder nicht den Eltern gehören und ihr Leben ganz und gar ihr eigenes ist (ebd.: 66). Aber das Leben von Eltern ist pädagogisch organisiert und wird von der Idee gelenkt, dass mit der Förderung des eigenen Kindes nicht früh genug begonnen werden kann. Linda beschließt daher, mit Vanja schon bald nach der Geburt zu »einer Art Babyrhythmik« zu gehen, die in der Stadtbibliothek von Stockholm angeboten wird (ebd.: 96). Trotz »Widerstand gegen die Rolle als Softie« muss Karl Ove während seiner Elternteilzeit den Kurs übernehmen, weil dem Kind sonst etwas fehlen würde, das es nicht woanders oder später erlangen könnte (ebd.: 96f). Er war neu im Kurs, nicht allein, aber der einzige Mann. Zu Beginn mussten sich die Neuzugänge vorstellen und dann sollte das Willkommenslied gesungen werden. Die Kursleiterin, eine junge, schöne Frau (ebd.: 97), schlug den ersten Akkord an und erläuterte, was getan werden musste. Die Eltern sollten nacheinander den Namen ihres Kindes sagen und wenn sie ihnen zunickte, dann würden alle den Namen des Kindes singen (ebd.: 99f). »Das Lied handelte davon, dass man seinen Freund mit Hallo begrüssen und dabei mit der Hand zuwinken sollte, wobei die Eltern, deren Kinder noch zu klein waren, um dies zu begreifen, deren Handgelenke packten und mit ihren Händen wedelten, was auch ich tat, während ich, als die zweite Stro-

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phe einsetzte, keine Entschuldigung mehr hatte, stumm dazusitzen, und folglich mitsingen musste.« (Ebd.: 100)

Im Chor hoher Frauenstimmen klang die tiefe Stimme des einzigen Mannes »wie eine Krankheit«. Zwölf Mal sang man so im Sitzkreis das »Hallo für unseren Freund«, also das eigene Kind, bis alle Namen erwähnt waren und zum nächsten Punkt im Kursprogramm übergegangen werden konnte. Im zweiten Lied ging es um die Körperteile, die von den Kindern berührt werden sollten, sobald sie erwähnt wurden, also Stirn, Augen, Nase, Mund oder Bauch, Knie und Fuß. »Dann wurden unterschiedliche rasselartige Instrumente verteilt, mit denen wir rasseln sollten, während wir ein neues Lied sangen. Ich war nicht peinlich berührt, es war nicht beschämend dort zu sitzen, es war demütigend und herabwürdigend.« (Ebd.) Danach sollte mit den Babys getanzt werden. Die Kursleiterin legte ihre Gitarre auf den Boden, fordert die elf Frauen und den einen Mann auf, einen Kreis zu bilden, erklärte, wie getanzt werden solle und drückte dann die Taste auf dem CD-Player. Man hörte eine volksmusikartige Melodie, ging hintereinander und lenkte jeden Schritt vorwärts nach dem Takt der Musik. Dann wurde mit dem Fuß aufgestampft und sich im Kreis gedreht, bevor es wieder zurückging. »Viele fanden grossen Spass daran, man hörte Lachen und sogar vereinzelte Jauchzer. Als das vorbei war, sollen wir mit den Kindern alleine tanzen. Ich wankte mit Vanja auf dem Arm umher und überlegte, dass es so in der Hölle aussehen musste, sanft und nett und voller fremder Mütter mit Babys.« (Ebd.: 101)

L iteratur

und

Pädagogik

Kein Roman geht in Erziehung auf, Leben ist mehr als Vaterschaft oder Mutterschaft, auch Kinder sind nicht der ganze Gehalt des Lebens, in dem sie ihren Platz finden müssen. Was ihnen dabei behilflich ist, kann man ›Erziehung‹ nennen, aber muss sich hüten, das Thema von der Lebenserfahrung zu lösen und isoliert zu behandeln. Kinder sind keine abstrakten Größen, sie sind überhaupt auch keine ›Größen‹, sondern lebendige Wesen, die aufwach-

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sen und denen man es leichter oder schwerer machen kann, ohne genau zu wissen, was das ›Richtige‹ ist. Das klärt sich im Nachhinein und nie ohne Zwiespalt. Ideale, Werte und Normen versuchen, Erziehung eindeutig zu machen, aber genau deswegen sind sie nie konkret. Handelnde dagegen geraten häufig in die Lage, die eigenen Ideale unterlaufen zu müssen, weil das Gegenteil vordringlich erscheint oder die Erfahrung etwas anderes lehrt. Und konkret ist Erziehung ein Prozess voller Ambivalenzen, der sich nie mit dem deckt, was zu Beginn erwartet wurde. Als Vanja klein war und noch keine Geschwister hatte, sollte sie das Privileg der Erstgeboren erhalten, nämlich »tun dürfen, was sie wolle« (ebd.: 478). Unter Intellektuellen oder überhaupt unter jungen Paaren ist die antiautoritäre Pädagogik oft Konsens, weil sie an die Repressionen ihrer eigenen Kindheit denken, die sie ihren Kindern ersparen wollen (ebd.). Aber damit wird der Eigensinn der Kinder unterschätzt und ein liberales Wohlwollen an den Tag gelegt, das keinen Praxistest übersteht und dann kleinlaut korrigiert werden muss. Weder Eltern noch Kinder folgen einfach pädagogischen Idealen, denen sie aber auch nicht entgehen. Die bildungspolitische Macht dieser Ideale ist ungebrochen, weil damit eine Bedürftigkeit unterstellt werden kann, die häufig gar nicht gegeben ist. Nur die Pädagogik braucht Defizite, weil sie sonst keine Ziele hätte, und das definiert ihre Macht. Karl Ove Knausgårds Romane handeln von Schwächen und Peinlichkeiten ebenso wie von mutigen Entscheidungen und der Übernahme von Verantwortung, sie erzählen vom alltäglichen Erziehungswahn und vom Glück über die Kinder, sie decken die Schwächen der Erwachsenen auf und die Stärken der Kindern, aber sie können beide Geschichten auch umgekehrt erzählen, Eltern sind nicht immer einig und Kinder können das gut ausnutzen, und nie gibt es einen überlegenen Standpunkt. Mit diesen Ambivalenzen rechnet man nicht, wenn man sich für Kinder entscheidet. Beide, Eltern wie Kinder, müssen lernen, damit umzugehen, ohne den Königsweg der Erziehung je zu finden. Fluide Erfahrungen mit einem hohen Grad an Uneindeutigkeit lassen sich nicht mit Theorien erfassen, aber vielleicht belehren darüber ja Romane. Knausgård jedenfalls formulierte seine zentrale Botschaft zum Aufwachsen nach einem heftigen Konflikt mit Linda über Erziehung, in dem ein Wort das andere gab und am Ende nur noch das Kind da war.

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»Ich begegnete Vanjas Blick und lächelte sie an. Sie lebte in ihrer eigenen Welt, die durch Gefühle und Wahrnehmungen, körperliche Berührungen und den Klang unserer Stimmen mit unserer verbunden war. Zwischen den Welten zu wechseln, wie ich es jetzt tat, indem ich im einen Augenblick sauer auf Linda war und im nächsten Vanja fröhlich anlächelte, war seltsam, und es kam mir fast so vor, als lebte ich zwei strikt getrennte Leben. Sie lebte dagegen nur eins, und schon bald würde es in das andere hineinwachsen, wenn ihre Unschuld verschwand und sie etwas damit verband, was in solchen Augenblicken zwischen Linda und mir geschah.« (Ebd.: 508)

L iteratur Barron, Jesse (2013): »Completely without Dignity: An Interview with Karl Ove Knausgård«, in: The Paris Review December 26th. http://www.theparisreview.org/blog/2013/12/26/completely-without-dignity-an-interview-with-karl-ove-knausgaard/ Blumenberg, Hans (2011): Die Vollzähligkeit der Sterne. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. Dewey, John (2002): Pädagogische Aufsätze und Abhandlungen (1900-1944). Mit einem Vorwort neu hrsg. v. Horlacher, Rebekka /Oelkers, Jürgen. Zürich: Verlag Pestalozzianum. Guski, Alexandra (2007): Metaphern der Pädagogik: Metaphorische Konzepte von Schule, schulischem Lernen in pädagogischen Texten von Comenius bis zur Gegenwart. Bern et. al.: Peter Lang Verlag (= Explorationen. Studien zur Erziehungswissenschaft, hrsg. v. Jürgen Oelkers, Band 53) Handke, Peter (1981): Kindergeschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp ­Verlag. Knausgård, Karl Ove (2013): Lieben. Roman. Aus dem Norwegischen v. P. Berf. 8. Aufl. München: btbverlag. (zitiert als „Lieben“) Mansbach, Adam (2011): Go the Fuck to Sleep. New York: Akashic Books. Oelkers, Jürgen (1981): »Müssen uns die Dichter sagen, was Erziehung ist?« in: Neue Sammlung Band 21, S. 273-284. Oelkers, Jürgen (2002): »La formacion como novela : perspectivas de Tristram Shandy«. in : Revista Educacion y Pedagogia Vol. XIV, No. 32 (enero-abril 2002), S. 195-206.

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Peacock, Louise Sarah: No Pain No Gain. The Provocation of Laughter in Slapstick Comedy. O.J. http://www.academia.edu/3207864/No_Pain_ No_Gain_The_Provocation_of_Laughter_in_Slapstick_Comedy Rorty, Richard (1998): Achieving our Country. Leftist Thought in TwentiethCentury America. Cambridge, Mass./London: Harvard University Press. Rothman, Joshua (2014): What is the Struggle in »My Struggle«? (My Struggle 1-3) in: The New Yorker 28th May. http://www.newyorker.com/books/ page-turner/what-is-the-struggle-in-my-struggle Stahl, Stefanie (2015): Das Kind in dir muss Heimat finden. Der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme. München: Kailash Verlag. Stokes, Emily (2014): The Proustian Achievement of Norwegian Writer Karl Ove Knausgaard (My Struggle, Book 1-3). In: Financial Times 14th March. http://www.ft.com/cms/s/2/e3900536-aa11-11e3-8497-00144feab7de.html#axzz4FPCpyPub

Bildungsprozesse im Roman? Eine Auseinandersetzung mit Hans-Christoph Kollers Konzept bildungstheoretischer Romanlektüre Rainer Kokemohr »Der 60. Geburtstag eines Freundes und Kollegen, der inmitten eines erfüllenden Alltags ein mental 50-Jähriger ist, ist Anlass, das gemeinsame Arbeitsprojekt einer Theorie der Bildungsprozesse zu bedenken und diskutierend zu vertieftem Verständnis der Sache beizutragen1 .«

I. Bildungsprozesse sind nur ausnahmsweise zu beobachten. Sie vollziehen sich in performativ flüchtiger Emergenz oft in kaum auffälliger Veränderung von Signifikantensystemen, Bewusstseinsverfassungen und Verstehenspotentialen. Dramatisch geben sie sich nur selten kund. Ihre prozessuale Performanz entzieht sich einfachen Vorher-Nachher-Vergleichen. Deshalb sucht Hans-Christoph Koller nach spezifischen Zugängen. Um Einsichten in Charakter und Struktur von Bildungsprozessen zu gewinnen, analysiert und interpretiert er seit einigen Jahren Romane, in denen Erzähler über ihren Lebensweg oder bedeutsame Lebenssequenzen sprechen. Dies ist der interessante Versuch, Bildungsprozesstheorie mit Sprach- und Literaturwissenschaft zu verbinden und in der Untersuchung rhetorischer, semantischer, syntaktischer oder anderer stilbildender Merkmale den empirischen

1 | In diesem Interesse haben wir bis zu meiner Emeritierung im Hamburger Oberseminar, in Symposien sowohl in Hamburg als auch im außereuropäischen Raum und in Publikationen zusammengearbeitet.

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Gehalt einer Theorie der Bildungsprozesse zu substantiieren2 . Der Einsatz gilt der Frage, ob Romane vermöge ihrer literarischen Textualität Auskünfte über Bildungsprozesse geben können, die auf anderem Wege vielleicht nicht zu erreichen sind. Dem Anspruch ist widersprochen worden. Einen typischen Einspruch hat Klaus Prange formuliert. Er kritisiert Kollers Einsatz, weil sich in einem Roman der »Realitätsgehalt von Sätzen über Erziehung, Bildung und Sozialisation« (Prange 2005: 732) nicht prüfen lasse. Knapp formuliert ist dies das Argument, dass ein Roman eine Fiktion und von Realität kategorial geschieden sei. Koller weist das Argument zu Recht als unaufgeklärt zurück (Koller 2014a: 333-349). Es beruhe »auf der Entgegensetzung von ›Text‹ und ›Realität‹ bzw. von ›erzählender Literatur‹ und ›Tatbestandsberichten‹«. Es unterstelle, »es gebe einen Zugang zur Realität bzw. zu pädagogisch relevanten Tatbeständen, der nicht über ›Texte‹, ›Meinungen‹ und ›individuelle Ressourcen‹ vermittelt sei – und d.h.: man könne die fragliche Realität in irgendeiner Weise objektiv erfassen« (ebd.: 345. Hervorhebungen durch den Autor). Pranges Kritik verfehle den ontologischen Status des Untersuchungsgegenstandes. Denn es handele »sich bei der gesellschaftlichen Wirklichkeit im Allgemeinen und der pädagogisch relevanten Erziehungswirklichkeit im Besonderen […] um sinnhafte, d.h. symbolisch strukturierte Konstruktionen, die in intersubjektiven Zuschreibungsprozessen hervorgebracht wurden und nur kraft solcher Sinnzuschreibungen sind, was sie sind« (ebd.: 345f). Zur Verdeutlichung verweist Koller auf den semiotischen Charakter unserer Verhältnisse zur Welt und zu uns selbst. Bildungsprozesse »bringen uns nicht in unmittelbaren Kontakt mit der Welt bzw. mit uns selber, sondern sind sprachlich bzw. zeichenförmig strukturiert, und d.h. vermittelt durch symbolische oder diskursive Ordnungen, mittels derer wir Welt und Selbst wahrnehmen und deuten.« Aus der Anerkennung dieses Sachverhalts resultiert sein entscheidendes Argument, dass nämlich »Bildungsprozesse als Transformationen solcher Welt- und Selbstbezüge selbst sprachliche bzw. diskursive Vorgänge sind« (ebd.: 345f. Hervorhebungen durch den Autor). Er entzieht Pranges Kritik den Boden, indem er auf die zeichentheoretische Erkenntnis hinweist, dass Sinnwelten selbst nur semiotisch zu artikulieren sind, eine Einsicht, hinter die eine philosophische, geistes- oder s­ ozialwissenschaftliche

2 | Auch diese Aufmerksamkeit teilen wir seit langem.

