Totalitarismus und Literatur: Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert - Literarische Öffentlichkeit im Spannungsfeld totalitärer Meinungsbildung 9783666369094, 9783525369098

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Totalitarismus und Literatur: Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert - Literarische Öffentlichkeit im Spannungsfeld totalitärer Meinungsbildung
 9783666369094, 9783525369098

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Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herausgegeben von Gerhard Besier Band 33

Vandenhoeck & Ruprecht

Totalitarismus und Literatur Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert – Literarische Öffentlichkeit im Spannungsfeld totalitärer Meinungsbildung

Herausgegeben von Hans Jörg Schmidt und Petra Tallafuss

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-525-36909-8 Umschlagabbildung: M. C. Eschers „Rind“ © 2005 The M. C. Escher Company-Holland All right reserved www.mcescher.com

© 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Gesamtherstellung: l Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Dankwort

Der vorliegende Sammelband dokumentiert die Ergebnisse der Konferenz „Totalitarismus und Literatur", die vom 7. bis 9. Februar 2006 als gemeinsame Veranstaltung des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e. V. der Technischen Universität Dresden und der Stiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur in Dresden stattfand. Besonderer Dank gilt der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, durch deren Unterstützung die Ausrichtung der Fachtagung unter Beteiligung zahlreicher Nachwuchswissenschaftler erst ermöglicht wurde, und dem Generalkonsulat der Vereinigten Staaten von Amerika in Leipzig für die Betreuung der amerikanischen Konferenzteilnehmer. Es war das Anliegen der Organisatoren, im Rahmen der interdisziplinären Auseinandersetzung mit der umfassenden Okkupation der Lebens- und Geisteswelt in totalitären Systemen bzw. der Eruierung des Verhältnisses von Geist und Macht im Totalitarismus gleichzeitig einen Beitrag zur Vernetzung innerhalb des Kultur- und Wissenschaftsstandorts Dresden zu leisten. Dies war nur möglich durch die Einbeziehung von Kooperationspartnern, für deren großes Interesse und erfreulich starkes Engagement wir zu außerordentlichem Dank verpflichtet sind: Michaela Hausding, Leiterin des Kügelgenhaus-Museums der Dresdner Romantik, sei gedankt für die Bereitstellung der historischen Räumlichkeiten zur Konferenzeröffnung; Andrea und Ruarí O’Brian vom ErichKästner-Museum Dresden in der Villa Augustin für die Beherbergung eines öffentlichen Abendvortrags; Dr. Nora Goldenbogen von der Bildungs- und Begegnungsstätte für Jüdische Geschichte und Kultur Sachsen HATiKVA e. V. für die Gestaltung eines literarischen Abends über die Schriftstellerin Auguste Wieghardt-Lazar in der neuen Synagoge Dresden; last but not least Dr. Thomas Bürger und Doris Ander-Donath für die fruchtbare Zusammenarbeit während der Zeit der Vorbereitung und der Durchführung der Konferenz in den Räumlichkeiten der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB). Schließlich sei all jenen gedankt, die am Zustandekommen dieses Buches mitgewirkt haben: Zunächst der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur für die Druckkostenbeihilfe, U. Ernst für die aufmerksame Prüfung der Manuskripte und besonders auch den Verfassern der einzelnen Beiträge, aus deren Kreis sich als unmittelbares Ergebnis intensiver Diskussionen im Kontext der Konferenz die Praxisorientierte Wissenschaftsinitiative für interdisziplinäre Kulturanalyse und -theorie (ProWiKant) gründete. Heidelberg, im August 2006

Hans Jörg Schmidt, Petra Tallafuss

Inhalt

Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert – Literarische Öffentlichkeit im Spannungsfeld totalitärer Meinungsbildung Hans Jörg Schmidt / Petra Tallafuss

9

Literatur als Widerstand und Verweigerung Wulf Köpke

19

Die Depotenzierung des Menschen im kollektivistischen Denken der Weimarer Republik – Zu Johannes R. Becher und Ernst Jünger Lars Koch

39

„Literatur als Waffe“ – Literarischer Aktivismus im „Bund proletarischrevolutionärer Schriftsteller“ und im „Kampfbund für deutsche Kultur“ Petra Tallafuss

55

Brechts und Eislers Maßnahme im Licht der Totalitarismus-Theorie: ein zweites Mal Helmuth Kiesel

77

Herrscherkult und Politische Religion als Erklärungsmodell gelegenheitslyrischen „Schaffens“ / „Schrifttums“ im Rahmen der „sozialistischen deutschen Nationalliteratur“ und der „nationalsozialistischen deutschen Literatur“ Hans Jörg Schmidt

91

Politische Religion und aufgeklärter Mythos: Der Nationalsozialismus und das Gegenprogramm Hermann Brochs und Thomas Manns Tim Lörke

119

Kultur als Programm gegen Hitler. Diskursstrategien des Neuanfangs in der Periode zwischen 1945 und 1949 Waltraud ›Wara‹ Wende

135

Institutionenfehde und Repertoire-Entscheidung in der Sowjetunion: Tichon Chrennikovs Oper Frol Skobeev im Widerstreit der sowjetischen Kulturbürokratie Robert Enz

151

8

Inhalt

Schreiben außerhalb des Kanons oder Die Verteidigung der geistigen Autonomie Joachim Walther

161

Ritual-Ersatz in der DDR-Übergangsgesellschaft der 80er Jahre: Christoph Heins Fremder Freund im Kontext der Entmündigung Andrew Wisely

173

Utopie im Werk von Christa Wolf: Ein erweiterter Dialog zwischen Leser und Schriftsteller über die Mehrschichtigkeit von Realität und Sprache in Störfall. Nachrichten eines Tages Jennifer L. Good

189

Personenverzeichnis

201

Autorenverzeichnis

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Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert – Literarische Öffentlichkeit im Spannungsfeld totalitärer Meinungsbildung Hans Jörg Schmidt/Petra Tallafuss

„Und wenn sich der Verfasser mit offenen Armen in die Zeit gestürzt hat, so sah er nicht, wie der Historiker in hundert Jahren sehen wird, und wollte auch nicht so sehen. Er war den Dingen so nah, dass sie ihn schnitten und er sie schlagen konnte.“1

1. Bislang gab es nur wenige Versuche, in einem breiteren Rahmen die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem sowohl positiven als auch negativen, auf jeden Fall polyvalenten Beziehungsgeflecht der Komponenten Literatur und Totalitarismus aufzunehmen. Lediglich Gizela Kurpanik-Malinowska hat sich in einer 2001 in Polen erschienenen Studie monographisch mit Totalitarismus in der deutschen Literatur befasst.2 Bernhard Sorg konzipierte bereits 1993 für die Fernuniversität Hagen eine Studieneinheit Totalitarismus und Literatur im 20. Jahrhundert.3 Darin vertritt er in Bezug auf die Rolle der deutschen Literatur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts die politreligiös gefärbte These, „dass die Anbindung der Kunst an die Partei/die Geschichte/das Volk einem tiefgefühlten Funktionsverlust entgegenwirken soll und dass zu diesem Ziel und Zweck die Kunst die historische Gewalt mit einer Aura der Notwendigkeit umgeben muss“.4 Damit verweist Sorg auf das die Moderne antizipierende Projekt der kollektivistischen Ideologien, die den umfassenden Versuch unternahmen, die als Bedrohung perzipierten Kontingenzen der zunehmend säkularisierten 1 2 3 4

Ignaz Wrobel, Politische Satire (1919). In: Kurt Tucholsky, Panter, Tiger & Co. Eine neue Auswahl aus seinen Schriften und Gedichten. Hg. von Mary Gerold-Tucholsky, 51. Auflage Reinbek 2001, S. 5. Vgl. Gizela Kurpanik-Malinowska, Totalitarismus in der deutschen Literatur, Częstochowa 2001. Vgl. Bernhard Sorg, Totalitarismus und Literatur im 20. Jahrhundert, Hagen 1993. Ebd., S. IV.

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Schmidt / Tallafuss

Welt mittels totalitärer Systeme und denen in ihnen kommunizierten überindividuellen Ganzheitsvorstellungen zu überwinden. Die von Günther Rüther 1997 herausgegebene Aufsatzsammlung Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus bezieht sich durch ihre komparative Ausrichtung, die auch im Untertitel zum Ausdruck kommt, implizit auf totalitarismustheoretische Ansätze.5 Eberhard Lämmert macht in seinem einleitenden Beitrag auf die damit verbundenen erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten aufmerksam. Er fragt, ob „ein solches Erklärungsinstrument [...] ausreicht, der historischen Praxis der Machtausübung und damit auch den konkreten Behinderungen, Beschädigungen und Zerstörungen gerecht zu werden, die Büchern so gut wie Menschen in einem solchen System zugefügt werden“6 – ein plausibles Argument, das die Dresdner Neuesten Nachrichten in ihrer Berichterstattung in der Gegenüberstellung von „grauer Theorie“ und „buntem Leben“ anlässlich der Konferenz wiederholten.7 Hierbei handelt es sich um ein im Grunde auf synthetisierende Aufarbeitung ausgerichtetes Argument, das nur durch wissenschaftspraktisches Handeln entkräftet werden kann. Es ist anzumerken, dass die Dichotomisierung in Theorie und Praxis keinen Einwand für die Auseinandersetzung mit totalitären Regimen abgeben darf, sondern dass die kreative Bewältigung sowohl der Theorie-Praxis-Dichotomie als auch der totalitären Regime das zentrale Movens bleiben muss. So war das Thema der Tagung nicht Vorgabe, sondern Aufgabe, der sich die Teilnehmer aus den verschiedensten Betrachtungswinkeln stellten. Einige Ansätze zur Aufarbeitung des facettenreichen Wechselverhältnisses zwischen Totalitarismus und Literatur, das im Zentrum des umschriebenen Spannungsfeldes angesiedelt ist, liegen nun mit dem keinesfalls monolithisch auf einen einheitlichen Totalitarismusbegriff ausgerichteten Sammelband der Dresdner Tagung „Totalitarismus und Literatur“ vor.

2. Eine freie Annäherung an den Totalitarismusbegriff vom Standpunkt der Literatur aus hat auf der Grunddefinition der Diktatur als politisches System, das seinen Bürgern das Recht auf freie Meinungsäußerung in Wort und Schrift verwehrt,8 zu fußen. Die in dieser Grundrechtsbeschneidung implizite Oktroyierung eines Weltanschauungs- und Meinungsmonopols geht für den Einzelnen einher mit Autonomieentzug, Entrechtung, Entwürdigung und damit Entindivi5 6 7 8

Vgl. Günther Rüther (Hg.), Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus, Paderborn 1997. Eberhard Lämmert, Beherrschte Literatur. Vom Elend des Schreibens unter Diktaturen. In: Rüther (Hg.), Literatur in der Diktatur, S. 15–37. Vgl. Thomas Gärtner, Tagung „Totalitarismus und Literatur“. Analogien und das bunte Leben. In: Dresdner Neueste Nachrichten, Nr. 36 vom 11./12. 2. 2006, S. 10. Vgl. Rüther, „Greif zur Feder, Kumpel“. Schriftsteller, Literatur und Politik in der DDR 1949–1990, 2., überarbeitete Auflage Düsseldorf 1992, S. 13.

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dualisierung. Diese Bedingungen beeinträchtigen das Agieren des Schriftstellers als Seismograph gesellschaftlicher Entwicklungen und Erschütterungen erheblich. Die Beziehung totalitärer Regime zur Literaturwelt ist dabei geprägt von einem grundsätzlich affirmativen Wissen über die im Hinblick auf das „Fascinosum der Macht“9 normative Autorität der Schriftsteller und das damit ihrem literarischen Handeln inhärente dissentierende Potenzial, welches sich als Effekt der Herrschaftsbeglaubigung wie aber eben auch als (versteckter) Akt der Machtkritik artikulieren kann. Dem entspringt die Intention der Nutznießung zur Ästhetisierung des jeweiligen totalitären Realitätskonstrukts bzw. zur Legitimation des totalitären Herrschaftsanspruchs und -gebarens. Die mittels willfähriger Schriftsteller betriebene Instrumentalisierung der Literatur resultiert aus einer der Marx’schen Theorie der Verzahnung von Denken und Handeln verwandten Denkweise, wonach durch die propagandistische Infektion mit totalitärem Gedankengut auf dem Literaturweg zunächst die Hirne und Herzen beeinflusst, im Grunde aber die Hände gesteuert werden sollen. In ihrem Selbstanspruch unabhängige Literatur bekämpfen autoritäre Regime durch massive Kontrolle wie der Etablierung von Lenkungsorganisationen zur Gleichschaltung bzw. der radikalen Veränderung von Verbandsfunktionen sowie durch die generelle Unterbindung freiheitlicher, diskursiver Strukturen in der (literarischen) Öffentlichkeit.10 Die Schaffung einer Sphäre „andauernder Unsicherheit“11 bildet den belastenden Hintergrund dieser Kontrollmaßnahmen. (Selbst-)Reflektierendes Schreiben fungierte in derartigen Situationen auch als Palliativum gegen das erlebte Leid. Als „wichtige[r] geschichtliche[r] Form des gesellschaftlichen Verkehrs der Menschen untereinander“12 stehen der Sprache in „durchherrschten Gesellschaften“ verschiedene Entwicklungswege offen. Sie mutiert, wenn sie sich dem „Gesinnungsdruck“13 ergibt und den Abhängigkeitsstatus gegenüber dem herrschenden Regime annimmt, zur Sklavensprache. Durch den Rückgriff auf rhetorische Entmachtungstechniken wie Chiffrierung, Satire, Karikatur und Ausbildung doppelbödiger Erzählstrategien kann sie aber auch zur Gegen-Sprache werden, die die Dekonstruktion der Herrschaftssprache unternimmt und eine Ersatzöffentlichkeit zu konstituieren beabsichtigt. 9

Hermann Kleber, Literatur und Macht. In: Karl Hölz/Hermann Kleber (Hg.), Literatur und Macht. Festschrift zur Emeritierung von Karl-Heinz Bender, Frankfurt a. M. 2005, S. 21–29, hier 21. 10 Vgl. Peter Steinbach, Zur Wahrnehmung von Diktaturen im 20. Jahrhundert. In: APuZG, (2002) B 51/52, S. 36–43, hier 42 f. 11 Konrad H. Jarausch, Die Versuchung des Totalitären. Intellektuelle, Diktatur und Demokratie. In: Therese Hörnigk/Alexander Stephan (Hg.), Rot = Braun? Brecht Dialog 2000. Nationalsozialismus und Stalinismus bei Brecht und Zeitgenossen, Berlin 2000, S. 25–45, hier 30. 12 Rosa Luxemburg, Tolstoi als sozialer Denker (1908). In: dies., Schriften über Kunst und Literatur. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Marlen M. Korallow, Dresden 1972, S. 35. 13 Rüther (Hg.), Literatur in der Diktatur, S. 9.

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Zur Ahndung der dem diktatorischen Willen entgegengesetzten bzw. diesen enthüllenden Äußerungen bildeten autoritäre Regime zu allen Zeiten vielfältige Sanktionierungsmaßnahmen aus, als deren effizienteste sich die Zensur als „Ersetzung ästhetischer Kriterien durch politische“14 durchgesetzt hat. Zensurmaßnahmen müssen sich dabei nicht auf Zeitgenössisches beziehen, auch den Freigeist vergangener Epochen atmende Werke können von autoritären Machthabern als Ärgernis empfunden und entsprechend sanktioniert werden, wie z. B. Schillers Don Carlos, den Goebbels verbieten ließ, nachdem im Berliner Deutschen Theater die Rede des Marquis von Posa über die Gedankenfreiheit lebhaften Szenenapplaus erhalten hatte.15 Insgesamt zielen restriktive Maßnahmen auf die Vereinzelung des regimekritischen Schriftstellers (Ausschluss aus Verbänden etc.), die Erstickung seiner literarischen Stimme und, durch mehr oder weniger offene Beeinträchtigung (Papierkontingentierung, Druckverbot, Indizierung, Vorenthaltung von Arbeitsmöglichkeiten etc.), auf den Entzug seiner Lebensgrundlage ab. Auch Prominenz – man denke an die Pläne Johsts und Himmlers, Thomas Mann einer „Herbstfrische in Dachau“ auszusetzen16 – stellt vor der Eskalierung der Beeinträchtigungen in tätliche Übergriffe keine Versicherung dar. Das Ausweichen in „regimeferne Abseitszonen und Nischenregionen“, von wo aus angeblich „auch kritische Schriftsteller, aus kulturpolitischen Beschwichtigungsgründen“ von den Nationalsozialisten geduldet, ihre „literarischen Nadelstiche“ austeilen konnten,17 stellt eine Schimäre dar, die sich nur für die Allerwenigsten materialisierte. Der in all diesen Vorstößen auf das Gebiet der Literatur bzw. Kultur im Allgemeinen zu Tage tretende Geistesimperialismus verdeutlicht paradoxerweise den dieser Domäne gezollten, letztlich destruktiven Respekt, der deren Annexion zur Komplettierung der totalen Macht für totalitäre Regime im 20. Jahrhundert unabdingbar werden ließ.

3. Die in diesem Sammelband vereinigten Beiträge beschäftigen sich mit zwei Problemzusammenhängen, die sich in der Auseinandersetzung mit dem Beziehungsgeflecht Literatur – Öffentlichkeit – Politik – Totalitarismus als zentral herausbildeten: Dies sind zum einen Fragestellungen, die sich auf die Mechanismen der Reglementierung des geistigen Lebens sowie die sie stützenden theo14 Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR, Leipzig 1996, S. 453. 15 Vgl. Hedwig Rohde, Was wollen wir? Die Stimme des Publikums. In: Theater der Zeit. Blätter für Bühne, Film und Musik, 3 (1948) Heft 1, S. 14 f., hier 15. 16 Zit. nach Rolf Düsterberg, Hanns Johst: „Der Barde der SS“. Karrieren eines deutschen Dichters, Paderborn 2004, S. 288 f. (Brief von Johst an Himmler vom 10.10.1933). 17 Horst Denkler, Katz und Maus. Oppositionelle Schreibstrategien im „Dritten Reich“. In: Marek Zybura (Hg.) unter Mitwirkung von Kazimierz Wóycicki, Geist und Macht. Schriftsteller und Staat im Mitteleuropa des „kurzen Jahrhunderts“ 1914–1991, Dresden 2002, S. 27–42, hier 28, 37.

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retischen Grundannahmen und deren Repräsentation in der Literatur beziehen, zum anderen Strategien des zeitnahen Reagierens auf und späteren Bewältigens von ideologischen Übergriffen auf das Territorium der Geisteskultur. Ein thematischer Fokus liegt innerhalb dieses Themenkomplexes auf dem gesellschaftlichen Funktionsspektrum der mit autoritärer Über-Macht konfrontierten Schriftsteller, das Wegbereiter wie Mahner, Kooperationsknechte wie Widerständische – allgemein: aktiv im literarischen Feld Agierende wie sich dem (inneren) Rückzug in die Privatheit Übergebende –, Gesinnungsmimiker wie dem Ideologierausch erlegene Mythomanen kennt. Eingedenk der allgemein menschlichen, auch von Schriftstellern geteilten Eigenschaften, zu denen Ängsten und Einschüchterungen zuweilen nachzugeben ebenso gehört wie ein – im besten Falle – aus einem „nicht länger außerhalb des Lebens stehen“-Wollen18 resultierender Opportunismus, kam man mitunter zu dem Schluss, dass Schriftsteller „weder als Gralshüter der Wahrheit, noch als Gewissen der Nation“19 taugen. Die Kollision der den Autoren zugewiesenen und von ihnen selbst eingenommenen Rollen lässt im Folgenden jedoch primär die Frage aufscheinen, ob sich die Motivation all jener, die sich und ihr Werk nicht zum „verlängerten Arm der Propaganda“20 machten, in humanistischen und konfessionellen Bezügen21 erschöpft. Die Politisierung der geistigen Sphäre wurde zur prägenden Signatur des „Zeitalters der Extreme“22. Die Verengung auf eine einzelne Periode des in der Geschichtsschreibung häufig auch als „Jahrhundert der Diktaturen und deren Überwindung“ bezeichneten 20. Jahrhunderts mit seiner radikalen gesellschaftlichen Destruktion des Subjekts als Ausgangs- und Mittelpunkt der klassischen bürgerlichen Theorie und Literatur wurde in diesem Sammelband bewusst vermieden, um die kongruenten Grundstrukturen der Interaktion und die Wesensverwandtschaft der Systeme sichtbar werden zu lassen. In diesem Sinne beschäftigen sich die Beiträge zunächst mit der Vorbereitung totalitärer Denkweisen und ihrer besonders von avantgardistischen Zirkeln intendierten Transformierung auf das Gebiet der Literatur z. Z. der Weimarer Republik, in der die sich anbahnende Bewusstlosigkeit in der Massenhaftigkeit der literarischen Produktion ein „Schillern zwischen zynischer Kälte und bewegendem Pathos“23 ver18 Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1941. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Berlin 1995, S. 283 (16. 7.1936). 19 Hans Christoph Buch, Ideologische Irrungen und Wirrungen der Literatur im 20. Jahrhundert. In: Gerd Langguth (Hg.), Autor, Macht, Staat. Literatur und Politik in Deutschland. Ein notwendiger Dialog, Düsseldorf 1994, S. 55–69, hier 67. 20 Günter Scholdt, Deutsche Literatur und „Drittes Reich“. Eine Problemskizze. In: FrankLothar Kroll (Hg.), Die totalitäre Erfahrung. Deutsche Literatur und Drittes Reich, Berlin 2003, S. 13–34, hier 17. 21 Vgl. Kroll (Hg.), Die totalitäre Erfahrung, Kap. III, S. 103–172. 22 Vgl. Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Aus dem Englischen von Yvonne Badal, 5. Auflage München 1997. 23 Alexander von Bormann, Einleitung. In: Horst Albert Glaser (Hg.), Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, Band 9: 1918–1945: Weimarer Republik – Drittes Reich: Avantgardismus, Parteilichkeit, Exil, Reinbek 1983, S. 9–13, hier 11.

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lieh. Die Politisierung der literarischen Öffentlichkeit, die Durchsetzung einer totalitären Kunstdoktrin im Dritten Reich und die erst in der Nachkriegszeit begriffene „schreckliche Realität der faschistischen Inkubationszeit“24 stellen weitere thematische Schwerpunkte dieses Sammelbandes dar. Den Abschluss bildet die Auseinandersetzung mit der als „rituelle Funktion praktischer Nützlichkeit“25 eingeengten DDR-Literatur, ihren Entstehungsbedingungen sowie mit der vom MfS ausgeübten Infiltration der Kulturszene.

4. Wulf Köpke (Boston) befasst sich in seinem Beitrag mit der Literatur des Exils nach 1933 als einer Literatur der geistigen Selbstbehauptung und des Widerstandes und stellt dabei die sich mit der fortschreitenden Diktaturausweitung verändernden Themenbereiche vor. Suchen zu Beginn der NS-Zeit entstandene Werke wie Feuchtwangers Geschwister Oppermann vornehmlich den Schock zu erfassen, den der Nationalsozialismus als neuartiges Phänomen besonders für die kulturelle Elite Deutschlands bedeutete, so treten Fragen nach der tatsächlichen Widerstandsmacht der Intellektuellen, dem Verhältnis der deutschen Bevölkerung zur NS-Herrschaft, der wahren Wirkdimension des Angriffs der Unkultur auf Geist und Menschenwürde sowie nach der Mitverantwortung der Exilierten erst allmählich in den Vordergrund. Köpke legt dar, wie der politische Kampf in der Exilliteratur zu einem Entscheidungskampf zwischen Gut und Böse wurde, welcher, wie die Bildkomplexe der Krankheit, des Wahnsinns und des verlogenen Schauspiels signalisieren, ein ungleicher wie allumfassender war. Lars Koch (Groningen) unternimmt eine komparatistische Analyse der totalitären Anthropologien und Gesellschaftsutopien der späten Weimarer Republik anhand entsprechender Sinnkonstruktionen in Johannes R. Bechers Der große Plan und Ernst Jüngers Der Arbeiter. Den Ausgangspunkt bildet jeweils der Erste Weltkrieg, der als historische Zäsur die Ablösung des Fortschrittsoptimismus und durch die Erfahrung der Verkehrung menschlicher Produktivkräfte in Mittel der Destruktion eine weit über die Kriegszeit hinausreichende Depotenzierung des jetzigen Menschen – bei gleichzeitiger Sehnsucht nach einem neuen Menschengeschlecht – bewirkte. Als weitere Konvergenzpunkte der, bei aller ideologischen Gegensätzlichkeit, zu entdeckenden gedankenweltlichen Verwandtschaft zwischen Becher und Jünger hebt Koch das gemeinsame Bewusstsein der Verfalls- und Übergangszeit, die Auseinandersetzung mit der totalen Mobilmachung aller Lebensvorgänge, das dreigliedrige Geschichtsbild mit seiner Zuspitzung in einer als unmittelbar bevorstehend erwarteten dynamischen 24 Jean Paul Bier, Epoche in der Literaturgeschichtsschreibung. In: Glaser (Hg.), Deutsche Literatur, Band 9, S. 338–357, hier 342. 25 Emmerich, Kleine Literaturgeschichte, S. 456.

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Erneuerung der Geschichte sowie ähnliche Strategien der Kontingenzbewältigung hervor. Petra Tallafuss (Dresden) untersucht den die literaturtheoretischen Schriften des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller und des „Kampfbundes für deutsche Literatur“ dominierenden literarischen Militarismus und die damit korrespondierenden kämpferisch-totalitären Kunstkonzeptionen an der Schwelle zum Dritten Reich. Ausgehend von Friedrich Wolfs Kunst ist Waffe! stellt sie die der Literatur und anderen „Kulturwaffen“ beigemessene Bedeutung im Kampf um die Masse, die Rolle der Schriftsteller, die propagierten Feindbilder sowie die angenommenen Wirkkräfte von ideologisch aufgeladener Literatur dar. Dass die Avantgarden auf die Etablierung einer kommunistischen bzw. nationalsozialistischen Kulturbewegung und letztlich auf die Machtergreifung auf dem Kultursektor zur Komplettierung der totalen Macht abzielten, wird in einer vergleichenden Zusammenschau der Aktionsprogramme beider Vereinigungen nachgewiesen. Helmuth Kiesel (Heidelberg) bezieht mit seinem Beitrag über „Brechts und Eislers Maßnahme im Licht der Totalitarismus-Theorie“ Stellung in der kontrovers geführten Auseinandersetzung um die Beurteilung des Brechtschen Oeuvres. Er arbeitet den rituellen, liturgischen und pseudo-religiösen Charakter des 1930 erstmals im Haus der Berliner Philharmonie aufgeführten Musterbeispiels totalitären Theaters heraus. Anhand von Textausschnitten aus dem agitierenden Lehrstück führt er den Nachweis weit reichender Analogien zu den ebenfalls mit liturgischen Formen operierenden Weihespielen des nationalsozialistischen Theaters. Seine Analyse befasst sich mit inhaltlichen, strukturellen, formal-sprachlichen und wirkungsästhetischen Aspekten, die ihn zu dem Ergebnis führen, dass die Maßnahme „ein Kunstwerk von klassischem Rang und zugleich das beste Lernstück in Sachen Totalitarismus“ darstellt. Hans Jörg Schmidt (Dresden) beschäftigt sich unter kulturwissenschaftlicher Perspektive mit gelegenheitslyrischen Erzeugnissen, die im Rahmen der „sozialistischen deutschen Nationalliteratur“ und der „nationalsozialistischen deutschen Literatur“ entstanden sind. Sie sind ihm Beleg für den umfassenden Herrschaftsanspruch der zugrunde liegenden Ideologien. Herrscherkult und politische Religion werden als paradigmatische Erklärungsmodelle für den Vergleich herangezogen. Der Autor arbeitet heraus, dass die systemaffirmative Gelegenheitslyrik des Nationalsozialismus durch eine höhere Intensität des Religiösen und durch den Bezug auf lediglich eine Führerfigur in ihrem Aussagecharakter einheitlicher ist, der qua Ideologie areligiöse Marxismus-Leninismus jedoch über den Umweg des Heroenkultes ebenfalls einen religiösen Führerkult herauszubilden vermochte. Tim Lörke (Knittlingen) präsentiert zwei unterschiedliche Mythoskonzepte, die in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts als Antwort auf die Sinnlosigkeit der Moderne entwickelt wurden. Auf je eigene Weise versuchten der politische Mythos als integrativer Bestandteil der politischen Religion des Nationalsozialismus sowie der aufgeklärte Mythos Thomas Manns sinnstiftend unter

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den Bedingungen des zivilisatorischen Fortschritts zu wirken. Wie heikel es allerdings sein konnte, einen Mythos gegen den Mythos des Nationalsozialismus zu setzen, wird an Hermann Brochs Roman Die Verzauberung verdeutlicht, der gewissermaßen eine mittlere Position zwischen dem Nationalsozialismus einerseits und Thomas Mann andererseits bezieht. Waltraud ›Wara‹ Wende (Groningen) stellt in ihrem Beitrag, der sich mit den Diskursstrategien des Neuanfangs in der Periode zwischen 1945 und 1949 befasst, die argumentativen Kontinuitäten zur kulturellen Tradition heraus. Dem Bedürfnis der deutschen Bevölkerung nach geistig-moralischer Orientierung entsprachen vor allem die Dichter und Denker, von denen man sich öffentliche Hilfestellungen, Belehrungen, Ratschläge und Halt erhoffte. Anknüpfend an den im 19. Jahrhundert generierten bildungsbürgerlichen Literatur-, Kunst- und Kulturbegriff, der in der Hochschätzung von Sprache und Literatur, Kunst und Kultur quasireligiöse Deutungsmuster bereitzustellen vermochte, wird dem Schriftsteller nach 1945 erneut die Rolle eines „Verkünders“, eines „geistigmoralischen Führers“ angetragen. Kultur wurde, wie von Wende nachgezeichnet wird, damit zum rekursiven Programm gegen Hitler. Robert Enz (Erfurt) schildert anhand der Oper Frol Skobeev des sowjetischen Komponisten Tichon Chrennikov, wie Kunstwerke in der Nachkriegssowjetunion für die Austragung persönlicher und institutioneller Auseinandersetzungen zwischen den konkurrierenden Bürokratien von staatlicher Kunstverwaltung auf der einen und ideologischem Apparat der Partei auf der anderen Seite instrumentalisiert wurden, wie umgekehrt der Dualismus zwischen Partei- und Staatsapparat die Geschicke von Kunstwerken maßgeblich beeinflusste. Er arbeitet in seinem Beitrag die antagonistischen Doppelstrukturen heraus, die Willkürentscheidungen in der Repertoirepolitik der stalinistischen Sowjetunion institutionell legitimierten. Kunst degenerierte im Wettstreit der parteilichen und staatlichen Kontrollinstanzen und in den Ränken der Kunstfunktionäre zum politischen Spielball. Joachim Walther (Grünheide) gibt einen Einblick in das bisher kaum gehobene Potenzial des von ihm mitinitiierten „Archivs unterdrückter Literatur in der DDR“. Anhand der schriftstellerischen Biografien von Edeltraud Eckert, Thomas Körner und Gabriele Stötzer beschreibt er für drei Schriftstellergenerationen, welche immensen Opfer Autoren auf sich nahmen, um ihre geistige Autonomie im repressiven Klima des SED-Regimes zu verteidigen. Walthers Ausführungen sind ein Plädoyer dafür, sich des anderen Gesichts der in der DDR geschriebenen Literatur – sowie ihrer Themen und Ästhetiken –, die sich bislang außerhalb des Kanons befindet, zu vergegenwärtigen. Anhand von Christoph Heins Der fremde Freund ergründet Andrew Wisely (Waco, Texas) aus der kritischen Perspektive christlicher Literaturwissenschaft die rituelle Bedürftigkeit der DDR-Übergangsgesellschaft der 80er Jahre und die ihr gegenüberstehende Leere des DDR-Atheismus, der dem Individuum nicht nur nicht bei der Bewältigung lebensweltlicher Aporien wie Tod, Sinnverlust, Vereinsamung und Entfremdung Hilfestellung zu leisten vermochte, son-

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dern deren Bedeutung für das Kollektiv schlechthin negierte. Eine Pseudosakralisierung der ideologischen Lebenswelt resultierte aus der Besetzung christlicher Formen für Übergangsriten und andere Feiern mit atheistisch-ideologischen Inhalten, in denen Wisely Analogien zu inszenierten Feierlichkeiten der Nationalsozialisten entdeckt. Jennifer L. Good (Waco, Texas) erforscht in ihrem Beitrag Gestalt und Gehalt der Utopie im Werk Christa Wolfs. Die Literaturwissenschaftlerin konkretisiert den dialogisch-dialektischen Charakter des Wolfschen Utopiebegriffs am Beispiel der Erzählung Störfall. Nachrichten eines Tages. Zeit- und gesellschaftskritische Potenziale werden anhand der von Wolf verwendeten Metaphern aufgezeigt. Atomisierung und Kernspaltung sind technikinduzierte Denkmuster, die sich, so Goods These, auf die Utopiefähigkeit von Kollektiv und Individuum auswirken und von Christa Wolf literarisch reflektiert werden. Sie fungieren in der entgrenzten Welt atomarer Störfälle als utopiedestruierende Faktoren.

Literatur als Widerstand und Verweigerung Wulf Köpke Literatur schreibt die Mythen der Menschheit fort, gibt den Phasen und Fragen des Lebens neue Beleuchtung, bewahrt bleibende Werte in einer zerfallenden Gesellschaft und öffnet Alternativen und neue Wege in einem geschlossenen Gesellschaftssystem. In einer offenen Gesellschaftsformation besteht die Tendenz, Mythen, Symbole, Themen und Ideen eher wahllos als Konsumgüter zur Ablenkung und Unterhaltung zu verarbeiten. Sie sammelt im Laufe der Zeit einen großen Abfallhaufen an, aus dem in einer Art Recycling-Prozess einzelne Stücke immer wieder verwertet werden können. Das ist (noch) nicht in allen Teilen der Welt der Fall, ich denke etwa an Lateinamerika und asiatische Kulturen. Doch von unserer Perspektive aus müssen wir uns anstrengen und eine besondere Einfühlung entwickeln, um die Situation und Verfassung zu verstehen, aus der die Literatur des früheren 20. Jahrhunderts entstanden ist, von der hier die Rede sein soll, zumal inzwischen andere dramatische Wendepunkte der Geschichte eingetreten sind. Dass diese Literatur alte Mythen noch neu formen konnte, beweist beispielsweise das Werk von Franz Kafka und seine Wirkung, wobei sowohl sein fragmentarischer Charakter typisch für die Epoche ist, als auch die Änigmatik, die Mehrdeutigkeit, die jedoch die Wirkung eher verstärkt hat. Die bedeutende Literatur der Kafka-Zeit, sowohl die Prosa in epischen Formen (Beispiele wären James Joyce, Marcel Proust, André Gide, Alfred Döblin) als auch die Lyrik (Rainer Maria Rilke, Georg Trakl, Stéphane Mallarmé, Ambroise Valery) entstand im Widerspruch zu den dominanten Tendenzen der Gesellschaft. Sie musste daher esoterisch, anspruchsvoll, selbstreflexiv und komplex werden, ein Widerstand der kulturellen Elite gegen den Verschleiß der Mythen und der Kunst, im Zeitalter der sich perfektionierenden technischen Reproduzierbarkeit und der Massenmedien. Die Literatur, von der hier gesprochen wird, die Literatur der deutschsprachigen Autoren im Exil nach 1933, ist als eine Literatur des Exils, der Ausgrenzung, daher folgerichtig aus den Tendenzen des Zeitalters herausgewachsen, jenseits der politischen Ereignisse.1 Sie ist als Auseinandersetzung des entwurzelten Individuums mit einem totalitären Regime des Terrors und der Brutalität entstanden, und damit eo ipso als Selbstbehauptung im Widerspruch und Widerstand. Der Widerspruch und Widerstand richtet sich augenscheinlich ge1

Günter Anders und Hannah Arendt haben die Nähe Kafkas zu ihrer Exilsituation sofort erkannt und genau beschrieben.

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gen politische Zwangsmaßnahmen, aber letztenendes gegen die Entwürdigung des Menschen, gegen die psychologischen Folgen der Unterdrückung. Es ist nötig, diese Ausgangslage noch etwas genauer zu bestimmen, da Wörter wie „Exil“, „Widerstand“, „Gesellschaftskritik“, „Verweigerung“ viel zu oft und gedankenlos benutzt werden und dadurch ihren Inhalt verloren haben. Die Nötigung unserer Zeit zur politisch korrekten schnellen Phrase unterwirft die Sprache einem schnellen Abnutzungsprozess, wie bei ideologisch aufgeladenen Wörtern wie „Nation“, „Ehre“, „Volksgemeinschaft“, oder sogar „Pflicht“ und „Ordnung“ zu sehen ist. Bert Brecht hat nach 1933 vor der gedankenlosen Benutzung des Wortes „Volk“ gewarnt, ohne sich selbst immer daran zu halten.2 Es gibt viele Formen einer autoritären, diktatorischen und totalitären Herrschaft und eine Unzahl literarischer Reaktionen darauf. An dieser Stelle soll nur ein historisches Beispiel beschrieben werden, die deutschsprachige Literatur im Exil nach 1933, und auch die nur in Beispielen und Ansätzen; denn diese Literatur ist so verschiedenartig wie die Gründe, die Heimat zu verlassen, die auch bei Schriftstellern nicht immer als politisch bestimmt werden können. Um einen Einstieg zu versuchen, habe ich mich an die Phasen des historischen Ablaufs der Zeit nach 1933 gehalten, die jedoch mehr sind als bloße politische und militärische Veränderungen. Jedenfalls gehe ich von der Erkenntnis aus, dass sich in der Auseinandersetzung, im Widerstand und der Kritik durch die Jahre eine Vertiefung der Anschauung ergeben hat. Vereinfacht gesprochen: Von der Chronik der Ereignisse um die Machtübernahme oder Machtübergabe von 1933 führt die Auseinandersetzung zu den Fragen der Möglichkeit des Widerstands, zur inneren Auseinandersetzung mit eigener Beteiligung und Schuld und zur Darstellung der unwiederbringlichen Zerstörung des vorigen Deutschlands, der deutschen „Volksseele“, und damit zur Erkenntnis, dass eine eigentliche Heimkehr aus dem Exil nicht möglich ist. Diese Auseinandersetzungen und Selbstreflexionen fanden zudem in der gespannten Atmosphäre der 30er und 40er Jahre statt, die nicht nur den antifaschistischen Kampf erforderte, sondern die Entscheidung in der Einstellung zum Stalinismus, und die die erschreckende Bekanntschaft mit der kapitalistischen Massengesellschaft in den USA brachte, schließlich, nach 1945, die endgültige Enttäuschung, dass an die Stelle der Hoffnung auf den Frieden durch die Vereinten Nationen der Kalte Krieg zwischen dem Kommunismus und Antikommunismus trat. Die Literatur sieht diese Vorgänge an den Beispielen von Einzelmenschen oder Gruppen und deren menschlichen, psychologischen, geistigen wie materiellen Problemen. Im Vordergrund stand damals die Frage des Selbstverständnisses des „geistigen Menschen“, seiner Stellung in der Gesellschaft, nämlich welche Möglichkeiten des Eingreifens, des Widerstehens ihm denkbar und angemessen waren, und wie er dazu beitragen konnte, eine bessere Welt zu schaffen. 2

Ich bin darauf eingegangen in meinem Beitrag: Der Begriff des Volkes in der deutschen Literatur nach 1933. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik, 5 (1979) Reihe A, S. 48–59.

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Ich kann hier leider nicht auf die im deutschen Machtbereich geschriebene Literatur eingehen, so dringend erforderlich und wichtig das auch wäre. Die sogenannte „Innere Emigration“ hat ein Schlagwort geliefert, das zu allen möglichen Erklärungen und Ausreden benutzt worden ist. Über die „normale“ Komplexität hinaus sind Bücher dieser Zeit und Art in einer Sklavensprache oder Verrätselung geschrieben, die viele Deutungen möglich macht, aber ebenso unbehagliche Gefühle hinterlassen kann, wie bereits das prominente Beispiel von Ernst Jüngers Roman Auf den Marmorklippen zeigt,3 für dessen Handlung und Charaktere es so viele konträre Deutungen gegeben hat, je nach der politischen Konstellation. Andere Texte sind leichter zu lesen; es fragt sich jedoch, wie viel sie zur Erkenntnis des NS-Systems beitragen. Ich denke etwa an den bemerkenswerten Roman Die Furie von Günther Weisenborn,4 das Werk eines Autors, der sich persönlich als Widerstandskämpfer engagiert hat und der in seinem in Südamerika spielenden Roman Fragen des Engagements für die Unterdrückten, das Thema „Schmerz“ und die Brutalität des kapitalistischen Wirtschaftskampfes zur Debatte stellt. In anderen Fällen wurde die Verweigerung der Teilnahme am Nationalsozialismus zum Eskapismus. Mir fällt dabei als prominentes Beispiel Das einfache Leben von Ernst Wiechert ein,5 einem Autor, der für seine offenen Worte eine Zeit im Konzentrationslager Buchenwald zu erdulden hatte. Das einfache Leben hätte in der Zeit der Weimarer Republik als ein zwar sehr problematisches, aber doch mögliches Alternativmodell gelten können, um zu einer Erneuerung der Gesellschaft zu kommen; in der NS-Zeit ist der Rückzug in die ostpreußischen Wälder eine Flucht vor einer Macht, von der man ohnehin bald eingeholt wird. Das Jahr 1933 bedeutete für die deutsche kulturelle Elite – und gerade die deutschen Juden – trotz aller Voraussagen einen tiefen Schock, denn etwas Schlimmeres als ein autoritäres Regime wie die Regierungen Papens und Schleichers konnten und wollten sich die Intellektuellen vor 1933 noch nicht vorstellen. Selbst Mussolinis Faschismus war nicht mit dem kommenden deutschen Regime zu vergleichen, wenn auch Thomas Mann in Mario und der Zauberer bereits sehr besorgniserregende Dimensionen dieses Systems dargestellt hatte:6 z. B. die Magie der Massensuggestion, die Brutalität, den Opportunismus und die damit verbundene Feigheit und die Auswirkungen auf den privaten Bereich, das sehr persönliche Leben, z. B. mit dem Skandal um ein nacktes Kleinkind am Strand. Trotzdem: Die physische Verfolgung der Autoren, die zur schnellen Flucht zwang, die Bücherverbrennung, die Einrichtung der Konzentrationslager, der erste Juden-Boykott, das Verbot jeder politischen Opposition und die Ausmerzung der freien Meinung in Presse und Radio, die Reglementierung von Verlagswesen und Filmindustrie, alles das traf die kulturelle Elite Deutschlands unerwartet und unvorbereitet. Besonders gravierend war die spezielle Variante 3 4 5 6

Vgl. Ernst Jünger, Auf den Marmorklippen, Heidelberg 1939. Vgl. Günther Weisenborn, Die Furie. Roman aus der Wildnis, Berlin 1937. Vgl. Ernst Wiechert, Das einfache Leben, München 1939. Vgl. Thomas Mann, Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis, Berlin 1930.

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des Totalitären in Deutschland, der Rassismus. Bei der Prominenz der deutschen Juden im kulturellen Leben, in der Bildung und in den freien Berufen, unter Juristen und Ärzten zum Beispiel, bedeutete ihre schnelle Ausschließung und Verfolgung einen tiefen Schnitt in der Geschichte der deutschen Kultur und stellte die deutschen Juden vor die Entscheidung, sich von Deutschland zu trennen oder auf ein schnelles Ende des Regimes zu hoffen, beziehungsweise zu versuchen, von innen oder außen dieses Ende mit herbeizuführen. Unsere heutigen Urteile über die Illusionen, was die Dauer und den Charakter des Regimes betrifft, übersehen, dass der Nationalsozialismus für die deutsche Gesellschaft ein völlig neuartiges Phänomen war, dessen wahre Natur sich für die Betroffenen erst zu spät enthüllte. Aus dieser Situation sind die ersten Texte, die sich mit diesem Schock auseinander setzten, zu verstehen. Sie stammen entweder aus eigenen Erlebnissen oder zumindest aus intimer Kenntnis der Örtlichkeiten, der Atmosphäre, der Umstände und der Charaktere. Beispiele7 wären Henry William Katz Schlossgasse 21,8 Walter Schönstedt Auf der Flucht erschossen,9 Wolfgang Langhoff Die Moorsoldaten,10 der erste von vielen Berichten über Konzentrationslager, Ferdinand Bruckner Die Rassen11 und Lion Feuchtwanger Die Geschwister Oppermann.12 Ich beschränke mich hier auf einige Bemerkungen zu Feuchtwangers Roman, der das umfassendste Bild der Lage bietet. Auch wenn Kurt Tucholsky den Roman schlecht fand und in ihm Lebendigkeit vermisste, ist Feuchtwangers Text von besonderem Interesse. Er stellt nüchtern und scharfsinnig (scharfsinniger als sein Autor selbst) den Charakter dieses neuen Regimes dar, die Lage des deutschjüdischen Bürgertums und die Alternativen einer Antwort auf diese Situation, von der Auswanderung nach Palästina bis zum Widerstand innerhalb Deutschlands. Mit der Charakterisierung der vier Geschwister Oppermann, ihren Kindern, Verwandten und Freunden wird ein Querschnitt durch das jüdische Bürgertum in Berlin und seine gesellschaftliche Verwurzelung gegeben. Die drei Teile des Buches, „Gestern“, „Heute“ und „Morgen“, geben einen Hinweis darauf, dass Feuchtwanger bewusst einen historischen Wendepunkt erfasst hat. Es beginnt mit einem scheinbaren Höhepunkt der Geschichte der Familie und ihrer Firma, einer großen Möbelfabrik: dem fünfzigsten Geburtstag des ältesten Bruders Gustav Oppermann. Bereits am Tage der Geburtstagsfeier zeigt der Autor jedoch, dass dies der Anfang des Endes ist. Feuchtwanger kombiniert 7

Sigrid Schneider hat in ihrer umfassenden Darstellung: Das Ende Weimars im Exilroman. Literarische Strategien zur Vermittlung von Faschismustheorien, München 1980 (zu Feuchtwanger: S. 125–217), das Umfeld genau beschrieben und ebenfalls eine Analyse der Rezeption gegeben, auf die hier verwiesen werden kann. 8 Vgl. Henry William Katz, Schlossgasse 21. In einer kleinen deutschen Stadt. Roman, Frankfurt a. M. 1986 (zuerst in englischer Übersetzung, New York 1940). 9 Vgl. Walter Schönstedt, Auf der Flucht erschossen, Basel 1934. 10 Vgl. Wolfgang Langhoff, Die Moorsoldaten. 13 Monate Konzentrationslager, Zürich 1935. 11 Vgl. Ferdinand Bruckner, Die Rassen, Paris 1933. 12 Vgl. Lion Feuchtwanger, Die Geschwister Oppermann, Rudolstadt 1948 (zuerst unter dem Titel Die Geschwister Oppenheim, Amsterdam 1933).

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die Form des Familienromans mit dem Zeitroman. Er beschreibt allerdings nicht wie Thomas Mann in Buddenbrooks den Verfall einer Familie,13 sondern die Zerstörung der Familienfirma durch den Antisemitismus und die daraus folgende Entwurzelung und Zerstreuung der Familie. Die vier Mitglieder der älteren Generation erleiden ein später oft wiederholtes, typisches Schicksal der Juden, typisch, wie man noch an heutigen Filmen sehen kann: Der Kaufmann Martin Oppermann erleidet die Brutalitäten des ersten Judenboykotts und der „Arisierung“, die zum Verlust der Firma führen; der berühmte Arzt und Forscher Edgar Oppermann wird aus seiner Klinik hinausgeworfen, „ausgemerzt“ – ein Fall wie Friedrich Wolfs Drama Professor Mamlock;14 Klara Oppermann ist mit ihrem Mann Jacques Lavendel zur Emigration nach Amerika gezwungen; und Gustav Oppermann, der Literat, geht an der unauflöslichen Bindung an die deutsche Kultur zu Grunde. In der jungen Generation erscheinen die neuen Alternativen zum liberalen Bürgertum: der Zionismus und Sozialismus bzw. Kommunismus. Auch hier stellt Feuchtwanger einen tragischen Zwiespalt dar: Berthold, Martins Sohn, der eine „arische“ Mutter aus altpreußischer Familie hat, sieht den Selbstmord als einzigen Ausweg, nachdem ihm seine Ehre und sein Deutschtum abgesprochen worden sind und er öffentlich gedemütigt werden soll. Weniger klar und überzeugend ist die Einstellung und Zukunft seines Vetters Heinrich Lavendel, des Sozialisten, der als Ingenieur Pläne für die Zukunft entwirft. Das Problem des Widerstands wird in diesem Roman nicht nur dargestellt, sondern vielfach diskutiert. Jacques Lavendel, der ostjüdische Geschäftsmann, formuliert als erster die Erkenntnis, dass der Widerstand gegen den Nationalsozialismus sehr viel früher hätte einsetzen müssen, um Aussicht auf Erfolg zu haben. Indem Hitler ignoriert oder unterschätzt wurde, konnte er seine Machtbasis aufbauen. Das kultivierte Bürgertum wollte sich nicht durch die Berührung mit der Sphäre dieser Menschen der Unkultur beschmutzen. Doch eine Abschirmung, eine Isolierung, eine Schutzmauer war nicht möglich. Das System des Nationalsozialismus durchdringt alle Lebenssphären. Hier steckt der Kern des Paradoxons der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus: Ohne die Kenntnis des Gegners ist keine Gegenwehr möglich. Doch diese Kenntnis verlangt eine psychologische Durchdringung, die, je tiefer sie geht, desto mehr das eigene Ich mit ergreift und gefährdet. Einem Regime gegenüber, das auf Massensuggestion und Massenpropaganda beruht, ist ein einfacher politischer und militärischer Kampf unzureichend. Gustav Oppermann kann als erstes vorläufiges Beispiel für diese Problematik dienen. Gustav Oppermann ist ein „Betrachtender“. Seit 1918 hatte Feuchtwanger das Problem nicht losgelassen, wie geeignet oder ungeeignet der Intellektuelle für politische Aktion ist, gestaltet zuerst im „dramatischen Roman“ Thomas 13 Vgl. Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie, 2 Bände, Berlin 1901. 14 Vgl. Friedrich Wolf, Professor Mamlock, Zürich 1935 (zuerst in hebräischer Übersetzung, Tel Aviv 1934 und in russischer Übersetzung, Moskau 1934).

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Wendt.15 Das erste Fazit: Der Intellektuelle ist als politischer Führer unbrauchbar. Noch in Feuchtwangers Stellungnahme gegen Trotzki und für Stalin in Moskau 1937 steht dieses Argument an erster Stelle;16 der Intellektuelle gehört nicht in den politischen Kampf. Der Führer Adolf Hitler ist allerdings auch ein Intellektueller und ein Künstler, wenn auch ein missratener, ein erfolgloser. Thomas Mann nannte ihn „Bruder Hitler“, und hier steckt ein besonderer Knoten des Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Das Jahr 1933 stellte das Argument gegen den Intellektuellen als politischen Kämpfer wieder in Frage. Scheinbar wird auch bei Feuchtwanger noch einmal bewiesen, dass jemand wie Gustav Oppermann für den Widerstandskampf ungeeignet ist. Dennoch: Ungeschickt wie er ist, leistet er Aufklärungsarbeit, Dokumentation des Terrors, und das war genau das, was Feuchtwanger sich selbst zur Pflicht machte. Literatur als Aufklärung im weitesten Sinn des Wortes. Daher die vielen dokumentarischen Einzelheiten im letzten Teil des Romans und die Schilderung des Konzentrationslagers. Es geht, und das bleibt entscheidend für diese Art des Widerstands, nicht um den direkten Erfolg, sondern um die Wirkung auf Geist und Seele der Deutschen, exemplarisch geschildert in Oppermanns Auseinandersetzung mit seiner Freundin Anna. Für die deutschen Juden bleibt hingegen das Fazit, trotz eines optimistisch klingenden Schlusses des Romans, dass die geschlossene Familie in alle Winde zerstreut wird, dass die Trennung von Deutschland endgültig ist. Gustav Oppermann und sein Neffe Berthold können diese Trennung nicht überleben. Es bleibt ein hintergründiges Symbol, dass Gustav Oppermann seine Biografie von Gotthold Ephraim Lessing, dem Dichter von Nathan der Weise, in Deutschland nicht mehr schreiben konnte.17 In diesem Text ist nur wenig von einer zweiten Art literarischen Widerstands die Rede, die später mit zweifelhaftem Erfolg versucht worden ist: die Satire, besonders die satirische Karikierung von Adolf Hitler und seiner Führungsgruppe. Können der Flüsterwitz und die Karikatur in einem solchen Regime eine ernsthafte Wirkung ausüben, die die Haltung der Menschen verändert? Auf diese Frage gibt es eher negative als positive Antworten. Als das NS-Regime sich festigte und von Erfolg zu Erfolg schritt, stellte sich für das Exil die Frage, wie sich die deutsche Bevölkerung eigentlich zur Herrschaft verhielt: opportunistisch, passiv abwartend, innerlich oppositionell oder mit breiter Zustimmung. Davon handeln zwei prominente und gegensätzliche Beispiele, die dazu gegensätzliche Stellung genommen haben, Das siebte Kreuz

15 Vgl. Lion Feuchtwanger, Thomas Wendt. Ein dramatischer Roman, München 1920. 16 Vgl. ders., Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde, Amsterdam 1937. 17 Vgl. dazu die Beiträge in: Viktoria Hertling/Wulf Köpke/Jörg Thunecke (Hg.), Hitler im Visier. Literarische Satiren und Karikaturen als Waffe gegen den Nationalsozialismus, Wuppertal 2005.

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von Anna Seghers18 und Mephisto von Klaus Mann.19 Klaus Manns Roman beschreibt die Karriere des typischen Opportunisten, der sich vom Kommunisten in einen Günstling Hermann Görings verwandelt. Hendrik Höfgen ist Schauspieler. Das Exil hat das Dritte Reich ständig mit Schauspielerei, Maske, Lüge, Verstellung bis zum Doppelgängertum in Verbindung gebracht. Dahin gehört die Beschreibung von Hitler als einem aufgeblasenen Nichts, dem unbedeutenden Menschen, der im Reden und durch das Reden erst Gestalt annimmt, und die Vorstellung, dass der Nationalsozialismus ein großer Bluff ist, eine Vorspiegelung falscher Tatsachen.20 Klaus Mann betont im Nachwort, er beschreibe Typen und nicht Porträts, was jedoch die lange Kontroverse um Gustav Gründgens nicht verhindert hat. Der Opportunist und Mephisto-Darsteller wird flankiert vom aufrechten Widerstandskämpfer Otto Ulrichs, dem Kommunisten, den Höfgen fallen lässt, als es für seine Karriere zu gefährlich wird, ihn zu beschützen, und bemerkenswerter Weise dem aufrechten idealistischen Nazi Hans Miklas, der, von der Korruption des Systems angewidert, anfängt, Widerstand zu leisten und dabei zu Grunde geht. Widerstand in diesem Milieu scheint aussichtslos zu sein. Höfgens Identifizierung mit Mephisto, mit dem Bösen, ist vielleicht der interessanteste Punkt: Es ist nicht nur die Verlockung der Karriere, es ist die Lockung des Bösen, der Höfgen erliegt; er spielt den Bösen und wird dadurch zum Bösen; der Sog des Opportunismus, der Feigheit und der Karrieremacherei wird aus einem moralischen Abgrund gespeist. Die anfängliche Verstellung und Mitmacherei wird auf die Dauer zur zweiten Natur, die Rolle wird zum Charakter des Menschen. Der Nationalsozialismus ist kein politisches System, sondern die Entmenschlichung und moralische Entwürdigung des deutschen Volkes, die Höfgen vorlebt und durch sein enormes Talent unterstützt. Das siebte Kreuz bietet ein gegensätzliches Bild. Die Anpasser bleiben hier am Rande, die Brutalität des Systems wird durch das Konzentrationslager symbolisiert, aber auch darauf beschränkt. Selbstverständlich ist die geglückte Flucht von Georg Heisler nicht einfach eine „action“, wie im amerikanischen Film mit Spencer Tracy, sie ist das Beispiel für das Potenzial des Widerstands, dafür, dass das Volk, die Arbeiterklasse, im Kern, innerlich, vom System unberührt geblieben ist. Abgesehen von der Symbolik des leer bleibenden siebten Kreuzes, das bedeutet, dass das Nazi-Regime das Volk nicht besiegen kann, sondern sich selbst zu Grunde richten wird, ist die entscheidende Botschaft der Geschichte die Bedeutung der Solidarität. Gegenseitige Hilfe und Vertrauen, im 18 Vgl. Anna Seghers, Das siebte Kreuz. Roman aus Hitlerdeutschland, Mexiko 1942. 19 Vgl. Mephisto. Roman einer Karriere, Amsterdam 1936, erschienen im Querido Verlag, der Klaus Manns Zeitschrift Die Sammlung veröffentlicht hatte. 1939 erschien dort noch Der Vulkan. Roman unter Emigranten. 20 Dahin gehört auch die erregte Debatte zwischen Brecht und Feuchtwanger in Los Angeles, ob Hitler eine „Persönlichkeit“ sei oder nur ein „Hampelmann“, wie Feuchtwanger es auffasste und darstellte. S. dazu meine Studie: Hitler in Hollywood. Lion Feuchtwangers Abschied von Deutschland im Spiegel von Die Brüder Lautensack. In: Pol O’Dochartaigh/Alexander Stephan (Hg.), Refuge and Reality. Feuchtwanger and the European Emigres in California, Amsterdam 2005, S. 1–18.

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Kontrast zum allgemeinen Spitzelsystem und Misstrauen unter den Menschen, sind die Basis des Widerstehens, der Integrität. In der Isolierung sind die Menschen verloren, in der Gemeinschaft können sie ihre Menschlichkeit bewahren und mit der Rettung Georg Heislers ein Signal geben, an dem der Lagerkommandant zerbricht. Die Kriterien sind moralisch, nicht „politisch“. Anna Seghers’ Ansicht des echten Volkes ist zu dieser Zeit idealistisch, im Einklang mit der kommunistischen Doktrin, dass der Nationalsozialismus aus dem Kleinbürgertum kommt und der Arbeiterklasse fremd ist. Bei einer oppositionellen Haltung stellen sich praktische, aber auch immer moralische Fragen: Welches Risiko hat Sinn? Lohnen sich die Opfer bei Widerstandsaktionen oder ist es besser zu warten? Was ist der Zweck der Widerstandsarbeit? Genügt bloße Aufklärung, Information? Welche Aktionen sind gerechtfertigt? Anna Seghers hat ihre Geschichte und diese Überlegungen in der Erzählung Die Saboteure weitergeführt.21 Die Arbeiter einer Munitionsfabrik stehen vor der Entscheidung, ob sie 1941, am Tag des Überfalls auf die Sowjetunion, die Fertigung von Handgranaten sabotieren wollen. Der Versuch dazu findet statt und wird erst Jahre später entdeckt; doch das Beispiel macht keine Schule, der Elan verpufft, zu tief hat sich schon die Resignation und das gegenseitige Misstrauen eingefressen, zu gefährlich ist jede Aktion geworden. Stattdessen versucht es Hermann Schulz, einer der drei „Anstifter“ der Sabotage, mit Flugblättern, die von einer kleinen Gruppe verfasst und verteilt werden. Gegenüber dem Roman ist diese Erzählung nüchterner, skeptischer, auch wenn ihr am Ende eine eher unmotivierte positive Wendung gegeben wird, die den Beginn eines neuen Lebens nach 1945 symbolisiert. Beachtlich ist gerade bei Anna Seghers’ zurückhaltendem Realismus, dass sie den inneren Zweifeln der Hauptpersonen breiten Raum gibt und ein wenig ermutigendes Bild auch des Volkes bietet. Dabei hatte sie am Beginn der Erzählung über den Ausgang des Krieges, jedes Krieges, geschrieben: „Denn nicht von dem Himmel, nicht von den flockigen, luftigen Wolken, die an dem Himmel segeln über der endlosen ukrainischen Ebene, noch von dem Panzerauto des Stabes geht die Entscheidung aus, die unwidersetzbare, sondern aus der geheimnisvollen Tiefe, dem Willen der Völker, o Lenker der Schlachten!“22 Nach dieser Erzählung ist ein solcher Wille nicht sehr leicht erkennbar. Er stellt eher einen Glauben dar als eine dokumentierbare Macht der Geschichte, die der Menschlichkeit zum Sieg verhülfe. 1945 teilt Anna Seghers die Ansicht vieler Autoren im Exil, dass das deutsche Volk etwas wie eine Zeit der Rekonvaleszenz durchmachen muss, um sich von den Schäden, die ihm das Regime zugefügt hat, zu erholen. Mehr Hoffnung als der innere Widerstand in Deutschland erlaubten die äußeren Konflikte der 30er Jahre, doch immer wieder wurden die Gegner des Na21 Die Saboteure. In: Anna Seghers, Reise ins Elfte Reich. Erzählungen 1934–1946, Berlin 1994, S. 294–353. Die Erzählung wurde 1946 geschrieben und 1947 erstmals veröffentlicht. 22 Ebd., S. 294.

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tionalsozialismus enttäuscht. Am meisten Hoffnung klammerte sich an den 1936 beginnenden Spanischen Bürgerkrieg, ein blutiger, grausamer, totaler Konflikt, in dem der Unterschied zwischen Militär und Zivil aufgehoben war und der zugleich ein Krieg der Massenmedien wurde, durch Radio, Film und besonders Fotografie, und durch die Berichte namhafter Autoren, wie Arthur Koestler, Ernest Hemingway und George Orwell, und die direkte Beteiligung vieler Autoren am Kampf.23 Hier sollte die Linie gezogen und dem Faschismus Einhalt geboten werden, hier sollte mit der Niederlage der Faschisten der drohende Weltkrieg vermieden werden; doch auf die Dauer siegten die besseren Waffen über den Kampfgeist der Republikaner. Auch hier wurde in den Augen des Exils der politische Konflikt zu einem Kampf zwischen Gut und Böse. Aus den vielen Darstellungen der Exilautoren wähle ich zwei, die die Hoffnungen der ersten Phase mit den Zweifeln der späteren Zeit mischen, wenn auch in sehr verschiedener Art: den autobiografischen Roman von Gustav Regler, Das große Beispiel,24 und Bert Brechts Einakter Die Gewehre der Frau Carrar.25 Brechts Einakter spiegelt die Stimmung von 1937, als die Hilfe Deutschlands und Italiens für Franco und die Nichteinmischung der westlichen Demokratien den Kampf für die Republikaner immer schwieriger machte. Brecht richtet sich gegen die Neutralität, die Nichteinmischung. Für Brecht ist es ein Krieg des Volkes gegen die Kapitalisten und Großgrundbesitzer. In einem Krieg wie diesem kann es nur Parteilichkeit geben. Der Padre muss am Ende einsehen, dass die katholische Kirche eine Entscheidung treffen muss, auf welcher Seite sie steht. Bloße Hilfeleistung für die Opfer genügt nicht. Die Hauptfigur ist Theresa Carrar, die nach dem Tod ihres Mannes am Anfang des Krieges, wie Mutter Courage im Dreißigjährigen Krieg, ihre Söhne aus dem Konflikt heraushalten will und sich weigert, die versteckten Gewehre ihres Mannes den Republikanern herauszugeben. Erst als ihr Sohn Juan als harmloser Fischer von den Faschisten erschossen wird, versteht sie, dass es ein Kampf ums Überleben des Volkes ist. Gegen diesen Feind des Volkes gibt es nur siegen oder sterben. Brecht sieht diesen Klassenkonflikt nicht mehr in einer nationalen Perspektive, wie der später geschriebene Prolog zeigt: Hier wird in einem französischen Internierungslager nach Ende des spanischen Krieges berichtet, bei dem Konflikt um das Sudetenland im Herbst 1938 habe die Sowjetunion der Tschechoslowakei ihre Hilfe angeboten, doch das sei von den tschechischen Großgrundbesitzern verhindert worden. Ebenso wie in seinem späteren Drama Die Gesichte der Simone Machard,26 wo es um den französischen Widerstand geht, sieht 23 In dem Konferenzband von Luis Costa/Richard Critchfield/Richard Golsan/Wulf Köpke (Hg.), German and International Perspectives on the Spanish Civil War. The Aesthetics of Partisanship, Columbia, SC 1992, gehen die Beiträge umfassend auf diese Zusammenhänge ein, sowohl aus der Perspektive des deutschen Exils als auch aus spanischer und französischer Sicht. 24 Vgl. Gustav Regler, Das große Beispiel. Roman einer internationalen Brigade. Mit einem Vorwort von Ernest Hemingway, Köln 1976. 25 Vgl. Bertolt Brecht, Die Gewehre der Frau Carrar, London 1937. 26 Vgl. ders., Die Geschichte der Simone Machard, Berlin (Ost) 1956 (entstanden in Zusammenarbeit mit Lion Feuchtwanger in den Jahren 1940–1943).

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Brecht eine Front der Kapitalisten als wahren Gegner des Volkes, und Neutralität oder Kollaboration als die innere Gefahr für das Volk, als Verlust seiner Würde. Das Beispiel von Theresa Carrar zeigt, dass es keine Verweigerung als Errichtung einer „freien Zone“ gibt. Es wird letztenendes ein Kampf im Menschen und um den Menschen, die militärischen Kämpfe finden nicht virtuell im Radio und in der Illustrierten statt. Jeder Mensch kann zu jeder Zeit getroffen werden. Das ist nicht nur die Konsequenz der modernen Kriegstechnik, sondern der Natur des Konflikts, in dem es um Kopf und Herz der Menschen geht. Gustav Reglers Roman, dessen Intention durch den englischen Titel The Great Crusade noch deutlicher wird,27 stellt die Verteidigung Madrids in den Mittelpunkt. In seiner Vorrede von 1940 sagt Ernest Hemingway, wenn der schwerverwundete Regler gestorben wäre, wäre ihm viel erspart geblieben. „Er wäre auch nicht in ein französisches Konzentrationslager geschickt worden, nachdem er in Spanien für Frankreich gekämpft und im größten Widerstandskampf der Geschichte mitgeholfen hätte, Deutschlands Angriff auf Frankreich hinauszuzögern.“28 Hier erscheint das Wort „Widerstand“, „resistance“, als Bezeichnung für den Kampf gegen den fremden Feind, den drohenden Unterdrücker, so wie die Franco-Regierung als etwas wie eine fremde Besatzung in Spanien gesehen werden kann – immer wieder unterstrichen wird die Anwesenheit der marokkanischen Legionäre, der Deutschen und Italiener, im Gegensatz zu den Internationalen Brigaden, die aus Solidarität mit dem spanischen Volke gekommen sind, und die zugleich die Sache des Antifaschismus insgesamt verteidigen. Ihr Kampf ist „das große Beispiel“ für die Völker. Beim Lesen des Textes ist man überrascht, wie viel Platz den inneren Zweifeln und Konflikten innerhalb der Brigaden gegeben wird. Reglers Roman ist gleichzeitig ein Beispiel für eine wahre „Volksfront“, eine Art Volksregierung. Die geschilderte Brigade zeigt den inneren Konflikt zwischen der notwendigen militärischen Disziplin und der inneren Freiheit und Menschlichkeit, die verteidigt werden soll. Wie viel Würde darf der Mensch bei der Verteidigung der Menschenwürde aufgeben? Wann ist Brutalität bei der Bekämpfung von Brutalität unumgänglich? Reglers Darstellung des Schlachtfeldes Spanien ist schonungslos. Gerade dadurch stellen sich die grundlegenden Fragen. Es ist bezeichnend und nicht nur durch die Chronologie der Ereignisse bestimmt, dass die Handlung mit der Schilderung der Kämpfe um die Universitätsstadt einsetzt. Die zerstörten Gebäude und leeren Hallen symbolisieren den Angriff des Ungeistes auf den Geist, die Zerstörung nicht nur der Menschenwürde, sondern die Zurücknahme der Aufklärung, der Bildung, durch die Reaktion, als die hier die katholische Kirche erscheint.

27 Die amerikanische Ausgabe, The Great Crusade, war 1940 in New York bei Longmans, Green erschienen und richtete sich, wie auch Hemingways Vorwort, gegen den herrschenden Isolationismus. Hemingway plädierte außerdem für ein politisches Asyl für die Spanienkämpfer, das jedoch nur von Mexiko gewährt wurde. 28 Regler, Das große Beispiel, S. 13.

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Die Zwölfte Internationale Brigade, von der das Buch handelt, ist ein Experiment in internationaler Solidarität, wo die Temperamente aufeinander prallen, und die sprachliche Verständigung oft schwierig ist. Umso schwerer ist es, diese Brigade nicht durch Befehlsgewalt, sondern durch guten Rat und Einsicht zusammenzuhalten. Diese Individualisten verweigern die militärische Disziplin, die die Marokkaner auf der anderen Seite auszeichnet, aber immer wieder zeigen sich die Grenzen der heroischen Einzelaktion. Dennoch: Auch hier, im Angesicht des massenhaften Todes, mit der Angst im Nacken, übersteigt der geistige Widerstand die Brutalität, verkörpert in der Gestalt des Arztes Werner (Heilbrunn), der gegen ausdrücklichen Befehl die Verwundeten zwischen den Linien herausholt und für alle Brigadiere ein Beispiel einer selbstlosen Menschlichkeit wird, die nicht „neutral“ ist, sondern Partei ergriffen hat; aber Partei nicht einfach für die eine Seite im Kampf, sondern für die echte Volksfront, in der Anhänger aller politischen Richtungen von den Liberalen bis zu den Anarchisten zusammenhalten können. Die Niederlage ist, das bleibt in Reglers Roman eher implizit als explizit, nicht nur das Ergebnis der besseren Waffen der Faschisten und der mangelnden Unterstützung der Republikaner durch die Demokratien, sondern auch die Folge des Zerbrechens der Volksfront und damit des Glaubens an die gute Sache. Reglers Schilderung mit ihren schonungslos krassen Szenen erweckt den Eindruck eines Totentanzes.29 Aber wenn auch dieses Schlachten in einer Niederlage endet, die den Kampf sinnlos erscheinen lässt, was die gedrückte Stimmung von 1940, dem Erscheinungsdatum des Romans, wiedergibt, wozu Reglers persönliche Krise kommt, die ihn in Spanien den Glauben an den Sozialismus der sowjetischen Art verlieren ließ, ähnlich wie Arthur Koestler, so gibt es doch ein transzendierendes zweifaches Ende: Der Tod des Arztes Werner, der das Zeichen der endgültigen Niederlage ist, gleichzeitig aber in seiner Menschlichkeit und Schönheit die Dauer der ewigen Werte symbolisiert, und das fortgehende und sich erneuernde Leben des spanischen Volkes, symbolisiert im ungeborenen Kind und dem Wechsel der Jahreszeiten. Damit versucht Regler ein Zeichen zu setzen, das auch die Zerstörungen und Verluste des Zweiten Weltkriegs sinnvoll erscheinen lässt und über politische Konflikte hinausweist, zu einem möglichen Frieden, der den Tod überwindet, so fragwürdig diese Hoffnung auch sein mag. Dieser Schluss weist voraus auf Reglers Einleben in die mexikanische Mentalität und seine Erfahrung der Mythologie und des mexikanischen Todeskultes, wie er es später in seinem Mexiko-Buch beschrieben hat. Mit der Eroberung und Besetzung fremder Länder und der Ausweitung des Zweiten Weltkriegs rückte das Problem des Widerstands gegen die deutschen Unterdrücker in den Vordergrund. Bereits die Spanien-Bücher hatten jeden Kampf als Kampf gegen die Besetzung durch eine fremde Macht dargestellt. Auch im Zweiten Weltkrieg stellte sich die Frage, wie weit das Risiko eines ak29 So beschreibt es Michael Winter, vgl. ders., Der Augenblick des Todes. Gustav Reglers Roman Das große Beispiel. In: Uwe Grund/Ralph Schock/Günter Scholdt (Hg.), Gustav Regler. Dokumente und Analysen, Saarbrücken 1985, S. 213–222.

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tiven Widerstands mit seiner akuten Lebensgefahr die Sache wert war, oder vielmehr das Warten auf die unvermeidliche deutsche Niederlage gerechtfertigt blieb. Ferdinand Bruckners Dramentitel Denn seine Zeit ist kurz drückt die Überzeugung aus,30 dass das deutsche System bald zu Grunde gehen musste. Am eingehendsten haben sich die deutschen Autoren aus der Tschechoslowakei mit dieser Frage befasst, die sie so direkt persönlich betraf. Um die Spannweite dieser Auseinandersetzung anzudeuten, wähle ich zwei grundverschiedene Beispiele, den Roman Die Pflicht von Ludwig Winder31 und Heinrich Manns kontroverses Buch Lidice.32 Mit seinem Buch Die Pflicht, zuerst 1944 in Fortsetzungen erschienen, hat der viel zu wenig bekannte Ludwig Winder ein exemplarisches Buch geschrieben.33 Der unscheinbare tschechische Beamte im Verkehrsministerium, Josef Rada, erfährt den Konflikt zwischen zwei Pflichten. Er ist zuständig für die Fahrpläne der tschechischen Eisenbahn. Als die Deutschen 1939 Prag besetzen, lehnt er zunächst jede Beteiligung an Widerstandsaktionen ab. Er kommt zunehmend in eine Zwickmühle, weil ein Freund, ein Kollaborateur, unter den Deutschen einen hohen Posten erhält, und Josef Rada im Vertrauen auf seine Pflichtethik an eine Stelle setzt, wo er den Eisenbahnverkehr plant und damit genaue Informationen über Zeit und Ort der deutschen Truppentransporte und Munitionszüge bekommt. Josef wird durch das Schicksal seines Sohnes aufgerüttelt, der als Student am Aufstand teilgenommen hat. Auch hier setzt Winder mit der Schließung der Universität das Signal der Verteidigung des Geistes. Zugleich wird Josef durch die Verlobte des ermordeten Sohnes an eine höhere Pflicht erinnert. Er kommt, und das ist der eigentliche Inhalt des Romans, schließlich zu der Erkenntnis, dass es eine höhere Pflicht gibt als die eines pünktlichen Beamten, und er gibt seine Informationen an die Partisanen weiter, bis er am Ende verraten und hingerichtet wird – übrigens entgeht auch sein Freund und Vorgesetzter nicht diesem Schicksal. Die geradlinige Handlung wird in einem nüchternen, Kafka-ähnlichen Stil berichtet, genau so unpathetisch und selbstverständlich wie die Hauptfigur des Romans. Aus dem passiven Beobachter und Verhinderer in der Manier des Soldaten Schwejk wird der aktive Kämpfer, dessen Informationen den deutschen Nachschub wesentlich behindern und stören. Auch hier ist nur im Hintergrund von politischen Parteien die Rede. Das eigentliche Engagement ist moralisch. Auch hier zeigt sich, dass keine Neutralität möglich ist, sondern nur Kollaboration oder Widerstand. Der Kampf ist total. Die Situation zwischen Kollaboration und Widerstand, speziell von der sudetendeutschen Perspektive aus, wird von F. C. Weiskopf in seinem Roman Das Himmelfahrtskommando geschildert,34 wo der Ich-Erzähler allmählich zur Er30 Vgl. Ferdinand Bruckner (Theodor Tagger), Denn seine Zeit ist kurz. In: Dramen unserer Zeit, Zürich 1945 (dort gemeinsam mit Die Befreiten abgedruckt). 31 Vgl. Ludwig Winder, Die Pflicht, Zürich 1949. 32 Vgl. Heinrich Mann, Lidice, Mexico 1943. 33 Eine kurze Charakterisierung mit den relevanten Fakten gibt Judith von Sternburg, Gottes böse Träume. Die Romane Ludwig Winders, Paderborn 1994, S. 127–138. 34 Vgl. Franz Carl Weiskopf, Himmelfahrtskommando, Stockholm 1945.