Bildungsprozesse im Roman?

Auseinandersetzung mit Sinnwelten nicht zurückgehen dürfe. Koller verortet seinen Ansatz also im Rahmen der in den sprach- und zeichenbezogenen Wissenschaften allgemein anerkannten semiotischen Wende. Und zu Recht bezieht er die Bildungstheorie in jene Wende ein, die verbietet, über den empirischen Gehalt von Bildungsprozessen nach einer schlichten Scheidelinie von Fiktion und Realität zu entscheiden. Zu diskutieren ist also nicht die zeichentheoretische Wende. Zu diskutieren ist, was diese Wende für eine empirisch gehaltvolle Bildungstheorie bedeutet. Eine zeichentheoretische Aufklärung von Bildungsprozessen konzentriert sich auf die Analyse und Interpretation ihrer materialen Erscheinungsform. Ob sich ausgewählte Romane als Erkenntnisquellen für »Bildungsprozesse als Transformationen solcher Welt- und Selbstbezüge« nutzen lassen, muss sich, wie Koller argumentiert, in ihren sprachlichen und diskursiven Zeichenprozessen ausweisen lassen. Mit diesem Anspruch tritt er in einen Forschungszusammenhang ein, der, da in bildungstheoretischer Hinsicht noch jung, zur Entwicklung konsistenter Begrifflichkeit einlädt. Wie Koller seinen Anspruch entfaltet, lässt sich an seinen literarischen Beispielen rekonstruieren. Zuvor ist jedoch anzumerken, dass in seinen Arbeiten Bildung, begrifflich als Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen gefasst, in unterschiedlichen Formulierungen vorkommt. »Transformationen solcher Welt- und Selbstbezüge« oder »Dispositionen der Welt- und Selbsterschließung« tauchen in den schon genannten Zitaten auf. In eingrenzender Absicht skizziert er den Begriff des Bildungsprozesses in der Untersuchung der biographischen Erzählung eines »Hakan« genannten Erzählers. Diese Erzählung, als narratives Interview mit dem 22-jährigen Hakan entstanden, hat einem Symposium zu erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung zugrunde gelegen (Die Ergebnisse sind veröffentlicht worden in: Koller/Wulftange 2014). Wie ich selbst waren auch andere der damaligen Beiträger – bei unterschiedlichen Bildungsbegriffen – zu eher skeptischen Aussagen über den Bildungsprozess des Erzählers gekommen. Ihnen widerspricht Koller in kritisch-programmatischer, gleichwohl umgangssprachlicher Rede durch das, was man eine Entdramatisierung oder auch Einebnung des normativen Bildungsanspruchs nennen könnte: »Was mich […] daran festhalten lässt, die Geschichte Hakan Salmans als Bildungsprozess zu deuten, ist der Eindruck, dass in der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung eine Tendenz besteht, die Messlatte

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für die Attestierung eines Bildungsprozesses so hoch zu hängen, dass sie nur ausgesprochen selten übersprungen werden kann.« (Ebd.: 234)

Koller wendet sich also gegen einen, wie er meint, überhöhten Anspruch. Er vermutet in der Erzählung des Hakan und, wie man hinzufügen darf, in Romanen Bildungsprozesse auch dann, wenn diese weniger ausgeprägt sind, als es seinem Verständnis zufolge implizit zurückgewiesene Vorstellungen fordern. Wie sich seine weniger hoch gehängte »Messlatte« zu »Transformationen solcher Welt- und Selbstbezüge« verhält, hat er, soweit ich sehe, bisher nicht entfaltet. Im Blick auf die Stärke der Vermutung überrascht, dass sie in vortheoretischer Sprache formuliert wird, die den theoretisch behaupteten Zeichencharakter der Sinngenese von Bildungsprozessen leicht vergessen lässt. Der Ton überrascht, weil Koller in jenem schon zuvor zitierten Text betont, dass »Bildungsprozesse als Transformationen solcher Welt- und Selbstbezüge selbst sprachliche bzw. diskursive Vorgänge sind, in denen Bedeutungszuschreibungen als basale Dispositionen der Welt- und Selbsterschließung revidiert, modifiziert oder restrukturiert werden« (Koller 2014a: 346). Zu ergänzen ist, dass an anderer Stelle eine ähnliche Formulierung erscheint, der zufolge man »Bildung als einen Prozess der Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen [begreift], der ausgelöst wird durch die Konfrontation mit Problemen, für deren Bearbeitung oder Bewältigung das bisherige Welt- und Selbstverhältnis eines Menschen nicht ausreicht«3 (Koller 2014b: 93). Die Differenz der Formulierungen liegt in drei Momenten. Die Metapher der Messlatte verzichtet auf den einen Bildungsprozess motivierenden Anspruch einer anders nicht zu verarbeitenden Problemerfahrung. Es fehlen Aussagen über strukturelle Momente von Bildung als einem zeichenkonstituierten Sinnbildungsprozess. Schließlich wird, statt von Welt- und Selbstverhältnissen, von Welt- und Selbsterschließung gesprochen, eine Formulierung, die an Klafkis in Hegel‘scher Tradition vertretenen Begriff kategorialer Bildung erinnert und die Aufmerksamkeit weniger auf den Zeichencharakter als auf den geistigen Prozess richtet, in dem das Individuum als gleichsam vorgängiges Subjekt eines erschließenden Tuns erscheint. 3 | Der hier zitierte Begriff von Bildungsprozessen hat seit den späten 1980er Jahren unseren gemeinsamen Diskussionen zugrunde gelegen. Gegenüber dem durch die Entwicklungslogik geprägten Begriff der Transformation bin ich allerdings inzwischen zurückhaltend geworden, weil er Bildungsprozesse auf ein zu enges Bett verpf lichten könnte.

Bildungsprozesse im Roman?

Die Rede von einer zu hoch gehängten Messlatte kann von der Anstrengung des Begriffs entlasten. Ich halte den Ausdruck für einen Missgriff. R ­ omane im Interesse an Einsichten in tatsächliche Bildungsprozesse zu lesen erfordert eine begrifflich strenge, epistemologische wie auch anthropologische Anerkennung des zeichenhaften Charakters von Sinnbildungsprozessen. Methodologisch schließt das epistemologisch-anthropologische Erfordernis die Rücksicht ein, dass bildungsbegriffliche Fassung und zeichentheoretische Analyse eines Romans in wechselseitiger Spannung und Korrektur zu vollziehen sind, so dass eine in der Spannung entstehende Interpretation eines Bildungsprozesses etwas über den Roman und seinen Leser aussagen kann. In dieser Situation versuche ich im Sinne konstruktiver Kritik, den Anspruch, anhand von Romanen Aussagen über Bildungsprozesse zu machen, in Wahrung ihres Zeichencharakters zu prüfen und den Horizont der Fragen zu präzisieren und ggf. auszubauen.

II. Ich rekonstruiere das Beispiel, das Koller in seiner Antwort auf Pranges Kritik nutzt. Es ist seine Interpretation von Imre Kertész’ Roman eines Schicksallosen. Ihm hatte er einige Jahre früher eine ausführliche Studie gewidmet (ebd.). Im ersten Schritt beziehe ich mich auf die Argumente, mit denen Koller der Prange-Kritik antwortet. Seine Antwort leitet er mit erzähltheoretischen Markierungen ein. Ein literarischer Text könne pädagogisch relevante Situationen aus der Sicht der beteiligten »Individuen (und d.h. hier vor allem: der zu Erziehenden)« (Koller 2014a: 341) thematisieren. Bedeutsam seien verschiedene Formen der vom Erzähltheoretiker G. Genette »Fokalisierung« genannten Perspektivität. Vermöge der »›Nullfokalisierung‹ des allwissenden Erzählers über die ›interne Fokalisierung‹ einer einzigen Figur bis zur Erzählung aus wechselnden Perspektiven verschiedener Figuren« (ebd.) könnten literarische Texte pädagogisch relevantes Geschehen so beschreiben, wie es sich »aus der Perspektive einer oder mehrerer beteiligter Personen darstellt« (ebd.). Koller sieht also in den Diskursen der »Personen« die Möglichkeit, Momente von Bildungsprozessen ohne den Umweg eines externen Beobachters zur Sprache zu bringen. Der Kertész-Roman erscheint als besonders guter Beleg für dieses Versprechen. Da Imre Kertész selbst als Jugendlicher nach Auschwitz und Buchenwald deportiert worden war, liegt nahe, das Werk als Darstellung der

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Widerfahrnisse zu lesen, und dies umso mehr, als der Roman streng aus der Sicht des Protagonisten artikuliert ist. Der »Roman erzählt in Ich-Form von den Erfahrungen eines 15-jährigen ungarischen Juden von der Einberufung seines Vaters zum Arbeitsdienst über die eigene Deportation nach Auschwitz, den Transport ins KZ Buchenwald und die Zwangsarbeit in einem ­weiteren Arbeitslager bis zur Befreiung im April 1945 und der Rückkehr nach Budapest.« Mit diesem knappen Überblick richtet Koller den Blick auf das im Roman dargestellte Geschehen. Dass dieses Geschehen als zeichenhaft verfasstes mitgeteilt wird, deutet er mittelbar in der Irritation des Lesers an: »Das Besondere und zugleich Irritierende an diesem Roman ist der Umstand, dass die Geschichte nicht in der Form eines Rückblicks erzählt wird, sondern aus der konsequent durchgehaltenen Perspektive eines 15-Jährigen, der im Gegensatz zu Autor und Leser nichts über Konzentrationsund Vernichtungslager weiß und deshalb die geschilderten Vorgänge völlig unvorbereitet erfährt und erst allmählich begreift, was da geschieht. Diese Erzählperspektive ist nicht nur faszinierend, sondern in hohem Maße auch irritierend, weil sie mit einer beträchtlichen Diskrepanz zwischen Berichtetem und Berichtsform einhergeht. So werden z.B. die Deportation und der Aufenthalt im Lager immer wieder mit Worten kommentiert wie ›das sah ich ein‹, ›das versteht sich‹ oder ›das musste ich zugeben‹, als handele es sich um völlig normale Vorgänge.« (Koller 2014a: 341)

Auf durchaus beeindruckende Weise gibt diese kurze Sequenz dem umfangreichen Roman von 287 Druckseiten einen erzähltheoretischen Begriff. In konzentrierter Dichte fasst sie erzählte Vorgänge, die Perspektive des »unvorbereiteten« Ich-Erzählers, das Wissen des »Autors« und das des Lesers zusammen. Doch in der Verdichtung liegt ein Problem. In Kollers Interpretation ist es nicht der Protagonist, sondern der Leser Koller, der den Normalisierungsreden des Ich-Erzählers die kausale oder konditionale Erklärung unterlegt. Er ist es, der sie als »eine durch die Normalität des Lageralltags erzwungene Überlebensstrategie« versteht und urteilt, dass dem Ich-Erzähler im Gewaltverhältnis des KZ-Lebens ein transformatorischer Bildungsprozess unmöglich sei (vgl. ebd.). Die Interpretation entspricht nicht der narrativen Struktur. Die von Koller genannte Diskrepanz zwischen Berichtetem und Berichtsform gibt es nicht. Denn berichtet wird, was die erzählte Figur des 15-Jährigen wahrnimmt, und es wird in der Form berichtet, in der die Figur des Erzählers über Erfahrenes

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spricht. Was Konzentrations- und Vernichtungslager jenseits der Rede des Erzählers bedeuten, wird von diesem, wie Koller zu Recht h ­ ervorhebt, nicht angesprochen. Eine irritierende Diskrepanz kann es also nur für denjenigen geben, der das vom Ich-Erzähler Berichtete auf ein Wissen oder auf Überzeugungen bezieht, die er anderen Darstellungen, z.B. historischen Dokumenten oder Studienaufenthalten in Auschwitz und Birkenau oder auch seiner allgemeinen Lebenserfahrung verdankt. Koller versucht jedoch, die vermeinte »Diskrepanz zwischen Berichtetem und Berichtsform« für eine bildungstheoretische Interpretation des Ich-Erzählers zu nutzen: »Diese Tendenz zur Normalisierung lässt sich verstehen als eine durch die Normalität des Lageralltags erzwungene Überlebensstrategie, die deutlich macht, dass durch die Bedingungen des KZ-Terrors eine Infragestellung der herrschenden Gewaltverhältnisse und damit ein transformatorischer Bildungsprozess unmöglich gemacht wird – eine Einsicht, die ohne Kertész’ literarischen Kunstgriff der strikt fokalisierten Erzählperspektive unmöglich wäre.« (Koller 2014: 341)

Die Interpretation ist nur scheinbar plausibel. Eine Unmöglichkeit lässt sich nur in Formen der Negation darstellen. Dass Koller sie in der fokalisierten Erzählperspektive begründet sieht, kann nur bedeuten, dass er die erzählte Welt als Leser vermöge seiner Einfühlung als unüberwindlichen Bildungswiderstand interpretiert. Aber dies ist eine gleichsam geliehene Erklärung, die sich im Blick auf empirische Individuen im Kontext tatsächlicher Lebenspraxis anbieten mag. Tatsächlich verlässt sie den zeichentheoretischen Rahmen der Produktionsseite des Romans und stellt die Figur des E ­ rzählers in einen außerliterarischen Erklärungszusammenhang, der von dessen ­normalisierender Perspektive gerade nicht gedeckt ist. Er lädt die literarische ­Konstruktion des Romans mit einer extra-narrativen Erklärung, sei es alltagsweltlicher oder sozialwissenschaftlicher Konvention, auf und kompromittiert so den narratologischen Blick. Bezogen auf die literarische Figur des Erzählers ist dieses Vorgehen ein Kategorienfehler, der einer literaturwissenschaftlich-bildungstheoretischen Romaninterpretation den Boden entzieht. Statt den kritischen Einspruch zu widerlegen, führt der Kategorienfehler, wenn auch nicht auf dem von Prange genannten Weg, in eben die von jenem behauptete Sackgasse.

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Mein Einwand gegen den Kategorienfehler mag befremden. Denn Kollers Interpretation scheint durch den Umstand gestützt, dass wir als Leser dazu neigen, erzählte Figuren eines Romans als Modelle leibhafter M ­ enschen zu nehmen und in ihnen Bedingtheiten am Werk sehen, die wir aus eigenem Erleben zu kennen oder zu verstehen meinen, etwa wenn wir Fontanes Effi Briest als empirisches Modell eines Scheiterns in überlebten ­Gesellschaftskonventionen lesen. Ich formuliere meinen Einspruch dennoch, gerade weil ich den Versuch wichtig finde, den Roman als literarisches Werk auf sein bildungstheoretisches Potential hin zu lesen. Im Sinne dieses Anspruchs verstehe ich meinen Einspruch als konstruktive Kritik, und das heißt als Beitrag, das mögliche bildungstheoretische Erkenntnispotential von Romanen ohne ungerechtfertigte Interpretationsanleihen zu erproben und, falls möglich, zu verteidigen. Ich halte also fest, dass sich nur innerhalb eines Romans prüfen lässt, ob und ggf. wie seine Lektüre zu Einsichten in Bildungsprozesse beitragen kann. Doch schon hier ist anzumerken, dass ein Roman ein narratives Geflecht verschiedener Perspektiven und Instanzen ist und die von W. Iser als »impliziten Leser« bezeichnete Instanz einschließt, die »die Gesamtheit der Vororientierungen [verkörpert], die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet« (vgl. Iser 1984: 60).

III. Bisher habe ich meinen Einwand an der Kurzfassung der Interpretation des Kertész-Romans entwickelt, die Koller Pranges Kritik entgegenstellt. Bevor ich mich seiner ausführlichen Interpretation des Romans zuwende, sind einige narratologische Begriffe zu entfalten, die eine Analyse, Rekonstruktion und Interpretation des Romans erleichtern. Von ihnen erhoffe ich, dass sie den narratologischen Ort von möglichen Bildungsprozessen in Romanen zu bestimmen und damit ggf. etwas über deren bildungstheoretisches Erkenntnispotential auszusagen erlauben. Koller selbst bezieht sich, wie schon sichtbar wurde, auf erzähltheoretische Begriffe. Im Anschluss an E. Lämmert spricht er vom »Ich-Erzähler«, im Anschluss an G. Genette von der »Fokalisierung« genannten Perspektivierung des Erzählens. Lämmerts und Genettes Arbeiten haben neben anderen die hermeneutisch orientierte deutsche Erzähltheorie vergangener Jahrzehnte beeinflusst. Inzwischen hat sich die Forschung vor allem in der Auseinandersetzung mit Argumenten entwickelt, die ursprünglich vom russischen

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Formalismus vorgetragen worden sind. Eine bedeutende Rolle in deren Vermittlung mit der westlichen Forschung hat u.a. R. Jakobson übernommen, der, über seine Herkunft aus dem russischen Formalismus hinaus, wichtige semiotische Argumente von Ch.S. Peirce aufgenommen und in die Diskussion eingeführt hat. Das Ergebnis jener Auseinandersetzung hat zu einem eigenen Arbeitsfeld geführt, das heute in internationaler Vernetzung unter dem Namen Narratologie weiterentwickelt wird. Die Narratologie bietet sich als Rahmen an, um das bildungstheoretische Erkenntnispotential von Romanen zu diskutieren. Ein sehr differenziertes narratologisches Gesamtkonzept, das den aktuellen Forschungsstand zusammenfasst und neben der westlichen Tradition der Theorie des Erzählens die aus dem russischen Formalismus ableitbaren strukturalistischen Argumente kenntnisreich und substantiell aufnimmt, hat der Hamburger Slavist W. Schmid vorgelegt (Schmid 2008). Mit vielen Arbeiten ist er als einer der gegenwärtig maßgebenden Autoren ins weltweite narratologische Forschungsnetz eingebunden (vgl. www.lhn.uni-hamburg. de). Sein weithin anerkanntes Konzept lege ich hier zugrunde. Im begrenzten Rahmen beschränke ich mich jedoch auf die für die Diskussion wichtigsten Argumente. Schmids Buch Elemente der Narratologie ist die auf deutsche Leser hin überarbeitete Fassung seiner zuerst 2003 in russischer Sprache erschienenen Narratologija. Ihr Gegenstand ist die »Narrativität«. Sie sei zwar nicht dem Terminus, wohl aber der Sache nach in der Geschichte der Literaturwissenschaft einerseits in der westlich-hermeneutischen und andererseits in der russisch-strukturalistischen Orientierung ausgelegt worden. In der »klassischen Erzähltheorie besonders deutscher Provenienz« sei das Erzählen »an die Gegenwart einer vermittelnden Instanz, des ›Erzählers‹ gebunden« (Schmid 2008: 1) und unter dem Aspekt einer Kommunikation des Lesers mit dem Erzähler thematisiert worden. Indem der Erzähler als »Mittler zwischen dem Autor und der erzählten Welt« (ebd.) gegolten habe, der, nach einer Formulierung Friedemanns, die Welt nicht ergreife, »wie sie an sich ist, sondern wie sie durch das Medium eines betrachtenden Geistes hindurchgegangen« (ebd.: 2) sei, sei diese Konzeption als erzähltheoretische Konkretion der Kanti‘schen Erkenntnistheorie verstanden worden. Eingeschlossen worden seien hier alle Texte, die an die vermittelnde Instanz des Erzählers und seiner Perspektive gebunden sind (ebd.: 1). Im Konzept der Narrativität des russischen Formalismus der Vor-StalinZeit, dessen strukturalistischer Charakter freilich erst 60 Jahre später in sei-

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ner westlichen Rezeption entwickelt worden ist (Prince 1984), habe man dagegen den Charakter des Erzählens, statt durch eine erzählende Instanz und deren Perspektive, durch Merkmale »des Erzählten selbst« (Schmid 2008: 2) bestimmt gesehen. Das Erzählen sei als das Darstellen von Zustandsveränderungen aufgefasst worden. Die Analyse jener Merkmale habe u. a. zu einer Mehrzahl von Instanzen geführt, die in der scheinbar einheitlichen Figur des Erzählers zu unterscheiden seien. Ein formales Analyse- und Interpretationskonzept kann zur schlichten Subsumation literarischer Momente unter eben dieses Konzept verführen. Schmid begegnet dieser Gefahr dadurch, dass er seinen kritischen Durchgang durch literaturwissenschaftlich relevante Stationen des Strukturalismus gleichrangig mit dem kritischen Durchgang durch jene Tradition verbindet, die der westlichen Hermeneutik nahe steht. Die kritische Synthese beider Traditionen führt zu einem zwar komplexen, aber heuristisch verlässlichen Begriffssystem4 . Die der Hermeneutik nahestehende Erzähltheorie dürfte dem durch die klassischen Geistes- und Sozialwissenschaften geprägten Bildungstheoretiker eher vertraut sein. Für die deutsche erziehungswissenschaftliche Forschung ist es aber nicht selbstverständlich, sich auf den russischen Formalismus zu beziehen. Deshalb zitiere ich etwas ausführlicher aus einem frühen Aufsatz R. Jakobsons, der das Forschungsprogramm des russischen Formalismus anspricht: »Bis vor nicht allzulanger Zeit war die Kunstgeschichte, insbesondere die Literaturgeschichte, keine Wissenschaft, sondern causerie. Sie folgte allen Gesetzen der causerie. Gewandt sprang sie von Thema zu Thema, von lyrischen Wortergüssen über die Schönheit der Form zu Anekdoten aus dem Leben des Künstlers, von psychologischen Binsenwahrheiten zur Frage nach dem philosophischen Gehalt und dem sozialen Milieu.« (Jakobson 1994: 373)

Die Kunstgeschichte kenne »keine wissenschaftliche Terminologie«. Der Mangel an »exakter Terminologie« (ebd.) zeige sich in dem, was ein Kunsttheoretiker unter Realismus verstehe: 4 | Schmid selbst vermeidet den Hinweis auf die Hermeneutik. Ich nutze den Terminus dennoch, weil er abkürzend an die Interpretation der Erzählperspektive erinnert, die auch bildungstheoretisch naheliegt.

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»Was versteht ein Kunsttheoretiker unter Realismus? Es ist eine Kunstströmung mit dem Ziel, die Realität durch Streben nach einem Maximum an Wahrscheinlichkeit möglichst unverfälscht wiederzugeben. Für realistisch halten wir Werke, die uns die Realität unverfälscht wiederzugeben, die wahrscheinlich zu sein scheinen. Und schon wird die Zweideutigkeit augenscheinlich:

1. Es handelt sich um ein Streben, eine Tendenz, d.h. unter einem realistischen Werk wird ein Werk verstanden, das von einem bestimmten Autor als wahrscheinlich konzipiert worden ist (Bedeutung A). 2. Realistisch wird ein Werk genannt, das ich kraft meines Urteilsvermögens als wahrscheinlich rezipiere (Bedeutung B). Im ersten Fall sind wir gezwungen, immanent zu werten, im zweiten Fall ist mein Eindruck das entscheidende Kriterium.« (Hervorhebung durch den Autor. Jakobson 1994: 373) Jakobsons Aufsatz gilt also der Überwindung eben jener Zweideutigkeit, die auch Kollers Kategorienfehler belastet. Ebenso wie eine vorwissenschaftliche Kunstgeschichte bedroht sie eine bildungstheoretische Lektüre, sofern diese einen Roman im Lichtkegel empirischer Wahrscheinlichkeit auf Bildungsprozesse (oder ihre Verhinderung) hin befragt und damit den narrativen Charakter literarischer Werke übersieht. Mit dieser Warnung kehre ich zu Schmids Narratologie zurück. In der strukturalistischen Konzeption sieht er die Möglichkeit, der Zweideutigkeit dadurch zu entgehen, dass der Text in seiner textuellen Baugesetzlichkeit wahrgenommen werde. Narrative Texte im strukturellen Sinne, so heißt es, »präsentieren, im Gegensatz zu deskriptiven Texten, eine temporale Struktur und stellen Veränderungen dar« (Schmid 2008: 2). Schmid beansprucht, von dieser Ausgangslage aus die hermeneutische und die strukturalistische Konzeption in einer »Mischkonzeption« (ebd.: 3) so aufeinander zu beziehen, dass ihre Stärken gewahrt und ihre Schwächen überwunden werden. Zu diesem Zweck bestimmt er das Narrative in einem weiteren und in einem engeren Sinne. Im weiteren Sinne seien jene textuellen Repräsentationen narrativ, »die die Veränderung eines Zustands oder einer Situation darstellen«, im engeren Sinne aber Texte, in denen die »Zustandsveränderung […] von einer Vermittlungsinstanz präsentiert« wird (Schmid 2008: 3). Durch die Unterscheidung des weiteren vom engeren Sinn

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des N ­ arrativen weitet Schmid das Spektrum möglicher Erzählinstanzen. Er nimmt auf, dass in der westlichen Tradition die narratoriale und die figurale Perspektive als zwei historisch unterschiedlich dominante Perspektivtypen auftreten. Die Verbindung beider Traditionen der Erzählforschung erlaubt ihm, die Perspektivität der Vermittlungsinstanzen in ihrer textuellen Konstitution zu untersuchen und extra-narratologische Rückgriffe auf »wahrscheinliche« Figureninterpretationen zu vermeiden. Die Komplexität der Konzeption kann ich hier nur so weit skizzieren, wie sie für ein rohes Profil der bildungstheoretischen Frage notwendig ist: Der Einfachheit halber nutze ich die von Schmid entworfene Graphik der narrativen Ebenen eines literarischen Werks und seiner Instanzen (Schmid 2008: 44):