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kenntnis der deutschen Schuld und Verbrechen kommt, endgültig an der russischen Front, wo er erblindet – und gerade dann zu sehen anfängt. Es geht vorher um ein Wachkommando in Prag, das umgeben ist von der Feindseligkeit der Tschechen und das an den Unterdrückungsmaßnahmen beteiligt ist. Die Gruppe bietet einen Querschnitt durch die deutsche Gesellschaft, vom fanatischen Nazi und SS-Mann zum preußischen Adligen, zum korrupten Nutznießer und Schieber bis hin zum deutschen Widerstandskämpfer, und demonstriert die Selbstzerstörung der deutschen Gesellschaft und zugleich die wachsende Feindseligkeit zwischen Tschechen und Deutschen, die die in der Tschechoslowakei beheimateten Deutschen wie Weiskopf und Winder selbst besonders tief trifft. Schon hier wird deutlich, wie sehr auch die Deutschen im Exil von diesem Regime innerlich betroffen sind. Mit dem Verlust ihrer Heimat verlieren sie einen Teil ihrer selbst. Heinrich Manns Lidice ist schwer zu lesen. Auf der Oberfläche handelt es sich um eine Folge von 101 Filmszenen, die meisten von ihnen grotesk, mit vielen Slapstick-Elementen. Während am Anfang die Haltung der Tschechen noch klar ist, die die „dummen Deutschen“ hinters Licht führen wollen, werden die Situationen immer komplizierter. Das liegt am Doppelgängermotiv, dem Kern der Handlung. Pavel Ondracek sieht die Möglichkeit des Widerstands darin, den Protektor Heydrich nachzuahmen, bis zu dem Punkt, wo er sich mit ihm identifiziert und Heydrich selbst zweifelt, ob er der echte Protektor ist. Das Wort „Protektor“, „Beschützer“, erhält vielfache, meist ironische und satirische Bedeutungen. Zum Doppelgängertum gehört das Element des Schauspielertums, der Bühne, der Illusion, und damit der Leere. Hinter der Rede, hinter der aufgeblasenen Rhetorik steht das Nichts, wie hier in vielen Szenen demonstriert wird. Heydrich und mit ihm Pavel Ondracek wird damit immer mehr zu einer Hitler-Figur. Die Stimme des Führers steht überall im Hintergrund, Hitler ist der Schatten, der diese Figuren begleitet. Die Hitler-Karikatur des Exils, der Schauspieler seiner selbst und das aufgeblasene Nichts, wie sie Lion Feuchtwanger beispielsweise in Der falsche Nero35 und Die Brüder Lautensack darstellte,36 der Mensch, der nicht er selbst sein kann, sondern immer ein „Anderer“ ist, hat fatalerweise Ähnlichkeit mit der Karikatur des Juden, sowohl der Nazis, als im jüdischen „Selbsthass“. Der Widerstand dagegen muss immer ein Widerstand gegen Versuchungen in sich selbst sein, sich in diese Mentalität hineintreiben zu lassen. Pavels Rolle als „Protektor“, um das tschechische Volk zu schützen, gefährdet ihn innerlich, wenn nicht physisch. Obwohl er Heydrich besiegt, der von den eigenen Leuten umgebracht wird, bleibt es ein Selbstopfer. Und trotz des Erfolgs fühlt Pavel die Schuld für die Vernichtung von Lidice, als hätte er sie befohlen. Es ist ja auch der tote Heydrich, der sie verursacht, und lebt er nicht in Pavel weiter? Im Grotesken eröffnen sich Abgründe. Der Widerstand gegen das Un35 Vgl. Lion Feuchtwanger, Der falsche Nero, Amsterdam 1936. 36 Vgl. ders., Die Brüder Lautensack, London 1944 (zuerst in englischer Übersetzung, London 1943).

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heil und das Böse als Widerstand gegen das Nichts, gegen die Leere, also gegen die Vernichtung, führt in diesem Fall Vernichtung herbei, jedoch als Opfer, um das übrige Volk zu retten. Und so endet auch dieses Buch mit einer Zukunftsaussicht, sogar in Reimen, fast wie die französischen Sprüche in Henri Quatre.37 Immer wieder das gleiche Bild: Trotz der inneren Logik der Handlung wird eine hoffnungsvolle Schlusswendung eingesetzt, in diesem Fall durch den Hinweis auf den erfolgreichen Partisanenkampf in Jugoslawien. Mit der sich abzeichnenden Niederlage des Dritten Reiches setzte im Exil eine immer intensivere Selbstbefragung ein, eine Erforschung der deutschen „Volksseele“ und des inneren Anteils der Exilierten, ihrer Mitverantwortung und ihrer Schuld. Das Hauptdokument dieser sich häufenden Literatur vor und nach 1945 ist Thomas Manns Doktor Faustus,38 doch etliche andere Texte sind gleich relevant: Carl Zuckmayers Des Teufels General,39 Leonhard Franks Deutsche Novelle,40 Alfred Döblins November 191841 und Arnold Zweigs Das Beil von Wandsbek,42 im weiteren Sinne auch Texte wie Stefan Zweigs Schachnovelle43 und Anna Seghers’ Der Ausflug der toten Mädchen.44 Thomas Manns große Abrechnung mit Deutschland und sich selbst im Zeichen des Teufelspaktes zeigt, was immer die Schlüssigkeit der Gleichung von Leverkühn und Deutschland und der Vorstellung des „Faustischen“ sein mag, wie der Verweigerer Serenus Zeitblom, der glaubt, sich aus der reißenden Zeit in den Elfenbeinturm des Humanismus zurückziehen zu können, von den Ereignissen immer mehr eingeholt wird. Die „Front“ kommt immer näher, bis auch er vor den Trümmern steht. Er ist es seinem Gewissen schuldig, die Chronik des Lebens seines Freundes Leverkühn aufzuzeichnen, und damit die Verstrickung Leverkühns und seiner Umwelt in eine Dämonik, die ihn verschlingt. Thomas Manns Definition von 1945, das böse Deutschland, das sei das fehlgegangene gute,45 ist bereits abmildernd, wenn man die Wucht des Ablaufs der Ereignisse bedenkt. Leverkühn versucht das Experiment, sich mit dem Bösen einzulassen, das Böse in sich hereinzulassen, um seine Kreativität zu erneuern. Sein Freund Serenus steht schaudernd 37 Vgl. Heinrich Mann, Henri Quatre, Band 1: Die Jugend des Königs Henri Quatre; Band 2: Die Vollendung des Königs Henri Quatre, Amsterdam 1935; 1938. 38 Vgl. Thomas Mann, Doktor Faustus. Aus dem Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, New York 1947. 39 Vgl. Carl Zuckmayer, Des Teufels General, Stockholm 1946. 40 Vgl. Leonhard Frank, Deutsche Novelle, München 1954. 41 Vgl. Alfred Döblin, November 1918. Eine deutsche Revolution. Erzählwerk, Band 1: Bürger und Soldaten, Stockholm 1939; Band 2–4: Verratenes Volk; Rückkehr der Fronttruppen; Karl und Rosa, Freiburg i. Brsg. 1948–1950. 42 Vgl. Arnold Zweig, Das Beil von Wandsbek, Stockholm 1947 (zuerst in hebräischer Übersetzung, Tel Aviv 1943). 43 Vgl. Stefan Zweig, Schachnovelle, Buenos Aires 1942. 44 Vgl. Anna Seghers, Der Ausflug der toten Mädchen, New York 1946. 45 Im vielbeachteten Vortrag „Deutschland und die Deutschen“, der allerdings im Zusammenhang mit den Kontroversen um die Zwei-Deutschland-These und die amerikanische Ansicht der Deutschen und der Ziele ihrer Politik für das besetzte Deutschland steht, ein außerordentlich verzwickter Knoten, dabei höchst aufschlussreich für Thomas Manns Position und Ansichten.

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und warnend, aber machtlos daneben, die Machtlosigkeit des Humanisten, der durch den Appell an die Vernunft das Unheil abwenden will. Er demonstriert die Ohnmacht der Gegenwehr gegen das Unheimliche und Dämonische. Von einem Regierungssystem, totalitär oder nicht, ist nur indirekt und im Hintergrund die Rede. Auch Doktor Faustus ist, wie besonders Die Entstehung des Doktor Faustus deutlich macht,46 ein Totentanz, die Verbindung von Kunst und Tod, ein Roman „des Endes“, der ungleich fast allen anderen Texten, die Zukunftsperspektive ganz dem Leser überlässt. Vergleichen kann man damit Stefan Zweigs literarisches Testament, die Schachnovelle. Hier ist in der Tat vom Widerstand die Rede, aber von einem vergeblichen Widerstand. Das Schachspiel ist dabei ein vielfältiges und vieldeutiges Symbol. Es kann ein Machtinstrument, ein Instrument der Folter werden in der Hand des brutalen und unmenschlichen Schachweltmeisters, aber gleichzeitig eine, wenn auch prekäre Rettung des Geistes. Die Situation des Binnenerzählers im Gefängnis scheint mir besonders aufschlussreich: Er findet ein Buch mit Schachpartien und spielt Schach mit sich selbst, wobei er sich immer mehr verdoppelt, bis er Schachpartien im Kopf erfindet und gegen sich selbst durchspielt. Es ist der Geist, der in seinem eigenen Gefängnis mit sich selbst spielt, ohne Zugang zur Wirklichkeit zu haben, die ohnehin nur als Verhör und Drohung mit der Folter auf ihn eindringt. Solange dann auf dem Schiff die Partie nach seinen Regeln, den Regeln der Intelligenz und Fairness, gespielt wird, muss er gewinnen; er verliert sofort, nachdem der Gegner ihn psychologisch und nicht nach Spielregeln bekämpft. Hier erscheint Stefan Zweigs Vorstellung der Massenpsychologie ebenso wie die des gegenwärtigen Zeitalters, das auch dem geistigen Menschen keine innere Freiheit mehr gestattet, sondern ihn ganz vereinnahmt. Für Stefan Zweig ist keine Parteinahme mehr möglich, sondern nur noch die Beendigung seines Lebens, in der Schachnovelle symbolisiert durch das Verschwinden des österreichischen Intellektuellen. Näher an der konkreten Situation Deutschlands ist Zuckmayers Erfolgsstück Des Teufels General, das in der Hauptperson das Beispiel der Verstrickung in ein System gibt, das den Menschen total auffrisst. Durch die Versuchung gelockt, wieder fliegen zu können und eine neue Luftwaffe aufzubauen, verschreibt sich Harras dem System. Er hofft, sozusagen darüber schweben zu können und sogar Verfolgten zu helfen. Aber seine innere Freiheit ist nutzlos, so lange er mithilft, den Krieg zu führen. Zuckmayer zeigt mit der Figur des Ingenieurs Oderbruch zugleich das Dilemma des aktiven Widerstands, der im Krieg nur als Sabotage wirksam sein kann und sich dann gegen die eigenen Soldaten richtet und in einen Zwiespalt zwischen Patriotismus und einem höheren Gewissen bringt, auch hier den Widerspruch von zweierlei Pflicht. Das Ende des „Mitmachers“ Harras ist bei Zuckmayer ein unvermeidliches und tragisches; er kann auch seine Lebensfreude nicht gegen das totale System bewahren, das, symbolisiert im Abhörgerät, alle Schichten des Lebens durchdringt. Die Hoffnung richtet sich auf eine Zukunft nach dem unvermeidlichen Ende des Sys46 Vgl. Thomas Mann, Die Entstehung des Doktor Faustus, Amsterdam 1949.

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tems, eine Zukunft, die allerdings politisch nicht sehr konkret beschrieben wird. Der innere Widerstand genügt nicht, es gibt keine Schutzmauern innerhalb des Systems. Die ausführlichste Auseinandersetzung mit der Wirkung des nationalsozialistischen Systems auf die deutsche Gesellschaft und die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Widerstands bietet der Roman Das Beil von Wandsbek von Arnold Zweig, das bereits im Rückblick auf die Vergangenheit geschrieben ist, als ein „historischer“ Roman. In dieser Geschichte ist es der Verlust des Rechtssystems, der Gerechtigkeit, der die Wurzel allen Übels wird. Vier im Hamburger „Reeperbahn-Prozess“ zum Tode Verurteilte warten 1937 auf die Hinrichtung, die der Zuchthausdirektor Koldewey zu verzögern und damit zu verhindern versucht. Aber es misslingt ihm; er, der Humanist, dessen Lieblingsphilosoph Friedrich Nietzsche ist, kann sich als Beamter nicht gegen das System zur Wehr setzen. Neben seinem human verwalteten Gefängnis befindet sich das Konzentrationslager, und wenn er die Fenster öffnet, dringen die Schmerzensschreie ins Zimmer. So kämpft er vergebens um die Bewahrung seiner Welt der Kultur. Im Verlauf der Handlung wird ihm nicht nur die dunkle Seite des Systems immer deutlicher, sondern zusammen mit engen Freunden und mit Hilfe der Erkenntnisse Sigmund Freuds begreift er, dass Adolf Hitler ein Wahnsinniger ist, der die Welt in Brand stecken wird. Doch das Projekt, Hitler durch Gift zu töten, misslingt. Die Beteiligten sind ein Spiegelbild der Verschwörung des 20. Juli 1944, und in dem summarischen Schluss wird auch berichtet, dass Koldewey noch kurz vor Ende des Krieges hingerichtet worden sei. Koldewey und die beiden Hamburger Juden, die sich 1945 in Haifa auf dem Carmel wiedertreffen, wissen, dass ein wirksamer politischer Widerstand sehr viel früher hätte beginnen müssen. Arnold Zweig schildert jedoch nicht nur den Untergang des deutschen Bildungsbürgertums und den Untergang des deutschen Judentums, durch Verfolgung, Ermordung und erzwungenen Selbstmord, bestenfalls eine erzwungene Auswanderung, sondern vor allem die Verstrickung des deutschen Kleinbürgertums in das System, speziell am Beispiel des Schlachtermeisters Teetjen, der sich aus finanzieller Not dazu hergibt, den Henker zu spielen und die Vier mit dem Beil hinzurichten. Teetjen richtet mit dieser Tat, zu der ihn der opportunistische Reeder, der Kapitalist H. A. Footh, angestiftet hat, sich selbst und seine unschuldige Frau Stine zu Grunde. Ihr Selbstmord symbolisiert das Ende des Kleinbürgertums, das der Propaganda der Nazis zum Opfer gefallen ist, und gibt gleichzeitig ein Beispiel für den Kapitalismus, der die kleinen Läden durch die Supermärkte ersetzt. Zweig betont ganz im kommunistischen Sinne die kapitalistische Natur des Nationalsozialismus und sieht die einzige Hoffnung für die Zukunft im Sozialismus und der Sowjetunion, die das Erbe der hingerichteten Arbeiter weiterträgt. Das sind keineswegs nur äußerlich politische Parteiungen und Klassengegensätze. Im Prozess der Nazifizierung der deutschen Gesellschaft verlieren die Menschen ihre Würde und ihre Menschlichkeit, wie das besonders an Teetjen demonstriert wird. Sie werden zu Handlungen verführt, deren Unrechtscharakter ihnen eigentlich bewusst ist; aber sie werden in einen

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Sog hineingezogen, der niemanden verschont. Es gibt nur Mittäter und Opfer eines vergeblichen Widerstands, der dennoch als Signal für die Zukunft dient und so im Nachhinein seinen Sinn haben kann. Der Schluss des Romans ist allerdings zu summarisch, um sagen zu können, wie Zweig sich eine deutsche Zukunft vorstellt, außer dass sie sozialistisch sein soll. Aber sollen und können die Juden nach Deutschland zurückkehren? Hamburg jedenfalls, die hanseatische, auf Rechtlichkeit und Fairness aufgebaute Freie Stadt, ist zerstört, nicht nur in ihren Gebäuden, sondern auch im Geist ihres Bürgertums. Das mag ein harsches Urteil sein, aber es spiegelt die Ansicht des Exils, dass dieses System alle Lebensbereiche erfasst und korrumpiert hat. Das Bild des Nationalsozialismus ist immer eines der Korruption, der Brutalität, der Unkultur, des Opportunismus und der aufgeblasenen Substanzlosigkeit, die wie eine Verschmutzung der Atmosphäre wirkt. Wenn Arnold Zweigs Auseinandersetzung mit Deutschland als Aufklärung, als Aufforderung zur Auseinandersetzung, zum „Aufräumen“ verstanden werden kann, so zeigen andere Texte die Aufforderung, die Pflicht zum Gedenken, zur Aufarbeitung der Erinnerung als Gegenwehr, als Widerstand gegen geschichtsloses Vergessen. Das geschieht exemplarisch in Anna Seghers’ Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen, einem der Schlüsseltexte des Exils. In diesem Ineinander von Gegenwart und Vergangenheit wird die helle Vergangenheit noch einmal sichtbar gemacht und zugleich mit ihr die Verstrickung der gesamten deutschen Gesellschaft in das Unheil, das letztenendes nur Opfer zurücklässt, denn auch die Täter gehen zu Grunde. Die Geschichte endet mit dem vergeblichen Versuch der Heimkehr, doch mit der Verpflichtung und dem festen Vorsatz, den Ausflug festzuhalten und damit das eigene Leben und die eigene Geschichte gegenüber der Zeitlosigkeit der vegetationslosen mexikanischen Einöde. Es ist der Widerstand der Erzählerin gegen die Zerstörung der Heimat und ihrer Menschen als Ende der Geschichte. Sie will schreiben, um in der Schilderung der Vergangenheit Zukunft möglich zu machen, auch wenn die Heimkehr ungewiss bleibt. So verlagert sich in der zeitlichen Perspektive der Widerstand von der Gegenwehr gegen das alles verschlingende System zur Verhinderung des Vergessens; denn auch dieses Vergessen wäre unmenschlich, die Auslöschung der Geschichte ist ein Teil eines totalitären Systems. Das Exil in seiner Isolierung war hellsichtig geworden und sah die totalitären Dimensionen auch in den Gesellschaften, die sich demokratisch nannten. So lange die Menschen noch nicht im Frieden leben, sondern stets in der Angst vor einem ubiquitären Feind, neigen sie dazu, alle Schichten des Lebens mit Verdächtigung zu durchdringen und im Interesse der „Freiheit“ die Menschenwürde zu missachten. Die Literatur des deutschsprachigen Exils hat viele dieser Vorgänge bereits dargestellt und analysiert. Das hat nichts mit Elitismus zu tun, den man etwa Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung vorgeworfen hat.47 Zu welchen komplexen Ausei47 Vgl. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947 (zuerst fragmentarisch, New York 1944).

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nandersetzungen dies führen kann, zeigte bereits Alfred Döblins Erzählwerk November 1918, das sowohl das Scheitern der sozialistischen Revolution von Rosa Luxemburg als auch das des Systems der Gerechtigkeit im Völkerbund von Woodrow Wilson beschreibt und die Menschheit allein der Gnade Gottes anheim gibt. Am meisten haben wir jedoch an eines der abschließenden Werke des Exils zu denken, Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss,48 ein Werk, das allerdings einer eigenen Auseinandersetzung bedürfte und hier nur genannt werden kann. Klar geworden ist, dass die Auseinandersetzung des literarischen Exils mit dem Nationalsozialismus dazu führte, dass sich die Autoren gezwungen sahen, die erwünschte Position über den Parteien aufzugeben, dass sie aber gleichzeitig erfuhren, wie gefährlich für sie selbst der Widerstand gegen das Barbarische und Böse, gegen die Unkultur und die Nichtigkeit werden konnte. Thomas Mann erkannte in Adolf Hitler den verkommenen Künstler und nannte ihn „Bruder Hitler“. In Heinrich Manns Lidice wird der Widerstandskämpfer nach dem Beispiel von Charlie Chaplin zum Doppelgänger Heydrichs und Hitlers. Auch Edgar Hilsenraths Groteske Der Nazi und der Frisör zeigt die tiefe innere Beziehung und Doppelgängerschaft.49 Diese Erfahrung des Absturzes in die Barbarei bei dem Versuch, ihr zu widerstehen, der unvermeidlichen Identifizierung mit dem Gegner, der total anders ist, den man wie eine Infektion vermeiden möchte, und der keinen eigentlichen Kampf kämpft, sondern korrumpiert, pervertiert und dem Menschen die eigene Menschlichkeit nimmt, die innerliche Gemeinsamkeit mit dem, womit man nichts gemeinsam haben will und kann, das bleibt das erschreckende Ergebnis aller dieser Explorationen. Die Zukunft ist mehr als ungewiss, auch wenn fast alle Autoren eine bessere Zukunft, eine Art Wiedergeburt und den Frieden, einen Wendepunkt in der Geschichte herbeiwünschen. Es gibt keine Schutzmauern gegen das Unheil. Die Wüste wächst; und weh dem, der Wüsten in sich birgt, sagte Nietzsche. Für die Charakterisierung des Regimes tauchen immer wieder zwei Bildkomplexe auf, die das Exil als direkte oder metaphorische Bestimmung benutzt: zuerst die Krankheit, die Epidemie, und verwandt damit der Wahnsinn und allgemein die Korruption, die Verdorbenheit, so dass die Überwindung des Regimes und seiner Folgen als Heilung angesprochen wird. Das ist umso bemerkenswerter, als die Nazi-Propaganda den Juden als krankheitsbringend denunziert, als Parasiten, der das deutsche Blut verseucht. Zweitens erscheint das Bild des Schauspiels, der Schauspielerei, der Maske, der Lüge und falschen Vorspiegelung, der inneren Substanzlosigkeit und Leere, die sich in äußerem Bombast manifestiert, der so genannten „Ästhetisierung“. Alles das manifestiert und konzentriert sich in der Figur von Adolf Hitler. Diesem Schein der vergiftenden Lüge die Wahrheit entgegenzusetzen ist die beson48 Vgl. Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands, 3 Bände, Frankfurt a. M. 1975–1981. 49 Vgl. Edgar Hilsenrath, Der Nazi und der Frisör, Köln 1977 (zuerst in englischer Übersetzung, Garden City 1971).

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dere Aufgabe gewesen, die die Autoren des Exils der Literatur zugewiesen haben. Das Exil empfand sich in einer tiefgreifenden Krise des Aufklärungsdenkens. Dem Glauben an die Vernunft, an das Gute im Menschen, an den Fortschritt und an die große Verbrüderung der Menschen stemmte sich die Erfahrung des Bösen entgegen, der Teufel erscheint wieder als reale Macht, als Mephisto, in den sich der Schauspieler Höfgen verwandelt, dann aber als der große Versucher, bei Döblin in November 1918, in Zuckmayers Theaterstück und besonders bösartig in Thomas Manns Doktor Faustus. Aus einem Kampf um den Fortschritt wird die Geschichte der Menschheit zur ewigen Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse. In der Literatur und Philosophie des Exils steht beides nebeneinander, Glaube an die Vernunft und Schrecken vor dem Bösen, als Widerspruch oder als Widerstand gegen den Abschied von der Aufklärung, doch im Hintergrund oder im Untergrund steckt die Angst, dass das große Projekt der Europäer, mit der Vernunft und dem Verstand die Unvollkommenheiten der Natur oder der Schöpfung zu korrigieren, zur großen Vervollkommnung hin zu streben, vielleicht eine Inspiration und Versuchung des Teufels, des Bösen war, um den Untergang der Menschheit herbeizuführen. Ein Regime wie der deutsche Nationalsozialismus wäre jedenfalls ein Markstein auf diesem Wege. Nur mit einem festen Glauben kann einem totalitären System Widerstand entgegengesetzt werden. Aber führt nicht gerade dieser Widerstand zu ständigen Zweifeln und Fragen ohne Antworten? Wir müssen es immer noch der Zeit überlassen, zu entscheiden, welche Lösung der Krise des Aufklärungsdenkens, die das 20. Jahrhundert darstellt, das 21. Jahrhundert bringen kann.

Die Depotenzierung des Menschen im kollektivistischen Denken der Weimarer Republik – Zu Johannes R. Becher und Ernst Jünger Lars Koch Die Weimarer Republik hatte vom Tage ihrer Ausrufung an mit der „Erblast des verlorenen Krieges“1 – jenem viel beklagten „Wendepunkt zum Schlechten“2 – zu kämpfen, sie wurde von vielen Zeitgenossen über die Grenzen von Klassen und Konfessionen hinweg wahrgenommen als die bloß vorläufige Konstruktion eines Interregnums, in ihren territorialen Grenzen nicht mehr als ein großes Schlachtfeld der miteinander konkurrierenden Weltanschauungen, auf dem sich die politischen Armeen der kommenden Jahre bereits formierten. „Kriegsniederlage und Kaiserabdankung“ – so der Historiker Peter Reichel in seiner Studie über Faszination und Gewalt des Faschismus – „hatten wie ein Kulturschock gewirkt. Und entsprechend schwankte das Lebensgefühl großer Bevölkerungsteile zwischen kulturpessimistisch-düsterer Untergangstimmung und heroischem Existentialismus. Erlöserutopien und Erneuerungsvisionen waren gefragt.“3 Die geistige Atmosphäre in jener von einer „Kultur der Niederlage“4 geprägten Gesellschaft, deren „komplexe Öffentlichkeitsarbeit am Kriegserlebnis“5 noch in der Periode der Normalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse von zahlreichen politischen und intellektuellen Akteuren diskursiv forciert wurde, war bestimmt von den Grabenkämpfen einer revolutionären Linken auf der einen und einer in nationalrevolutionäre und völkische Gruppierungen unterteilten Rechten auf der anderen Seite, die – in ihrer Frontstellung gegenüber der mit der republikanischen Verfassung des Staates in eins gesetzten Bürgerlichkeit 1 2 3 4 5

Vgl. hierzu Richard Bessel, Die Krise der Weimarer Republik als Erblast des verlorenen Krieges. In: Frank Bajohr u. a. (Hg.), Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne, Hamburg 1991, S. 98–114. Ernst Schulin, Die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts. In: Wolfgang Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, Weyarn 1997, S. 3– 28, hier 3. Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reichs. Faszination und Gewalt des Faschismus, München 1991, S. 70. So der Titel der materialreichen und in innovativer Absicht verfassten Studie von Wolfgang Schivelbusch, Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918, Berlin 2001. Bernd Hüppauf, Räume der Destruktion und Konstruktion von Raum. Landschaft, Sehen, Raum und der Erste Weltkrieg. In: Krieg und Literatur, (1991) Nr. 5/6, S. 105– 123, hier 111.

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geeint6 – versuchten, der nie von einer breiten parlamentarischen Basis dauerhaft unterstützten Demokratie – jener von Ernst Troeltsch schon 1919 so titulierten „Republik ohne Republikaner“7 – agitativ und gewalttätig den Garaus zu machen. Die von Revolution und Bürgerkrieg, Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise auch über die Jahre der relativen Stabilisierung hinweg tief verunsicherte Weimarer Öffentlichkeit wurde zur diskursiven und auch realen Kampfzone einer „verkehrten Welt“8, in der sich – ganz im Sinne Carl Schmitts – Freund und Feind unversöhnlich gegenüberstanden.9 Tiefenstrukturell motiviert wurde das Bedürfnis, die unübersichtliche gesellschaftliche Lage der Nachkriegsjahre in klar überschaubare Frontabschnitte zurück zu übersetzten, von der alle Vorkriegssicherheiten außer Kraft setzenden Wirkung der Jahre 1914–1918, welche als Epochenzäsur wahrgenommen und zum argumentativen Ausgangspunkt jedweder Gegenwartsdeutung gemacht wurden. Der Krieg hatte nicht nur denjenigen, die ihn direkt in den Schützengräben miterlebten, sondern auch jenen, die ihn nur über mediale Vermittlungsprozesse kannten, vor Augen geführt, dass bewährte Deutungsmuster keine Gültigkeit mehr besaßen, dass Orientierungsmaßstäbe an Aussagekraft verloren hatten und – dies macht das rückblickende Zitat Walter Benjamins aus dem Jahr 1933 deutlich – der gesamte kollektive Erfahrungshaushalt entwertet worden war: „Die Erfahrung ist im Kurs gefallen. Und sie fällt weiter ins Bodenlose. Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch die Materialschlacht, die sittlichen durch die Machthaber. Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörerischer Ströme und Explosionen, der winzige, zerbrechliche Menschenkörper.“10

Für die eingehendere Beschäftigung mit den zeitdiagnostischen und geschichtsdeutenden Überlegungen von Johannes R. Becher und Ernst Jünger ist es vor 6

In diesem Sinne schreibt Ernst Jünger gegen Ende der 20er Jahre über die gemeinsame Zielsetzung der radikalen Rechten und Linken: „Die Ordnung ist der gemeinsame Feind, und es gilt zunächst, den luftleeren Raum des Gesetzes überhaupt zu durchbrechen, damit Aktion auf Aktion sich zu entfalten und aus den chaotischen Reserven sich zu speisen vermag. Daher kommt mir eine Feindschaft, wie sie heute zwischen den Nationalisten und den Kommunisten gepflegt wird, schon aus taktischen Gründen unverständlich vor.“ Ernst Jünger, „Nationalismus“ und Nationalismus. In: Das Tagebuch (September 1929), zit. nach ders., Politische Publizistik 1919 bis 1933. Hg. von Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, S. 501–509, hier 506. 7 Ernst Troeltsch, Aristokratie. In: Kunstwart, 33 (1919), S. 49–57, hier 50. 8 So der Titel der Studie von Martin H. Geyer, Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne. München 1914–1924, Göttingen 1998. 9 George L. Mosse vertritt in diesem Sinne die These, dass der verlorene Krieg in den 20er Jahren zu einer generellen „Brutalisierung der deutschen Politik“ geführt habe; vgl. ders., Gefallen für das Vaterland: nationaler Mythos und namenloses Sterben, Stuttgart 1993, S. 195. 10 Walter Benjamin, Der Erzähler. In: ders., Gesammelte Schriften. Hg. von Horst Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Band 2/2, Frankfurt a. M. 1980, S. 438–465, hier 439.

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diesem verunsicherungssensiblen Hintergrund von Bedeutung, dass die politische Situierung beider Autoren im Sinne einer undifferenzierten links-rechtsDichotomie – Becher war mit einer Unterbrechung in den Jahren von 1920 bis 1923 seit 1919 KPD-Mitglied11, Jünger zählt zu den herausragenden Köpfen des von Stefan Breuer so titulierten „Neuen Nationalismus“12 – alleine noch keine kategoriale Einordnung der in ihren Texten enthaltenen Krisensemantik sowie der von ihnen zur Deutung von Gegenwart und Zukunft herangezogenen geschichtsphilosophischen Argumentationsfiguren erlaubt. Vielmehr sind im intellektuellen Feld der 1920er Jahre, jenem Zeitraum im permanenten „Ausnahmezustand“ (Carl Schmitt), der, wie Gottfried Benn einmal sagte, bestimmt war von einem „grauenvollen Chaos von Realitätszerfall und Werteverkehrung“13, rhetorische Strategien zu beobachten, die eingängige politische Schemata relativierten, dabei ihren gemeinsamen Fluchtpunkt in der Sehnsucht nach einer normativen Überwindung jener von Georg Lukács so benannten „transzendentalen Obdachlosigkeit“14 hatten und zu diesem Zwecke das im Kaiserreich tradierte, politische Koordinatensystem zumindest tendenziell in Frage stellten. Helmuth Lethen, einer der besten Kenner jener viel zitierten „Krisenjahre der Klassischen Moderne“15, hat im Zuge seiner Historisierung der „Lebensversuche zwischen den Kriegen“16 drei argumentative Gemengelagen herausgestellt, die semantische Brückenschläge zwischen den politischen Lagern ermöglichten und die nun im Folgenden zur Klärung der Frage herangezogen werden sollen, ob auch im Falle von Becher und Jünger von einer solcherart „unheimlichen Nachbarschaft“17 gesprochen werden kann. Als einen ersten derartigen osmotischen Gesprächszusammenhang, der auch solche Akteure mit einander in Beziehung setzt, die „ideologisch Welten von einander entfernt“18 erscheinen, benennt Lethen im Anschluss an eine Studie von Manfred Gangl und Gérard Raulet über die „Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik“19 mit dem Terminus „Austauschdiskurs“. Gemeint ist da11

12 13 14 15 16 17 18 19

War der erste Eintritt Bechers im Jahre der Parteigründung 1919 vor dem Hintergrund des politischen Systemwechsels in erster Linie noch eher antibürgerlich motiviert, so erfolgte der Wiedereintritt in die KPD im Jahre 1923 aufgrund einer dezidiert politischen Entscheidung, die dann auch ein starkes parteipolitisches Engagement nach sich zog. Zur politischen Situierung der Biographie Johannes R. Bechers vgl. Alexander Behrens, Johannes R. Becher. Eine politische Biographie, Köln 2003. Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1995, S. 180–203. Gottfried Benn, Expressionismus. In: ders., Das Hauptwerk, Band 2, Wiesbaden 1980, S. 127. Georg Lukács, Die Theorie des Romans (1920), Darmstadt 1972, S. 32. Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987. Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M. 1994. Lethen, Unheimliche Nachbarschaften. Neues vom neusachlichen Jahrzehnt. In: Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik, 1 (1995), S. 76–92. Ebd., S. 76. Manfred Gangl/Gérard Raulet (Hg.), Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Frankfurt a. M. 1994.

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mit ein Verfahren, das analoge Denkfiguren in den Texten verschiedener Autoren rekonstruiert, „um nachzuweisen, dass die ‚klassische Moderne‘ [...] als ein endliches Ensemble von Konzepten erscheint“, die als Diskurse in einem abgeschlossenen Zeitvolumen – hier dem der Jahre 1919–1933 – flottieren, „sich austauschen und abgrenzen, aber um ein [gemeinsames] Sinnzentrum kreisen, das nun fremd geworden ist“.20 Sucht man im Hinblick auf Becher und Jünger nach Anzeichen eines solchen Austauschdiskurses, so ist zunächst einmal zu konstatieren, dass sich beide Autoren persönlich nie begegnet sind, mithin ein möglicher Wissens- und Deutungstransfer nur auf der vermittelten Ebene gegenseitiger Lektüreanstrengungen und medialer Referenzen möglich gewesen ist.21 Zu beobachten ist eine solche virtuelle Begegnung für den 1929 von Becher verantworteten und im kommunistisch situierten „Internationalen Arbeiter-Verlag“ veröffentlichten Sammelband Der Krieg22, für den Jünger einige Seiten aus seinen Texten In Stahlgewittern und Feuer und Blut zur Verfügung stellte. Im Vorwort hebt Becher denn auch die Bedeutung Jüngers für die generationenübergreifende Vermittlung des Kriegserlebnisses hervor: „‚In Stahlgewittern‘ ist das unbarmherzigste, das brutalste und nackteste Kriegsbuch. Umso wertvoller für uns, als es von einem Offizier, einem Kriegsbejaher geschrieben ist. Daran ändert auch nichts der ‚Nationalismus‘, für den es zeugen soll, denn diese Gesinnung wirkt schemenhaft und aufgeklebt. In dem Kampf zwischen Wirklichkeit und Gesinnung siegt die Wirklichkeit. E. Jünger möchte ein Ausruf sein, er wird Widerwillen zu einem Fragezeichen.“23 Neben dieser direkten Bezugnahme, die schon die Bedeutung markiert, die beide Autoren dem zurückliegenden Krieg, oder noch genauer besehen, der mit ihm verbundenen Chiffre des Kriegserlebnisses beimessen, findet sich in Bechers fiktionalen Texten ab etwa 1925 ein weites Spektrum möglicher Bezüge, das von einem an Jüngers Kriegsbücher erinnernden Sprachgestus über intertextuelle Verweise bis hin zu konkreteren argumentativen Analogien reicht. In dem 1926 von Becher veröffentlichten Roman (CH CL = CH)3 As (Levisite) 20 Lethen, Unheimliche Nachbarschaften, S. 77. 21 In diesem Sinne einer vermittelten gegenseitigen Rezeption hat Jünger Becher in einem Zeitungsartikel als „mir lediglich aus meiner Berliner Zeitung bekannt“ bezeichnet; vgl. Ernst Jünger, Wenn ein Bruder anklopft, bittet man ihn herein. In: Die Welt vom 24. 3.1993, S. 10. 22 Der Krieg. Erstes großes Volksbuch vom Krieg. Hg. von Kurt Kläber mit einem Vorwort von Johannes R. Becher, Berlin 1929. 23 Hier zit. nach Johannes R. Becher, Der Krieg. In: ders., Gesammelte Werke, Band 15. Hg. vom Johannes-R.-Becher-Archiv der Akademie der Künste Berlin, Berlin (Ost) 1977, S. 186–201, hier 190. Jünger, nach Erscheinen des Buches aus rechten Kreisen für seine Kontakte zum politischen Gegner kritisiert, antwortete darauf in typischer Manier mit dem Argument, er halte es nicht für sträflich, „wenn auch der internationale Arbeiter einmal Kenntnis gewinnt von dem, was ich über kriegerische Dinge zu sagen habe.“ Ernst Jünger, Schlusswort zu einem Aufsatz in der Zeitschrift Widerstand, 1 (1930), zit. nach Gerald Diesener/Wojciech Kunicki, Johannes R. Becher und Ernst Jünger – eine glücklose Liaison? In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 42 (1994) Heft 12, S. 1085–1097, hier 1087.

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oder der einzig gerechte Krieg, dessen merkwürdiger Titel auf eine Formel zur Herstellung von Giftgas zurückgeht, zeigen sich alleine schon auf der formalen Ebene der Textgestaltung zahlreiche Anklänge an die lakonische Drastik, mit der auch Jünger in seinen frühen Texten den industrialisierten Krieg an der Westfront dargestellt hatte. Als ein Beispiel für die ästhetische Nähe, die die beiden Autoren auszeichnet, sei hier zunächst einmal eine Passage aus den in Levisite montierten Fronterinnerungen einer der Hauptfiguren zitiert: „Es war wie eine Gespensterlandschaft, durch die man jetzt schritt. Merkwürdig verfärbte Menschengesichter glotzten einem entgegen. Bis zum Hals in Schlamm getunkt. Augen doppelt so groß wie bei Lebenden. Die Stahlhelme weit ins Genick zurückgeschoben oder tief im Gesicht. Schaum um die Münder. Einer rutschte aus einem nach rückwärts ein wenig abgeflachten Granattrichter auf den Knien herauf, er machte mit den Armen Schwimmbewegungen. Ein ihm von einem stämmigen pommerschen Landwehrmann in die Brust gestoßenes Bajonett brach ab.“24

Vergleicht man Bechers Schilderung der Effekte, die die entfesselte Vernichtungsmaschinerie auf die von ihr in Mitleidenschaft gezogenen Soldaten hat, mit Jüngers Todesszenarien in seinem ersten Buch In Stahlgewittern, so zeigt sich, dass in beiden Texten der Fokus der Aufmerksamkeit zu wesentlichen Teilen auf dem Verhältnis zwischen Material und Körper bzw. zwischen Kriegstechnik und Kriegsarbeiter liegt. So heißt es in Jüngers Stahlgewittern: „Wir gelangten in das kampfzerwühlte Reich der Infanterie. Der Umkreis der Sturmausgangsstellung war von Geschossen kahlgeholzt. Im zerrissenen Zwischenfelde lagen die Opfer des Sturmes, den Kopf feindwärts; die grauen Röcke hoben sich kaum vom Boden ab. Eine Riesengestalt mit rotem, blutbesudeltem Vollbart starrte zum Himmel, die Fäuste in die lockere Erde gekrallt. Ein junger Mensch wälzte sich in einem Trichter, die gelbliche Farbe des Todes auf den Zügen. Unsere Blicke schienen ihm unangenehm, mit einer gleichgültigen Bewegung zog er sich den Mantel über den Kopf und wurde still.“25

Wie Jünger, der sich in seinem gesamten kriegerischen Oeuvre immer wieder mit der Frage beschäftigt, wie vor dem Hintergrund der immensen Entindividualisierungstendenzen der modernen Materialschlacht die Stellung des Menschen in der Welt zu beurteilen sei, so begreift auch Becher die von ihm entworfenen Destruktionsbilder als „Zeichen einer Degradierung des Menschen im Krieg“, die er dann in einem zweiten Schritt, epochendiagnostisch überformt, mit dem „kapitalistischen Arbeitsprozess“26 und den mit ihm verbundenen Verdinglichungstendenzen insgesamt parallelisiert. Für beide Autoren ist der von Jünger in dem Text Die totale Mobilmachung im Sinnbild einer „mit Blut gespeisten Turbine“27 evozierte Grabenkrieg der Westfront der Ort eines historischen 24 Becher, (CH CL = CH)3 As (Levisite) oder der einzig gerechte Krieg. In: ders., Gesammelte Werke Band 10. Hg. vom Johannes-R.-Becher-Archiv der Akademie der Künste Berlin, Berlin (Ost) 1969, S. 9–421, hier 148 f. 25 Jünger, In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers, 2. Auflage Berlin 1922, S. 15. 26 Diesener/Kunicki, Johannes R. Becher und Ernst Jünger, S. 1091. 27 Jünger, Die totale Mobilmachung. In: ders. (Hg.), Krieg und Krieger (1930), zit. nach ders., Politische Publizistik 1919 bis 1933. Hg. von Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, S. 558–582, hier 564.

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Übergangs, der die fortschrittsoptimistische Vorstellung einer dem Menschen dienenden Technik nivelliert und anstelle dessen die moderne, von umfassenden Technisierungsprozessen bestimmte Lebenswelt als Entfremdungszusammenhang kenntlich macht. Bei Becher heißt es in dem Gedicht LiebknechtLuxemburg-Lenin dazu: „Vier Jahre Krieg: Stahlstrudel, Leichenmüll, Blutsümpfe,/Flandrische Dörfer gasverseucht. Gestank/Quoll aus Erdporen dick. Durch Stacheldraht, quer über Menschenrümpfe/Kroch ratternd an, schnellfeuernd, Tank an Tank.// [...] Der Mensch ist Material. Die Massenschlacht / frisst davon viel! Drum an die Front, Prolet! da hilft kein Flehn!/ ProletenFrauen, aufgewacht!/In die Fabrik! Rin ins Granatendrehen!“28 Dort, wo Jünger im heroischen Gestus des Frontoffiziers im Stellungskrieg eine „Signatur des technisch-industriellen Zeitalters“29 zu erkennen vermeint, die angesichts der „ungeheuren Entfaltung von technischen Energien“30 zur Beantwortung der grundsätzlichen Frage nötige, ob der Mensch oder die Maschine stärker sei,31 erkennt Becher – in analoger Argumentation, allerdings unter kommunistischen Vorzeichen gewendet32 – in der physischen Beschaffenheit des zuhauf eingesetzten Giftgases ein Symbol für die fulminante und zugleich den historischen Prozess forcierende Entgrenzung des Krieges. Ausgehend von der Marx’schen Theorie der Verkehrung der menschlichen Produktivkräfte in Mittel der Destruktion, erweist sich das völlig indifferent tötende Kampfgas als „Symbol des Nullpunktes, des Gefrierpunktes, auf dem jetzt die bürgerliche Kultur angelangt“33 ist. Überblickt man bis hierher die Überlegungen von Becher und Jünger zum Thema „Krieg“, so kann als ein erstes Ergebnis festgehalten werden, dass beide Autoren die Ereignisse der Jahre 1914–1918 als eine historische Zäsur begreifen, die ein Umdenken im Hinblick auf zentrale Koordinaten des fortschrittoptimistischen 19. Jahrhunderts nötig macht. Vor allem die bürgerliche Vorstellung einer Technik, deren Funktion einzig in der Emanzipation des Menschen von den Notwendigkeiten der natürlichen Umwelt besteht, ist ihnen angesichts der vielen Millionen Toten auf den Schlachtfeldern Europas fragwürdig geworden. Die Totalisierung der Zerstörung im Ersten Weltkrieg hat – für Becher kristal28 Becher, Liebknecht-Luxemburg-Lenin. In: ders., Gedichte 1911–1958, München 1971, S. 120. 29 Harro Segeberg, Regressive Modernisierung. In: ders. (Hg.), Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes „Arbeit“ in der deutschen Literatur (1770–1930), Tübingen 1991, S. 335–378, hier 348. 30 Jünger, Feuer und Bewegung. In: ders., Blätter und Steine, Hamburg 1934, S. 86–98, hier 93. 31 Ders., Strahlungen, 3. Auflage Tübingen 1949, S. 124. 32 Im Sinne einer Umwertung tradierter heroischer Deutungsmuster des Krieges hatte schon Marx festgestellt: „Ist Achilles möglich mit Pulver und Blei? Oder überhaupt die Iliade mit der Druckerpresse, und gar Druckmaschine? Hört das Singen und Sagen und die Muse mit dem Pressbengel nicht notwendig auf, also verschwinden nicht notwendige Bedingungen der epischen Poesie?“ Ders., Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie 1857–1858, Berlin (Ost) 1953, S. 31. 33 Becher, (CH CL = CH)3 As (Levisite), S. 86.

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lisiert im Symbol des Giftgases – die Janusköpfigkeit der Gegenwart vor Augen geführt und den Blick auf eine sie bestimmende „Kultur der Abstraktion“ eröffnet, „hinter deren Schein vertraglich gesicherter Friedfertigkeit sich allvernichtende Gewalt, verdeckte Spannungen und andauernde Ausbeutung von Mensch und Natur verbergen“.34 Ein über diese panoramatische Annäherung hinausweisendes, detaillierteres Bild der „entfernten Nachbarschaft“35 von Becher und Jünger ergibt sich, wenn nun in einem zweiten Schritt dargestellt werden soll, welche Konsequenzen Becher und Jünger aus dem anhand des Krieges zu beobachtenden, gesellschaftlichen Transformationsprozess ableiten. Es zeigt sich, dass beide den historischen Ablauf nach einem ähnlichen Strukturmodell deuten, welches in den geschichtsphilosophischen Diskursen nach 1918 weit verbreitet war36 und den Gang der Geschichte im Dreischritt von Erstarrung, Krise und Erneuerung bzw. Verkrustung, Erschütterung und Dynamik organisiert. Helmuth Lethen vertritt in diesem Zusammenhang die These, dass die Vorstellung eines „dynamischen Kerns des Lebens unter zivilisatorischer Kruste“37 eine gleich bleibende Struktur der „intellektuellen Mentalität der klassischen Moderne“38 bilde und eine Vielzahl anthropologischer und politischer Binnendiskurse – vom heroischen Dezisionismus eines Carl Schmitt über die fernöstliche Mystik der so genannten „barfüßigen Propheten“ bis hin zu Martin Heideggers Theorie der Eigentlichkeit – miteinander verbinde. Diese, maßgeblich von Nietzsches Sichtweise von Kultur als Sublimationstätigkeit bestimmte, „Lebensideologie“ lässt sich für Jüngers Texte der 1920er Jahre, vor allem für sein Buch Kampf als inneres Erlebnis sehr genau nachweisen. 1922 verfasst, unternimmt der ehemalige Frontoffizier dort den Versuch, die Sinnhaftigkeit des Krieges insgesamt wie seines individuellen Kriegserlebnisses auf eine geschichtsphilosophische Ebene hebend zu transzendieren. Programmatisch schreibt er dazu: „Dieser Krieg wird uns verinnerlichen. Auch er ist Werkzeug zu letzten Zielen. Wir stehen an einer Weltwende, vielleicht der ungeheuersten, die je hereinbrach. [...] Noch ist es ein Stammeln, wenigen verständlich und doch ein fernes Wetterleuchten.“39

34 Jens-Fietje Dwars, Johannes R. Becher. Triumph und Verfall. Eine Biographie, Berlin 2003, S. 111. 35 Eine interessante komparatistische Studie hat unlängst Wolfgang Schivelbusch vorgelegt, der für die frühen 1930er Jahre auch im Vergleich liberaler Demokratien und rechter Diktaturen überraschende programmatische Überlappungen ausgemacht hat; vgl. ders., Entfernte Verwandte. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933–1939, München 2005. 36 Zu denken ist etwa an so unterschiedliche Texte wie Siegmund Freuds Unbehagen an der Kultur, Ludwig Klages’ Der Geist als Widersacher der Seele oder Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes. 37 Lethen, Unheimliche Nachbarschaft, S. 81 f. 38 Vgl. hierzu auch Martin Lindner, Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne, Stuttgart 1994. 39 Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, Berlin 1922, S. 82.

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Der Krieg, verstanden als eine umfassende, die Kruste der Zivilisation durchstoßende Krise, habe den wahren, von seinen vitalistischen Kräften berauschten Menschen von seinen bürgerlichen Fesseln befreit: „So lebten wir dahin und waren stolz darauf. Als Söhne einer vom Stoffe berauschten Zeit schien Fortschritt uns Vollendung, die Maschine der Gottähnlichkeit Schlüssel, Fernrohr und Mikroskop Organe der Erkenntnis. Doch unter immer glänzender polierter Schale [...] blieben wir nackt und roh wie die Menschen des Waldes und der Steppe. Das zeigte sich als der Krieg die Gemeinschaft Europas zerriss, als wir hinter Fahnen und Symbolen, über die mancher längst ungläubig gelächelt, uns gegenüberstellten zu uralter Entscheidung. Da entschädigte sich der wahre Mensch in rauschhafter Orgie für alles Versäumte. Da wurden seine Triebe, zu lange schon durch Gesellschaft und ihre Gesetze gedämmt, wieder das Einzige und Heilige und die letzte Vernunft.“40

Von der Evidenz des Kriegserlebnisses leitet Jünger eine Argumentation her, die in den Vernichtungszonen der Westfront die Brutstätte einer neuen Zeit auszumachen glaubt. Alle funktionalen Zuschreibungen, die Jüngers Geschichtsphilosophie bis hin zu seinem 1934 veröffentlichten Essay Über den Schmerz bestimmen – vom Führerprinzip über die Idee der typologischen Uniformierung bis hin zur maschinellen Entwertung des Körpers –, sind letztendlich auf die Zeit des Nachkriegs übertragene, soldatische Charakteristika. In der Gemeinschaft derer, die im Feuer gestanden haben, die von ihm gereinigt, gehärtet und erneuert worden sind, glaubt er Vertreter eines neuen Menschengeschlechts zu erkennen, einer entindividualisierten Avantgarde, die von nun an dazu auserkoren ist, die Sphäre gesellschaftlicher und politischer Macht gemäß der ihr eigenen Vitalität umfassend auszufüllen: „Hier fassten sich in einer großen Tat auch schon Werte zusammen, die im Kriege selbst entstanden waren. Und hier wurde auch das Bild des Kämpfers in der Form befestigt, wie sie als festumrissener Typ der Geschichte angehört [...]. Diese Gestalt ist nicht mehr die des begeisterten Jünglings, der 1914 vor Ypern mit Gesang in die Schlacht zog, wie schön sie auch sein möge, und auch nicht die des einsamen Kämpfers der Materialschlacht, der ohne zu zerbrechen, aber machtlos die äußeren Gewalten über sich ergehen lassen musste. Sie ist vielmehr die des kampferprobten Mannes, der die ganze Schwere seiner großen Aufgabe bereits an sich erfahren hat und sich als Herr der äußeren Machtmittel erweist, um seine Ideen zu verwirklichen. Ihr Geist spricht sich aus in jenen scharfkantigen Gesichtern unter dem Stahlhelm, in deren asketischen Zügen ein kalter, von Tatsächlichkeiten gemeißelter Wille sich eingegraben hat, aber in deren Augen die Idee selbst wie eine düstere Flamme zu brennen scheint.“41

Ähnlich wie bei Jünger, so ist auch bei Becher das gleiche Muster von Vernichtung und Neugeburt zu finden. Auch in seinen Texten vereinen sich in einer paradoxen Symbiose destruktive und konstruktive Momente, die auf die dem Krieg eigene Dynamik „im Spannungsfeld kultureller Sinnkonstruktionen“42 40 Ebd., S. 2 f. 41 Jünger, Die Materialschlacht. In: Die Standarte, (Oktober 1925), zit. nach ders., Politische Publizistik 1919 bis 1933, S. 95–100, hier 99 f. 42 Vgl. hierzu den Sammelband von Waltraud >Wara< Wende unter Mitarbeit von Lars Koch (Hg.), Krieg und Gedächtnis. Ein Ausnahmezustand im Spannungsfeld kultureller Sinnkonstruktionen, Würzburg 2005.

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verweisen. Auch der kommunistische Schriftsteller erkennt im Massensterben des Krieges die Bankrotterklärung des liberalen Zeitalters, dem – so Becher auf die Frage „warum schreibe ich ‚kommunistisch‘!?“ – die nationalbolschewistische Generalmobilmachung im Dienste der Errichtung einer neuen Gemeinschaft der Kampfgenossen und letztlich die „Geburt der befreiten Menschheit“43 folgen wird: „Was ist ein/kommunistisches Gedicht!?/Es ist das neue,/Das namenlose Heldentum,/Es ist die schöpferische Anonymität,/Gleichzeitig alles Geschehens,/Es ist die Verkündigung,/Der Ankunft einer neuen Menschenrasse.“44 Die textinterne Darstellung der proletarischen Kämpfer für eine kommende Revolution weist dabei erneut eine große ästhetische wie auch semantische Nähe zu Jünger auf. Bis in die physiognomische Zeichnung des sich erhebenden „Geschlechts des Krieges und der Revolution“45 hinein, wandelt Becher auf den Spuren der Jüngerschen Ikonographie des namenlosen Soldaten46 : „Zuerst eine formlose Masse noch, dann aber immer deutlicher Gestalt gewinnend – sich herauf auf das Plateau der Weltgeschichte bewegend: in der eisern gehackten Rhythmik solcher Tage tönt auch die Stimme des Bluts als Metall. Stirnen wölben sich gegeneinander, wie gemeißelt aus Granit. Die Herztrommel wirbelt Kampftempo und Marschtakt. Der Gedanke des kämpferischen Menschen stößt vor in die Zukunft, als Stichflamme. Und ein anderer als der, der einst du gewesen bist, findest plötzlich nach Jahren dich wieder, neu geboren aus mörderischen Krisen, wie aus Schmelzglut.“47

Ist mit den obigen Zitaten ein Eindruck davon gewonnen, welche ähnlichen Charakteristika sowohl Jünger wie auch Becher dem Menschen der Zukunft in einem Akt der symbolischen Repräsentation von kriegerischer Gewalt zuweisen – Heroismus, virile Härte, Kampfeswilligkeit und ein kollektivistisches Ethos, das radikal mit den Subjektkonzepten der bürgerlichen Bildungsemphase gebrochen hat – so ist bis hierher allerdings noch nicht geklärt, wie sich beide Autoren die Beschaffenheit der gesellschaftlichen Ordnung vorstellen, die durch das proletarische „Menschheitsgranit“ bzw. durch den Typus des Stoßtruppkämpfers verwirklicht werden wird. Um auch für diesen Aspekt eine komparatistische Vermittlungsebene zu gewinnen, die den Vergleich der Becherschen und Jüngerschen Ordnungsmodelle erlaubt, ist es notwendig, ein drittes Leitmotiv aufzugreifen, welches die Diskursgeschichte der Weimarer Republik bestimmt: das Problem der Kontingenzbewältigung. Kontingenzwahrnehmung, von Michael Makropoulos definiert als Wissen um dasjenige, „was auch anders möglich ist,

43 Becher, Gesammelte Werke, Band 15. Hg. vom Johannes-R.-Becher-Archiv der Akademie der Künste Berlin, Berlin (Ost) 1977, S. 162. 44 Ders., Warum schreibe ich „kommunistisch“!? In: ders., Gesammelte Werke Band 2. Hg. vom Johannes-R.-Becher-Archiv der Akademie der Künste Berlin, Berlin (Ost) 1966, S. 379. 45 Ders., (CH CL = CH)3 As (Levisite), S. 397. 46 Zur ikonographischen Typologie des Soldatischen während der Weimarer Republik vgl. Petra Maria Schulz, Ästhetisierung der Gewalt in der Weimarer Republik, Münster 2004, S. 113 ff. 47 Becher, (CH CL = CH)3 As (Levisite), S. 11.

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[...] weil es keinen notwendigen Existenzgrund hat“48, gehört als Folge des „kulturellen Rahmenbruchs“49 des Weltkrieges zu den meistdiskutierten Krisenbefunden der Weimarer Zeit. Das Gefühl, in einer normativen Leere zu stehen, kommt genauso in Benjamins Klage über die Entwertung der Erfahrung zum Ausdruck, wie in Schmitts Definition des Ausnahmezustands als „Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung“50 wie auch in Arnolt Bronnens Feststellung, dass in der Gegenwart die „größte Lockerung der Vergangenheit und die größte Spannung der Zukunft“51 zu beobachten sei. Die durch die Abkopplung von der Vergangenheit initiierte, rasante Pluralisierung und Mobilisierung der Lebensverhältnisse führte zu einem viele Zeitgenossen überfordernden Zustand der Sinnleere, der einen großen intellektuellen und nach 1933 dann auch lebenspraktisch befriedigten „Hunger nach Ganzheit“52 und eine große „Sehnsucht nach dem Absoluten“53 entfachte. „Ein Zustand, in dem Kontingenz herrscht“ – so Lethen summarisch –, „ist ein Ausnahmezustand. Er ist schwer zu ertragen und muss beseitigt werden; das ist der gemeinsame Nenner aller avantgardistischen Konzepte. Sie haben die gleiche Tiefenstruktur; sie sind auf die Herstellung von Homogenität, auf Kontingenzaufhebung aus.“54 Genau einen solchen Versuch der Entmischung von diffusen gesellschaftlichen Intensitäten stellt der Text Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt aus dem Jahre 1932 dar, mit dem Jüngers Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg zugleich ihren Höhe- und Endpunkt findet. Der ehemalige Offizier bemüht sich in diesem, seinem in diskursanalytischer Perspektive betrachtet wohl einflussreichsten Text, eine Vielzahl vormals miteinander konkurrierender Reflexionen über das Kriegserlebnis und die Friedenszeit nach 1918 in einer großen, metaphysisch wie ontologisch argumentierenden Deutung zusammenzufassen und auf dem Wege einer breit angelegten essayistischen Erörterung der Lage des Menschen an der Wende zu einem Zeitalter der Technik seine „definitive Botschaft über den Stand der Dinge zu verkünden“.55 Trotz des sich über weite 48 Vgl. Michael Makropoulos, Kontingenz. Zur Bestimmung einer modernen Zentralkategorie, [25. 7. 2002]. 49 Zu Halbwachs’ Theorie sozialer und kultureller Rahmung vgl. bündig Gerald Echterhoff/Martin Saar, Einleitung: Das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses. Maurice Halbwachs und die Folgen. In: dies. (Hg.), Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses, Konstanz 2002, S. 13–35. 50 Carl Schmitt, Politische Theologie (1922), München 1934, S. 18 f. 51 Arnolt Bronnen, Gerda Müller (1922). In: ders., Sabotage der Jugend. Kleine Arbeiten 1922–1934. Hg. von Friedrich Aspetsberger, Innsbruck 1989, S. 107–109, hier 109. 52 Peter Gay, Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918– 1933, Frankfurt a. M. 1987, vor allem Kap. 4: „Der Hunger nach Ganzheit: Erprobung der Moderne“, S. 99–137. 53 Makropoulos, Tendenzen der Zwanziger Jahre. Zum Diskurs der Klassischen Moderne in Deutschland. In: Zeitschrift für Philosophie, 39 (1991), S. 675–687, hier 681. 54 Lehten, Unheimliche Nachbarschaften, S. 83. 55 Uwe-K. Ketelsen, „Nun werden nicht nur die historischen Strukturen gesprengt, sondern auch deren mythische und kultische Voraussetzungen.“ Zu Ernst Jüngers Die to-

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Strecken des Textes sachlich gebenden Sprachduktus, der auf den ersten Blick den Anschein erweckt, Jünger habe mit dem Arbeiter eine umfassende, sich selbst methodisch auf den Begriff der induktiven Realitätserfassung verpflichtende Studie über die gesellschaftliche Wirklichkeit seiner – vornehmlich im zeitlichen Modus des Bruchs bzw. des Übergangs reflektierten – Gegenwart vorgelegt, hat Klaus Gauger in seinem Urteil über diese Schrift sicher Recht, wenn er feststellt, dass das Werk sich bei genauerer Lektüre im Gegensatz zur eigenen Plausibilisierungsstrategie vor allem als an einem deduktiven Leitfaden ausgerichtet erweist und somit im „Wesentlichen nichts anderes“ darstellt, „als eine Transponierung kriegerischer Ideen in die von Jünger als beunruhigend empfundene Friedenswelt“.56 Formal betrachtet ist Jüngers Arbeiter ein in zwei Abschnitte unterteilter, in rein logischen Kategorien oftmals schwer nachvollziehbarer Großessay, in dem bestimmte Leitmotive und Zentraldeutungen, die von einer Fülle phänomenologischer Beobachtungen aus dem Gesamtspektrum der Disparatheit moderner Lebensabläufe „belegt“ werden, auf dreihundert Seiten aus verschiedenen Blickwinkeln immer wieder zur Sprache gebracht werden. Die in einer „Fülle von symbolischen Bildern“57 gefassten „Ergebnisse“, zu denen Jünger unter der Fragestellung nach „einer Transformation der Kriegsdeutung zur Gesellschaftsvision“58 in einem solchen Stil von „geschliffene[r] Schärfe“59 gelangt, werden dann in der Manier seiner früheren Texte nach dem Modell der Allegorie intuitiv und „seherisch“ miteinander verknüpft und unter der Zielsetzung einer größtmöglichen Aktivierung textimmanenter Funktions- und Wirkungspotenziale60 zu der „im beschwörenden rhetorischen Stechschritt“61 vorgetragenen apokalyptischen „Verkündigung“ einer neuen Zeit ausgeweitet.62 Versucht man das Ordnungsmodell, welches der Arbeiter-Essay konstruiert, in der hier gebotenen Kürze auf den Punkt zu bringen, so lässt sich als Jüngers

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tale Mobilmachung (1930) und Der Arbeiter (1932). In: Hans-Harald Müller/Harro Segeberg (Hg.), Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, München 1995, S. 77–97, hier 82. Klaus Gauger, Krieger, Arbeiter, Waldgänger, Anarch. Das dichterische Frühwerk Ernst Jüngers, Frankfurt a. M. 1997, S. 189. Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, 2. Auflage Hamburg 1932, S. 22. Michael Großheim, Ernst Jünger und die Moderne. Adnoten zum „Arbeiter“. In: Günter Figal/Heimo Schwilk (Hg.), Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten, Stuttgart 1995, S. 147–168, hier 148. Jünger, Feuer und Blut. Ein kleiner Ausschnitt aus einer großen Schlacht, Magdeburg 1925, S. 52. Zum Begriff des Funktions- bzw. Wirkungspotenzials vgl. Roy Sommer, Funktionsgeschichten: Überlegungen zur Verwendung des Funktionsbegriffs in der Literaturwissenschaft und Anregungen zu seiner terminologischen Differenzierung. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 41 (2000), S. 319–341. Heiko Christians, Gesicht, Gestalt, Ornament. Überlegungen zum epistemologischen Ort der Physiognomik zwischen Hermeneutik und Mediengeschichte. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 74 (2000) Heft 1, S. 84–111, hier 89. Zu den apokalyptischen Implikationen des Arbeiter-Essays vgl. Claudia Gerhards, Apokalypse und Moderne. Alfred Kubins „Die andere Seite“ und Ernst Jüngers Frühwerk, Würzburg 1999.

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Ausgangsthese wohl der im Weltkrieg versinnbildlichte Einbruch elementarer Gewalt in die Absicherungssysteme des Bürgers benennen.63 Die moderne Technik mit ihren Möglichkeiten einer totalen Mobilmachung aller materiellen Ressourcen nötige den Menschen dazu, eine neue Haltung zu ihr zu finden und zu realisieren, dass jedes Tätigkeitsfeld – vom Schlaf über den Sport bis hin zum Verkehr und der Beteiligung am wirtschaftlichen Prozess – als Arbeit begriffen werden muss. Der adäquaten Partizipation an der Sphäre der Arbeit gemäß dem von Jünger apostrophierten „heroischen Realismus“64 entspricht ein neuer Typus des Menschen, der mit der Technik zur „organischen Konstruktion“ verwoben, als neue „Gestalt“ den Raum der Geschichte betritt: „Der Arbeiter“. Dieser hat in seiner metaphysischen Eigenschaft als „dynamische Totalität, die hinter der Vielfalt der Erscheinungen prägend am Werke ist,“65 alle individualistischen Spannungsmomente des bürgerlichen Zeitalters hinter sich gelassen: Den sozialen Gegensatz zwischen Individuum und Masse überführt er, seinem totalen Arbeitsbegriff entsprechend, in einen unterkomplexen Zusammenhang von Führertum und Gefolgschaft, die Problematik politischer Partizipation verschwindet hinter der dem Arbeitsplan gemäßen Formel von Freiheit als Dienst. Als eine, dem eigentlichen geschichtlichen Verlauf übergeordnete und die sich in einem fundamentalen Wandel befindliche Welt strukturierende Kategorie garantiert der „Arbeiter“ eine sinnhafte Ordnung der Dinge, die sich im Fortgang des Textes gemäß des ihm zugewiesenen Aktionsradius in der Topografie der modernen „Werkstättenlandschaften“66 als eine totale Amalgamierung von Gesellschaft, Wirtschaft und technischem Apparat konkretisiert. Der affektive Mehrwert von Jüngers Essay liegt somit in seiner neu gefundenen Geschichtsgewissheit. An die Stelle der kulturkritischen Klage über die Sinndefizite der Gegenwart tritt bei ihm die über den „geschichtsphilosophischen Perspektivbegriff“67 der „Arbeiter-Gestalt“ vermittelte und in radikaler Geste verkündete Behauptung einer garantierten Kontingenzaufhebung. Als Reaktion auf die spätestens in den Materialschlachten der Westfront manifest gewordene, „völlige Zersplitterung, das Sinnloswerden der alten Gefüge“68 konstruiert er ein, anhand des militärischen Leitfadens von „Befehl und Gehorsam“69 ausgerichtetes, Gesellschaftsmodell, das zu dem der Ausdifferenzierung der gesell63 Zu Jüngers Arbeiter vgl. die bündige Darstellung bei Marianne Wünsch, Ernst Jüngers „Der Arbeiter“. Grundpositionen und Probleme. In: Lutz Hagestedt (Hg.), Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, Berlin 2004, S. 459–475. 64 Zu Jüngers Begriff vgl. Gilbert Merlio, Der sogenannte „heroische Realismus“ als Grundhaltung des Weimarer Neokonservativismus. In: Gangl/Raulet (Hg.), Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, S. 271–285. 65 Ders., Jünger und Spengler. In: Peter Koslowski (Hg.), Die großen Jagden des Mythos. Ernst Jünger in Frankreich, München 1996, S. 41–63, hier 50. 66 Jünger, Der Arbeiter, S. 165. 67 Reinhart Koselleck, Historische Kriterien des neuzeitlichen Revolutionsbegriffs. In: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 2000, S. 67–86, hier 78. 68 Jünger, Der Arbeiter, S. 134. 69 Ebd., S. 235.

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schaftlichen Teilbereiche geschuldeten Problem einer großen sozialen Unübersichtlichkeit das Gegenmodell des stratifikatorisch organisierten Arbeitsplans entwirft und so den Glauben an einen „großen Zusammenhang der Dinge“70 zu erneuern trachtet: „Ebenso haftet den drei Kennzeichen des Planes, der Abgeschlossenheit, Geschmeidigkeit und Rüstung, kein endgültiger, sondern ein Konzentrations- und Aufmarschcharakter an. [...] Das Ziel in dem sich die Anstrengungen treffen, besteht in der planetarischen Herrschaft als des höchsten Symbols der neuen Gestalt. Hier allein ruht der Maßstab einer übergeordneten Sicherheit, die alle kriegerischen und friedlichen Arbeitsgänge übergreift.“71 Dem „Anspruch auf Sinngebung“72 versucht Jünger in der von ihm entworfenen Metaphysik des „Arbeiters“ mit ihrem Versprechen auf ein den arbiträren zeitlichen Manifestationen des Seienden hintergründig eingeschriebenes, überhistorisches Sein wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Der im kulturkritischen Diskurs als Folge einer allgemeinen Tendenz zur „Individualisierung“ der modernen Lebensführung immer wieder beklagte Verlust eines „authentischen Ichs“ findet seine aufhebende Entsprechung in Jüngers Konstruktion des entpersonalisierten „Arbeiter“-Typus, der sich, in die metallische Rüstung der „organischen Konstruktion“ gezwängt, den Überlebensbedingungen der „kalten Moderne“73 angepasst hat. So antibürgerlich sich Jüngers Pathos eines „gefährlichen Lebens“74 auch geben mag, auch seine Texte sind Ausdruck eines ganzheitlichen Denkens. Eines Denkens, das seine holistische Motivation den Bedingungen einer als „Blutturbine“ verstandenen Moderne integriert hat, und jene, den „quälenden Zwiespalt“75 des 19. Jahrhunderts überwindende „Einheit Mensch“ deshalb nur noch als „gepanzerten Typus“ vorstellen kann, der ohne Wenn und Aber in das funktionale Gesamtsystem eines sich immer totaler gebärdenden Arbeitsraumes eingefügt ist. Der große Plan, von Becher zwei Jahre vor dem Arbeiter zur Feier des von Stalin in Kraft gesetzten Fünfjahresplans verfasst, weist in seiner Form des Epos eine geringere theoretische Dichte als Jüngers Essay auf, kommt aber in vielen einzelnen Elementen der von ihm besungenen Gemeinschaft der Proletarier und der von ihnen betriebenen Revolution Jüngers planetarischer Vision des Arbeitsstaates und der mit ihr verbundenen „Gesinnung zur Totalität“76 sehr nahe. Ähnliche Beschleunigungsenergien sind zu beobachten, die gewohnte Ordnung der Dinge gilt auch hier nicht mehr: Neben dem „Chor des sozialistischen Auf70 Theodor Fontane, Der Stechlin. In: ders., Romane und Erzählungen in acht Bänden. Hg. von Peter Goldammer/Gotthard Erler/Anita Golz/Jürgen Jahn, Band 8, Berlin 1993, S. 278. 71 Jünger, Der Arbeiter, S. 290 f. 72 Ebd., S. 65. 73 Zum Begriff der „kalten Moderne“ vgl. Tom Kindt/Hans-Harald Müller, „Es ist nicht die mittlere Linie, die wir einschlagen wollen ...“. Ernst Jünger und die Moderne der Zwischenkriegszeit. In: Hagestedt (Hg.), Ernst Jünger, S. 193–203. 74 Jünger, Der Arbeiter, S. 53. 75 Ebd., S. 216. 76 Lukács, Theorie des Romans, S. 30.

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baus“ und dem „Gegner“ treten auch verschiedene technische Apparate, Städte, Dörfer und ganz Sibirien als sprechende Personen des Stückes auf und künden von dem fundamentalen Transformationsprozess dem Russland unterworfen ist. Alles Erstarrte, fest Gefügte, mithin auch die für die Entfremdungstheorie relevante Differenz zwischen Subjekt und Objekt, löst sich auf in bewegte Masse, in freigesetzte Arbeitskraft, einzig dazu bestimmt, den Sinn der Geschichte zu exekutieren: Den großen Plan: „Der große Plan wird vollendet,/in vier Jahren wird er vollendet,/Der große Plan,/der auf fünf Jahre berechnet war.“77 Der gleiche suggestive Gestus, wie er im Arbeiter-Essay zu finden war, inszeniert auch hier die Gegenwart als bloße Tendenz. Das normativ Erstrebte – die wahre Gemeinschaft der Arbeiter und Bauern – erscheint analog zu Jüngers Geschichtsgewissheit auch bei Becher als das sich dynamisch verwirklichende Sein, dass zwar unterstützt, keinesfalls aber aufgehalten werden kann. Nur konsequent singt daher auch Becher das Hohelied des Kollektivismus, wo „Selbstaufopferung in das erhabene Gefühl einer sinnerfüllten Existenz mündet“.78 Auch in Der große Plan besitzt das einzelne Individuum nur insoweit einen Wert, wie es „Sachlichkeit, Positivität, Unerschrockenheit, glühende[n] Hass und kalte[n] Verstand“79 miteinander verbindet und der Erfüllung der Vorgaben zur Erbauung einer neuen Welt dienlich ist. Verdeutlicht wird diese jakobinische Apotheose der revolutionären volonté générale als Medium der Geschichte anhand des Schicksals der Figur des Gelehrten Ramsin, der sich aufgrund des eigenen Selbstwertgefühls in Konflikt zu seinen Schülern und damit zum Kollektiv insgesamt begibt und wenig später unter dem Hinweis „menschliche Bedenken tun nichts zur Sache“80 zum Tode verurteilt und exekutiert wird. Selbst Stalin, der „Gott des Imperiums“81, taucht in Bechers Epos als individualisierte Person nicht auf. Er – „ein Name bisher nicht genannt“ – repräsentiert alleine die „Geschlossenheit der Partei“82, die im Zuge der Realisierung des Plans einen „ungeheuren Verschleiß an Menschenzahl und Menschenkraft“83 fordert. Als personales Symbol ist Stalin „Verkörperung eines kollektiven Begehrens“84, das jeden Punkt des Sowjetimperiums als Geltungsbereich erschlossen hat und – um mit Jünger zu sprechen – durch gezielte „Säuberungsmaßnahmen“85 die

77 Becher, Der große Plan. Epos des sozialistischen Aufbaus. In: ders., Gesammelte Werke, Band 8. Hg. vom Johannes-R.-Becher-Archiv der Akademie der Künste Berlin, Berlin (Ost) 1971, S. 191–392, hier 212. 78 Dwars, Abgrund des Widerspruchs. Das Leben des Johannes R. Becher, Berlin 1998, S. 346. 79 Becher, (CH CL = CH)3 As (Levisite), S. 245. 80 Ders., Der große Plan, S. 369. 81 Dwars, Abgrund des Widerspruchs, S. 347. 82 Becher, Der große Plan, S. 385. 83 Ders., (CH CL = CH)3 As (Levisite), S. 353. 84 Dwars, Ernst Jünger und Johannes R. Becher. Anmerkungen zu einer Nicht-Debatte in den Weimarer Beiträgen. In: Weimarer Beiträge, 44 (1998) Heft 2, S. 242–264, hier 257. 85 Jünger, Der Arbeiter, S. 259.

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dauerhafte „Zuverlässigkeit und Gleichartigkeit des Bestandes“86 in jener statischen, mit sich selbst identischen Welt ohne störende Kontingenzerfahrungen festschreibt, von der der „Chor des sozialistischen Aufbaus“ in seiner „Hymne auf den Beginn einer neuen Geschichte der Menschheit“ zu berichten weiß: „Übermenschliches/Haben wir gelitten./Blättere zwei Jahrtausende auf/Und versuche/ Nachzuzählen:/Du wirst zu keinem Ende kommen./Beginne 1914:/Auch dann wirst du dich/Nicht herausfinden./Groß waren wir/In der Vernichtung.//[...] Wir schlagen/den Krieg./Wir schlagen/den Hunger./Wir schlagen/das Elend.//[...] Es ist müßig,/zu prophezeien;/Aber der Mensch wird erst/entdeckt werden,/Und den Mensch werden wir / schaffen/In einer Gestalt,/Gewaltiger als alle/Träume und Vorraussagen,/und in einem Tempo,/Das alle erreichten Geschwindigkeiten/Weit hinter sich lässt –/Aber wir können es heute/nur ahnen,/ohne ein Bild uns zu machen/und sprachlos –/Die Grenze der Zeit/haben wir überschritten/Und sind aufgebrochen/ins Zeitalter/des/Kommunismus//Der Große Plan wird vollendet/in vier Jahren wird er vollendet,/Der große Plan,/ Der auf fünf Jahre berechnet war.“87

Überblickt man anhand der obigen Bemerkungen abschließend noch einmal die Strategien der Kontingenzaufhebung in Jüngers Arbeiter und Bechers Der große Plan, so zeigt sich eine tiefenstrukturelle Gemeinsamkeit beider Autoren in der Auseinandersetzung mit der totalen Mobilmachung aller Lebensvorgänge, wie sie der Erste Weltkrieg ansichtig gemacht hat. Beide versuchen sie, die radikalen Beschleunigungsenergien, deren sie ihre Zeit ausgesetzt sahen, in eine neue Ordnung, einen übergreifenden Plan zu überführen. Sowohl Jünger wie auch Becher betreiben dabei in ihren Evokationen der Zukunft keine Soziologie realer Entwicklungstrends, sondern bloße Ästhetik des Utopischen. Aufgrund der Radikalität des Bruchs mit der Vergangenheit, der in den jeweiligen Texten behauptet wird, bleibt das Bild der neuen Gemeinschaft der Arbeiter und Bauern bzw. des totalen Arbeitsstaats notwendigerweise inhaltlich ziemlich unbestimmt. Was bleibt, nachdem die Mobilmachung abgeschlossen sein wird, ist die statische Harmonie und Schönheit einer kristallinen Struktur,88 die in ihrer kalten Verhärtung die Irritationen der Weimarer Republik im Besonderen wie der Moderne insgesamt zum Verschwinden bringt. Und gerade hierin, in der Flucht ins Ästhetische, erweisen sich sowohl Becher wie Jünger als Kinder des Zeitalters, mit dem sie in ihren Texten immer wieder gebrochen zu haben vorgaben: dem bürgerlichen.89

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Ebd. Becher, Der große Plan, S. 388 ff. Vgl. hierzu Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, München 1988, S. 386 f. Diese biografische Nähe hat schon Michael Rohrwasser erkannt, wenn er in seiner psychoanalytisch geschulten Studie zu Becher über diesen und Jünger schreibt: „Das beiden gemeinsame bürgerliche Elternhaus, ihr Schwanken zwischen ‚Boheme‘ und ‚Beruf‘ evozierte gemeinsame Frontbilder: die Wilhelminische Bürgerwelt, Boheme und Intellektualismus. Ihre Wut auf Abweichler, Spießbürger und Intellektuelle hat einen gemeinsamen Ursprung: den Hass auf die eigene Unzuverlässigkeit.“ Michael Rohrwasser, Der Weg nach oben. Johannes R. Becher. Politiken des Schreibens, Basel 1980, S. 202.

„Literatur als Waffe“ – Literarischer Aktivismus im „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ und im „Kampfbund für deutsche Kultur“ Petra Tallafuss

„Ich will glauben, das Wort wäre mächtig in der künftigen Gesellschaft, eine unabhängige Persönlichkeit dürfte Einfluss gewinnen durch nichts als ihr Wort.“ Heinrich Mann1

1.

Anfänge

Am 19. Oktober 1928 fand in den Berliner Sophiensälen die konstituierende Gründungsversammlung des „Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ (BPRS) statt. Etwa 150 Teilnehmer waren zugegen,2 darunter Egon Erwin Kisch, Erich Weinert, Ludwig Renn, Anna Seghers und Johannes R. Becher, der zum 1. Vorsitzenden der Vereinigung ernannt wurde. Das Selbstbewusstsein der Anwesenden war durch hoffnungsvolle Theorien über die Weltrevolution und den Klassenkampf angefacht, bei welchen sie selbst eine entscheidende Rolle zu spielen gedachten. Die nach der Versammlung von Frida Rubiner geäußerte Einschätzung ist repräsentativ für das Sendungsbewusstsein des BPRS: „Unser neuer Bund wird später sicher einmal als ein historischer Wendepunkt in der deutschen Literatur gewürdigt werden. Auf jeden Fall wird er in den sowjetischen Genossen gute Paten finden!“3 Von letzteren war auf der I. Internationalen Konferenz proletarischer und revolutionärer Schriftsteller, die im November 1927 in Moskau stattfand, der

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Heinrich Mann, Die Macht des Wortes. In: ders., Es kommt der Tag. Deutsches Lesebuch, Frankfurt a. M. 1992 (ungekürzte Ausgabe der Auflage Zürich 1936), S. 185–191, hier 191. Hans Baumgart, Vorwort. In: ders. (Hg.), Und immer brennt unser Herz, Berlin (Ost) 1978, S. 5. Zit. nach Karl Grünberg, Wie ich zu „tausend Zungen“ kam. In: ders./Peter Kast/Peter Krüger/Willi Meinck/Heinrich Ernst Siegrist (Hg.), Hammer und Feder. Deutsche Schriftsteller aus ihrem Leben und Schaffen, Berlin (Ost) 1955, S. 114–137, hier 137.

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ausschlaggebende Impuls zur Gründung des BPRS ausgegangen.4 Dem XI. Parteitag der KPD, der im März desselben Jahres in Essen abgehalten worden war, kommt insofern Bedeutung zu, als dort die Formierung einer „roten Kulturkampffront gegen alle reaktionären Anschläge“5 beschlossen wurde. Wie kontroverse Diskussionen in der Roten Fahne belegen,6 konnte der BPRS mit seinen radikalen Positionen aber nicht mit bedingungsloser Rückendeckung durch die Partei rechnen.7 Der BPRS ist primär als Ableger der „Russischen Assoziation proletarischer Schriftsteller“ (RAPP) zu sehen, deren Vorstellungen von Literatur sich auf die deutsche Sektion übertrugen.8 Als Glied der „Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller“ (IVRS) war der BPRS in größere internationale Zusammenhänge eingebunden und somit keine rein nationale Erscheinung wie der schon im Januar 1928 gegründete „Kampfbund für deutsche Kultur“ (KfdK), der bis Dezember 1928 unter dem Namen „Nationalsozialistische Gesellschaft für deutsche Kultur“ auftrat. Alfred Rosenberg hatte auf dem 3. Reichsparteitag der NSDAP, der im August 1927 in Nürnberg stattfand, den Auftrag zur Initiierung einer derartigen Kulturorganisation erhalten und fungierte als deren Reichsleiter.9 Die Literatur bildete neben Architektur und Theater ein zentrales Aktionsfeld des Kampfbundes, der seine Zentrale zwar in München hatte, aber bereits im Mai 1929 eine Ortsgruppe in Berlin, dem Herzen der BPRS-Bewegung,10 gründete.11 Auf Rosenbergs „Kulturkampftruppe“12 4

Alfred Klein, Zur Entwicklung der sozialistischen Literatur in Deutschland 1918–1933. In: Literatur der Arbeiterklasse. Aufsätze über die Herausbildung der deutschen sozialistischen Literatur (1918–1933), Berlin (Ost) 1974, S. 17–117, hier 85. 5 Der Kampf gegen die Kultur- und Schulreaktion. In: Thesen und Resolutionen des XI. Parteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands, Essen, 2. bis 7. März 1927. Hg. vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Deutschlands, Berlin, den 15. März 1927, S. 96 f. 6 Vgl. Manfred Brauneck, Revolutionäre Presse und Feuilleton. „Die Rote Fahne“ – das Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschlands (1918 bis 1933). In: ders. (Hg.), Die Rote Fahne. Kritik, Theorie, Feuilleton 1918–1933, München 1973, S. 9– 54, hier 30. 7 Vgl. Helga Gallas, Marxistische Literaturtheorie. Kontroversen im Bund proletarischrevolutionärer Schriftsteller, Teil 1: Problematik, Neuwied 1971, S. 27. 8 Franz Schonauer, Die Partei und die Schöne Literatur. Kommunistische Literaturpolitik in der Weimarer Republik. In: Wolfgang Rothe (Hg.), Die deutsche Literatur in der Weimarer Republik, Stuttgart 1974, S. 114–142, hier 129. 9 Vgl. Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970, S. 19. 10 Elisabeth Simons, Der Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands und sein Verhältnis zur Kommunistischen Partei Deutschlands. In: Literatur der Arbeiterklasse, S. 118–190, hier 178. 11 Vgl. Manfred Nössig, Das Ringen um proletarisch-revolutionäre Kunstkonzeptionen (1929–1933). In: ders./Johanna Rosenberg/Bärbel Schrader, Literaturdebatten in der Weimarer Republik. Zur Entwicklung des marxistischen literaturtheoretischen Denkens 1918–1933, Berlin (Ost) 1980, S. 522–709, hier 540. 12 Vgl. Hildegard Brenner, Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus, Reinbek 1963, S. 15; Jürgen Gimmel, Die politischen Organisation kulturellen Ressentiments. Der „Kampfbund für deutsche Kultur“ und das bildungsbürgerliche Unbehagen an der Moderne, Münster 2001, S. 10.

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wird im Folgenden immer wieder Bezug zu nehmen sein, um die Brutalisierung der Diskurse zu verdeutlichen, welche sich – sowohl von links als auch von rechts im Bekenntnis zur Revolution verfochten13 – in der Endphase der Weimarer Republik immer weiter radikalisierten und neben der eigentlichen politischen Auseinandersetzung auch vor der Reglementierung und Instrumentalisierung von Kunst bzw. hier im engeren Sinne von Literatur nicht Halt machten. Die Waffensemantik in den literaturtheoretischen Schriften des BPRS erscheint angesichts der propagierten pazifistischen Grundhaltung der KPD, der Ablehnung von Militarismus, Ausbeutung, Imperialismus und Krieg14 auf den ersten Blick anachronistisch. Sie war jedoch, wie das gesamte Wortfeld „Kampf“ – das integrativer Bestandteil auch von Rosenbergs Welt- und Kulturbild war15 –, zwischen den Kriegen im kulturellen Bereich fest verankert und resultiert nach Alfred Kantorowicz, der 1931 KPD- und BPRS-Mitglied geworden war,16 teilweise aus der Erfahrung des Ersten Weltkrieges. Er erklärt den literarischen Militarismus, folgendermaßen: „Gewiss, es war damals viel von ‚Kampf‘, von ‚Front‘, sogar von ‚Marschieren‘ die Rede, Vokabeln, deren sich auch die Nationalsozialisten bedienten, die jedoch ihre Wurzeln nicht im Sozialismus und Kommunismus hatten, sondern schlechter Sprachgebrauch der Generation waren, die wie alle Genannten vom Ersten Weltkrieg mitgeprägt worden war.“17 Das Augenmerk bei der Untersuchung dieses „schlechten Sprachgebrauchs“ liegt im Folgenden auf Aussagen von dem BPRS bzw. dem Kampfbund angehörenden oder nahe stehenden Literaten und Kunstpolitikern zur Bedeutung von Literatur im Kampf um die Masse, auf der dem Schriftsteller zugeschriebenen Rolle und auf den jeweils gehegten Zielen und Feindbildern. 2.

Ursprünge und Implikationen der proletarisch-revolutionären Waffensemantik

Zentralen Einfluss auf die Genese der proletarisch-revolutionären Literaturtheorie besaß Lenins Schrift über Parteiorganisation und Parteiliteratur (1905), die 1929 auch in der Linkskurve, dem Organ des BPRS, abgedruckt wurde. Das Prinzip der Parteiliteratur besagt, dass „das Literaturwesen ein Teil der allgemein-proletarischen Sache werden [muss], ein ‚Rädchen und Schräubchen‘ des einen einheitlichen, großen Mechanismus, der durch die ganze klassenbewuss13 Vgl. Horst Möller, Exodus der Kultur. Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler in der Emigration nach 1933, München 1984, S. 18. 14 Vgl. Schonauer, Partei. In: Rothe (Hg.), Deutsche Literatur, S. 114–142, hier 114. 15 Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2005, S. 264. 16 Christoph M. Hein, Der „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands“. Biographie eines kulturpolitischen Experiments in der Weimarer Republik, Münster 1991, S. 296. 17 Alfred Kantorowicz, Politik und Literatur im Exil. Deutschsprachige Schriftsteller im Kampf gegen den Nationalsozialismus, München 1983, S. 65.

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te Avantgarde der ganzen Arbeiterklasse angetrieben wird“.18 Im Zuge dieses Avantgardismus hob Lenin den den bürgerlichen Kunsttheorien eigenen Autonomiestatus der Literatur auf, stellte sie in den Dienst der Partei und unterwarf sie damit in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung dem Diktat der Parteilichkeit. Diese politisierte Funktionsbestimmung von Literatur, die deren Nutzung im weltanschaulich-politischen Kampf vorsah, bildete die Grundlage von Friedrich Wolfs Referat Kunst ist Waffe!, das er 1928 Delegierten des Arbeitertheater-Bundes vortrug19 und dessen Titel zum Leitspruch des BPRS wurde. Anatoli Lunatscharsky, der im September 1924 zusammen mit Demjan Bedny und Alexander Besymenski einen ersten Aufruf An die proletarischen und revolutionären Schriftsteller aller Länder! zur Bildung von Zusammenschlüssen auf den Weg gebracht hatte,20 bezeichnete schon 1920 die Kunst als „eine wuchtige Waffe der Agitation“21. Die „eigenartige, windungsreiche Linie der Beziehungen zwischen Revolution und Kunst“ verstand er symbiotisch: „Die Revolution braucht die Kunst“22, denn „wenn die Revolution der Kunst die Seele geben kann, so kann die Kunst zum Mund der Revolution werden.“23 In Bezug auf das politische Theater der jungen Sowjetunion behauptete auch Konstantin Stanislawski in diesem Sinne, dass das Schauspiel eine „Hauptwaffe im Kampf gegen den Krieg und ein internationales Instrument zur Erhaltung des Weltfriedens“ sei.24 Leo Trotzki sprach 1924 von der „Flanke der Kunst“, die „schwächer verteidigt ist als die Front der Politik“25, und nannte Bedny, der zu „Stalins Lieblingsschriftsteller“26 aufsteigen sollte, einen „Bolschewik der poetischen Waffengattung“27. Gleichzeitig war Trotzki neben Bucharin einer der wenigen, der den Theorien über die Instrumentalisierung von Literatur für Par-

18 Lenin, Parteiorganisation und Parteiliteratur (13.11.1905), zit. nach Über Kunst und Literatur, Berlin (Ost) 1977, S. 58–63, hier 59; Lenin und die Literatur der Arbeiterklasse. In: Die Linkskurve, (September 1929) Nr. 2, S. 1–4, hier 1. 19 Zur Kontroverse um die Vortragsgelegenheit vgl. Johanna Rosenberg, Überwindung des politischen und ästhetischen Subjektivismus (1924–1928). In: dies./Nössig/Schrader, Literaturdebatten, S. 223–465, hier 456. 20 Simons, Der Bund. In: Literatur der Arbeiterklasse, S. 118–190, hier 157. 21 Anatoli Lunatscharsky, Die Revolution und die Kunst (erschienen in: Kommunistitscheskoje proswestschenije, [1920] Nr. 1). In: ders., Die Revolution und die Kunst. Essays, Reden, Notizen, ausgewählt und aus dem Russischen übersetzt von Franz Leschnitzer, Dresden 1962, S. 26–31, hier 29. 22 Ebd., S. 30. 23 Ebd., S. 27. 24 Konstantin S. Stanislawski, Gesammelte Werke, Band 6, S. 202 f. (russ.), zit. nach Dieter Hoffmeier, Das literarische Spätwerk Stanislawskis. In: Theater hier und heute. Zum 50. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und zum 20. Jahrestag der Theaterhochschule Leipzig, Berlin (Ost) 1968, S. 52–108, hier 98. 25 Leo Trotzki, Literatur und Revolution. Nach der russischen Erstausgabe von 1924 übersetzt von Eugen Schaefer und Hans von Riesen, Berlin (Ost) 1968, S. 185. 26 Jürgen Rühle, Das gefesselte Theater. Vom Revolutionstheater zum Sozialistischen Realismus, Berlin 1957, S. 93. 27 Ebd., S. 180.

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teizwecke widersprach.28 In seiner Darstellung Literatur und Revolution (1924) vertritt er die Meinung, die Partei sei „auf dem Gebiet der Kunst nicht berufen zu kommandieren“; sie müsse sich damit abfinden, dass sie nur „schützen, fördern und lediglich indirekt lenken“ kann – so Trotzki.29 Die Auffassung, dass Literatur als Waffe in der politischen und weltanschaulichen Auseinandersetzung mit den „Gegnern des Volkes außen und innen“ einzustufen ist, äußerte im Kampfbundlager 1932 der Gesinnungsschriftsteller Erwin Guido Kolbenheyer.30 Die Transformation der Literatur zu einem propagandistisch-publizistischen Werkzeug, zu einer „blanken Waffe“31, wie es im Völkischen Beobachter heißt, war im Dritten Reich dann Aufgabe von Lenkungsorganisationen, wie der „Dienststelle des Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“ – kurz „Amt Rosenberg“ – das im Januar 1934 durch Führerauftrag initiiert wurde und für dessen Tätigkeit die Aktionen des Kampfbundes die unmittelbare Vorarbeit geleistet hatten. Da man in dieser Zeit allgemein hohe Erwartungen in die Wirkkraft der „Literaturwaffe“ setzte, überrascht es kaum, dass sie zu einer „höchst verantwortlichen und gefährlichen Sache“32 erklärt und folglich die Forderung nach einer Art Waffenschein für Kunstschaffende laut wurde. Es war abermals Lunatscharsky, der 1921 auf die Notwendigkeit von Literaturzensurmaßnahmen hinwies: „Das Wort ist eine Waffe. Und ganz genau so, wie die revolutionäre Macht nicht zulassen kann, dass jeder Hinz und Kunz im Besitz von Revolvern und Maschinengewehren ist, denn eben dieser Hinz oder Kunz ist oft der ärgste Feind, so darf der Staat auch nicht die Freiheit gedruckter Propaganda zulassen.“33 Der Topos der Waffe geht hier über in den des (Rausch-)Gifts, der im Folgenden noch mehrfach auftreten wird: „wir schreckten nicht im Geringsten vor der Notwendigkeit zurück, sogar die schöngeistige Literatur der Zensur zu unterstellen, denn in ihrem Namen und aufgrund ihres schönen Äußeren kann das Gift zu der noch naiven und nicht erhellten Seele der breiten Masse dringen, die täglich bereit ist, wankelmütig zu werden und die Hand, die sie mitten durch die Wüste ins Gelobte Land führt, wegen der allzu starken Versuchungen, denen sie unterwegs ausgesetzt ist, zurückzustoßen.“34 28 Vgl. Karl Eiermacher, Sowjetische Literaturpolitik 1917–1932. Von der Vielfalt zur Bolschewisierung der Literatur. Analyse und Dokumentation, Bochum 1994, S. 62. 29 Zit. nach Schonauer, Partei. In: Rothe (Hg.), Deutsche Literatur, S. 114–142, hier 114. 30 Vgl. Hans Hagemeyer, Vom Wesen des Schrifttums. In: Jugendschriftenwarte, (1935) Heft 11/12, S. 65; vgl. Dieter Strothmann, Nationalsozialistische Literaturpolitik. Ein Beitrag zur Publizistik im Dritten Reich, Bonn 1985, S. 6. 31 Hagemeyer, Mannschaft und Schrifttum. In: Völkischer Beobachter vom 12. 6.1936, S. 5, zit. nach Strothmann, Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 7. 32 Johannes R. Becher, Unsere Front. In: Die Linkskurve, 1 (August 1929) Nr. 1, S. 1–3, hier 1. 33 Lunatscharsky, Buchfreiheit und Revolution (Mai / Juni 1921), zit. nach Eiermacher, Sowjetische Literaturpolitik, S. 189–195, hier 192. 34 Ebd., S. 194.

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Die Gefährlichkeit der Literatur besteht nach Lunatscharsky in ihrer Massenwirksamkeit, die von links wie von rechts gesucht, aber auch gefürchtet wurde, und – wie später zu illustrieren ist – in deren unmittelbaren Einwirkung auf die Seele und das Gefühl der Menschen resultiert. Die Thematik der fraglichen Werke wurde auf russischer Seite als sekundär eingeschätzt, vielmehr barg die ideologische Disposition des Lesers bzw. deren Festigungsgrad die größte Gefahr: „Jedes Kunstwerk, das unter den Massen weit verbreitet ist und welches auf ideologisch ungenügend fixierte Elemente einwirkt, verwandelt sich in eine politische Waffe. [...] In unserer Zeit und angesichts unserer besonderen Lage kann jedes Werk der schönen Literatur, gleichgültig welches Thema es behandelt – von Fragen der Produktion bis zur Liebe –, entweder eine Waffe der Arbeiterklasse oder ihrer Gegner sein.“35 Becher veranlasste diese Unwägbarkeit der Literatur und ihrer Auswirkungen 1930 zu folgender, in der Linkskurve veröffentlichten Forderung, die Alfred Döblin in seiner Entgegnung als „Diktatur über die Literatur“36 kategorisch ablehnte: Becher forderte, „dass unsere Literatur unter dieselbe Kontrolle und Verantwortlichkeit gestellt wird, wie jede politische Arbeit“.37 Wie diese Kontrolle in der Praxis aussehen sollte, hatte Lenin schon in Parteiorganisation und Parteiliteratur dargelegt: „Die Zeitungen müssen Organe der verschiedenen Parteiorganisationen werden. Die Literaten müssen unbedingt Parteiorganisationen angehören. Verlage und Lager, Läden und Leseräume, Bibliotheken und Buchvertriebe – alles dies muss der Partei unterstehen und ihr rechenschaftspflichtig sein.“38 Diese Strategie entspricht auf der anderen Seite der von Rosenberg und Goebbels angestrebten Gleichschaltung publizistischer Institutionen wie schließlich des gesamten Geisteslebens und der Erfassung von Schriftstellern in entsprechenden Berufsverbänden, die dann 1933 körperschaftlich in die Reichskulturkammer überführt wurden. Die Forderung nach Unterordnung der Schriftsteller unter eine autoritäre Aufsicht, die mit weitreichenden Befugnissen zur Kontrolle wie auch Beseitigung literarischer und publizistischer Produkte ausgestattet ist, ging mit dem totalitären Machtanspruch der beiden Weltanschauungsparteien einher, in deren Umfeld BPRS und KfdK angesiedelt waren.

35 Juri Averbach/Alexander Bezymenskij/Iwan Vardin/Boris Volin u. a., Neutralität oder Führung? (Zur Diskussion über die Politik der RKP im Bereich der schönen Literatur, 19. 2.1924), zit. nach Eiermacher, Sowjetische Literaturpolitik, S. 311–317, hier 312. 36 Alfred Döblin, Katastrophe in einer Linkskurve. In: Das Tagebuch, 11 (1930) Heft 1, S. 694–698, hier 695. 37 Becher, Einen Schritt weiter! In: Die Linkskurve, 2 (Januar 1930) Nr. 1, S. 3; vgl. hierzu Gerald Stieg/Bernd Witte, Abriss einer Geschichte der deutschen Arbeiterliteratur, Stuttgart 1973, S. 79. 38 Lenin, Parteiorganisation, zit. nach Über Kunst, S. 58–63, hier 60.

„Literatur als Waffe“

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Friedrich Wolf Kunst ist Waffe! Eine Feststellung (1928)

Die Übertragung von militärischen Begriffen in den literarischen Kontext ist bei Wolf in der Tat der ihn zutiefst prägenden Erfahrung des Ersten Weltkrieges geschuldet. Aus einem bürgerlichen jüdischen Elternhaus stammend, hatte er in Berlin und Bonn Philosophie und Medizin studiert und wurde im Ersten Weltkrieg als Lazarettarzt in Frankreich und Belgien eingesetzt. Der Anblick Verstümmelter machte den 1914 Sechsundzwanzigjährigen zum bedingungslosen Pazifisten, der, da der Krieg nicht die erhoffte Erneuerung der Menschheit bewirkte, auf unblutige Weise kämpfen wollte.39 Nachdem er seit 1918 den Linkssozialisten angehörte, wurde er 1928, dem Jahr des Erscheinens von Kunst ist Waffe!, Mitglied der KPD. Wolf beginnt seinen programmatischen Essay mit einem literarisch-historischen Rückblick, in dem er das Ideal des handelnden Schriftstellers – von Walter von der Vogelweide, über Tolstoi, bis hin zu Emile Zola – entfaltet. Die Dichtung dieser das „Zeitgewissen“40 verkörpernden Autoren zeichnet sich für Wolf dadurch aus, dass ihre „Verse Waffen wie Pfeil, Schwert und Kolben“41 waren. Die Literatur sollte den Kampfgeist für das von Wolf beschworene „Reich der Gerechtigkeit“ anstacheln, zum unbequemen Weckruf werden.42 Wolf, der 1919 Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrates in Dresden war, bezieht sich auf die Arbeiter- und Bauernbewegungen in Mexiko, Russland und China der 20er Jahre und deren Schriftsteller, wenn er feststellt: „Hier ist seine Kunst Waffe auf dem Vormarsch! Hier ist er in politisch weltanschaulichen Dingen das letzte Memento, das leider meist ungehört verhallt bei seinen Zeitgenossen, für die „Ruhe und Ordnung“ die höchste Pflicht ist!“43 Das Gegenteil dieser zeitbezogenen Dichtung ist für den schreibenden Arzt Wolf, dessen Drama Cyankali über den Abtreibungsparagraphen 218 im Oktober 1929 im Berliner Lessing-Theater uraufgeführt und vor allem in Thüringen vom Kampfbund verfemt wurde,44 die „Dichtung im luftleeren Raum“45. Die Inpflichtnahme der Literatur für den politischen Kampf bei gleichzeitiger ideologischer Imprägnierung bedeutete gleichsam die Verwerfung der „Poésie pure“, des „L’art pour l’art“-Grundsatzes, denen Wolf als „Niedergangserscheinung der Bourgeoisie“ den Kampf ansagte.46 „Ein Dichter, der heute noch l’art pour 39 Zu den Kriegserfahrungen Friedrich Wolfs vgl. Walther Pollatschek, Friedrich Wolf. Eine Biographie, Berlin (Ost) 1963, S. 26–29. 40 Friedrich Wolf, Kunst ist Waffe! (1928). In: ders., Kunst ist Waffe, Leipzig 1969, S. 5– 25, hier 7. 41 Ebd., S. 8. 42 Ebd., S. 14. 43 Ebd., S. 15. Kursivierungen im Original. 44 Brenner, Die Kunstpolitik, S. 32. 45 Wolf, Kunst ist Waffe!, S. 5–25, hier 9. 46 Vgl. Georg Lukács, Marxismus und Literaturgeschichte. I. Der Klassensinn des l’art pour l’art. In: Die Rote Fahne vom 13.10.1922, zit. nach Brauneck (Hg.), Rote Fahne, S. 177–181, hier 178, 180; ders., L’art pour l’art und proletarische Dichtung. In: Die

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l’art: die ‚Kunst um des ästhetischen Spiels willen‘ vollführt, dieser Verse- und Szenenbastler, er ist in unserer Zeit der Arbeitslosenheere, der Mütterselbstmorde und Abtreibungsparagraphen, der Wohnungsnot, Grubenunfälle und Eisenbetongerüste ein Ziseleur, ein Filigranschmied [...] aber kein Dichter, der unsren Tagen etwas zu sagen hat! ‚Kunst‘ [...] als ‚Kaviar fürs Volk‘? Nein!“47 Für Wolf verbot sich schöngeistige Literatur angesichts der erschreckenden sozialen Missstände. Die jakobinische Ablehnung des „L’art pour l’art“ ist als integrativer Bestandteil der Leninschen Auffassung von Parteiliteratur in der proletarischen Literaturbewegung verankert. Eine neutrale Kunst existierte so z. B. auch für Gorki nicht, „in ihrem Wesen“ sei sie „ein Kampf für oder gegen; eine gleichgültige Kunst gibt es nicht und kann es nicht geben“.48 Die Möglichkeit, nicht Stellung zu beziehen, wurde in dieser Kunstauffassung negiert. Bei Becher zeugte selbst das Schweigen von Klassenbefangenheit: „Und wenn ihr schweigt, wir fragen, worüber ihr schweigt: in euch schweigt die Klasse, auch euer Schweigen ist Stellungnahme.“49 Literaten, die sich nicht der proletarischrevolutionären Bewegung anschlossen, wurden in Entsprechung keineswegs als autonom toleriert, sondern als Diener anderer politischer Richtungen betrachtet. Sie galt es nach der RAPP-These „Mitkämpfer oder Feind“ zu gewinnen oder zu entlarven,50 und nach Lenins „Nieder mit den parteilosen Literaten!“ im letzteren Falle gnadenlos zu bekämpfen. Die radikale Ablehnung des „L’art pour l’art“-Grundsatzes ist auch der Kunstauffassung Hitlers zu Eigen, der dieses Axiom als Charakterbild der verhassten Weimarer Republik früh zugunsten einer im „Dienste der Allgemeinheit“ stehenden Kunst, der die Goebbels’sche Volk-und-Kunst-Theorie entsprach, bekämpfte.51 Liberalismus galt als „folgenschwere Fiktion“52, an der, so der „Hofpoet des Nationalsozialismus“53 und Reichsführer der Gruppe Schrifttum des Kampfbundes, Hanns Johst, „die Kunst stets gestorben“54 sei.

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Tat vom 26. 6.1926, S. 220–223, zit. nach ders., Demokratische Diktatur. Politische Aufsätze Band 5: 1925–1929. Hg. von Frank Benseler, Darmstadt 1979, S. 42–46. Wolf, Kunst ist Waffe!, S. 5–25, hier 16. Maxim Gorki, Über Kunst (1935). In: ders., Über Literatur, Berlin (Ost) 1968, S. 430– 436, hier 432. Becher, Unsere Front. In: Die Linkskurve, 1 (August 1929) Nr. 1, S. 1–3, hier 1. Alfred Klein, Zur Entwicklung der sozialistischen Literatur. In: NDL, 10 (1962) Heft 7, S. 58–81, hier 71. Hitler, Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924. Hg. von Eberhard Jäckel in Zusammenarbeit mit Axel Kuhn, Stuttgart 1980, S. 965 (NSDAP-Versammlung in Neustadt a. d. Aisch vom 5. 8.1923); vgl. Thomas Mathieu, Kunstauffassungen und Kulturpolitik im Nationalsozialismus. Studien zu Adolf Hitler, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg, Baldur von Schirach, Heinrich Himmler, Albert Speer, Wilhelm Frick, Saarbrücken 1997, S. 63, 97, 99. Landesleitung Rhein-Saar des Kampfbundes für deutsche Kultur, Aufruf. In: Rheinische Blätter und Mitteilungen der Landesleitung Rhein-Saar des Kampfbundes für deutsche Kultur, 10 (Mai 1933) Heft 5, S. 405–407, hier 405. Piper, Alfred Rosenberg, S. 387. Hanns Johst, Kunst unter dem Nationalsozialismus (1932), zit. in Anton Kaes (Hg.), Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918–1933, Stuttgart 1983, S. 560–562, hier 562.

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Im Gegensatz zur proletarisch-revolutionären Literaturwaffe ist die rein schöngeistige Literatur für Wolf, was für Marx die Religion ist: Opium, das betört und von der Wirklichkeit ablenkt. Für diese Kunstverblendung macht Wolf nicht ausschließlich die herrschende Klasse verantwortlich, sondern das Proletariat selbst, das nicht imstande gewesen sei, die Bedeutung und Macht der Kunst zu erkennen und für sich zu nützen: „Schuld der Arbeiter und ihrer Führer, dass sie in der ‚Kunst‘ auch heute noch einen Luxus sehen, oder bestenfalls eines der vielen ‚Bildungsmittel‘, die den Menschen aus dem grauen Alltag ‚erheben‘ sollen. [...] Aber die Kunst ist weder ein Erbauungsmittel in der Hand von Pädagogen, Studienräten und Rauschebärten, die auf den ‚bildungshungrigen‘ Handarbeiter losgelassen werden, noch ist sie Luxus, Kaviar und Opium, das uns die Hässlichkeiten des ‚grauen Alltags‘ vergessen macht. Die Kunst heute ist Scheinwerfer und Waffe! Genauso Waffe wie vor zweitausend Jahren zur Zeit der politischen Komödien des Aristophanes.“55

Es entspricht Proletkulttendenzen, wenn Wolf hieraus die Folgerung zieht, Wilhelm Tell und Iphigenie als „Attrappen“ ins „Museum“ zu verbannen, weil sie „heute für den Jungarbeiter nichts anderes [seien] als Dunst, Opium und Phrase.“56 An die neue Literatur stellte Wolf indes klare Anforderungen. Der Dichter sollte „die Not, die Kämpfe, den Glauben und den Untergang der Menschen der Straße, der Hinterhäuser, Fabriken und Bergwerke auf die Bretter“57 stellen. Statt der Flucht in die Vergangenheit müsse er „die Tragödie eines Arbeitslosen vor uns hinstellen, die Verzweiflungstat einer kranken, geschwächten Mutter, die ihr siebtes Kind trägt, die Unterdrückung der erwachenden Kolonialvölker durch die Westmächte, das neue Wettrüsten zum Kampf um Öl und Naphtha“.58 Die Gegenwartsbezogenheit dürfe jedoch nicht die Qualität der literarischen Produkte beeinträchtigen. Wolf warnte davor, dass rein propagandistische Werke ihre Wirkung verfehlen werden: „Gewiss, es ist noch lang kein Arbeiterstück, wenn in ihm unentwegt: Es lebe die Weltrevolution! gerufen und die Internationale gesungen wird, wenn Lenin immer wieder persönlich auf der Bühne erscheint. Das ist höchstens eine ‚Walze‘, die gerade den Arbeiter sehr bald langweilt. Auch ein Arbeiterstück, gerade dies, muss ‚gekonnt‘ sein! [...] Ein solches Werk wirft auch den Gegner um, haut hausbreite Breschen!“59 Wie Clara Zetkin dies schon 1911 getan hatte60, so trat Wolf für eine eingängige aber hohe Tendenzkunst ein, die in Hinblick auf Qualität und Originalität des Gebotenen nicht zurückstehen sollte. Gerade diese Forderung sollte für den

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Wolf, Kunst ist Waffe!, S. 5–25, hier 21. Kursivierungen im Original. Ebd., S. 18. Ebd., S. 19. Ebd. Ebd. Clara Zetkin, Kunst und Proletariat (Vortrag, gehalten am ersten Künstlerabend des Bildungsausschusses der Stuttgarter Arbeiterschaft, Januar 1911), zit. nach dies., Kunst und Proletariat. Hg. von Hans Koch, Berlin (Ost) 1977, S. 186–197, hier 193–195.

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BPRS, aber auch für den Kampfbund und ähnliche nationalsozialistische Kulturorganisationen, zu einer unlösbaren Schicksalsaufgabe werden. Wolf, der von der Bühne als einem „geistigen Kampfplatz“ träumte,61 glaubte an die Gewalt des Wortes. Im Herbst 1944 reiste er, der die NS-Zeit in der Schweiz, in Skandinavien, Frankreich und schließlich in der sowjetischen Emigration verbrachte, an die Front bei Melitopol. Mit dem Megaphon bewaffnet, tauschte er die „Kulturfront“ gegen den Schützengraben ein und zielte – wie die BPRS-Mitglieder Willi Bredel und Erich Weinert – mit Rezitationen und agitatorischen Reden auf die Soldaten der Wehrmacht. In den Augen des Leiters der Informationsabteilung der Sowjetischen Militäradministration (SMAD), Sergej I. Tjulpanow, hatte Wolf damit sein Ziel erreicht: „Seine Bücher, Dramen, Pamphlete und publizistischen Veröffentlichungen wurden zu Geschossen, die die Feinde ins Haupt trafen.“62

4.

Der Schriftsteller als Kämpfer

Die Vorstellung von Literatur als Waffe, deren Entstehung inmitten des Kampfgeschehens angesiedelt wurde, bedingt das Bild vom Schriftsteller und dessen Aufgaben als Soldat des Geistes. Nach Gorki sollte der Schriftsteller „Kämpfer einer einheitlichen riesigen Armee“ sein, der nicht dem Individualismus erliegt.63 Für Rosa Luxemburg war Gorki selbst ein „sozialer Kämpfer“64 und damit Urbild des neuen Schriftstellers. Georg Lukács bezeichnete die proletarischrevolutionären Schriftsteller als „erprobte und ergebene Soldaten der Klasse“65. Wolf sah die von ihm genannten idealen Dichter der Vergangenheit als „Kämpfer, die um ihrer Worte in Acht und Bann gerieten, die mit ihren Worten um ihr Leben spielten!“66. Sie lebten nicht abseits, sondern „griffen mit ein in den Gegenwartskampf dieser Tage!“67. Ein entsprechendes Bild entwarf Becher von den auf der Charkower Konferenz 1930 zusammengekommenen proletarischrevolutionären Schriftstellern, „deren Lebensaufgabe darin besteht, dem revo-

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Wolf, Überdiplomatie in unserem Theater (geschrieben für den Rundfunk Ende 1946). In: ders., Gesammelte Werke in sechzehn Bänden, Band 16, Berlin (Ost) 1968, S. 69– 72, hier 71. Friedrich Wolf – ein Soldat und Dichter des Roten Oktober. In: Sergej I. Tjulpanow, Erinnerung an deutsche Freunde und Genossen, Berlin (Ost) 1984, S. 51. Gorki, Über Literatur (1930). In: ders., Über Literatur, S. 235–250, hier 247. Rosa Luxemburg, Die Seele der russischen Literatur. Aus der Einleitung zu: Wladimir Korolenko, „Die Geschichte meines Zeitgenossen“. In: Die Weißen Blätter, (1919) Nr. 2, S. 56–75, zit. nach dies., Schriften über Kunst und Literatur. Hg. von Marlen M. Korallow, Dresden 1972, S. 55–83, hier 83. Lukács, Über Willi Bredels Romane. In: Die Linkskurve, 3 (November 1931) Nr. 11, S. 23–27, hier 26. Wolf, Kunst ist Waffe!, S. 5–25, hier 8. Ebd., Kursivierung im Original.

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lutionären Klassenkampf mit der Waffe ihrer Kunst zu dienen“.68 Der ideale Schriftsteller sollte demnach volksnah – an vorderster Front im Einsatz – sein, wenn er erfolgreich aktivieren und mobilisieren wollte: „In dieser Zeitenwende sitzt der Dichter nicht mehr in seinem rosenumrankten Dachkämmerlein, in dieser Schicksalsstunde marschiert der Dichter als Trommler neben der Fahne.“69 Auch in Alfred Rosenbergs Kampfbund glaubte man – wie die während der ersten öffentlichen Veranstaltung des KfdK am 23. Februar 1929 im Auditorium maximum der Universität München verteilten Flugblätter verkündeten – „die Zeit gekommen, da es gilt der feindlichen Front eine eigene Front gegenüberzustellen“.70 Der zurückgezogene Dichter und der intellektuelle „Ästhetizist“ der Weimarer Republik hatten auch hier ausgedient, die neue Zeit verlangte vom Schriftsteller besondere Tatkraft und Aktivität: „Wir wollen aber auch nicht den Dichter, der sich damit begnügt, in seiner Dachstube still für sich zu träumen und den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen, sondern wir wollen den Dichter, der seine Werke mit Forderungen aktiviert, ausgesprochenen oder noch besser unausgesprochenen, der in die Zeit geht und eingreift, der sein Volk erzieht, der uns richtet, der uns Gesetze gibt, dem Dichten ein Amt ist, der sich zum Boten des Herrn aufwirft und der das lebendige Gewissen unseres Staats, unserer Nation, unseres Volkes, des deutschen Reichs ist.“71

Kampf und Abwehr sind in der Kunstanschauung des Kampfbundes die eminenten Aufgaben der „deutschen Künstler“, die Adolf Hitler 1933 in der Westmark, einem regionalen KfdK-Blatt, aufforderte, „die stolzeste Verteidigung des deutschen Volkes mit zu übernehmen durch die deutsche Kunst“.72 Diese „ganz andere Art von Dichtern“, die man heranzuziehen suchte, sollte zuerst „nach Blut und Wesen“ deutsch sein,73 sollte den von Rosenberg diagnostizierten „Vergiftungserscheinungen [...] im Bereich des kulturellen Daseins“ und deren „besonders erschreckenden Auswirkungen“ „volkhaft“ begegnen.74 Die Erzeuger der gewünschten heroischen Literatur sollten entsprechend „keine Schreibtischmenschen, überhaupt nicht eigentlich Menschen der Literatur“ sein, sondern 68 Becher, Die Kriegsgefahr und die Aufgaben der revolutionären Schriftsteller (1931), zit. nach Fritz J. Raddatz (Hg.), Marxismus und Literatur. Eine Dokumentation in drei Bänden, Band 2, Hamburg 1969, S. 185–211, hier 185. 69 Wolf, Kunst ist Waffe!, S. 5–25, hier 16. Kursivierungen im Original. 70 Vgl. Text der während Othmar Spanns Vortrag über „Die Kulturkrise der Gegenwart“ (= erste öffentliche Veranstaltung des KfdK) am 23. 2.1929 im Auditorium maximum der Universität München verteilten Flugblätter, zit. nach Brenner, Kunstpolitik, S. 9 f. 71 Hans Naumann, Wir suchen das neue deutsche Schrifttum. In: Rheinische Blätter und Mitteilungen der Landesleitung Rhein-Saar des Kampfbundes für deutsche Kultur, (10. 5.1933) Heft 5, S. 411–413, hier 411 f. 72 Adolf Hitler. In: Die Westmark. Monatsschrift des Volksbildungsverbandes Pfalz-Saar. Kampfbund für deutsche Kultur in der Westmark, (1933/34) Heft 1, S. 6. 73 Werner Wien, Volkhafte Dichtung der Zeit. In: Die N. S. Kulturgemeinde. Neue Folge der Zeitschrift Illustrierte Deutsche Bühne, 3 (Mai 1935) Heft 5, S. 3. 74 Ansprache Alfred Rosenbergs anlässlich der Eröffnung der Kollektivausstellung der NSKulturgemeinde (Die Auslese). In: Die N. S. Kulturgemeinde. Neue Folge der Zeitschrift Illustrierte Deutsche Bühne, 3 (April 1935) Heft 4, S. 3.

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vor allem kampferfahren:75 „Menschen, die [...] oft schwer haben kämpfen müssen, äußerlich und innerlich, bevor sie zu schreiben anfingen.“76 In der Idealvorstellung, wonach diese völkischen Schriftsteller nicht „der Schicht der sogen. ‚Gebildeten‘“ angehören, sondern vielmehr „die ersten [seien], die in ihrer Familie überhaupt ‚schreiben‘“, spiegelt sich gleichfalls das Anliegen der proletarisch-revolutionären Arbeiterkorrespondentenbewegung, die den authentischen Ausdruck gegenüber dem gebildeten Formenspiel favorisierte. Trotz ihrer Gegensätzlichkeit verfolgten beide politischen Lager die gleiche Zielsetzung: die Machtergreifung auf dem Kultursektor zur Komplettierung der totalen weltanschaulichen Durchdringung aller Daseinsbereiche. Ideologisch entsprechend ausgerichtete Schriftsteller wurden dabei zu einem Werkzeug der kulturpolitischen Mobilmachung.

5.

Ziele und Feindbilder

Im Gründungsmanifest des Kampfbundes zeichnete Rosenberg ein erschreckendes Bild des Kulturverfalls. Er sprach davon, dass ein „Vernichtungskampf auf kulturellem Gebiet“ tobe, der mit „unsichtbaren und vergifteten Waffen“ geführt werde, „mit allen Mitteln des Geldes und der Macht“.77 Vor diesem „offenkundigen Gesittungsverfall“ präsentierte sich der Kampfbund als rettende „Abwehr aller deutschfeindlichen Mächte auf kulturellem Gebiet“, die Rosenberg im „rassefremden Literatentum“ ausgemacht hatte, das er im Bündnis „mit den Abfällen der Großstädte, gefördert und finanziert durch gleichgerichtete schmarotzende Emporkömmlinge“, wähnte.78 Der Kampfbund, dessen anti-marxistischkommunistischer und gleichzeitig antisemitischer Kurs den integrierenden Bestandteil bildete,79 bekämpfte alles „Artfremde“, „Zersetzende“, „Dekadente“, „Undeutsche“ und „Kulturbolschewistische“. Die Vorträge seiner Fachgruppe Schrifttum richteten sich gegen „Asphaltliteratur“ und „Zivilisationsliteraten“ gleichermaßen. Zu diesen Feinden zählten u. a. Erich Kästner, Egon Erwin Kisch, Kurt Tucholsky, Thomas Mann, Bertolt Brecht, Ernst Toller, Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger und Walter Mehring.80 Dem von ihnen angeblich verkörperten Verfall setzte die „Nationalsozialistische Gesellschaft für deutsche Kultur – nationalsozialistische wissenschaftliche Gesellschaft“, also der spätere 75 Vgl. Wien, Volkhafte Dichtung. In: Die N. S. Kulturgemeinde, 3 (Mai 1935) Heft 5, S. 3; Goebbels unterschied in seinen frühen Äußerungen zur Kunst zwischen einem „intuitiven“ und einem „kämpfenden“ Künstlertyp, vgl. Mathieu, Kunstauffassungen, S. 93– 95. 76 Wien, Volkhafte Dichtung. In: Die N. S. Kulturgemeinde, 3 (Mai 1935) Heft 5, S. 3. 77 Bundesarchiv, Abteilungen Koblenz, NS 15/82, unpag., 1. Blatt von 4, zit. nach Mathieu, Kunstauffassungen, S. 218. 78 Rosenberg, Der Schicksalskampf der deutschen Kultur. In: Der Weltkampf, 5 (Mai 1928), S. 193–212, hier 210. 79 Brenner, Die Kunstpolitik, S. 21. 80 Ebd., S. 16 f.

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Kampfbund, zur Gesundung des Volkskörpers eine biologisierte Kunstauffassung entgegen, wie sie in § 1 des Gründungsprotokolls vom Mai 1928 zusammengefasst ist: „Die Gesellschaft setzt sich das Ziel, das deutsche Volk über die Zusammenhänge zwischen Rasse, Kunst, Wissenschaft, sittlichen und soldatischen Werten aufzuklären. Sie setzt sich zum Ziel, bedeutende, heute totgeschwiegene Deutsche durch Wort und Schrift der Öffentlichkeit näherzubringen und mit allem Nachdruck das kulturelle Gesamtdeutschtum ohne Berücksichtigung politischer Grenzen zu fördern.“81 Rosenbergs Kampfstrategie bestand neben der Förderung ideologisch passender Literatur vorrangig in der Sammlung von Gleichgesinnten und damit der Etablierung einer nationalsozialistischen Kulturbewegung: „Sie [die Gesellschaft] setzt sich zum Ziel, durch Sammlung von diese Bestrebungen fördernden Kräften die Voraussetzung für eine das Volkstum als ersten Wert anerkennende Erziehung in Schule und Hochschule zu schaffen.“82 Das 1928 verabschiedete Aktionsprogramm des BPRS – ein offizielles Programm wurde nie erreicht – nennt in Entsprechung „die Zusammenfassung und Stärkung der proletarisch-revolutionär gesinnten Autoren“83 als Hauptanliegen. Darin, dass auf elitäre Kreise und das (Hoch-)Schulsystem Einfluss genommen werden sollte, unterschied sich der Kampfbund vom BPRS, der abseits der bürgerlichen Bildungswege die Gewinnung und Schulung „derjenigen Elemente der Arbeiterklasse“ vorsah, „von denen eine fruchtbare Weiterentwicklung der proletarisch-revolutionären Literatur zu erwarten“84 sei. Die Heranziehung kunstpolitischer Kader wurde in beiden Organisationen mit Nachdruck betrieben. Die ideologische Einwirkung hatte in beiden Fällen das Ziel, Kampfkräfte zu mobilisieren, im Protokoll der Nationalsozialistischen Gesellschaft für deutsche Kultur ist beispielsweise von der Absicht die Rede, „den Willen zu wecken für das Wesen und die Notwendigkeit des Kampfes um die kulturellen Charakterwerte der deutschen Nation im Hinblick auf die zu erkämpfende Freiheit“.85 Der Kampfbund, der trotz mehrfacher Umwandlungen zu keiner Zeit parteiamtliche Eigenschaften angenommen hatte, „kämpft für die Durchführung deutscher Kultur im Sinne Adolf Hitlers, beschränkt sich aber ausdrücklich nicht auf die Mitglieder der NSDAP in seiner Arbeit“.86 Hierauf baute die Hoffnung auf, „Persönlichkeiten des deutschen Kulturlebens zu gewinnen, die eine parteimäßige Bindung, mindestens zunächst, ablehnen“.87 81 Gründungsprotokoll. In: Der Weltkampf, (Mai 1928), zit. nach Brenner, Kunstpolitik, S. 8. 82 Ebd., S. 8 f. 83 Vgl. Entwurf eines Aktionsprogramms. In: Die Rote Fahne vom 28.10.1928, zit. nach Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik (Hg.), Zur Tradition der deutschen sozialistischen Literatur. Eine Auswahl von Dokumenten, Band 1, S. 138–140, hier 139. 84 Ebd., S. 140. 85 Gründungsprotokoll, zit. nach Brenner, Kunstpolitik, S. 8 f. 86 Abmachungen zwischen der Abteilung Volksbildung (Reichsleitung NSDAP) und dem Kampfbund für deutsche Kultur, 24. 9.1932, zit. nach Brenner, Kunstpolitik, S. 168. 87 Ebd., S. 168.

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Das Anliegen des BPRS galt der Schaffung einer Literatur, die ihre Leser ebenfalls politisch aktivieren, „die Massen zur proletarischen Wehrhaftigkeit erziehen“88 und somit eine „Waffe des Proletariats innerhalb der Gesamtliteratur“89 sein sollte. Diesem Vorhaben stand die „reaktionäre Schundliteratur“ im Wege, die „verheerenden Einfluss auf das Bewusstsein der Massen“ ausübe.90 Folgende Beschreibung Otto Bihas aus dem Jahre 1930 trifft auch auf die antagonistische Ziele verfolgende und vom Kampfbund geförderte völkische Literatur zu, zu deren zentralen Werten und Themen Sitte, Heimat, Familie, Volk, Boden, Tradition, Natur und Geschichte zählten:91 „Die Massenromane des klassenlosen Idylls, des Wirtschaftsfriedens unter der Parole: Freie Bahn dem Tüchtigen, der Geduld und Ordnung, der Vaterlandsliebe und Demut, der Heiligkeit des Besitzes, sind gefährlicher als die sogenannte große Literatur der Bourgeoisie. Die Partei muss in ihren Kämpfen um die Masse diese Literatur zurückdrängen.“92 In der von „den Scherl und Ullstein der Welt am fließenden Band des Geistes hergestellten Ideologie“ sah Biha „das gefährlichste Giftgas an der Kulturfront“93. Die Urheber dieser Literatur, die in den Augen Bihas nichts als „Konfektionsware des Geistes“ darstellte,94 bezeichnete Fritz Erpenbeck in seinem gleichnamigen Aufsatz als „literarisches Söldnerheer“, bestehend aus „bürgerlichen und kleinbürgerlichen Skribenten, [...] die ihr Infanterie- und Maschinengewehrfeuer aufs Proletariat richten, ihre Giftgasnebel auf die Massen der proletarischen Kleinbürger abblasen“.95 Ziel war deshalb, die „Unschädlichmachung des kleinbürgerlichen Lesegiftes durch ernsthafte, allgemeinverständliche Kritik aller Massenerscheinungen. Nicht nur aufzuzeigen, dass und wo der bürgerliche Klassenauftrag zutage tritt, sondern die formalen Mittel, die ‚Geheimrezepte‘ aufdecken, nach denen der Giftbrei hergestellt wurde.“96 Trotz der „Kritik aller Massenerscheinungen“ setzte man im Wettbewerb um das Bewusstsein der Massen auch auf kommunistischer Seite auf Massenliteratur, die in Form des „Roten-Eine-Mark-Romans“ ab 1930 erschien. In dieser Reihe, mit der – so Otto Biha – „eine Bresche in den Gürtel der feindlichen

88 Becher, Die Kriegsgefahr und die Aufgaben der revolutionären Schriftsteller (1931), zit. nach Raddatz (Hg.), Marxismus, Band 2, S. 185–211, hier 208. 89 Entwurf eines Aktionsprogramms. In: Zur Tradition, Band 1, S. 138–140, hier 138. 90 Otto Biha, Der proletarische Massenroman. Eine neue Eine-Mark-Serie des „Internationalen Arbeiterverlages“. In: Die Rote Fahne vom 2. 8.1930, zit. nach Brauneck (Hg.), Rote Fahne, S. 404–406, hier 404. 91 Vgl. Alexander von Bormann, Vom Traum zur Tat. Über völkische Literatur: In: Rothe (Hg.), Deutsche Literatur, S. 304–333, hier 308. 92 Biha, Der proletarische Massenroman, zit. nach Brauneck (Hg.), Rote Fahne, S. 404– 406, hier 405. 93 Ebd. 94 Ebd. 95 Fritz Erpenbeck, Das literarische Söldnerheer. In: Die Linkskurve, 3 (1931) Heft 8, S. 19–22, hier 19. 96 Ebd., S. 20.

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Literatur“97 geschlagen werden sollte, erschienen Werke von BPRS-Mitgliedern wie Hans Marchwitza (Sturm auf Essen, 1930), Willi Bredel (Maschinenfabrik N. & K., 1930), Klaus Neukrantz (Barrikaden am Wedding, 1931) und Ludwig Turek (Ein Prolet erzählt, 1930). Mit dem „Monat des proletarischen Buches“, der seit Dezember 1929 veranstaltet und dem 1934 die nationalsozialistische „Woche des deutschen Buches“98 entgegengesetzt wurde, versuchte man derartige Bücher „als Waffen im Klassenkampf mit ganz besonderem Nachdruck“ zu propagieren.99 Darüber hinaus ging der BPRS mit Sprechchören, Agitpropund Kampfspielgruppen bei den hier von Karl Grünberg genannten Aktionen öffentlich wirksam gegen die Gegner vor: „Diesem heimtückischen Feind einen Damm entgegenzusetzen, das ist eine der wichtigsten Aufgaben der proletarischrevolutionären Literatur! Im täglichen Stellungskampf des Klassenkrieges, bei Streiks, Demonstrationen und Kampagnen hat sie sich bereits als eine sehr brauchbare Waffe ihren Platz erobert.“100 Der Feind wurde vom BPRS ausgiebig studiert. Eigens eingerichtete Arbeitsgemeinschaften bezweckten die „gründliche Auseinandersetzung mit dem gegnerischen Schrifttum“101. Es gab eine Gruppe für „katholische Literatur, je eine über faschistische, sozialdemokratische und sonstige bürgerliche Literatur“.102 Hieß das Feindbild des Kampfbundes „Kulturbolschewismus“, so verschrieb sich der BPRS dem Kampf gegen den „Sozialfaschismus“. Der BPRS nützte jede Gelegenheit, um die angeblich arbeiterfeindliche Politik der SPDFührung in Gedichten, Satiren, Kampfliedern und Glossen anzuprangern und eine Verflechtung mit der „Reaktion“ nachzuweisen. Die „Linkeleuteliteratur“103 der SPD-nahen Arbeiterdichter wurde genauso aufs Schärfste angegriffen, wie auch die linksintellektuellen Schriftsteller Tucholsky, Toller, Döblin u. a., denen man politische Heimatlosigkeit und freischwebendes Ästhetentum vorwarf. Die Gefahr, dass der Bund sich zu einer „engen, sektiererischen Organisation“104 entwickelte und dem prognostizierten „äußert gefährlichen CliquenHochmut“105 erliegen könnte, wurde immer größer; man verzettelte sich in Grabenkämpfen in der eigenen Gesinnungsecke und unterschätzte hierüber die wachsende Gefahr des Nationalsozialismus.

97 Biha, Der proletarische Massenroman, zit. nach Brauneck (Hg.), Rote Fahne, S. 404– 406, hier 406. 98 Vgl. Strothmann, Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 135 f., 163–169. 99 Monat des proletarischen Buches, 8.12.1931, zit. nach Hein, „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands“, S. 114. 100 Grünberg, Was wir wollen. In: Die Rote Fahne vom 27.11.1929. 101 Trude Richter, Wie arbeitet der Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller? In: Die Rote Fahne vom 25. 6.1932, zit. nach Brauneck (Hg.), Rote Fahne, S. 455–457, hier 455. 102 Ebd. 103 Becher, Einen Schritt weiter! In: Die Linkskurve, 2 (Januar 1930) Nr. 1, S. 2. 104 Vgl. Sekretariat des ZK der KPD, Resolution zur Arbeit des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. In: Zur Tradition, Band 1, S. 440–443, hier 441. 105 Trotzki, Literatur, S. 174.

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Dass es insgesamt um mehr ging, als um reine Wortgefechte in Friedenszeiten, dass die Literatur bereits auf den bevorstehenden Krieg geeicht wurde, ist offensichtlich. Beispielsweise geht die 1930 in Charkow angenommene Resolution zu den politischen und schöpferischen Fragen der internationalen proletarischen und revolutionären Literatur davon aus, dass die „in der Periode der heranreifenden sozialistischen Revolution“ geschaffene proletarische Kunst „eine Kriegswaffe der Arbeiterklasse“ sein würde.106 Noch deutlicher tritt die Interdependenz von literarischem Kampf und tatsächlicher Kriegshandlung in Bechers Aufsatz über Die Kriegsgefahr und die Aufgaben der revolutionären Schriftsteller (1931) zu Tage: „wir müssen, bevor wir morgen die Gewehre ergreifen, heute, heute und nochmals heute mit unseren Büchern weit besser schießen lernen als bisher, denn je besser wir heute unsere Schreibmaschine bedienen, desto besser werden auch in Zukunft die roten Gewehre und Maschinengewehre bedient werden.“107 Auch der Kampfbund stellte sich auf einen langwierigen und mit allen Mitteln zu führenden Kampf ein. Seine Feinde suchte er durch Diskriminierungsund Säuberungskampagnen auszuschalten108 – die Maßnahmen gegen Erika Mann109 oder die Absetzung des Zwickauer Museumsleiters Hildebrand Gurlitt110 zählen zu den bekanntesten Aktionen dieser Art. Hinzu kamen „Einflussnahme auf nichtnationalsozialistische Behörden in sachlicher und personeller Hinsicht in allen kulturellen Fragen“111, Einwirkung auf Theater, Buchhandel und öffentliche Bibliotheken, die zu „Waffenkammern“112 für die „geistige Kriegsführung“ werden sollten.113 Als Höhepunkt können die Bücherverbrennungen vom 10. Mai 1933 angesehen werden, für die der Kampfbund mit seinen schwarzen Listen die Vorarbeit geleistet hatte.114

106 Resolution zu den politischen und schöpferischen Fragen der internationalen proletarischen und revolutionären Literatur (erste von 20 Resolutionen, die auf dem internationalen Kongress in Charkow 1930 angenommen wurden), zit. nach Raddatz (Hg.), Marxismus, Band 2, S. 224–234, hier 226. 107 Becher, Die Kriegsgefahr und die Aufgaben der revolutionären Schriftsteller (1931), zit. nach Raddatz (Hg.), Marxismus, Band 2, S. 185–211, hier 208. 108 Brenner, Kunstpolitik, S. 36. 109 Vgl. u. a. Martin Weichmann, Der „Fall Erika Mann“. Ein Theater auf dem Weg ins Dritte Reich. In: Gazette (2004) Nr. 3. 110 Piper, Alfred Rosenberg, S. 271. 111 Abmachungen zwischen der Abteilung Volksbildung (Reichsleitung NSDAP) und dem Kampfbund für deutsche Kultur, 24. 9.1932, zit. nach Brenner, Kunstpolitik, S. 168 f. 112 Vgl. Strothmann, Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 141–143. 113 Vgl. das Geleitwort des Vizepräsidenten der Reichsschrifttumskammer, Wilhelm Baur, zur ersten Grundliste für den deutschen Leihbuchhandel: „Das Buch ist eine Waffe, Waffen gehören in die Hände von Kämpfern, Kämpfer für Deutschland zu sein, heißt Nationalsozialist sein. Seht in dieser Buchliste eine Waffensammlung zur Vertiefung unserer Weltanschauung im Volk.“ Ders., Geleitwort. In: Das Buch – ein Schwert des Geistes, 1. Grundliste für den Deutschen Leihbuchhandel, Leipzig 1940, zit. nach Strothmann, Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 159. 114 Brenner, Kunstpolitik, S. 45.

„Literatur als Waffe“

6.

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Der Angriffspunkt der agitatorischen Literatur

Den Angriffspunkt, über den die Literaturwaffe wirken sollte, sah man – sowohl in den Schriften der proletarisch-revolutionären Schriftsteller als auch in denen des Kampfbundes – in der menschlichen Disposition, Bezugnahmen auf Welt und Gesellschaft nicht alleine auf rein rationaler Grundlage, sondern zumeist auch höchst emotionalisiert zu realisieren. Lunatscharsky unterschied in diesem Sinne 1920 Agitation von Propaganda dadurch, „dass sie vor allem die Gefühle der Zuhörer und der Leser bewegt und deren Willen unmittelbar beeinflusst“.115 Der BPRS beschränkte sich nicht auf rationale Argumentationen, er wollte „Herz und Hirn der Arbeiterklasse“ gewinnen, entwickeln und organisieren.116 Becher schrieb der Literatur zu, dort zu wirken, „wo, oft unberührt vom politischen Tageskampf, die Gefühlsmassen verborgen liegen“.117 Die geschickte agitatorische Literatur „dringt vor bis zur letzten unbewussten und innersten Gefühlsregung“.118 Dies tut sie, so Andor Gábor, indem sie „Gedanken und Gefühle“ der Klasse, zu der sie gehört, „schildert, organisiert und weiterentwickelt“.119 Analoge Vorstellungen finden sich bei Kolbenheyer, der wie die Schriftsteller Hanns Johst, Josef Magnus Wehner und Emil Strauß zu den offiziellen Förderern des Kampfbundes zählte.120 Kolbenheyer ging davon aus, dass die Dichtkunst den Menschen beeinflusst, indem sie ihn an der „Wurzel allen Fühlens“ erfasst: „Und weil die Dichtung durch ihre Kunstmittel den Hörer und Leser unmittelbar ergreift, so wird sein Gefühlsleben im Dichtwerke an seinen Wurzeln berührt und kann von da aus [...] geläutert und entwickelt werden.“121 Dass der Wert auch anderer „Kulturwaffen“ wie der Medien Funk und Film – ab Juli 1933 rief Rosenberg den „Deutschen Kampffilm“ als Unterorganisation des Kampfbundes ins Leben122 – in deren Wirkung auf das Gemüt liegt, hat, so der Gaukulturwart Kurt Kölsch, „der Nationalsozialismus von Anfang an erkannt“ und sie deshalb „bewusst in den Dienst der kulturellen Propaganda [gestellt], die tiefer und stärker anschlägt als die politische Aufklärung, weil sie selbstverständlich in Sprache und Lied an die Melodie des Herzens rührt“.123 Entsprechende Wirkungstheorien verbreitete ein Vertreter des dem Kampfbund körperschaftlich beigetretenen „Reichsverbands deutscher Rundfunkteilnehmer“ in seinem auf der zweiten und – aus finanziellen Gründen – letzten Pfingst115 Lunatscharsky, Revolution. In: ders., Die Revolution und die Kunst, S. 26–31, hier 27. 116 Entwurf eines Aktionsprogramms, zit. nach Zur Tradition, Band 1, S. 138–140, hier 138. 117 Becher, Unsere Front. In: Die Linkskurve, 1 (August 1929) Nr. 1, S. 1–3, hier 1. 118 Ebd. 119 Andor Gábor, Über proletarisch-revolutionäre Literatur. In: Die Linkskurve, 1 (Oktober 1929) Nr. 3, , S. 3–6, hier 3. 120 Brenner, Kunstpolitik, S. 10. 121 Erwin Guido Kolbenheyer, Jugend und Dichtung (Rede an die Hitler-Jugend, Salzburger Kulturtage, Mai 1942). In: ders., Zwei Reden, München 1942, S. 23–32, hier 31 f. 122 Mathieu, Kunstauffassungen, S. 221. 123 Kurt Kölsch, Kultur aus Volkstum und Heimat. In: Die Westmark, (1933/34) Heft 12, S. 642–644, hier 644.

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tagung des Kampfbundes im Jahre 1931 in Potsdam gehaltenen Vortrag über den „Rundfunk als Kulturwaffe“.124 Die Macht des fotografischen Mediums setzte dagegen auf kommunistischer Seite früh der Grafiker John Heartfield (Helmut Herzfeld) mit seinen Fotomontagen als politische Waffe „im Kampf um eine neue, endlich menschenwürdige Ordnung“ ein.125 Die auf kathartische Wirkung adressierte Kampfliteratur setzte auf die Verstärkung von Bedrohungsgefühlen und nützte diese als Ausgangspunkt und Nährboden. Gorki nannte 1928 den „aktiven Hass des Schriftstellers auf alles, was den Menschen von außen, aber auch von innen unterdrückt“126 als erstes Merkmal des proletarischen Schriftstellers. Dieser „schonungslose Hass“127 treibe den Schriftsteller nicht nur an, sondern er beabsichtige derartige Gefühlsregungen auch selbst zu erzeugen – bei erwachsenen Arbeitern genauso wie bei Kindern: „Der Klassenhass muss den Kindern organisch aus dem Abscheu gegen den Feind als einem Wesen niederen Typs anerzogen werden und nicht aus der Furcht vor [...] seiner Grausamkeit, wie dies vor der Revolution die sentimentale ‚Literatur für Kinder‘ unbewusst getan hat, eine Literatur, die überhaupt nicht imstande war, eine so tödliche Waffe wie das Lachen zu gebrauchen.“128 Die proletarisch-revolutionäre Bewegung kultivierte mit ihrer – so Becher 1929 in der Linkskurve – von „Klassenhass und Klassenliebe“129 singenden Literatur einerseits sozial gerichtete Hassgefühle, diskreditierte solcher Art negative Emotionalisierungsversuche dann aber später selbst im Hinblick auf die nationalsozialistischen Literatur als ein von „Vernunfthass erfülltes Pathos“130, das einzig dazu angetan sei, das Denken der Menschen gezielt zu manipulieren: „Die faschistischen Literaten, inspiriert vom Klassenhass gegen die Arbeiter, gequält von dem versteckten Bewusstsein, dass es sich bei ihrer konterrevolutionären Sache um eine verlorene Sache handelt, verherrlichen mit allen erdenklichen Methoden den imperialistischen Krieg und gleichzeitig den Terror gegen die revolutionäre proletarische Bewegung.“131 In einigen Schriften des KfdK findet sich im Gegenzug direkte Kritik an der proletarisch-revolutionären Literaturbewegung, die die Suche des Arbeiters nach „geistigen Waffen für seinen Kampf“ missbraucht habe, indem sie ihm, der 124 Vgl. Mitteilungen des Kampfbundes für deutsche Kultur, (1931), S. 33–51. 125 F. C. Weiskopf, Benütze Foto als Waffe! In: AIZ, (1929) Nr. 37; vgl. Bernhard Koßmann /Sigrid Schneider, Zum Konzept der Ausstellung. In: „Benütze Foto als Waffe!“ John Heartfield – Fotomontagen, Frankfurt a. M. 1989, S. 10–11, hier 11. 126 Gorki, Über den proletarischen Schriftsteller (Brief an die Teilnehmer des Literaturzirkels der Berufstechnischen Schule in Pokrowsk). In: ders., Über Literatur, S. 159–162, hier 159. 127 Ebd. 128 Gorki, Über verantwortungslose Leute und über das Kinderbuch unserer Zeit. In: ders., Über Literatur, S. 231–234, hier 232. 129 Becher, Unsere Front, S. 1–3, hier 1. 130 Ders., Das große Bündnis, zit. nach Raddatz (Hg.), Marxismus, Band 2, S. 212–223, hier 216. 131 Ebd., S. 214.

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schöpferische Absichten hegte, Hassgefühle eingeimpft habe: „Der revolutionäre Literat war revolutionär aus einem Hassgefühl. [...] Der revolutionäre Literat wollte zerstören und vernichten, der Arbeiter wollte verändern und verbessern.“132 Die Fähigkeit der Literatur, auf direktem aber besonders auch auf indirektem Wege auf tiefer liegende Wesensschichten des Menschen einzuwirken, galt in beiden Lagern als eine eminente Ressource im Kampf, mit der der ideologische Stachel entweder eingepflanzt oder zu voller Wirkung gebracht werden konnte.

7.

Resultate der literarischen Kampfprogramme

Der BPRS wollte vorrangig auf noch unorganisierte Teile des Proletariats einwirken und dessen Klassenbewusstsein aktivieren, sah sich aber vor das Problem gestellt, dass die Arbeiter sich kaum Bücher kauften bzw. leisten konnten.133 Die Schriften, die die Arbeiter tatsächlich erreichten, waren, trotz der Förderung der Arbeiterkorrespondentenbewegung, größtenteils von Schriftstellern bürgerlicher Herkunft verfasst und folglich von der Gedanken- und Lebenswelt des Proletariats meilenweit entfernt. Das Hauptproblem des BPRS wie auch des Kampfbundes bestand aber in der Tatsache, dass sich Talent und Qualität nicht auf Kommando einstellten. Im November 1931 kam Georg Lukács zu dem Ergebnis, „dass wir alle [...] das Niveau der allgemeinen revolutionären Bewegung in Deutschland mit unserer literarischen (schöpferischen wie kritischen) Tätigkeit nicht erreichen“.134 Dadurch, dass „noch immer der gute und billige proletarische Roman fehle“, habe man es nicht geschafft, die „Lücke innerhalb des Vormarsches der proletarischen Literatur“ zu schließen.135 Gleichsam barg der Anspruch, wonach die Literatur „parallel mit dem Klassenkampf“136 zu entstehen habe, die Problematik des Schritthaltens mit den ständig wechselnden politischen Kampagnen der KPD. Die Bedeutung von Rosenbergs Kampfbund, die von Anfang an keine große gewesen war, schwand unter den Rivalitäten mit anderen Kulturinstitutionen, vor allem mit Goebbels Propagandaministerium, dahin. Sein letztlich mangelnder Erfolg resultierte aus einer „Wechselwirkung von Unvermögen und innerparteilicher Gegnerschaft“137. Im Juni 1934 wurden Kampfbund und Deutsche 132 August Winnig, Vergangenheit und Zukunft. Die Lebenslinie des deutschen Arbeiters. In: Die Westmark, (Mai 1934) Heft 8, S. 407–422, hier 414 f. 133 Christoph Rülcker, Proletarische Dichtung ohne Klassenbewusstsein. In: Rothe (Hg.), Deutsche Literatur, S. 411–433, hier 412. 134 Lukács, Über Willi Bredels Romane. In: Die Linkskurve, 3 (November 1931) Nr. 11, S. 23–27, hier 26. 135 An alle proletarisch-revolutionären Schriftsteller. An alle Arbeiterkorrespondenten. In: Die Linkskurve, 3 (Dezember 1931) Nr. 12, S. 12 f. 136 Gábor, Über proletarisch-revolutionäre Literatur, S. 3–6, hier 3. 137 Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner, S. 30.