Innerhalb des mehrstufig rahmenden Konzeptes werden acht Instanzen unterschieden, denen je eigene Perspektiven entsprechen. Auf der Produktionsseite des narrativen Werkes sind dies der »konkrete Autor«, der »abstrakte Autor«, der »fiktive Erzähler« und die Figuren innerhalb der erzählten Welt. Wichtig ist hier vor allem die Unterscheidung der Instanzen von abstraktem Autor und fiktivem Erzähler. Technisch gesprochen sind sie Begriffe, die dort, wo die literarische Sprache polyphon wird, differente Stimmen zu unterscheiden erlauben. Auf der Rezeptionsseite sind es die reziprok korrespondierenden Instanzen textuell konstituierter Figuren, die analog zur Produktionsseite zu

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­ nterscheiden seien. Bemerkenswert ist allerdings, dass Schmid an dem Ort, u an dem in Analogie zum abstrakten Autor vielleicht ein »abstrakter Leser« anzunehmen wäre, nur einen »unterstellten Adressat« und einen »idealen ­Rezipienten« unterscheidet. Erst in einem späteren Text fügt er dem Schema den abstrakten Leser hinzu (Schmid 2013). Ich gehe zunächst auf die Produktionsseite ein. Hier erlaubt die Graphik eine erste Klärung gegenüber der von Koller genutzten Erzähltheorie Genettes. Dieser hatte die »Nullfokalisation« als gleichsam neutrale All-Perspektive in die Diskussion gebracht. Doch zu Recht argumentiert Schmid, dass jede Perspektive figural oder narrativ konstituiert, also auf die Figur oder den Erzähler als »Reflektorinstanz« bezogen und deshalb nicht neutral ist, so dass sich der Begriff einer »Nullfokalisation« als leerer Terminus erweist. Für eine qua Neutralität gleichsam alles umfassende Erzählperspektive lässt sich ein systematischer Ort nicht angeben. Die Graphik markiert entsprechend der jeweils korrespondierenden Instanz vier Rahmen. Der »konkrete Autor«, die »psycho-physische Person« des Schriftstellers, produziert das literarische Werk. Doch als dieser erscheint er nicht im literarischen Werk. Innerhalb des literarischen Werkes gibt es nur die anderen Instanzen. Da ist zunächst das, was Schmid den »abstrakten Autor« nennt. Der abstrakte Autor ist ein schwieriger, aber für unsere Diskussion zentraler Begriff. Auf ihn ist etwas ausführlicher einzugehen. Er bedeutet eine narrative Konstruktion. Im Sinne Schmids verstanden ist er – eben so wenig wie der fiktive Erzähler – nicht mit der psycho-physischen Person Imre Kertész‘ zu verwechseln. Der abstrakte Autor sei nicht im Sinne einer irgendwie identifizierbaren Person, nicht als narratives Quasi-Individuum misszuverstehen. »Der abstrakte Autor […] repräsentiert das Prinzip des Fingierens eines Erzählers und der gesamten dargestellten Welt. Er hat keine eigene Stimme, keinen Text. Sein Wort ist der ganze Text mit allen Ebenen, das ganze Werk in seiner Gemachtheit und Komposition […] [er] ist real, aber nicht konkret. Er existiert im Werk nur virtuell, angezeigt durch die Spuren, die die schöpferischen Akte im Werk hinterlassen haben.« (Ebd.: 60)

Als »anthropomorphe Hypostase aller schöpferischen Akte« (ebd.: 61) sei er gleichsam der Inbegriff des literarischen Baugesetzes, der die übergeordnete Einheit eines in sich differenzierten literarischen Werkes repräsentiert.

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­ eshalb kann Schmid den abstrakten Autor eine Instanz nennen, in deren D Perspektive sich die dargestellte Welt als eine regelhafte Welt zeigt. In diesem Sinne könne der abstrakte Autor von der Seite des literarischen Werkes her in den Indizien gelesen werden, die seine schöpferischen Akte im Werk hinterlassen haben. Als analytischer Begriff, der den Blick auf das Baugesetz des Werkes lenkt, erlaubt der abstrakte Autor, die mit ihm gemeinte Instanz vom konkreten Autor als der psycho-physischen Person zu unterscheiden, die einen Roman geschrieben hat. Der Unterschied zwischen abstraktem und konkretem Autor wird von Schmid nicht zuletzt deshalb so deutlich herausgestellt, weil er die Bedingung dafür ist, dass ersterer geradezu als literarisches Experiment verfasst sein und in Formen ideeller und ästhetischer »Radikalisierung« auftreten könne, wie Schmid im Blick auf den späten Tolstoi anmerkt, der von manchen seiner Ideen, die seine abstrakten Autoren (!) »ins Extrem trieben«, selbst »viel weniger überzeugt« gewesen sei (ebd.: 62). Zugleich begrenzt der Begriff des abstrakten Autors die Lektüre eines Werkes, soweit der konkrete Autor in Frage steht, nur auf dessen »Spur«, sofern sich diese überhaupt im Werk niederschlägt 5 (ebd.: 61). Der fiktive Erzähler gehört innerhalb des narratologischen Modells zur dargestellten Welt. Von ihr zu unterscheiden ist die erzählte Welt, die aus der Perspektive des fiktiven Erzählers als zentraler narrativer Instanz hervorgeht. Zur erzählten Welt gehören jene erzählten Figuren, deren Welterzählungen als Zitat in die erzählte Welt eingelagert sind. Zu beachten ist also, dass der Begriff des Ich-Erzählers, wie er in der Tradition der hermeneutischen Erzähltheorie als Gesprächspartner des konkreten Lesers unterstellt und auch von Koller genutzt wird, zu einfach ist. Denn neben dem fiktiven Erzähler und den erzählten Figuren gibt es, was Schmid den abstrakten Autor nennt. Allerdings darf man sich von der kaum vermeidbaren personalisierenden Redeweise nicht irritieren lassen. Denn dieser abstrakte Autor ist keine pragmatische Instanz, sondern nur ein semantisches Re-Konstrukt, jene »anthropomorphe Hypostase aller schöpferischen Akte« einer literarischen Erzählung, die als solche aber als konstitutives Moment der Erzählung wirkt. Innerhalb der vom fiktiven Erzähler des Kertész-Romans dargestellten Welt bleiben zitierte Welten im Hintergrund. Auch der konkrete Autor tritt 5 | Zum aktuellen, terminologisch revidierten Begriff vgl. W. Schmid: lhn.unihamburg.de/article/implied-author-revised -version-uploaded-26-january-2013.

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als solcher im Roman nicht auf. Deshalb steht für eine bildungstheoretische Inanspruchnahme der Konzeption – auf der Produktionsseite des Erzählens – die Unterscheidung von abstraktem Autor und fiktivem Erzähler im Vordergrund. Die Instanz des fiktiven Erzählers im Kertész-Roman ist klar. Sie ist die Instanz, die, als 15-jähriger György, die Perspektive bildet, aus der die erzählte Welt artikuliert wird. Auch wenn sie als ein Abbild jener psycho-physischen Person dargestellt wird, die der Schriftsteller im genannten Alter tatsächlich gewesen sei, ist sie wie alle werkimmanenten Instanzen eine narrative Fiktion. Die rahmende Konstruktion ihres Welt- und Selbstverhältnisses verweist auf den abstrakten Autor. Spuren des konkreten Autors enthält sie nur in der literarisch vermittelnden Konstruktion. Bleibt man auf der abstrakten Ebene des narratologischen Modells, dann ergibt sich, dass eine Artikulation von Bildung als eines narrativen Prozesses in der Instanz des fiktiven Erzählers nicht zu erwarten ist. Denn Bildung, so die Hypothese, ist ein responsiver Prozess, der durch Ereignisse ausgelöst wird, die in den Figuren, Diskursen oder Idiomen6 eines gegebenen Weltund Selbstverhältnisses nicht verarbeitet, also nicht verstanden werden können und deshalb anderer Figuren, Diskurse oder Idiome bedürfen. Sofern ein Roman eine dargestellte Welt zur Sprache bringt, eine Welt, die sich in der Hypostase des abstrakten Autors als ein Werk zusammenfassen lässt, dessen literarische Baugesetzlichkeit auch den fiktiven Erzähler und die ihm zugerechnete erzählte Welt binden, kann sich Bildung als Prozess nur in der Veränderung, einer anderen Akzentuierung oder einem Bruch eben dieser literarischen Baugesetzlichkeit, also einem Widerruf der »anthropomorphe[n] Hypostase aller schöpferischen Akte« vollziehen. So lange aber der fiktive Erzähler eine konsistente Instanz mit konsistenter Perspektive ist, kann es einen literarisch-textuellen Bildungsprozess im genannten Sinn nicht geben. Was vom konkreten Leser als Bildungsprozess vermutet würde, könnte nur aus der Perspektive eines Beobachters in seinen Manifestationen und seinem Resultat, aber nicht als Prozess dargestellt sein. Es könnte nur etwas zu narrativer Anschauung gebracht werden, was als Dargestelltes dem angenommenen Prozess folgt. Damit aber wäre er einem lebensweltlichen Bildungsprozess nur nachgebildet, so wie Jakobson es dem realistischen Roman anrechnet. Folgt man dem narratologischen Modell, dann könnte sich ein Bruch der narrativen Konsistenz nicht in der Instanz des fiktiven Erzählers 6 | Um Waldenfels’ Begriff aufzunehmen: Vgl. (Waldenfels 2005).

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vollziehen. Er wäre, wenn er denn textuell aufträte, im narratologischen System an anderem Ort zu suchen.

IV. Die abstrakte Argumentation allein genügt nicht. Denn es ist nicht auszuschließen, dass die Skizze, in der ich mich auf die von W. Schmid vorgelegte Systematik beziehe, Falten enthält, in denen sich bildungstheoretisch relevante Momente verbergen. Eine Prüfung dieser Möglichkeit im entfalteten Rahmen der narratologischen Systematik insgesamt erfordert mehr Raum, als hier gegeben ist. Im Bewusstsein dieses offenen Randes beschränke ich mich auf die ausführliche Lektüre, in der Koller im letzten Romankapitel eine bildungsrelevante Veränderung der narrativen Konsistenz des Erzählers erkennt. Dabei ist sogleich einzuschränken, dass der Kertész-Roman vermutlich auch in bildungstheoretischer Hinsicht reicher ist, als (m)ein hier auf den Schluss gerichteter Blick erkennt. Deutlicher als in der Antwort auf die Prange-Kritik formuliert Koller in dieser Lektüre den leitenden Bildungsbegriff 7 : »Das Konzept von Bildung, das dabei als Ausgangspunkt diente, begreift Bildung als einen Prozess der Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen, der ausgelöst wird durch die Konfrontation mit Problemen, für deren Bearbeitung oder Bewältigung das bisherige Welt- und Selbstverhältnis eines Menschen nicht ausreicht. Von literarischen Texten erhoffte ich mir […] Anhaltspunkte dafür, wie dieses Konzept von Bildung genauer ausformuliert werden kann und wie sich Anlässe, Bedingungen und Verlaufsformen solcher Bildungsprozesse näher bestimmen lassen.« (Koller 2014b: 93)

7 | Obwohl sich unsere Begriffsbestimmungen in Nuancen unterscheiden – ich spreche inzwischen von einer (figuralen) Veränderung von Welt-Selbstverhältnissen statt von einer Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen –, verweist Koller in einer Anmerkung zu Recht darauf, dass wir diesen Begriff teilen. Sein Hinweis schließt ein, dass meine Kritik nur der gemeinsamen Anstrengung in der Entwicklung einer empirisch gehaltvollen Theorie von Bildungsprozessen gelten kann.

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Es wird nicht nur darauf verwiesen, dass anders nicht zu verarbeitende Probleme Bildungsprozesse auslösen können. Präzisiert wird auch, dass die ­Aufmerksamkeit den Anlässen, Bedingungen und Verlaufsformen solcher Prozesse gilt. Statt das im Roman geschilderte Geschehen konventionell nachzuzeichnen hebt Koller den befremdlichen Stil der Erzählung hervor: »Die Faszination beruht vor allem darauf, dass die Geschichte nicht in der Form eines Rückblicks erzählt wird, also nicht aus der Sichtweise eines Nachkriegseuropäers, der im Wesentlichen weiß, was in den Konzentrations- und Vernichtungslagern vor sich ging. Die konsequent durchgehaltene Erzählhaltung des Romans ist vielmehr die Erlebnisperspektive des 15-jährigen György, mit dem Wissen (oder besser dem Nicht-Wissen) und den Gefühlen dessen, der die geschilderten Vorgänge weitgehend unvorbereitet erfährt und nur ganz allmählich begreift, was da mit ihm und seinen Leidensgenossen geschieht.« (Ebd.: 94)

Vom Fehlen einer »Demarkationslinie zwischen Gut und Böse« und vom »gelegentlich fast heiteren Ton und dem fast gänzlichen Fehlen politisch-moralischer Urteile« (ebd.) werde die Erzählung bestimmt, was in der Aussage kulminiere, dass nicht das Wort »entsetzlich« die Erinnerung des Erzählers kennzeichne, sondern »die Länge der Zeit [!]«8 . Den Charakter dieser Rede, ihren (vom Leser erwarteten) Mangel an Differenzmarkierungen, sieht Koller pointiert in den oft wiederkehrenden Formulierungen wie »das sah ich ein«, »das versteht sich« oder »das mußte ich zugeben«, mit denen der Erzähler die ihm unvertrauten Vorgänge kommentiert, »als handle es sich um Selbstverständlichkeiten oder die Normalität schlechthin«. (Koller 2014b: 94) Zustimmend beruft sich Koller auf I. Radisch, die in jenem Mangel in der »gutwillige[n] Anpassung des jungen Auschwitzhäftlings an den Alltag des Grauens […] für den Leser, der alles besser weiß, eine Qual« gesehen hatte (ebd. 94). Kollers Lektüre lenkt die Aufmerksamkeit auf den Zwiespalt. Der natürlichen Identifikation des wissenden Lesers mit dem Ich-Erzähler widerstreite dessen normalisierende Rede. Der Zwiespalt lässt ihn zweifeln, ob der Kertész-Roman in der »Ungeheuerlichkeit« einer Welt, in der Deportation und Zwangsarbeit Bildung absolut negieren, überhaupt für eine Analyse und 8 | Im Roman heißt es »Länge der Tage«. Vgl. (Kertész 2002: 132).