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Bühne zur „Nationalsozialistischen Kulturgemeinde“ (NSKG) fusioniert138 und diese körperschaftlich der Organisation „Kraft durch Freude“ (KdF) angegliedert.139 Dem BPRS als auch dem Kampfbund war ein gewisser Vorbereitungsstatus gemeinsam. Sah sich der Kampfbund als „Vortrupp einer großen Sammelbewegung zur Erhaltung der nationalen Kultur“140, der Grundlagen für die neue nationalsozialistische Kunst und damit für eine „kulturpolitische Konterrevolution“141 schaffen wollte, so glaubten die Mitglieder des BPRS Pionierleistungen auf dem Gebiet der Literatur zur Errichtung der neuen sozialistischen Gesellschaft zu leisten. Der Kampfbund wurde von Walter Stang 1934 als „Keimzelle nationalsozialistischer Kulturentwicklung“ bezeichnet, die „nach der Machtergreifung erst eigentlich wirksam werden konnte“.142 Tatsächlich wurden zahlreiche Kampfbundmitglieder nach der Machtergreifung als „erprobte Soldaten dieses Kulturkampfes in die vorderste Reihe“143 gestellt. Die Feststellung Ernst Pipers, wonach dem Kampfbund „eine nicht zu unterschätzende Bedeutung als politische Sozialisationsagentur“ für seine jüngeren Mitglieder beizumessen ist,144 kann auch auf den BPRS übertragen werden. Das Durchschnittsalter seiner Mitglieder lag 1928 bei knapp 30 Jahren;145 diejenigen, die das Dritte Reich – größtenteils in der Emigration – überlebten, hatten somit gute Aussichten auf eine entsprechende kulturpolitische oder schriftstellerische Karriere in der SBZ/DDR; Johannes R. Becher, Alexander Abusch, Alfred Kurella und Hans Marchwitza sind nur einige Beispiele. Insgesamt waren die Anstrengungen des BPRS wenig erfolgreich; die historische Bedeutung als Wendepunkt in der Literatur, die Frida Rubiner erhofft hatte, wurde vom BPRS weit verfehlt. Die Linkskurve stellte ihr Erscheinen bereits Ende 1932 ein, u. a. aus finanziellen Gründen.146 Nach der Machtergreifung in die Illegalität abgetaucht, gelang es einigen Mitgliedern um Jan Petersen mit der Kampfzeitschrift Hieb und Stich weiter zu agitieren.147 Von der „unerwarteten Wucht“ des Nationalsozialismus wurden die Mitglieder des BPRS, so Christoph Hein, jedoch „vollständig überrollt“148; am 12. Oktober 1935 brach

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Ebd., S. 66. Piper, Alfred Rosenberg, S. 391. Brenner, Kunstpolitik, S. 16. Piper, Alfred Rosenberg, S. 271. Walter Stang, Ein Jahr Reichsverband „Deutsche Bühne“ e. V. In: Illustrierte Deutsche Bühne. Zeitschrift des Reichsverbandes „Deutsche Bühne“ e. V., 2 (April 1934) Heft 4, S. 5. Deutscher Kunstbericht, Folge 69, Lenzing 1933, zit. nach Brenner, Kunstpolitik, S. 172. Piper, Alfred Rosenberg, S. 274. Hein, „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands“, S. 59. Schonauer, Die Partei und die Schöne Literatur. In: Rothe (Hg.), Deutsche Literatur, S. 114–142, hier 132; vgl. Gallas, Marxistische Literaturtheorie, S. 70. Hein, „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands“, S. 183. Ebd., S. 174.

„Literatur als Waffe“

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die Arbeit des BPRS in Deutschland mit der Verhaftung von zwölf Mitgliedern endgültig zusammen.149

8.

Schlussbetrachtung

Die gegebenen Einblicke in die kämpferischen Kunstkonzeptionen der 20er und frühen 30er Jahre zeigen, dass Literatur nicht nur Widersacher und Opfer totalitärer Weltanschauungen, sondern auch zu deren Gehilfe und Waffe werden kann. Der Topos der Waffe verdeutlicht die Bedeutung, die der Literatur in den ideologischen Auseinandersetzungen beigemessen wurde. Aus den zitierten Textstellen ist eine Wertschätzung der Kunst als Mittel zur Beeinflussung der Volksmassen im Sinne der eigenen politischen Weltanschauung zu entnehmen. „L’art pour l’art“ und damit eine eigenständige, politisch leidenschaftslose und sich selbst genügende, freie Kunst wurde auf beiden Seiten abgelehnt. Durch die Bindung an die von totalitären Weltanschauungen geprägte Politik wurde auch die Literatur totalitär. Der mangelnde Erfolg der vorgestellten avantgardistischen Vereinigungen mag jedoch als Indiz dafür gelten, dass Literatur, wenn sie ihre spezifische ästhetische Dimension der politischen Nützlichkeit völlig unterordnet, ihren Kunstcharakter und ihren Anspruch auf zeitübergreifende Geltung verwirken muss. Die im Kontext bzw. auf Initiative des BPRS wie des Kampfbundes entstandenen Kunstprodukte setzten sich durch ihre Ideologieabhängigkeit der Gefahr aus, der „normativen Geschlossenheit und Zeitgebundenheit“150 dieser Ideologien zu verfallen, wovon es zur Abstumpfung der „Literaturwaffe“ nur ein kleiner Schritt war. Nicht zuletzt bewirkte die rasante Entwicklung der konkurrierenden „Kulturwaffen“ Funk und Film, die sich qua ihrer medialen Form als viel geeigneter zur Ideologisierung von Massen erwiesen, dass die Literatur die propagierte Bedeutung als Ideologieträger und Kampfmittel bald verlor.

149 Ebd., S. 205 f. 150 Vgl. Mathieu, Kunstauffassungen, S. 13.

Brechts und Eislers Maßnahme im Licht der Totalitarismus-Theorie: ein zweites Mal Helmuth Kiesel Die Maßnahme wurde im Sommer 1930 geschrieben, am 13. Dezember 1930 in der Berliner Philharmonie uraufgeführt und am 18. Januar 1931 im Großen Schauspielhaus zu Berlin wiederholt. Danach folgten bis 1932 mehrere Aufführungen in Deutschland, 1936 eine in London. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben Brecht und Eisler die Aufführung der Maßnahme untersagt, ausdrücklich mit einem Brief vom 21. April 1956 an den schwedischen Lehrer Klaus Patera (der sich aber an das Verbot nicht hielt).1 Als Gründe für das Verbot nannte Brecht gegenüber Patera (wie schon in einem Brief vom 4. Februar 1956 an den Studenten Wilfried Ziemann) den besonderen Charakter des Stücks als „Lehrstück“ und seine angeblich schwere Verständlichkeit, die beim Publikum zu Irritationen führe.2 Von möglichen eigenen Bedenken gegenüber dem Stück ist keine Rede; vielmehr bemerkte Elisabeth Hauptmann gegenüber Reiner Steinweg 1970 ausdrücklich, Brecht habe „keine Einwände gegen das Stück“ selbst gehabt, nur „Missdeutungen bei Inszenierungen und Aufführungskritik“ befürchtet.3 In diesem Sinne stellt auch Klaus-Dieter Krabiel im neuen BrechtHandbuch (2001) lapidar fest: „Die Gefahr einer missbräuchlichen Verwendung lag in den Jahren des Kalten Kriegs auf der Hand.“4 Die ebenfalls auf der Hand liegende Frage, durch wen die Maßnahme hätte missbräuchlich verwendet werden können, stellt Krabiel allerdings nicht. Zwei Möglichkeiten sind immerhin denkbar: Zum einen hätten Kommunisten und zumal Stalinisten die Maßnahme als Befürwortung von Säuberungen betrachten und ausspielen können; zum andern hätten Anti-Kommunisten die Maßnahme als Beweis für Brechts und Eislers stalinistische oder zumindest totalitaristische Einstellung heranziehen können. Meine Vermutung geht in eine etwas andere Richtung. Aufgrund einiger Journal-Notizen, auf die ich zurückkommen werde, vermute ich (trotz Haupt1

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Vgl. Bertolt Brecht, Die Maßnahme. Kritische Ausgabe mit einer Spielanleitung von Reiner Steinweg, Frankfurt a. M. 1972, S. 258 und ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlev Müller, Band 30, Berlin 1989–2000, S. 447 sowie 650. Vgl. Brecht, Werke, Band 30, S. 421 f. und 447. Vgl. ebd., S. 271. Vgl. Jan Knopf (Hg.), Brecht Handbuch in fünf Bänden, Band 1: Stücke, Stuttgart 2001, S. 264.

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manns Dementi), dass Brecht während des Zweiten Weltkriegs die totalitären Züge des Sowjetkommunismus wie seines Lehrstücks von 1930 erkannt hat und dass er deswegen die Aufführung der Maßnahme verboten hat, obwohl er im August 1956 gesagt haben soll, die Maßnahme repräsentiere die „Form des Theaters der Zukunft“.5 Abgesehen von einigen Liebhaberaufführungen im geschlossenen Kreis, gab es nach dem Verbot bis zum Jahr 1997 keine Aufführung. 1997 aber hoben Brechts Erben das Aufführungsverbot auf, und noch im selben Jahr wurde die Maßnahme durch das Berliner Ensemble inszeniert. Dem folgte 1998 eine Expertentagung im Berliner Brecht-Haus, die in einem 1999 publizierten Sammelband dokumentiert ist.6 Der Haupttitel heißt Maßnehmen, der Untertitel fügt hinzu: Kontroverse, Perspektive, Praxis. Insgesamt signalisiert der Titel, dass Reflexions- und Diskussionsbedarf bestand. Auf dieser Tagung habe ich einen Vortag mit dem Titel Die Maßnahme im Licht der Totalitarismustheorie gehalten.7 Die Resonanz war entschieden kritisch und überwiegend ablehnend, in einigen Punkten bedenkenswert, letztlich aber nicht entkräftend, wenigstens für mich nicht. Mein heutiger Vortrag ist ein Versuch, diese Debatte aufzugreifen und fortzuführen. Er gliedert sich in drei Teile: 1.) eine Skizze meiner Interpretation der Maßnahme, 2.) die kritischen Reaktionen und Entgegnungen, 3.) eine Erweiterung meiner These von 1998. Charakter und Inhalt der Maßnahme sind im Programmheft der Uraufführung von 1930 auf prägnante Weise beschrieben, vermutlich von Brecht selber. Der Text lautet: „Das Lehrstück Die Maßnahme ist kein Theaterstück im üblichen Sinne. Es ist eine Veranstaltung von einem Massenchor und vier Spielern. Den Part der Spieler haben bei unserer heutigen Aufführung, die mehr eine Art Ausstellung sein soll, vier Schauspieler übernommen. Aber dieser Part kann natürlich auch in ganz einfacher und primitiver Weise aufgeführt werden, und gerade das ist sein Hauptzweck. Der Inhalt des Lehrstücks ist kurz folgender: vier kommunistische Agitatoren stehen vor einem Parteigericht, dargestellt durch den Massenchor. Sie haben in China kommunistische Propaganda getrieben und dabei ihren jüngsten Genossen erschießen müssen. Um nun dem Gericht die Notwendigkeit dieser Maßnahme der Erschießung eines Genossen zu beweisen, zeigen sie, wie sich der junge Genosse in den verschiedenen politischen Situationen verhalten hat. Sie zeigen, dass der junge Genosse gefühlsmäßig ein Revolutionär war, aber nicht genügend Disziplin hielt und zuwenig seinen Verstand sprechen ließ, so dass er, ohne es zu wollen, zu einer schweren Gefahr für die Bewegung wurde. Der Zweck des Lehrstückes ist also, politisch unrichtiges Verhalten zu zeigen und da-

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Vgl. Brecht, Die Maßnahme, S. 265. Vgl. Inge Gellert/Gerd Koch/Florian Vaßen (Hg.), Maßnehmen. Bertolt Brechts/Hans Eislers Lehrstück Die Maßnahme. Kontroverse, Perspektive, Praxis, Berlin 1999. Vgl. ebd., S. 83–100. Eine kritische Replik darauf formuliert der folgende Beitrag von Gerd Koch: ders., Wie sich die Bilder gleichen. In: ebd., S. 100–114, wo meine These als „Totschlagargument“ (ebd., S. 108) bezeichnet wird.

Brechts und Eislers Maßnahme im Licht der Totalitarismus-Theorie

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durch richtigen Verhalten zu lehren. Zur Diskussion soll durch diese Aufführung gestellt werden, ob eine solche Veranstaltung politischen Lehrwert hat.“8

Der „Inhalt“ der Maßnahme wird in acht Szenen entfaltet, die ich kurz in Erinnerung rufen möchte. Erste Szene: Vier kommunistische Agitatoren, die von Moskau entsandt wurden, um in China die Revolution voranzutreiben, kommen an die chinesische Grenze und verlangen von der dortigen Partei einen Führer, der sie nach China bringt. Sie gewinnen dafür einen jungen Genossen, der bereit ist, die damit verbundenen Gefahren auf sich zu nehmen und auch die notwendige Disziplin aufzubringen. Es herrscht große emotionale Spannung, da zwischen den Erwartungen der Partei am Grenzort und den Absichten der Agitatoren große Differenzen bestehen. Die Auseinandersetzung bewegt sich aber in rituellen oder liturgisch klingenden Formeln, und das heißt: sie wird sowohl gezügelt als auch erhaben gemacht. Als Beispiel für den sprachlichen Gestus, der vorwaltet, sei das Bekenntnis der Moskauer Agitatoren zu den Klassikern angeführt: „Die drei Agitatoren. So ist es: wir bringen nichts für euch. Aber über die Grenze nach Mukden bringen wir den chinesischen Arbeitern die Lehren der Klassiker und der Propagandisten: das ABC des Kommunismus; den Unwissenden Belehrung über ihre Lage, den Unterdrückten das Klassenbewusstsein und den Klassenbewussten die Erfahrungen der Revolution. Von euch aber sollen wir ein Automobil und einen Führer anfordern.“9 Zweite Szene: In einer Art von Vergatterung wird den vier Agitatoren vom Leiter des Parteihauses deutlich gemacht, dass der Klassenkampf äußerste Radikalität verlangt: Jeder muss mit seinem Tod rechnen; jeder muss jeden töten können, auch jeden Genossen; jedes Mittel, jeder Betrug und jeder Verrat ist anzuwenden, wenn es nötig und nützlich zu sein scheint. Diese „gesellschaftliche Umfunktionierung“, wie dieser „Vorgang“ in Brechts Anmerkungen zur Maßnahme genannt wird,10 steht unter der Überschrift Die Auslöschung, weil von den Agitatoren in der Tat die Auslöschung ihrer Individualität einschließlich ihrer emotionalen Dispositionen und ethischen Einstellungen verlangt wird. Dritte Szene: Die Agitatoren befinden sich nun in China bei den Reiskahnschleppern, die bei schlechter Ernährung und schlechter Ausrüstung eine schwere und ausmergelnde Arbeit zu verrichten haben. Der junge Genosse versucht zu helfen und die Situation der Reiskahnschlepper zu verbessern, macht sich dadurch aber verdächtig und gefährdet, wie ihm von den andern Genossen bedeutet wird, die Vorbereitung der Revolution; denn nicht Mitleid und punktuelle Verbesserungen sind für die Reiskahnschlepper wirklich hilfreich und für die Vorbereitung der Revolution förderlich, sondern Agitation, die sowohl das Elend als auch den Ausweg der Revolution vollends deutlich werden lässt. Vierte Szene: Der junge Agitator macht aus Gerechtigkeitsgefühl einen zweiten Fehler und bringt dadurch die Kommunisten um die führende Rolle in einem Streik. Fünf8 Vgl. Brecht, Die Maßnahme, S. 237. 9 Ebd., S. 69. 10 Ebd., S. 240.

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te Szene: Der junge Agitator begeht einen weiteren schweren Fehler: Er will einen Kaufmann dazu bewegen, Waffen für die Kulis zu liefern, wird aber während der Verhandlung mit dem Kaufmann von einem solchen Ekel überfallen, dass er den Kaufmann beleidigt. Die Folge davon ist, dass die Waffen nicht in die Hände der Kulis gelangen. Sechste Szene: Es stellt sich die Frage, ob ein Generalstreik ausgerufen werden kann. Die Meinungen gehen auseinander: Der junge Agitator plädiert für den Streik, die anderen Agitatoren widersprechen unter Berufung auf die Partei. Dies führt zu einer Empörung des jungen Genossen, die so heftig ist, dass er für die Polizei kenntlich wird, was zur Folge hat, dass die Agitatoren die Flucht ergreifen müssen. Siebte Szene: Die Agitatoren werden verfolgt. Die Analyse der Lage zeigt, dass der junge Genosse, der als Agitator kenntlich geworden ist, spurlos verschwinden muss. Achte Szene: Die Agitatoren beraten. Ihr Beschluss lautet, dass der junge Genosse getötet werden und in eine Kalkgrube geworfen werden muss, damit er restlos zersetzt wird und also spurlos verschwindet. Vor der Liquidation wird er um Einverständnis gebeten, erteilt dieses, wird dann durch einen Kopfschuss getötet und in die Kalkgrube geworfen. Die Agitatoren können ihre Arbeit fortsetzen, und die Revolution in Mukden gelingt. Dieses Geschehen wird nach der Heimkehr der vier Genossen vor einem „Kontrollchor“ rekapituliert, und das heißt: im Sinne des epischen Theaters erzählerisch und szenisch vergegenwärtigt. Der Kontrollchor, der mit der kommunistischen Partei gleichzusetzen ist, fragt, untersucht, kommentiert, beurteilt und artikuliert die wichtigsten Erkenntnisse und Verhaltensmaximen in durchkomponierten Chorliedern wie dem Lob der Partei, mit dem der Chor sich in der sechsten Szene in den Streit unter den Agitatoren geradezu einmischt: „Lob der Partei Denn der Einzelne hat zwei Augen Die Partei hat tausend Augen. Die Partei sieht sieben Staaten Der Einzelne sieht eine Stadt. Der Einzelne hat seine Stunde Aber die Partei hat viele Stunden. Der Einzelne kann vernichtet werden Aber die Partei kann nicht vernichtet werden Denn sie ist der Vortrupp der Massen Und führt ihren Kampf Mit den Methoden der Klassiker, welche geschöpft sind Aus der Kenntnis der Wirklichkeit.“11

Insgesamt ist die Maßnahme ein Werk, das nach der Uraufführung mehrfach als „Oratorium“ bezeichnet12 und 1975 von Klaus Lazarowicz eine „Rote Messe“ genannt wurde,13 weil die Maßnahme, so Lazarowicz, einige formale Analogien 11 Ebd., S. 90. 12 Ebd., S. 329, 338, 362, 367, 374. 13 Vgl. Klaus Lazarowicz, Die Rote Messe: Liturgische Elemente in Brechts Maßnahme. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 16 (1975), S. 204–220.

Brechts und Eislers Maßnahme im Licht der Totalitarismus-Theorie

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zur katholischen Messfeier aufweist: das „Sündenbekenntnis“ oder „Confiteor“ des Anfangs, also die Mitteilung oder das Eingeständnis der Tötung des jungen Genossen; danach das „Gloria“ des Lobs der UdSSR, des Lobs der illegalen Arbeit und des Lobs der Partei; die (Ver-)Wandlung des jungen Genossen in der zweiten Szene; die Messe insgesamt als Wiederholung des Opfertods Christi mit Anspielungen auf die Passion, die sich ja auch in der Maßnahme finden, so in den Überschriften der Szenen 6, 7 und 8: Der Verrat, Die Verfolgung und Grablegung. Man kann darüber streiten, ob die von Lazarowicz genannten Analogien zwischen der katholischen Messfeier und der Maßnahme deren Bezeichnung als „Rote Messe“ legitimieren. Wahrscheinlich ist die von den Zeitgenossen der Uraufführung bereits gewählte Bezeichnung „Oratorium“, die auch von einem Teil der neueren Forschungsliteratur verwendet und favorisiert wird, angemessener. Aber wie dem auch sei – beide Benennungen verweisen darauf, dass es sich bei der Maßnahme um ein Stück handelt, das einen liturgisch-rituellen Charakter hat, also in Sprache, musikalischer Gestaltung und Inszenierung an religiöse oder kultische Manifestationen oder Feiern erinnert – was von Brecht und Eisler durchaus intendiert war. In den Anmerkungen zur Maßnahme von 1931 heißt es: „Indem die Musik, im Ganzen einen Brauch konstituierend, die Haltung des Kontrollchors nicht verändert, unterwirft sie rückwirkend auch die Rühmung des Anfangs ihrer allgemeinen Funktion, eine geschäftsordnende Haltung als eine heroische zu fixieren.“ Und: „Die Musik zum Teil II (Auslöschung) stellt einen Versuch dar, eine gesellschaftliche Umfunktionierung als heroischen Brauch zu konstituieren. Es ist denkbar, dass so etwas gefährlich ist, denn ohne Zweifel wirkt dadurch der Vorgang rituell, d. h. entfernt von seinem jeweiligen praktischen Zweck.“14 Was „rituell“ bedeutet, hat 1996 Wolfgang Braungart in seiner überaus umsichtigen Studie Ritual und Literatur zusammenfassend dargelegt. Die prägnanteste Bestimmung von Ritual, die Braungart in den einzelnen Kapiteln seiner Arbeit breit auffächert und verifiziert, lautet: „Beim Ritual wird (a) eine Handlung wiederholt. Diese wird (b) explizit gemacht und inszeniert, womöglich bis hin zu einer besonderen Festlichkeit und Feierlichkeit. Die rituelle Handlung ist selbstbezüglich (c) und zugleich (d) sozial funktional und in dieser Hinsicht kommunikativ. Ihre Teilnehmer sind Akteure und Zuschauer (e), die sich der Bedeutsamkeit des Rituals bewusst sind. Die rituelle Handlung wird schließlich (f) als ästhetisch ausgestalteter, expressiver, symbolischer Akt vollzogen. Dadurch hebt sich das Ritual von anderen [unbewussten oder rein pragmatischen] Wiederholungs-Handlungen ab.“15

Nun ist „rituell“ aber nicht gleich „totalitär“. Rituale können ganz unterschiedliche Zwecke und Wirkungen haben; sie müssen nicht unbedingt auf Vereinnahmung zielen, sondern können beispielsweise auch der Lossprechung von Aufsicht dienen und an das Selbstbewusstsein der Beteiligten appellieren. Damit Rituale einen totalitären Zug bekommen, also vereinnahmend, festlegend, ent14 Vgl. Brecht, Die Maßnahme, S. 240 f. 15 Vgl. Wolfgang Braungart, Ritual und Literatur, Tübingen 1996, S. 74.

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mündigend, autonomievernichtend, verdinglichend wirken, und damit, auf den hier zur Debatte stehenden Gegenstand bezogen, rituelles Theater totalitäres Theater wird, müssen zwei Faktoren hinzutreten: zum Ersten ein tendenziell oder tatsächlich totalitärer Inhalt, und zum Zweiten ein tendenziell oder tatsächlich totalitärer Kontext, in dem der totalitäre Inhalt wirken kann. Beides ist im Fall der Maßnahme gegeben: Vorgeführt wird die Rebellion eines Einzelnen gegen eine Partei, die gestützt auf die Lehre der Klassiker oder eine Doktrin und auf eine Fülle von Erfahrungen, alles besser weiß als jeder Einzelne und auch hier das anordnet, was zu Erfolg führt. Deswegen kann sie absoluten Gehorsam verlangen. Deswegen darf oder muss liquidiert werden, wer eine abweichende Meinung hat. Der einzelne hat Lebensrecht und genießt Wertschätzung nur, insofern er sich zum willenlosen Werkzeug der Partei macht. In einer früheren Fassung wurde dies am Ende der fünften Szene mit der Überschrift Was ist eigentlich ein Mensch? mit einer nicht zu überbietenden Brutalität und Drastik gesagt: „Wer bist du? Stinkend verschwinde aus Dem gesäuberten Raum! Wärest du Doch der letzte Schmutz, den du Entfernen musst!“16

Zu fragen bleibt nach dem Kontext: Deutschland 1929/31 war nicht schon totalitär; aber es gab Bewegungen oder Parteien, und die KPD gehörte dazu, die mit totalitären Suggestionen arbeiteten und Einstellungen forderten, die totalitären Bestrebungen entgegenkamen. Bei der KP trat hinzu, dass diese totalitären Suggestionen in der UdSSR realisiert zu sein schienen und dass es nur eine Frage der Zeit zu sein schien, bis sie auch in Deutschland realisiert sein konnten oder würden. Meine Einschätzung, dass die Maßnahme von totalitären Suggestionen beseelt ist und für sie warb, wird durch die Rezeption bestätigt. Von linker Seite gab es zwar viel Zustimmung, aber auch Kritik an Einzelheiten der dargestellten Agitation, vor allem aber an der Radikalität, mit der die Bereitschaft zur Selbstauslöschung verlangt und vorgeführt wird. Die oben zitierten Verse aus der „Versuche“-Fassung von 1930 wurden bei der Uraufführung weggelassen, weil sie bei den Sängern auf Ablehnung stießen.17 Mehrfach wurde von Kritikern gesagt, was in der Maßnahme vorgeführt werde, sei eine Verzerrung der Lehre der Klassiker und der Praxis der KPdSU; aber ebenso gut kann man – mit Ruth Fischer18 – sagen, dass es Enthüllung der stalinistischen Praxis war, und zwar in hypothetisch affirmativer Absicht: Wenn die „Auslöschung“ oder Liquidierung nicht richtig funktionierender Genossen nicht gleich umstandslos empfohlen und legitimiert wurde, so wurde sie zumindest doch als eine ernsthaft zu erwägende Möglichkeit vor Augen geführt. Dass von der Maßnahme ei16 Vgl. Brecht, Die Maßnahme, S. 55. 17 Vgl. Knopf (Hg.), Brecht Handbuch, Band 1, S. 256. 18 Vgl. Brecht, Die Maßnahme, S. 416 f.

Brechts und Eislers Maßnahme im Licht der Totalitarismus-Theorie

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ne totalitäre Suggestion ausging, zeigt sich im Übrigen auch darin, dass sie von mehreren Kritikern als ein faschistisches oder gar nationalsozialistisches Stück bezeichnet wurde. Zitiert sei eine besonders interessante Rezension, die unter dem Kürzel „A. E.“ am 15. Dezember 1930 im Berliner Tageblatt erschien. Es heißt darin: „Die Maßnahme – was für eine schöne Anleihe des Dichters Bert Brecht bei der scheußlichsten polizeilichen Büro-Sprache – ist die Tötung eines Genossen aus Gründen der kommunistischen (nationalsozialistischen) Parteitaktik oder Parteidisziplin. (Denn darüber, liebe Freunde, sind wir uns doch alle klar: dieser ganze Vorgang braucht statt des kommunistischen nur mit dem Vorzeichen des Hakenkreuzes versehen zu werden, und er läuft dann ganz genau so ab, nur heißt er dann: Fememord. Denn der Genosse würde auch ohne sein ‚Einverständnis‘ gekillt werden.)“19

Diese Verweise auf den Nationalsozialismus haben mich dazu veranlasst, eine Reihe von nationalsozialistischen Weihe- und Thingspielen, wie sie um 1933 entstanden, in vergleichender Absicht zu lesen.20 Und tatsächlich lassen sich inhaltliche, strukturelle und sprachliche Analogien feststellen: 1. Inhaltlich gesehen, stimmen die Brechtsche Maßnahme und NS-Dramen darin überein, – dass sie Klagelieder über die Not der Zeit, genauer: über das Unterdrücktsein einer bestimmten Gruppe, des Proletariats oder des Volks, anstimmen und Erlösung verlangen; – dass sie vom Glauben an die Erreichbarkeit oder Herstellbarkeit einer besseren Zukunft, speziell auch für diese Gruppen, erfüllt sind; – dass sie die verschiedenen Gruppen von Unzufriedenen und Rebellierenden dazu aufrufen, nicht gegeneinander, sondern miteinander zu marschieren; – dass sie die Trias von Kämpfen, Opfern und Siegen beschwören; – dass sie dem Tod für das Kollektiv einen Sinn zusprechen; – dass sie Avantgarden des Kampfes in ihrem heroischen Tun vor Augen führen; – dass sie eine unbedingte Hingabe an die Sache verlangen und die Abweichung davon als Vergehen auslegen; – dass sie die Avantgardisten des Kampfes in Situationen führen, in denen das „Blutopfer“ fällig ist; – dass sie einige traditionelle Tugenden wie Mitleid und Hilfsbereitschaft als Gefahr für das eigene kämpferische Ziel erscheinen lassen und diejenigen, die solchen Tugenden nachgeben, anstatt strikt die Weistümer der Sippe oder die Anweisung der Partei zu befolgen, dem Tod überstellen, also auf brutale Weise ausmerzen: In Eberhard Wolfgang Möllers Spiel Das Opfer (1941) muss eine Frau die Barmherzigkeit, die sie einem „fremdrassigen“ Kind entgegengebracht hat, durch das Opfer ihres eigenen Lebens büßen, und in Brechts Maßnahme ist ja die Unfähigkeit des jungen Genossen, die geschun19 Ebd., S. 334 f. 20 Vgl. die Titel in Kiesel, Die Maßnahme. In: Geller/Koch/Vaßen (Hg.), Maßnehmen, S. 83–100, hier 98.

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denen Kahnschlepper „ohne Mitleid“ sehen zu können, das erste Indiz für jenes disziplinarische Versagen, fast möchte man sagen: für jene konstitutionelle Minderwertigkeit, welche die anderen Agitatoren zu seiner Liquidierung veranlasst (im Sinne des Stücks: zwingt und berechtigt). 2. In struktureller Hinsicht stimmen Brechts Maßnahme und einige der NSSpiele darin überein, – dass sie die Aktivitäten einer kämpferischen Avantgarde durch eine übergeordnete Instanz beobachten und bewerten lassen, – seien dies nun die Repräsentanten der Partei oder die mythischen „Mütter“, – und dass unter ihren Augen das Spiel zum Tribunal wird, – zu einem Tribunal freilich, das nicht der unvoreingenommenen prozessualen Untersuchung und Beurteilung eines Sachverhalts dient, – sondern der rituellen Inszenierung eines Vergehens und der entsprechenden Sanktion. Uwe-Karsten Ketelsen, der 1970 eine umsichtige Arbeit über die Dramatik des Dritten Reiches vorgelegt hat, sieht im Gerichtscharakter ein Hauptmerkmal des Thingspiels: „In ihm soll das Volk über sich selbst zu Gericht sitzen, sich selbst kultisch erleben. Handlung hat deswegen exemplarischen Charakter [...] Die Sprecherfiguren tragen ihre Qualitäten plakativ an die Brust geheftet: der Heimkehrer, der Kämpfer, der Schwankende, der Opfernde. Chöre, oft riesigen Ausmaßes, formulieren, mit Gruppen- und Einzelsprechern abwechselnd, die Sentenzen, die negativen wie positiven Haltungen.“ Der Ausgang dieser Auseinandersetzungen ist aber nicht offen, vielmehr ist „das Ergebnis aus der ideologischen Voreingenommenheit bereits im Voraus entschieden“.21 In der Maßnahme ist dies kaum anders: Das Stück lässt zwar den Eindruck entstehen, dass die Tötung des jungen Genossen vor einer souveränen oder doch wenigstens distanzierten und kritischen gerichtlichen Instanz ausgebreitet und verantwortet werden müsse. Aber ganz abgesehen davon, dass es sich bei diesem Kontrollchor nicht etwa um ein unabhängiges Gericht handelt, sondern um ein Organ der Partei, wird bald deutlich, dass der Kontrollchor einer Meinung mit denjenigen ist, die den jungen Genossen getötet haben. Die Leitvokabel des Stücks, die vom Kontrollchor gleich im dritten Satz ausgegeben und danach immer wieder beschworen wird, lautet „einverstanden sein“: einverstanden mit dem „Vortrupp“ der Massen und der Revolution. Konsequenterweise verzichtet der Kontrollchor am Ende der fünften Szene auch darauf, untersuchend und urteilend tätig zu werden: „Lange nicht mehr“, so lässt der Chor die Täter wissen, „hören wir euch zu als/Urteilende. Schon/Als Lernende.“22 Das ist freiwillige Gleichschaltung der Kontrollinstanz an die Täter; auch hier geht es nicht um eine im Ergebnis offene gerichtliche Ermittlung, sondern um die Inszenierung einer Verfehlung und ihrer notwendigen Ahndung. Kurz: 21 Vgl. Uwe-Karsten Ketelsen, Von heroischem Sein und völkischem Tod. Zur Dramatik des Dritten Reiches, Bonn 1970, S. 340 f. 22 Vgl. Brecht, Die Maßnahme, S. 85 f.

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Wie das Thingspiel zeigt auch die Maßnahme kein Gerichtsverfahren, das einer im Ausgang offenen Ermittlung einer verborgen Wahrheit dient, sondern reproduziert die Konfessions- und Reinigungsrituale von Bewegungen mit revolutionären und zugleich totalitärem Anspruch. 3. In formaler und sprachlicher Hinsicht gleichen sich Brechts Maßnahme und die meisten NS-Spiele darin, dass sie – mit Chören arbeiten, – Musik einsetzen, – verschiedene Äußerungsformen wie Rezitativ, Diskussion, Sprechchor, Litanei und dergleichen mehr kombinieren, – partienweise eine formelhafte und zum Teil sakral oder liturgisch klingende „hohe“ Sprache verwenden und dies durch die Wiederholung der entsprechenden Segmente auch deutlich machen, – insgesamt den Charakter eines szenischen Oratoriums annehmen. In der zeitgenössischen Rezeption wurde kaum ein anderer Begriff so häufig zur Charakterisierung der Maßnahme verwendet wie der Begriff des „Oratoriums“, und natürlich fand er auch Anwendung auf die NS-Spiele. Das ist, wie ich betonen möchte, keine Nebensächlichkeit; es verweist vielmehr auf eine Gemeinsamkeit nicht nur der hier verglichenen Stücke, sondern auch der dahinterstehenden Ideologien: auf ihre Affinität zu Religionen und ihre Neigung, zur Verkündung und Inszenierung ihrer ideologischen Botschaft kirchliche Rituale auszubeuten.23 4. In wirkungsästhetischer Hinsicht gleichen sich Brechts Maßnahme und die meisten NS-Spiele darin, dass sie – nicht oder nicht nur Spiele vor einem Publikum sein wollen, – sondern ein Spiel für alle Anwesenden: Brechts Maßnahme sollte, wie Brecht selber präzise sagte, idealiter „eine Veranstaltung von einem Massenchor und vier Spielern“ sein,24 also möglichst ohne Publikum stattfinden, oder aber, wie Eisler sagte, den Konzertsaal in einen „politischen Schulungskurs“, d. h.: in ein „politisches Seminar“ oder „Meeting“, verwandeln.25 Auch viele NS-Spiele waren so angelegt, dass das Spiel zur Kundgebung wurde, über die oft schon riesige Zahl der Akteure und Choristen hinausgriff und die Zuschauer zu Mitwirkenden machte. Insgesamt kann man unter formalem Aspekt sagen, dass sowohl die Maßnahme als auch die meisten NS-Spiele mit kultischen oder liturgischen Formen arbeiten und einen ausgesprochen rituellen Charakter aufweisen. In beiden Fällen ist dies gewollt und theoretisch reflektiert: Brecht und Eisler stellten 1931 23 Vgl. dazu Hans Maier (Hg.), „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs, 3 Bände, Paderborn 1996–2003. 24 Vgl. Brecht, Die Maßnahme, S. 237. 25 Vgl. Klaus-Dieter Krabiel, Brechts Lehrstücke: Entstehung und Entwicklung eines Spieltyps, Stuttgart 1993, S. 182 f. und 392.

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in ihren Anmerkungen zur Maßnahme ja ausdrücklich fest, dass die „Musik zum Teil II (Auslöschung)“ einen „Versuch“ darstellte, einen „heroischen Brauch zu konstituieren“, und dass dies zweifellos „rituell“ wirke.26 Dergleichen Überlegungen finden sich auch bei den Theoretikern des nationalsozialistischen Thingspiels: Das Thingspiel ist ihnen „völkische Liturgie“ und „kultische Handlung“, die ihre Bedeutung und Wirkungskraft daraus zieht, dass sie das „Blutopfer“ als die heroische und glanzvolle Unterstellung des Individuums unter das Kollektiv feiert. Meine Ausführungen haben Kritik hervorgerufen, die vor allem vier Punkte betraf: Erstens wurde mir entgegengehalten: In Brechts Maßnahme fehlt der totalitäre Kontext: Die vorgeführte Maßnahme ist nicht die Maßnahme eines totalitären Staats, sondern einer revolutionären Gruppe. Dies ist zuzugeben! Aber doch ist die Liquidierung des jungen Genossen auch eine Maßnahme, die im Sinne einer totalitären Organisation – der KPdSU – ist und von ihr gerechtfertigt wird! Zudem ist Totalitarismus – nach Kershaw – nicht statisch, sondern prozessual zu denken: nicht gleich als Zustand, sondern als ein revolutionär wirkender Prozess der Annäherung an die Utopie der völlig gleichgeschalteten Gesellschaft.27 Von Totalitarismus ist nicht erst da zu reden, wo er maximal verwirklicht ist, sondern auch schon da, wo eine totalitäre Gesinnung handlungsmächtig wird und das politische Klima zu bestimmen beginnt. Zweitens wurde gesagt: Die Maßnahme ist kein Thingspiel, sondern ein Lehrstück! Es wird keine Doktrin verkündet, sondern ein Problem zur Diskussion gestellt. Auch dies ist zuzugeben. Als ein Stück Literatur, das zur Reflexion einlädt, kann die Maßnahme auch „gegen den Strich“ gelesen werden, kann Kritik an ihren totalitären Suggestionen hervorrufen, zumal in einem nicht-totalitärem Kontext. Ich zweifle aber sehr daran, dass es Brechts Absicht war, Kritik an den totalitären Suggestionen zu provozieren. Im Programmheft von 1930 heißt es ja doch ausdrücklich: „Der Zweck des Lehrstückes ist also, politisch unrichtiges Verhalten zu zeigen und dadurch richtiges Verhalten zu lehren. Zur Diskussion soll durch diese Aufführung gestellt werden, ob eine solche Veranstaltung politischen Lehrwert hat.“28 Damit ist zweierlei gesagt: Erstens: Das Lehrstück ist keineswegs eine offene Diskussionsvorlage, sondern vermittelt eine Lehre. Klassiker und Partei werden gerechtfertigt und beglaubigt, weil sie siegreich sind. Der abweichende Genosse musste geopfert werden, weil er durch seine falsche ethische Einstellung (Mitleid, Gerechtigkeit), durch seine Selbstachtung und durch seine Disziplinlosigkeit die Einleitung der Revolution gefährdet hat. Der Erfolg der übrigen Agitatoren rechtfertigt seine Liquidierung. Zweitens: Zu diskutieren ist nicht über diese Lehre, sondern darüber, ob das Lehrstück zu ihrer Vermittlung taugt. 26 Vgl. Brecht, Die Maßnahme, S. 240 f. 27 Vgl. Ian Kershaw, Nationalsozialistische und stalinistische Herrschaft: Möglichkeiten und Grenzen des Vergleichs. In: Eckhard Jesse (Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Baden-Baden 1996, S. 213–222, hier 222. 28 Vgl. Brecht, Die Maßnahme, S. 237.

Brechts und Eislers Maßnahme im Licht der Totalitarismus-Theorie

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Drittens wurde gesagt, dass meine „realistische Lesart“ den Demonstrationscharakter der Maßnahme total verfehle: In der Maßnahme werde nicht wirklich getötet und gestorben, sondern nur davon erzählt und nur Entsprechendes wiederholend dargestellt. Dergleichen liest man auch in der neuesten Forschungsliteratur.29 Formallogisch ist dies natürlich richtig: Niemand wird auf der Bühne umgebracht! Aber es ist doch auch unstreitig, dass eine Liquidation vorgeführt wird, von deren Wirklichkeit wir auszugehen haben, wie wir auch davon auszugehen haben, dass der ganze geschilderte Vorgang Wirklichkeitscharakter haben soll. Wie anders wollte denn Theater „politisch unrichtiges Verhalten“ zeigen, um „richtiges Verhalten“ zu lehren! Und worüber würde denn sonst mit solchem Aufwand verhandelt! Auch das epische Theater und auch das Lehrstück ist mimetisches Theater, das eine zumindest mögliche Wirklichkeit als tatsächliche vor Augen führt, auch wenn der Demonstrationscharakter hervorgekehrt und die Illusionsbildung immer wieder unterbrochen wird. Ein vierter Einwand betraf die mir unterstellte Vernachlässigung der Musik: Es wurde gesagt, dass die von mir als affirmativ bezeichnete Rekapitulation der Liquidation des jungen Genossen durch Passions- oder Trauermusik konterkariert werde, speziell durch die Anklänge an Bachs Matthäuspassion im Vorspiel.30 Dazu ist zweierlei zu bemerken: Erstens: Die Anklänge an die Bach’sche Passionsmusik halten sich sehr in Grenzen: Im Kern umfassen sie nicht mehr als vier Takte (71–75). Und im Übrigen überwiegt der Propaganda- und Siegeston der Partei, der oft im dreifachen „forte“ erklingt. Der Grundgestus der Maßnahme-Musik ist nicht Trauer oder Klage, sondern Kampfbereitschaft und Triumph, „erhabene Größe und eherne Festigkeit“.31 Zweitens: Opferung und Klage darüber, Liquidation eines Genossen und Trauer darüber schließen sich nicht aus, sondern gehören zusammen. Krieg und Revolution verlangen Opfer; diese müssen gebracht werden – und sind dann zu betrauern, und zwar nicht der Geopferten wegen (die nichts mehr davon haben), sondern der Hinterbliebenen, der Verantwortlichen, der Täter wegen: Auch die feiernde Trauer des Opfers ist ein identitäts- oder gemeinschaftsstiftender Akt, wie ihn gerade die Totalitarismen brauchten. Nicht umsonst spielt der Toten- oder Opferkult im Nationalsozialismus und im Kommunismus eine beträchtliche Rolle.32 Ich fasse zusammen und erweitere meine Ausführungen um einige Bemerkungen zu dem Aufführungsverbot, das Brecht 1956 ausgesprochen hat: Erstens: Die Maßnahme zeigt eine Handlung, die für revolutionär-totalitäre Bewegungen (Kershaw) als typisch gelten darf: indem sie die Unbedingtheit ih29 Vgl. Knopf, Bertolt Brecht, Stuttgart 2000, S. 141, 143. 30 Vgl. Gerd Rienäcker, Musik als Agens. In: Gellert/Koch/Vaßen (Hg.), Maßnehmen, S. 180–189. 31 Vgl. Brecht, Die Maßnahme, S. 216. 32 Vgl. dazu Saul Friedländer, Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, München 1986, sowie Rainer Grübel, Die Ästhetik des Opfers bei Brecht und in der russischen Literatur der 20er und 30er Jahre. In: Therese Hörnigk / Alexander Stephan (Hg.), Rot = Braun? Nationalsozialismus und Stalinismus bei Brecht und Zeitgenossen, Berlin 2000, S. 153–181.

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res Anspruchs auf Weltveränderung und Weltbeherrschung auf den Punkt bringt, an dem sozusagen der Offenbarungseid zu leisten ist. Zweitens: Die Maßnahme zeigt eine totalitäre Lösung (Liquidation des von der Parteilinie abweichenden jungen Genossen) und schreibt ihr Erfolg zu (Fortschritt der Revolution). Sie wirkt dadurch affirmativ zu der vergegenwärtigten Liquidation und hat mithin eine totalitäre Tendenz. Drittens: Ich vermute, dass Brecht die negativen Implikationen der Maßnahme in den 40er Jahren bemerkt oder stärker empfunden hat und dass er deswegen Aufführungen untersagt hat. In Brechts Journal aus der Zeit des amerikanischen Exils finden sich zwei Eintragungen, die Brecht gleichsam als einen Avantgardisten der Totalitarismus-Theorie erscheinen lassen.33 Am 27. Oktober 1941 notierte Brecht: „Korsch schickt einige Aufsätze in Living Marxism. In einem davon gibt er einen kurzen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Monopolisierung der USA, der gegenüber tatsächlich die demokratischen Prinzipien keinerlei Funktion mehr haben können. In gewisser Hinsicht treten die Ähnlichkeiten der beiden großen Bewegungen Faschismus und Bolschewismus, welche den planwirtschaftlichen Tendenzen entsprechend die neuen autoritären Staatsgebilde geschaffen haben, mehr hervor als ihre Unähnlichkeiten. Da sind die allmächtigen Parteien, sowohl in den Parlamenten als auch mit zivilen Militärformationen arbeitend, die revolutionären Formen, die Hierarchien, die Polizeisysteme, Jahrespläne, Propagandamethoden, Jugendmilitarisierungen, Mythen, kommandierten Preise, Terrorwellen usw. usw., aber da sind auch ganz verschiedene Klassen, in deren Auftrag die Zentralisierung der Wirtschaft durchgeführt wird (was diesen verschiedenen Klassen allerhand kostet). Möglich, dass die faschistische Konterrevolution dem Proletariat da eine sehr trübe Phase erspart, indem sie sie erledigt (im Doppeltsinn). Das alles machen besser Korporationen als Räte. Schade, dass Karl Korsch das nicht zu sehen scheint!“34

Und am 19. Juli 1943 notierte er: „Souvarines niederdrückendes Buch über Stalin gelesen. Die Umwandlung des Berufsrevolutionärs in den Bürokraten, einer ganzen revolutionären Partei in einen Beamtenkörper gewinnt durch das Auftreten des Faschismus tatsächlich eine neue Beleuchtung. Das deutsche Kleinbürgertum borgt sich für seinen Versuch, einen Staatskapitalismus zu schaffen, gewisse Institutionen (samt ideologischem Material) vom russischen Proletariat, das versucht, einen Staatssozialismus zu schaffen. Im Faschismus erblickt der Sozialismus sein verzerrtes Spiegelbild. Mit keiner seiner Tugenden, aber allen seinen Lastern.“35

Als die „Laster“ des einstigen „Berufsrevolutionärs“ und nachmaligen totalitären „Bürokraten“ 13 Jahre später durch Chruschtschow aufgedeckt wurden, notierte Brecht: „Der Ausbruch aus der Barbarei des Kapitalismus kann selber noch barbarische Züge aufweisen.“36 Diese barbarischen Züge werden in der 33 Den Hinweis darauf verdanke ich Manfred Lauermann, Horkheimer und der Totalitarismus: eine eigentümliche Distanz. In: Hörnigk/Stephan (Hg.), Rot = Braun?, S. 47– 73, hier 55 f. 34 Vgl. Brecht, Werke, Band 27, S. 20. 35 Ebd., S. 158. 36 Vgl. Brecht, Werke, Band 23, S. 417.

Brechts und Eislers Maßnahme im Licht der Totalitarismus-Theorie

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Maßnahme widergespiegelt, und das konnte für Brecht nicht mehr die reine Freude sein. Hatte er doch 1948 in seiner theatralischen Programmschrift, im Kleinen Organon für das Theater geschrieben (§ 33): „Das Theater, wie wir es vorfinden, zeigt die Struktur der Gesellschaft. [...] Menschenopfer, allerwege! Barbarische Belustigungen! Wir wissen, dass die Barbaren eine Kunst haben. Machen wir eine andere!“37 Viertens: Trotzdem gehört die Maßnahme in den Kanon der dramatischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Sie ist ein Kunstwerk von klassischem Rang und zugleich das beste Lern[!]stück in Sachen Totalitarismus, das es gibt: Sie enthüllt das Wesen von Totalitarismen, die totale Verfügung über den Menschen, kulminierend in seiner Auslöschung. Sie ist großartig, weil sie in der Widerspiegelung und Verdichtung der Zeit, sachliche Unbedingtheit mit künstlerischer Wucht verbindet. Sie macht durch ihre Ästhetik die Faszination der totalitären Suggestionen erfahrbar, aber sie bedeutet für das Publikum, das sie heute erreichen kann, keine Versuchung mehr.

37 Ebd., S. 78.

Herrscherkult und Politische Religion als Erklärungsmodell gelegenheitslyrischen „Schaffens“/„Schrifttums“ im Rahmen der „sozialistischen deutschen Nationalliteratur“ und der „nationalsozialistischen deutschen Literatur“ Hans Jörg Schmidt

1.

Untersuchungsansatz

Hannah Arendt betont in ihrer Studie über Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, dass es „gut wäre, wenn man sich daran erinnerte, dass Autorität ursprünglich an Religion (im römischen Sinne) und Tradition gebunden ist“1. Die Mitbegründerin der Totalitarismustheorie spricht sogar von der „Trinität von Religion-Tradition-Autorität“2. Sie gilt es am Übergang von der Stufe der autoritären zu der Form der totalitären Herrschaft zu beachten.3 Mit der Trias Tradition, (römische) Religion und Autorität/Totalität sind zugleich die untersuchungsleitenden Gesichtspunkte benannt, auf die sich der Vortrag über gelegenheitslyrisches Schaffen im Rahmen der sozialistischen deut-

1 2 3

Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 9. Auflage München 2003, S. 842. Ebd. Gradmesser für die Unterscheidung zwischen Autorität und Totalität ist der Umgang mit Freiheit. Im autoritären System ist Freiheit im Sinn der Möglichkeit spontanen Handelns lediglich eingeschränkt, im totalen/totalitären System hingegen ist sie eliminiert (Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 843); aus philosophischer Sicht zu „Totalität“ und „Totalitarismus“ als „verschiedene Begriffe des Allgemeinen“ Renate Wahsner, Totalität und Totalitarismus: verschiedene Begriffe des Allgemeinen. Vortrag, gehalten auf dem XX. Internationalen Hegel-Kongress in Debrecen vom 24.-27. August 1994, Berlin 1994. Florian Raunig erachtet aus polithistorischer Perspektive eine Differenzierung von „total“ und „totalitär“ als unnötiges „Scheinproblem“, da beide für die Ausübung einer Monopolherrschaft stünden; vgl. ders., Herrschaft ohne Grenzen? Der individuelle Freiraum als Parameter totalitärer Herrschaft, Münster 1996, S. 25–28. Eine Antwort auf die Frage „Was heißt totalitär?“ gibt Jürgen Gebhardt in der Zeitschrift Totalitarismus und Demokratie (ders., Was heißt totalitär? In: Totalitarismus und Demokratie, 1 [2004] Heft 2, S. 167–182).

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Hans Jörg Schmidt

schen Nationalliteratur4 respektive über gelegenheitslyrisches Schrifttum im Rahmen der nationalsozialistischen deutschen Literatur5 bezieht.6 Das Hauptargument der Überlegungen ist dasjenige der Quantität. Qualität, mithin Ästhetik, ist, es sei denn man wollte in Anlehnung an Saul Friedländer einen massenphänomenalen Konnex zwischen Kitsch und Tod als Signatur totalitärer Kunst hervorheben,7 für die zu untersuchenden versgebundenen Texte irrelevant.8 Die Anzahl der empirisch nachweisbaren kleinen und großen Gesänge9 sowie einfacher und gewundener Lobhudeleien10 ist Legion. Für heutige Leser wirken Anthologien und Einzelwerke über die geglaubten Eigenschaften der (An-)Führer der Großideologien des 20. Jahrhunderts befremdlich, wennschon nicht erheiternd.11 Doch schärfen sie in ihrer Schlichtheit und Fülle den Blick auf wesentliche Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.

4

Vgl. zur Konstituierung einer solchen z. B. Bruno Kaiser, Vorwort. In: Manfred Häckel (Hg.), Gedichte über Marx und Engels, Berlin (Ost) 1963, S. IX f. und die Einleitung von Manfred Häckel, ebd., bes. S. XXI. 5 Vgl. zur Konstituierung einer solchen z. B. Heinz Kindermann (Hg.), Des deutschen Dichters Sendung in der Gegenwart. Mit einem Geleitwort von Staatskommissar Hans Hinkel, Leipzig 1933; zu Gestalt und Theorie der NS-Literatur auch Sander L. Gilman (Hg.), NS-Literaturtheorie mit einem Vorwort von Cornelius Schnauber. Eine Dokumentation, Frankfurt a. M. 1971; Uwe-K. Ketelsen, Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literatur in Deutschland 1890–1945, Stuttgart 1976, bes. S. 79–105; Klaus Vondung, Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literaturtheorie, München 1973. 6 Die Bezeichnungen sind bewusst gewählt, da hier die These vertreten wird, dass, trotz der ideologischen Ferne der zugrunde liegenden großen Ideen des Sozialismus und des Nationalsozialismus, von weitreichenden Strukturparallelen in der Methodik zur Zielerreichung ausgegangen werden muss. „Schaffen“ und „Schrifttum“ als spezifische Produkte der jeweiligen ästhetischen Vorstellungen signalisieren die Distanz zum Literaturbegriff. 7 Vgl. Saul Friedländer, Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, München 1986. 8 Eine andere Meinung vertritt Albrecht Schöne in seiner Abhandlung über politische Lyrik im 20. Jahrhundert. Er spricht Brechts systemlegitimatorischer Dichtung eine gesonderte Geltung zu; vgl. ders., Über politische Lyrik im 20. Jahrhundert. Mit einem Textanhang, Göttingen 1965 und den zugrunde liegenden Vortrag mit dem Titel Zur politischen Lyrik im 20. Jahrhundert, Göttingen 1965. 9 Vgl. Gerd Koenen, Die großen Gesänge. Lenin, Stalin, Mao, Castro ... Sozialistischer Personenkult und seine Sänger von Gorki bis Brecht – von Aragon bis Neruda, Frankfurt a. M. 1987. 10 Im Zusammenhang mit der Gelegenheitsdichtung wird gerne von „Lobhudeleien“ gesprochen; z. B. ist in der Einleitung zu der Sammlung Gedichte über Marx und Engels zu lesen: „Diesem verlogenen Patriotismus der Bourgeoisie und ihrer Lobhudelei auf die Politik blutiger Eroberungen gegenüber sind die einfachen Verse der Arbeiter von wohltuender Bescheidenheit und vor allem von wahrhaft nationalem Empfinden.“ (Manfred Häckel, Einleitung. In: ders. [Hg.], Gedichte, S. XXI). 11 Vgl. Gerhard Hay, Religiöser Pseudokult in der NS-Lyrik am Beispiel Baldur v. Schirach. In: Hansjakob Becker/Rainer Kaczynski (Hg.), Liturgie und Dichtung. Ein interdisziplinäres Kompendium I. Historische Präsentation, St. Ottilien 1983, S. 855–863, hier 856.

Herrscherkult und Politische Religion

2.

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Zum Element der Tradition

Es bedarf nur weniger gattungshistorischer und -theoretischer Überlegungen zur Gelegenheitslyrik, um zu erweisen, dass sie erstens auf ein langanhaltendes Traditionsreservoir zurückgreifen kann und zweitens einen Bezug zu Autorität qua Amt oder Leistung hat. Gelegenheitslyrik soll hier selbstverständlich nicht im Goethe’schen Begriffsverständnis gebraucht werden. Johann Wolfgang von Goethe hatte aus der Retrospektive des Jahres 1821 angemerkt, dass alle seine Gedichte Gelegenheitsgedichte seien.12 Diese umfassende Bestimmung habe, wie Wulf Segebrecht in Anlehnung an die herkömmliche Trennung hoher und trivialer Literatur formuliert, wesentlich zu der begrifflichen Vermengung des edelsten lyrischen Kunstwerks mit dem beiläufigsten und erbärmlichsten Machwerk beigetragen.13 Ob Goethe auch noch hierfür verantwortlich gemacht werden muss, sei freilich dahingestellt. Vielmehr lässt sich ein objektiver Unterschied zwischen beiden Begriffsauffassungen feststellen. Das differenzierende Moment ist im Bekanntheitsgrad der in Gedichtform gebrachten Gelegenheit zu sehen. Bei Goethe’scher Gelegenheitslyrik handelt es sich um individuelle Erlebnis-Dichtung, die „im unmittelbaren Anschauen irgendeines Gegenstandes verfasst worden“ ist.14 Ihr Anlass ist aufgrund der Unmittelbarkeit des Eindrucks nicht im Voraus intersubjektiv nachvollziehbar. Bei den hier zu behandelnden Dichtungen ist die auslösende Gelegenheit hingegen deutlich markiert. Gedichttitel wie 12. September 1938. Der Führer spricht15 oder 5. März 1953, 21.50 Uhr16 sind keine Seltenheit. Zudem treten in der politisierten Gelegenheitslyrik außerkünstlerische Ziele in einem literarisierten Gewand auf.17 Bestimmte Anlässe werden je nach Absehbarkeit vorab topisch überhöht oder im Nachhinein 12 Johann Wolfgang von Goethe, Rezension zu: Über Goethes Harzreise im Winter. Einladungsschrift von Dr. Kannegießer, Rektor des Gymnasiums zu Prenzlau. Dezember 1820. In: ders., Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band 1: Gedichte und Epen I. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz, 16. Auflage München 1996, S. 392–400, hier 393. 13 Vgl. hierzu Wulf Segebrecht, Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Mit 15 Abbildungen, Stuttgart 1977, hier Vorwort. 14 Goethe, Rezension, S. 393. 15 Bruno Brendel, 12. September 1938. Der Führer spricht. In: ders., Heim ins Reich. Lieder eines Sudetendeutschen, Reichenberg 1939. 16 Kuba (Kurt Barthel), 5. März 1953, 21.50 Uhr. In: Neue Deutsche Literatur, 1 (1953) Heft 4, S. 14. 17 Vgl. Walter Hinderer, Versuch über den Begriff und die Theorie politischer Lyrik. In: ders. (Hg.), Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland, Stuttgart 1978, S. 9–42. Er stützt seinen „Versuch“, wie die meisten Arbeiten hierzu, auf die Einlassungen von Adorno, Brecht und Enzensberger; weiterhin z. B. Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Politische Lyrik = Text + Kritik, (Juni 1973) Heft 9/9a; Alwin Binder, Kategorien zur Analyse politischer Lyrik. In: Der Deutschunterricht (Stuttgart), 24 (1972) Heft 2, S. 26–45; Ingrid Girschner-Woldt, Theorie der modernen politischen Lyrik, Berlin (West) 1971; Peter Schneider, Politische Dichtung. Ihre Grenzen und Möglichkeiten. In: Der Monat, 17 (1965), S. 68–77; Schöne, Über politische Lyrik im 20. Jahrhundert; Peter Stein (Hg.), Theorie der Politischen Dichtung. Neunzehn Aufsätze, München 1973; Benno von Wiese, Politische Dichtung Deutschlands, Berlin 1931.

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literarisch stilisiert. Sie sind bei der Lektüre unmittelbar erschließbar. Es handelt sich daher um sozialhistorisch bedeutsame gesellschaftliche Erscheinungsformen der Dichtung.18 Sie thematisieren einschneidende Ereignisse im Leben der Menschen und der durch sie konstituierten Gemeinschaft, wie beispielsweise Geburt, Geburtstag, Taufe, Hochzeit, Amtsantritt, Abschied/Abreise, Begrüßung/Rückkehr, Genesung, Jubiläum, Krönung, Sieg, Huldigung, Tod, Begräbnis, Neujahr, Einweihung, Widmung/Geschenk, Dank und desgleichen.19 Der Ursprung einer kollektiv ausgerichteten Gelegenheitslyrik liegt einerseits in der panegyrischen Dichtung (Panegyrikos, Eloge), die zumeist auftragsgestützt einem Funktionsinhaber zuteil wurde, und andererseits in der Abfassung von Lob- und Siegesgedichten (Enkomion, Epinikon), die stärker auf den Aspekt der erworbenen Leistung abzielt.20 Ihre Tradition gründet in der religiös-kultische Züge annehmenden Verehrung von Herrschern und Heroen.21 Bei den Textproduzenten ist zwischen Berufsschreibern und Schreibern aus Berufung zu unterscheiden. Auf die Ergebnisse der Schreibtätigkeit bezogen wird vorgeschlagen, zwischen panegyrischen und admirativen versgebundenen Texten zu differenzieren. Es dürfte einsichtig sein, dass in den meisten Fällen diese beiden Gruppen herrschaftslegitimatorischer Dichtung schwer voneinander abzugrenzen sind. Der angesprochene Leserkreis ist, wie die Auflagenzahlen einzelner Sammlungen oder die Veröffentlichungen in auflagenstarken Zeitungen andeuten, korrelierend mit dem Totalitätsanspruch der zugrundeliegenden Weltanschauungen, die Masse. Baldur von Schirachs Gedichtsammlung Die Fahne der Verfolgten 22 erfuhr innerhalb von zehn Jahren eine Auflage von etwa 100 000 Exemplaren.23 Gegen die mit Gelegenheitsdichtungen anlässlich des Führergeburtstages von 1941 gespickte Tornisterschrift, mit der die Soldaten der Wehrmacht in den Zweiten Weltkrieg zogen, nimmt sich diese Auflagenzahl nachgerade bescheiden aus.24 Durch den Abdruck einzelner Reimerzeugnisse in systemstützenden Presseorganen wie dem Völkischen Beobachter oder dem Neuen Deutschland erreichten sie eine Millionenauflage. Dichtung wurde als Massen-Erbauungs-Waffe25 im Kampf der Ideologien eingesetzt.26 Manfred 18 Vgl. für die literaturhistorische, -soziologische und ideologiekritische Funktion von Hitler-Gedichten Stefan H. Kaszyński, Hitler-Gedichte neu gelesen. In: Hubert Orłowski/ Günter Hartung (Hg.), Traditionen und Traditionssuche des deutschen Faschismus. 4. Protokollband, Poznań 1992, S. 179–186. 19 Vgl. hierzu den Artikel „Gelegenheitsgedicht“. In: Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, 8. Auflage Stuttgart 2001, S. 301. 20 Vgl. hierzu die entsprechenden Lemmata mit weiterführender Literatur und Verweisen z. B. in Wilpert, Sachwörterbuch. 21 Vgl. hierzu z. B. Kap. 9 „Helden und Herrscher“. In: Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 11. Auflage Tübingen 1993, S. 176–186. 22 Vgl. Baldur von Schirach, Die Fahne der Verfolgten, München 1933. 23 Die Angabe über die Auflagenzahl stammt von Hay, Religiöser Pseudokult. In: Becker / Kaczynski (Hg.), Liturgie und Dichtung, S. 862. 24 Vgl. August Friedrich Velmede (Hg.), Dem Führer. Worte deutscher Dichter. Zum Geburtstag des Führers, o. O. 1941. 25 Dieser Ausdruck als ideelles Komplement zu den Massen-Vernichtungs-Waffen. 26 Vgl. hierzu den Beitrag von Petra Tallafuss in diesem Band.

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Häckel betont im Vorwort einer 1963 im Akademieverlag erschienenen Sammlung frühsozialistischer Gelegenheitsdichtungen: „Ihre Schöpfer wie ihre Leser verstanden die Verse in erster Linie als Kampfparolen für die Sache des Proletariats, als Beiträge zur Auseinandersetzung des Sozialismus mit dem Kapitalismus und erst in zweiter Linie als Dichtungen.“27 Der dem Nationalsozialismus wohlgesonnene Max Reuschle rückte das „echte“ lyrische Gedicht in innerliche Nähe zu „dem Geiste religiöser Gemeinschaft und Bindung“, den Hugo von Hofmannsthal in seiner Schrifttumsrede28 bereits einige Jahre zuvor als prägendes Element der Zeit ausgemacht hatte.29 Wir glauben! ist der Titel einer 1937 erschienenen Gedichtsammlung.30 Die Wirkung der Gelegenheitsdichtung wurde wohl nicht nur aus sozialistischer Warte darin erkannt, dass „der eine oder andere Vers, die eine oder andere Strophe [...] beim Lesen haften [bleiben] durch die einfache und kraftvolle Art, den Gedanken und Gefühlen der Verfasser, den Gedanken und Gefühlen der Arbeiterklasse Ausdruck zu geben“.31 Der versgebundenen Dichtung wurde nicht nur im Rahmen des sozialistischen Literaturschaffens, sondern auch im nationalsozialistischen Schrifttum eine große Bedeutung beigemessen. Im Dritten Reich machte sie 82 Prozent aller Lesebuchtexte an höheren Schulen aus.32 Rudolf Alexander Schröder betonte bereits 1933 die Massenwirkung von kollektiv rezipierter Dichtung. Er fragte in seinem kurz vor der Machtergreifung erschienenen Aufsatz, der den programmatischen Titel Dichtung wird Wirklichkeit trägt: „Haben Sie schon einmal mit vielen Tausenden zugleich die Nationalhymne oder ein Lutherlied anstimmen hören oder gar mitgesungen? Da haben Sie den greifbarsten Fall solcher Massenwirkung.“33

27 Häckel, Einleitung. In: ders. (Hg.), Gedichte, S. XIV. 28 Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation. In: ders., Prosa, Band 4, Frankfurt a. M. 1955, S. 390–413, bes. 408. 29 Max Reuschle, Der Sinn des Gedichtes in unserer Zeit. In: Kindermann (Hg.), Des deutschen Dichters Sendung in der Gegenwart, S. 214 f. Reuschle dichtete für Hitlers Geburtstag 1941 „Die Stimme“. In: Velmede (Hg.), Dem Führer, S. 53. 30 Max Wegner (Hg.), Wir glauben! Junge Dichtung der Gegenwart, Stuttgart 1937. 31 Vgl. Häckel, Einleitung. In: ders. (Hg.), Gedichte, S. XVIII. 32 Vgl. zur Bedeutung der Dichtung bei der Verpflichtung des Einzelnen auf die „Volksseele“ Karin Lauf-Immensberger, Literatur, Schule und Nationalsozialismus. Zum Lektürekanon der höheren Schulen im Dritten Reich, St. Ingbert 1987, S. 87. Lediglich 16 % der Lesebuchtexte waren Prosa und nur 2 % dramatische Texte. 33 Rudolf Alexander Schröder, Dichtung wird Wirklichkeit. In: Kindermann (Hg.), Des deutschen Dichters Sendung in der Gegenwart, S. 124–137, hier 131 f. Vergleichbares zur Formung der Wirklichkeit durch die Dichtung aus sozialistischer Sichtweise äußert z. B. Dieter Schiller, Plädoyer für das politische Gedicht. In: Weimarer Beiträge, 18 (1972) Heft 5, S. 104–128, hier 114. Uwe-K. Ketelsen merkt an, das politische Agitationsgedicht des Dritten Reiches sei seiner eigentlichen Form nach Gemeinschaftslied, auch dann, wenn es von keiner Melodie begleitet werde (ders., Nationalsozialismus und Drittes Reich. In: Hinderer [Hg.], Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland, S. 291–314, hier 295); aus zeitgenössischer Sicht vgl. Martin Wähler, Das politische Kampflied der Gegenwart im Unterricht. In: Zeitschrift für Deutschkunde, 48 (1934), S. 634– 643.

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Kurzum: Die traditionsgesättigte Gelegenheitslyrik wirkte mittels ihrer normativen Poetik und konservativen formalen Gestaltung in Verbindung mit den systemlegitimatorischen Inhalten prägend auf das kollektive Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten.34

3.

Zu den Elementen der Religion und der Autorität

Der gegenseitige Bezug und die Vermengung von Herrschaft und Heil ist ein universelles Phänomen.35 Carl Joachim Friedrich sieht, indem er an die Terminologie Max Webers anknüpft, in der bloßen Zuschreibung von übermenschlichen Fähigkeiten an den Herrscher einer totalitären Diktatur ein religiöses Element angelegt: „Ein Charisma, an das geglaubt wird, (ist) nicht vornehmlich ein an die Gefühle sich wendendes Sendungsbewusstsein, sondern ruht auf einem Glauben mit echtem religiösen Inhalt, metarational in seiner Offenbarung, rational in seiner Theologie.“36 Es gibt neuerdings eine Vielzahl von Deutungsansätzen,37 die infolge einer kulturwissenschaftlichen Betrachtungsweise unter dem Signet der Sakralisierung von Politik38 auf den religiösen Charakter von innerweltlichen Heilslehren verweisen.39 Insbesondere für den Nationalsozialismus sind zahlreiche Versuche in dieser Richtung unternommen worden.40 Auch dem Marxismus-Leninis34 Vgl. Kaszyński, Hitler-Gedichte neu gelesen, S. 180, der auf die Wirkung eingeht. 35 Vgl. Jan Assmann, Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, München 2000. Assmann verweist allerdings einschränkend darauf, dass die Einheit von Herrschaft und Heil, die in totalitären Systemen angestrebt werde, im Gegenteil zum alten Ägypten unter den Bedingungen sekundärer Religion stattzufinden habe. Der totalitäre Staat strebe die Überwindung einer Trennung an, die dem frühen Staat noch unbekannt gewesen sei (ebd., S. 34 f.). 36 Carl Joachim Friedrich, Totalitäre Diktatur. Unter Mitarbeit von Professor Zbigniew Brzezinski, Stuttgart 1957, S. 61. 37 Vgl. stellvertretend hierzu das umfassend dokumentierte Forschungsprojekt unter Leitung von Hans Maier (Hg.), „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs, 3 Bände, Paderborn 1996–2003. 38 Vgl. insbesondere Emilio Gentiles Arbeiten wie etwa ders., Die Sakralisierung der Politik. Einige Definitionen, Interpretationen und Reflexionen. In: Maier (Hg.), Wege in die Gewalt. Die modernen politischen Religionen, 2. Auflage Frankfurt a. M. 2002, S. 166–182; auch Giselher Schmidt, Politik als Heilslehre. Zur Idee des Totalitarismus, Mainz 1970. 39 Vgl. z. B. Marina Cattaruzza, die die Politische Religionen zu einem Charakteristikum des 20. Jahrhunderts erhebt (dies., Political Religions as a Charactersitic of the 20th Century. In: Totalitarian Movements and Political Religions, 6 [2005] Heft 1, S. 1–18); kritisch zur Reichweite des Ansatzes Hans Günter Hockerts, War der Nationalsozialismus eine politische Religion? Über Chancen und Grenzen eines Erklärungsmodells. In: Klaus Hildebrand (Hg.), Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus, München 2003, S. 45–71. 40 Klassisch ist v. a. die Studie von Eric Voegelin (ders., Die politischen Religionen. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Peter J. Opitz, 2. Auflage München 1996); vgl. hierzu z. B. Michael Ley/Heinrich Neisser/Gilbert Weiss (Hg.), Politische Religion? Politik, Religion und Anthropologie im Werk von Eric Voegelin, München 2003; für eine

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mus widerfuhren solche Deutungen in jüngster Zeit verschiedentlich.41 Welche Art von Religion von den Autoren außerhalb der allgemeinen Strukturparallelen eigentlich gemeint wird, ob der jeweiligen Darstellung beispielsweise eine funktionalistische oder substantialistische Betrachtungsweise zugrunde liegt,42 bleibt in den meisten Fällen unausgesprochen. Es ist daher lohnenswert, Hannah Arendts Hinweis auf den „römischreligiösen“ Charakter totaler Herrschaft anhand der Gelegenheitslyrik einmal genauer zu verfolgen. Zunächst einige Erläuterungen zur Form der römischen „religio“.43 Einer ihrer wichtigsten Bausteine ist der systemtragende Herrscherkult.44 Er ist das verbindende Element des imperialen Kultes45 und bezieht sich auf ein frömmigkeitsgestütztes System von Riten und Bekenntnisäußerungen zugunsten des Herrschers als Gottheit.46 Der Herrscherkult hat sowohl religiöse als auch gesellschaftliche Implikationen. Gottheit ist im „römischreligiösen“ Zusammenhang jedes immanente oder transzendente Wesen, dem kultische Ehren zuteil werden. Übereinkunft schafft die Gottheit.47 Die Wohlfahrt des Staates wird in

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kulturwissenschaftliche Rezeption Claus-Ekkehard Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiöse Dimension der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, München 1998; Hans-Jochen Gamm, Der braune Kult. Das dritte Reich und seine Ersatzreligion. Ein Beitrag zur politischen Bildung, Hamburg 1962; Friedrich Heer, Der Glaube des Adolf Hitler. Anatomie einer politischen Religiosität, München 1968; Michael Ley/Julius H. Schoeps (Hg.), Der Nationalsozialismus als politische Religion, Bodenheim 1997; Hans Müller, Der pseudoreligiöse Charakter der nationalsozialistischen Weltanschauung. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 12 (1961), S. 337–352; Günter Scholdt, Autoren über Hitler. Deutschsprachige Schriftsteller 1919–1945 und ihr Bild vom „Führer“, Bonn 1993 (v. a. Kap. 3.5 „Führer“-Gedichte als Ausdruck einer politischen Religion), S. 114–135; Klaus Vondung, Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, Göttingen 1971. Vgl. insbesondere die Arbeiten von Klaus-Georg Riegel wie etwa ders., Marxism-Leninism as a Political Religion. In: Totalitarian Movements and Political Religions, 6 (2005) Heft 1, S. 97–126; auch Mark-Christian von Busse, Faszination und Desillusionierung. Stalinismusbilder von sympathisierenden und abtrünnigen Intellektuellen, Pfaffenweiler 2000, bes. S. 126–148. Darauf weist auch Hans Günter Hockerts hin; vgl. ders., War der Nationalsozialismus eine politische Religion? In: Hildebrand (Hg.), Zwischen Politik und Religion, S. 62; für eine instruktive Darstellung verschiedener Religionsbegriffe Klaus Hock, Einführung in die Religionswissenschaft, Darmstadt 2002. Etymologisch wurde der römische Religionsbegriff auf „relegere“ (lat. „sorgsam beachten“) zurückgeführt, die Komponente einer inneren Bindung „religare“ (lat. „binden“) kam erst in spätantiker Zeit auf und wurde hauptsächlich von christlichen Schriftstellern vertreten. Vgl. Duncan Fishwick, The Imperial Cult in the Latin West. Studies in the Ruler Cult of the Western Provinces of the Roman Empire, Band 1/1, Leiden 1987. Vgl. hierzu insbesondere S. F. R. Price, Rituals and Power. The Roman Imperial Cult in Asia Minor, Cambridge 1984, der den Herrscherkult als gleichzeitige Erscheinung des politischen und religiösen Lebens ansieht. Vgl. für diesen vorrangig in der neueren Forschung zum Herrscherkult vertretenen Ansatz Manfred Clauss, Kaiser und Gott. Herrscherkult im römischen Reich, Darmstadt 2001. Vgl. Christian Habicht, Gottmenschentum und griechische Städte, München 1956.