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Interpretation möglicher »Bedingungen sowie Verlaufsform« eines Bildungsprozesses genutzt werden dürfe (ebd. 95). Einem systematisch verwandten Zweifel gegenüber einer bildungsprozesstheoretischen Lektüre folgt Koller mit der zwiespältigen Frage, ob ­literarische Texte überhaupt für bildungstheoretische Reflexionen in Anspruch genommen werden können, ohne zu verfehlen, was sie als Literatur auszeichne (ebd.). Denn im gegebenen Roman zeigten Fiktionalität und ästhetische Dimension, dass es sich »gerade nicht um das ›wirkliche‹ Tagebuch eines 15-Jährigen handelt, sondern um eine kunstvoll konstruierte Erzählung« (ebd.). In der Schwebe von Zweifel und Vorbehalt und dennoch herausgefordert von einer Erzählung, die »mit den Augen eines 15-Jährigen […] das Geschehen […] in die Sphäre des Einsehbaren, des Begreiflichen und Verständlichen zu integrieren« (ebd.) sucht, entschließt er sich, den Roman zu lesen »als Widerstand, an und mit dem bildungstheoretische Überlegungen (weiter-)entwickelt und ausgearbeitet, zugleich aber auch in Frage gestellt und ggf. verworfen werden sollen« (ebd.: 96). Dieses an eine Hypothesenprüfung gemahnende Verfahren wird aber nicht, wie man vermuten könnte, auf einen möglichen Bildungsprozess des Erzählers bezogen, sondern auf die »Lektüre literarischer Texte aus der Perspektive des […] skizzierten Bildungsbegriffs [, die] im Idealfall selbst einen Bildungsprozess darstellt, bei dem das Weltund Selbstverhältnis, mit dem sich der Interpret dem Text nähert, zur Disposition steht und in Auseinandersetzung mit dem Text einer grundlegenden Revision unterzogen wird« (ebd.). Der Blick auf die Herausforderung an den möglichen Bildungsprozess also des Lesers schließe neben den »erzählten Ereignissen und Erfahrungen […] seine [des Romans] literarische Form, seine Sprache und sein Erzählverfahren« als Ausdruck jener »Bildungsprozesse« ein, »die sich in diesem Text selber – sozusagen performativ – vollziehen, d.h. im Zuge seiner Produktion und Rezeption, beim Schreiben und/oder Lesen des Romans« (ebd.). Die dichte Formulierung dieser Lektürevermutung schreibt dem Text selbst zu, im Vollzug von Produktion und Rezeption, von »Schreiben und/ oder Lesen« und so auch von Rezeption durch den Leser ein möglicher Bildungsprozess zu sein. Die Annahme, dass »Bildungsprozesse […] sich in diesem Text selber – sozusagen performativ – vollziehen, d.h. im Zuge seiner Produktion und Rezeption, beim Schreiben und/oder Lesen des Romans«, könnte sich also erfüllen, wenn ein bildungsrelevanter Bruch in der narratologischen Struktur des Erzählens zu finden wäre. Auf ihn bezieht sich Koller, wenn er die »langsame Weise« des »Schritt für Schritt«-Erzählens als dessen

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poetisches Verfahren deutet, das Lager vor dem Hintergrund seiner eigentlichen Undarstellbarkeit darzustellen. Hier zeichne sich »die Möglichkeit eines Bildungsprozesses ab, der sich nicht auf der Ebene der erzählten Geschichte, sondern auf der Ebene des Erzählens vollzieht und der darin besteht, dieses Buch zu schreiben und eine Sprache, eine Erzählweise für das Undarstellbare zu finden« (ebd.: 104). Dies ist eine eindrucksvolle, bedenkenswerte Deutung. Allerdings wird dieser performative Prozess nicht nur dem konkreten Leser und seiner Lektüre, sondern, wenn ich recht sehe, auch dem konkreten Autor zugerechnet. Dabei irritiert, dass Produktion und Rezeption durch ein »und«, Schreiben und Lesen jedoch durch ein »und/oder« verbunden werden. Meint dies, dass eine literarische Produktion, im Blick auf den konkreten Autor formuliert, ihre Rezeption einschließt – wie man mit Ricœurs Theorie der Mimesis argumentieren könnte, in der Prä-, Kon- und Refiguration drei nur analytisch zu trennende Momente schon des Produktionsprozesses sind? Oder meint es, dass ein Roman auch gegen den abstrakten Autor, und das heißt, die »anthropomorphe Hypostase aller schöpferischen Akte« gleichsam überspringend, im direkten Blick auf den konkreten Autor und dessen Schreibprozess zu lesen sei? Vielleicht ist die kondensierte Formulierung des »und/oder« der Konzentration eines Denkens geschuldet, das sich im performativen Vollzug nicht in allen seinen Momenten expliziert. Schmids abstrakter Autor als »anthropomorphe Hypostase aller schöpferischen Akte […][ist] ein Konstrukt des Lesers auf der Grundlage seiner Lektüre des Werks« (Schmid 2008: 60). Folgt man dieser Bestimmung, dann lässt sich Kollers »oder« auf einen Leser hin interpretieren, der in der Lektüre des Kertész-Romans den abstrakten Autor als die das Regelsystem des Werkes repräsentierende Instanz konstruiert und damit die schöpferischen Akte des Schreibens auf einen (anthropomorphen) Begriff bringt, der ihm, dem Leser, erlaubt, den Roman vermöge seiner literarischen Architektur als einheitliche Gestalt wahrzunehmen. Bildungstheoretisch übersetzt entspräche solch narrativ einheitlicher Gestalt ein ein-stimmiges Welt- und Selbstverhältnis. Wenn ich richtig deute, folgt Koller diesem Verständnis, indem er in der literarischen Architektur Indizien entdeckt für »drei charakteristische Weisen der jugendlichen Hauptfigur, mit solchen (scil. irritierenden) Erfahrungen umzugehen und sie zu verarbeiten« (Koller 2014b: 97). Diese sieht er in einer »Strategie des Wohlverhaltens«, in der »Orientierung an der Zukunft« und in der »Normalisierung und Veralltäglichung der Ereignisse« (ebd.: 98f). Er prüft durch seine Lektüre, insbesondere im Blick auf zitierte Welt- und Selbstverhältnisse, die von Figuren innerhalb der erzählten Welt

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­repräsentiert werden, ob und wie sich das erzählte Verhalten des fiktiven Erzählers im Sinne der drei Umgangs- und Verarbeitungsweisen vollzieht (ebd.: 98ff). Akzeptiert man meine Deutung, dass sich in der Schwebe des »und/ oder« die Perspektive des Lesers durchsetzt, dann wird diese Prüfung stimmig vollzogen. Kollers Interpretation, in den drei charakteristischen Weisen der Erfahrungsverarbeitung sei eine einheitliche Gestalt zu erkennen, die bildungstheoretisch als einheitliches Welt- und Selbstverhältnis zu deuten sei, lässt aber offen, welcher Instanz – dem abstrakten Autor oder dem fiktiven Erzähler – die Einheit des Werks zuzurechnen ist. Zu erinnern ist, dass sie Instanzen eines unterschiedlichen ontologischen Status und nicht psycho-physische Individuen sind. Zwar liegt es nahe, den fiktiven Erzähler des Romans in Analogie zu einem solchen Individuum zu artikulieren. Doch es darf nicht vergessen werden, dass auch hier das vermeintliche Individuum des Erzählers als Instanz ein Geschöpf fingierenden Darstellens innerhalb der dargestellten Welt ist. Wie schon gezeigt, weiß und betont Koller die Fiktionalität in seinen erzähltheoretisch rahmenden Hinweisen. Doch dort, wo er den »Weisen der jugendlichen Hauptfigur, mit solchen Erfahrungen umzugehen und sie zu verarbeiten« anhand von kritischen Begebenheiten und Ereignissen nachgeht, die »aus der Perspektive eines heutigen, historisch auch nur halbwegs informierten Lesers als Anzeichen des bevorstehenden Schreckens erscheinen müssen«, gerät die Differenz aus dem Blick (ebd.: 98ff). Denn die Aussage über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Bildungsprozessen eines Menschen in empirischer Zwangssituation wird gemacht, als wäre der fiktive Erzähler ein empirisches Individuum, wie die Referenz auf offenbar leibhaftige Menschen zeigt: »Bildungsprozesse, so könnte man daraus folgern, sind in dem Maße unwahrscheinlich oder sogar unmöglich, in dem Menschen der absoluten Macht des Terrors unterworfen und so nicht nur unbedingter physischer Gewalt ausgesetzt, sondern auch daran gehindert werden, die Voraussetzungen dieses Gewaltverhältnisses in Frage zu stellen. Unter solchen Bedingungen ist Bildung im Sinne einer Transformation von Welt- und Selbstbildern kaum möglich; was bleibt, ist die schiere Anpassung an die aufgezwungene Normalität des Lagers.« (Ebd.: 102)

Bildungsprozesse im Roman?

Außerhalb des Romans mag die Aussage empirisch plausibel, wenn vielleicht auch nicht zwingend sein. Doch unter narratologischem Aspekt ist zu prüfen, ob sie in der Perspektive des fiktiven Erzählers (oder in stilistischen Momenten, die dem abstrakten Autor als der anthropomorphen Hypostase der schöpferischen Akte zuzurechnen sind) als zwingend oder plausibel artikuliert wird. Eine im Kurzschluss von empirischen Individuen auf den fiktiven Erzähler angenommene Konditionalität entspricht jenem Kategorienfehler, der, hier weniger offensichtlich, auch die Antwort auf Pranges Einwand bestimmt. Angedeutet hatte sie sich übrigens schon in der Zustimmung zur Radisch-Aussage der »gutwillige[n] Anpassung des jungen Auschwitzhäftlings an den Alltag des Grauens«. Der Instanz eines fiktiven Erzählers kann man Gefühle, Absichten, vollzogene oder nicht vollziehbare Bildungsprozesse nicht im empirischen Sinn zuschreiben. Um ohne Kategorienfehler nach Bildungsprozessen in Romanen zu suchen, ist deren narrative Artikulation im Geflecht der Instanzen – des abstrakten Autors auf der Ebene des literarischen Werks, des fiktiven Erzählers auf der der dargestellten Welt und ggf. der zitierten Figuren einschließlich ihrer zitierten Welten innerhalb der erzählten Welt – nachzugehen. Dies ist die Aufgabe des Lesers.

V. Romane werden nur unter der Mitwirkung des Lesers, was sie ihrer Möglichkeit nach sind. Es ist die Aufgabe des Lesers, die poetischen Wirkungen eines Romans zu entdecken, sie wahrzunehmen, sich von ihnen anregen und herausfordern zu lassen. Deshalb richtet sich auch das Interesse an Bildungsprozessen auf sie. Lassen sich im Kertész-Roman poetische Wirkungen entdecken, die dem Leser als Anspruch aufgegeben werden? Koller wendet sich diesem Anspruch im Schlussteil seines Aufsatzes zu. Er wendet den Blick auf sich als Leser, nachdem sich ein Bildungsprozess des Erzählers nicht ausmachen lasse. Die Veränderung des Blicks folge der Wendung des Romans. Im letzten Kapitel sei, ohne dass der Prozess der Wendung angesprochen werde, »ein eigentlicher Bruch, eine wirkliche Transformation« gegeben und es seien »unverkennbar neue Weisen des Umgangs mit Erfahrungen bemerkbar« (ebd.: 102f).

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»Am auffälligsten […] ist, dass der Ich-Erzähler, der bis dahin das Geschehen aus dem Blickwinkel eines ahnungslosen Kindes beschrieben hatte und bemüht war, das Verhalten anderer als verständlich und einsehbar darzustellen, nun mit einem Mal die Perspektive wechselt und beginnt, sich als Wissenden darzustellen und von seiner Umwelt abzugrenzen.« (Ebd.: 103)

Koller sieht die narrative Wendung »im Gespräch des zurückgekehrten Protagonisten mit einem Journalisten, den er in der Straßenbahn kennen lernt und der ihn in ein Gespräch über seine Erfahrungen im KZ verwickelt« (ebd.). Hier spreche der »Protagonist« zum ersten Mal »von Gefühlen wie Wut und Hass«. Auf die Frage des Journalisten, wen er hasse, äußere er nur »Alle« (ebd.), eine Antwort, deren unmögliche Entfaltung sich als »unüberwindliche Kluft […] [zwischen] zwei völlig verschiedenen Normalitätsauffassungen« (ebd.) auslege: »Als der Journalist ihn fragt, warum er denn immer bei allem sage, es sei ›natürlich‹, und auf die Entgegnung, im Konzentrationslager sei so etwas eben natürlich, hinzufügt, dass aber doch ›das Konzentrationslager an sich‹ nicht natürlich sei – da verzichtet der Heimgekehrte darauf, ihm zu antworten, und der Ich-Erzähler fährt fort: ›ich begann allmählich einzusehen: Über bestimmte Dinge kann man mit Fremden, Ahnungslosen, in gewissem Sinn Kindern, nicht diskutieren‹.« (Ebd.)