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diesem System als unmittelbar von der Person abhängig erachtet, die durch ihr Amt Herrschaft ausübt. Die Vergöttlichung des Herrschers ist Ausdruck eines situationsspezifischen Gefühls der religiösen Dankbarkeit für Rettung, Wohlergehen und Sicherheit. Die Gemeinschaft war in wesentlicher Hinsicht Kultgemeinschaft. Religion und Politik gingen Hand in Hand. Religion in diesem Sinn ist wechselseitige Bindung von Gläubigen und Gottheit. Sie ist quantitativ-funktionalistisch und hat resultativ einen leistungsbezogenen Charakter. Die Idee des Gabentausches kommt in der dem Patron-Klientel-Denken verhafteten Formel „do ut des“ zum Ausdruck. Transzendenz erweist ihre Wirkkraft in Gestalt des sogenannten Numens bereits in der Immanenz.48 Mithilfe seines Genius bürgt der Herrscher für seine Allgegenwart. Den Versuch, die Einheit von Herrschaft und Heil durch die konsequente Ausschaltung und Substituierung der Religion wiederherzustellen, unternahm sowohl der Nationalsozialismus als auch der Marxismus-Leninismus. Die Erscheinung des Personenkults blieb weder auf dem Weg zum „Reich der Freiheit“ noch auf dem Weg des „Dritten Reiches“ zur „nationalsozialistischen Weltherrschaft“ aus.49 Er ist funktionales Kennzeichen beider Systeme.50 Beide Ideologien sind dem heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmuster des Mes-

48 Vgl. zum Aspekt des Numens: Fishwick, The Imperial Cult in the Latin West, Band 2/1, Leiden 1991, S. 375–388. 49 Vgl. z. B. für die Darstellung des Führerkultes um Hitler Ian Kershaws Monographie: ders., Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung, München 1999; auch Hans Ulrich Thamer, Halbgott in Braun. Führermythos und Führerkult. In: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Bilder und Macht im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2004, S. 43–53. Für die Kontroverse um den Personenkult im Sozialismus ist nach wie vor die so genannte Geheimrede Chruschtschows sehr instruktiv; vgl. Die Geheimrede Chruschtschows. Über den Personenkult und seine Folgen. Rede des Ersten Sekretärs des ZK der KPdSU, Gen. N. S. Chruschtschow, auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, 25. Februar 1956. Beschluss des Zentralkomitees der KPdSU über die Überwindung des Personenkults und seiner Folgen, 30. Juni 1956, Berlin 1990. Ansätze zur wissenschaftlichen Aufarbeitung aus Sicht der Personenkultproblematik bei Koenen, Die großen Gesänge; auch Benno Enneker, Die Anfänge des Lenin-Kults in der Sowjetunion, Köln 1997; die essayistische Abhandlung von Thomas Friedrich, „Welch eine Kraft es gab, als Stalin sprach“. Personenkult und SED, Mainz 1992; Hans-Josef Steinberg, Personenkult. In: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie, Band 5: Personenkult-Sozialpsychologie, Freiburg 1972, Sp. 2–4; Angela Stirken, „Wir müssen den Personenkult entschlossen beseitigen“. Bildlenkung zwischen Anspruch und Wirklichkeit. In: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Bilder und Macht, S. 85– 93; Hermann Weber, „Der beste Freund des deutschen Volkes“ Stalin-Kult in der DDR. In: ebd., S. 63–73 sowie Stefan Wolle, Führer der Arbeiterklasse. Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht und Erich Honecker. In: ebd., S. 75–83. Einen Vergleich der Personenkulte um Hitler und Stalin unternimmt Richard Overy, Die Diktatoren. Hitlers Deutschland, Stalins Russland, München 2005, S. 147–187. 50 Michael Rohrwasser, Die Brücke bei Brest-Litowsk. Totalitarismustheorie und Renegatenliteratur. In: Mittelweg, 36 (Oktober/November 1994), S. 37–48, hier 48.

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sianismus verpflichtet.51 Im Ausschließlichkeitsanspruch beider säkularer Religionen mit ihren jeweiligen Führungsgestalten ist der Hauptgegensatz zum Pantheon der plural angelegten römischen Religionslandschaft zu sehen. Hier wird die These vertreten, dass sich in der traditionsgesättigten Gelegenheitslyrik im Rahmen totalitärer Ideologien eine Radikalisierung der Grundsätze der römischen Religionsform auffinden lässt. Anhand eines Kennzeichenkatalogs52 wird diese These im Nachfolgenden mit gelegenheitslyrischem Textmaterial belegt. Dies geschieht für die drei wichtigsten Aspekte des religiösen Personenkultes, die sozusagen eine Phänomenologie desselben darstellen. Eine Gottheit wird erwiesen durch erstens Zuschreibung seitens der Glaubenden, zweitens geglaubtes übermenschliches Wirken und drittens geglaubte Allgegenwart. In systematischer Betrachtungsweise tritt in Anlehnung an Carl Joachim Friedrich zu diesen drei Elementen metarationaler Offenbarung eine daraus abgeleitete rationale Theologie mit einem organisierten Kultus hinzu.

3.1

Zuschreibungen seitens der Glaubenden

Die herausgehobenen Persönlichkeiten beider Ideologien werden als „Heilsbringer“53, „Retter“ (gr. „Sotêr“) und „Wohltäter“ (gr. „Euergétês“) verehrt. Diese zeittypische Tendenz kritisiert Ernst Toller aus der Sicht des Jahres 1933: „Überall der gleiche wahnwitzige Glaube, ein Mann, der Führer, der Cäsar, der Messias werde kommen und Wunder tun, er werde die Verantwortung für künftige Zeiten tragen, aller Leben meistern, die Angst bannen, das Elend tilgen, das neue Volk, das Reich voller Herrlichkeit schaffen.“54 Tollers Zeitgenossen wird der „Glauben an die gottgewollte Sendung eines Heilsbringers und Führers zum Guten [...] religiöse Gewissheit“.55 Insbesondere im nationalsozialistischen Zusammenhang wird der Führer zum Bezugs- und „Kraftsammelpunkt“56 des Kultus.57 „Adolf Hitler ist unser Glaubensbekenntnis“ führt Robert Ley aus. „Unserem Volke ist er Lebensinhalt geworden, dir 51 52 53 54 55 56 57

Klaus Schreiner, Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters. In: Hildebrand (Hg.), Zwischen Politik und Religion, S. 1–44. Die Merkmale und Gliederungspunkte sind in Anlehnung an die Darstellung des Herrscherkultes bei Manfred Clauss gewonnen (ders., Kaiser und Gott). Vgl. hierzu aus christlicher Sicht Romano Guardini, Der Heilbringer in Mythos, Offenbarung und Politik. Eine theologisch-politische Besinnung, Mainz 1979 [1946]. Ernst Toller, Blick 1933. In: ders., Gesammelte Werke. Hg. von Wolfgang Frühwald und John M. Spalek, Band 4, München 1978, S. 8 f. Julius Petersen, Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich in deutscher Sage und Dichtung, Stuttgart 1934, S. 52. Gottfried Hobus, Ich oder Wir. Ein kulturpolitischer Beitrag zum Gemeinschaftsgedanken, Berlin 1934, S. 153 f. Vgl. Doris Gorr, Nationalsozialistische Sprachwirklichkeit als Gesellschaftsreligion. Eine sprachsoziologische Untersuchung zum Verhältnis von Propaganda und Wirklichkeit im Nationalsozialismus, Aachen 2000, S. 125.

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und mir. Wir glauben an diesen Mann. Wir glauben, dass er auch den Endkampf besteht und der Welt den Frieden bringen wird. Das glauben wir.“58 Hitler ist wie im gelegenheitslyrischen Schrifttum zur Genüge formuliert wird,59 „der Retter, der sich zeigt“,60 „Retter, Löser, der die Nacht bezwang“,61 „Erretter! Volkes Held!“,62 „Erlöser und Mittler“63 oder dem „eignen Volk ein Erlöser/Und Retter in der Welt!“64 Im Vers „Aus tausend Augen glomm das letzte Hoffen!“65 wird die Erwartungshaltung umfassender Bevölkerungsteile zum Ausdruck gebracht. Unzählige „argvoll Betörte“ hatten „Ihn brünstig [...] erfleht!“66 Die Flehenden hatten „Arbeit? Keine!/Freiheit? Keine!/Sorgen nur und Stempelscheine ... /In der Nacht ein einzig’ Licht: /Hitler – unsre Zuversicht!“67 Sie wollten „Durch den Führer erlöst, durch den Führer befreit“68 werden. Während sie „ins Elend liefen/Und bebend nach dem Retter riefen, /Begann er groß sein heilig Werk.“69 Hitler wird das Verdienst zugesprochen, dass von „allen die Sorgen er bannt“.70 Alles sei ihm zu verdanken, der „Baum und die Straße, /weiße, silberne Bänder, blitzend am Horizont, /Brücke über den Strom, das Dach überm Haupte, /Gärten und blühende Beete“.71 Hitler, „der Deutschland schützt“,72 verleiht den Gläubigen als „Schirmer des Volkes“73 Sicherheit74 und Zuversicht. Ingeborg Teuffenbach bündelt in einem ihrer Führergedichte viele dieser Vorstellungen. Sie macht aus dem Diktator einen benevolenten Schutzpatron: „Du 58 Robert Ley, Wir alle helfen dem Führer, 3. Auflage München 1939, S. 107. 59 Vgl. z. B. Auguste Suppers gleichnamiges Gedicht (dies., Der Retter. In: Karl Hans Bühner [Hg.], Dem Führer. Gedichte für Adolf Hitler, 4. Auflage Stuttgart 1942, S. 33 f.). 60 Theodor Lüddecke, Der ewige Führer. In: Auswahl deutscher Gedichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Halle (Saale) 1936, S. 712. 61 Josef Weinheber, Dem Führer. In: Das innere Reich, (1939) Heft 4. 62 Joachim von der Goltz, Bestimmt, der Gottheit Willen zu vollziehn. In: Velmede (Hg.), Dem Führer, S. 37. 63 Neues Lied der Hitlerjugend (nach einem Bericht der Gestapo Aachen vom 7. 6.1935), zit. nach Müller, Der pseudoreligiöse Charakter der nationalsozialistischen Weltanschauung, S. 340 f. 64 Hermann Burte, 1940 ... In: Velmede (Hg.), Dem Führer, S. 8. 65 Josef Moder, Sudetendeutsche Heimkehr. In: ders., Im Tal der Zeit, Gedichte, Graslitz 1939, S. 13. 66 Herybert Menzel, Der Führer kommt. In: Im Marschschritt der SA, Berlin 1933, S. 47. 67 Heinrich Anacker, Lied der Arbeitslosen. In: ders., Die Trommel. SA-Gedichte, München 1933, S. 72. 68 Ders., Nun schmückt die Fahne mit jungem Grün! In: ders., Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung, 9. Auflage München 1943, S. 115. 69 Otto Bangert, Zu Adolf Hitlers Geburtstag. In: Nationalsozialistische Feierstunden – Ein Hilfsbuch für alle Parteistellen, SA, SS, HJ, NSDAP. Verfasst und zusammengestellt von Franz Hermann Woweries, Mühlhausen/Thüringen 1934, S. 44. 70 Fritz von Rabenau, Stille Nacht. In: ders., Weihnachten im 3. Reich, Berlin 1934, o. S. 71 Kurt Kölsch, Baumeister des Volkes. In: Bühner (Hg.), Dem Führer, S. 68. 72 Wilhelm von Scholz, Deutsche Wünsche. In: ders., Die Gedichte. Gesamtausgabe, Leipzig 1944, S. 316 f. 73 Agnes Miegel, Dem Schirmer des Volkes. In: Bühner (Hg.), Dem Führer, S. 65 f. 74 Heinrich Zillich, Den Deutschen von Gott gesandt ... In: Velmede (Hg.), Dem Führer, S. 24.

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bist so gütig und bist so groß, /du bist so stark und bist unendlich rein, /wir legen willig ohne jeden Schein/vor dir die Einfalt unsrer Herzen bloß. // Denn keiner ging noch unbeschenkt von dir, / traf ihn nur einmal deiner Augen Strahl“.75 Auch Karl Marx wurde als „Erlöser“ 76 angesehen. Seine „hohen Worte drangen über Berge, Thäler, Meere, /Dass das ärmste Kind der Erde die Erlösungsstunde höre“.77 Aus seinem „Werk des Geistes, /Wird die That der Erlösung ersteh’n“.78 Sein Wirken wird als kollektives Erweckungserlebnis dargestellt: „Du hast uns erweckt aus dem Dunkel der Nacht.“79 Im Marxismus-Leninismus ist aufgrund der absoluten Negation von Religion, die zumeist jedoch als christliche verstanden wird,80 der Heroenkultbezug stärker ausgeprägt. Ein unbekannter Dichter widmet sein Gedicht dem Heros Marx. „Wie der griechische Sänger/Helden und Götter pries, /also gelte mein Sang/dem Propheten der Neuzeit/Dem Heros der That!“81 Dem Trierer wird ein „reiches Heldenleben“82 zugesprochen. In den Augen seiner Bewunderer ist er „Lichtbringer“,83 „Vollbringer“,84 „Spender überreicher Gabe“,85 „der rettende Geist, jener Eine aus des Prometheus altem Geschlecht, /der dem Himmel das heilige Wissen ums Licht entreißt, /der mit erhobenen Händen verkündet ein neues Recht“.86 Aufgrund der ihm angedichteten Taten ist sicher: „Die Nachwelt, die vergisst Titanen nicht.“87 Marx wirkte „mit des Giganten Mut“.88 Auch Richard Wagner war von diesem „Jung-Siegfried“89 begeistert. Wilhelm Ludwig Rosenberg widmet ein Gedicht „Den Manen Friedrich Engels’“.90 „Du warst ein Held, ein Führer und ein Lehrer, /Der Zukunftskirche

75 Ingeborg Teuffenbach, Vor dir, mein Führer. In: dies., Saat und Reife. Bekenntnisse des Glaubens und der Liebe, Wien 1938, S. 69. 76 A. Enders, Karl Marx † 14. März 1883. In: Der Wahre Jacob, Nr. 69 (1889), S. 545. 77 Ebd. 78 sd., Karl Marx. In: Süd-Deutscher Postillon, Nr. 6 (1893), o. S. 79 Werner Möller, Karl Marx. In: ders., Sturmgesang, Elberfeld o. J. [1913], S. 18 f. 80 Vgl. z. B. Hermann Scheler, Der Marxismus-Leninismus über Religion und Kirche, Leipzig 1956. 81 sd., Karl Marx. In: Süd-Deutscher Postillon, Nr. 6 (1893), o. S. 82 Fritz Kunert, Karl Marx (Fragment). In: ders., Soziale Weckrufe, Halle (Saale), S. 38 f. 83 Karl Bröger, Lichtbringer (Karl Marx zum Gedächtnis). In: Die singende Stadt, Nürnberg o. J., S. 28. 84 Ernst Preczang, Karl Marx. In: ders., Im Strom der Zeit. Gedichte, 4. Auflage Stuttgart 1921, S. 77 f. 85 Zu Karl Marx’ Gedächtnis. In: Der wahre Jacob, Nr. 956 vom 16. 3.1923, S. 54. 86 Bröger, Lichtbringer (Karl Marx zum Gedächtnis). In: Die singende Stadt, S. 28. 87 Maurice Reinhold von Stern, In memoriam Karl Marx. In: ders., Proletarier-Lieder. Gesammelte Dichtungen dem arbeitenden Volke gewidmet, Jersey City 1885, S. 20. 88 Kunert, Karl Marx (Fragment). In: ders., Soziale Weckrufe, S. 38 f. 89 Richard Wagner, Karl Marx. Zum 25. Todestage. In: Vorwärts. Berliner Volksblatt, Nr. 63 vom 14. 3.1908. 90 Wilhelm Ludwig Rosenberg, Den Manen Friedrich Engels’ (August 1895). In: ders., An der Weltenwende. Gedichte, Cleveland 1910, S. 90 f.

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würdigster Apostel“91, reimt ein anderer Apologet. Häufig werden Anspielungen auf Engels’ Testament gemacht, in dem er verfügte, seine Asche ins Meer auszustreuen. Die Begründung hierfür kann mit Ernst Klaar auch in kultustechnischen Vorbehalten gesehen werden: „Dass sich an Deinem Grab entfalte / Nicht öder Kultus der Person.“92 Johannes R. Becher fällt es in Gestalt einer Lobhudelei auf „Genosse Thälmann – Unsern Führer“, die er zum 1. Mai 1933 abfasste, nicht ein, „Mit Weihrauchschwaden um mich zu schlagen/Oder beflissen Stein auf Stein/Zu einem geschmacklosen Heldendenkmal zusammenzutragen/[...] Ich bin nicht dazu da, wie die faschistischen Schmierer/Kränze zu flechten mit meinem Reim/Einem ‚göttlichen übermenschlichen Führer‘ / – Die ganze Figur geht bald aus dem Leim –“.93 Die zunächst geäußerten Vorbehalte können Gegenteiliges in äquivalenter Semantik jedoch nicht verhindern. Sie dienen lediglich der Steigerung des nachfolgenden Führerlobs: „Ich bin dazu da, um die Worte zu finden/Für das, was Millionen das Hirn bewegt, /Um das in Worten zu verkünden, /Was wortlos in jedem Herzen schlägt:/Genosse Thälmann, du bist unser Führer. / Das heißt, dass du immer vor uns stehst/Und wir dich nicht aus den Augen verlieren/Und, wo wir gehen, du mit uns gehst.“94 Später ging, wie Kurt Barthel auf den 5. März 1953, 21.50 Uhr, dichtet, Stalin für die Sache des Sozialismus „aufrecht den Kreuzgang der Schmerzen hinauf, /voll Mitleid, voll Zorn und voll Liebe“.95 Die Auserwähltheit der Führerfiguren ist ein weiterer topischer Bezugspunkt der Gelegenheitslyriker. Karl Marx, „Der Wenigen Einer/Der Auserwählten“96 ist Jahrhundertereignis, denn „Alle hundert Jahre blühet nach der alten Völkersage/Eine rothe Wunderblume an des Jahres schönstem Tage; /So auch alle hundert Jahre ein Erlöser, ein Prophet/Dem von aller Noth der Zeiten heimgesuchten Volk ersteht.“97 „Einmal nur, /in Jahrtausenden einmal, /schenken die Götter/einem die Kraft, /sich von der Erde ins All zu schrauben, –/nur durch den Glauben“,98 weiß Carl Maria Holzapfel über Hitlers chiliastische Sendung zu dichten. Der Auserwähltheit wird Tribut in Form von Bekenntnissen zu einem göttlichen Geschehen gezollt. Insbesondere in der NS-Gelegenheitslyrik ist diese 91 Josef Hannich, Nachruf auf Friedrich Engels. In: Konrad Beißwanger (Hg.), Stimmen der Freiheit. Blüthenlese der hervorragendsten Schöpfungen unserer Arbeiter- und Volksdichter, 3. Auflage Nürnberg 1902, S. 399 f. 92 Ernst Klaar, Zu Friedrich Engels’ Gedächtniß († 5. August 1895). In: Süd-Deutscher Postillion, Nr. 17 (1896), S. 134. 93 Johannes R. Becher, Gesammelte Werke, Band 3: Gedichte 1926–1935, Berlin (Ost) 1966, S. 476–478, hier 476. 94 Ebd. 95 Kuba, 5. März 1953, 21.50 Uhr. In: Neue Deutsche Literatur, 1 (1953) Heft 4, S. 14. 96 sd., Karl Marx. In: Süd-Deutscher Postillon, Nr. 6 (1893), o. S. 97 A. Enders, Karl Marx † 14. März 1883. In: Der Wahre Jacob, Nr. 69 (1889), S. 545. 98 Carl Maria Holzapfel, Hitler. In: Ernst Hanfstaengel (Hg.), Tat gegen Tinte – Hitler in der Karikatur der Welt, Berlin 1934, S. 11.

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Form der Adoratio weit verbreitet. Baldur von Schirach,99 der gerne Gott auf Schafott reimte,100 ist Vorreiter solcher Sakralisierungstendenzen: „Da ihr noch spieltet, wurden wir Soldaten/und folgten Jenem, der die Fahne trägt, /als ihr noch träumtet, lebten wir in Taten/und waren ganz vom Göttlichen bewegt.“101 Seine Dichtungen auf den Führer sind zum Teil reinste Glaubensbekenntnisse: „Ich glaub an Dich, denn Du bist die Nation, /Ich glaub an Deutschland, weil Du Deutschlands Sohn.“102 Hitler ist manchem Reim zufolge Führer und Gott zugleich:103 „Wir grüßen die Sonne, wir grüßen das Leben, /Wir grüßen den, der von Anfang war, /Ein Führer, ein Wille, ein Volk, ein Vollbringen, /Ein Gott, eine Gnade – So wird es gelingen.“104 Auf den Führer, dem im so genannten deutschen Gruß ohnehin ständig Heil zugesprochen wurde,105 werden immer wieder Segenswünsche ausgebracht: „Das Heil/Gesundheit, Sieg und Segen für den Führer!“106 erklärt Wilhelm von Scholz zu deutschen Wünschen. Die Anrede mit formularisierten Titeln des Herrscher- und Heroenlobs ist ein weiteres Kennzeichen kultischer Verehrung. Karl Marx ist „echter Sonnenheld“107 und „unbezwung’ner Kämpfer“.108 Sein Kompagnon Friedrich Engels wird als „einer der Besten“109 und „der Größten, Besten einer“110 bezeichnet. Adolf Hitler ist „Gewaltiger auf Erden“,111 „Der Eine! Der Held! Der Sieger!“112 und wird als „Erheber deiner Kraft!“ 113 apostrophiert. Großes könne nur durch einen Großen geschehen, meint Wilhelm Schäfer.114 99 Vgl. zu Schirachs lyrischen Versuchen Hay, Religiöser Pseudokult. In: Becker/Kaczynski (Hg.), Liturgie und Dichtung. 100 Von Schirach, Am 9. November vor der Feldherrnhalle zu München. In: ders., Die Fahne der Verfolgten, S. 32; ders., Was zweifelst Du ... In: ebd., S. 35. 101 Ders., Da ihr noch spieltet ... In: ders., Die Fahne der Verfolgten, S. 11. 102 Ders., Dem Führer. In: ebd., S. 38. 103 Vgl. auch den Abschnitt „Das ‚Göttliche‘ und der ‚Führer‘“ bei Werner Hamerski, „Gott“ und „Vorsehung“ im Lied und Gedicht des Nationalsozialismus. In: Publizistik, 5 (1960), S. 280–300, hier 291–294. Hamerski kommt zu dem Schluss, dass der Gottesbegriff des Nationalsozialismus kein christlicher sei. Er befindet: „Der Nationalsozialismus hat keine Ersatz-Religion geschaffen, sondern er war ein Religions-Ersatz“ (ebd., S. 296). 104 Zit. nach Kurt Berger, Schleichwege zum Chaos. Kleine Studie nationalsozialistischer Lyrik. In: Die Sammlung, 2 (1947), S. 79. 105 Auf die wechselseitige heilsspendende Wirkung des Hitlergrußes verweisen: Gamm, Der braune Kult, S. 160; Guardini, Der Heilbringer in Mythos, Offenbarung und Politik, S. 70 und Kershaw, Der Hitler-Mythos, S. 81. 106 Von Scholz, Deutsche Wünsche. In: ders., Die Gedichte. Gesamtausgabe, Leipzig 1944, S. 316 f. 107 Enders, Karl Marx † 14. März 1883. In: Der Wahre Jacob, Nr. 69 (1889), S. 545. 108 Ebd. 109 F. Schz., Auf Engels’ Tod. In: Schwäbische Tagwacht, Nr. 186 vom 12. 8.1895. 110 Friedrich Engels. Geboren in Barmen den 28. November 1820 Gestorben in London den 5. August 1895. In: Süd-Deutscher Postillion Nr. 18 (1895), o. S. 111 Gerda von Below, An den Führer. In: Rufe in das Reich. Die heldische Dichtung von Langemarck bis in die Gegenwart. Ausgewählt von Herbert Böhme, Berlin 1934, S. 121. 112 Menzel, Der Führer kommt. In: ders., Im Marschschritt der SA, S. 47. 113 Von Below, An den Führer. In: Rufe in das Reich, S. 121. 114 Wilhelm Schäfer, Großes kann nur durch einen Großen geschehen. In: Velmede (Hg.), Dem Führer, S. 29.

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Stalin, der später mit „damnatio memoriae“ belegt wurde, ist zu Lebzeiten „Verkörperung der Größe“115 und Johannes R. Becher schmeichelt Wilhelm Pieck, indem er ihn mit der Formel „Du, Deines Volkes Bester“116 umgarnt. Ewige, übermenschliche Lebenszeit und Unsterblichkeit sind Kennzeichen antiker Götter und Heroen. Den Charakter einer stehenden Wendung nimmt die Formulierung „Karl Marx ist todt! Doch seine Lehren leben“117 oder „Karl Marx ist todt, doch seine Werke leben!“118 in der Panegyrik auf den verstorbenen sozialistischen Theoretiker ein. Als „echter Bürger der Unsterblichkeit“119 wird Marx im Herzen seiner „Kämpfer und Erfüller“120 täglich neu geboren. Engels’ Bestattungsart hinterlässt auch Spuren in den Ewigkeitsvorstellungen: „Selbst deine Asche ließest du verweh’n, / Doch deine Thaten bleiben ewig steh’n –.“121 Lenin wird ein übermenschlich langes Leben zugedichtet: „Er aber wächst durch Zeiten und Geschlechter [...] Der tausendjährige Lenin!“122 Für Becher ist in Hinblick auf Stalin sicher: „Du zogst im Volk für alle Zeiten ein. /Du bist im Volk. Du wirst unsterblich sein.“123 Max Zimmering fragt: „Kann Stalin sterben?/Lebt er nicht fort als unbegrenzte Kraft, als Sehnsucht, /Willen, /Arbeit, / Wissenschaft, /in der Partei –/dem kampfgestählten Erben?“124 „Als ob Thälmann jemals sterben könnte“, wurde per Gelegenheitsgedicht der kommunistischen Jugend vermittelt. „Thälmann starb und ist doch nicht gestorben; /Denn was er war, als er noch lebte, lehrte, /das, wofür er ohne Rast geworben, /lebt als Mahnung in Millionen Herzen, /lebt als Wissen in Millionen Hirnen.“125 Nicht Wissen, sondern Glauben sichert Adolf Hitlers Fortbestehen. „Jahrhunderte vergehn, doch Ewigkeiten/noch werden glauben, woran du geglaubt.“126 115 Heinrich Greif, Stalin. In: Anlage zum Schreiben des KPD-Landesvorstandes Nordrhein-Westfalen über die Vorbereitung des 70. Geburtstages Stalins, IfGA / ZPA, I 11/28/30. Düsseldorf, den 19.11.1949; vgl. für einen Überblick zu offiziellen Verlautbarungen der SED anlässlich der Geburtstage Stalins Hermann Weber, Geschichte der DDR, München 1999, S. 160 f. 116 Becher, Für Wilhelm Pieck. In: ders., Der gespaltene Dichter. Gedichte, Briefe, Dokumente 1945–1958, Berlin 1991, S. 62 f. 117 Michel Schwab, Dem Andenken von Karl Marx. In: Vorbote. Unabhängiges Organ für die wahren Interessen des Proletariats. Wochenausgabe der „Chicagoer-Arbeiter-Zeitung“, Nr. 12 vom 24. 3.1883. 118 Von Stern, In memoriam Karl Marx. In: ders., Proletarier-Lieder, S. 20. 119 Enders, Karl Marx † 14. März 1883. In: Der Wahre Jacob, Nr. 69 (1889), S. 545. 120 Preczang, Karl Marx. In: ders., Im Strom der Zeit, S. 77 f. („Gebiert ein jeder, jeder Tag dich neu / im Herzen deiner Kämpfer und Erfüller“). 121 Friedrich Engels. In: Süd-Deutscher Postillion, Nr. 18 (1895), o. S. 122 Becher, Der tausendjährige Lenin. In: Sinn und Form. Sonderheft Johannes R. Becher. Sterne unendliches Glühen, Berlin o. J., S. 191. 123 Ders., Auf einen Namen. In: Sinn und Form. Sonderheft Johannes R. Becher, S. 196. 124 Max Zimmering, Der Sturmbesieger und der Ströme Herr. In: Neue Deutsche Literatur, 1 (1953) Heft 4, S. 30 f. 125 Zit. nach Gerhard Möbius, Kommunistische Jugendarbeit. Zur Psychologie und Pädagogik der kommunistischen Erziehung im sowjetisch besetzten Deutschland, München 1957, S. 99. 126 Eberhard Wolfgang Möller, Der große Gärtner. In: Die Bühne, (1939) Heft 8, S. 181.

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Die Fortwirkung soll zudem auf dem schöpferischen Werk monumentaler Bauwerke beruhen. „Es ragt dein Werk, wie Dome ragen!/Gebaut für eine deutsche Ewigkeit, /Wird es die Kunde dieser hohen Zeit/Bis zu den Enkeln unsrer Enkel tragen.“127 Die noch heute geläufige Vorstellungen von der Autobahn als Hitlers Geschenk an Deutschland ist in der Gelegenheitslyrik des Dritten Reiches grundgelegt. „Und auf den Straßen, die wir bauten, /Die erst Enkel vollendet schauten, /Werden in hundert und tausend Jahren/Sausenden Schwungs die Wagen noch fahren.“128 Vorsehung und vorausschauende Fähigkeiten sind Merkmale, die Verbindung zum Übernatürlichen herstellen. Karl Marx macht sich den technischen Fortschritt zunutze, um in die Zukunft zu sehen. „Dem Manne gleich, fernrohrbewaffnet, /Der auf der höchsten Warte steht, /Hat er geschaut der Zeiten Ferne.“129 Friedrich Engels ist das „Wunderkinde, welches zukunftstraumverloren –/Und doch klaräugig zeigte uns den Weltentwicklungsgang“.130 Das Vertrauen in die vorausschauenden Fähigkeiten Adolf Hitlers131 lässt ihm blind nachfolgen. „Auch wenn wir dich einmal nicht fassen, /Werden wir mit dir gehen. /Einst wirst du uns schauen lassen, /Was du vor uns gesehen.“132 Der Diktator „ist als Führer auferstanden, / Und er hat die Schau und das Gebot“.133 Wer über die Vorsehung verfügt, wird den Glaubenden zum Schicksalsträger.134 Dies gilt vor allem für die Aussagen des nationalsozialistischen Schrifttums. Hitler ist es, „der das dunkle Schicksal trägt“.135 Dem das „allgemeine Schicksal tragenden Kämpfer und Führer“ wird in einem Gedicht Hans Carossas „Heil und Glück“ zugesprochen.136 Die Glaubenden „schwören ihm den Fahnenschwur, /Gefolgschaft und Gericht, /Er wirbelt ihres Schicksals Spur/ mit ehernem Gesicht“.137 In Hitlers Händen „Liegt das Schicksal von Millionen, /Die in deinem Herzen wohnen, /Denen du ein Glaube bist“.138

127 Anacker, Dem Führer! In: Die deutsche Glocke. Volksbuch der deutschen Heimat, Band 1, Bayreuth 1939, S. 7. 128 Ders., Brüder, was bleibt ... In: Das Schwarze Korps vom 14. 8.1935, S. 9. 129 Klaar, Karl Marx. Zum Gedächtnis seines zehnjährigen Sterbetags 14. März 1883. In: Der Wahre Jacob, Nr. 173 (1893), S. 1418. 130 Friedrich Engels. In: Süd-Deutscher Postillion, Nr. 19 (1895), o. S. 131 Vgl. zum Aspekt der Vorsehung im Lied und Gedicht des Nationalsozialismus Hamerski, „Gott“ und „Vorsehung“. 132 Gerhard Schumann, Führer. In: ders., Bewährung, München 1936, S. 24. 133 Menzel, Marsch ins Jahrtausend. In: Das Schwarze Korps vom 31.1.1936. 134 Vgl. zum Schicksalsbegriff in der nationalsozialistischen Lyrik: Berger, Schleichwege zum Chaos, bes. S. 72–74. 135 Schumann, Nun aber steht ein Haufe von Entschlossnen. In: ders., Die Lieder vom Reich, München 1935, S. 46. 136 Hans Carossa, Kein Künstler, kein Dichter unserer Tage soll es bedauern. In: Velmede (Hg.), Dem Führer, S. 14. 137 Herbert Böhme, Der Führer. In: Völkische Musikerziehung, (1936), S. 161. 138 Leopold von Schenkendorf, Führe uns! In: Velmede (Hg.), Dem Führer, S. 21.

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Rastlosigkeit und Schnelligkeit zeichnen sozialistische wie nationalsozialistische Protagonisten aus. Einmal mehr dichtet Johannes R. Becher, diesmal auf Rosa Luxemburg: „Durch Welten rase ich –: Den geschundenen Leib/Abnehmend vom Kreuz.“139 Hitler wird mit einer ruhelosen Flamme verglichen. „Und wer Dich kennt, der weiß an dem Altar:/die Flamme ohne Ruh/und der weisse Marmor, kalt und klar, /bist Du.“140 Die propagandawirksamen Auftritte Hitlers mit der „Flugmaschine“141 haben sich in die Erinnerung eingeschliffen und sind Zeugnis für die Rastlosigkeit des Führers. „Bisweilen nachts erklingt es von Motoren/Hoch über uns, du, Führer, ohne Ruh. /Dein Antlitz ahnen wir an uns verloren, /vom Fenster der Kabine sinnt’s uns zu.“142 Einsamkeit und Wachsamkeit der verantwortlichen Personen sind hiermit verwandte Vorstellungen. In Kontrafaktur des Weihnachtslieds Stille Nacht, Heilige Nacht heißt es zur „Volksweihnacht“: „Alles schläft, einsam wacht/Adolf Hitler für Deutschlands Geschick, / Führt uns zur Größe, zum Ruhm und zum Glück.“143 Die Rechtgläubigen „träumen nachts vom Blut, dem hingegossnen, / Und von dem Führer, welcher einsam ist.“144 Hitler ist „Einsam, dem erzgeschienten Ritter gleich“.145 Einen rationalen Theologisierungsversuch liefert Heinrich Anacker, indem er Größe und Einsamkeit in Relation bringt. „Jeder Große, /Ob tief verwurzelt/Im ewigen Schoße/Seines Volkes, /Ist einsam wie Gott. /Für alle denkt er, /Und alle lenkt er; /Und ihre Sorgen/Sind seine Sorgen, /Doch seine eignen/Trägt er allein.“146 Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili ist „Ein Mann, der Stalin heißt und mit uns wacht“.147 Erich Weinert hat die aus sozialistischer Sichtweise einleuchtendste Erklärung für die durchgehende nächtliche Illumination des Kremls parat. „Wenn du die Augen schließt und jedes Glied/Und jede Faser deines Lebens ruht –/Dein Herz bleibt wach, dein Herz wird niemals müd; [...] Die Stadt hat alle Augen zugemacht. /Und nur im Kreml drüben ist noch Licht.“148 139 Becher, Hymne auf Rosa Luxemburg. In: Kameraden der Menschheit. Dichtungen zur Weltrevolution. Eine Sammlung. Hg. von Ludwig Rubiner, Potsdam 1919, S. 87–89, hier 88. 140 Von Schirach, Einem Führer. In: ders., Die Fahne der Verfolgten, S. 42. 141 Vgl. Menzel, Der Führer kommt. In: ders., Im Marschschritt der SA, S. 47. „Im Stadion Millionengewimmel [...] Sie blicken alle zum Himmel / Nun kommt der Führer bald.“ 142 Ders., Führer und Volk. In: Bühner, (Hg.), Dem Führer, S. 13. 143 Von Rabenau, Stille Nacht. In: ders., Weihnachten im 3. Reich, o. S. 144 Schumann, Nun aber steht ein Haufe von Entschlossenen ... In: ders., Die Lieder vom Reich, S. 46. 145 Anacker, Ritter, Tod und Teufel. In: Das Schwarze Korps vom 27. 2.1936. 146 Ders., Begegnung Hitler – Mussolini. In: ders., Wir wachsen in das Reich hinein, München 1938, S. 57 (Hervorhebungen im Original). 147 Becher, Ein Mann, der Deutschland liebt ... In: ders., Der gespaltene Dichter, S. 79. 148 Erich Weinert, Im Kreml ist noch Licht, zit. nach Günter Casper (Hg.), Du Welt im Licht. J. W. Stalin im Werk deutscher Schriftsteller (Zum 21. Dezember 1954, dem fünfundsiebzigsten Geburtstag von Josef Wissarionowitsch Stalin), Berlin (Ost) 1954, S. 229.

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Mit einem Lächeln und sichtbarer Aura ausgestattet zeigen sich die Anführer in Bescheidenheit und Schlichtheit. „Da lächeln sie, selbst dankbar und bescheiden“,149 wird von Thälmann, Lenin und Stalin behauptet. „Dein glücklichstes Lächeln, mein Führer!“150 ist Hanns Johst immerhin einen Vers wert. „Und dich, unsern Führer, der Deutschen Herzog/In schlichtem Kleide. Dich hüllt nicht Purpur“151 vermag Hermann Harder auf Hitler zu dichten. Baldur von Schirach findet an Hitler „das Größte: dass er nicht / nur unser Führer ist und vieler Held, /sondern er selber: grade, fest und schlicht“.152 Er ist, wie Anacker darlegt, „dem Letzten und Ärmsten von uns / Als Führer Kam’rad noch geblieben“.153 Hitler habe gar, wie es andernorts zu finden ist, einen „Feuerschein/ Des Auserwählten um sein Haupt“.154 Die Aura war zu Beginn der nationalsozialistischen Bewegung nur einem erlesenen Kreis von Mitstreitern aufgefallen: „Als du vortratest, ein Mann aus dem Volke, /sahen nur sieben, wie von dir ein Glanz ausging und eine Kraft über Menschenkräfte.“155 Erst später lässt die Ausstrahlung andere erzittern: „Du, der Eine, du, der reine Bürge, /Strahltest so, dass ich im Grauen fror.“156 Die aus dem Umfeld des Herrscherkultes stammende Verstirnungssage,157 die aitiologisch versucht, den Sternenhimmel als ewige Ruhestätte vergöttlichter Personen zu erklären, findet sich in zahlreichen Belegen. „Du herrlich Gestirne, wie flammt’ deine Bahn“,158 heißt es von Marx. „Zwei wunderbare, goldne Sternenfunken“159 sind Marx und Engels. Das „Dioscurenpaar“ streut in „dunkle Geistesnacht“ sein „flammend leuchtendes Doppellicht“.160 Nach dem Ableben von Friedrich Engels, „Da öffnete sich der Ewigkeiten Thor/Und steigt im Glanz das Taggestirn empor“.161 Becher lässt zumindest Stalins Namen in den Sternenhimmel Eingang finden: „Und steht dein Name auch in Erz und Stein:/Dein Name ist im Weltraum eingetragen / Wie der Gestirne Schein und Widerschein.“162 149 Becher, Danksagung. In: Sinn und Form, 5 (1953) Heft 2, S. 8 f., hier 8. 150 Hanns Johst, Dem Führer. In: ders., Maske und Gesicht. Reise eines Nationalsozialisten von Deutschland nach Deutschland, München 1935, S. 208 f. 151 Hermann Harder, An den Führer. In: Nationalsozialistische Erziehung, (1936), S. 201. 152 Von Schirach, Das Größte. In: ders., Die Fahne der Verfolgten, S. 37. 153 Anacker, Adolf Hitler als Mensch. In: ders., Die Fanfare, S. 108; vgl. auch Menzel, Der Kamerad. In: Velmede (Hg.), Dem Führer, S. 31. 154 Schumann, Da kam die Nacht ... In: ders., Die Lieder vom Reich, S. 22. 155 Will Vesper, Der Führer. In: Die neue Literatur, (August 1941), S. 191. 156 Menzel, Der Verlorene gerettet. In: ders., Im Marschschritt der SA, S. 11. 157 Vgl. hierzu Wolfgang Spickermann, Verstirnungssage. In: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hg. von Hubert Canck und Helmuth Schneider, Band 12/2: Ven-Z. Nachträge, Stuttgart 2002, Sp. 95–97. 158 Möller, Karl Marx. In: ders., Sturmgesang, S. 18 f. 159 Dem Andenken unseres Friedrich Engels. In: Leipziger Volkszeitung, Nr. 184 vom 10. 8.1895, Beilage, S. 2. 160 sd., Marx und Engels. In: Süd-Deutscher Postillion, Nr. 14 (1893), o. S. 161 Hunold, Eine Erinnerung an Friedrich Engels. In: Der wahre Jacob, Nr. 262 vom 4. 8.1896, S. 2243. 162 Becher, Auf einen Namen. In: Sinn und Form. Sonderheft Johannes R. Becher, S. 196.

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Für Hitler wurde ein ähnliches Schicksal erwartet: „Er lebt ins Licht, er stirbt ins Gestirn.“163 Er galt den so genannten Auslandsdeutschen als „der Stern, der uns im Abend leuchtet“.164 Sein scheinbar exterrestrischer Ursprung regte Hans Blunck zu folgenden Versen an: „In unserer Mitten/Ein Stern fiel ein. /Brand blieb in den Herzen, /Licht auf den Stirnen; /Vom Meer zu den Firnen/Leuchtet sein Schein.“165

3.2

Geglaubtes übermenschliches Wirken

Verse über Natur- und Kulturbeherrschung zeugen von der geglaubten „Allmacht“166 der Verehrten. Adolf Hitler ist „Der große Gärtner“. Eberhard Wolfgang Möller erdichtet über ihn: „alles, was du pflanztest, lebt, /indes sich über den begrünten Spitzen/die Sonne der Unsterblichkeit erhebt.“167 Die Vorstellung vom Sämann, der seine Ernte einfahren kann, ist weit verbreitet. „Denn Du, mein Führer, hast alles gesät –/Jetzt wächst es Dir dankbar entgegen.“168 Der Dank ist das komplementäre Element zu der angeblichen schöpferischen Leistung des Führers. Ähnliche Vorstellungen gibt es von Karl Marx, dessen Wirken noch ein Vierteljahrhundert Jahre nach seinem Ableben für das Ergrünen der Saat verantwortlich gemacht wird. „Ist auch der Säemann zur Ruh’ gegangen, /So wuchert, grünt und blüht doch seine Saat.“169 Max Zimmering dichtet auf Stalin, er sei „Der Sturmbesieger und der Ströme Herr“.170 Er habe gezeigt, „wie man den Sturm besiegt / und Ströme zähmt / und wüste Steppen pflügt“.171 Johannes Robert Becher schreibt Stalin in seiner „Danksagung“172 sogar die Fähigkeit zu, totes Material zum Leben erwecken zu können. Ein erdichteter Besuch in der Galerie der Alten Meister ist literarischer Beleg für diese Überzeugung: „In Dresden sucht er auf die Galerie, /Und alle Bilder sich vor ihm verneigen.“173 163 Hermann Graedener, Gesang in den Sieg. Dem Führer. In: Walter Pollack (Hg.), Das Hermann-Graedener-Buch. Eine Auswahl, Wien 1938, S. 202. 164 Kölsch, Die Auslandsdeutschen an den Führer. In: Velmede (Hg.), Dem Führer, S. 26. 165 Hans Friedrich Blunk, Die Gassen hallen. In: ders., Balladen und Gedichte, Hamburg 1937, S. 235. 166 Vgl. z. B. Hans Kloepfer, Dem Führer. In: Bühner (Hg.), Dem Führer, S. 59 f., hier 59. 167 Möller, Der große Gärtner. In: Die Bühne, (1939) Heft 8, S. 181. 168 Heinrich Eckmann, Ich wollte, die Rosen blühten schon. In: Velmede (Hg.), Dem Führer, S. 19. 169 Karl Marx. Zu seinem 25. Todestag. In: Der Wahre Jacob, Nr. 565 vom 17. 3.1908, S. 5738. 170 Zimmering, Der Sturmbesieger und der Ströme Herr. In: Neue Deutsche Literatur, 1 (1953) Heft 4, S. 30 f. 171 Ebd. 172 Becher, Danksagung. In: Sinn und Form, 5 (1953) Heft 2, S. 8. 173 Vgl. hierzu Hans Dieter Zimmermann, Johann Wolfgang Goethe über Napoleon und Johannes R. Becher über Stalin. In: ders., Der Wahnsinn des Jahrhunderts. Die Verantwortung der Schriftsteller in der Politik, Stuttgart 1992, S. 36.

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Vor Hitler verneigen sich nicht Gemälde, sondern lebende Wesen. Als in ihrem unbefangenen Urteil untäuschbar gelten seit jeher Kinder und Tiere. Sie werden in ihrem Verhalten als Indikatoren übernatürlicher Kräfte angesehen. „Die Kinder künden’s in strahlendem Glück, /Die irgendwo ihm begegnet; / Und Tiere haben mit stummem Blick/Sein stilles Wohltun gesegnet.“174 Der unbändige Wille und die außerordentliche Kraft der Führerpersönlichkeiten sind weitere Merkmale für ihre geglaubten übermenschlichen Fähigkeiten. Hitler nennt Erwin Guido Kolbenheyer zufolge „ein Wille planvoll, hart, kristallenrein“175 sein Eigen. Der Wille hat in der Erwartungshaltung der Glaubenden sein Gegenstück. „Die Menschheit bebend, sprach: Dein Wille sei. /Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Wir sind frei!“176 Ein „tiefrer Wille“ reißt die Soldaten „in die Schlacht hinein“.177 Klassischen Ausdruck findet die Auffassung, der Wille sei im Führer verkörpert, in einem Gelegenheitsgedicht auf Hitlers Geburtstag aus dem Jahr 1935, das in einer Zeitschrift für Erzieher abgedruckt wurde. Dort heißt es schlicht: „Dein Wille ist unser Gebot.“178 Der Führer der nationalsozialistischen Bewegung sei, wie Anne Marie Koepper stellvertretend für „Die deutsche Frau an Adolf Hitler“ dichtet, als „Ein Freund, ein Helfer, eine stille Kraft“ „in jedes deutsche Haus gekommen“.179 Die Alterität der Kraftverteilung ist ein Aspekt auf den auch Kolbenheyer in seinem „Dank“ an Hitler eingeht: „Volk wird aus Dir, und Dein ist seine Kraft.“180 Karl Marx verfügt über einen „Eisenwillen“.181 Seine „Jünger trauern um die Kraft, /Die Kraft des Geistes, die wir nun vermissen.“182 Der Ahnherr des Marxismus ist für Maurice Reinhold von Stern „Der Feuergeist voll Kraft“.183 Der autoritätseinflößenden Stimme wird innerhalb der gelegenheitslyrischen Erzeugnisse eine besondere Wirkung zugeschrieben. Sie löst Ehrfurchtbekundungen der Zuhörer aus. Oftmals werden Entrückungserscheinungen der Glaubenden versifiziert. Die Redner vermochten, die aufnahmebereiten Zuhörer in ihren Bann zu ziehen. Rose Nylandt berichtet vom V. Parteitag 1958: „Ich hö-

174 Anacker, Adolf Hitler als Mensch. In: ders., Die Fanfare, S. 108; vgl. auch ders., Der Führer und das Kind. In: Bühner (Hg.), Dem Führer, S. 11. 175 Erwin Guido Kolbenheyer, Der Führer. In: Heinz Kindermann (Hg.), Heimkehr ins Reich. Großdeutsche Dichtung aus Ostmark und Sudetenland 1866–1938, Leipzig 1939, S. 402. 176 Moder, Unser Dank. In: Heinz Kindermann (Hg.), Der Großdeutsche Gedanke in der Dichtung, Münster 1941, S. 55 f. 177 Bodo Schütt, Die jungen Soldaten. In: ders., Gestirn des Krieges, Jena 1941, S. 45. 178 Der Nationalsozialistische Erzieher. Gauamtliche Wochenzeitschrift des NSLB, Gau Westfalen Süd, Nr. 16 vom 20. 4.1935, S. 1 (Sonderausgabe zu Hitlers Geburtstag). 179 Anne Marie Koeppen, Die deutsche Frau an Adolf Hitler. In: dies., Wir trugen die Fahne, Leipzig 1938, S. 36. 180 Kolbenheyer, Dank. In: Velmede (Hg.), Dem Führer, S. 6. 181 Klaar, Karl Marx zum Gedächtnis. Zu seinem 25. Todestag. In: Süd-Deutscher Postillion, Nr. 7 (1908), S. 50. 182 Schwab, Dem Andenken von Karl Marx. In: Vorbote, Nr. 12 vom 24. 3.1883. 183 Von Stern, In memoriam Karl Marx. In: ders., Proletarier-Lieder, S. 20.

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re der Parteitag spricht. /Die Stimme Walter Ulbrichts ist im Raum. /Die Worte leben.“184 Für die Person Adolf Hitlers ist die bannende Wirkung seiner scheinbar höhere Wahrheiten verkündenden Stimme in vielfacher Weise gelegenheitslyrisch fixiert. „Als seine Stimme durch den Äther schwang, /geschah’s, dass unsere Herzen still standen/und dass um uns die grauen Schatten standen/und dass ein Engel auf uns niedersprang [...] und dass der Klang, der aus des Führers heißer Seele drang, /Altäre schuf, auf denen wir entbrannten // wie Heilige, in denen wunderbare, /inbrünstige Gebete sich vereinten.“185 Die bloße Übertragung der Reden durch den Radioapparat führt dazu, dass die Hörer davon überzeugt sind, die Welt stehe still. „Des Führers Stimme geht durch unsre Stube, /Wir sitzen lauschend neben dem Gerät, /und ist ein Schweigen über unsren Häuptern, als ob die ganze Erde stillesteht. [...] Die Stunde, da wir seine Stimme hören, /ist unsres Glaubens innerlichstes Fest.“186 Die Stimme Hitlers ist Auslöser für kultische Handlungen. „Wir hörten oftmals Deiner Stimme Klang/und lauschten stumm und falteten die Hände, / da jedes Wort in unsre Seelen drang.“187 Gesteigert wird das Empfinden noch, wenn die Stimme nicht technisch übermittelt wird, sondern Hitler den Zuhörern real präsent gewesen ist: „Er sprach und sah sie an, /und seiner Augen Treue, seiner Worte/Herzblut ergriff sie, dass sie alle lauschten // und stille wurden rings im weiten Rund, /und über ihnen war’s als neigte sich/die Gottheit selbst und sprach:/Nun seid ein Volk!“188 Wenn der Führer spricht, „wird das Wort Gesetz“.189 Der Redeschwall des Diktators wird von Josef Moder sogar mit der Verkündung des Jüngsten Gerichts ineins gesetzt: „Da dröhnten deine Worte in die Welt, /so wie die Stimme der Posaune gellt, /die so mächtig ist und groß und erzgegossen, // am Tage des Gerichts: sühnend, befreiend.“190 Die Fähigkeit, Wunder zu vollbringen, ist ein Erweis von übermenschlichem Vermögen. Stalin lässt sich in seiner Sendung von nichts aufhalten. „Er überquert das Meer, /Und kein Gebirge setzt ihm eine Schranke.“191 Spöttelnd dichtet Hermann Kükelhaus auf die von seinen Zeitgenossen geglaubten Wundertaten Hitlers: „Es steht im Zeichen seiner Macht, /Dass er die Tauben sehen macht, /Die Blinden macht er hören.“192 Hitler selbst, „der ein ganzes Volk erlöste“, ist in einem Gedicht Ingeborg Teuffenbachs „das Unver184 Rose Nyland, Vom V. Parteitag. In: Neues Deutschland, Nr. 189 vom 9. 8.1958. 185 Brendel, 12. September 1938. Der Führer spricht. In: ders., Heim ins Reich. Lieder eines Sudetendeutschen, Reichenberg 1939, S. 23. 186 Karl Lanig, Der Führer spricht. In: Günter Kaufmann (Hg.), Deine Jugend, mein Volk! Gedichte aus dem Großdeutschen Freiheitskampf, Leipzig 1943, S. 92 f. 187 Inge Capra, Bekenntnis zum Führer. In: Musik in Jugend und Volk, (1937/1938), S. 227. 188 Fritz Nölle, Der Führer. In: Das Schwarze Korps vom 18. 6.1936. 189 Carl Emil Uphoff, Der Führer spricht. In: Neues Volk (Gilbhardt), Nr. 10 (1935), S. 38. 190 Moder, Sudetendeutsche Heimkehr. In: ders., Im Tal der Zeit, S. 13. 191 Becher, Danksagung. In: Sinn und Form, 5 (1953) Heft 2, S. 8. 192 Hermann Kükelhaus, Gedichte, Potsdam o. J. [1947], S. 14 (verfasst im Zeitraum 1942– 44).

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gesslichste und Größte, /das der Himmel je an Wundern schuf“.193 Ähnliches dichtet Agnes Miegel, insofern das bloße Auftreten Hitlers in einem ihrer Gedichte an den Führer bereits als ein Wunder bezeichnet wird.194 Neben das Wunder tritt die Magie als zusätzlicher Erweis übersinnlicher Kräfte. Ist es im Zusammenhang des Nationalsozialismus vor allem die Faszination der gleichgeschalteten Masse, die „Magie der Viererreihe, / Wenn vorn die Trommel dröhnt“,195 so kommt im Marxismus-Leninismus der durch Karl Marx entdeckten „Magie der Wissenschaft“ große Bedeutung zu: „Ein Doktor Faust, des Zaubers Meister, /Durch seine Geistersklaven Kraft, /Vollbringt der Menschen jetzt Wunderwerke/Mit der Magie der Wissenschaft.“196

3.3

Geglaubte Allgegenwart

Eine Gottheit erweist sich in „römischreligiösem“ Denken durch ihre Omnipräsenz. Marx ist überall anwesend. „Sein Name [ist] wo Maschinen schwirren, / Bei uns in Stadt und Land.“197 Auch von Thälmann wird das in verschiedenen Varianten behauptet: „Thälmann lebt in allen Zugmaschinen, /die das Saatkorn auf die Äcker fahren, /Thälmann lebt in allen Martinsöfen, /die noch gestern ohne Feuer waren, /Thälmann lebt in allen Ätherwellen, /die im Volke Friedenswillen wecken, /Wahrheit künden, Zuversicht verbreiten, /bis sich die gebeugten Rücken strecken.“198 Ein oft eingesetzter Vorstellungszusammenhang, um die Allgegenwart sinnfällig zu bedichten, ist der Blick. Hitlers Blick geht von den zahlreichen Führerbildern aus. „In jeder Kammer grüßt/Deutschland dich heute, das du trugst – das dich trug.“199 Edelgard Holzlöhner-Goltsch reimt auf das „Bild des Führers:“ „Dein Blick ist unserm Tagwerk freund. /[...] Die Kinder spielen dir zu Fuß. / Und wenn wir durch die Stube schreiten, /wird immer unser warmer Gruß/hinauf zu deinem Bilde gleiten.“200 Das Bildnis tröstet die Gläubigen: „Sieh, da hängt dein Bild an meiner Wand, /alle Sorgen kann ich nun vergessen.“201 193 Teuffenbach, Ein Denkmal. In: dies., Saat und Reife, S. 60. 194 Miegel, An den Führer. In: dies., Ostland, Gedichte, Jena 1940, S. 5. 195 Anacker, Marschtritt im Ehrenkleid! In: ders., Die Trommel, S. 74; vgl. auch Ina Seidels Gedicht „Lichtdom“: „In Gold und Scharlach, / feierlich mit Schweigen, / ziehn die Standarten vor dem Führer auf. / Wer will das Haupt nicht überwältigt neigen?“ (dies., Lichtdom. In: Velmede [Hg.], Dem Führer, S. 16). 196 Klaar, Karl Marx. Zum Gedächtnis seines zehnjährigen Sterbetags 14. März 1883. In: Der Wahre Jacob, Nr. 173 (1893), S. 1418. 197 Leopold Jacoby, Karl Marx’ Todtenfeier im Cooper Institut zu New York (Den 19. März 1883). In: Karl Henckell (Hg.), Buch der Freiheit, Berlin 1883, S. 244 f. 198 Zit. nach Möbius, Kommunistische Jugendarbeit, S. 99. 199 Blunk, Wir wissen ... In: Erika, Nr. 7/8 (April 1942). 200 Edelgard Holzlöhner-Goltsch, Bild des Führers. In: Gedichte des Volkes. Erstes Buch. Dietrich-Eckart-Band. Vom Jahr 1 bis zum Jahr 5 des Dritten Reiches. Ausgewählt von Herbert Böhme, München 1938, S. 78. 201 Ferdinand Oppenberg, Müd vom Werke fällt die schwere Hand. In: Velmede (Hg.), Dem Führer, S. 57.

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Auf Massenveranstaltungen gilt das, was für die Stimme bereits ausgeführt wurde, in ähnlicher Weise für den Blick. Der einzelne innerhalb der Masse fühlt sich persönlich von ihm getroffen: „Und mögen tausend Menschen vor dir stehen, /so fühlt doch jeder deinen Blick allein/und denkt es muss für ihn die Stunde sein/und du willst tief in seine Seele sehn.“202 Selbst die Abwesenheit des Diktators ist noch lange kein Grund an dessen Fähigkeiten zu zweifeln: „Es gibt so viele Menschen, die dich segnen, /wenn auch ihr Segen nur ein stummer ist –/Es gibt so viele, die dir nie begegnen/und denen trotzdem du der Heiland bist.“203 Die imaginierte Gegenwart hat kraftspendende Wirkung. „Manchmal bringt die Vision von dir erst Leben/in harte Arbeit und in schwere Pflicht.“204 Die Soldaten sollen aus vergleichbaren Vorstellungen Kampfesstärke beziehen. In einem dem Führer gewidmeten Gesang in den Sieg lässt Hermann Graedener diesen bei jedem Gefecht anwesend sein: „Ein Herr überm Heer! Über Tritt und Ritt/Hoch schreitet er mit, hoch reitet er mit, /Er reitet ins Reich, er reitet ums Recht, /So führt er die Rotten ins Gottesgefecht.“205 Stalins Bild löst ebenfalls metarationale Glaubensvorstellungen aus: „Und niederblickt sein Bildnis von der Wand. /Auch in dem fernsten Dorf ist er zugegen. [...] Dort wird er sein in allem Schönen, Guten/Auf jedem Berg, an jedem deutschen Strom. [...] Im Wasserfall und in dem Blätterrauschen/Ertönt sein Name.“206 Max Zimmering nimmt Stalins Tod zum Anlass, um dessen Weiterleben zu propagieren: „Stalin sei tot? Stalin ist immer da –/er lebt in sechzehn Sowjetrepubliken, /er lebt in den Kolchosen, /den Fabriken, /lebt unter Kumpeln in den USA, /er lebt wo Docker Munition vernichten, /in London, Rom –/in jeder Friedenstat, /er lebt im großen Friedenskombinat, /das Menschen unsrer Republik errichten.“207 Die kultische Verehrung ist tief im Alltag verwurzelt. Steinerne und eherne Monumente, Benennungen aller möglichen Orte und Gegenstände auf den Namen der Anführer208 und dergleichen mehr künden von deren Vorrangstellung. Selbst aus Nippes werden Kultgegenstände. Im Fall von Karl Marx, dem aufgrund der Herrschaftsverhältnisse zunächst keine großen Denkmäler errichtet werden konnten, wird die Not zur Tugend erklärt: „Der Monumente kann der 202 Teuffenbach, Vor dir, mein Führer. In: dies., Saat und Reife, S. 69. 203 Anonym, Unserem Führer. In: von Schirach (Hg.), Das Lied der Getreuen. Verse ungenannter österreichischer Hitler-Jugend aus den Jahren der Verfolgung 1933–1937, Leipzig 1938, S. 12 (Das Gedicht stammt von Ingeborg Teuffenbach; vgl. dies., Unserem Führer. In: Saat und Reife, S. 75). 204 Ebd. 205 Graedener, Gesang in den Sieg. Dem Führer. In: Pollack (Hg.), Das Hermann-Graedener-Buch, S. 202. 206 Becher, Danksagung. In: Sinn und Form, 5 (1953) Heft 2, S. 8 f. 207 Zimmering, Der Sturmbesieger und der Ströme Herr. In: Neue Deutsche Literatur, 1 (1953) Heft 4, S. 30 f. 208 Vgl. z. B. Kolbenheyer, Der Führer. Vorspruch für die Gedenktafelenthüllung an der Adolf-Hitler-Kaserne in München. In: Kindermann (Hg.), Heimkehr ins Reich, S. 402. Beleg sind auch die zahlreichen Plätze, Bäume, Ortschaften und Betriebe, die auf den Namen der Herrschenden getauft wurden.

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entrathen, /Der sich selbst aus dem harten Gestein, /Das er sich brach aus den furchtbaren / Gründen der Leidensgeschichte des Volkes / Schuf den Geisterpalast des Gedankens!“209 Etwa drei Dezennien später notierte Walter Benjamin in seinem Moskauer Tagebuch die Auswüchse des Personenkultes um Lenin.210 Stalin ist dann schon „Ein Mann, in dessen Tausenden Bildnissen/Ein Volk in seinem Besten sich erkennt“.211 Die schichtenübergreifende Verehrung, die Adolf Hitler zuteil wurde, lässt sich anhand eines hier ausführlicher wiedergegebenen Gelegenheitsproduktes Heinrich Anackers nachvollziehen: „Das Bild des Führers, mit blühenden Blumen bekränzt. /Da stand es, gemalt von begnadeter Künstlerhand [...]/Schaufenster wurden zu wahren Blumenaltären, /wie keine Andachtskapelle sie herrlicher zeigt –/Und waren dennoch das herzergreifendste nicht:/Nein, dort, wo die Kinder der Schattenseite des Lebens, /Dort, wo im Elend die Ärmsten der Armen wohnen, /vollzog sich der deutschen Wunder beglückendstes. /Zwar fehlte das Geld für goldne und silberne Rahmen / Und für den kostbaren Schmuck, den der Gärtner bereithält / Doch waren die Fenster der Armutsgassen nicht leer:/Aus jedem grüßte dennoch das Bildnis des Führers, /Von schwieligen Händen sorgsam der Zeitung entschnitten/Und rührend verziert mit den selber gepflückten Blumen, /Den Veilchen und Anemonen vom Wienerwald.“212

4.

Theologie und organisierter Kultus

Die religiöse Bindung wird vor allem in der Gelegenheitslyrik des Nationalsozialismus hervorgehoben. Der „heilige Glaube“213 ist wechselseitig: „Denn ich bin ihr und ihr seid ich, /und wir alle glauben, Deutschland an Dich!“214 In anderen Worten: „Du bist wir/und wir sind du. /Alle Worte, die du findest, /sind von unserm Mund genommen, /denn du sagst es, was wir glauben“215 oder „Wir wissen, du verkündest jedes Mal:/Ich bin bei euch – und ihr gehört zu mir!“216 Es wird eine neue Form des Glaubens wahrgenommen. „Der reine Glaube, den Du uns gegeben, /durchpulst bestimmend unser junges Leben.“217 Trotz der 209 sd., Karl Marx. In: Süd-Deutscher Postillion, Nr. 6 (1893), o. S. 210 Walter Benjamin, Moskauer Tagebuch. Mit einem Vorwort von Gershom Scholem, Frankfurt a. M. 1980, S. 74 f. (28.12.1926). 211 Becher, Ein Mann, der Deutschland liebt ... In: ders., Der gespaltene Dichter, S. 79. 212 Anacker, Blumen um des Führers Bild. In: ders., Ein Volk – Ein Reich – Ein Führer. Gedichte um Österreichs Heimkehr, München 1938, S. 47 f., hier 47. 213 Teuffenbach, Der heilige Glaube. In: dies., Saat und Reife, S. 41. 214 Von Schirach, Hitler. In: ders., Die Fahne der Verfolgten, S. 39; vgl. auch die semantische Analyse des Gedichts bei Girschner-Woldt, Theorie der modernen politischen Lyrik, S. 22–25. 215 Friedrich Joachim Klähn, Führer. In: Gedichte des Volkes, S. 65. 216 Teuffenbach, Vor dir, mein Führer. In: dies., Saat und Reife, S. 69. 217 Capra, Bekenntnis zum Führer. In: Musik in Jugend und Volk, (1937/1938), S. 227.

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Neuheit nimmt der Glaube bereits Ewigkeitscharakter an: „Und ist auch unser Sein verglommen, /das Werk doch wie ein Berg besteht/und kündet allen, die da kommen: dies war ihr Glaube im Gebet.“218 Es handelt sich um eine auf Veränderung durch Praxis ausgerichtete Form, wie Baldur von Schirach überzeugt ist: „Gebete leben durch ihre Taten!“219 Für Hanns Johst liegt die Aufgabe des Dichters in der nationalsozialistischen Zeit in der seelischen und geistigen Vermählung von „Erdenreich und Himmelreich“.220 Eine Zwei-Naturen-Lehre, die dem kultisch verehrten Anführer gleichzeitig menschlichen und übermenschlichen Status zuspricht, lässt sich in den durch die Gelegenheitslyrik vermittelten Ideologieerzählungen antreffen. Maurice Reinhold von Stern betont ausdrücklich die menschlichen Eigenschaften von Karl Marx. Er ist „der Mensch, der kampfbereite Held“.221 Walter Ulbricht ist infolge seiner höheren Aufgaben „Ein Mensch/ein Mensch der lebt/und lacht und weint/Und ist doch mehr/weil er in seinem Wesen/die neuen, großen zehn Gebote eint.“222 Baldur von Schirach erblickt – in der bereits zitierten Größezuschreibung – an Hitler „an ihm das Größte: [...] dass in ihm ruhn die Wurzeln unsrer Welt, / und seine Seele an die Sterne strich/und er doch Mensch blieb, so wie Du und ich“.223 Es gibt sogar Gedichte, die Adolf Hitler als Mensch224 betitelt sind. Der organisierte Kultus225 lässt sich anhand verschiedener Dichtungen, die anlässlich der Gelegenheit von Fest- und Gedenktagen entstanden sind, vergegenwärtigen. Beständig wiederholte Darbietungen bei Morgenfeiern, Heimabenden, Schul- und Betriebsfeiern, Aufmärschen, Apellen und Versammlungen der Parteien gaben genügend Anlässe, um Gelegenheitslyrik zu produzieren und zu rezipieren. Einige Beispiele für das nationalsozialistische Festjahr226 deuten dies an: Otto Bangert, Zu Adolf Hitlers Geburtstag;227 Baldur von Schirach, Nürnberg 1927;228 Heinrich Anacker, Fahneneinmarsch (Zum Parteitag 1933);229 218 Von Schirach, Mag unser Sein. In: ders., Die Fahne der Verfolgten, S. 21. 219 Ebd. 220 Johst, Der Dichter in der Zeit. In: Die Dichtung im Kampf des Reiches. Weimarer Reden 1940, 2. Auflage Hamburg 1943, S. 12. 221 Von Stern, In memoriam Karl Marx. In: ders., Proletarier-Lieder, S. 20. 222 Nyland, Vom V. Parteitag. In: Neues Deutschland, Nr. 189 vom 9. 8.1958. 223 Von Schirach, Das Größte. In: ders., Die Fahne der Verfolgten, S. 37. 224 Anacker, Adolf Hitler als Mensch. In: ders., Die Fanfare, S. 108. 225 Vgl. Hockerts, War der Nationalsozialismus eine politische Religion? In: Hildebrand (Hg.), Zwischen Politik und Religion, S. 46 f. 226 Zu den zahlreichen Feiertagen des NS-Jahres gehörten der Tag der Machtergreifung am 30. Januar; der Heldengedenktag und Verpflichtungstag der Jugend im März; Hitlers Geburtstag am 20. April; der nationale Feiertag des deutschen Volkes am 1. Mai; der Muttertag am 2. Maisonntag; die Sommersonnenwende; der Reichsparteitag im September; der Erntedanktag; der Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung am 9. November; die Wintersonnenwende und die Volksweihnacht. 227 Bangert, Zu Adolf Hitlers Geburtstag. In: Nationalsozialistische Feierstunden, S. 44 f. 228 Von Schirach, Nürnberg 1927. In: ders., Die Fahne der Verfolgten, S. 36. 229 Anacker, Fahneneinmarsch. In: Nationalsozialistische Monatshefte. Zentrale politische und kulturelle Zeitschrift der N.S.D.A.P., 5 (1934), S. 1.

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Baldur von Schirach, Am 9. November vor der Feldherrnhalle zu München;230 Gerhard Schumann, Heldische Feier;231 Heinrich Anacker, Deutsche Ostern 1933232 oder Carl Maria Holzapfel, SA-Weihnacht! 233, sind Titel, die Zeugnis von der ausführlichen nationalsozialistischen Feiergestaltung ablegen. Für den Marxismus-Leninismus gilt Vergleichbares, wobei zu bedenken ist, dass es sich in seinem Fall für einen relativ langen Zeitraum um einen inoffiziellen Memorial- und Gedenkkult handelte. Erst mit der Oktoberrevolution wurde er für Russland und für den jeweiligen sowjetischen Einflussbereich zum verbindlichen Staatskult erhoben. Der 1908 zu Marx’ Todestag getätigte Aufruf „Lasst still die Räder stehn, die Arbeit ruhn“,234 wurde erst nach der Übernahme der Herrschaft durch das Proletariat allgemeinverbindlich. Für die Frühphase sind gelegenheitlyrische Erzeugnisse wie Reinhold Maurice von Stern, In memoriam Karl Marx;235 Leopold Jacoby, Karl Marx’ Todtenfeier im Cooper Institut zu New York (Den 19. März 1883);236 Max Kegel, Die internationale Arbeiter-Assoziation. 28. September 1864 – 28. September 1894;237 L., Karl Marx zum Gedächtnis. 1818 5. Mai 1918238 oder Ernst Klaar, Zum Gedächtnis seines zehnjährigen Sterbetages 14. März 1883239 und Karl Marx zum Gedächtnis. Zu seinem 25. Todestag240 kennzeichnend. Auch Richard Wagner fügt sich mit seinem Memorialgedicht Karl Marx. Zum 25. Todestage241 in diese Reihe ein. Dass der Geburtstag Karl Marx’ in der Gelegenheitslyrik nicht immer am richtigen Tag stattfand, ist ein Versehen, das in einigen Produkten des frühsozialistischen Literaturschaffens anzutreffen ist. Auf Marx, der am 5. Mai geboren wurde, dichtete ein Anonymus: „Wird der erste Mai gefeiert, /Sei der zweite nicht verloren, /Denn es ward an diesem Tage/Einstens Karl Marx geboren.“242

230 Von Schirach, Am 9. November vor der Feldherrnhalle zu München. In: ders., Die Fahne der Verfolgten, S. 32. 231 Schumann, Heldische Feier. In: Wegner (Hg.), Wir glauben!, S. 117. 232 Anacker, Deutsche Ostern 1933. In: ders., Die Fanfare, S. 112 f. 233 Holzapfel, SA-Weihnacht! In: ders., Einer baut einen Dom, Berlin 1934, S. 48. 234 g.g., Zum 14. März 1908. In: Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Nr. 6 vom 16. 3.1908, S. 58. 235 Von Stern, In memoriam Karl Marx. In: ders., Proletarier-Lieder, S. 20. 236 Jacoby, Karl Marx’ Todtenfeier im Cooper Institut zu New York (Den 19. März 1883). In: Henckell (Hg.), Buch der Freiheit, S. 244 f. 237 Max Kegel, Die internationale Arbeiter-Assoziation. 28. September 1864–28. September 1894. In: Der wahre Jacob, Nr. 214 (1894), S. 1790. 238 L., Karl Marx zum Gedächtnis. 1818 5. Mai 1918. In: Volksstimme Chemnitz, Nr. 36 vom 4. 5.1918 (Unterhaltungsbeilage). 239 Klaar, Karl Marx. Zum Gedächtnis seines zehnjährigen Sterbetags 14. März 1883. In: Der Wahre Jacob, Nr. 173 (1893), S. 1418. 240 Ders., Karl Marx zum Gedächtnis. Zu seinem 25. Todestag. In: Süd-Deutscher Postillion, Nr. 7 (1908), S. 50. 241 Wagner, Karl Marx. Zum 25. Todestage. In: Vorwärts. Berliner Volksblatt, Nr. 63 vom 14. 3.1908. 242 Wird der erste Mai ... In: Pionier. Illustrierter Volks-Kalender für 1883, New York 1883, o. S.

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Gelöbnishafte Bekenntnisdichtungen sind zahlreich für den Nationalsozialismus überliefert.243 „Adolf Hitler!/Dir allein sind wir verbunden! Wir wollen in dieser Stunde das Gelöbnis erneuern:/Wir glauben/auf dieser Erde allein an Adolf Hitler. /Wir glauben, dass der Nationalsozialismus der allein seligmachende Glaube / für unser Volk ist.“244 Ein vielfach zitiertes Gebet ist folgendes: „Händchen falten, Köpfchen senken/innig an den Führer denken/der uns Arbeit gibt und Brot/der uns hilft aus aller Not.“245 Hitler wird von unzähligen Glaubenden in Gebeten verehrt: „Ach, zahllos sind sie mit uns angetreten, /auf zu den Sternen staffelt sich der Chor, /zu grüßen: Heil ihm! – Und: Hilf ihm! zu beten –.“246 Heilige Stätte ist beispielsweise den Nationalsozialisten die Feldherrenhalle: „Was sie auch schufen/uns sind Altar die Stufen/der Feldherrnhalle.“247 Sie wird gerne mit einem Altar assoziiert: „Wir baun des Reiches ewige Feldherrnhalle, /die Stufen in die Ewigkeit hinein, /bis uns die Hämmer aus den Fäusten fallen. /Dann mauert uns in die Altäre ein.“248 Nürnberg ist der Bewegung „ein heiliger Ort“.249 Dem frühen Marxismus-Leninismus sind die Gedankengebäude von Karl Marx Erweis der eigenen Besonderheit. „Die Steine sind Ideen, die er goss/Zu pfeilerkrönendem Gewölb zusammen.“250 Die Erinnerung an Friedrich Engels ist aufgrund seiner Seebestattung fast überall möglich: „Im Geiste weilen trauernd die Millionen/An deinem Grab, die trotz der Arbeit darben/In den verschiedenen Ländern aller Zonen.“251 Erst später traten Monumente hinzu. Der Nationalsozialismus kennzeichnet sich durch eine starke Hervorhebung des Opferaspektes innerhalb der gelegenheitslyrischen Dichtungen zu dessen Kultus: „Das weite Volk, geeint durch Blut und Eisen!/Träume versinken. Einzig nur die Pflicht/des eignen Opferganges scheint ihm Ziel.“252 Baldur von 243 Vgl. z. B. exemplarisch Kilian Koll, Gelöbnis. In: Velmede (Hg.), Dem Führer, S. 20 f.; Rudolf Paulsen, Gelöbnis. In: Bühner (Hg.), Dem Führer, S. 76; Max Wegner, Gelöbnis. In: Bühner (Hg.), Dem Führer, S. 74; fernerhin Böhme, Bekenntnis zum Führer. In: Bühner (Hg.), Dem Führer, S. 53; Bröger, Bekenntnis. In: Velmede (Hg.), Dem Führer, S. 32. 244 Reichsleiter Dr. Robert Ley am 10. 2.1937, Schulungsbrief der NSDAP, zit. nach Wolfgang Günther (Hg.), Argumente und Parolen. Politische Propaganda im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1975, S. 63. 245 Zit. nach Guardini, Der Heilbringer in Mythos, Offenbarung und Politik, S. 72. 246 Seidel, Lichtdom. In: Velmede (Hg.), Dem Führer, S. 16. 247 Von Schirach, Am 9. November vor der Feldherrnhalle zu München. In: ders., Die Fahne der Verfolgten, S. 32. 248 Schumann, Heldische Feier. In: Wegener (Hg.), Wir glauben!, S. 117. 249 Anacker, Nürnberg, du bist für uns ein heiliger Ort. In: ders., Wir wachsen in das Reich hinein, S. 80. Dort sind insgesamt acht Gedichte über Nürnberg als Kultzentrum versammelt. 250 Wagner, Karl Marx. Zum 25. Todestage. In: Vorwärts. Berliner Volksblatt, Nr. 63 vom 14. 3.1908. 251 Hannich, Nachruf auf Friedrich Engels. In: Beißwanger (Hg.), Stimmen der Freiheit, S. 399 f. 252 Kolbenheyer, Der Führer. In: Kindermann (Hg.), Heimkehr ins Reich, S. 402.