Wer spricht hier? Der Begriff des Ich-Erzählers fasst zusammen, was narratologisch als Ebenen des abstrakten Autors und des fiktiven Erzählers unterschieden wird. Folgt man dieser Unterscheidung, erkennt man Indizien dafür, dass das Erzählen selbst sich ändert (und nicht der fiktive Erzähler anders erzählt). Ein erstes Indiz lässt sich darin sehen, dass die Wende nicht narrativ vollzogen wird, sondern, wie Koller sagt, »mit einem Mal« (ebd.) als schon vollzogene Wende in Erscheinung tritt. Mit dieser Wende ändert sich das Baugesetz des literarischen Werkes, das, als seiner anthropomorphen Hypostase, dem abstrakten Autor zuzurechnen ist. Die Wende wird, so scheint es, vom fiktiven Erzähler berichtet. Es ist tatsächlich eine Art Bericht über Wahrgenommenes, wie sich dort sehen lässt, wo er, zurückkehrend in sein inzwischen von anderen bewohntes Heimathaus, von ehemaligen Nachbarn erkannt und zum Gespräch eingeladen wird und über das Geschehen in Auschwitz nach Ankunft der Züge als über ein Geschehen spricht, in dem die Menschen langsam voranschreitend der

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­Selektion entgegengehen. Im generalisierenden Präsens stellt er die Mechanik eines Lebens dar, das sich Schritt für Schritt vollzieht: »In der Mitte jedoch, wo ich stand, muß man also mit einer Wartezeit von zehn bis zwanzig Minuten rechnen, bis man zu dem Punkt gelangt, wo sich entscheidet: Gleich das Gas oder noch einmal davongekommen. In der ­Zwischenzeit aber bewegt sich die Reihe fort, geht immer weiter voran, und ein jeder macht immer einen Schritt, einen kleineren oder einen größeren […].« (Kertész 2002: 281f)

Im Spiegel jener Nachbarn, für die, Schritten ähnlich, »die Dinge ›kamen‹«, äußert er, »wir sind auch gegangen« (ebd.: 282). Doch in der Gleichsetzung der gekommenen Dinge und der gegangenen Schritte meldet sich aus diesem Bericht heraus ein »wir«, das, in der Rückschau wissender als das vormalige »ich«, »jetzt« in wertenden Aussagen kritisch auf das Geschehen schaut: »Nur jetzt wirkt alles so fertig, so abgeschlossen, unveränderlich, endgültig, so ungeheuer schnell und so fürchterlich verschwommen, so, als sei es nur ›gekommen‹: nur jetzt, wenn wir es im Nachhinein, von hinten her sehen.« (Ebd.) Ein fiktiver Erzähler, dem plötzlich ein kritisch kontemplatives Bewusstsein zuwächst, und der »immer wütender« (ebd.: 283) auf ein Leben reagiert, das im Fortgang der Schritte dem Untergang entgegengeht, ist ein anderer als der bisherige, alles normalisierende Erzähler. Im »wir« der Betrachtung entwirft der abstrakte Autor einen anderen Erzähler. Ein analoges Indiz zeigt sich in jener Schlusssequenz des Romans, in der ich wie Koller die besondere Herausforderung des Romans an den Leser pointiert sehe. Koller bereitet die Lektüre der Sequenz vor durch die Vergegenwärtigung des Gegensatzes »zwischen denen, die den Alltag und die ›Normalität‹ der Lager erlebt haben, und jenen, denen diese Erfahrung erspart blieb«. Es sei »eine unüberwindliche Kluft […], die in zwei völlig verschiedenen Normalitätsauffassungen zum Ausdruck kommt« (Koller 2014b: 103). Für den Protagonisten sei sie unüberbrückbar. Doch auf der Ebene des konkreten Autors Kertész folge der »Roman des Schicksallosen« dem »poetische[n] Prinzip«, das Undarstellbare zur Sprache zu bringen (vgl. ebd.: 104f). So wie das Undarstellbare des Lagers nur in der »Langeweile« der verfließenden Zeit auszuhalten gewesen sei, bringe Kertész es in »seiner Erzählweise […] zur Darstellung […], indem es auf dieselbe langsame Weise, also Stufe für

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Stufe und aus der Perspektive dessen erzählt wird, der es Schritt für Schritt erlebt«9 (ebd.: 104). Hier fragt Koller erneut nach einem möglichen Bildungsprozess. Da der Protagonist in der unüberwindlichen Kluft gefangen sei, sieht er die Möglichkeit eines Bildungsprozesses, statt auf der Ebene des »Protagonisten«, auf der des Romanautors Kertész und des Lesers, sofern dieser die vom Romanautor gestellte Aufgabe annehme. Doch die Gleichsetzung des »wie […] so« ist eine problematische Wende: »Denn wie das KZ nur aufgrund der ›Abfolge der Zeit‹ auszuhalten war, so ist auch das eigentlich Undarstellbare des Lagers für Kertész offenbar nur zur Darstellung [zu] bringen, indem es auf dieselbe langsame Weise, also Stufe für Stufe und aus der Perspektive dessen erzählt wird, der es Schritt für Schritt erlebt.« (Ebd. Hervorhebungen durch R.K.) Wenn es der konkrete Autor Kertész wäre, der das Undarstellbare des Lagers zur Darstellung brächte, dann ginge das vermeintlich Undarstellbare im Bewusstsein des Autors der Darstellung voraus. Das Schreiben bestünde darin, ein schon gegebenes Wissen, das dem Schreiben vorausläge, in geeigneter Erzählweise zur Darstellung zu bringen. Es wäre nicht undarstellbar, und das Schreiben selbst wäre kein kreativ performativer Prozess in dem strengen Sinn, dass das Schreiben selbst poetische Wirkungen zeugte, die über das Dargestellte hinauswiesen. Die Aufgabe des Lesers bestünde entsprechend im entschlüsselnden Nachvollzug dessen, was der Romanautor zur Darstellung gebracht und dem Leser gleichsam in didaktischer Absicht aufgegeben hätte. Natürlich weiß ich, dass dies eine forcierte Interpretation ist. Sie läuft dem Gedanken Kollers zuwider. Doch da auch die Formulierung eines Gedankens und seine konkrete Realisierung in der Performanz der Worte stehen, können sie verschiedene Dinge sein. Deshalb ist es in systematischer Hinsicht wichtig, auch divergente Spuren zu verfolgen, also etwa zu fragen, welche Instanzen an den performativen Akten poetischer Wirkung beteiligt sind. Das ist nicht zuletzt dann wichtig, wenn man vermutet, dass Bildungsprozesse in der Lektüre eines Romans etwas mit den literarischen Instanzen und den performativen Akten des Schreibens und des Lesens zu tun haben. Koller diskutiert den Sachverhalt, nachdem er den Roman zwischen dem

9 | Hier wird der Bildungsprozess dem konkreten Autor zugerechnet. »Die Möglichkeit eines Bildungsprozesses [zeichnet sich] ab, der sich nicht auf der Ebene der erzählten Geschichte, sondern auf der Ebene des Erzählens vollzieht und der darin besteht, dieses Buch zu schreiben.«

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»Protagonisten« und dem Autor Kertész verortet. Die »Frage nach dem ­Verhältnis von Ich-Erzähler und Autor«10 (Koller 2014b: 105) wird zwar angedeutet, aber beiseitegelassen. Er lenkt den Blick auf die Instanz des konkreten Autors Kertész und die des Protagonisten, was vermutlich den »Ich-Erzähler« meint. Folgt man dem narratologischen Modell der Kommunikationsebenen, dann wäre das Schreiben nach Kollers Auffassung eine Konstruktion des literarischen Werkes durch den konkreten Autor. Da es ohne den konkreten Autor den Roman nicht gäbe, scheint diese Vorstellung nahezuliegen. Doch dieser Vorstellung zufolge wäre die im Roman vollzogene Wende nicht eine poetisch-performative Wirkung der literarischen Struktur des Romans, sondern eine vorgängige, extranarrative, nur zur Darstellung gebrachte Gegebenheit. Solchem Blick entginge, was Koller an anderer Stelle betont, dass nämlich im performativen Akt des Schreibens jenseits des darstellenden Bewusstseins des konkreten Autors poetische Wirkungen entstehen können, die Vermutungen, Interpretationen, Einsichten provozieren. Sie entspringen aus den semiotischen Potentialen der Worte, ihren paradigmatischen und syntagmatischen Bedeutungsnetzen. Der Blick auf den konkreten Autor Kertész, der etwas zur Darstellung bringe, entwertet die dem fiktiven Erzähler zugeschriebene Wende. Er entwertet die Wende im Gegensatz zur nachdrücklich formulierten Beachtung der Literarizität. Den Grund für die Entwertung sehe ich in der Hinwendung des Blicks auf den konkreten Autor und damit in der unzureichenden Unterscheidung der Instanzen von »Ich-Erzähler und Autor«. Denn wenn kein anderer Begriff zur Verfügung steht, muss alles, was dem »Ich-Erzähler« nicht zugerechnet werden kann, dem »Autor des Romans eines Schicksallosen« (ebd.) zugerechnet werden. Indem dieser »Autor« – in narratologischen Begriffen gesprochen – als konkreter Autor angesprochen wird und im »Ich-Erzähler« die Instanz des abstrakten Autors und des fiktiven Erzählers in einer Figur zusammengefasst werden, entgeht dem Blick eben jene strukturelle Differenz, aus der als ihrer poetischen Wirkung das Moment einer Veränderung, eines Wandels entspringen kann. Konkret entgeht dem Blick eine wichtige Nuance jenes Satzes, den ich wie Koller als befremdlich lese: »Aber wir wollen es nicht übertreiben, denn gerade da ist ja der Haken: Ich bin da, und ich weiß wohl, daß ich jeden Gesichtspunkt gelten lasse, um den Preis, daß ich leben darf.« (Ebd.)

10 | Das eingesetzte »zu« fehlt im Original.

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Um das Befremdliche dieses Satzes zu interpretieren, führt Koller die Metapher des Tausches ein: »›[…] daß ich jeden Gesichtspunkt gelten lasse, um den Preis, daß ich leben darf‹. Der Tausch, von dem hier die Rede ist, besteht darin, dass der Protagonist etwas bekommt und etwas bezahlt. Doch anders als man annehmen möchte, ist nicht das Geltenlassen jedes Gesichtspunktes der Preis für den Gewinn des Lebens, sondern vielmehr umgekehrt: Für den Gewinn, jeden Gesichtspunkt gelten zu lassen, muss er den Preis bezahlen, leben zu dürfen.« (Ebd.)

Er kommt zu einer bedenkenswerten Interpretation; »Das Leben, die Fortsetzung des eigenen ›nicht fortsetzbaren Dasein[s]‹ […] ist der Preis, den der zahlen muss, der das KZ überlebt hat – dies ist die letzte Umkehrung, die die Normalität der Lager ihren Opfern aufzwingt.« (Ebd.) In dieser Umkehrung sieht er »[…] die letzte Aufgabe, die Kertész’ Roman seinen Lesern aufgibt – und damit vielleicht auch den Bildungsprozess, den er ihnen ermöglicht« (ebd.: 105f). Sie ist für Koller an die Metapher des Tausches gebunden. Die Metapher des Tausches kommt im Roman selbst nicht vor. Sie wird vom Leser Koller an den Text herangetragen. Diese Beobachtung ist wichtig, weil sie etwas über die Instanz des Lesers sagt. Narratologisch ist, analog zum abstrakten und konkreten Autor, zwischen dem Leser, der in seinen verschiedenen Formen des idealen und des unterstellten Adressaten sowie des abstrakten Lesers konstituiert ist, und dem konkreten Leser zu unterscheiden. Dass Kollers Interpretation eine Metapher nutzt, die im Roman nicht gegeben ist, spricht dafür, dass sie ein interpretatives Implantat des konkreten Lesers ist. Ein Tausch setzt identifizierbare Tauschsubjekte in einer Äquivalenzbeziehung voraus. Doch die Unbestimmtheit der Rede enthält keinen Hinweis auf ein identifizierbares Subjekt, dem der fiktive Erzähler in Gegenseitigkeit gegenüberträte. Der Preis, von dem die Rede ist, kann nach der Formulierung des Romans nicht als ein Preis gelesen werden, der für den Gewinn zu zahlen

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sei, »jeden Gesichtspunkt gelten zu lassen«.11 Umgekehrt gilt, dass der »Preis, daß ich leben darf« etwas ist, das dem Erzähler gegeben wird. Es besteht darin, »daß ich leben darf« (Kertész 2002: 287. Hervorhebungen durch R.K.). (Dem Preis des Leben-Dürfens geht voraus, »daß ich jeden Gesichtspunkt gelten lasse«. Dieses Gelten-Lassen eines jeden Gesichtspunkts ist eine Aussage des fiktiven Erzählers in dem Moment, nachdem dieser »die seltsamen Stimmungen und die winzigen Erinnerungen« und die sein Leben im Lager formierende »Registratur« hinter sich lässt (ebd.: 286). Doch der zeitliche Ablauf zwischen dem, was vorausgeht, und dem was folgt, ist, weil es ein identifizierbares kooperierendes Tauschsubjekt nicht gibt, kein Tausch. Es ist nicht zu übersehen, dass der Text hier besonders dicht wird: »Aber wir wollen es nicht übertreiben, denn gerade da ist ja der Haken: ich bin da, und ich weiß wohl, daß ich jeden Gesichtspunkt gelten lasse, um den Preis, daß ich leben darf. Ja, und wie ich so über den sanft in der Abenddämmerung daliegenden Platz blicke, die vom Sturm geprüfte und doch von tausend Verheißungen erfüllte Straße, da spüre ich schon, wie in mir die Bereitschaft wächst und schwillt: ich werde mein nicht fortsetzbares Dasein fortsetzen.« (Ebd.: 287)

Es ist der fiktive Erzähler, der jeden Gesichtspunkt gelten lässt. Aber dieser fiktive Erzähler wird ermahnt von einem »wir«, das sich im Doppelpunkt als eine andere Stimme zu erkennen gibt: »Aber wir wollen es nicht übertreiben, denn gerade da ist ja der Haken: ich bin da, und ich weiß wohl, daß…« (ebd.) Es ist der abstrakte Autor, jene anthropomorphe Hypostase aller schöpferischen Akte, die, metaphorisch formuliert, in diesem »wir« spricht. Nicht

11 | Die Präposition »um« kann in zwei gegensätzlichen Richtungen interpretiert werden. Einerseits lässt sich ein Brot um (für) den (zu zahlenden) Preis von x € kaufen. In diesem Fall wird das Handeln durch die Annahme einer Äquivalenz zwischen dem Preis und der Ware bestimmt. Andererseits können wir ein Lotterielos kaufen um den Preis (in der Erwartung oder Hoffnung) eines glücklichen Gewinns. In diesem Fall tritt an die Stelle der Äquivalenz das Vertrauen oder die Hoffnung aufs Schicksal. Bezogen auf den konkreten Erzähler ist »Schicksal« eine triviale Interpretation. Die Figur des Schicksals soll nur kenntlich machen, dass das Wort vom Preis einen Blick in eine nicht durch Äquivalenz bestimmte Sinnordnung öffnen kann.