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Schirach kann als Kenner der Nazi-Ideologie in seiner Fahne der Verfolgten dichten: „Unser ganzes Leben/ist ein Opfergang.“253 Die wenigsten konnten sich diesem totalen Anspruch versagen: „Verlangst du alles, was wir nur besitzen, / wir geben es, denn wir glauben an dich. // Wir schwören dir Gefolgschaft. /Diesen Eid kann keiner lösen –/Selbst du nicht – nur der Tod!/Und der ist unseres Seins Erfüllung.“254

5.

Zum Element der Totalität

Die gelegenheitslyrischen Erzeugnisse können dabei helfen, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft wie den Personenkult und die kultisch-religiösen Züge der zugrundeliegenden Ideologien verständlicher zu machen. Erklären können sie den Totalitarismus allerdings nicht. Sowohl das gelegenheitslyrische Schrifttum im Rahmen der nationalsozialistischen deutschen Literatur als auch die Gelegenheitslyrik im Gesamtzusammenhang des sozialistischen deutschen Literaturschaffens bieten in ihrer Radikalität etliche Belege für den umfassenden Herrschaftsanspruch, der sich bis in die Transzendenz hinein erstreckt. Der Rückgriff auf „römischreligiöse“ Argumentationsfiguren zeigt sich im Zusammenspiel von Tradition, Religion und zu Totalitätsansprüchen übersteigerter Autorität. Insgesamt ist die systemaffirmative Gelegenheitslyrik des Nationalsozialismus durch eine höhere Intensität des Religiösen und durch den Bezug auf lediglich eine Führerfigur in ihrem Aussagecharakter einheitlicher. Dies ist zu großen Teilen der historischen Entwicklung und der Adaptionsstrategie der Nationalsozialisten in Hinsicht auf die Religion geschuldet. Der qua Ideologie areligiöse Marxismus-Leninismus konnte jedoch über den Umweg des Heroenkultes einen religiösen Führerkult herausbilden. Die angedeuteten Phänomene fußten auf der Heilserwartung der Massen. In den Reimereien auf den Anschluss Österreichs findet sich die euphorische Totalisierung Mitte der 30er Jahre widergespiegelt: „Nun hebt zu Deinem Gruße sich jede Hand, /Und heller Jubel eint die frohen Massen, /Die Fahnen stehen kerzensteil im Land, /Es klingt Dein Name laut in allen Gassen.“255 Hitler konnte ebenso wie Stalin auf die Gefolgschaft von Millionen Gläubigen bauen. „Die Millionen beugten sich ihm schweigend“256 dichtet Gerhard Schumann auf Hitler, „Die Millionen sind die Seinen“257 Kurt Barthel auf Stalin.

253 Von Schirach, Ihr und wir. In: ders., Die Fahne der Verfolgten, S. 18. 254 Fritz Sotke, So ist es. In: Wille und Macht vom 15.1.1934, S. 1. 255 Mirko Jelusich, Führer, dein Name! In: Völkischer Beobachter (Wiener Ausgabe) vom 12. 3.1939. 256 Schumann, Da kam die Nacht ... In: ders., Die Lieder vom Reich, S. 22. 257 Kuba, 5. März 1953, 21.50 Uhr. In: Neue Deutsche Literatur, 1 (1953) Heft 4, S. 14.

Politische Religion und aufgeklärter Mythos: Der Nationalsozialismus und das Gegenprogramm Hermann Brochs und Thomas Manns Tim Lörke In memoriam Wolf-Daniel Hartwich

In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden zwei unterschiedliche Mythoskonzepte als Antwort auf die Sinnlosigkeit der Moderne entwickelt. Auf je eigene Weise versuchten der politische Mythos als integrativer Bestandteil der politischen Religion des Nationalsozialismus sowie der aufgeklärte Mythos Thomas Manns sinnstiftend unter den Bedingungen des zivilisatorischen Fortschritts zu wirken. Wie heikel es allerdings sein konnte, einen Mythos gegen den Mythos des Nationalsozialismus zu setzen, soll an Hermann Brochs Roman Die Verzauberung verdeutlicht werden, der gewissermaßen eine mittlere Position bezieht zwischen dem Nationalsozialismus einerseits und Thomas Mann andererseits.

1. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ergreift ein allgemeiner Technikjubel, eine allumfassende Fortschrittseuphorie die westliche Welt. Nahezu alle wissenschaftlichen oder medizinischen Probleme gelten als gelöst oder doch zumindest als lösbar in absehbarer Zukunft. Der Wissenschaft scheinen keine Grenzen mehr gesetzt zu sein, und triumphierend kann die Lösung der Welträtsel verkündet werden.1 Zugleich setzt die Säkularisation ihren Siegeszug fort, indem der Einfluss traditionell sinnstiftender Institutionen wie der Kirchen beider Konfessionen immer mehr schwindet; die innerweltlichen Glücksverheißungen ersetzen die transzendente Erlösung. 1

Vgl. Ernst Haeckel, Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie, Bonn 1903; dazu: Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M. 1996, S. 226; Horst Thomé, Modernität und Bewusstseinswandel in der Zeit des Naturalismus und des Fin de siècle. In: York-Gothart Mix (Hg.), Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus 1890–1918, München 2000, S. 15–27.

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Doch recht bald schlägt die Euphorie in eine tief greifende Skepsis um. Zwar mögen wissenschaftliche Fragen ihre Antworten finden; die den Menschen seit je umtreibende Sehnsucht, den Sinn seines Tuns und die letzten Dinge zu erkennen, bleibt allerdings bestehen. Max Webers Rede Wissenschaft als Beruf, gehalten 1917 vor Studenten der Münchner Universität, artikuliert die Enttäuschung, durch wissenschaftliche Problemlösungen gerade keinen Sinn gewonnen, sondern im Gegenteil die Verzweiflung an der Sinnlosigkeit erst recht befördert zu haben. Die Orientierungslosigkeit des Menschen in der Moderne sowie die Unmöglichkeit, inmitten der immer rascher hereinbrechenden Entdeckungen und Erkenntnisse einen festen Stand zu bewahren, beklagt Weber in eindringlichen Worten. Den von ihm in Wissenschaft als Beruf der Moderne gemachte Vorwurf, die Welt entzaubert, sie also jedes Gemeinschaft stiftenden Geheimnisses beraubt zu haben, sieht Weber bedingt durch eben die Wissenschaften, die eigentlich zur Verbesserung aller Lebensverhältnisse und so zu einer metaphysischen Gewissheit hätten führen sollen.2 Aber gerade die zunehmende szientifische Überzeugung, die Welt sei erklärbar, „dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen,“ bringt Max Weber auf die Formel von der „Entzauberung der Welt“.3 Damit verdeutlicht er nicht allein den Verlust des Numinosen und eines diesseitig geoffenbarten Sinns, sondern leitet diesen Verlust vom Wesen der modernen Wissenschaften her: „Wenn irgend etwas, so sind sie geeignet, den Glauben daran: dass es so etwas wie einen ‚Sinn‘ der Welt gebe, in der Wurzel absterben zu lassen!“4 Zugleich konstatiert Weber den Wunsch der „Jugend“ nach Erlösung von den Wissenschaften, um zur eigenen Identität zurückzufinden.5 Dem hält Weber freilich abgeklärt oder resigniert die Parole entgegen, das Schicksal, „in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit“ leben zu müssen,6 „männlich [zu] ertragen“.7 Max Webers Analyse der Wirkungen der modernen Wissenschaften ist deutlich Friedrich Nietzsches Nihilismusdiagnose verpflichtet. Denn wie für Weber bedeutet für Nietzsche das wissenschaftliche Nachfragen die Destruktion jeglicher Sinngehalte, ohne neue zu schaffen. Überdies erkennt Nietzsche, wie ein radikal aufklärerisches Denken eine „Skepsis an der Moral“ gebiert.8 Deutlich wird hier das Problem des „Nihilismus als radikalster Form des Historismus“, 2

3 4 5 6 7 8

Für Weber beeinflusste der Protestantismus das Selbstverständnis der Wissenschaften so weit, dass diese den „Weg zu Gott“ als ihre eigentliche Aufgabe fassten; vgl. Max Weber, Wissenschaft als Beruf. Mit einem Nachwort von Friedrich Tenbruck, Stuttgart 1995, S. 23 f. Ebd., S. 19. Ebd., S. 24. Vgl. ebd., S. 23. Ebd., S. 41. Ebd., S. 44. Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden. Hg. von Karl Schlechta, Darmstadt 1997, Band 3, S. 881.

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wie es Lothar Köhn als Epochensignatur ausgemacht hat.9 Normative Überzeugungen werden als transitorisch erkannt, da sie nur vor der Folie bestimmter kultureller Zusammenhänge, die dem steten Wechsel der Geschichte unterliegen, zu verstehen sind. Nietzsche macht den Historismus „verantwortlich für die Auflösung des Mythos und der kreativen ‚Instinkte‘ des Lebens“, wie Katrin Meyer konstatiert.10 In seinem Urteil, „es fehlt die Antwort auf das ‚Wozu?‘“,11 fasst Nietzsche das Scheitern des wissenschaftlichen Anspruches zusammen, die Welt so zu erklären, dass daraus Handlungsnormen erwachsen könnten. Zurück bleibt der Mensch mit seinem „Hunger nach Ganzheit“12 beziehungsweise seinem „Hunger nach dem Mythos“.13 Denn gerade dem Mythos wird in der Weimarer Republik die Fähigkeit zugeschrieben, den Nihilismus zu überwinden und den Blick für eine neue Seinstotalität zu öffnen, indem er – wie Gottfried Benn 1932 formuliert – dem Menschen „einen letzten Ausweg aus seinen Wertverlusten, seinen Süchten, Räuschen, wüsten Rätseln“ aufzeigt.14 Das Brüchigwerden der Traditionen und die Unmöglichkeit, das Leben des Menschen in eine horizonterweiternde Ganzheit einzurücken, sind wesentliche Aspekte der jüngst von Christian Schwaabe umfassend analysierten deutschen Modernitätskrise, als deren „politisch-religiöses“ Heilmittel der Nationalsozialismus sich selbst verstand und wohl auch von vielen Deutschen verstanden wurde.15 Um allerdings auf diese Weise zu wirken, greift der Nationalsozialismus auf den Mythos zurück, in dessen Bildern und Symbolen eine Weltanschauung kompakt und gleichsam unbegrifflich verdeutlicht und vermittelt werden kann. Bevor der politische Mythos als ein wichtiger Bestandteil der politischen Religion des Nationalsozialismus vor der Folie des Sinnverlusts in der Moderne dargestellt wird, werden zweierlei Mythoskonzepte im Anschluss an verschiedene Mythostheoretiker profiliert. 9

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Lothar Köhn, Überwindung des Historismus. Zu Problemen einer Geschichte der deutschen Literatur zwischen 1918 und 1933. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 48 (1974), S. 704–766 (Teil 1) und 49 (1975), S. 94–165 (Teil 2), hier Teil 1, 751. Katrin Meyer, Historie. In: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben-WerkWirkung, Stuttgart 2000, S. 255–256, hier 255. Nietzsche zit. nach Köhn, Überwindung des Historismus, Teil 1, S. 750. Vgl. Peter Gay, Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918–1933, Frankfurt a. M. 2004, bes. S. 99. Vgl. Theodore Ziolkowski, Der Hunger nach dem Mythos. Zur seelischen Gastronomie der Deutschen in den Zwanziger Jahren. In: Reinhold Grimm/Jost Hermand (Hg.), Die sogenannten Zwanziger Jahre, Bad Homburg 1970, S. 168–201. Gottfried Benn, Nach dem Nihilismus. In: ders., Essays und Reden. In der Fassung der Erstdrucke. Hg. von Bruno Hillebrand, Frankfurt a. M. 1989, S. 223–231, hier 231. Vgl. Christian Schwaabe, Die deutsche Modernitätskrise. Politische Kultur und Mentalität von der Reichsgründung bis zur Wiedervereinigung, München 2005, bes. S. 364– 384. Dort ist auch die wichtigste Forschungsliteratur gebündelt. Für eine differenziertere Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus unter der Frage nach seiner politischen Religion ist im vorliegenden Versuch nicht der Raum; vgl. dazu auch den Beitrag von Hans Jörg Schmidt in diesem Band.

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Hans Blumenberg betont in seiner Studie zur Arbeit am Mythos,16 dass das Sinnangebot des Mythos durch das Rationalitäts- und Fortschrittsparadigma der Moderne nicht abgelöst sei, sondern dass im Mythos die Möglichkeit besteht, den Menschen von geschichtlichen Erfahrungen zu entlasten. Die Vermittlung zwischen dem Menschen und der ihn bedrängenden Wirklichkeit deutet Blumenberg als wichtigste Funktion des Mythos; Geschichten werden erzählt, um Furcht zu vertreiben. Zugleich erkennt Blumenberg in der prinzipiell offenen semantischen Struktur des Mythos dessen zutiefst humanes Potenzial: indem er stets neue Deutungsmöglichkeiten von Welt eröffnet, ist er von der Vereinnahmung durch Dogma und Ideologie geschützt. Im Anschluss an Blumenberg stimmt Odo Marquard sein Lob des Polytheismus an:17 Marquard skizziert zunächst einen totalisierenden Monomythos Emanzipationsgeschichte, der den Monotheismus in der aufgeklärten Welt abgelöst habe, und kritisiert damit jene Bewegung, die Adorno/Horkheimer als Dialektik der Aufklärung kenntlich zu machen suchten.18 Dagegen setzt Marquard sein Konzept eines aufgeklärten Polytheismus, das deutlich pluralistisch getönt ist: Der Vielgestaltigkeit des Polytheismus entspricht die Mannigfaltigkeit der Weltdeutungen. Wenn Marquard im Prinzip demokratischer Gewaltenteilung den Polytheismus verwirklicht sieht, wird das eminent Politische seines Entwurfs deutlich; die Offenheit oder Abgeschlossenheit politischer Systeme und Diskurse lässt sich beschreiben, indem man Mythen als Medien symbolischer Politik analysiert. Neben diesen deutungsoffenen tritt ein abgeschlossener Mythos als identitätsstiftende Kraft, die soziale Gruppen auf ein gemeinsames Ziel oder eine verbindliche Weltanschauung verpflichtet. Dem weltanschaulich nicht-determinierten Mythos in der Deutung Blumenbergs oder Marquards steht der politische Mythos als Ausdruck einer Ideologie entgegen. Kurt Hübner weist in seiner Studie Die Wahrheit des Mythos zunächst Roland Barthes’ These zurück, allein auf der Rechten des politischen Spektrums seien politische Mythen zu finden, weil die aufgeklärte Linke dafür zu vernünftig sei.19 Für Hübner ist jeder ideologische Glaube jedoch „Vernunftglaube, Glaube an die vernünftige Evidenz seiner Grundsätze“; darum ist Ideologie für Hübner nichts anderes als ein säkularisierter Glaube, der Religionsersatz ist und sich deshalb politischer Mythen – von Hübner als Pseudomythen gebrandmarkt – bedient.20 Die Funktion solcher Pseudomythen bestimmt Hübner in Anlehnung an Georges Sorel21 als „Zusammenfassung der Bemühungen [...], einer Ideologie revolutionären Schwung zu 16 Vgl. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1996. 17 Vgl. Odo Marquard, Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie. In: ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, S. 91–116. 18 Vgl. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Darmstadt 1998. 19 Vgl. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. 2003; dagegen Kurt Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, S. 357–362. 20 Hübner, Die Wahrheit des Mythos, S. 362 f. 21 Vgl. Georges Sorel, Über die Gewalt. Übersetzt von Ludwig Oppenheimer (1928). Mit einem Nachwort von George Lichtheim, Frankfurt a. M. 1981.

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geben“.22 Sorels enorme Bedeutung für die politisierte Aufklärungskritik der Weimarer Republik lässt sich an Thomas Manns Roman Doktor Faustus ablesen, in dem die Argumentationen der antidemokratischen Rechten im Salon des Industriellen Kridwiß bei ihrer gesprächsweisen Einübung des Nationalsozialismus explizit auf Sorel verweisen.23 Die Politikwissenschaft reflektiert entsprechend die enge Verwandtschaft zwischen Mythos und Ideologie. Andreas Dörner hat Ideologien als diskursive politische Sinnkonstruktionen definiert, die sich politischer Mythen bedienen; politische Mythen sind demnach „narrative Symbolgebilde mit einem kollektiven, auf das grundlegende Ordnungsproblem sozialer Verbände bezogenen Wirkungspotential“.24 Die offene semantische Struktur des Mythos, die Blumenberg beschreibt, wird dogmatisch verengt, um Menschen auf weltanschauliche Konstruktionen einzuschwören und zu einer Anhängerschaft zu mobilisieren. Mit Blumenbergs Mythosbegriff erkennt man im politischen Mythos die Entlastung von geschichtlichen Wirklichkeiten, aber nicht länger die offene semantische – oder mit Marquard: polytheistische – Struktur. Als Beispiel dafür hat Dietmar Schirmer in seiner Studie zu den politisch-kulturellen Deutungscodes der Weimarer Republik ein Mythologem angeführt,25 dass man in seiner babylonischen Tammuz-Gestalt aus Thomas Manns JosephRoman kennt. Tammuz stirbt jedes Frühjahr und gleicht dem Samenkorn, das in die Erde gelegt wird, um als fruchtbringende Pflanze wieder aufzuerstehen. Die antidemokratische Rechte der Weimarer Republik versuchte, einen solchen Mythos zu kreieren, indem man die Niederlage von 1918 in Bildern von Werden, Vergehen und umso schönerem neuen Werden erzählt. Man ersetzt Tammuz gleichsam durch Deutschland, um die Schmach der Niederlage zu bannen, um einem als ungerecht und katastrophal empfundenem Geschick Sinn zu verleihen und so eine gemeinsame Identität zu stiften. Dieser Mythos wird Ideologie; er wird zum Mythos mit negativem Vorzeichen; er schließt das Humane aus, um doktrinär ein einziges, nicht diskutierbares Wirklichkeitskonzept gegen die Geschichte zu behaupten. Der „Hunger nach dem Mythos“, der die Weimarer Republik ergreift, muss somit als wichtiger Faktor für die Herausbildung der nationalsozialistischen Diktatur begriffen werden. Der vielfach beklagte Verlust der Mitte und das Verlangen nach neuen 22 Hübner, Die Wahrheit des Mythos, S. 364. 23 Vgl. Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt a. M. 1990, Band 6, S. 486. Thomas Mann wird im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert: GW, Bandnummer, Seitenzahl. – Zur grundsätzlichen Bedeutung Sorels für extreme politische Ansichten verschiedener Gruppierungen der Weimarer Republik siehe auch Manfred Gangl, Mythos der Gewalt und Gewalt des Mythos: Georges Sorels Einfluss auf rechte und linke Intellektuelle der Weimarer Republik. In: ders./Gérard Raulet (Hg.), Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Frankfurt a. M. 1994, S. 171–196. 24 Andreas Dörner, Politischer Mythos und symbolische Politik. Sinnstiftung durch symbolische Formen am Beispiel des Hermannsmythos, Opladen 1995, S. 76. 25 Vgl. Dietmar Schirmer, Mythos – Modernität – Heilshoffnung. Politisch-kulturelle Deutungscodes in der Weimarer Republik, Opladen 1992, S. 170 f.

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sinnhaften Gemeinschaften sucht sein Heil in Ganzheitsvorstellungen, die dem Leben ein mythisches Fundament einziehen sollen. Da diese Ganzheitsvorstellungen aber als das „ganz andere“ der zersplitterten Moderne entgegenstehen, der – dies sei ausdrücklich betont – gelegen ist an der Herausbildung demokratischer Strukturen, die über Argumentation und Diskussion organisiert sind, bereiten die Ganzheitsvorstellungen mit ihrem naturwüchsigen Menschenbild, der Feier des einfachen Lebens und der Verbundenheit mit diffusen tieferen Mächten totalitären Systemen den Weg.26 Gerade die Blut-und-Boden-Ideologie des Nationalsozialismus nimmt solche – freilich gerade unpolitisch gemeinten – Ganzheitsvorstellungen auf, integriert sie in ihr antimodernes Programm, um die Republik als Auswuchs einer heillosen Zivilisation zu diskreditieren. Überdies gelingt es dem Nationalsozialismus, sich zur diesseitigen Heils- oder Erlösungsinstanz zu stilisieren; das religiöse Bedürfnis des Menschen, sein Leben als geordnet und in weitere Zusammenhänge eingebunden zu begreifen, nutzt der Nationalsozialismus aus. Sein Angebot eines bündigen Weltbildes, das dem vielfach beschriebenen Ich-Verlust eine neue Identität entgegensetzt, passt exakt in die Zeitumstände und ist verführerisch genug. Der zuvor zitierte Gottfried Benn lässt sich – zumindest zeitweise – aus eben diesen Gründen mit der Diktatur ein; seine Hoffnungen werden freilich früh enttäuscht. Aber auch Gegner des Nationalsozialismus betonen den Zusammenhang von Sinnverlust und Heilsangebot. Ernst Bloch etwa bilanziert in Erbschaft dieser Zeit, dass der marxistischen Propaganda wie der Aufklärungsvernunft „jedes Gegenland zum Mythos“ fehlt.27 Die Probleme der Moderne scheinen sich nicht mit den aufgeklärten Mitteln der Moderne beheben zu lassen. Entsprechend leitet Eric Voegelin seine epochemachende Studie Die politischen Religionen von 1938 mit dem Bekenntnis ein, „dass sich diese Welt in einer schweren Krise befindet, in einem Prozess des Verdorrens, der seine Ursache in der Säkularisierung des Geistes, in der Trennung eines dadurch nur weltlichen Geistes von seinen Wurzeln in der Religiosität hat“; eine „Gesundung“ aber kann „nur durch religiöse Erneuerung [...] herbeigeführt werden“.28 Bloch und Voegelin sind politisch beide gleichermaßen unverdächtig, dem Nationalsozialismus das Wort geredet zu haben; beide machen allerdings mit je eigener Gewichtung Aufklärung, Fortschritt und Zivilisation mitverantwortlich am Nationalsozialismus. Indem die Säkularisierung die religiösen Bedürfnisse leugnet, öffnet sie quasi-religiösen Ideologien Tor und Tür. Der Nationalsozialismus verfügt über ein ganzes Ensemble von religiösen Elementen. Zunächst einmal setzt er Werte, ohne diese skrupulös zu hinterfragen und permanent zu analysieren und sie auf diese Weise ihrer Bindekräfte zu berauben. Sodann schließt er an symbolische Formen und Rituale an, die das 26 Vgl. Jost Hermand / Frank Trommler, Die Kultur der Weimarer Republik, München 1978, S. 155. 27 Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt a. M. 1973, S. 66. 28 Eric Voegelin, Die politischen Religionen. Hg. von Peter J. Opitz, München 1996, S. 6.

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gemeinschaftliche Leben einst traditionell prägten; man denke etwa an die Übernahme liturgischer Formen aus dem Bereich des Katholizismus, die der Nationalsozialismus seinen Bedürfnissen anpasst: Die Prozessionen werden zu Massenaufmärschen. Ein drittes ist die heilsgeschichtliche Perspektive, die der Nationalsozialismus radikal verdiesseitigt. An die Stelle des himmlischen Reich Gottes tritt das weltliche Endziel der Geschichte, die im Führerstaat gipfelt. Von besonderer Bedeutung bei alledem ist der Aufgang des Einzelnen im Kollektiv. Die Sakralisierung der Politik dient der Verwandlung von Menschenmengen in eine „liturgische Masse des politischen Kultes“.29 So notiert Denis de Rougemont in seinem Journal aus Deutschland 1935–1936 anlässlich einer Massenveranstaltung: „Ich empfinde jetzt das, was man wohl heiligen Schrecken nennen muss. Ich hatte gedacht, an einer Massenveranstaltung teilzunehmen, an einer politischen Kundgebung. Aber sie zelebrieren ihren Kult! Und dabei wird eine Liturgie abgehalten, die große sakrale Zeremonie einer Religion, der ich nicht angehöre und die mich überrollt und mich mit sehr viel mehr Kraft, sogar physischer Kraft zurückdrängt als all diese schrecklich strammen Körper. Ich bin allein, und sie sind eine Gemeinschaft.“30

Daran ist zweierlei bemerkenswert: Erstens sind die diskursive Form üblicher Kundgebungen und die Reden, mit denen man für seine Standpunkte wirbt, ersetzt durch das faszinierende Tremendum eines wohl begriffslosen Rituals; die Worte sind nicht so wichtig wie das Gefühl einer umfassenden Vergemeinschaftung. Und zweitens herrscht eine gespannte Atmosphäre der Gewalt vor, die sich gegen jeden, der nicht Teil der mobilisierten Masse ist, entladen kann. Die Funktion, die das Ritual im physischen Bereich übernimmt – die leibhaftige Teilnahme an etwas –, erfüllt im psychischen oder intellektuellen Bereich der Mythos. Der mobilisierenden, auf ein gemeinsames Ziel oder gegen einen gemeinsamen Gegner einschwörenden Wirkung des Mythos gelingt zudem durch die kompakten Bilder und Weltanschauungen eine vereinfachende, verstandesmäßige Identitätsstiftung. Der Nationalsozialismus entwickelt Mythen und Rituale, um den Herausforderungen der Moderne zu begegnen, diese radikal zu simplifizieren, um die Orientierungslosigkeit des Menschen auszunutzen. Dabei gründet der Nationalsozialismus seine politische Religion auf Mythos und Ritual, die seine ideologisch-religiösen Inhalte transportieren, versinnbildlichen und leiblich begreifbar machen. Wie sich die Literatur der 20er und 30er Jahre der als defizitär empfundenen Moderne und des Mythos annahm, soll an zwei Romanen Hermann Brochs und Thomas Manns demonstriert werden.

29 Emilio Gentile, Die Sakralisierung der Politik. In: Hans Maier (Hg.), Wege in die Gewalt. Die modernen politischen Religionen, Frankfurt a. M. 2000, S. 166–182, hier 167. 30 Denis de Rougemont, Journal aus Deutschland 1935–1936. Mit einem Nachwort von Jürg Altwegg, Wien 1998, S. 66.

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2. Hermann Broch befleißigt sich zeitlebens einer deutlichen, konservative Züge tragenden Moderne-, Zivilisations- und Kulturkritik. Schon früh notiert Broch: „Der Geist dieser Kultur hat sich seit ihrer Mündigkeit nicht vertieft, nicht ausgedehnt, doch der Fortschritt an räumlicher weißer Zivilisation ist ein ungeheurer gewesen. Wir stehen im Zeitalter des Verkehres; das ist die Climax. Die Pole sind entdeckt. Das ist der Schlusspunkt [...]. Die noch zu leistende Kulturarbeit ist ausfüllende Detaillierung zwischen den beiden Polen. Und dann bleibt nichts mehr. Toll geworden wird sich der Verkehr um die überbekannte Erde drehen, eine Energie, die kein äußeres Ziel finden kann und hysterisch wird.“31

Dem ungeheuren Zuwachs an wissenschaftlicher Erkenntnis und raumgreifender Entdeckungen entspricht keineswegs eine innere Horizonterweiterung des Menschen. Im Gegenteil: Der peinlichen Kenntnis noch der verstecktesten Winkel ist der Geist des Menschen nicht gewachsen, und die Unfähigkeit, das Wissen anzuwenden, wird sich in hektischer, letztlich aber sinnloser Betriebsamkeit entladen. Die kulturkritische Stoßrichtung von Brochs erstem Roman Die Schlafwandler, der den Wertverlust der Moderne an drei Stationen nachzeichnet, ist in der Forschung oft analysiert und differenziert interpretiert worden. Und noch Brochs späte Studie Hofmannsthal und seine Zeit setzt ein mit der Diagnose des Wert-Vakuums, in dem sich – so Broch – Hofmannsthals Werk vorbereitete und entfaltete. In der Reihe der Werke, die die zivilisatorischen Irrwege benennen und beschreiben, nimmt der 1932 bis 1936 entstandene Roman Die Verzauberung eine besondere Stellung ein. Hierin spricht Broch deutlich das Scheitern der Zivilisation, aber auch der christlichen Kirchen aus, in moderner Zeit sinnstiftend zu wirken. Dabei gestaltet Broch auf prekäre Weise einen Mythos, der zwischen neo-paganer, natürlicher Religion und politischer Religion oszilliert.32 Die Handlung des Romans sei kurz vergegenwärtigt: Der Ich-Erzähler, ein alternder Landarzt, berichtet von dem Gebirgsdorf, in dem er lebt, wahrscheinlich gegen Ende der 20er, zu Beginn der 30er Jahre. Eines Tages kommt ein charismatischer Fremder mit Namen Marius Ratti in das Dorf, der rasch die Gemeinschaft spaltet: Mit seiner Ablehnung von Maschinen und Radios, überhaupt der zivilisatorischen Segnungen sowie seiner Idee, in einem längst stillgelegten Bergstollen wieder nach Gold zu schürfen, schart er eine Gefolgschaft hinter sich, deren Gegner die Anhänger eines gemäßigten Fortschritts bei gleichzeitiger Verehrung der Natur, die keinesfalls geschröpft werden darf, sind. Die Spannun31

Hermann Broch, Kommentierte Werkausgabe. Hg. von Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. M. 1975, Band 10/1, S. 11. Hermann Broch wird im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert: KW, Bandnummer, Seitenzahl. 32 Vgl. Helmuth Kiesel, Politische Religionen in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Hermann Lübbe (Hg.), Heilserwartung und Terror. Politische Religionen des 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1995, S. 59–74.

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gen im Dorf entladen sich in einer heidnischen Zeremonie, bei der unter priesterlicher Leitung des Fremden ein Mädchen dem Berg geopfert wird, damit dieser sein Gold freigibt. Rattis Gegenspielerin ist die alte Mutter Gisson, deren friedfertige Hingabe an die Natur dem Blut-und-Boden-Prediger nichts entgegenzusetzen hat: Sie stirbt am Schluss, und Ratti wird in den Gemeinderat aufgenommen. Der Roman liegt in keiner definitiven Fassung vor, vielmehr begann Broch schon 1936, den Roman zu überarbeiten. Die zweite Fassung, wie auch eine dritte aus dem Jahr 1950, ist nicht weit gediehen. Auffällig ist jedenfalls, dass Broch in der ersten Fassung, die in der kommentierten Ausgabe seiner Werke greifbar ist, seiner eigenen Mythostheorie keineswegs gerecht wird. Vertritt Broch nämlich in seinen Essays Geist und Zeitgeist, Die mythische Erbschaft der Dichtung oder Mythos und Altersstil die Verbindung von Mythos und Logos, wird der Logos in der Verzauberung deutlich als Ursache des Bösen beschrieben. Das setzt gewissermaßen ein mit dem gewählten Sujet des Heimat-, näherhin Bauernromans. Die kulturkritische Heimatkunstbewegung, die der nationalsozialistisch gefärbten Literatur vorarbeitete,33 möchte Broch gleichsam mit ihren eigenen Waffen schlagen. So bezeichnet Broch den Roman in einem Brief an seinen Verleger Benno W. Huebsch als ein Projekt, „an das kein ‚Blut-undBoden‘-Vorhaben der Nazi heranreicht“.34 Gilt die Großstadt Broch „als tödlicher Endzustand der Zivilisation“,35 trifft er sich in seiner Ablehnung mit den Verfassern des „konservativen Krisenromans“, als der der Bauernroman bezeichnet werden kann.36 Die moderne Großstadt, der Kapitalismus, die Industrie oder die Welt der – oft als jüdisch verzeichneten – Hochfinanz werden im Bauernroman abgeurteilt, statt dessen die Erdverbundenheit und Heimatliebe der ländlichen Bevölkerung gefeiert. Flankiert werden diese literarischen Versuche von Oswald Spenglers philosophischen Bemühungen, den Typus des Bauern zum Widerpart des verstandesmäßigen, entwurzelten Stadtmenschen aufzubauen.37 Und so ist Brochs Ich-Erzähler ein aus der Stadt, ja aus der Moderne geflüchteter Arzt, dessen Beweggründe, aufs Land zu gehen, den ganzen Katalog der Modernekritik und Zivilisationsschelte abdecken. Enttäuscht ist er von seiner wissenschaftlichen Arbeit, die ihn unbefriedigt lässt, weil es ihn nach einem diffusen „anderen Wissen“ dürstet, das „stärker sein soll als die Erkenntnis, stark 33 Vgl. zur Heimatkunstbewegung Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004, S. 53–64. 34 Brief an Benno W. Huebsch vom 7. 8.1940. In: KW, Band 13/2, S. 221. 35 Paul Michael Lützeler, Broch als Kulturkritiker: Seine Sicht des Fin de Siecle. In: ders. (Hg.), Hermann Broch, Frankfurt a. M. 1986, S. 308–319, hier 308. 36 Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 53; vgl. auch Carole Duebbert, Hermann Brochs Verzauberung als „Anti-Heimatroman“. In: Lützeler (Hg.), Brochs Verzauberung, S. 226–236. 37 Vgl. Raimund von dem Bussche, Konservatismus in der Weimarer Republik. Die Politisierung des Unpolitischen, Heidelberg 1998, S. 262–266.

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genug, um die [...] Zeitspanne eines kurzen Erdendaseins mit einem fast fröhlichen Warten auszufüllen“.38 Brochs Erzähler sucht ein Wissen, das den Logos der wissenschaftlichen Vernunft übersteigt und ihn einweiht in das Geheimnis von Werden und Vergehen. Und so wie der Titel des Romans Die Verzauberung auf Max Webers Entzauberungsthese zu antworten scheint, sucht der Arzt eine Heilung der Welt durch Wiederverzauberung in einer weitab aller Zivilisation gelegenen Bergwelt. Er findet allerdings das Gegenteil. Das Menschenopfer, das auf dem Höhepunkt des Romans gebracht wird, markiert den schlimmen Ausbruch einer UnZeit, die sich im Einverständnis mit der Natur wähnt. Dem Arzt kommt es vor, als ob die Geschichte sich in drei Phasen teilen ließe: die mythische Vergangenheit des Heils, die Gegenwartszeit der Entzauberung, die dann in ihrem Selbstekel umschlägt in die Zukunft grausamen Terrors.39 Denn der Mythos des Marius Ratti predigt den Krieg und das Blutopfer, das der Erde oder dem Berg gebracht werden müsse, damit der Mensch ernten oder Gold abbauen kann. Rattis Naturmythos ist für den Erzähler deutlich männlich geprägt im Gegensatz zu dem geradezu sanften Mythos, für den Mutter Gisson steht. An ihrem weiblich-erdverbundenen Wissen lässt sie niemanden teilhaben, einzig die zu ihrer Nachfolgerin auserkorene Enkelin soll einmal in das Arkanwissen eingeweiht werden. Das Opfer ist für Mutter Gisson längst durch symbolische Formen ersetzt; sie kann sogar an den katholischen Bergfesten teilnehmen, die angeführt werden von dem schwächlichen Pfarrer des Dorfes, der als zu aufgeklärt von Mutter Gisson nur geduldet wird.40 Im Rahmen einer solchen Bergprozession unter katholischer Leitung wird ihre Enkelin Irmgard als Bergbraut in einem ritualisierten Spiel von ihrer Opferrolle erlöst. Die Naturreligiosität, die Mutter Gisson vertritt, ist ein tieferes, der Zivilisation überlegenes Wissen, sucht sich aber zugleich mit der Zivilisation in ein freundlich-gelassenes Verhältnis zu setzen. Anders als Ratti lehnt Mutter Gisson die Maschinen keineswegs ab. Ihre Teilnahme an den katholischen Festen spricht für ihre Einbindung in die Dorfgemeinschaft, die sie nicht zu einer Anhängerschaft bilden möchte. Denn der Mythos der Mutter Gisson wird weder gepredigt noch gelehrt, und ihre Rituale finden im Geheimen statt. Nur sie, allenfalls ihre Enkelin suchen die magischen Orte der Berge auf, um Kräuter zu sammeln und die Natur zu beschwören. Ratti hingegen verkündet seine Zivilisationskritik öffentlich und offensiv. Der im Dorf lebende Agent der Dreschmaschinenfirma wird unter Rattis Einfluss zusehends aus der Dorfgemeinschaft herausgedrängt. Bei seinen Auftritten gibt sich Ratti als Erlöser, der die Rechte der Bauern gegen die Städter vertreten und die Bauern aus ihrer Entfremdung zu ihrer Natur zurück führen wird. Weil sie unter seiner Anleitung wieder ohne maschinelle Unterstützung ernten, werden ihre Erträge reicher werden. Die Erde und der Berg werden die Bauern wie einst 38 KW, Band 3, S. 11. 39 Ebd., S. 81. 40 Ebd., S. 111.

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akzeptieren. Doch mit der Preisgabe der Dreschmaschinen lassen sich Erde und Berg nicht gänzlich versöhnen; der ihnen in den letzten Jahre angetane Frevel kann, so Ratti, einzig durch das Blut eines Mädchens gesühnt werden. So kommt es im Rahmen eines neo-paganen Ritus zu der Ermordung der Enkelin Mutter Gissons. Diese Rücknahme der rein symbolischen Opferung, wie sie bei der katholischen Bergprozession stattfand, beschreibt einen massiven zivilisatorischen Rückschritt. Broch gestaltet das Opferfest wie einen dionysischen Kult, in dem durch Tanz, Lust und Ekstase der Einzelne sein Ich verliert, um ganz in einer Masse aufzugehen. Die Abstraktion und Vergeistigung religiöser Gefühle, die verschiedene Dorfbewohner der Kirche vorwerfen, schlägt um in die tatsächliche Opferung. Auf dem Höhepunkt versucht Mutter Gisson einzugreifen mit dem biblischen Wort: „Fürchte dich nicht!“ Ratti entgegnet: „Fürchtet euch“, und seine Terrorherrschaft in dem Dorf beginnt.41 Die Ähnlichkeit dieser Szene mit den zuvor zitierten Erinnerungen Denis de Rougemonts ist offensichtlich: Auch hier kommt eine entfesselte Masse zu einem Ritual zusammen, das diesmal die von Rougemont nur befürchtete Gewalt in die schlimme Tat umsetzt. Heikel bleibt die Ähnlichkeit der Mythen der Mutter Gisson und des Marius Ratti. Beide wollen den Einklang mit der Natur, beide streben nach Einklang mit den Mächten der Erde, beide können in der Moderne – und sei es die katholische Kirche – keinen Sinn erkennen. Der Mythos des Ratti ist gewissermaßen eine radikalisierte Kopie desjenigen der Mutter Gisson. Auch der Mythos der Nationalsozialisten, den Broch in der Verzauberung sicherlich zu entzaubern sucht, macht „Anleihen bei tradierten Formen, [...] wobei sich freilich Sinn und Bedeutung der nachgeahmten Formen veränderten“.42 Die Ziele der Mutter Gisson und des Ratti ähneln sich, die Formen und Rituale unterscheiden sich jedoch stark von einander. Der friedfertigen erdverbundenen Weiblichkeit steht die kriegerische, darum letztlich zerstörerische Männlichkeit gegenüber. Deswegen ist eine Bewertung des Romans schwierig. Denn auch der positiv gezeichnete Mythos der Mutter Gisson bleibt hermetisch abgeschlossen, wird nicht gelehrt und vermittelt, setzt sich erst recht nicht kritischer Prüfung durch verschiedene Deutungshorizonte aus. Nimmt man Blumenbergs oder Marquards Mythosbegriff als Grundlage, muss man auch im Mythos der Mutter, der geradezu mutterrechtliche Züge trägt, einen dogmatisch verengten, gleichsam monomythisch-totalitären Ansatz erkennen. Heikel bleibt auch die grundsätzliche Ablehnung der Wissenschaften, der Stadt, auch des politisch-gesellschaftlichen Handelns. Liegt in Max Webers Forderung, die Zivilisation mit ihren Widrigkeiten zu ertragen, die Absage an Tendenzen, die Zeit gleichsam zurückzudrehen und hinter den zivilisatorischen 41 Ebd., S. 275. 42 Klaus Vondung, Revolution als Ritual. Der Mythos des Nationalsozialismus. In: Ursula Härle/Burkhard Stenzel/Justus H. Ulbricht (Hg.), Hier, hier ist Deutschland ... Von nationalen Kulturkonzepten zur nationalsozialistischen Kulturpolitik, Göttingen 1998, S. 45–56, hier 47.

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Fortschritt zurückzugehen, redet Brochs Erzähler gerade einer solchen Regression in die Vor-Vernunft das Wort. Dass eben dieser Erzähler selbst Teil der blutrünstigen, dionysisch entfesselten Masse wird, mag als entwaffnende Ehrlichkeit, jeder könne verführbar sein, oder als scharfe Anklage gelesen werden, dass auch die aufgeklärten, intellektuellen Köpfe dem Irrationalismus huldigen und sich auf das politisch-religiöse Treiben einlassen, weil ihnen die Zivilisation keinen anderen Weg offen lässt. Damit gelingt es Broch dann aber nicht, den Nationalsozialisten ein anderes Blut-und-Boden-Projekt entgegenzusetzen, wie er es seinem Verleger geschrieben hat. Sein Roman entwickelt keinen GegenMythos zu dem der engen Natur- und Bodenverbundenheit, der sich politisch so leicht und einverständlich benutzen ließ. Im Gegenteil: Broch gerät in eine prekäre Nähe zu nationalsozialistischen Naturkonzepten und ihrer Regression hinter zivilisatorische Standards.43 Broch selbst war mit der Verzauberung nicht zufrieden, und die Mythostheorie, die er in der Auseinandersetzung mit Thomas Manns Josephs-Roman entwickelte, befreite sich deutlich von allen möglichen Missverständnissen. Zuletzt soll Thomas Manns Mythosbegriff als Möglichkeit dargestellt werden, mythisch zu denken und zivilisiert zu bleiben, die Moderne sozusagen mit ihren mythisch-religiösen Wurzeln zu versöhnen.

3. Thomas Mann setzt sich schon früh mit dem Nationalsozialismus auseinander, und es ist vor allem das Moment des sich als vitalistisch gebärenden Irrationalismus, auf das er in nahezu allen Stellungnahmen zu sprechen kommt. Dabei ist es für Thomas Mann nie ein Zweifel, dass es ein falscher, aufgesetzter Irrationalismus ist; in seinem Essay Bruder Hitler notiert er: „Unserer Zeit gelang es, so vieles zu verhunzen: das Nationale, den Sozialismus – den Mythos, die Lebensphilosophie, das Irrationale, den Glauben, die Jugend, die Revolution und was nicht noch alles.“44 Früh schält sich in den Schriften Thomas Manns ein besonderer Begriff von Humanität heraus, den er dem bösen oder verhunzten Irrationalismus entgegenhält. Dabei schließt auch Manns Humanität eine Ganzheitsvorstellung ein, die sich auf den ersten Blick nicht anders liest, als die gesuchte Versöhnung des Menschen mit der Scholle in Brochs Verzauberung. So wird Mann der begeisterte Blick auf den Ozean und seine gefährliche Naturgewalt zum Anlass, sich in Meerfahrt mit Don Quijote zu prüfen, ob nicht auch aus ihm „die überall grassierende Begier nach dem ‚Irrationalen‘“ spricht. Beruhigt stellt er fest, dass seine „europäische Sympathie für Vernunft und Ordnung“ ihn davon abhält, ei43 Vgl. dazu die materialreiche Studie von Richard Faber, Erbschaft jener Zeit. Zu Ernst Bloch und Hermann Broch, Würzburg 1989. 44 GW, Band 12, S. 852.

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nem „Kult“ zu verfallen,45 der „häufig ein Hinopfern und bubenhaftes ÜberBord-Werfen von Errungenschaften und Prinzipien ist, die nicht nur den Europäer zum Europäer, sondern sogar den Menschen zum Menschen machen“, wie Thomas Mann 1934 an den Mythosforscher und Religionswissenschaftler Karl Kerenyi schreibt.46 Ähnlich wie Hermann Broch macht auch Thomas Mann die Zivilisation und die Aufklärung verantwortlich für die Hingabe des Menschen an die unteren Mächte der Unvernunft, an die Seele als Widersacherin des Geistes und an die Vitalität.47 Anders als Broch aber schränkt Mann diese Kritik sogleich ein, indem er einzig die Überbetonung der Vernunft bei gleichzeitiger Verachtung des Irrationalen moniert. Anders gesagt: Lehnt Broch in der Verzauberung Aufklärung und Vernunft völlig ab, um rein dem Irrationalen den Vorzug zu geben, will Mann die Synthese der Gegensätze. Seine Ganzheitsvorstellung rückt den Menschen mit Vernunft und Gefühl, mit Intellekt und religiösem Bedürfnis in den Mittelpunkt. 1923 reiht er sich mit dieser Synthese ein unter die „großen Deutschen“ Goethe, Hölderlin und Nietzsche, wenn er zum Gedächtnis Walther Rathenaus den Menschen als das „Absolute“ feiert und ein „Drittes Reich einer religiösen Humanität“ heraufziehen sieht.48 Und noch 1929 konfrontiert Thomas Mann die „Philisterei der monistischen Aufklärung“ mit der „notwendigen und echten Korrektur“ des „modernen Irrationalismus“.49 Allein die Kombination aus Moderne und Irrationalismus oder Aufklärung und Mythos versteht Mann als Kultur und als förderlich für die Zukunft. Es gilt, das Vorherrschen des einen nicht durch das des anderen ablösen zu lassen, sondern beides miteinander zu vermitteln. Psychologie und Kritik müssen für ihn das Religiöse oder den Mythos durchwirken, um den faschistischen Dunkelmännern „den Mythos [...] aus den Händen zu nehmen und ihn ins Humane ‚umzufunktionieren‘“.50 Neben die erwähnten Goethe, Hölderlin und Nietzsche treten Lessing und Freud als Gewährsmänner für Thomas Manns Kulturbegriff. In Lessings aufklärerischen Schrifttum erkennt er das stark religiöse Fundament, das den Menschen als Ganzen nimmt. Darin liegt für Mann die Möglichkeit, das „chthonische Gelichter, das allzuviel Wasser auf seine Mühlen bekommen hat, in sein mutterrechtliches Dunkel zurückzuscheuchen“.51 Und an Karl Kerenyi schreibt er, dass die Verbindung von „Mythos plus Psychologie“ ihm „geradezu die Welt der Zukunft“ repräsentiert: ein „Menschentum, das gesegnet ist von oben vom Geiste herab und aus der Tiefe, die unten liegt“, wie Thomas Mann mit der leitmotivischen Formel der Josephs-Romane formuliert.52 In dieser For45 46 47 48 49 50 51 52

Alle Zitate GW, Band 9, S. 464 f. GW, Band 11, S. 631. Vgl. GW, Band 13, S. 205. GW, Band 11, S. 860. GW, Band 10, S. 269. GW, Band 11, S. 651. GW, Band 9, S. 245. GW, Band 11, S. 651.

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mel liegt der Schlüssel zu Thomas Manns Humanisierung des Mythos. Das Religiöse oder der Mythos werden als etwas Mutterweltliches erkannt, das in der Tiefe die Existenz des Menschen bestimmt; die Erdverbundenheit der Mutter Gisson bei Broch geht auf den selben Gedanken zurück. Zugleich aber soll der Mensch den Vatersegen empfangen, der Intellekt, Kritik und Geist verspricht. Ein Blick auf den Josephs-Roman präzisiert diese Formel, um die mythische Gegenwelt zum Nationalsozialismus, die Thomas Mann entwickelt, darzustellen. Der Roman Joseph und seine Brüder, an dem Thomas Mann seit dem Zauberberg arbeitet und der ihn auf seinem Gang ins Exil begleitet, führt in seiner Nacherzählung der biblischen Geschichte in eine vielgestaltige kulturelle Vergangenheit. Er setzt ein mit der Höllenfahrt überschriebenen Erkundung der Vergangenheit. Diese Abwärtsfahrt in die Zeitentiefe verbindet Mythos und Aufklärung mustergültig miteinander. Denn im Zeichen des Mythos und seiner religiösen Riten wird nach dem Ursprung der Traditionen und kulturellen Überlieferungen geforscht. Nicht dumpfe Regression macht diese Höllenfahrt aus, sondern aufgeweckter Forschersinn: zu wissen, wie das genau war, woraus alles seinen Anfang nimmt. Dabei lernt man zu erkennen, dass die mythisch-religiöse Lehre oftmals nicht der Wahrheit, vielmehr einer willkürlichen, kulturell bedingten Setzung entspricht. Dass Aufklärung hier waltet, beweist der für alle Kulturen und Traditionen offene Blick, der sich nicht für eine richtige Ursprungserzählung gegen die vielen falschen entscheidet, sondern alles miteinander ins Benehmen setzt, um den Dialog der Kulturkreise nachzuvollziehen. Im Joseph überblendet Mann die verschiedenen Götternamen und -geschichten der einzelnen Völker, um den allen gemeinsamen, verbindenden Teil der religiösen Überlieferung zu beglaubigen. Tammuz, Adonis, Osiris und der im Roman schon angekündigte Christus werden auf diese Weise auf den gemeinsamen Nenner gebracht, ohne die Vielfalt der damit verbundenen Überzeugungen, Meinungen und Standpunkte zu entwerten oder gegeneinander auszuspielen. Der Polytheismus, der für Odo Marquard die demokratisch-tolerante Struktur des Mythos garantiert, wird für Thomas Mann in der Vielgestaltigkeit kulturell geprägter Götterwelten repräsentiert. Freilich gibt es im Joseph auch die Gegenbewegung. Im Land des Pharao wird die offizielle Staatsreligion des Gottes Aton, der „ausländisch angehaucht, beweglich und weltfreundlich-allgemein von Neigung“ ist, mit der finsteren AmunReligion konfrontiert, in die Mann „unverkennbar reaktionär-faschistische Züge einmischt“.53 Diese Amun-Religion lehnt das Ausland grundsätzlich ab, will sich nicht von der Reinheit seiner Lehre abbringen lassen, indem andere kulturelle Einflüsse integriert werden. Dies ist als deutlicher Angriff auf den Nationalsozialismus zu verstehen, wie überhaupt die Gestaltung eines jüdisch-christlichen Mythos gegen die deutschen 53 Dieter Borchmeyer, Heiterkeit contra Faschismus. Eine Betrachtung über Thomas Manns Josephsromane. In: Petra Kidaisch/Jochen A. Bär (Hg.), Heiterkeit. Konzepte in Literatur und Geistesgeschichte, München 1997, S. 203–218, hier 216.

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Machthaber gerichtet war. Der zivilisatorische Fortschritt des Judentums, das Menschenopfer zunächst durch das Tieropfer ersetzt, es später dann in immer differenziertere Symbole verlagert zu haben, erscheint Thomas Mann als große kulturelle Leistung, die auch schon eine Humanisierung des Mythos darstellt. Die Massenveranstaltungen und die Gewaltlust des Nationalsozialismus mussten ihm als schlimmer Rückfall erscheinen. Und nicht zuletzt bewundert Mann am Judentum und dem Christentum als „Blüte des Judentums“54 die Vermittlung von Individualität und Gemeinschaft. Die Erfindung des Individuums wird als jüdisch-christliche Leistung beschrieben; in beiden Religionen resultiert die Würde des Menschen aus seiner Unmittelbarkeit zu Gott. Die politischen Religionen, wie Eric Voegelin sie analysiert hat, kappen diese unmittelbare Beziehung, indem der Staat den Einzelnen vereinnahmt und so die neuen Kollektive des Totalitarismus entstehen, die nicht länger auf einen transzendenten Gott, sondern den immanenten Staat verpflichten. Damit einher geht der Ich-Verlust sowie die Regression in eine Art heilsbringender Gemeinschaft, die den Einzelnen seiner Entscheidungsfreiheit beraubt. Der Doppelsegen des Josephs-Romans lässt Joseph zwar Teil einer Gemeinschaft sein über seine Familie und seine Religion, aber er setzt diese Religion nicht absolut, sondern gestattet Joseph den Kontakt mit anderen Göttern. Dieser Kontakt aber findet statt im Dienste aufgeklärter Gottesarbeit: Denn Gott ist über den Geist zu erkennen. Im Doppelsegen von oben und aus der Tiefe verbinden sich für Thomas Mann das „Vitale und das Geistige, Kraft und Sittlichkeit“. Erst diese Ganzheit verdient den Namen der Kultur. Die religiösen Bedürfnisse des Menschen werden nicht geleugnet, sie werden aber mit Verstand und Kritik geprüft; das Dämonische wird von Vernunft durchdrungen, und in dieser Vermischung sind für Thomas Mann „Ehrfurcht und Freiheit, Glauben und Denken“ begründet.55

4. Abschließend bleibt pointiert zusammenzufassen: Für den Nationalsozialismus ist der Mythos so etwas wie der Motor der Religion; durch die kompakte Wirkung des Mythos lassen sich Glaubensinhalte nicht-begrifflich und nicht-analytisch vermitteln. In Hermann Brochs Roman Die Verzauberung erscheint der Mythos als Gegner der Religion, die ihn in der Moderne abgelöst hat. Für Thomas Mann sind Mythos und Religion nahezu synonym: Religiös ist das Grundbedürfnis, das sich in mythische Erzählungen kleidet. Der Mythos des Nationalsozialismus ist totalitär und dient einzig zur Einbindung des Einzelnen in das kontrollierte Kollektiv. Hermann Brochs Mythos ist 54 GW, Band 9, S. 461. 55 GW, Band 13, S. 205.

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auf eine vergleichbare Weise dogmatisch verengt, da nur wenige Auserwählte daran teilhaben dürfen. Für Thomas Mann bedeutet der Mythos in seiner Verbindung mit der Vernunft die Möglichkeit zur Toleranz und zur Demokratie. Damit sind zwei grundsätzlich antagonistische Spielarten mythischen Denkens mit ihren jeweiligen politischen Implikationen beschrieben worden. Wie schwierig es allerdings war, um den verlorenen Sinn in der Moderne zu trauern, ohne in das Fahrwasser des Nationalsozialismus zu geraten, sollte an Hermann Broch deutlich geworden sein.

Kultur als Programm gegen Hitler. Diskursstrategien des Neuanfangs in der Periode zwischen 1945 und 1949 Waltraud ›Wara‹ Wende Dem kollektiven Erinnerungsbewusstsein hat sich die Zeitspanne zwischen dem 8. Mai 1945 – der militärischen Zerschlagung des Dritten Reichs – und dem 8. Mai 1949 – der Annahme des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland durch den Parlamentarischen Rat – längst als ein eigenständiger Geschichtsabschnitt eingeschrieben. Die militärische Niederlage Hitler-Deutschlands, das als elementar empfundene Ende einer hegemonialen Weltanschauung und tief greifende Veränderungen in nahezu allen alltäglichen Lebensbedingungen, geistige Orientierungslosigkeit und ein kollabiertes Wirtschaftssystem, Trümmerlandschaften und Obdachlosigkeit, Hunger und Not, Hilflosigkeit und Angst markieren den Anfang dieser Periode; Währungsreform, die Gründung zweier deutscher Staaten und das beginnende Wirtschaftswunder, Verdrängung von Schuld und Mitverantwortung, Kalter Krieg und Wiederaufrüstung kennzeichnen ihr offenkundiges Ende. Dabei lässt sich aus der Distanz gegenwärtigen Beobachtens als eine Besonderheit der damaligen Situation herausstellen, dass die Zerschlagung der nationalsozialistischen Diktatur nicht erst im historischen Erinnerungsdiskurs als ein so genannter Wendepunkt der deutschen Geschichte interpretiert, sondern bereits im kollektiven Alltagsbewusstsein der Zeitzeugen als eine historische Zäsur empfunden wird, wobei – dies sei an dieser Stelle nur am Rande vermerkt – es nur sehr wenige Perioden in der deutschen Geschichte gibt, in denen das Außergewöhnliche einer historischen Situation „so unmittelbar in Kultur, in Kunst, Medien, Wissenschaft“1 reflektiert und diskutiert wurde wie in der Periode zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Gründung zweier deutscher Staaten. Hatte die politische und kulturelle Gleichschaltung unter der nationalsozialistischen Diktatur dazu geführt, dass die Traditionslinie des deutschen Geistesund Kulturlebens abgeschnitten und der geistig-kulturelle Austausch mit dem

1

Alexander von Bormann, Der Kalte Krieg und seine literarischen Auswirkungen. In: Jost Hermand (Hg.), Literatur nach 1945, Band 1: Politische und regionale Aspekte, Wiesbaden 1961, S. 48–82, hier 61.

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europäischen und außereuropäischen Ausland über zwölf Jahre hinweg behindert worden war, so wird die Zäsur des Jahres 1945 nun von nicht wenigen Deutschen als Chance für einen auch geistig-kulturellen Neuanfang gedeutet. Und wenn beispielsweise Karl Jaspers davon spricht, das Gefühl zu haben, „am Scheitel einer Zeitenwende“ zu stehen, in einer Übergangsperiode zwischen einem belasteten Gestern und einem noch vagen Morgen zu leben, dann teilt er diese Einstellung mit vielen seiner Zeitgenossen, wobei man die feste Überzeugung hat, dass der materielle Wiederaufbau und die körperliche Regeneration der ausgebombten deutschen Bevölkerung durch eine selbstkritische Reflexion der Neuordnungsbedingungen des geistigen und kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Lebens flankiert werden müssen, dass Versäumnisanalysen der Vergangenheit, Sondierungsversuche der Gegenwart und Möglichkeitsentwürfe für die Zukunft nicht voneinander zu trennen sind. Der Wunsch, die aktuelle Situation intellektuell zu verarbeiten, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft als ineinander verwoben zu betrachten und aufeinander zu beziehen, liegt nahe, führt man sich vor Augen, dass mit dem Ende der NS-Diktatur und der damit einhergehenden Außerkraftsetzung der nationalsozialistischen Ideologie für große Teile der deutschen Bevölkerung eine geistig-moralische Orientierungskrise verbunden ist. Das Ende der nationalsozialistischen Hybris, die als Werte- und Normhorizont immerhin zwölf Jahre lang eine totalitäre Deutungshoheit in nahezu allen Lebensbereichen für sich beansprucht hatte, wird keineswegs von allen Deutschen positiv erlebt, sondern vielfach auch als individueller Sinnverlust und existentielle Bedrohung empfunden, der Untergang des Dritten Reichs wird durchaus nicht von allen mit Begeisterung und Freude gefeiert, sondern vielerorts auch mit Besorgnis und Ratlosigkeit, Angst und Apathie beantwortet. Mit anderen Worten: Die militärische Zerschlagung des Hitler-Faschismus hat viele Deutsche in ein geistig-kulturelles Vakuum, in ein intellektuelles Niemandsland geführt. Dass der 8. Mai 1945 nicht nur für überzeugte Nationalsozialisten, sondern auch für viele aus den Reihen der ganz gewöhnlichen Mitläufer kein Tag der Befreiung ist, versteht sich im historischen Rückblick von selbst. Wer in den Jahren 1933 bis 1945 in einem Grundkonsens mit der Ideologie des Nationalsozialismus gelebt hatte, für den müssen der verlorene Krieg, die Demontage des Entwurfs vom „deutschen Leben“ und vom „deutschen Herrschen“, der Zusammenbruch der nationalsozialistischen Kultur-, Rasse- und Reichspolitik als ein Desaster, als das Ende aller Hoffnungen erscheinen. So spricht beispielsweise Paul Fechter noch im Jahr 1949 in seinen Erinnerungen An der Wende der Zeit mit Blick auf die Situation des Jahres 1945 immer wieder von einer „Katastrophe“,2 und er meint damit nicht nur die militärische Niederlage, zerstörte Städte und den Verlust territorialer Besitzstände, Flucht, Vertreibung und die Einbuße der nationalen Souveränität, sondern vor allem auch den moralischen Zusam2

Paul Fechter, An der Wende der Zeit. Menschen und Begegnungen, Gütersloh 1949, S. 175, 271, 340, 436, 478.

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menbruch der über zwölf Jahre gültig gewesenen Normen und Werte und die damit verbundenen Folgen für Deutschland und die Deutschen. Der Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland ist für nicht wenige Deutsche der Exitus einer Ideologie, mit der man über Jahre hinweg „gut gelebt“, für die man „gearbeitet, gelitten, Söhne, den Mann, den Geliebten geopfert“3 hatte. Und wenn mit dem Sieg der Alliierten deutsche Weltund Lebensanschauungen, Lebensentwürfe, Denkweisen, Einstellungen und Überzeugungen von heute auf morgen nicht nur als falsch deklariert, sondern darüber hinaus auch kriminalisiert und zum Verbrechen erklärt werden, so ist es nur allzu verständlich, dass nach dem 8. Mai 1945 vor allem Unsicherheit und Irritation, Beklommenheit und Verstörung das emotionale wie auch das mentale Klima bestimmen. Das Ausmaß der Orientierungslosigkeit zeigt sich beispielhaft am Verhalten Erich Kästners und Günter Weisenborns: Obwohl beide Männer weder Nazis noch Mitläufer waren und unter dem NS-Regime zu leiden hatten, können sie die Niederlage Hitler-Deutschlands nicht als Befreiung erleben und die alliierten Soldaten nicht als Befreier sehen; die Sieger werden nicht als Soldaten wahrgenommen, die ihr Leben eingesetzt haben, um Europa und die Deutschen von der Herrschaft des Nationalsozialismus zu befreien, sondern nach wie vor als Feinde empfunden. All diese Besonderheiten der unmittelbaren Nachkriegsperiode bedingen, dass die Nachfrage nach Orientierungshilfen mehr als groß ist: Es besteht ein Bedürfnis nach öffentlichen Diskussionen über die Geschehnisse der Vergangenheit, über die Not der Gegenwart und über Programme für die Zukunft. Die Hamburger Akademische Rundschau kommentiert das kollektive Alltagsbewusstsein der unmittelbaren Nachkriegsjahre im Jahr 1950 rückblickend wie folgt: „Man hatte uns die freie Rede genommen: also wollten wir diskutieren.“4 Dabei sind es vor allem die Dichter und Denker, von denen man sich öffentliche Hilfestellungen, Belehrungen, Ratschläge und Halt erhofft, kurzum, man will „kündende, ergreifende, womöglich erlösende Worte hören, Dichterworte, welche die innere Situation der Zuhörer auszudrücken“5 vermögen, Dichterworte, die die mehr als deutlich empfundene „geistige Leere“6 durch neue richtungsweisende Sinnangebote kompensieren sollen. Anknüpfend an den im 19. Jahrhundert generierten bildungsbürgerlichen Literatur-, Kunst- und Kulturbegriff, der in der Hochschätzung von Sprache und Literatur, Kunst und Kultur quasireligiöse Deutungsmuster bereitzustellen vermochte, wird dem Schriftsteller nach 1945 erneut die Rolle eines „Verkünders“, eines „geistig-moralischen Führers“ angetragen. 3 4 5 6

Peter Mertz, Und das wurde nicht ihr Staat. Erfahrungen emigrierter Schriftsteller mit Westdeutschland, München 1985, S. 26. Hamburger Akademische Rundschau, 3 (1950) Heft 11/12. Helmut L. Müller, Die literarische Republik. Westdeutsche Schriftsteller und die Politik. Mit einem Vorwort von Kurt Sontheimer, Weinheim 1982, S. 31. Gerhard Hay, Vorwort. In: ders. (Hg.), Zur literarischen Situation 1945–1949, Kronberg i. T. 1977, S. 7.

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Und die Schriftsteller – Seismographen des mentalen Klimas – nehmen die ihnen zugedachte Rolle der kulturellen Hegemonie und der geistig-moralischen Deutungshoheit emphatisch auf. Die Folgen sind ein „beinahe lawinenhaft anschwellendes Erscheinen von Broschüren und Zeitschriften“,7 eine Vielzahl von Flugschriften und zahlreiche öffentlich gehaltene Schriftstellerreden. Zusammenfassend lässt sich die Spezifik der damaligen Situation wie folgt umschreiben: Ein geistig-moralisch verunsichertes Publikum, das sich von seinen Dichtern Rat und Hilfe, Stärkung und Orientierung für die als notwendig empfundene Auseinandersetzung mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erhofft, wird zum Forum – zum Ermöglichungszusammenhang und zum Resonanzboden – für eine rege intellektuelle Diskussion. Im Zentrum des allgemeinen Interesses stehen die Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus, Diskussionen um die Frage von kollektiver Schuld und individueller Verantwortung, die Situation der unmittelbaren Gegenwart sowie die Erörterung von Perspektiven für den anstehenden gesellschaftlichen und kulturellen Neubeginn. Die Schriftsteller unternehmen den Versuch, Hilfestellungen für den Weg in die Zukunft zu geben, wobei eine – wenn nicht überhaupt die – zentrale Diskursstrategie darin besteht, dass man mehrheitlich die Überzeugung artikuliert, am Beginn eines radikalen „Neuanfangs“ zu stehen. Die Euphorie ist groß, man hofft auf ein Zusammenspiel von geistig-kultureller und gesellschaftlich-politischer Erneuerung, kurzum: auf eine Synthese von Kultur und Politik. Der Wunsch, Deutschlands Zukunft aktiv mitzugestalten, wird allerdings schon bald durch die tatsächliche Entwicklung der politischen Wirklichkeit überholt; Kalter Krieg, Währungsreform und die Gründung zweier deutscher Staaten führen den Schriftstellern nur allzu deutlich vor Augen, dass der von ihnen geträumte „Traum von der Erneuerung Deutschlands“8 ausgeträumt ist. Der Zeitzeuge Alfred Kantorowicz resümiert die Situation wie folgt: „Die Politiker von Gestern haben das Heft nun wieder fest in der Hand, drüben und hüben. Staatsmänner, Denker, Dichter, geistig schöpferische Menschen ganz allgemein, sind ‚draußen vor der Tür‘, wie es sich ja wohl versteht im Jahrhundert des gemeinen Mannes.“9 Schriftsteller und Intellektuelle müssen sich eingestehen, dass die angebotenen geistig-moralischen Orientierungshilfen keine Konjunktur mehr haben. Kulturelle Diskurse haben genauso ausgedient wie die Vorstellung, in Anknüpfung an gemeinsame Kulturbestände identitätsstiftende und identitätssichernde Ressourcen bereitstellen zu können. Die Reaktion der Schriftsteller ist eindeutig: Sie ziehen sich aus dem gesellschaftlich-politischen, öffentlichen Diskurs weitgehend zurück und konzentrieren sich stattdessen für mehr als ein Jahrzehnt mehrheitlich auf innerliterarische Handlungsfelder. 7 8 9

Heinrich Berl, Die geistige Situation des deutschen Schriftstellers, Baden-Baden 1947, S. 21. Alfred Kantorowicz, Deutsches Tagebuch. Erster Teil, München 1959, S. 647. Ebd.

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Interessant freilich ist, dass es den von Schriftstellern und Intellektuellen nach 1945 immer wieder artikulierten Neuanfang, die so genannte Stunde Null, tatsächlich nie gegeben hat. In der historischen Forschung ist mittlerweile unbestritten, dass Nullpunkt-Vorstellungen – verstanden als tabula rasa – durch die Einführung der Begriffe „Kontinuität“ und „Diskontinuität“, „Veränderung“ und „Wandel“ korrigiert werden müssen.10 Die Gemeinsamkeiten vor und nach 1945 wiegen sowohl gesellschaftlich-politisch wie geistig-kulturell schwerer als die Unterschiede; von Stunde Null oder tabula rasa kann weder mit Blick auf die Sozial- und Kulturgeschichte noch mit Blick auf politische Ereignisse und stilgeschichtliche Erscheinungen gesprochen werden.11 Wenn Wolfgang Weyrauch im Nachwort seiner 1949 erschienenen Anthologie Tausend Gramm – Sammlung neuer deutscher Gedichte von den Dichtern Nachkriegsdeutschlands fordert, „in Sprache, Substanz und Konsequenz, von vorn“12 anzufangen, um den von ihm propagierten „Kahlschlag“ zu realisieren, also mit nüchtern-sachlicher Sprache eine kritische „Bestandsaufnahme“ vorzunehmen, so ist diese programmatische Forderung nichts anderes als ein Reflex auf den tatsächlich dominierenden Sprachgebrauch der unmittelbaren Nachkriegsära, dem mit Sicherheit alles andere als Neuanfang und tabula rasa attestiert werden kann. Der Autor Urs Widmer stellt deshalb schon 1966 in seiner Dissertation 1945 oder die neue Sprache unmissverständlich und überaus zutreffend fest: „Auch 1945 steht niemand im luftleeren Raum. Man kann die Augen vor einer literarischen und sprachlichen Vergangenheit nicht verschließen. [...] Man stellt sich gern vor, in den Jahren Eins, Zwei, Drei – wenn man die ominöse Null wirklich akzeptieren will – habe ein großes Roden im deutschen Sprachwald eingesetzt. Man sieht vor dem geistigen Auge die deutschen Schriftsteller Arm in Arm die deutsche Sprache säubern, fegen und putzen, bis jener berühmte ‚kahle‘ Rest übrigbleibt, der unanfechtbar ist, nicht mehr nach dem braunen Reich riecht und dem keine üblen Erinnerungen anhaften. Jedoch: die deutsche Nachkriegsliteratur hat nicht mit einem radikalen ‚Kahlschlag‘ begonnen.“13

Nicht tabula rasa, sondern Rückbezug auf die abendländische, (christlich-) humanistische Kulturtradition und Renaissance der damit verbundenen Begrifflichkeit sind das Programm der Stunde. Die sich am öffentlichen Diskurs beteiligenden Schriftsteller verstehen sich als „Bußprediger“, „Mahner“ und „Seelen-

10 Vgl. Bernd Hüppauf, Einleitung. In: ders. (Hg.), „Die Mühlen der Ebenen“. Kontinuität und Wandel in der deutschen Literatur und Gesellschaft 1945–1949, Heidelberg 1981, S. 11 ff. 11 Vgl. zu Kontinuität und Diskontinuität der Nachkriegsperiode auch den Beitrag von Georg Bollenbeck, Die fünfziger Jahre und die Künste: Kontinuität und Diskontinuität. In: ders./Gerhard Kaiser (Hg.), Die janusköpfigen 50er Jahre. Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik III, Wiesbaden 2000, S. 190–213, hier 190 ff. 12 Wolfgang Weyrauch, Tausend Gramm. Sammlung neuer deutscher Gedichte, Hamburg 1949, S. 214 ff. 13 Urs Widmer, 1945 oder die „neue Sprache“. Studien zur Prosa der „Jungen Generation“, Düsseldorf 1966, S. 169 f.

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führer“14 und nicht als nüchtern-sachliche Analysten. Dieses Selbstverständnis der Schriftsteller hat eine meist weihevolle Tonlage zur Folge, die Max Frisch bereits im Jahr 1946 als Flucht ins unverbindliche Pathos umschreibt, und der er nicht ganz zu Unrecht den Vorwurf mangelnder Exaktheit im Denken macht.15 Bilder, Vergleiche und Metaphern, ein ästhetisch stilisierter und poetisch überhöhter Sprachgebrauch und damit verbundene semantische Unbestimmtheiten verunmöglichen jedwede Form rationaler Bestandsaufnahme: Ernst Wiechert, „Innerer Emigrant“ und „Bewahrer des ewig Unvergänglichen“, appelliert 1945 an das „Unerschütterliche und Ewige aller Völker“,16 Johannes R. Becher, Exilant, Präsident des „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ und späterer Kulturminister der DDR, beschwört 1946 die „moralische Neugeburt“17 der deutschen Bevölkerung, Fritz von Unruh, ebenfalls Exilant und im Jahr 1948 dann prominenter Paulskirchenredner, spricht von den „Fratzen der Versuchung“, von „Tempelreinigung“ und der „Hoffnung auf Gnade“,18 und der Großschriftsteller Thomas Mann akzentuiert ein Jahr später in seiner Ansprache zum Goethejahr 1949 das „Elend der Vernunftlosigkeit“, die „Herrschaft des Ungeistes“, die „Tragödie seines Volkes“ und die „Geburtswehen des Neuen“.19 Die Rede von „Geburtswehen“ und „Neugeburt“ verschleiert freilich die Tatsache, dass der wiederholt propagierte „Neuanfang“ alles andere als ein „Aufbruch zu neuen Ufern“ ist. Eine Situation, für die der Zeitzeuge Max Frisch im Jahr 1949 die Charakterisierung: „Kultur als Alibi“ findet; in Deutschland werde zwar wieder Kultur gemacht, aber „meistens ohne Versuch, den deutschen oder vielleicht abendländischen Begriff von Kultur, der so offenkundig versagt hat, einer Prüfung zu unterziehen“. Unter Politik verstehe man – im Unterschied zur Schweiz – „schlechterdings das Niedrige, womit der geistige Mensch, der berühmte Kulturträger, sich nicht beschmutzen soll“.20 Ein Jahr später – 1950 – beobachtet dann auch Theodor W. Adorno, der gerade aus Amerika nach Deutschland zurückgekehrt ist, dass in Deutschland zwar wieder Kultur auf der Tagesordnung stehe, dabei allerdings eine eher fragwürdige Kultur in „Auferstehung“ begriffen sei: Blindes Bewahren und die Beschränkung auf die so genann-

14 15 16 17

Tagesspiegel vom 20. 2.1946. Vgl. Max Frisch, Kultur als Alibi. In: Der Monat, Nr. 7 vom 1. 4.1949, S. 84. Ernst Wiechert, Rede an die Deutschen, München 1945, S. 21. Johannes R. Becher, Rede an München. In: ders., Deutsches Bekenntnis. Fünf Reden zu Deutschlands Erneuerung, 3. Auflage Berlin (Ost) 1946, S. 65–74, hier 71. 18 Fritz von Unruh, Rede an die Deutschen. In: ders., Mächtig seid ihr nicht in Waffen. Reden. Mit einem Begleitwort von Albert Einstein, Nürnberg 1957, S. 141–177, hier 142, 158, 177. 19 Thomas Mann, Ansprache im Goethejahr 1949. In: ders., Altes und Neues. Kleine Prosa aus fünf Jahrzehnten, Frankfurt a. M. 1965, S. 389–405, hier 391. 20 Max Frisch, Stimmen eines anderen Deutschland. In: Neue Schweizer Rundschau, 8 (1946), S. 537–540, hier 537.