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­ etaphorisch formuliert springt in diesem »wir« eine Stimme auf, die sich m vom bisher vermuteten Baugesetz des Romans abhebt. Sie ist es, die mahnt und die Mahnung von etwas ableitet, das sie einen »Haken« nennt. Für einen Moment übernimmt das »wir« vom zuvor dominierenden »ich« die Regie, um der vorausgehenden Wehmut des fiktiven Erzählers, seiner Erinnerung an die Abendstunde im Lager und an die dort Todgeweihten das »aber« der »in mir« wachsenden und schwellenden Bereitschaft entgegenzusetzen: »Aber wir wollen es nicht übertreiben, denn gerade da ist ja der Haken:«. Dieser »Haken«, der prädikatlos in ortlosem »da« »ist«, begrenzt die »Übertreibung«. Der Doppelpunkt begrenzt jenes geadelte »Heimweh«, dem »in einem gewissen Sinn […] das Leben dort reiner und schlichter gewesen [ist]« und in dem den fiktiven Erzähler »die winzigen Erinnerungen überfielen, durchzitterten« (Kertész 2002: 286). Gesagtes löst sich in Unbestimmtheit auf. Ein »es« verweist als opak schweigender Index auf ungesagten Sinn, von dem aus erst zu begrenzen wäre, was der Stimme des »wir« zufolge nicht übertrieben werden soll. Und die Stimme des »wir« mahnt etwas an, das in der Evidenz des »ja« das »ich« des konkreten Erzählers und den Leser einbezieht. Der Doppelpunkt ist das Indiz einer Einladung an den Leser, dem Text des Romans in seiner narrativen Komposition zu folgen. Welcher Leser ist gemeint? Auch ohne genauer in die oben angedeutete Unterscheidung des unterstellten sowie des idealen Rezipienten und ihrer Zusammenfassung im abstrakten Leser einzutreten, lässt sich festhalten, dass die Einladung dem innertextuell konstituierten Leser gilt. Der konkrete Leser dagegen ist aufgerufen, innerhalb des literarischen Werks die Indizien des mit der Einladung verbundenen Anspruchs des abstrakten Autors an den abstrakten Leser aufzunehmen. Der genannte Doppelpunkt ist ein solches Indiz. Im bisher so konsequent verfassten literarischen Bau des Romans lässt die andere, plötzlich auftretende Stimme als poetische Wirkung der Differenz etwas zuvor nicht Gesagtes zur Sprache kommen. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Unbestimmtheit der sich verschiebenden Erinnerungen »der Reihe nach« an namentlich Genannte und an die vielen Namenlosen, »die mich [den fiktiven Erzähler] nicht interessierten, ebenso wie die, die allein schon durch diese Registratur, allein schon durch mein [des fiktiven Erzählers registrierendes] Dasein gerechtfertigt waren« (ebd. Erläuterungen in den Klammern durch RK.). Die Rechtfertigung der Anderen, »irgendwie mit einem liebevollen Groll« (ebd.: 287) erinnert, sei »allein schon durch diese Registratur, allein schon durch

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mein Dasein« gerechtfertigt, wie die Gleichsetzung der Rechtfertigung durch die »Registratur« und durch »mein Dasein« zu verstehen gibt. Worin liegt die Übertreibung? Die Stimme des »wir« mahnt das »ich«, die Gleichsetzung nicht zu übertreiben. Sie, die alles verschlingende Übertreibung besteht darin, »mein nicht fortsetzbares Dasein« einer »Registratur« einzuschreiben, die das Leben im Lager in »kleineren« und »größeren« Schritten an den Rand des Todes und darüber hinaus führt und das Fortschreiten auch des Lebens außerhalb einbezieht, dem »die Dinge kamen«. Den in den Untergang führenden Gang der bloßen, konstatierenden »Registratur« »im nachhinein, von hinten her« zu begreifen und nicht als Gesetz des Lebens zu rechtfertigen, was »so fertig, so abgeschlossen, unveränderlich, endgültig, so ungeheuer schnell und so fürchterlich verschwommen, so, als sei es nur ›gekommen‹« erscheint, diese »Übertreibung« zu überwinden mahnt die »wir«-Stimme auf der Ebene des abstrakten Autors. Sie lässt das »ich« des konkreten Erzählers »jeden Gesichtspunkt gelten« und »leben« im Blick »über den sanft in der Abenddämmerung daliegenden Platz […], die vom Sturm geprüfte und doch von tausend Verheißungen erfüllte Straße«. Der tödlichen Registratur des »natürlichen« Blicks setzt sich das »doch« der »tausend Verheißungen« als entschiedenes Dennoch entgegen, und »da spüre ich schon, wie in mir die Bereitschaft wächst und schwillt […]«. Wieder markiert ein Doppelpunkt die Veränderung, »[…] die Bereitschaft wächst und schwillt: ich werde mein nicht fortsetzbares Dasein fortsetzen«. Mit diesem Doppelpunkt, gleichsam dem stummem Brennglas der differierenden Stimmen, ist das »ich« ein anderes. Eingedenk des nicht fortsetzbaren Daseins setzt es das Dasein fort. Der fortwirkende »Haken« kondensiert sich in der Imagination der »wahrscheinlich« wartenden Mutter, in deren erinnerter Gestalt sich die Unmöglichkeit natürlich gelebter Absurdität zu vergessen droht: »Es wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch so werden, wie sie es wünscht; es gibt keine Absurdität, die man nicht ganz natürlich leben würde, und auf meinem Weg, das weiß ich schon jetzt, lauert wie eine unvermeidliche Falle das Glück auf mich […] Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müßte ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen. – Wenn sie überhaupt fragen. Und wenn ich es nicht vergesse.« (Ebd.: 287)

Was das mahnende »wir« am Ende des Romans aufruft, das zu interpretieren müsste, was auf engem Raum nur angedeutet werden kann, an den Anfang

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des Romans und von da aus in eine neue Lektüre des ganzen Romans zurückführen. In ihr würde sich zeigen, dass sich das Netz der über alles geworfenen »Registratur« schon in den ersten Sätzen des Romans bemerkbar macht, wenn der fiktive Erzähler in verwaltungsartiger Sprache die »familiären Gründe« nennt, nämlich die den Lehrer ruhig stellende Einberufung des Vaters zum Arbeitsdienst, derentwegen er heute nicht in der Schule gewesen sei (ebd.: 7). Schon hier wirkt in den dem knapp 15-jährigen György als fiktivem Erzähler zugeschriebenen Worten jene Stimme, die ihn am Ende des Romans im distanzierten Blick »diese Registratur« und »mein Dasein« gleichsetzen lässt. Schaut man als Leser von hier aus auf den Beginn zurück, dann zeigt sich, was Amos Oz den Vertrag nennt, zu dem ein Roman seine Leser einlädt, indem er seine Aufmerksamkeit in oft subtilen Markierungen auf die Vielfalt der Instanzen und Stimmen verpflichtet (Oz 1997: 13ff). Koller deutet diesen Sachverhalt in jenem schon zitierten Hinweis an, dass es sich »gerade nicht um das ›wirkliche‹ Tagebuch eines 15-Jährigen handelt, sondern um eine kunstvoll konstruierte Erzählung«. Die Stimme des abstrakten Autors in der Stimme des fiktiven Erzählers lässt verstehen, dass der Lehrer »weiter keine Schwierigkeiten gemacht hat«, als György mit der Begründung, der Vater sei zum Arbeitsdienst einberufen worden, um Unterrichtsbefreiung bittet. Der Hypostase des abstrakten Autors entspricht die ideale Rezeption, der im imaginierten Ton der nicht gedruckten Anführungszeichen der »Arbeitsdienst« zum Zitat einer doppelbödigen Welt wird. Solche vom Ende des Romans motivierte Re-Lektüre nimmt das konkret Absurde und ungedacht Tödliche eines Lebens in der Schimäre einer Registratur wahr, die alle, in welcher Position und Perspektive auch immer, fassungs- und bewusstlos, bar jeden Hoffens ins Verderben, in den Untergang führt. Wenn dies als Andeutung nicht nur einer möglichen Interpretation, sondern auch eines möglichen Bildungsprozesses gelten kann, der dem Leser aufgegeben ist, dann stellt sich die systematisch wichtige Frage, wie diese Aufgabe aufgerufen wird. Aufgerufen sehe ich sie u.a. in jener in der Differenz der Instanzen gezeugten Mahnung des abstrakten Autors im »wir« an den fiktiven Erzähler »ich«. Als poetische Wirkung der differenten Bedeutungsnetze erhält die Mahnung ihre Kontur.

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VI. Was bedeutet die poetische Wirkung der Differenz der Bedeutungsnetze für Bildungsprozesse? Kann eine poetische Wirkung in der Lektüre eines Romans zur besseren Einsicht in die Veränderung von Figuren des ­Welt-Selbstverhaltens führen? Es ist zu früh, um die Frage schlicht zu beantworten. Zuvor wäre wohl genauere Orientierung im weiten Feld der Semiotizität humaner Welt-Selbstverhältnisse zu gewinnen und die Diskussion vorzubereiten, ob sie die Brücke ist, über die sich Bildungs- und literarische Prozesse verbinden. Dass das von Hans-Christoph Koller initiierte Projekt weitere Anstrengung lohnt, zeigt, so hoffe ich, mein Exkurs. Wenige Hinweise seien angefügt. Die Lektüre eines Romans ist eine erhebliche Bildungsherausforderung an den Leser. Gleich, ob man der Interpretation des konkreten Lesers, des unterstellten Adressaten, des idealen Rezipienten oder des abstrakten Lesers folgt, lässt sich die »Messlatte« (nicht nur im Falle des Kertéz-Romans) nicht niedrig hängen. Bildungsprozesse im Roman werden in epischer Perspektive in ihren Ergebnissen dargestellt. Als Prozess treten sie nicht in Erscheinung. Wohl aber können sie dem Leser in der poetisch wirkenden Differenz eines Zwiegesprächs der Instanzen aufgegeben werden. Poetische, in der Differenz der Instanzen über das schier Gesagte hinausweisende Wirkungen, das lässt sich vorgreifend vermuten, sind der narrative Ursprung möglicher Bildungsprozesse in der Lektüre von Romanen. Ein konkreter Leser, der solchen Anspruch aufnimmt, wird, sofern sein gegebenes Welt-Selbstverhältnis ihn nicht zu verstehen erlaubt, sich aufgerufen fühlen, innerhalb des literarischen Werks angeregt von den Indizien, in denen sein komplexer Bau sich andeutet, eine Interpretation zu suchen, die das verstehensresistente Gefüge eben dieses seines Welt-Selbstverhältnisses so verändert, dass Verstehen sich einstellt. Der genauere Blick auf semiotische Prozesse des Zusammenwirkens von Zeichen, Objekt und Interpretant sowie ihrer Verweispotentiale kann vermutlich zur Klärung beitragen, worin solche Veränderung besteht und wie sie sich strukturell vollzieht. Deren Qualität dürfte nicht zuletzt vom inferentiellen Zusammenspiel der paradigmatisch-syntagmatischen Bedeutungsnetze abhängen, in denen, wie Jakobson mit Berufung auf Peirce sagt, »die Bedeutung eines jeden sprachlichen Z ­ eichens seine Übersetzung in ein anderes, alternatives Zeichen [ist],