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ten „ewigen Werte“ vertuschen – so Adornos Lesart – den tatsächlichen „Rückfall in die Barbarei“.21 Was nun genau aber steckt hinter diesen kritischen Diagnosen der Zeitzeugen Frisch und Adorno? Die deutschen Schriftsteller und Intellektuellen der unmittelbaren Nachkriegszeit sind bei ihrer Suche nach einem Therapiekonzept für das gesellschaftlich-politische und geistig-moralische Desaster der Gegenwart in der Vergangenheit fündig geworden: Ihr Therapiekonzept besteht in der Rückbesinnung auf die klassisch-humanistische Kulturtradition, das Deutungsmuster „Humanismus“ – von den Nationalsozialisten aus den Norm- und Wertorientierungen der Deutschen verbannt – hat Hochkonjunktur, die Kontinuität nationaler semantischer Traditionsbestände bestimmt die Diskurse. Und das bedeutet: Zählebige, immer wiederkehrende Argumentationsfiguren, die Berufung auf Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit, Güte und Liebe stehen wieder und wieder auf der Agenda. Ernst Wiechert will der „Wahrheit“, dem „Recht“, der „Freiheit“ und der „Menschenliebe“22 zum Durchbruch verhelfen, Fritz von Unruh ist auf der Suche nach „Gefühlstiefen“ und der „Versöhnung mit dem Geist“,23 Wilhelm Emanuel Süskind spricht von „Offenherzigkeit“, „Verantwortung“, „Menschlichkeit“ und „Wahrheit“,24 Theodor Plievier erklärt, dass eine „neue Gesellschaft“ nur dann Zukunft habe, wenn sie „auf Gewissensfreiheit, auf Toleranz, auf Humanität, auf Recht und Gerechtigkeit, auf Frieden geeint mit geistiger Gebundenheit begründet“25 sei, und Johannes R. Becher, der von sich behauptet, „das Licht der Erkenntnis, das der Vernunft, das der Wahrheit“26 zu suchen, fordert die „Auswertung des klassischen Erbes“27 und die „Förderung der freiheitlich humanistischen, wahrhaft nationalen Traditionen“,28 da materieller Neuaufbau von vornherein zum Scheitern verurteilt sei, wenn mit ihm nicht gleichzeitig auch eine geistige Erneuerungsbewegung einhergehe. Der Sprachgebrauch der Schriftsteller ist alles andere als nüchtern und sachlich, von einer kritisch-rationalen Bestandsaufnahme kann keine Rede sein. Ordnungs- und Wertvorstellungen werden bevorzugt in metaphernreichen – häufig bildungsbürgerlichen Traditionsbeständen entnommenen – Argumentationsfiguren verpackt, die – weil politisch neutral – mögliche Differenzen und Konfliktpotenziale zwischen linken und rechten Schriftstellern semantisch einebnen. 21 Theodor W. Adorno, Die Auferstehung der Kultur in Deutschland. In: Frankfurter Hefte, (1950) Heft 5, S. 469. 22 Wiechert, Rede an die Deutschen, S. 19, 39. 23 Unruh, Rede an die Deutschen, S. 164 ff. 24 Wilhelm Emanuel Süskind, Die Wandlung des Schriftstellers heute. In: Heinrich Bechtoldt (Hg.), Literatur und Politik. Sieben Vorträge zur heutigen Situation in Deutschland, Konstanz 1948, S. 129–143, hier 137. 25 Theodor Plievier, Über die Freiheit, Nürnberg 1948, S. 24. 26 Johannes R. Becher, Wir, Volk der Deutschen. Aus dem Schlusswort, Berlin (Ost) 1947, S. 81. 27 Ders., Zur Frage der politisch-moralischen Vernichtung des Faschismus. In: ders., Publizistik II, Weimar 1978, S. 405–409, hier 407. 28 Heinz Willmann, Zwei Jahre Kulturbund. Ein Tätigkeitsbericht, Berlin (Ost) 1947, S. 9.

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Und dies wird vor allem in der Auseinandersetzung mit der Frage nach den Ursachen für den Verlauf der deutschen Geschichte mehr als deutlich. Eine gängige Argumentationsstrategie für die Auseinandersetzung mit dem Ursprung und dem Verlauf des deutschen Faschismus ist die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Krankheit: Der Nationalsozialismus wird signifikant häufig mit einer bösartigen Krankheit – einer verheerenden Seuche – verglichen, die, nicht nur Deutschland, sondern die Völker der Welt befallen habe. Walter von Molo richtet an Thomas Mann die Bitte, dieser möge als Arzt nach Deutschland zurückkehren, chirurgische Eingriffe seien nötig, aber unheilbar sei die Krankheit des deutschen Volkes nicht,29 Hans Erich Nossack diagnostiziert ein „so erschreckendes Krankheitsphänomen, daß man nicht nur an den Deutschen zweifeln möchte, sondern an den Möglichkeiten der Menschen überhaupt“,30 und der Arzt und Autor Alfred Döblin sieht den Nationalsozialismus als eine „Massenerkrankung, paranoider Art“,31 die sich infektionsartig von einem kleinen Herd ausgebreitet habe, dann zu einer Massenepidemie geworden sei und schließlich das ganze Land verseucht habe. Man artikuliert monströse Höllenängste und beschwört mittelalterliche Vorstellungen von völkervernichtenden Epidemien, denen man wehr- und schutzlos ausgeliefert gewesen sei. Fritz von Unruh vergleicht den Nationalsozialismus mit der „Pest“32 und die Deutschen mit „fanatisch verblendeten, modernen Heiden“, wodurch er Hitler und die nationalsozialistische Führungsriege kurzerhand zu Bundesgenossen des Teufels macht. Und auch Thomas Mann kann das Ausmaß der nationalsozialistischen Gräueltaten, die abscheulichen und unmenschlichen Dimensionen der nationalsozialistischen Verbrechen, nur in der biblischen Gedankenwelt entnommenen Bildern benennen: Er spricht von „Teufelsdreck“ und „Teufelspakt“.33 In der zwischen Exilschriftstellern und Inneren Emigranten geführten so genannten Großen Kontroverse über den Stellenwert und die Bewertung von Exil und Innerer Emigration versteift sich Thomas Mann schließlich dann sogar zu der apodiktischen, keinerlei Differenzierungen zulassenden Behauptung, dass die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland gebliebenen Schriftsteller allesamt – und zwar ohne jede Ausnahme – nicht nur dem „Herrn Urian aufgewartet“, sondern zudem auch auf dem „Hexensabbat“ mitgetanzt haben.34 Die von Unruh und Mann konstruierte Komplizenschaft der nationalsozialistischen Machthaber mit dem Teufel, die Rede von Verdammnis und Hölle, Satan und 29 Vgl. Walter von Molo, Brief an Thomas Mann. In: Johannes Franz Gottlieb Grosser (Hg.), Die große Kontroverse. Ein Briefwechsel um Deutschland, Hamburg 1963, S. 16–24, hier 20. 30 Hans Erich Nossack, Pseudoautobiographische Glossen, Frankfurt a. M. 1971, S. 144. 31 Alfred Döblin, Die literarische Situation, Baden-Baden 1947, S. 38. 32 Unruh, Rede an die Deutschen, S. 156 ff. 33 Mann, Deutsche Hörer! Ansprache vom 30.12.1945. In: ders., Gesammelte Werke. Nachträge, Frankfurt a. M. 1974, S. 742–745, hier 744. 34 Ders., Warum ich nicht zurückgehe. In: Grosser (Hg.), Die große Kontroverse, S. 28– 34, hier 30 f.

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Antichrist, ist eine Diskursstrategie, die auch von zahlreichen anderen Schriftstellern der unmittelbaren Nachkriegsperiode – und zwar vornehmlich von religiös gebundenen – bemüht wird. Effekt dieser Diskursstrategie, durch die Hitler und die Nationalsozialisten in der Rubrik Bestie, Barbar und Unmensch eingeordnet werden, ist, dass die nationalsozialistische Tatsachenwirklichkeit semantisch verschleiert und metaphernreich verwischt und der gesellschaftlichpolitische, wirtschaftliche, soziale und mentalitätsgeschichtliche Ermöglichungszusammenhang des deutschen Faschismus damit einer sachlichen, von der Vernunft gesteuerten Analyse entzogen wird. Werden Hitler und die nationalsozialistische Führungsriege als Bundesgenossen des Teufels klassifiziert und wird der Nationalsozialismus als verheerende, völkervernichtende Krankheit ins Bild gesetzt, dann hat das weit reichende Folgen für die Frage nach der Verantwortung, nach Schuld bzw. Mitschuld des Einzelnen, denn für seuchenhaft sich ausbreitende Krankheiten und die Taten des Teufels kann weder der Einzelne noch eine Gruppe haftbar gemacht werden. Und dies gilt auch dort, wo – wie z. B. von Ernst Wiechert, Thomas Mann, Franz Werfel betont – gleichzeitig explizit von der persönlichen Verantwortung des Einzelnen gesprochen wird. Setzt man Nationalsozialismus mit einer seuchenhaften Krankheit und Hitler mit dem Bösen schlechthin gleich, dann macht man aus dem Einzelnen einen willenlosen Spielball unberechenbarer Mächte, dann gerät der Einzelne unter Einflüsse, die er selbst kaum mehr beeinflussen und denen er sich nur schwerlich entziehen kann. Die Genese des Nationalsozialismus wird also nicht rational analysiert und auf ihre sozio-kulturellen und mentalen Bedingungsfelder befragt, sondern als schicksalhaft und damit unvermeidlich beschrieben. Der Einzelne – das zumindest impliziert die verborgene Tiefenschicht der bevorzugten Diskursstrategie – konnte sich seinem Schicksal nur mehr beugen und lediglich hoffen, dass er vielleicht überleben werde. Individuelle Verantwortung wird durch metaphorischchiffrenhafte Vergleiche in nicht mehr rational fassbare Zusammenhänge transferiert, die Frage von Schuld oder Mitschuld stellt sich nicht: Der Einzelne kann nicht zur Verantwortung gezogen werden, wird „persönlicher Schuldzuweisung und moralisch-ethischer Verantwortlichkeit enthoben, weil er [...] übermenschlichen Mächten“, die er nicht beeinflussen konnte, „willenlos ausgeliefert“35 war. Wenn der Nationalsozialismus als eine epidemische Krankheit und Hitler als der personifizierte Antichrist interpretiert werden, dann geschieht dies vor allem deshalb, weil man in den Jahren unmittelbar nach dem militärischen Sieg über den deutschen Faschismus dem ungeheuren Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen überaus betroffen, aber auch relativ hilflos gegenübersteht. Resultat dieser Gemengelage aus Betroffenheit und Hilflosigkeit ist der emphatische Rückgriff auf eine bildkräftige Sprache, wobei die Zuordnung Hitlers zum 35 Waltraud Wende-Hohenberger, Ein neuer Anfang? Schriftsteller-Reden zwischen 1945 und 1949, Stuttgart 1990, S. 200.

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Reich des Bösen freilich nicht erst nach 1945 Konjunktur hat. Die Gleichsetzung Hitlers mit dem Satan ist bereits lange vor dem Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland vor allem bei den Autoren des Exils beliebt: So konstruiert beispielsweise Franz Werfel bereits im Januar 1941 in einer im Aufbau veröffentlichten Norwegischen Ansprache eine Verbindung zwischen Hitler und Satan. Der von Hitler angezettelte Zweite Weltkrieg ist in Werfels Interpretation nicht ein politischer Kampf um mehr Raum und Wirtschaftsgebiete, sondern nichts anderes als eine religiöse Auseinandersetzung zwischen zwei einander entgegengesetzten Prinzipien: auf der einen Seite der Mensch als Gehilfe Satans, ohne Moral, eine Tötungs- und Vernichtungsmaschine, auf der anderen Seite der Mensch als Abbild Gottes, in einer Welt, die nicht „Sinn-los“ ist, sondern die ihren Sinn von Gott hat.36 Und auch Joseph Roth zeichnet nichts anderes als einen religiösen Kampf gegen das Böse, wenn er – bereits ein Jahr nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten – die Aufgabe des Dichters auf den „unerbittlichen Kampf gegen Deutschland“ – die „wahre Heimat des Bösen“, die „Filiale der Hölle“, den „Aufenthalt des Antichristen“37 – festschreibt. Das Reden von Krankheit, Massenepidemie, Aussatz und Pest, Hölle, Teufel, Satan und Antichrist, Dämonisierungsstrategien und nicht die rationale Bestandsaufnahme der Ermöglichungsbedingungen für Hitlers Machtergreifung stehen also bereits vor 1945 hoch im Kurs. Doch nun zurück zur Nachkriegszeit: Zu einer Minderheit, die sich der Flucht in die Domänen des Schicksals verweigert und die zumindest den Versuch unternimmt, die Dinge konkret beim Namen zu nennen, gehört der Aktivist Kurt Hiller, der 1947 auf Einladung des Kulturrates der Hansestadt Hamburg eine sehr persönlich gefärbte, mehr als dreistündige Rede über Die geistigen Grundlagen eines schöpferischen Deutschlands der Zukunft hält. Das von Kurt Hiller bei vielen seiner Zeitgenossen beobachtete Liebäugeln mit metaphysischen Deutungsangeboten – mit deren Hilfe sich „leichtgläubige Liebhaber dunkler Worte“ vormachen können, in den 12 Jahren der Nazi-Diktatur ein Opfer der Macht von „Dämonen“38 gewesen zu sein – wird von ihm als Strategie der „Schuldverschiebung“ charakterisiert, als ein Versuch, der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Kurt Hiller nennt Daten und Fakten, er spricht von „Raubüberfällen auf friedliche Nachbarn“,39 von Massenmördern, Konzentrationslagern und der Ausrottung der Juden. Dabei bedient er sich einer Sprache, die polemisch und – in radikalem Kontrast zu dem Sprachhabitus der bisher erwähnten Autoren – alles andere als bildungsbürgerlich-gehoben und schöngeistig-gefärbt ist. Aus der Geschichte – und zwar vor allem aus der Geschichte der Weimarer Republik – könne man lernen, dass ein „Neuaufbau“ nur dann eine Chance habe erfolgreich 36 37 38 39

Franz Werfel, Norwegische Ansprache. In: Aufbau vom 10.1.1941. Joseph Roth, Die Aufgabe des Dichters. In: Pariser Tagblatt vom 12.12.1934. Kurt Hiller, Radioaktiv. Reden 1914–1964, Wiesbaden 1969, S. 187, 219. Ders., Die geistigen Grundlagen eines schöpferischen Deutschlands in der Zukunft, Hamburg 1947, S. 19.

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zu sein, wenn zuvor „aufgeräumt“ werde. Zudem fällt auf, dass Hiller nicht nur die überzeugten Nationalsozialisten, sondern auch die vielen – jeder Regierung und jedem Regime dienenden – Mitläufer und Mitwisser für ihr Handeln zur Verantwortung ziehen möchte. Und weil er auch nicht den geringsten Zweifel aufkommen lassen will, wen er mit „Opportunistengezücht“ genau meint, nennt Hiller im Unterschied zu anderen Autoren seiner Zeit nicht nur Daten und Fakten, sondern auch konkrete Namen: Auf seiner Liste der „Charakterlosen“ stehen u. a. Heidegger, Benn, Molo, Flake und Ernst Jünger.40 Dann aber kommt die entscheidende Wende der Rede: Der eigenwillige Sozialist – Kurt Hiller ist alles andere als ein Anhänger der Mehrheitsdemokratie – fordert seine Zuhörer auf, sich auf die „Großen“ der abendländischen Kultur, auf Platon und Kant, Herder, Lessing, Goethe und Schiller, Nietzsche und Schopenhauer zu besinnen. Und schließlich schlägt er einen wahrhaft kühnen Bogen: „Sozialismus (ich könnte stattdessen auch Christentum sagen) und Aristokratie (ich könnte stattdessen auch Geistesherrschaft sagen) ‚röhren‘ nach Vereinigung. Die wahrhaft erleuchteten Köpfe der Zukunft aller Völker werden im Grunde nur ‚eine‘ Aufgabe kennen: die Jesus-Marx-Linie der Nächstenliebe und die Platon-Nietzsche-Linie der Geistesherrschaft konvergieren zu lassen und in die Einheit zu zwingen. Diese Synthese erst in der Theorie zu vollenden, dann in der Praxis zu verwirklichen, wird der Sinn des Dritten sein.“41

Das Sich-Besinnen auf die großen Denker und die großen Ideen der abendländischen Kulturgeschichte hat Hiller mit vielen anderen Autoren der unmittelbaren Nachkriegsperiode gemeinsam, wobei sich konservative wie linke Autoren nahezu auf die gleiche Kulturtradition beziehen: Der Kommunist Johannes R. Becher beruft sich auf Lessing, Büchner, Kleist, Goethe und Hölderlin, Fritz von Unruh – radikaler Antikommunist – nennt Dürer, Luther, Bach und Beethoven, Lessing, Herder, Schiller, Goethe und Hölderlin. Auffällig dabei freilich ist, dass in erster Linie und immer wieder Goethe und sein Werk in aller Feder und in aller Munde sind. So wird in den Jahren 1945 bis 1949 Goethes Faust in nicht weniger als 30 verschiedenen Ausgaben veröffentlicht, außerdem gibt es „ein gutes Dutzend Faust-Kommentare“.42 Ja – und dies sei hier nur am Rande vermerkt – selbst die beiden zentralen Ereignisse der deutschen Fernsehgeschichte nach 1945 – die offizielle Aufnahme des Sendebetriebs des deutschen Fernsehens am 2. März 1951 und der Beginn des Sendebetriebs des ZDF am 1. April 196343 – kommen nicht ohne Goethes Faust aus: Beide Male bildet das „Vorspiel“ aus Faust den Sendeauftakt – eine „dis40 Ebd., S. 24 ff. 41 Ebd., S. 54. 42 Rainer Nägele, Goethefeiern von 1932 und 1949. In: Reinhold Grimm/Jost Hermand (Hg.), Deutsche Feiern, Wiesbaden 1977, S. 115–129, hier 120. 43 Vgl. Peter Seibert, Versorgung der Medien mit Kunst? Anmerkungen zur Fernsehgeschichte von Theater in den 50er Jahren. In: Bollenbeck/Kaiser (Hg.), Die janusköpfigen 50er Jahre, S. 53–62, hier 59.

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kursive Selbstbekundungs-Strategie“,44 durch die die Fernsehmacher auf der Kulturfähigkeit des neuen Mediums insistieren. Aber bleiben wir bei der engeren Nachkriegsperiode, der Zeitspanne zwischen 1945 und 1949: Hier lässt sich die enorme Attraktivität der Faust-Figur vermutlich damit erklären, dass Faust als der Repräsentant der Deutschen interpretiert werden kann. Der Schweizer C. G. Jung beispielsweise deutet Faust als symbolische Schlüsselfigur für das so genannte deutsche Wesen, wobei Jung sogar so weit geht, den Faustischen Teufelspakt direkt auf Hitler zu beziehen: An der Machtergreifung Hitlers und der damit eingeleiteten Katastrophe der Deutschen „erfahren wir“ – so der Psychologe – „jenen höchsten Geistesflug und den Abstieg in Schuld und Finsternis, ja schlimmer noch, den Fall in hochstaplerischen Schwindel und mörderische Gewalttat, die Auswirkung des Paktes mit dem Bösen. Auch Faust ist gespalten und hat das ‚Böse‘ in Gestalt des Mephistopheles aus sich herausgestellt, um nötigenfalls ein Alibi zu haben.“45 Für Thomas Mann, der sich sowohl in Reden und Essays wie in literarischer Form – erinnert sei an den 1949 veröffentlichten Roman Doktor Faustus – mit der Faust-Figur auseinandersetzt, ist Faust eine Tragödie, weil in Faust und Mephistopheles das Gute und das Böse, das Göttliche und das Dämonische, „Fausts unendliches Bestreben und der höhnische Nihilismus des Mephistopheles dichterisch auseinandertreten“,46 und sich nicht in einem harmonischen Gleichgewicht zueinander befinden. Mann sieht die Grundvoraussetzung für die lebenspraktische Verwirklichung der Ideen des deutschen Humanismus in der harmonischen Synthese der Polaritäten des Lebens, Ziel müsse der Ausgleich zwischen Geist und Vernunft, Gefühl und Verstand, Vorstellung und Tat, Patriotismus und Universalismus, Individuellem und Sozialem sein. Höhepunkt der nach 1945 diagnostizierbaren Goethe-Begeisterung ist zweifelsohne das Goethejahr 1949. Der zweihundertste Geburtstag des Dichters ist Anlass zu einer nahezu beispiellosen Rückbesinnung auf den Weimarer Dichterfürsten. Die Huldigungen sind immens und beinahe nicht zu übertreffen: Kaum eine Zeitschrift verzichtet darauf, dem Dichter ein Gedächtnisheft zu widmen: Der Monat – eine internationale Zeitschrift unter der Chefredaktion des CIA-Agenten Melvin J. Laskys – gedenkt des Goethe-Jubiläums ebenso wie die literarische Monatsschrift Heute und Morgen; und dem Goethe gewidmeten Heft der im Westen erscheinenden Hamburger Akademischen Rundschau korrespondiert im Osten ein Goethe-Heft der Neuen Welt. Und natürlich darf auch ein Bekenntnis zu Goethe – eine „Festgabe zur Goethe-Feier der deutschen Nation in Weimar anlässlich der zweihundertsten Wiederkehr des Geburtstages von Johann Wolfgang von Goethe am 28. August 1949, überreicht vom Deutschen Goethe-Ausschuß 1949“ – genauso wenig fehlen wie ein „Internationaler 44 Bollenbeck, Die fünfziger Jahre und die Künste: Kontinuität und Diskontinuität, S. 11. 45 Carl Gustav Jung, Nach der Katastrophe. In: ders., Aufsätze zur Zeitgeschichte, Zürich 1946, S. 112–132, hier 124. 46 Mann, Ansprache im Goethejahr 1949, S. 402.

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Gelehrtenkongress“ an der Frankfurter Universität vom 24. bis 26. August 1949. Nur wenige Autoren distanzieren sich von dem allgemeinen Rummel um Goethe, den Erich Kästner bereits im Februar des Jahres 1949 aus einem eher satirischen Blickwinkel heraus kommentiert: „Endlich ertönt der Startschuss! Die Federn sausen übers Papier. Die Rotationsmaschinen gehen in die erste Kurve. Die Mikrophone beginnen zu glühen. Ein noch gut erhaltener Festredner bricht plötzlich zusammen. Das Rennen hat begonnen: das Goethe-Derby über die klassische 200-Jahr Strecke!“47 Auch das Verhalten von Elisabeth Langgässer ist keineswegs repräsentativ: Die Autorin antwortet dem Kulturpräsidenten der Ostzone, einem Herrn Bergmann, der sie anlässlich der Goethe-Feiern zu einem „Bekenntnis zu Goethe“ auffordert: „Als das Goethejahr begann, habe ich mir geschworen, mit keiner einzigen Zeile die allgemeine Goethepsychose, die voraussichtlich ausbrechen werde, zu vermehren.“48 Die große Mehrheit der zeitgenössischen Dichter und Denker sieht dies allerdings ganz anders: Die Rückbesinnung auf Goethe ist enthusiastisch und euphorisch. Rudolf Alexander Schröder konstruiert einen Zusammenhang zwischen der „Weite des Humanen“,49 zwischen Goethe und Deutschlands Neubeginn; für Werner Bergengruen ist Goethe Maßstab und Ideal, er fordert die Deutschen dazu auf, „das Gesamtgefüge des Goetheschen Denkens auch für die eigene Existenz fruchtbar zu machen“.50 Und auch Frank Thieß reiht sich in die Reihe der Goethe-Apologeten ein: „Gerade heute, wo der ‚Mensch‘ sich scheinbar überall im Rückzuge befindet, wo das frei verantwortungsbewusste Selbst wehrlos dem Angriff des Gemeinen ausgeliefert zu sein scheint, gerade heute triumphiert in der Gestalt Goethes diese Macht der Persönlichkeit über alle Mächte des Tages.“51 Dabei ist zu beobachten, dass sich eine übergroße Mehrheit der GoetheAnhänger darum bemüht, bei der Erinnerung an Goethe die konkrete Geschichte – und zwar den historischen Kontext Goethes genauso wie den eigenen historischen Kontext – außer acht zu lassen: „In fünfhundert Jahren wird Goethe nur noch Mythos sein; alle gewesene Wirklichkeit, alle Rekonstruktion seines Lebens wird von ihm abfallen, und Wichtigkeit wird nur noch besitzen, was an ewig Lebendigem in seinem Werk liegt. Das Überzeitliche kristallisiert sich wie der Diamant, bei dem wir nicht mehr nach seinem Herkunftsgebirge fragen, und alle Kunst hat ihr Überzeitliches darin, daß sie ohne Begriffs- und Zeitbestimmung den geheimen Nerv trifft, den wir das Göttliche im Menschen nennen dürfen.“52 47 Erich Kästner, Das Goethe-Derby. In: Pinguin, 4 (1949) Heft 2, S. 28. 48 Elisabeth Langgässer, ... soviel berauschte Vergänglichkeit. Briefe 1926–1950, Frankfurt a. M. 1981, S. 175. 49 Rudolf Alexander Schröder, Goethe und wir. In: ders.: Aufsätze und Reden, Band 1, Frankfurt a. M. 1952, S. 412–423, hier 419. 50 Werner Bergengruen, Rede über Goethe, Marburg 1949, S. 21. 51 Frank Thieß, Goethe der Mensch, Köln 1950, S. 11 (Rede, gehalten am 28. 8.1949 auf der Goethefeier der Stadt Bremen). 52 Wolf von Niebelschütz, Goethe in seiner Zeit, Bremen 1946, S. 13.

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Diese von Wolf von Niebelschütz bereits drei Jahre vor dem Goethe-Jahr formulierte Marschrichtung findet 1949 eine zahllose Gefolgschaft. Nur selten ist die Rede von der spezifisch deutschen Vergangenheit und der spezifisch deutschen Geschichte: Der Einbezug des konkret historischen Kontextes, den der Frankfurter Goethe-Preisträger des Jahres 1947, der Philosoph Karl Jaspers, in seiner damaligen Festrede – Unsere Zukunft und Goethe53 – noch zur zwingenden Notwendigkeit erklärt hatte, wird nur ein Jahr später von der Mehrheit der GoetheVerehrer zugunsten überzeitlicher, allgemein-menschlicher Aspekte verworfen. Wobei allerdings interessant ist, dass die avisierte Überzeitlichkeit, das Verlangen nach einem von der politischen Tatsachenwirklichkeit freien Raum der Dichtung und der Dichter, nur in Grenzen erfolgreich ist: Und dies wird spätestens mit der Kontroverse um den Goethe-Redner des Jahres 1949 – mit dem Konflikt um den Deutschland-Besuch Thomas Manns – überdeutlich. Als der zu diesem Zeitpunkt noch immer in Kalifornien lebende Thomas Mann – der als Goethe-Preisträger des Jahres 1949 seine Ansprache im Goethejahr sowohl in der Frankfurter Paulskirche wie auch im Weimarer Nationaltheater hält – nur wenige Monate nach der Gründung zweier deutscher Staaten darauf insistiert, dass sein Deutschland-Besuch dem deutschen „Vaterland als Ganzes“54 gelte, dass er keine Grenzen zu akzeptieren bereit sei und die geistig-kulturelle Einheit Gesamtdeutschlands für ihn außer Frage stehe, gerät er in Westdeutschland in das Schussfeuer der Kritik. Man wirft ihm vor, durch seinen Besuch in Weimar zugleich auch das Gesellschaftssystem der DDR zu stabilisieren.55 Geht Thomas Mann davon aus, dass die geistige Einheit des politisch getrennten Deutschland durch niemand anderen besser repräsentiert werden könne als durch einen „unabhängige[n] Schriftsteller, dessen wahre Heimat die freie, von Zonen-Einteilungen unberührte deutsche Sprache“56 sei, so macht die in der west- und ostdeutschen Tagespresse geführte kontroverse Debatte um seinen „Aufenthalt in Weimar“ deutlich, dass der Goethe-Redner einem Irrtum erlegen ist. Das gesellschaftlich-politische und geistig-mentale Klima wird – und zwar in der Bundesrepublik Deutschland wie auch in der DDR – nicht mehr bestimmt durch den auf Deutungsmuster und Argumentationsfiguren der bildungsbürgerlichen Kunstsemantik rückgreifenden Schriftsteller, sondern durch die Realpolitiker: Und das sind im Jahr 1949 die Politiker des Kalten Krieges. Das Klima des Kalten Krieges hat der Vorstellung, dass kollektiv geteilte Deutungsmuster und eine allen gemeinsame Literatur-, Kunst- und Kulturtradition als symboli53 Karl Jaspers, Unsere Zukunft und Goethe. In: Die Wandlung, (1947) Heft 7/8, S. 14. 54 Interview mit der Welt vom 30. 7.1949. In: Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909–1955. Hg. von Volkmar Hansen und Gert Heine, Hamburg 1983, S. 305– 309, hier 308. 55 Vgl. Eugen Kogon, Offener Brief an Thomas Mann. In: Frankfurter Neue Presse vom 30. 7.1949. 56 Mann, Ansprache in Weimar. In: ders., Nachträge. Frankfurt a. M. 1974, S. 791–795, hier 793.

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sches Kapital für gemeinsamen Neubeginn und nationale Identität genutzt werden könnten, den Resonanzboden entzogen. Obwohl man im Osten wie im Westen Deutschlands Goethe und seine Leistungen feiert und nicht nur für Thomas Mann, sondern auch für Johannes R. Becher „Goethes Geist über ‚ganz‘ Deutschland“57 schwebt, gilt, dass im Sommer des Jahres 1949 die Teilung der im Kalten Krieg der Supermächte politisch auseinandergedrifteten beiden deutschen Teilstaaten durch Wiederanknüpfen an gemeinsame Kulturtraditionen nicht mehr korrigierbar ist. Darüber hinaus sollte aus der historischen Distanz des heutigen Beobachters der Jahre 1945 bis 1949 nicht übersehen werden, dass die Reaktivierung des Humanismusdiskurses und der damit einhergehende Rückgriff auf überzeitliche Norm- und Wertorientierungen, Deutungsmuster und Kulturtraditionen – der als Argumentationsfigur nicht nur für die Goethe-Feierlichkeiten des Jahres 1949, sondern, wie ich zu zeigen versucht habe, für nahezu sämtliche Kulturdiskurse der unmittelbaren Nachkriegsära kennzeichnend ist – die rationale Analyse der nationalsozialistischen Tatsachenwirklichkeit ins Metaphorische verschiebt, einer Verdrängung der Schuldfrage Vorschub leistet, zur konkreten Gestaltung der gesellschaftlich-politischen Tagesrealität nur bedingt tauglich ist und somit die tatsächlichen Weichenstellungen für die gesellschaftlich-politische Zukunft anderen überlassen muss. Der Humanismusdiskurs und die Resistenz bildungsbürgerlicher Argumentationsfiguren indizieren keinen Neuanfang, sondern sie verweisen auf mentale Kontinuitäten, durch die die Distanz zwischen dem schöngeistigen Denken der kulturellen Elite und dem konkreten Tagesgeschäft der Realpolitiker nicht reduziert, sondern forciert wird. Und daran können auch die Vertreter der so genannten Jungen Generation – die wie Alfred Andersch, Hans Werner Richter, Walter Kolbenhoff „bei Kriegsende bereits vielfältige lebensgeschichtliche Erfahrungen [...] gesammelt“ haben, „bevor sie auch nur die Möglichkeit“ erhalten, „sich an eine größere Öffentlichkeit zu wenden“58 – nicht wirklich etwas ändern. Das von Andersch 1948 artikulierte Gefühl der „tabula rasa“, verstanden als „Gefühl einer völligen Voraussetzungslosigkeit“, „als Gefühl eines originalen Neu-Werdens, für das es keine Muster und Vorbilder gibt“,59 ist nur bedingt geeignet, den Startschuss für einen tatsächlichen Neuanfang zu geben. Wenn Andersch den „historischen Irrtum“ des Nationalsozialismus mit einem „kaum vergleichbaren Erdbeben“ gleichsetzt und die Literatur der Gegenwart auf „Wahrheit“, „Wahrheitsliebe“ und „Gerechtigkeit“60 abonniert, dann bewegt er 57 Becher, Der Befreier. In: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Teil IV: 1918–1982. Hg., eingeleitet und kommentiert von Karl Robert Mandelkow, München 1984, S. 328–334, hier 330. 58 Ralf Schnell, Die literarische Situation der Bundesrepublik. Autoren, Geschichte, Literaturbetrieb, Stuttgart 1986, S. 74. 59 Alfred Andersch, Deutsche Literatur in der Entscheidung. Ein Beitrag zur Analyse der literarischen Situation, Karlsruhe 1948, S. 24 f. 60 Ebd., S. 19.

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sich bei allen sonstigen Differenzen – auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann – sprachlich in den gleichen Bildern wie die zuvor porträtierten Autoren der so genannten „Vätergeneration“61, auch hier also nicht tabula rasa, sondern Kontinuität und Fortschreibung altbewährter Deutungsmuster.62

61 Schnell, Die literarische Situation in der Bundesrepublik, S. 74. 62 Verbindet die Repräsentanten der „Jungen Generation“ in den ersten beiden Nachkriegsjahren ein explizit politisches Selbstverständnis, das auf einem Syntheseversuch von Sozialismus und individuellen Freiheitsrechten basiert, so werden sie 1947 eines der ersten Opfer des Kalten Krieges: Die von der Jungen Generation 1947 ins Leben gerufene Gruppe 47 konzentriert sich aus generellem Misstrauen gegen Politisierungstendenzen auf die Diskussion innerliterarischer Fachfragen, womit auch sie die Kontinuität des bildungsbürgerlichen Selbstverständnisses – wenn auch auf ihre Weise – festschreibt. Weitere Literatur: Aleida Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt a. M. 1993; dies., Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M. 1994; ders., Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880–1945, Frankfurt a. M. 1999; Geschichte der deutschen Literatur. Literatur der BRD. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Hans Joachim Bernhard, Berlin (Ost) 1983; Hermann Glaser, Deutsche Kultur. Ein historischer Überblick von 1945 bis zur Gegenwart, 2. Auflage Bonn 2000; Grosser (Hg.), Die große Kontroverse; Hanno Loewy, Holocaust. Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte, Reinbek 1992; Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, 2 Bände, München 1980; Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990; Marie-Luise Recker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 2002; Ulrich Schlie, Die Nation erinnert sich. Die Denkmäler der Deutschen, München 2002; Harald Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997.

Institutionenfehde und Repertoire-Entscheidung in der Sowjetunion: Tichon Chrennikovs Oper Frol Skobeev im Widerstreit der sowjetischen Kulturbürokratie Robert Enz Willkür und Kontingenz, wie sie als Grundprinzipien von Repertoire-Entscheidungen im Sowjetstaat erscheinen, erhellen zu einem Teil natürlich aus der Spezifik der Kunst im Allgemeinen wie des Musikgenres im Besonderen. Der Historiker indes wird sich mit der Erklärung aus dem Subjektivismus aller kunstästhetischen Wahrnehmung heraus allein nicht bescheiden und namentlich in einem System, in dem Repertoirebeschlüsse als Resultat eines Wechselspiels einer Anzahl von Akteuren stehen, zu zeigen suchen, welche institutionellen und sonstigen Mechanismen die Entscheidung über ein Werk mitbestimmten. Ziel dieses Beitrages ist es, anhand der Oper Frol Skobeev des sowjetischen Komponisten Tichon Chrennikov darzutun, wie Kunstwerke in der Nachkriegssowjetunion für die Austragung persönlicher und institutioneller Auseinandersetzungen zwischen den konkurrierenden Bürokratien von staatlicher Kunstverwaltung auf der einen, ideologischem Apparat der Partei auf der anderen Seite instrumentalisiert wurden, wie umgekehrt der Dualismus zwischen Partei- und Staatsapparat die Geschicke von Kunstwerken maßgeblich beeinflusste. Primäre Akteure in Repertoirefragen waren in der Sowjetunion auf staatlicher Ebene das Komitee für Kunstangelegenheiten (KDI) und dessen Hauptverwaltungen für Zensur, Dramen- und Musiktheater sowie für Musikeinrichtungen, auf Parteiebene der Agitprop-Kunstsektor des Zentralkomitees. Seit Errichtung des KDI als zentrale staatliche Kunstadministration im Jahre 1936 hatte sich der Widerstreit zwischen den Kunstapparaten von Partei und Staat herauskristallisiert, die Agitations- und Propaganda-Abteilung aber in dieser Auseinandersetzung zunehmend die Oberhand über das KDI gewonnen. Als im Jahre 1948 mit Polikarp Lebedev ein ehemaliger Agitprop-Führungsarbeiter das Ruder der staatlichen Kunstverwaltung übernahm, war der Antagonismus zwischen den Kunstapparaten von Staat und Partei mitnichten überbrückt, sondern brach sich erst vollends Bahn. Das Feld, auf dem sich fürderhin die Auseinandersetzungen zutragen sollten, war die Repertoirepolitik. Lebedevs Ernennung zum Vorsitzenden des KDI bedeutete bereits in Hinblick auf den Wechsel der Persönlichkeit an der Spitze der Kunstadministration eine Zäsur: Sein Vorgänger, Michail Chhrapčenko, Literaturwissenschaftler von Beruf, stand, des unpo-

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pulären Amtes, das er bekleidete, ungeachtet, als Person in durchaus gutem Ansehen bei der künstlerischen Intelligenz. Freilich wurde Chrapčenko in seinem Amt durch keinen bloßen Bürokraten befolgt: Seinem Vorgänger ähnlich und ganz in Entsprechung mit dem allgemeinen Charakter des Komitees als einer in den Führungspositionen professionalisierten Behörde, war auch Lebedev ausgebildeter Kunstwissenschaftler. Barscher im Auftreten, ausgestattet mit einem übersteigerten Selbstbewusstsein und der Neigung zu cholerischen Ausfällen, brachte es Lebedev gleichwohl in der künstlerischen Intelligenz nicht zu dem menschlichen Ansehen seines Vorgängers. Seinerseits aus der Agitprop-Führungsriege an die Spitze des KDI gelangt, sah sich Lebedev in der Position eines entschiedenen Auftretens gegenüber der Ideologie-Abteilung des Partei-ZK. Den spektakulären Auftakt der eskalierenden Auseinandersetzungen zwischen dem von Lebedev geführten KDI-Apparat und dem Kunstsektor der Agitprop bildete im Januar 1949 die Antikosmopolitismuskampagne – eine gegen Theaterkritiker vornehmlich jüdischer Abstammung gerichtete Offensive der politischen Führung des Landes mit Signalwirkung für die übrigen Bereiche der Kunst und der Wissenschaft. Mit rüden Attacken gegen die Leiter des AgitpropKunstsektors leisteten Lebedev und der Chefredakteur des KDI-Organs Sovetskoe iskusstvo, Vdovičenko, entscheidenden Beitrag, dass Erstere für die Patronage der vorgeblich antipatriotischen Gruppe von Theaterkritikern gefällt wurden. Solchermaßen die Klingen gegen den Agitprop-Apparat gewetzt, suchte sich Lebedev ein Jahr später erneut in der Konfrontation mit dem AgitpropKunstsektor zu bewähren, mit Stoßrichtung namentlich gegen seinen dortigen persönlichen Erzrivalen, Boris Jarustovskij, eines Musikhistorikers, der Lebedev seinerzeit als Kandidaten für den KDI-Vorsitz für untauglich erklärt hatte. Die zunächst latenten Spannungen zwischen Lebedev und Jarustovskij entluden sich im Frühjahr 1950 aus Anlass des durch den KDI-Chef durchgesetzten Verbots von Tichon Chrennikovs neuer Oper Frol Skobeev (Libretto: S. Cenin). Basierend auf der Erzählung eines unbekannten Autors aus dem 17. Jahrhundert und deren Komödien-Bearbeitung durch den Dramatiker D. Averkiev, war Chrennikovs Werk zu einem denkbar unglücklichen Zeitpunkt erschienen: Soeben war Chrennikov als der neue Generalsekretär des sowjetischen Komponistenverbandes von der politischen Führung dazu bestimmt worden, seine Komponistenkollegen (Šostakovič, Prokof’ev, Chačaturjan u. a.) nachdrücklich an die Hinwendung zu den großen politischen Gegenwartsthemen als das Gebot der Stunde zu gemahnen, welcher Pflicht er weder säumig noch rhetorisch zimperlich nachgekommen war, da brachte das Moskauer Stanislavskij-Nemirovič-Dančenko-Musiktheater sein Werk über eine der Gegenwart entlegene Thematik auf die Bühne. Die Idee zu dieser Oper reichte freilich auf den Beginn der 40er Jahre zurück, und als Chrennikov anno 1945 auf Staatsbestellung hin an die Abfassung der Oper schritt, waren Vergangenheitssujets noch weit weniger verpönt gewesen als zum aktuellen Zeitpunkt. Durch Glavrepertkom, die Zensurbehörde beim KDI, zur Aufführung zugelassen, lief die Oper seit dem 23. Februar 1950 mit großem Erfolg auf der Bühne des Sta-

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nislavskij-Nemirovič-Dančenko-Musiktheaters, bis einen Monat später, am 22. März, der KDI-Chef das Theater betrat. Öffentlicher Tadel war dem Komponisten für seinen thematischen Rückzug in die tiefe Vergangenheit bis zu diesem Zeitpunkt mehrfach widerfahren.1 Kaum verwunderlich also, dass das neue Werk – vor Lebedev noch – auch die Mitarbeiter der Agitations- und Propaganda-Abteilung des Partei-Zentralkomitees auf den Plan rief: Im März 1950 wandten sich Kružkov und Tarasov – Ersterer stellvertretender Leiter der Agitprop, Letzterer Leiter des Agitprop-Kunstsektors – mit einem Schreiben an ZK-Sekretär Suslov, in dem sie Bedenken hinsichtlich der Oper anmeldeten.2 Zum Stein des Anstoßes war erneut das Sujet geworden: Die Wahl der Geschichte vom russischen Adligen Frol Skobeev dürfe man nicht als gelungen anerkennen, indem sich auf näherungsweise dieselbe Epoche der Idee nach markantere und progressivere Volkswerke bezögen. Mängel konstatierten die Agitprop-Arbeiter auch in der Autoreninterpretation: Ein bekanntes Sujet aus der russischen Volksliteratur benutzend, hätten es die Autoren nicht verstanden, die in ihm vorhandenen einzelnen sozialen Elemente zu entwickeln, hätten stattdessen der Oper ausschließlich die Liebesgeschichte des Protagonisten zugrundegelegt. Später in die Figur Skobeevs eingeführte gewisse Veränderungen in Richtung auf die Zuordnung einer Ankläger-Funktion wider das konservative Bojarentum wirkten nicht überzeugend, ebensowenig die nachträglich ins Libretto genommene Figur des progressiven Bojaren Ordyn-Naščekin. Infolgedessen sei der ideologische Wert der Oper nicht hoch, sie stelle im kognitiven und erzieherischen Sinne kein Interesse vor. Endlich hieben Kružkov und Tarasov in die Achillesferse: Das Gefühl der Unzufriedenheit werde noch durch jenes Faktum verstärkt, dass der Generalsekretär des Komponistenverbandes in der aktuellen Situation mit einer solchen Oper in Erscheinung trete. Einerseits also auf verschiedenen Versammlungen mit Aufrufen, Opern über Themen der Gegenwart zu schaffen, auftretend, verfasse Chrennikov andererseits für seine Person Opern über Themen aus der fernen Vergangenheit, zudem noch über ideologisch minderwertige. All dies gebe Grundlage für die berechtigte gesellschaftliche Kritik an Chrennikovs Adresse. Als Errun1

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Anonymus, Interesy naroda – vyše vsego! In: Sovetskoe iskusstvo, Nr. 35 vom 23. 8.1946, S. 1. Auch die Teilnehmer einer am 13. und 14. März 1950 stattgehabten Diskussion der Oper im sowjetischen Komponistenverband waren um Worte nicht verlegen, als es Chrennikovs unglückliche Sujetwahl zu kritisieren galt (RGALI, F. 1077, Op. 1, D. 457, LL. 1–157, hier LL. 29–29ob., 51, 92). Kružkov und Tarasov an Suslov (RGASPI, F. 17, Op. 132, D. 419, LL. 31–33). Eine genaue Datierung ist dem Dokument nicht zu ersehen, die Abfassung des Schreibens zu einem Zeitpunkt nach dem 14. März allerdings ist aus der Bezugnahme auf bezeichnete Diskussion des Komponistenverbandes flagrant. Indem die Agitprop-Arbeiter, durch deren Hände alle externe Post an die Adresse der ZK-Sekretäre zuerst lief, in ihrem Schreiben der folglich späteren Eingabe Lebedevs, auf die sie erst in einem zweiten Schreiben an das Sekretariat reagieren sollten, nicht Erwähnung taten, muss für dieses erste Schreiben ein Zeitpunkt vor dem 23. März 1950 – dem Datum von Lebedevs Brief an die ZK-Sekretäre Malenkov, Suslov, Ponomarenko, Chruščev – angenommen werden.

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genschaften des Werkes stünden immerhin seine musikalischen Qualitäten: melodiös, in einer einfachen, russischen musikalischen Sprache geschrieben, beinhalte die Oper viele Arien, Duette, Lieder mit einprägsamen Melodien, seien in ihr herzliche, tief positive Figuren russischer Mädchen geschaffen worden, und selbst die Figur des Frol Skobeev erscheine in ihrer musikalischen Charakteristik anziehender und positiver als im Libretto. Angesichts der Streitigkeiten, die sich um den Frol Skobeev entsponnen hätten, hielte man es für zweckmäßig, die Oper einer objektiven Kritik auf den Seiten des Agitprop-Organs, der Zeitung Kul’tura i žizn’, zu unterziehen. Gleichzeitig verwahrten sich die Agitprop-Arbeiter gegen jegliche Versuche, Chrennikovs Verunglückung mit seinem Sujet für die Begleichung persönlicher Rechnungen mit dem Oberhaupt des Komponistenverbandes, der sich soeben als Sprachrohr der politischen Führung zahlreiche Feinde in der sowjetischen Musikintelligenz gemacht hatte, zu instrumentalisieren. Als KDI-Chef Lebedev am 23. März 1950 gleichfalls in Angelegenheit des Frol Skobeev ein Schreiben an das ZK-Sekretariat richtete, in dem er seine Entscheidung begründete, das Werk von der Bühne abzusetzen, da mochte man ihn in seiner Skepsis gegenüber dem Sujet grundsätzlich mit den Agitprop-Arbeitern einig wissen.3 Allein Lebedevs Missbilligung des Werkes ging über das Urteil der Agitprop weit hinaus: Als ideologisch verderbt und schädlich, die reaktionären Seiten der russischen Wirklichkeit des 17. Jahrhunderts idealisierend, habe das KDI die weitere Aufführung der Oper verhindert. Held der literarischen Vorlagen sei der niedere Adlige Frol Skobeev, ein typischer Hochstapler, der unter der Devise „das Ziel rechtfertigt die Mittel“ auf alle erdenkliche Weise strebe, „etwas zu werden“, Reichtum und eine solide gesellschaftliche Position zu erlangen. Auf dem Wege von Betrug und Bestechung gelange Skobeev in ein Bojarenhaus, übe Zwang auf die Bojarentochter, entführe und heirate sie, erwirke unter Hilfe ebensolcher hochstaplerischer Mittel den Ausgleich mit ihren Eltern, erhalte eine reiche Mitgift und ziehe in den Rechten dem Bojarentum gleich. Literatur und handelnde Personen solchen Typs seien, so Lebedev, bekanntlich von Seiten M. Gor’kijs wie der sowjetischen Literaturwissenschaft scharf verurteilt worden. Sich einem solch fehlerhaften Sujet zuwendend, versuche Chrennikov in seiner Oper, Skobeev zu rehabilitieren, und idealisiere zugleich die Lebensform der Bojaren. Wie sonderbar dies auch scheinen möge, strebten die Autoren der Oper, Skobeev, diesen deklassierten Adligen und Hochstapler, beinahe in einen Volkshelden zu verwandeln. Als positive Figur habe man den Bojaren Ordyn-Naščekin, der in seiner Arie hochpatriotische Gedanken deklariere, dargestellt. Auch dessen Sohn, Savva, sei in der Oper mit idyllischen Farben gemalt. Die der Idee der Oper nach negative Figur des Bojaren Tugaj-Rededin, in Hinblick auf welche die Autoren es nicht über gutmütige Ironie hinausbrächten, sei lediglich als dummer betrogener Vater dargestellt, der stellenweise sogar die Sympathien des Zuschauers evoziere. Librettist, Komponist und Regis3

Lebedev an Malenkov, Suslov, Ponomarenko, Chruščev vom 23. 3.1950 (RGASPI, F. 17, Op. 132, D. 419, LL. 38–40).

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seur hätten alles erdenkliche getan, die Lebensform des Bojarentums zu beschönigen, was sich in einer Anzahl von Bildern ausdrücke. Es sei bekannt, fährt Lebedev fort, dass die besten russischen Komponisten und Schriftsteller, die russische Wirklichkeit des 16. und 17. Jahrhunderts abbildend, das Hauptaugenmerk der Darstellung des russischen Volkes in seinem heroischen Charakter gewidmet hätten. Stets hätten sie das Bojarentum mit seinem bornierten Hochmut und seiner reaktionären Gesinnung böse verspottet. Chrennikov und die Regisseure des Schauspiels indes seien in der Darstellung der russischen Wirklichkeit des 17. Jahrhunderts nicht den progressiven Vertretern der russischen Kunst gefolgt, sondern den bourgeoisen Schriftstellern der vorrevolutionären Zeit, die die reaktionäre Seite der russischen Geschichte idealisiert hätten. Die Musik der Oper immerhin würdigte auch Lebedev als talentiert, melodiös und einfach, wähnte jedoch gerade in diesen ihren Qualitäten eine Gefahr, indem sie, die Sympathie der Zuhörer weckend, die ideologische Verderbtheit des Werkes im Ganzen verschleiere. Lebedevs scharfe Verurteilung der Oper war, wie der Fortgang seines Schreibens offenbart, nicht allein um des Werkes selbst willen ergangen. Vielmehr wurde ihm der Disput um den Frol Skobeev zum Instrument, seinen Rivalen im Kunstsektor der Agitprop einen Hieb zu versetzen: Das KDI halte es für seine Pflicht, die Aufmerksamkeit des ZK-Sekretariats auf den Umstand zu lenken, dass die Arbeiter der Agitprop, Kružkov und Tarasov, die Oper, die sie mehrmals gehört hätten, im Grunde genommen unterstützten, und Jarustovskij, der Instrukteur der Agitations- und Propaganda-Abteilung, das Werk auf einer Diskussion in Schutz genommen habe. Nachdem der KDI-Vorsitzende solchermaßen in alle Richtungen ausgeteilt hatte, ließen empörte Reaktionen der Betroffenen nicht lange auf sich warten: Chrennikov, diesmal Hauptgeschädigter, wandte sich direkt mit einem Brief an Stalin, in dem er Lebedevs Argumentation für wenig überzeugend und den Prikaz zur Absetzung der Oper für falsch und gesetzwidrig erklärte.4 Umgehend auch die Replik der Agitprop-Arbeiter,5 die sich durch Lebedevs Animosität unvermutet in eine heikle Situation versetzt fanden, wenn auch in anderer Hinsicht, als dem KDI-Leiter – der voraufgegangenen Agitprop-Eingabe in das Sekretariat unkundig – dies bewusst gewesen sein kann: Leicht nämlich würde es sein, Lebedevs Vorwurf zu entkräften, man habe die Oper protegiert, denn hierzu bedurfte es lediglich der aktualisierenden Reformulierung dessen, was man an Bedenken wenige Tage zuvor ohnedies bereits niedergeschrieben und an ZKSekretär Suslov adressiert hatte. Wie aber umgekehrt die Abgrenzung zu Lebedevs Standpunkt markieren, dessen Sujetkritik zwar aggressiver und grundsätzlicher war, der aber mit seiner Erklärung im Sekretariat zu einem Zeitpunkt vorstellig geworden war, da die Agitprop bereits ihrerseits in deutlichen Worten 4 5

Chrennikov an Stalin von Ende März 1950 (RGASPI, F. 17, Op. 132, D. 419, LL. 41– 43). Kružkov, Tarasov und Jarustovskij an Malenkov vom 31. 3.1950 (RGASPI, F. 17, Op. 132, D. 419, LL. 46–53).

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Handlungsbedarf in Hinblick auf das Schauspiel angemeldet hatte? Sich aus dieser Situation herauszuwinden – hierfür bedurfte es einer sensiblen Argumentation. Mochten die Agitprop-Arbeiter Kružkov, Tarasov und Jarustovskij am Ende als Sieger über den isolierten KDI-Vorsitzenden aus dieser Angelegenheit hervorgehen, in argumentativer Hinsicht scheiterten sie an der Aufgabe, den Mittelweg zwischen Tadel des Werkes und also Aufrechterhaltung der früheren Kritik einerseits, hinreichender Verteidigung desselben aber in Abgrenzung zu Lebedev andererseits zu finden. Ihr Schreiben geriet inhomogen, das Verfahren, Schlüsselpassagen des ersten Briefes in den zweiten hinüberzunehmen, um anschließend die eigenen Argumente zu relativieren und teils gar unfreiwillig zurückzunehmen, erwies sich als unglücklich, zu schweigen von etwaiger rhetorischer Gewandtheit und Eleganz. So steht der Sieg über den KDI-Chef als Ergebnis vor allem einer günstigen Ausgangskonstellation. Unter die Thesen, die man sich aus dem früheren in den aktuellen Brief zu transplantieren begnügte, zählen die Aussagen von der misslungenen Wahl der literarischen Vorlage und den Unzulänglichkeiten der Autoren-Interpretation. Des Weiteren bekannt aus dem ersten Schreiben: der geringe ideologische Wert der Oper, die im kognitiven wie im erzieherischen Sinne kein Interesse vorstelle; die thematische Rückwärtswendung ausgerechnet des Generalsekretärs des Komponistenverbandes, seine Hinwendung nicht bloß zu Vergangenheits-, sondern darüber hinaus zu ideologisch minderwertigen Sujets; die berechtigte gesellschaftliche Kritik, der man die Autoren unterzogen habe; endlich der missbilligende Verweis auf den revanchistischen Impetus manchen Beitrages in der Kontroverse, an welcher Stelle die Agitprop-Arbeiter die Gelegenheit günstig wähnten, ihre Konterattacke gegen Lebedev anzubringen: Leider wiederholten viele Argumente des KDI-Vorsitzenden die Erdichtungen jener Personen, die mit dem einzigen Ziel aufgetreten seien, Chrennikovs Oper zu vernichten und ihn als Leiter des Komponistenverbandes zu diskreditieren. Einmal die Offensive gegen Lebedev eröffnet, galt es fortan, zur Verteidigung des Werkes überzugehen und in der Kritik zurückzurudern, um hinreichende Distanz zu Lebedev zu schaffen. Was folgt, ist zunächst eine aufwendige Apologie von Chrennikovs literarischer Quelle: Wenn man auch die Wahl des Sujets für die Oper tatsächlich nicht als gelungen anerkennen dürfe, so sei doch Lebedevs Inhaltsangabe der Erzählung nicht objektiv, tendenziös, und die Behauptung von der negativen Beurteilung dieser Erzählung durch M. Gor’kij wie durch die sowjetische Literaturwissenschaft entspreche nicht der Wirklichkeit. In der überwältigenden Mehrzahl der Literatur, die die Geschichte über Frol Skobeev behandele, werde der Gedanke bekräftigt, dass die Erzählung für ihre Zeit progressiv, realistisch gewesen sei, richtig die gesellschaftliche Atmosphäre der Epoche am Vorabend der petrinischen Reformen widergespiegelt habe. Jenen Passus aus ihrem Schreiben an Suslov, demzufolge sich auf näherungsweise dieselbe Epoche der Idee nach glänzendere und progressivere Volkswerke bezögen, sparen Kružkov, Tarasov und Jarustovskij nun aus. Stattdessen besetzen sie die diametrale Position, die Erzählung hebe sich scharf von der Mehrzahl anderer Werke des gegebenen Genres dieser Epo-

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che ab, die religiösen, konservativen Charakter besäßen. Paradigmatisch I. Turgenevs Urteil über die Erzählung, der 1853 in einem Brief an Aksakov geschrieben habe: „Ich bin sicher, dass Sie die Aufmerksamkeit auf die Erzählung über Frol Skobeev in der ersten Nummer des Moskvitjanin gerichtet haben. Dies ist eine überaus bemerkenswerte Sache. Alle Personen sind vortrefflich, und die Naivität des Stils ist rührend.“ In einer besonders seriösen Arbeit charakterisiere die von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR herausgegebene Geschichte der russischen Literatur 1948 die Erzählung wie folgt: „Durch allergrößte Neuheit und Unabhängigkeit gegenüber der altrussischen Literaturtradition zeichnet sich die Geschichte über den russischen Adligen Frol Skobeev aus [...] Das Erwachen der Initiative, das Bewusstsein um das Recht auf selbständige Gründung einer Familie, das Fehlen des Familienhochmuts: dies ist es, was der Autor in der Figur Annuškas gezeigt hat [...] Der Autor der Geschichte hat seinen Spott gegen die Alten gerichtet, die sich ihres Hochadels brüsten, (Frol) sowohl für seine Armut als auch für seinen aus ihrer Sicht gemeinen Beruf verachten usw. [...] Der Mut, mit dem der Autor die damals in der Lebensform des russischen Bojarentums durchaus gesetzmäßige Hochnäsigkeit verspottet, zeugt davon, dass es auch im Leben bereits keinen Respekt mehr vor ihr gab.“

In anderen Gegenwarts-Veröffentlichungen nehme sich der Standpunkt Professor Gudzijs etwas isoliert aus, der in seinem Lehrbuch der altrussischen Literatur die Figur Skobeevs grundsätzlich negativ bewerte, jedoch die progressive Richtung der Erzählung unterstreiche. Zu den negativen Eigenschaften der Erzählung, die durch Gudzij und einige andere Autoren unterstrichen würden, zählte Frols amoralisches Verhalten der Heldin gegenüber, die Skrupellosigkeit in der Erreichung seines Ziels. Jedoch hätten bekanntlich, so die Agitprop-Arbeiter, zahlreiche Renaissance-Werke, sowohl im Westen als auch in Russland (z. B. Literatur vom Typ Boccaccios, viele Komödien Shakespeares, die russische weltliche Erzählung des 17. Jahrhunderts) analoge Motive als Gegengewicht zur religiösen Moral und zum Asketismus des Mittelalters einbezogen. Was aber das Finale der Erzählung betreffe, so sei dies ebenfalls gewöhnlich für die Mehrzahl der volksliterarischen Werke. Augenfällig, dass durch diese Darlegungen die literarische Vorlage nun in unverhofft günstiges Licht gerückt war, augenfällig ferner, dass die Agitprop ihre Kehrtwende in gewollter Abgrenzung zu Lebedev, dem Leiter der staatlichen Kunstadministration, vollzogen hatte, war doch im ersten Schreiben keine Veranlassung gesehen worden, die Erzählung auch nur mit einem Worte zu würdigen, zu schweigen gar von dem Zitat-Bollwerk, das man nun zu ihrer Verteidigung aufzubieten Bereitschaft fand. Den Agitprop-Arbeitern indes blieb dieser argumentative Fehltritt unentdeckt, und sie schritten unablässig in der eingeschlagenen Richtung, als sie – weiterhin durch die Motivation der Distanzschaffung zu Lebedev getrieben – von der Kritik der literarischen Vorlage zu derjenigen der Oper selbst übergingen. Den Autoren der Oper sei es gelungen, das Libretto von einigen negativen Seiten der Erzählung zu befreien: So habe man etwa die amoralischen Züge des Helden in bedeutendem Maße überwunden. In der Figur des Frol den Willen, die Findigkeit, die Verwegenheit wahrend, hät-

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ten die Autoren sie in dem tiefen, aufrichtigen Gefühl für Annuška um neue Züge ergänzt, im letzten Bild Frols Konflikt mit dem Vertreter des reaktionären Bojarentums, Tuglaj-Rededin, in dessen Gestalt der Stumpfsinn, die Ignoranz des Bojarentums verspottet werde, gezeigt. Dieser negativen Figur sei der durch die Autoren eingeführte progressive Bojar Ordyn-Naščekin entgegengestellt – eine echte historische Person, die eine bedeutende Rolle in der politischen und kulturellen Entwicklung Russlands in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gespielt habe. Ausgespart an dieser Stelle erneut jene nicht länger opportunen Passagen des ersten Briefes der Agitprop-Arbeiter an das ZK-Sekretariat, da beanstandet worden war: Die Autoren hätten der Oper ausschließlich die Liebesgeschichte Skobeevs zugrundegelegt, die später in die Figur Skobeevs eingeführten Änderungen in Richtung auf die Zuordnung einer Ankläger-Funktion wider das konservative Bojarentum wirkten nicht überzeugend, und auch nicht die nachträglich ins Libretto genommene Figur des progressiven Bojaren OrdynNaščekin. Vollends erodierte die damals im ersten Schreiben formulierte und zu Beginn des zweiten noch aufrechterhaltene, entschiedene Kritik, als die Agitprop-Arbeiter, besagtem Interesse der Opposition zum KDI-Leiter verpflichtet, die Sujetwahl nun auch grundsätzlich zu rechtfertigen sich anschickten: Man müsse auch bemerken, dass in der sowjetischen Musikkunst alle Operngenres, darunter dasjenige der komischen Oper, ein Recht auf Existenz hätten. Daher erscheine die Behauptung Lebedevs, dass die sowjetischen Opernautoren sich nur tragischen, bedeutenden sozialen Ereignissen der russischen Geschichte zuwenden müssten, nicht hinreichend überzeugend. Vielmehr stelle die Schaffung einer komischen Oper auf Grundlage einer satirischen realistischen Novelle und sogar über ein Sujet aus der fernen Vergangenheit ein durchaus mögliches und nicht anstößiges Faktum dar. Am Ende war von Kružkovs und Tarasovs ursprünglichen Vorbehalten nichts übrig geblieben als der zur Formel erstarrte sporadische, doch nicht mehr argumentativ gestützte Verweis auf eine nunmehr unbestimmte Mangelhaftigkeit des Werkes, der den affirmativen Partien keinen Gegenhalt mehr bot. Chrennikovs Frol Skobeev war in der Streitangelegenheit zwischen dem ideologischen Apparat der Partei und der staatlichen Kunstadministration zum Instrument für die Austragung institutionell sowohl als auch persönlich motivierter Rivalitäten geworden. Nicht um des Kunstwerkes selbst willen, sondern in jeweiliger reziproker Abgrenzung hatten die Akteure ihre Positionen formuliert, die sich als entsprechend flexibel und letzthin als arbiträr erwiesen. Für die Funktionäre der Kontrollapparate in Partei und Staat machte sich an den Geschicken eines Kunstwerkes nicht weniger, ja: im Gegenteil sogar noch mehr fest als für die Kunstschaffenden selbst: Einander wechselseitig über die jeweilige Haltung zu einem Kunstwerk zu diskreditieren strebend, war es ihnen Vehikel, den Führungsanspruch des eigenen Apparates zu befestigen, nicht zuletzt aber die persönliche Karriere zu befördern, deren Ende sich umgekehrt an die Niederlage in einer Zensurangelegenheit knüpfen konnte. Lebedevs Ende an

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der Spitze der staatlichen Kunstverwaltung freilich würde noch bis zum Skandal um die Žukovskij-Oper Ot vsego serdca (Von ganzem Herzen) im Frühjahr 1951 auf sich warten lassen. Gleichwohl musste der KDI-Chef in der Chrennikov-Angelegenheit einlenken: Am 1. April 1950 traf Lebedev die Anordnung, in Abänderung der Glavrepertkom-Weisung über die zeitweilige Absetzung der Oper ihre Aufführung im Stanislavskij-Nemirovič-Dančenko-Musiktheater zu erlauben, um die Theater- und Musiköffentlichkeit und die Presse mit dem Werk bekannt zu machen.6 Was folgte, war eine politische Schlammschlacht zwischen den rivalisierenden Akteuren in der staatlichen Kunstverwaltung und im Agitprop-Apparat der Partei: Indem Lebedev durch diesen Ausgang einer Affäre von sekundärer kunstpolitischer Bedeutung nicht vernichtend hatte geschlagen werden können, andererseits aber zu energischen Wesens war, als dass er die Kränkung dulden würde, war die Waffenruhe nicht lange zu währen bestimmt. Im August 1950 setzten Kružkov und Tarasov zur erneuten Attacke an und belasteten den KDIVorsitzenden in einem Bericht an das ZK-Sekretariat schwerwiegender Verfehlungen in der Kaderpolitik, hierbei das ganze Spektrum der aktuellen politischen Feindeslandschaft aufbietend:7 Die Hauptanklage gegen Lebedev lautete auf Tolerierung „politisch zweifelhafter Elemente“ im Apparat seines Komitees und in den Kunsteinrichtungen: Angehörige von Geistlichenfamilien, Verwandte von Weißgardisten und Juden. Anlass zu einer derart scharfen Kampagne hatte es aus Sicht der Agitprop-Arbeiter hinreichend gegeben, denn Lebedev hatte sich bei ihnen inzwischen gänzlich unbeliebt gemacht. Anfang Juli hatte Tarasov über das ungebührliche Betragen des KDI-Vorsitzenden bei ZK-Sekretär Suslov Beschwerde eingereicht:8 Lebedev habe sich hysterische Ausfälle gegen die Arbeiter des Kunstsektors zuschulden kommen lassen, nehme kritische Bemerkungen gegen das Komitee für persönliche Attacken, die auf die Unterminierung seiner Autorität zielten, vor allem aber strebe er seit Monaten, die Arbeiter des Agitprop-Kunstsektors mit allen erdenklichen Mitteln – namentlich durch Bespitzelung und durch das Sammeln diskreditierender Materialien – in Verruf zu bringen. Tarasov beherrschte das Instrumentarium zur Verunglimpfung missliebiger Personen nicht minder als sein Rivale an der KDI-Spitze, den er zuvor für Diskreditierungsstrategien auf die Anklagebank gesetzt hatte, derer er sich im Fortgang seines Schreibens nun selbst bediente: Zunächst hängt er Lebedev drei Finanzaffären mit einem Schadensvolumen von ca. 1 Mio. Rubel aus der Zeit von dessen Tätigkeit im ZK-Apparat sowie die Nähe zu Kosmopolitenkreisen in Verbindung mit einem Jubiläumsband über das sowje6

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Lebedev an die Leiterin des Upravlenie po delam iskusstv Mosgorispolkoma, A. Kameneva, vom 1. 4.1950 (RGALI, F. 2484, Op. 3, D. 90, L. 8; RGALI, F. 962, Op. 3, D. 2193, L. 8). Dem Wunsch der Agitprop entsprechend, erschien ferner im Mai eine ausführliche Kritik des Schauspiels im Agitprop-Organ: G. Chubov, Komičeskaja opera „Frol Skobeev“. In: Kul’tura i žizn’, Nr. 14 vom 21. 5.1950, S. 3. Kružkov und Tarasov an das Sekretariat des CK VKP(b) vom 12. 8.1950 (RGASPI, F. 17, Op. 132, D. 411, LL. 74–84). Tarasov an Suslov vom 1. 7.1950 (RGASPI, F. 17, Op. 132, D. 411, LL. 123–129).

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tische Theater an, dann eröffnet er die Fälle um Muradelis Skandaloper Velikaja družba und die Boris Godunov-Inszenierung des Bol’šoj teatr neu, jeweils Lebedev schwer belastend. Hierdurch rücken zwei der aufsehenerregendsten kulturpolitischen Affären der Nachkriegszeit in das Licht des Frol Skobeev, der im Wettstreit der parteilichen und staatlichen Kontrollinstanzen und in den Ränken der Kunstfunktionäre zum politischen Spielball geworden war. Wo bisher die Politisierung des Kunstwerkes lediglich im Sinne seiner Ideologisierung vorgestellt wurde, wird fortan die politische Instrumentalisierung auf Funktionärsebene in dem Begriff der Politisierung mitzudenken sein. Die Geschicke eines Werkes aus seiner ideologischen Wertigkeit und Opportunität allein erklären zu wollen, greift zu kurz, wo ideologische Vorbehalte um der Austragung machtpolitisch und karrieristisch motivierter Konflikte willen vorgeschützt wurden.

Schreiben außerhalb des Kanons oder Die Verteidigung der geistigen Autonomie Joachim Walther Ein neues Literaturarchiv ist anzuzeigen: Das Archiv unterdrückter Literatur in der DDR. Gegründet von Ines Geipel und mir, stellt es im Archiv der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin literarische Vor- und Nachlässe von Autoren bereit, deren Texte zu Zeiten der DDR geschrieben worden sind, dort aber bis zu ihrem Ende nicht erscheinen durften. Dass sie existieren, belegt das Vorhandensein einer widerständigen Literatur jenseits des offiziellen DDR-Literaturbetriebes und außerhalb des von oben diktierten Kanons. Der Bremer Literaturwissenschaftler Wolfgang Emmerich schlägt in der erweiterten Neuausgabe seiner Kleinen Literaturgeschichte der DDR von 1996 vor, dass, nachdem sich die „Archive [...] für die Forschung geöffnet haben, [...] es möglich und ergiebig [ist], das Literatursystem DDR, seine Kanon, Norm und Zwang setzenden Kräfte seriös zu untersuchen“.1 Eine hochwohllöbliche Absichtserklärung. Die Realität indes ist eine andere. Der von Günther Rüther 1997 herausgegebene Band Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus2 behandelt die Autorschaften in der DDR am etablierten Kanon. Fortgeschrieben wird, was sich im wissenschaftlichen Diskurs als Leitlinien der bisherigen Forschung über die Jahrzehnte hat etablieren können. Auch die von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Ursula Heukenkamp vorgestellte Nachkriegsliteratur in Berlin 1945 bis 19493 verzichtet darauf, das in den Blick genommene literarische Feld vor dem Hintergrund der erweiterten Quellensituation neu zu bestimmen. Während zu den Autoren, die in den Kanon Eingang gefunden haben, eine beeindruckende Fülle von Untersuchungen vorliegt, kommt die nicht kanonisierte Literatur kaum in den Blick, und das, obwohl sich zahlreiche Dokumentationen nach 1989 die Zensurpolitik in der DDR zum Gegenstand gemacht und belegt haben, dass die Literatur in der DDR unter restriktiven Literaturverhältnissen ge1 2 3

Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR, Leipzig 1996, S. 27. Vgl. Günther Rüther (Hg.), Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Diktatur, Paderborn 1997. Vgl. Ursula Heukenkamp (Hg.), Unterm Notdach. Nachkriegsliteratur in Berlin 1945– 1949, Berlin 1996.

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schrieben worden ist. Selbst die 1998 im Akademie Verlag, Berlin, erschienene, bislang umfassendste und detaillierteste Untersuchung4 zur DDR-Zensur gibt keine Gesamtschau der Zensur-Geschichte, sondern beschränkt sich auf die 50er und 60er Jahre und kommt zu dem kritisch zu bewertenden Schluss, es habe in der DDR keine durchgängig und methodisch angewandte Zensur, vielmehr lediglich eine quantitativ und qualitativ wechselnde Willkür des Zugriffs gegeben, die als Abenteuer dargestellt und von „Fall zu Fall“ erzählt wird. Totalitäre Literaturverhältnisse sind so nicht zu fassen. Definiert man die DDR als post-stalinistisches System nach Sigrid Meuschels5 Begriffsbestimmung als zweiten Typus des Totalitarismus, nämlich als „Totalitarismus als (totale) Kontrolle“, so folgt daraus, dass die gesamten Literaturverhältnisse dem sicherheitspolitischen Zugriff des Staates und der Partei unterworfen waren. Diktaturen behandeln Literatur immer extrem, indem sie Affirmation honorieren und Kritik unnachgiebig verfolgen. Die Verfolgung des freien Wortes, Zensur, Verbote und Stigmatisierung von Autoren gehören zu deren fundamentalem und existentiell überlebenswichtigem Repertoire der Machtsicherung. Die in geistigem Widerstand und Widerstehen entstandenen, verschwiegenen und nun gehobenen Texte sind authentische Zeugnisse einer bislang kaum wahrgenommenen literarischen Gegenbewegung und ästhetischen Gegenwelt, die den thematischen, formal-ästhetischen, letztlich politischen Vorgaben an die Literatur trotzte, aus diesen Gründen unbenannt blieb und ins Vergessen gedrängt werden sollte. Sie zeigen das andere Gesicht der in der DDR geschriebenen Literatur, sie zeigen, wie Autoren zu Zeiten der DDR-Diktatur ihre geistige Autonomie bewahrt und welche Themen und Ästhetiken sie unter den repressiven Bedingungen verteidigt haben. Damit vermögen diese Texte, so man denn willens ist, den Blick auf den Literaturraum und das totalitäre Projekt DDR zu weiten. Zugleich zeigen die in der DDR unveröffentlichten Texte ein vielfältigeres Bild und eine stärkere Polarisierung ostdeutscher Literatur, als es die publizierten Texte bisher vermittelt haben. Sie belegen über die vier Jahrzehnte der DDR-Existenz hinweg das Vorhandensein eines literarischen Widerstandes, der bislang so nicht ins Bild kam – oder passte. Aus den über hundert gehobenen Vor- und Nachlässen des Archivs drei exemplarische Beispiele: Für die 50er Jahre die Lebensgeschichte der Lyrikerin Edeltraud Eckert, die Geschichte eines tragisch frühen Todes in der Haft und eines Textkörpers der sublimierten Verzweiflung. Für die 70er Jahre die Lebensgeschichte des literarischen Philosophen und intellektuellen Satyrs Thomas Körner, die Geschichte einer Flucht aus der, wie er es nennt, „Vakuole DDR“ und 4 5

Vgl. Simone Barck/Martina Langermann/Siegfried Lokatis (Hg.), Jedes Buch ein Abenteuer – Zensur-System und literarische Öffentlichkeit in der DDR bis Ende der sechziger Jahre, Berlin 1998. Vgl. Sigrid Meuschel, Totalitarismustheorie und moderne Diktaturen. Versuch einer Annäherung. In: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Totalitarismus. Sechs Vorträge über Gehalt und Reichweite eines klassischen Konzepts der Diktaturforschung, Dresden 1999, S. 61–77.