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i­nsbesondere in ein Zeichen, ›in dem es voller entwickelt ist‹«12 (Jakobson 1988: 482f). Dass die bildungstheoretische Inanspruchnahme von Literatur auf ein angemessenes literaturwissenschaftliches Begriffs- und Methodenrepertoire nicht verzichten kann, mag einsichtig geworden sein. Das konzeptionelle und methodische Repertoire aktueller Narratologie, auf das ich mich hier beziehe und das seit einigen Jahrzehnten in internationaler Diskussion entwickelt worden ist, gilt in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft als guter Bezugsrahmen, der selbstverständlich, wie es Schmids eigene Selbstkorrektur und die lebendige Diskussion innerhalb der Narratologie allgemein zeigen, gegen Kritik, Modifikation und Fortentwicklung nicht immun ist. Ob sich aus bildungsprozesstheoretischer Sicht Modifikationen oder Kritik ergeben, kann erst diskutiert werden, wenn die Sicht systematisch weiter entfaltet ist. Wenn es aber richtig ist, poetischen Differenzphänomenen als möglichen Bildungsimpulsen nachzugehen, dann ist der Blick auf die qualitative Differenz der Instanzen vermutlich ein aussichtsreicher Weg. Instanzen schließen Perspektiven auf Bedeutungsräume und –potentiale ein. In diesem Sinn kann man in Momenten, die im differenten Zusammenspiel der Instanzen emergieren, einen Anspruch sehen, auf den wir als Leser mit Bildungsprozessen zu antworten aufgerufen werden. In anderem, bildungstheoretisch verwandtem Zusammenhang habe ich den Begriff des Bildungsvorhalts eingeführt (Kokemohr 2007: 47; 64ff und Kokemohr 2014: 37). Von einem Bildungsvorhalt lässt sich zunächst aus der Perspektive eines Beobachters sprechen, der, dem literaturwissenschaftlichen Leser ähnlich, in den Interaktionstexten der von ihm Beobachteten eine Bildungsherausforderung zu erkennen, aber im Unterschied zum Literatur-

12 | Zwar ist der Nachsatz eher auf wissenschaftliche Literatur bezogen. Doch die Aussage, dass die Bedeutung eines Zeichens seine Übersetzung in ein anderes Zeichensystem ist, ist allgemein gemeint. Vgl. auch Jakobsons Berufung auf Peirce: »Eine der glücklichsten und glänzendsten Ideen, die die allgemeine Sprachwissenschaft und Semiotik von dem amerikanischen Denker [sc. Peirce] erhielt, ist seine Definition als ›die Übersetzung eines Zeichens in ein anderes Zeichensystem‹« (Jakobson: Peirce, Bahnbrecher der Sprachwissenschaft, S. 104). – Die hier genannten Zitate legen nahe, dass in der Wendung »Übersetzung in ein anderes, alternatives Zeichen« das zweitgenannte Zeichen ein anderes, alternatives Zeichensystem meint.

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wissenschaftler auch zu wissen meint, wohin die Herausforderung führen ­könnte oder sollte. (Zu meiner aktuellen Bestimmung des Bildungsvorhalts vgl. Kokemohr, in Vorbereitung.) Damit stellen sich die Fragen pädagogischer Normativität und stellvertretender Vernunft. Im vergleichenden Blick auf Literatur kann sich zeigen, dass der pädagogische Beobachter selbst, analog zum abstrakten Leser und dessen Projektion des abstrakten Autors, der kritischen Virtualisierung seiner Funktion unterworfen und kein unschuldiger Interpret ist. Die normative Gerichtetheit eines Bildungsprozesses wäre als dem Vollzug der Lektüre selbst inhärent zu verstehen, so wie der musikalische Vorhalt im Vollzug einer Komposition oder Interpretation selbst in die Auflösung einer Dissonanz zurück- oder über sie hinaus in ein anderes Harmonie- und Bedeutungssystem von Kon- und Dissonanz führt. Ein jedes Sprechen schließt objekt- und metasprachliche Ebenen ein. Deshalb lassen sich in lebensgeschichtlichen Erzählungen und in den erzählenden Sequenzen pädagogisch relevanter Interaktionen Bildungsvorhalte finden, die auf interessante, textuell kohärente und plausible ­Welt-Selbstverhältnisse vorausweisen13 . Dass Vorhaltsmomente wichtig und oft fremd sind, kann man in Kulturen erfahren, die diskursiv-soziale Kohärenz anders figurieren und andere »Ontologien« hervorbringen. Sofern uns Romane auf der Ebene ihrer Baugesetze in fremde und fremde eigene Welten führen, enthält eine bildungsprozesstheoretische Romaninterpretation, der Kollers Konzept gilt, ein starkes Versprechen. In diesem Sinne möchte ich zu vertieftem Verständnis der gemeinsamen Sache mit dem Vorschlag beitragen, die Vermutung zu erproben, dass Bildungsprozesse in literarischen Erzählungen von poetischen Wirkungen abhängen, die im kon- oder dissonanten Zusammenwirken der Instanzen emergieren.

13 | Auf diese Phänomene bezieht sich die in interkulturellen Kontexten entwickelte Inferenzanalyse mit der Unterscheidung ubiquitärer und singulärer Inferenz als gegensätzlichen Formen kohärenter Satzverkettung (vgl. Kokemohr 2014).

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Rainer Kokemohr

L iteratur Genette, Gérard (1998): Nouveau discours du récit, Paris: Seuil (dt. Die Erzählung, München: Fink). Holenstein, Elmar (1988) (Hg.): Roman Jakobson. Semiotik. Ausgewählte Texte 1919-1982. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Iser, Wolfgang (1984): Der Akt des Lesens, München: Fink. Jakobson, Roman (1994): »Über den Realismus in der Kunst«, in: Jurij Striedter (Hg.), Russischer Formalismus, Stuttgart: utb, S. 373-391. Ders. (1988): »Grundsätzliche Übersetzbarkeit: Linguistische Aspekte der Übersetzung«, in: Elmar Holenstein (Hg.), Roman Jakobson. Semiotik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 481-491. Ders. (1988): »Peirce, Bahnbrecher der Sprachwissenschaft«, in: Elmar Holenstein (Hg.), Roman Jakobson. Semiotik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 99-107. Kertész, Imre (2002): Roman eines Schicksallosen. Berlin: Rowohlt. Kokemohr, Rainer (2007): »Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Fremden. Eine theoretisch-empirische Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie«, in: Hans-Christoph Koller/Winfried Marotzki/Olaf Sanders (Hg.), Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Bielefeld: transcript, S. 13-68. Ders. (2014): »Indexikalität und Verweisräume in Bildungsprozessen«, in: Hans-Christoph Koller/Gereon Wulftange (Hg.), Lebensgeschichte als Bildungsprozess?, Bielefeld: transcript, S. 19-46. Ders. (2017 [in Vorbereitung]) Der Bildungsvorhalt im Bildungsprozess. In: Thompson, Christiane, Schenk, Sabrina (Hg.), Zwischenwelten der Pädagogik, Paderborn: Schöningh. Koller, Hans-Christoph (2014a): »Bildung als Textgeschehen. Zum Erkenntnispotential literarischer Texte für die Erziehungswissenschaft«, in: Zeitschrift für Pädagogik 60, S. 333-349. Ders. (2014b): »Über die Möglichkeit und Unmöglichkeit von Bildungsprozessen. Zu Imre Kertész’ Roman eines Schicksallosen«, in: Hans-Christoph Koller/Markus. Rieger-Ladich (Hg.), Figurationen von Adoleszenz. Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane II, Bielefeld: transcript, S. 93-108. Koller, Hans-Christoph/Wulftange, Gereon (2014) (Hg.): Lebensgeschichte als Bildungsprozess? Perspektiven bildungstheoretischer Biographieforschung. Bielefeld: transcript.

Bildungsprozesse im Roman?

Oz, Amos (1997): So fangen die Geschichten an, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Prange, Klaus (2004): »Hans-Christoph Koller: Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer 2004. 247 S.,EUR 17,–. [Rezension]«, in: Zeitschrift für Pädagogik 51 (2005), S. 731-734. Prince, Gerald (1984): Narratology. The Form and Function of Narrative, Cambridge University Press. Schmid, Wolf: Der abstrakte Autor und der abstrakte Leser. URL: http:// www.icn.uni-hamburg.de/sites/default/files/download/publications/ws_ abstrautorleser030325.pdf (Stand: 12.02.2017). Ders. (2013): Implied Reader. Revised 2014. URL: http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/implied-reader (Stand: 12.02.2017). Ders. (2008): Elemente der Narratologie, Berlin/New York: de Gruyter. Ders. (2010): Narratology: An Introduction, Berlin/New York: de Gruyter. Stanzel, Franz K. (1995): Theorie des Erzählens, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Todorov, Tzvetan (1966): »Les catégories du récit littéraire«, in: Communications 8, S. 125-151. Waldenfels, Bernhard (2005): Idiome des Denkens, Frankfurt a.M.: ­Suhrkamp.

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Autor*innen

Kathrin Böker, Diplom-Psychologin, ist Promotionsstipendiatin des Cusanuswerks und promoviert zu Bildung und Identitätsarbeit im Migrationskontext. Arbeitsschwerpunkte: rekonstruktive und intergenerationale Forschung, narrative Identität, Adoleszenz und Migration. Katarina Busch, M. A., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg (Allgemeine, Interkulturelle und International Vergleichende Erziehungswissenschaft) und promoviert im Bereich der Bildungs- und Transformationsforschung. Hannelore Faulstich-Wieland, Prof. Dr., ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialisationsforschung an der Universität Hamburg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind u. a. Genderforschung – insbesondere im Kontext Schule, Koedukation, Berufsorientierung. Vera King, Prof. Dr., ist Professorin für Soziologie und Sozialpsychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main sowie Direktorin am Sigmund-Freud-Institut. Forschungsschwerpunkte sind u.a. Sozialisation und Bildung, sozialpsychologische Analysen kulturellen Wandels, Generationen-, Familien-, Jugend- und Adoleszenzforschung, Migration. Bettina Kleiner, Dr., vertritt aktuell die Professur für Allgemeine Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Bildungstheorie an der Uni­ versität Bremen. Arbeitsschwerpunkte sind: Erziehungswissenschaftliche ­Geschlechterforschung, soziale Ungleichheiten, Diskurstheorie- und -forschung, Bildungstheorie und qualitative Bildungsforschung.

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Literatur im pädagogischen Blick

Rainer Kokemohr, ist Professor em. für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte in interkultureller Perspektive sind Bildungsphilosophie, Interaktionsforschung und qualitativ empirische Bildungsprozessforschung sowie erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Besondere berufliche Arbeitsfelder waren über drei Jahrzehnte hin Feldforschung, Aufbau zunächst einer Reformschule, dann einer erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität der Evangelischen Kirche Kameruns und, nach der Emeritierung, eine Professur (chair) an der National Cheng Chi University in Taipeh, Taiwan. Jürgen Oelkers, ist emeritierter Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich. Er hat im Hamburg studiert und sich seitdem vor allem mit der Geschichte der Pädagogik befasst. Markus Rieger-Ladich, Prof. Dr., ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Allgemeine Pädagogik an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er arbeitet zu den Themen Bildungsphilosophie und Sozialtheorie, Ästhetik und Kritik. Nadine Rose, Prof. Dr., ist Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Bildungstheorie im Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissenschaften der Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Bildungs- und Diskurstheorie, Forschung zu Subjektivations- und Bildungsprozessen, Migrationsforschung, Qualitative Methoden der Sozialforschung. Andrea Sabisch, arbeitet als Professorin an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Visuelle Erfahrung, Kunstpädagogik, Bild- und Bildungstheorie, qualitative Bildungsforschung und Wissenschaftskritik. Jessica Vehse, Dipl.-Päd., ist Promotionsstipendiat*in des Evangelischen Studienwerks Villigst und promoviert mit einer Arbeit zu Gedenkstättenpädagogik. Arbeitsschwerpunkte: rekonstruktive Sozialforschung, soziale Ungleichheit, Differenzkategorien und Anerkennungsverhältnisse.

Autor * innen

Anke Wischmann ist Vertretungsprofessorin für Bildungs- und Sozialisationsforschung an der Universität Hamburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die rekonstruktive Erforschung von Lern-, Bildungs-, und Sozialisationsprozessen Heranwachsender unter Bedingungen sozialer Ungleichheit. Gereon Wulftange, Dr., arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter (PostDoc) im Arbeitsbereich Bildungs- und Transformationsforschung an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Bildungstheorie, qualitative empirische Bildungsforschung und Psychoanalyse.

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Pädagogik Anselm Böhmer

Bildung als Integrationstechnologie? Neue Konzepte für die Bildungsarbeit mit Geflüchteten 2016, 120 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3450-1 E-Book PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3450-5 EPUB: 12,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3450-1

Jan Erhorn, Jürgen Schwier, Petra Hampel

Bewegung und Gesundheit in der Kita Analysen und Konzepte für die Praxis 2016, 248 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3485-3 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3485-7

Monika Jäckle, Bettina Wuttig, Christian Fuchs (Hg.)

Handbuch Trauma – Pädagogik – Schule 2017, 726 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-2594-3 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2594-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Pädagogik Elisabeth Kampmann, Gregor Schwering

Teaching Media Medientheorie für die Schulpraxis – Grundlagen, Beispiele, Perspektiven (unter Mitarbeit von Linda Leskau, Kathrin Lohse, Arne Malmsheimer und Jens Schröter) 2017, 304 S., kart., zahlr. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3053-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3053-8

Ruprecht Mattig, Miriam Mathias, Klaus Zehbe (Hg.)

Bildung in fremden Sprachen? Pädagogische Perspektiven auf globalisierte Mehrsprachigkeit Januar 2018, 292 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3688-8 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3688-2

Heidrun Allert, Michael Asmussen, Christoph Richter (Hg.)

Digitalität und Selbst Interdisziplinäre Perspektiven auf Subjektivierungs- und Bildungsprozesse 2017, 268 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3945-2 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3945-6

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