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eines beeindruckenden Textblockes, der eines der Fundamente der Diktatur dekonstruiert: die Utopie. Und schließlich für die 80er Jahre die Lebensgeschichte der in der alternativen Szene agierenden Gabriele Stötzer, die Geschichte eines trotzigen Standhaltens und der Textbelege eines unter widrigen Umständen erarbeiteten selbstbestimmten Schreibens. Edeltraud Eckert war das fünfte Kind einer Buchhändlerfamilie aus Hindenburg in Oberschlesien, die im Januar 1945 vor der anrückenden Roten Armee nach Brandenburg an der Havel geflohen war. Dort trat sie 1946 der Freien Deutschen Jugend bei, machte im Sommer 1949 ihr Abitur und wurde im Herbst an der Pädagogischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität immatrikuliert. Doch ihr idealistisch gestimmter Aufbruch in die versprochene demokratische und freiheitliche Zukunft endete früh und abrupt. Als sie und ihre Freunde erfuhren, dass die ehemaligen NS-Konzentrationslager Sachsenhausen und Buchenwald als Speziallager des sowjetischen Geheimdienstes weitergeführt wurden, protestierten sie mit Flugblättern dagegen und wurden Anfang Mai 1950 denunziert und verhaftet. Die 20-Jährige wurde Ende Juli vom Sowjetischen Militärtribunal Potsdam in kurzem Prozess zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt und ab Oktober 1950 im Zuchthaus Waldheim inhaftiert. 1954 in die Frauenhaftanstalt Hoheneck in Stollberg/Erzgebirge verlegt, wurde sie als Mechanikerin in der Schneiderei eingesetzt. Im Januar 1955 kam es zu einem schweren Arbeitsunfall: Das Haar der jungen Frau geriet in eine Getriebewelle, sie wurde skalpiert, nur unzureichend behandelt und zu spät in das Haftkrankenhaus Leipzig-Kleinmeusdorf überstellt. Nach mehreren vergeblichen Transplantationen der infizierten Kopfhaut kam es zum Wundstarrkrampf, der schließlich zum qualvollen Tod führte. Exitus letalis mit 25 Jahren. Die Todesnachricht erreichte die Eltern fünf Tage nach ihrem Tod, das Haftkrankenhaus teilte lapidar mit, die Strafgefangene Eckert sei am 18. April 1955 in den frühen Morgenstunden an den Folgen eines Wundstarrkrampfes verstorben und am 20. April 1955 eingeäschert worden. Die Urne wurde anonym an geheim gehaltenem Ort verscharrt. Ihre Eltern erhielten bis zum Ende der DDR weder Totenschein noch Sterbeurkunde. Erst 1993 wurde die „unbegründet verhaftete“ Edeltraud Eckert vom Hohen Militärgericht in Moskau rehabilitiert. Erhalten geblieben sind ihr Haft-Tagebuch mit einem Zyklus von 101 Gedichten und die so genannten Monats-Briefe aus der Haft an ihre Eltern. Mit 20 Jahren war sie abrupt abgeschnitten vom Leben, von der Literatur, der Kunst und musste von der Substanz zehren, der deutschen Klassik, dem verehrten Rilke, der Musik im Kopf. Ihre Gedichte sind Zeugnisse eines Überlebensversuchs in der Kunst, eines Versuchs der ästhetischen Transformation unter den demütigenden, lebens- und geistfeindlichen Haftbedingungen. Die Gedichte haben den nach innen gewandten Blick und beschwören mit Naturmetaphern von erinnerten Landschaften, Klängen, Gerüchen und Jahreszeiten die vorenthaltene Freiheit. Auflehnung und Angst, Pathos und Verzweiflung, Traum und Klage, Hoffnung und Resignation, die Einsamkeit innerhalb der überfüllten Gefängniswelt,

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das sind die Ingredienzen dieser in der Haft entstandenen Gedichte. Eines ihrer Gedichte, entstanden im Zuchthaus Waldheim im Dezember 1953: „Du bist nicht ganz verlassen, Wenn du dich selbst nicht fallen lässt, Selbst von den blassen Bildern, die du kaum empfunden Bleibt deinem Wesen Immer noch ein Rest, Der dir die in deinen stillsten Stunden Zurückruft, was du einst gewesen, Der dich geformt, so wie du bist Und wie ein Nachklang Deines Lebens ist. Der schwerste Gang Wird leicht für deine Schritte, Wenn du den Mut gefunden hast, Dich loszulösen Aus der fremden Mitte, Mit denen du – Als stummer Gast Und immer suchend nach der Ruh Und noch entfernt vom Gutsein Und vom Bösen – Geschwankt Und oft gezweifelt hast. Dein Schweigen ward dir nicht gedankt, Es war sich selbst und andern Eine Last.“6

In den 70er Jahren war nach Mauerbau und gewaltsamer Beendigung des Prager Frühlings eine kritische Autorengeneration nachgewachsen, die sich mit intellektueller Distanz zur Ideologie des Systems zentrale Gründungsmythen, Defizite und Fehlentwicklungen der DDR-Gesellschaft zum Gegenstand nahm. So der 1942 in Breslau geborene Thomas Körner, der nach dem Krieg in Sachsen aufwuchs und kurz nach dem Mauerbau in Ostberlin lebte: 1961 ist das Flüchten lebensgefährlich geworden, das Bleiben ein erzwungenes. Er studiert Medizin und Jura, arbeitet als Krankenpfleger und Fensterputzer, liest statt der verordneten Bredel, Marchwitza, Apitz die heimlich kursierenden Camus und Chlebnikov und schreibt, umzingelt von der ideologiegetränkten Sprache der DDR, von der Pop-Art inspirierte Texte wie diesen: „Sur Egal Awegene Antibabies Internatal Efdejohlend Tevauemeldesinforme 6

Edeltraud Eckert, Jahr ohne Frühling, Frankfurt a. M. 2005, S. 39.

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Valutarsche Diamaden Rundstrickbolschies Malimone Exquisite Pegevaras Heutler Hierlein Sozreale“7

Die ideologische Selbstverklärung und der martialische Sprachkitsch des SEDZentralorgans Neues Deutschland wurden für spöttische Geister wie Thomas Körner zur sprudelnden Satire-Quelle. Ende der 60er Jahre fragten sich die jungen Schriftsteller und Künstler im Osten, welche Zukunft ihnen im totalüberwachten, geschlossenen System blieb, nachdem die Mauer alle Ausgänge zur Welt versperrt und den Horizont betoniert hatte. Hinzu kam, dass die Wachsten schon damals begriffen, dass die Russenpanzer in Prag auch die Illusionen von der Reformierbarkeit der Diktatur niedergewalzt hatten. Im Westen dagegen Spaßguerilla, Mao, Marcuse und der Traum einer linken Utopie als Reaktion auf die feisten und selbstvergessenen Wirtschaftswunderjahre. In dieser Zeit konzipierte Thomas Körner seinen neunteiligen Fragment-Roman. Der Fragment-Roman Das Land aller Übel ist der groß angelegte literarischanalytische und philosophische Zugriff auf das, was die kommunistische Diktatur im Innersten zusammenhielt: deren Sprache und Ideologie und vor allem die zur intellektuellen Selbstverzauberung aufrufende Utopie. Das Land aller Übel meint nicht die DDR, sondern das Land Utopia, also die Idee von einer DDR, die es so nie gegeben hat und nie geben konnte. Protagonist ist nicht ein Figurenensemble, sondern das soziale System im Ganzen und in Funktion. Das musste freilich ästhetische Konsequenzen haben: Neben Prosa, Lyrik, Dramatik nutzt Körner auch die im Osten verfemten Bauformen der Moderne wie visuelle Poesie, Collagetechniken, serielle Sprachkonstrukte, Sprachinstallationen und von ihm neu entwickelte Formen wie den dramatisierten Essay. Es ist eine General-Inventur der östlichen Teilwelt, eine literarische Dekonstruktion der staatstragenden, konkret genannten Utopie des Kommunismus. Die Analyse ist scharf und brillant und hinter dem Satyrkopf des Autors Körner sieht man gelegentlich die Schattenrisse von Petronius, Rabelais, Grimmelshausen, Voltaire, 7

Das Gedicht, das dem Archiv unterdrückte Literatur in der DDR entnommen ist, spielt mit Begriffen und Kürzeln der DDR-Sprache: „Awegene“ geht zurück auf AWG (ArbeiterWohnungsbauGenossenschaft), „Efdejohlend“ auf FDJ (Freie Deutsche Jugend, die kommunistische DDR-Jugendorganisation). „Tevau-em-el-desinforme“ enthält in der Mitte das Kürzel ML (Marxismus-Leninismus). „Diamaden“ bezieht sich auf das Kürzel Diamat (Dialektischer Materialismus). „Malimone“ auf Malimo (ein in der DDR erfundenes und massenhaft produziertes Gewebe). „Exquisite“ bezieht sich auf die so genannten Exquisit-Läden, in denen höherwertige und importierte Waren zu hohen Preisen verkauft wurden. „Pegevaras“ ist eine Kombination aus PG (NS-Kürzel für Parteigenosse) und Che Guevara. Wer oder was in „Heutler“ steckt, sollte – wie die meisten anderen Begriffspersiflagen – problemlos zu ermitteln sein.

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Beckett und Joyce. Das hatte freilich keine Chance, in der DDR jemals gedruckt zu werden, da der Text die offiziellen Denk- und Sprachregelungen unverhohlen deutlich konterkarierte und karikierte. Der Roman besteht aus neun Fragmenten: dem Fragment vom Wort, dem Fragment vom Buch, dem Fragment von der Weltanschauung, dem Fragment von der Arbeit, dem Fragment vom Mensch, dem Fragment vom Plan, dem Fragment vom Volk, dem Fragment vom Staat und dem Fragment von der Flucht. Zu einer solchen kommt es unverhoffter Weise realiter Ende 1979: Körner, der sich seinen Lebensunterhalt in Ostberlin mit dem Schreiben von Libretti verdiente, durfte zur Premiere der Oper Leonce und Lena (Musik: Paul Dessau) nach Freiburg im Breisgau fahren und nutzte die erste Gelegenheit zur Flucht. Natürlich nicht ohne seinen Fragment-Roman, mikroskopiert, gerollt und eingewickelt in Butterbrotpapier, camoufliert von Spreewald-Gurke und ungarischer Salami. Im Westen schrieb er Texte für das Musiktheater, arbeitete als Dramaturg am Hamburger Schauspielhaus, vor allem jedoch schrieb er weiter unbeirrt an seinem Fragment-Roman. Er ist bis heute auf über 7 000 Seiten angewachsen. Um einen Eindruck von der Sprachmacht des Textes zu geben, ein Monolog aus dem Fragment von der Weltanschauung, untertitelt: Das Grab des Novalis, ein dramatisierter Essay. Der Text liefert die ausgeführten Teile einer radikalen Dekonstruktion, die sich im Kopf des Lesers zum Schauspiel fügt. Ein Kopf-Theater, das Mitarbeit verlangt. Und wünschenswerterweise einige Erinnerungen an die deutsche Literaturgeschichte – Novalis beispielsweise. Körner transponiert die sechzehn Gestalten aus dem Märchen, das Klingsohr im Roman Heinrich von Ofterdingen einer Augsburger Abendgesellschaft erzählt, in seinen Text. So entsteht ein Stück über die Weltanschauung in sieben Bildern. Erstes Bild: Agonie der Utopie. Zweites Bild: Frustration der Propaganda. Drittes Bild: Delirium der Dogmen. Viertes Bild: Kollaps des Schemas. Fünftes Bild: Autopsie des Monuments. Sechstes Bild: Metastasen der Aggression. Siebtes Bild: Amnesie der Statistik. Das Ganze ist eine philosophische Groteske, ein komplexes Satyrspiel, welches das innere Dilemma einer diktatorischen Weltanschauung vorführt und mit der Sprache deren Denken generiert, analysiert und ad absurdum führt. Hier ein Monolog Arcturs, genannt „ein Höhepunkt des Volksfestes“: „Wofür, wenn nicht für die einheitliche Mehrheit. Und die mehrheitliche Einheit. Wofür, wenn nicht für die Einheit in Harmonie. Alle Macht, alle Gewalten in harmonischer Einheit. Ist es das nicht. Gewaltenharmonie. Herrschende und Beherrschte. Mächtige und Ohnmächtige bilden eine einzige Einheit. Das ist das Ideal. Dann können wir unseren Zustand genießen. Gewaltenharmonie. Oder die vollendet geordnete Ordnung. Das ist es, was ich meine. Wenn ich von der Demokratie der Volkseigenen spreche [...] Ich möchte eigentlich gar keine andere Macht haben. Des ganzen Volkes ganze Macht. Mehr kann kein Volk und keine Macht von mir verlangen. Deshalb sage ich immer. Herrschen ist nicht nur, mit der Macht spielen. Herrschen ist, die Macht genießen. Und das ist die Harmonisierung der Gewalten durch ihre Befriedung und Demokratisierung zu Volkseigenschaften. Volkseigenschaft. Das ist eben mehr, ein höhere Stufe der Macht, als nur Leibeigenschaft. Demokratie der Volkseigenschaften ist in höchster Vollendung eigentlich die prolete Form der Sklaverei. Und da sind wir beim Stichwort. Du musst es in dir drin haben. Nicht das Feudale. Nicht das Bourgeoise. Nicht das Aristokrate. Das Prole-

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te ist es. Prolet ist die Form des Umgangs mit der Macht. Wo das Volkseigene zum Lustprinzip wird. Wo aus der gewaltigen Harmonie der befriedeten Bedürfnisse, die Macht des Genusses wie eine Leibeigenschaft aufsteht. Prolet sein, heißt die Mehrheit genießen. Indem man seinen Genus um den ihren vermehrt. Prolet ist eine Machteigenschaft. Vielleicht die einzige Eigenschaft, die die Macht hat. Prolet! Das ist so eine Art Monarchismus der im Genuss geeinten Mehrheit. Die Macht wird zum herrschaftlichen Rausch des Volkes. Das Volk wird zum Höhepunkt seiner eigenen Herrschaft. Die Herrschaft wird zum Volksfest. Und ich werde zum Höhepunkt des Volksfestes. Ich gehöre dem Volk. Und das Volk gehört mir. Denn das Volk gehört dem, der auf es hört. Ich höre auf das Volk. Um zu hören, ob es auf mich hört. Und weil mein Volk auf mich hört, gehört mir mein Volk.“8

Zu Beginn der 80er Jahre gelang einer nachgewachsenen Generation in selbstverlegten Zeitschriften und inoffiziellen Publikationen eine bewusste Abwendung vom pädagogisierten, bis 1989 zensierten, staatlichen Literaturbetrieb. Zahlreiche Werkgenesen aus dem Fundus des Archivs wie die von Christian Pulz, Jürgen K. Hultenreich, Raja Lubinetzky, Radjo Monk, Ralf-Günter Krolkiewicz und anderen belegen eigenständige Ästhetiken und Themen und geben Zeugnis von dem vorhandenen emanzipatorischen Potenzial, das gegen den ideologisch normierten, verstaatlichten Literaturbegriff stand. Freilich gab es auch nicht wenige junge Autoren, die sehr früh und sehr hart für wenige Textseiten hohe Haftstrafen erhielten. Urteile wie 2 Jahre Haft für 12 Gedichte – „Hetzschriften in Versform“ oder einfach „Machwerke“ genannt – waren durchaus keine Seltenheit und sind Belege gegen die Legendenbildung, es sei in den 70er und 80er Jahren in der DDR relativ kommod zugegangen. Siegmar Faust saß zweimal im Gefängnis, insgesamt 33 Monate. Andreas Reimann, vom Literaturinstitut Leipzig exmatrikuliert, musste danach für 4 Jahre ins Gefängnis. Gerald Zschorsch wurde zu 5 Jahren verurteilt, einziges Delikt: das Schreiben und Verbreiten von Gedichten. Der Satiriker Manfred Bartz wurde 1980 für die 56 Seiten seiner Komödie 100 Prozent, die sich die so genannten Volkswahlen zum Gegenstand nahm, zu 6 Jahren verurteilt. Der Lyriker Uwe Keller wurde 1981 zu 6 Jahren und 8 Monaten Gefängnis verurteilt. Ebenso Frank Romeiß für 12 Gedichte zu 3 Jahren und 6 Monaten. Ralph Arneke schickte seine Manuskripte in die Bundesrepublik und wurde wegen „ungesetzlicher Verbindungsaufnahme“ 1984 zu 1 Jahr und 10 Monaten verurteilt. Rolf Becker, 1980 wegen eines einzigen Manuskripts verhaftet, erhielt 5 Jahre und 6 Monate Haft. Alexander Richter wurde 1982 wegen so genannter staatsfeindlicher Hetze zu 6 Jahren verurteilt. Michael Meinicke 1970 wegen seiner Gedichte zu 2 Jahren, Begründung: „staatsfeindliche Hetze“ [...] – um nur einige Namen zu nennen. In dem türlosen Raum staatlicher Nachstellungen sahen nicht wenige Autoren keinen anderen Ausweg als den des Freitodes, unter anderen der Lyriker Jörns Pfeiffer, der sich 1980 in Berlin-Baumschulenweg vor die S-Bahn warf, oder die Lyrikerin Hannelore Becker, die 1976 aus dem Fenster sprang. Dabei 8

Thomas Körner, Das Land aller Übel (Archiv unterdrückte Literatur der DDR).

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zielten MfS und SED stets auf die frühzeitige Zerstörung der Person und auf die Neutralisierung ihrer Literatur. So auch bei Gabriele Stötzer. Sie, 1953 in dem thüringischen Dorf Emleben (bei Gotha) geboren, begann 1973 ein Studium an der Pädagogischen Hochschule in Erfurt, wurde Beststudentin und stieg auf in die FDJ-Leitung, stellte aber immer wieder deplacierte Fragen, so nach Freud oder Bakunin oder Trotzki, von denen sie in Jena gehört hatte, in dem Literaten-Kreis um den jungen Jürgen Fuchs. Als der Leiter des Studententheaters in Erfurt wegen eines zu intelligenten Artikels für die Studentenzeitung exmatrikuliert wurde, empörte sich die Studentin und schrieb einen Text gegen diese Exmatrikulation, sammelte über 80 Unterschriften an der Hochschule und schickte den Text samt Unterschriften kurzerhand an die Volksbildungsministerin namens Margot Honecker. Von oben kam die Antwort mit der schroffen Alternative: Distanzierung von dem Brief oder Exmatrikulation. Damit war die Studentin im Sommer 1976 ungewollt und unversehens draußen vor der Tür, belegt mit einem Hochschulverbot für sämtliche Universitäten und Hochschulen der DDR und nach unten delegiert zur „Bewährung in der Produktion“. Im Herbst 1976 wurde die Drift schneller: Als Mitte November der Liedermacher Wolf Biermann nach seinem Konzert in Köln nicht wieder in die DDR hineingelassen wurde, unterschrieb die unbekannte junge Frau in der thüringischen Provinz als erste den von Prominenten in Berlin verfassten Bittbrief an die Partei, die Maßnahme der Ausbürgerung zu überdenken. Es machte jedoch einen erheblichen Unterschied, ob man dies prominent in Ostberlin oder ungeschützt in Erfurt tat. Als weitere 23 Unterschriften gesammelt waren und sie das Schreiben samt Unterschriften persönlich nach Berlin bringen wollte, schlug die Staatssicherheit, die sie schon länger im Auge hatte, des Nachts zu. Das endgültige Aus für sie kam im Januar, als die thüringischen Tschekisten so weit waren, gegen sie ein Ermittlungsverfahren mit Haft zu exekutieren. Ab da ging es Schlag auf Schlag, und die partiellen Parallelen mit der Biografie Edeltraud Eckerts zeigen die zwar modifizierte, doch gespenstische Kontinuität der DDR-Diktatur: Nach U-Haft und einem kurzen Aufenthalt im Haftkrankenhaus Leipzig-Kleinmeusdorf wegen einer Unterleibsoperation der kurze Prozess, der mit dem sozialistisch genannten Strafrecht ohne große Umstände „Staatsverleumdung“ konstatierte und ein Jahr Haft ohne Bewährung verhängte, die die junge Frau in Hoheneck abzusitzen hatte. Da war sie 23 Jahre alt. Die Haft wurde für sie zum Schlüsselerlebnis. Sie hatte alles verloren und beschloss, nach der Haftentlassung konsequent mit dem Schreiben zu beginnen („in Korrespondenz zu treten mit meiner inneren Anatomie“, wie sie selbst sagt). Sie nannte ihr Programm Auf der Suche nach dem authentischen Schreiben und lehnte es ab, nach der Haft in die Bundesrepublik entlassen zu werden – es wäre ihr wie ein Verrat an ihrer in der Haftanstalt gefestigten Auffassung von Recht und Unrecht vorgekommen. Das Erstaunlichste daran ist, dass dieses Gefängnis die künftige Autorin hervorbrachte, trotz des enormen Leidensdrucks die junge Dichterin konturierte, ja vielleicht gar schuf.

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Ihre ersten Texte nach der Haftentlassung sind hart, provokant, nehmen keine Rücksichten mehr auf das, was zu sagen opportun war, sie sind erzählter Alptraum, kühle Betrachtung, aber auch leidenschaftliche Suche nach einem Zentrum, einem Halt, einer Wärme. Sie sind sowohl klarer Blick auf die bleiernen Verhältnisse als auch Selbstversuch, sich als Frau schreibend zu definieren, auf die Quelle ihres Geschlechts zu kommen. Sie will die beschränkten, staatlich hervorgebrachten Bilder der Frau hinterfragen, will archetypische, andere Bilder dafür finden, sucht in Träumen, Mythen, der Magie, der Literatur, der Malerei, der Psychologie und in ihrer eigenen Körperlichkeit nach einem neuen, subversiven Frauenbild, was auch in der männerdominierten literarischen Untergrundszene auf weitgehende Ablehnung und Abwehr stieß, Stigma: Feminismus. Zunächst problematisieren die Texte die Sprachlosigkeit und die gestörte Kommunikation zwischen Oben und Unten, Innen und Außen, suchen dann jedoch nach Auswegen aus dieser Misere mit experimentellen, sprachinnovativen Verfahren und der Kritik der vorgefundenen Sprach-, Bild- und Metaphernwelt, konzentrieren sich auffallend auf Autobiografisches und versuchen aus der erlebten und erlittenen Erfahrung eine individuelle, handhabbare und haltgebende Poetologie zu sintern. Die Experimente mit seriellen Techniken, mit rhapsodischen Klangmustern, mit Rap- und Punk-Rhythmen, das suchende Erproben von „Ecriture féminine“ und „Ecriture automatique“, die syntaktischen Verformungen, die mitunter bis zur Penetranz physiologische Bildsprache, der rigorose, gedrängte, intensive, radikale und atemlose Gestus sind keine L’art-pourl’art-Sprachspielereien, sondern ein unter innerem Druck stehendes und dennoch lustvolles Suchen nach Verlässlichem, nach eben dem „authentischen Schreiben“. Diese vor allem praktisch zu verstehende programmatische Aussage zur eigenen Poetologie meint die existentielle Bezogenheit der Texte, deren therapeutische Funktion als Selbsterkundung, Überlebensstrategie und Abwehr des gesellschaftlich Bedrängenden. Sie wollte, wie sie selbst sagte, an sich selbst glauben können und an die Kunst als einer „außerstaatlichen Lebensqualität“. Sie bedient sich des Bilder-Reservoirs aus Magie, Mythen, Sternzeichen, Träumen, Psychoanalyse, Biologie und Geschichte, um archetypische Grundmuster und verlässliche Bildwelten zu finden, das subversive Potenzial der Sprache und die emanzipative Kraft der Weiblichkeit als positive Entgegnung auf ihre patriarchalisch und totalitär strukturierte Umwelt. Die junge Autorin trennte nicht Literatur und Leben, Körperlichkeit und Sprache, Sexualität und Textualität, und weil es bei ihr nicht nur ein intellektuelles, sondern ein ganzheitliches Suchen war, wurde ihr Leben notwendigerweise turbulent. Als im Juni 1979 neun Autoren aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen wurden, schrieb sie dem führenden Exekutor und Verbandspräsidenten Hermann Kant einen Protestbrief, der natürlich postwendend bei den Genossen der Staatssicherheit landete. Daraufhin nahmen die Erfurter Tschekisten die fortgesetzt Aufmüpfige wieder schärfer ins Visier und eröffneten gegen sie den Operativen Vorgang „Toxin“. Der Codename sagt alles über die angebliche Gefährlichkeit der jungen Frau. Mehr als 20 Spitzel wur-

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den um sie herum platziert, darunter auch Mitglieder der Szene wie der konspirative Szene-Guru Sascha Anderson alias IMB „David Menzer“. In den mit anderen Staatsorganen und Institutionen „koordinierten Zersetzungs- und Zurückdrängungsmaßnahmen“ ging es der Stasi um „Kontrolle, Disziplinierung, Liquidierung, Zurückdrängung, Verunsicherung, Zersetzung“ der Zielperson und ihrer Freunde, die ebenfalls in Operativen Vorgängen namens „Siebdruck“, „Autodidakt“ oder „Palette“ bearbeitet wurden. Dennoch beharrte die Observierte auf ihrer ungeschützten Künstlerexistenz ohne Verbandsmitgliedschaft, ohne Steuernummer und Zulassung als Freiberuflerin, was sie nach dem „Ordnungswidrigkeitsrecht der DDR“ stets in der gesellschaftlichen Grauzone der „Asozialität“ leben ließ. Sie suchte nach Freiräumen, nach Sprengkräften der Künste, die die verfestigten Strukturen der normierten und ritualisierten, ideologiegetränkten und zunehmend realitätsfernen Staatssprache aufzubrechen vermochten, attackierte in Bild und Text das täglich von oben Verabreichte und überschritt dabei bewusst ästhetische wie auch orthografisch gesetzte Grenzen, mitunter auch die der Scham, um einem System des krampfhaften Sinn- und Machterhaltes eine lebendige Welt der Sinne gegenüber zu stellen, den Dogmen und Normen die Produktivkräfte Sexualität, Liebe, weibliche Energie, Skepsis, Widerspruch und Provokation. Sie entwickelte für sich die Form des Textgedichtes, eine literarische Bauform des fortlaufenden Textes mit Tagebuch-Charakter, doch um vieles formal dichter und thematisch raumgreifender als ein pures Diarium. Es sind zeilengebrochene, rhythmisierte Textfolgen, strukturell geformt von der Atemlosigkeit des Notats und doch geprägt von einem Textfluss, der zwischen rhapsodischen Passagen, seriellen Wortkaskaden und dem „automatischen Schreiben“ changiert. Bis 1989 konnte sie nur in alternativen, nicht-staatlichen Zeitschriften veröffentlichen, die offiziellen blieben ihr verschlossen, ebenso Verlage, Rundfunk und Fernsehen. Deshalb druckte sie ihre Texte in den Szene-Publikationen Und, Mikado, Ariadnefabrik, Koma-Kino und Anschläge. Nach dem jahrzehntelangen gesellschaftlichen Stillstand begann die Zeit ab Sommer / Herbst 1989 zu rasen, auch und vor allem in der Provinz. Und Gabriele Stötzer war in Erfurt mittendrin. Die Dichterin fand sich plötzlich vom Rand ins Zentrum des revolutionären Sturms versetzt, redete auf Demonstrationen, besetzte mit anderen die örtliche Stasi-Zentrale, arbeitete mit in Bürgerrat und Bürgerkomitee, erkannte den historischen Moment und übernahm ihren Part bei der Transformation der Diktatur in eine offene Gesellschaft. Ein Text aus dem Jahr 1988: „der code ich will keine schuld mehr außer meiner schuld ich will kein ich mehr außer meinem ich ich will keine auseinandersetzungen mehr mit den geliebten ich will die impulse kennen lernen die das leben schaffen und nicht im schulbuch

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ich will keine mit theorien verklebte schöpfungsgeschichte ich will keine anthropologisch definierte gefühlswelt ich war im kasten und will keinen neuen kasten ich suche die impulse zum leben außerhalb meines geburtsortes außerhalb meines geburtslandes außerhalb der materie die ich berühren kann wissenschaftler künstler politiker der code wie habt ihr euch jahrhunderte bemüht ihn aus der geborenen materie zu ziehen aber der mund hat gelogen bis heute es war das letzte kind und es wusste nichts der mund saß im uhrkasten aber die zeit hatte sich nicht mit dem kind vermählt es schlug über ihm die hände passiv zusammen und spielte überich das kind muss die zeit verlassen dann wird der mund wissen und kann aus dem kasten gehen der mund muss die augen als seine geschwister sehen die ohren als seine geschwister sehen die nasenlöcher als seine geschwister sehen die löcher sind alle geschwister ohrloch nasenloch augenloch in ihnen fließt fremde und gleichgepolte absicht trennt das eine vom anderen am richtigen ort dann könnt ihr das haus sein das die tore öffnet“9

1989 hatte sich der Staat DDR selbst erschöpft und musste die unterdrückten Autoren, sofern sie noch lebten, ins Offene entlassen, was jedoch für die verhinderten Texte nicht automatisch Öffentlichkeit bedeutete; deshalb das Archiv unterdrückter Literatur in der DDR. Intention der beiden Archivgründer war von Anfang an, Texte und Autorenschicksale nicht nur zu dokumentieren, sondern die Autoren zu rehabilitieren und die Texte nun endlich dahin zu bringen, wo sie von Anfang an hingehörten: zum Leser. Das ist mit der zur Frühjahrsmesse 2005 gestarteten Edition Die Verschwiegene Bibliothek in der Büchergilde Gutenberg gelungen. Die Edition ist auf 20 Bände konzipiert. Erschienen sind bislang vier.10 Parallel dazu gibt es eine Wanderausstellung mit dem Titel Literarische Gegenwelten, die am 3. Februar 2006 im Literaturhaus Berlin eröffnet worden ist. Die Ausstellung will, chronologisch in vier Dezennien der DDR-Existenz struktu9 Gabriele Stötzer, Ich bin die Frau von gestern, Frankfurt a. M. 2005, S. 170. 10 Die Titel der bisher erschienenen Bände (alle Frankfurt a. M. 2005) sind: Edeltraud Eckert, Jahr ohne Frühling, Lyrik und Briefe aus der DDR-Haft 1950 bis 1955; Radjo Monk, Blende 89, das Tagebuch des ausgegrenzten Leipziger Autors Monk vom 3. Oktober 1989 bis zum 3. Oktober 1990, zugleich politische Chronik der friedlichen Revolution und poetisches Notat eines autonomen Geistes in einer untergehenden Diktatur; Gabriele Stötzer, Ich bin die Frau von gestern, Kurzgeschichten, Miniaturen und experimentelle Textgedichte aus den 80er Jahren; Ralf-Günter Krolkiewicz, Nirgends ein Feuer mehr, Gedichte und Kurzprosa, für die der Autor 1984 für 1 Jahr hinter Gitter kam. Zur Frühjahrsmesse 2006 soll Heidemarie Härtls Erzählung Puppe im Sommer vorliegen, die das beklemmende Panorama einer Endzeit zeichnet. Im Herbst wird Thomas Körner mit Das Grab des Novalis folgen, dem Fragment von der Weltanschauung aus seinem neunteiligen Fragment-Roman.

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riert, jene Schichten von Behinderungen freilegen, wie sie Autoren im Literaturbetrieb der DDR erfahren haben, deren Texte aus politisch-thematischen oder formal-ästhetischen Gründen keinen Eingang in den Kanon der DDR-Literatur fanden und so eine Literatur ohne Daten repräsentieren. Sie zeigt die Lebenswege und die widerständigen Texte von Autoren, deren literarische Arbeit unter dem Druck totalitärer Literatur- und Gesellschaftsverhältnisse entstand und versucht insgesamt eine visualisierte Verschränkung von Literatur, Dokumenten des repressiven Zugriffs, Lebenstext und Zeitgeschichte.

Ritual-Ersatz in der DDR-Übergangsgesellschaft der 80er Jahre: Christoph Heins Fremder Freund im Kontext der Entmündigung Andrew Wisely In ihrem Roman Amanda. Ein Hexenroman (1983) lässt Irmtraud Morgner ihre Hauptfigur Laura Salman einen Brief an die Redaktion der Zeitschrift Neue Philosophische Blätter schicken. In ihrem Brief stellt Laura fest, dass weder die Bibel noch die von ihr abonnierte Deutsche Zeitschrift für Philosophie in der Lage sind, ihr Trost infolge des tödlichen Unfalls ihres Ehegatten Benno zu bieten: „Wir haben Gott abgeschafft, schön und gut. Aber die Gegenstände, mit denen sich Religion beschäftigt, konnten wir nicht abschaffen. Tod, Krankheit, Zufall, Glück, Unglück – wie lassen sich die unerbittlichen Wechselfälle des Lebens eigenverantwortlich meistern? Wer ohne Gott lebt, kann Verantwortung nicht delegieren. Er muss diese Last immer allein tragen. [...] Schwer ist das, liebe Genossen, wenn man nicht vom Glück begünstigt bleibt. Unsere Oberwelt haben wir ganz gut im Blick. Aber die Unterwelt.“1

Laura sieht ein, dass der Marxismus „eine junge Wissenschaft“ ist und „vorerst alle Hände voll zu tun“ hat „mit politischen und gesellschaftlichen Zuständen im engeren Sinne“. Die Berufsphilosophen müssten aber, so Laura, dazu bereit sein, Laien zu beraten, wie sie mit den „unabweisbaren, elementaren Lebensereignissen“ fertig werden können. Laura weiß, dass es Aufgabe der Literatur ist, diese zu bewältigenden Gegenstände zu untersuchen. Sie will aber die Antwort, wie man mit dem Tod zurecht kommt, auch von offiziellen Stellen der DDR erfahren. Auf ihre Frage, ob manche Menschen vielleicht schon erkannt hätten, was zur Bewältigung des Kummers nötig ist, antwortet die Redaktion lediglich, „dass der Mensch in seinen Taten weiterlebe“.2 Dieses Beispiel existentieller Bedrängnis, von der die DDR angeblich nichts wissen wollte, wirft die Frage nach der Trennung von Gesellschaftstheorie und lebensweltlicher Praxis auf. In diesem Aufsatz möchte ich mich deshalb mit der Problemstellung auseinandersetzen, wie solche Aporien in der Zeit des „realen Sozialismus“ zur Sprache gebracht werden. Als erster Schritt beschäftigt mich der Diskurs der öffentlichen Feste und Feiertage in der DDR, die bewusst die 1 2

Irmtraud Morgner, Amanda. Ein Hexenroman, Leipzig 1995, S. 158 f. Ebd.

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kirchlich-liturgischen Traditionen ersetzten. Im zweiten Teil befasse ich mich dann mit den Auswirkungen solcher Pseudoliturgien im privaten Lebensbereich, wie sie von Christoph Hein in seiner 1982 in der DDR erschienenen Novelle Der fremde Freund dargestellt werden. Im Verständnis der DDR-Ideologie hat sich der Begriff der Seele schon deshalb überlebt – um an das obige Zitat zu Laura Salmans Bedrängnis anzuknüpfen –, weil der dialektische Materialismus „keine unbewiesenen und unbeweisbaren Dinge anerkennt und nach den Prinzipien wissenschaftlichen Denkens auch nicht anerkennen kann“.3 So zweifelt in Stefan Heyms 1983 erschienenem Roman Ahasver ein gewisser Professor Siegfried Beifuß, am Institut für wissenschaftlichen Atheismus (Ostberlin) tätig, daran, dass es einen solchen Ahasver, den Wandernden Juden, im Prinzip geben könnte. In seinem Briefwechsel mit Professor Jochanaan Leuchtentrager (an der Hebrew University tätig) drückt Beifuß den Stolz seines Institutes aus, „den aller menschlichen Vernunft widersprechenden Irr- und Aberglauben noch konsequenter zu bekämpfen“; jedoch gehört dieser Stolz nicht ihm, wie sich herausstellt, sondern dem Kollektiv.4 Wichtiger als die Sorge um die Seele sei die Erkenntnis, dass sie nicht existiere. Vielmehr müsse sie, wie Beifuß betont, auf Grund der Nervenvorgänge im Gehirn, in „Psyche“ umbenannt werden: „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir auch da völlige Klarheit erhalten werden. Absolut sicher ist jedoch, dass die Psyche des Menschen, seine Seele also, in dem Moment zu existieren aufhört, in dem die physische Gehirnfunktion ihr Ende findet.“5 Bei Heym geht es also darum, den Wandernden Juden, Prinzip der Mobilmachung schlechthin, als Gegenfigur sowohl zur erstarrten Herrschaft der Reformation (auf einer Erzählebene) wie auch der offiziellen Dogmatik des Atheismus (auf einer anderen Erzählebene) hinzustellen. Trotz dieser Ablehnung des Aberglaubens staatlicherseits ist der irrationelle Impuls einer gründlichen Sakralisierung der ideologischen Lebenswelt kaum zu übersehen. Es ist kein Geheimnis, dass sich in der DDR bis in die 80er Jahre hinein viele Ersatzriten durchgesetzt hatten, auch wenn sie in vielerlei Hinsicht als künstlich erlebt wurden. Diese Riten – ob wiederkehrend oder einmalig im Sinne eines Übergangsrituals – haben öffentliches und privates Feiern jeglicher Art begleitet. Einige kamen nationalsozialistischen Feiern verblüffend nahe, indem sie die umfassende Macht des Staates pathetisch zur Schau stellten. In der DDR machte man sich daran, ehemals christliche Formen mit atheistischen Inhalten zu besetzen. Die anachronistisch anmutende Meta-Erzählung des Christentums musste durch die des Marxismus-Leninismus beseitigt werden. 3 4

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Stefan Heym, Ahasver, Frankfurt a. M. 1983, S. 26. Ebd., S. 27. Der Briefwechsel, der eine der drei Erzählebenen ausmacht, beginnt 1979/1980. Weil der Staat Israel den DDR-Wissenschaftlern nicht zugänglich ist, muss Beifuß um ein Foto von Ahasver bitten, um sich von dessen Existenz „überzeugen zu lassen“ (S. 28). Sobald jedoch drei Fotos vorliegen, bittet Beifuß seinen Kollegen um Verständnis, „wenn wir als Marxisten auf unserm Standpunkt beharren, dass es Wunder nicht geben kann und folglich auch keinen ewigen Juden als Person“ (S. 177). Ebd., S. 115.

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Man kann sich diesem Phänomen des Kirchenkampfes sowohl aus der Perspektive der Mythos-Forschung als auch von der Seite der Religionssoziologie annähern. Als Oberbegriff eignet sich in diesem Zusammenhang der Terminus der „Anti-Liturgie“. Bis ins Extreme wurden die Ersatzriten in den Dienst der zu erzwingenden Staats- und Sozialismustreue gestellt. Dieser pseudo-sakrale Aspekt des offiziellen DDR-Atheismus tritt in der Zeitschrift Naturwissenschaft und Atheismus klar zutage; denn im Jahre 1964 war man so weit, den oben erwähnten „unerbittlichen Wechselfällen des Lebens“ nachzukommen: „Eins der wichtigsten Mittel der atheistischen Erziehung der Werktätigen besteht darin, den religiösen Bräuchen und Feiertagen inhaltlich neue Feiertage und ‚Bräuche‘ entgegenzustellen. Bekanntlich hat sich die Kirche das Recht angeeignet, alle wichtigen Ereignisse im Leben des Menschen zu feiern. Geburt, Eheschließung und Tod – das alles wurde von ihr zum Anlass religiöser ‚Sakramente‘ und Bräuche gemacht, wobei weitgehend Mittel der ästhetischen Wirkung eingesetzt werden [...] Von außerordentlicher Wichtigkeit ist es, inhaltlich neue Feiertage, neue Traditionen und neue Bräuche zu schaffen. Hierbei kann man einiges aus alten Volkstraditionen, die ihre religiöse Bindung verloren haben, ausnutzen und vieles bildet sich in den Jahren der Macht der Werktätigen allmählich heraus.“6

Freilich empfindet Laura Salman das sozialistische Begräbnis ihres Mannes als unzureichend. Eine ähnliche Ablösung des christlichen Rituals durch ein marxistisch-leninistisches findet auch in weiteren Fällen statt: Die Taufe wird durch die Namensgebung ersetzt; die Erstkommunion durch die Aufnahme in die Pionierorganisation; die Firmung bzw. Konfirmation durch die Jugendweihe; die Sendung durch die Arbeiterweihe; die Trauung durch die sozialistische Eheschließung.7 Besonders vehement reagierten die katholischen Bischöfe in Dresden-Meißen auf die Taktik der Ersatzriten. In den Hirtenbriefen und Handreichungen für Elternabende zum Thema Jugendweihe hoben die Bischöfe mit besonderer Schärfe hervor: „Die jetzt geplanten ‚Jugendweihen‘ können für einen katholischen Christen niemals in Frage kommen, sie haben als Grundlage eine materialistische Weltanschauung und wollen die Belehrung im materialistischen Geist, die die religionslose Schule begonnen hat, fortsetzen und mit einer Feier krönen.“8 Ein Musterbrief, der für die Direktion der jeweiligen Oberschule geeignet war, wurde jenen Eltern zur Hand gegeben, die ihre Kinder aus Gewissensgründen an der Jugendweihe nicht teilnehmen lassen wollten. Jedermann sollte wis6

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Naturwissenschaft und Atheismus (1968), S. 310, zit. nach Handreichung für Elternabende zum Thema Jugendweihe. In: Josef Pilvousek (Hg.), Kirchliches Leben im totalitären Staat. Teil 2: Quellentexte aus den Ordinariaten 1977–1989. Dokumentenband, Leipzig 1998, S. 58–67, hier 60 f. Ebd., S. 61. Ebd., S. 60. Die Feststellung, wonach es z. B. bei der Jugendweihe mehr auf die Vorbereitung als auf die Zeremonie selbst ankommt, überrascht kaum. Deshalb wurden diese Vorbereitungsstunden in der achten Klasse von der Kirche als bedrohlich angesehen. Die Geistlichen machten Eltern auf die Unvereinbarkeit der Jugendweihe mit der Konfirmation aufmerksam und drohten lange sogar mit einer Sakramentensperre.

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sen, so stand es im Brief, „dass Sozialismus und Christentum in augenblicklichen Verhältnissen einander widersprechen und sich gar ausschließen“. Von diesen Folgen wird später bei Hein die Rede sein. Dass das Gelöbnis, welches das der Konfirmation bzw. Firmung ersetzen sollte, als Bekenntnis zum Sozialismus fungierte, war besonders im Jahrzehnt der Einführung der Jugendweihe offensichtlich. Statt die Jugendlichen in die Gemeinschaft der Gläubigen durch Kommunion feierlich einzugliedern, endete das um 1958 eingeführte Gelöbnis (drei Jahre nach den ersten Jugendweihen) mit einem Sprechakt der Aufnahme „in die große Gemeinschaft des werktätigen Volkes“.9 Der Anfang lautete: „Liebe Junge Freunde! Seid ihr bereit, als junge Bürger unserer Deutschen Demokratischen Republik mit uns gemeinsam, getreu der Verfassung, für die große und edle Sache des Sozialismus zu arbeiten und zu kämpfen und das revolutionäre Erbe des Volkes in Ehren zu halten, so antwortet: Ja, das geloben wir!“10 Ähnlich ist das Pathos, offenbar dem jüdisch-christlichen Dekalog geschuldet, der in den 10 Geboten der Sozialistischen Moral anklingt. Als Ersatz-Dekalog übergab Staatssekretär Walter Ulbricht 1958 auf dem V. Parteitag der SED diese „Moralgesetze“ an sein Volk. Sie beginnen sämtlich mit „Du sollst“, wie hier etwa beim zweiten Gebot: „Du sollst Dein Vaterland lieben und stets bereit sein, Deine ganze Kraft und Fähigkeit für die Verteidigung der Arbeiterund-Bauern-Macht einzusetzen.“11 Andere Gebote sind nicht weniger ernsthaft. Die weitschweifige Aufzählung der Gebote gab mit der Zeit einer knapperen Formulierung nach, bis es 1976 hieß: „Das Parteimitglied ist verpflichtet, [...] die Normen der sozialistischen Moral und Ethik einzuhalten und die gesellschaftlichen Interessen über die persönlichen zu stellen.“12 Ebenfalls etwas weniger pathetisch ist das Versprechen, das sich bei der Jugendweihe durchsetzte. 9

Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.), DDR-Handbuch, Berlin (Ost) 1985, S. 693, zit. nach Jugendweihe. In: Hartmut Zimmermann (Hg.), Enzyklopädie der DDR. Personen, Institutionen und Strukturen in Politik, Wirtschaft, Justiz, Wissenschaft und Kultur, Berlin 2004, S. 3579–3584, hier 3582. 10 Ebd., S. 3581. Weiter geht es um die Bereitschaft, nach Kultur und Meisterschaft des Faches zu streben; den Weg zum persönlichen Glück über das Kollektiv zu gewinnen; die Freundschaft mit der UdSSR zu vertiefen und schließlich gegen imperialistische Angriffe zu verteidigen. 11 Moral, Sozialistische. In: Zimmermann (Hg.), Enzyklopädie der DDR, S. 4603 f. Diese Gebote wurden 1963 auf dem VI. Parteitag der SED in das Parteistatut aufgenommen und als Handlungsmuster für alle Parteimitglieder und andere Werktätigen verstanden. Auch die Jungpioniere hielten bekanntlich an ihren zehn Geboten fest, die zu einem Bekenntnis zur DDR und einer Freundschaft mit der UdSSR verpflichteten, sowie zu Fleiß, Disziplin, Ordnung, gegenseitiger Hilfe, Liebe zu den Eltern, und Beteiligung am Sport. Bei den „Thälmann-Pionieren“ (Vorstufe der Freien Demokratischen Jugend) gab es eine Parteinahme für den Sozialismus, ein Bekenntnis zum Hass „gegen die Kriegstreiber“. Man verpflichtete sich zur Arbeit für die Allgemeinheit, zum Schutz des Volkseigentums etc. Jungpioniere legten ein Versprechen ab, den Geboten gemäß zu handeln; vgl. Pionierorganisation Ernst Thälmann. In: DDR-Handbuch, S. 984–986, zit. nach Zimmermann (Hg.), Enzyklopädie der DDR, S. 4930 f. 12 Ebd., S. 4605.

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Dreißig Jahre nach Einführung des Gelöbnisses leistete ein Vierzehnjähriger 1989 im Dienst des „großen Kollektivs“ oder zum „Schutz des Sozialismus“ einen Eid. Es handelte sich nunmehr um die familiär geprägte Privatsphäre, in der sich eine postmoderne Toleranz, Völker-Solidarität und Engagement für die Umwelt eingebürgert hat: „In dieser feierlichen Stunde versprechen wir vor unseren Müttern und Vätern, ehrlich und aufrichtig zu leben und anderen Menschen mit Toleranz und Würde zu begegnen.“13 Wo einerseits auf sowohl privater als auch öffentlicher Ebene Übergangsrituale14 wie die Jugendweihe – inwiefern sie zu solchen zu zählen ist, kann hier nicht weiter erläutert werden – einmal im Leben begangen werden, finden andererseits die staatlichen Feiertage alljährlich statt. Bei beiden bestimmt die SED, was und wie gefeiert wird, obgleich dieser Prozess als unaufhaltsam betrachtet wird, zumal das Anachronistische – in Form von kirchlichen Lebensabschnitten und Feiertagen – vom „Kommenden“ außer Kraft gesetzt ist. Während in der DDR Karfreitag und Ostersonntag geschützt wurden, fielen Ostermontag, Himmelfahrt und Buß- und Bettag aus, obwohl an jenen Tagen unbezahlte Freizeit zum Besuch verschiedener Gottesdienste gewährt wurde. Der 1. Mai – Internationaler Kampf- und Feiertag der Werktätigen – sowie der 7. Oktober (Tag der Republik: Gründung der DDR 1949) wurden zum Staatsfeiertag erklärt.15 Leider war die Echtheit des Feier-Impulses nicht immer gewährleistet, besonders dann, wenn um des Schauspiels willen spontaner Jubel eingeübt werden musste. Aus dem von Gabriele Eckart aufgenommenen Protokoll geht z. B. der Frust eines FDJlers angesichts der Einübung von unspontanen Ausrufen wie „DDR!“ und „SED!“ oder sogar Beifall-Klatschen hervor: „Auch vor dem Festival in Berlin haben sie eingeübt, was sie zu sagen, zu singen, zu tanzen, wie sie sich anzuziehen hatten. Entweder kommt so was von den Menschen selber, 13 Feiertage. In: DDR-Handbuch, S. 379, zit. nach Zimmermann (Hg.), Enzyklopädie der DDR, S. 2224 f. Weiter heißt es: „Unsere Träume und Lebenswünsche können wir nur im Frieden erfüllen; wir werden ihn behüten und für eine blühende Erde eintreten. – Mit Wissen und guter Arbeit wollen wir unsere sozialistische Deutsche Demokratische Republik für alle Menschen lebenswert gestalten. – Aus der reichen Geschichte und Kultur unseres Volkes wollen wir lernen und seine humanistischen, antifaschistischen und fortschrittlichen Traditionen fortsetzen. – Wir halten unser Gewissen wach für Solidarität und menschliches Zusammenleben der Völker.“ Aus: Jugendweihe 6/89, zit. nach Jochen Chowanski/Rolf Dreier, Fragen zur Jugendweihe – ein fiktives Interview. In: Hartmut M. Griese (Hg.), Übergangsrituale im Jugendalter. Jugendweihe, Konfirmation, Firmung und Alternativen Positionen und Perspektiven am „runden Tisch“, Münster 2000, S. 154–162, hier 156. 14 Vgl. in dieser Hinsicht Ronald L. Grimes: „Rites of passage are ways of marking events with exclamation points, highlighting a moment of personal and social change as worthy of collective attention.“ (Ders., Deeply into the Bone: Reinventing Rites of Passage, Berkeley 2000, S. 133). 15 Erwähnenswert sind die ungefähr dreißig Gedenktage bzw. Festtage, die zumeist auf Wochenenden fielen. Zu den Gedenktagen, die der Gründung der SED am 21. April oder der Oktoberrevolution in Russland 1917 gedachten, kamen Festtage für Berufszweige wie z. B. der Tag des Werktätigen der Post, die auf verschiedene Wochentage fielen.

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oder gar nicht. Die Dummen dabei sind die Lehrlinge. Wenn man keinen findet, müssen die. Hauptsache, es schreit einer.“16 Diesen Druck der wenig überzeugten und überzeugenden Begeisterung prangert der Theologe Josef Pieper an. Ihm zufolge hat das Fest durchaus keinen selbstverständlichen Platz im Totalitarismus. Als sinnstiftende Unterbrechung des Arbeitsalltags eigne sich das Fest nicht, weil die Arbeit an sich schon Zweck, Sinn, und Befriedigung bieten solle. Feste feiern müsste demnach von bestimmten Zwecken losgelöst werden.17 Vielmehr bedeute der Feiertag ein Aufopfern der Produktivität, im Endeffekt also etwas höchst Unproduktives. Pieper stellt fest, dass beispielsweise der Tag der Arbeit seit der bolschewistischen Übernahme nicht mehr als Demonstration gegen die bestehende Ordnung zu verstehen sei, sondern von 1922 an zu einem Tag wurde, an dem die kommunistischen Länder in riesigen Festzügen ihre militärische Kraft zur Schau stellten.18 In diesem Sinn ähnle die verlogene Begeisterung den inszenierten Festen des Nationalsozialismus, z. B. der Verkündigung des Arbeitsdienstes am 1. Mai 1935. Solche Pseudoliturgie sieht Pieper dann auch in vielen „Festen der Vernunft“, die der Französischen Revolution folgten.19 Pieper vereinfacht freilich die Zusammenhänge, und seine Darstellung entbehrt nicht eines Gefühls der Sehnsucht nach einer arkadianischen Rückkehr zur mittelalterlichen Ur-Unschuld. Meines Erachtens rufen diese Ersatzriten, zumal sie in die Haut eines zuvor bereits anerkannten Rituals hineingeschlüpft sind, nicht nur dessen religiöse Assoziationen hervor, sondern stellen auch für die am Durchschnittsbürger unternommene Entmündigung eine Art Ersatz16 Gabriele Eckart, So sehe ick die Sache. Protokolle aus der DDR. Leben im Havelländischen Obstanbaugebiet, Köln 1984, S. 40. 17 Josef Pieper, Zustimmung zur Welt. Eine Theorie des Festes, München 1963, S. 15 f. „Dass es im totalitären Arbeitsstaat das Fest nicht geben kann, prinzipiell nicht, und dass er propagandistisch die Erhöhung der Produktionsziffern romantisiert, als sei die Arbeit selber das Fest – diese beiden Dinge gehören zusammen“ (ebd., S. 17). 18 Ebd., S. 116. 19 Die Französische Revolution liefert ein Beispiel für verschiedene vom Staat eingeführte Feste, die traditionelle Feiertage verdrängen und ersetzen sollten (ebd., S. 97). Am 10. November 1793 fand in der Kathedrale von Notre-Dame beispielsweise das Fest der Vernunft statt. Die zwanghafte Natur der Edikte tritt zutage: „Bereits mehrere Tage vor dem Fest kann der Bürger es in der Zeitung lesen, was man von ihm erwartet: ‚Beim Ertönen des Glockengeläuts werden sogleich alle Häuser verlassen, sie bleiben dem Schutz der Gesetze und der republikanischen Tugenden anvertraut; das Volk füllt die Straßen und öffentlichen Plätze, entflammt von Freude und Brüderlichkeit‘“ (S. 99). Pieper nennt das „die bombastisch instrumentierte Deklamation von Plattheiten, die leere Theatralik der Pseudoliturgie“ (S. 100). Ohne Zweifel teilt die Jugendweihe bestimmte Merkmale mit offiziellen Feiertagen, aber sie ist immerhin zu einem Ritual geworden, worin eben das Private der Feier dem öffentlichen Aspekt eine höhere Bedeutung abringen wollte. Die Gestaltung der Jugendweihe schreitet im Sozialismus von der pragmatisch-ideologischen Anti-Kirche-Feier (unter Führung des Zentralen Ausschusses zur Jugendweihe) zum privaten familiären Fest fort, dann nach der Wende vom überwundenen marxistischen Atheismus zum humanistischen, freidenkerischen Atheismus Kant’scher Färbung, also immer noch bewusst antikirchlich, wenn man jenseits der Form nach dem Inhalt fragt.

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befriedigung dar. Allmählich macht sich aber besonders im Zustand des „real existierenden Sozialismus“ ein Autoritätsverlust bemerkbar. Die verspürte Feierlichkeit der Gebote und Gelöbnisse auf öffentlicher Ebene lässt in dem Maße nach, wie deren gesellschaftliche Glaubwürdigkeit abklingt. Der Prozess beschleunigt sich im real existierenden Sozialismus der 80er Jahre, als der Blick für die „Wechselfälle des Lebens“ zunehmend auf die Aporien von Theorie und Praxis gelenkt wird: In jener Zeit also, in der Hans Magnus Enzensberger einem Essay 1982 den Titel gab Das höchste Stadium der Unterentwicklung. Eine Hypothese über den real existierenden Sozialismus.20 Unterentwickelt war ohne Zweifel die Tragkraft der Hoffnung aus sozialistischer Sicht: Ernst Bloch beispielsweise hatte die DDR 1961, zwei Jahre nach Erscheinen des dritten Bandes seines Prinzips Hoffnung, verlassen. Laut dem Literaturwissenschaftler Wolfgang Emmerich dokumentierte – um nur ein Beispiel im Sinne der religiösen Metaphorik anzuführen – die Parteiversammlung an der Jahreswende 1976/1977, die eine Resolution gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann verfasste, die „protestantische Standhaftigkeit gegenüber einer Parteileitung, die sie zur Rücknahme ihrer Unterschrift und zur Reue schlechthin zwingen wollte“.21 In der Tat glich der SED-Apparat einem kirchlichen Gericht: „Die Verkehrsformen des Strafens und Bestraftwerdens, von Reue und Buße gelten noch als normal“, wie Emmerich konstatiert.22 Aus alldem wird ersichtlich, dass es im privaten Bereich Verluste gab, die aus einer gewohnheitsmäßigen Unterwerfung im öffentlichen Leben resultierten. DDR-Bürger wurden feierlich und wortwörtlich aufgefordert, alle persönlichen Wünsche dem Wohl des Staates unterzuordnen. Wie dies im literarischen Bereich aussieht, wird im Folgenden anhand von Christoph Heins Erzählung Der fremde Freund erklärt. Dort wird besonders deutlich, wie sowohl sozialistischer Alltag als auch einmaliger Übergang als Prozess einer der liturgieentrückten Entmündigung zu verstehen sind. Welche sind die Aporien von gesellschaftsideologischer Theorie und lebensweltlicher Praxis, die Christoph Heins Erzählung bloß legt? Genauso wie Laura Salman in Morgners Roman erfährt Heins Hauptfigur Claudia die Sinnlosigkeit verschiedener Ereignisse in einem Staat, der trotz des Versprechens kaum in der Lage ist, sinnvolle Zusammenhänge zu konstruieren. Aber ungleich Laura erfährt Claudia das Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis besonders stark, weil sie versucht, die Widersprüche gerade anhand der Theorie zu überbrücken. Wie Dieter Hensing bemerkt hat, stellt Claudias Subjektivität eine Schreibweise dar, die vom DDR-Kritiker Kurt Batt deshalb verrissen wurde, weil sie das geistliche Debakel der Bourgeoisie nachgeahmt habe. Subjektives Erzählen war für die DDR ein Gräuel, weil es eine alternative Wahrheit innerhalb des größe20 Zit. nach Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Ausgabe, Berlin 2000, S. 242 f. 21 Ebd., S. 255. 22 Ebd., S. 256. Emmerich fügt hinzu: „Die ‚ernüchterten Aufrechten‘ wie Jurek Becker, Sarah Kirsch, Günter Kunert, Gerhard Wolf werden entweder ‚aus der Partei ausgeschlossen‘ oder aus deren Reihen gestrichen; Stephan Hermlin und Christa Wolf wird eine ‚strenge Rüge‘ erteilt, Volker Braun bekommt eine ‚einfache Rüge‘.“

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ren gesellschaftlichen Kontextes einführte, der ausschließlich den ideologisch tolerierten Sinn vermitteln sollte.23 Diese Subjektivität sollte jedoch nicht als Alternative hochgeschätzt werden, sondern als Claudias durchsichtiger Versuch, auf das Scheitern ihres Lebens mit dem Wortschatz eines gescheiterten Staates zu antworten. Claudia, Ärztin und mit 40 Jahren beflissen, sich in Drachenblut zu baden, um sich gegen alle „unerbittlichen Wechselfälle des Lebens“ zu panzern, nimmt nichtsdestoweniger (und zwar in erlebter Rede) die tiefgehende Vereinsamung und Verfremdung des allein stehenden Individuums im sozialistischen Alltag wahr. Wenn man die rituellen Momente des Lebens nach Arnold van Genneps Bezeichnung „rites de passage“, als Trennung, Übergang und Einverleibung auffasst, muss man Claudia als Extremfall der Trennung einstufen. Es ist nicht so, dass sie etwas verlässt, um zum Besseren fortzuschreiten, denn von Verbesserung kann nicht die Rede sein. Die Novelle beginnt mit der endgültigen Trennung von ihrem Liebhaber Henry. Anscheinend zufällig zum Friedhof gekommen, wird sie gezwungen, die schwer aufgebrachte Trauer mit Henrys Frau und Kindern zu teilen. Claudia versucht angstvoll, den Ritus zu entzaubern: „Atavistische Totenkulte. Ein uneingestandenes Spiel mit einer noch immer nicht aufgegebenen Ewigkeit.“24 In dieser Todesfeier, von Musikberieselung begleitet, hört sie eine überhebliche Elegie vom „ausgeliehenen“ Pfarrer vorgetragen.25 Schnell zur Entzauberung bereit, hat Claudia keinerlei Ritus, der ihr auch nur das geringste Gedenken an den Liebhaber ermöglichen kann.26 Welchen Platz nimmt die Trauer ohnehin in einer Gesellschaft ein, wo das Rad der Geschichte nicht verlangsamt werden darf? Trauer wird nicht thematisiert, zumal die einzig gültige Trennung die fortschreitende Entfernung vom „Klassenfeindlichen“ ist. Henrys Tod durch eine zufällige Schlägerei hat mit dem von Ernst Bloch vorgeschriebenen „Sterben im Sozialismus“ wenig gemein. Der „rote Held“ des Kommunismus stirbt nicht, so heißt es im Prinzip Hoffnung, mit einem Gebet auf den Lippen, sondern „opfert sich ohne Hoffnung auf Auferstehung“ und ohne „den Lohn, der ihm auf der Erde verweigert wird,“ auf. Ihm genügt ein durch keinen Ostersonntag gemilderter Karfreitag.27 Der Materialist stirbt, anders wie 23 Vgl. Dieter Hensing, Rezeption und Interpretation. Zu Christoph Heins Novelle Der fremde Freund/Drachenblut. In: Henk de Berg/Matthias Prangel (Hg.), Interpretation 2000: Positionen und Kontroversen. Festschrift zum 65. Geburtstag von Horst Steinmetz, Heidelberg 1999, S. 241–263, hier 246. 24 Christoph Hein, Der fremde Freund/Drachenblut, Frankfurt a. M. 2002, S. 17. 25 Vorgeschriebene Lieder und Gesten beim Begräbnis sind den meisten Trauergästen noch flüchtig bekannt: „Keine Sorgen mit dem Kostüm. Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir. Tod als Heimkehr. Ich wusste nicht, dass Henry gläubig war. Vermutlich wusste er’s auch nicht. Die Korrektur der Überlebenden“ (ebd. S. 21). 26 Laut Pieper gibt es aus gutem Grund eine Leerstelle zum Thema Tod. Wenn es nämlich keinen Trost gibt, dann ist es gleichsam widersprüchlich, ein Begräbnis feierlich zu begehen, denn: „Dann ist der Begriff ‚Trauerfeier‘ ein Widerspruch in sich selbst“ (ders., Zustimmung zur Welt, S. 49). 27 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Band 3, Frankfurt a. M. 1959, S. 1378 f.

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beim gelangweilten Henry, mit der Würde des Klassenbewusstseins, als einer, der die Wichtigkeit seines Ichs längst aufgegeben hat: „Und diese Gewissheit des Klassenbewusstseins, individuelle Fortdauer in sich aufhebend, ist in der Tat ein Novum gegen den Tod. [...] Der rot-atheistische Todesmut ist so in der Tat original, mit den romantischen Süchten des bürgerlichen Individualgefühls verglichen.“28 Den Tod gilt es überdies auf eigene Faust zu bewältigen, in der Hoffnung, dass sich das Böse letzten Endes von selbst ausmerzt und somit aufgehoben wird.29 Solch triumphierender Todesmut erscheint jedoch angesichts des lächerlich zufälligen Todes von Henry als ebenso unerreichbar und überholt wie das von Hein parodierte atavistische, bürgerliche Begräbnis. Und wenn bei Claudia in Bezug auf solche Trennungen nicht die geringste Spur von „romantischen Süchten“ übrig bleibt, macht dies gerade die Alternative zum real existierenden Sozialismus geltend. Dass Bloch es in der DDR nicht bis zum Mauerbau aushielt, lässt, so die Literaturwissenschaftlerin Magdalene Mueller, seine Gedanken als überholt erscheinen. Sie fragt nämlich, wo Blochs rote Helden noch zu finden seien, denn, dass der Bürger völlig vereinsamt und verlassen stirbt, stellt für Mueller eine Lücke dar, die weder die Kirche noch der rote Held ausfüllen kann.30 Wie Bloch wirft Mueller der Kirche ein falsches Bewusstsein vor. Ihre Diskussion von Uwe Saegers 1980 erschienenem Roman Nöhr dreht sich um den verlogenen Trost im Schoß der Mutter Kirche. Nöhrs Schwiegervater nämlich wendet sich nach jahrelangen ätzenden Bemerkungen über Kirchgänger kurz vor seinem Tod „vorsichtshalber“ der Kirche zu. Hier hofft er auf „die Vergebung der Schuld und den Schutz, der von der kirchlichen Tradition auszugehen scheint“.31 Er stirbt, kurz nachdem er die Absolution empfangen hat. Obwohl Nöhr die Flucht in die Kirche als Schrulle des Schwiegervaters wahrnimmt, bewertet Mueller sie als Beispiel einer hilfslosen Todesangst mit „mangelnder Eigenverantwortlichkeit“.32 Mit dieser Bezeichnung bleibt sie meines Erachtens ideologisch auf der Ebene, die Bloch besetzt hatte: Nur keine Schwäche einräumen, denn Flucht bedeutet zaghaftes Scheitern. Trost zu verlangen, Gemeinschaft und Verständnis zu suchen, ist Anzeichen eines falschen Bewusstseins, was wiederum das 28 Ebd., S. 1380. 29 Die Theologin Catherine Pickstock schreibt: „Hegelian or Marxist dialectical hope is a pseudo-theology, because it hopes that evil will be overcome, not from a transcendent source of good, but simply by the logical unfolding of evil itself. In the end, it pins its faith on logic, which is still the logic of liberal progress, and not on something different that would be the vision of the transcendent good.“ Vgl. dies., Liturgy and Modernity. In: Telos, 113 (Fall 1998), S. 19–40, hier 28 f. 30 Magdalene Mueller, Alltagserfahrung? Bemerkungen zur Darstellung des Todes in der neueren DDR-Literatur. In: Margy Gerber (Hg.), Studies in GDR Culture and Society 8, Lanham 1988, S. 127–140, hier 139. Trotzdem gibt Mueller Bloch insofern Recht, dass er der materialistischen Behandlung des Todes vorschrieb, die Angst davor in Neugier darüber aufzulösen, „was da denn nun ist“. 31 Ebd., S. 137. 32 Ebd.

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Gefühl von Schuld und Sünde heraufbeschwört. Muellers Interpretation von Heins Darstellung der Beerdigung von Henry überrascht daher wenig: Nicht dass gefeiert wird, sondern was gefeiert wird, sei das Grundproblem. Jegliche Ehrung des Toten sollte längst verschwunden sein, denn wichtiger sei es, einzusehen, wie sich die einst Lebenden für das zukünftige Wohl geopfert hätten. Über ihr falsches Bewusstsein, diese verachtende Bezeichnung jener nicht von sozialistischer Seite gegebenen „Tatsachen“, kommt Claudia nicht hinweg. Weil sie nur der offiziellen Stimme der Vernunft gehorcht und jenseits der offiziellen Grenze nicht mehr denken kann, sterben allerlei natürliche Einwände gegen die Widersprüche von Vernunft und Erfahrung in ihr ab. Hein schildert ihre Geschichte als eine Tod-im-Leben-Chronik, erfüllt von Selbst-Legitimierungen, Ausreden und fragwürdigen Auslegungen der eigenen Niederlagen. Es wäre daher zu fragen, wie die Beerdigung als Topos der „Verabschiedung“, um dem Ritenforscher Ronald Grimes zu folgen, durch die ganze Erzählung hindurch klingt und jegliche Feierlichkeit bei solchen „begrüßenden“ Ereignissen wie Eheschließung und Geburt von vornherein entweder vergiftet oder, umgekehrt, alle anderen „verabschiedenden“ Vorgänge wie Scheidung oder Abtreibung vorwegnimmt.33 Vorweggenommen sind die grotesken Aspekte der oben beschriebenen Todesfeier schon in der Eheschließung von Claudia und Hinner als „peinliche Farce“: „Eine unbekannte, schwitzende Frau im Kostüm, Ermahnungen, Verpflichtungen, Worte über das Wunder der Liebe wie Sätze aus Abpackfolien.“34 Warum sie am Hochzeitstag verlegen war, erkennt Claudia jetzt erst: Es wurde gehandelt, sie wurde zum Besitzobjekt. Die Feierlichkeiten der Hochzeit, die keine war, werden von der Erleichterung der Scheidung weitaus übertroffen. Jedoch ist weder der Anfang noch die Beendigung der Ehe mit einem sinnvollen Ritus verbunden. Auf die zynischen Rückblenden Claudias trifft – infolge eines sozialistischen Denkmusters, das in der Sache der Vermählung überfordert wird – zu, was Wolfgang Wülff, der Hauptcharakter in Erich Loests Roman Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene, über seine bevorstehende Scheidung behauptet: „Lieber Genosse Sekretär und lieber Zeitungsprofessor und all ihr anderen da oben, wenn man genug Wohnungen gebaut sind und die DDR auch von der letzten Koralleninsel diplomatisch anerkannt ist, wenn unsere Sportler sämtliche Goldmedaillen auf allen Olympiaden gewonnen haben und sogar Weltmeister im Fußball sind, wenn nur noch zwanzig Kinder in jeder Klasse sitzen und es genügend Zahnärzte gibt und so weiter, denkt ihr mal mit aller Kraft über die Ehe nach?“35

Eine derartige Ehrlichkeit und Fähigkeit, die Frage richtig zu stellen, besitzt Claudia nicht. Stattdessen zeigt Hein ihren unaufhörlichen Versuch, sich gegen Schmerzen abzuschirmen, aber ohne Hoffnung auf Fortschritt und ohne die Hilfe anderer. Ihre sexuelle Verwundung ist die einzig nie ausbleibende Litur33 Vgl. Grimes, Deeply into the Bone, bes. S. 89 f. 34 Hein, Der fremde Freund, S. 85. 35 Erich Loest, Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene, München 1980, S. 165.

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gie, denn Claudia ist noch fähig, an Schmerzen zu glauben. An sich zählt sie als Stärke, dass sie seit der Oberschule nur das rein Biologische gelten lässt: „Ich bin lediglich ungeeignet für jede Art von Mystik. Und jede Überlegung, die da mehr sagen will, als die Biologie es vermag, ist für mich mystisch.“36 Sie gerät wiederholt in die Falle solcher Behauptungen. Infolgedessen wird das rein Biologische im Sex meistens beim männlichen Partner als ein normverrückendes Verhalten betrachtet: „Männer bekämpfen es daher, bestrafen es: Um das Ritual ihres Glaubens, ihrer sexuellen Vorstellungen ungefährdet zu erhalten und als einzig gültig zu behaupten, verdammen sie das andere, das nicht Fügsame, das sich ihnen und ihren Phantasien nicht unterwirft, als frigid. Ein notwendiges Ritual.“37 Die Analogie zu einem Staat, der diejenigen bestraft, die sich dem parteipolitischen Ideal nicht fügen, ist nicht zu übersehen. Während die Beziehung zwischen Henry und Claudia zu nichts verpflichten oder verschulden soll, wird der Sex als befriedigender Vorgang des Austausches in Frage gestellt, wenn man Claudias Vergewaltigung durch Henry und sämtliche Misshandlungen von Frauen um sie herum berücksichtigt. Hier wird die These bis ins Abwegige geführt, dass man, wie Claudias Bekannter Fred sagt, wenn man endlich die Zwänge der Kultur losgeworden ist, sich als „unabweisbarer, übermächtiger Trieb“ behaupten könne.38 Wenn die Seele ein überlebter Begriff ist, bedeutet das nicht – scheint Hein sagen zu wollen –, dass Figuren wie Fred irgendjemandem bzw. irgendetwas außer sich die Treue schwören könnten: einem Staat bestimmt nicht. Fred genießt es nämlich, seine Frau Maria zu Grunde zu richten und sie dann als Krankheitsfall zu beobachten. Weil aber Claudia und Henry einander nichts außer emotioneller Immunität versprochen haben, erscheint ihr Auseinandergehen fast eine Laune zu sein. Es ist klar, dass sich Claudia einem Mann hingegeben hat, der gleichermaßen an der Angst vor Verantwortung, Verlässlichkeit und anderen bourgeoisen Tugenden leidet.39 Dem intimen Bereich werden kontinuierlich wahrgenommene Bedrohungen des gegenseitigen Vertrauens im Bekannten- und im Familienkreis gegenübergestellt. Die Wiederholbarkeit ödet Claudia an. Als Karla, die Krankenschwester im Büro, ihr eines Tages aus Dankbarkeit beinahe die Hand gibt, denkt sich Claudia, dass diese Geste unaufhaltsam zur Gewohnheit werden müsste: „So sinnlos wie bedauerlich, ein sich verselbständigender Ritus. Und wir wären unfähig, die eingegangene Vertraulichkeit zu durchbrechen, zu beenden.“40 Im 36 37 38 39

Hein, Der fremde Freund, S. 88. Ebd., S. 90. Ebd., S. 70. Auf die Verflochtenheit der öffentlichen und privaten Sphären bei Claudia hat die Literaturwissenschaftlerin Julia Hell hingewiesen. Nicht nur die Ehe sei laufendes Protokoll „verblichener“ oder „unsinniger“ Hoffnungen. Private Hoffnung also, die sie einmal hegte, bietet die DDR auch öffentlich nicht mehr. Die dem Staat unterworfenen Hoffnungen rächen sich; vgl. Julia Hell, Christoph Hein’s „Der fremde Freund/Drachenblut“ and the Antinomies of Writing under „Real Existing Socialism“, Colloquia Germanica, 25 (1992), Heft 3–4, S. 307–337, bes. 323. 40 Hein, Der fremde Freund, S. 45.

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familiären Bereich des Schenkens und Beschenktwerdens tritt die emotionelle Unbeholfenheit klar zutage. Wenn sich Claudia im Familienkreis über Weihnachtstraditionen auslässt, wird durchaus klar, dass es sich um mehr handelt als nur um die Verachtung eines bürgerlichen Reliktes, einer kindlichen Sentimentalität. Ihre Verachtung trifft den Kern des Prinzips Feiern schlechthin. Das Schenken und Beschenktwerden als harmloser Austausch bleibt ihr völlig fremd: „Ich weiß außerdem nicht, was ein persönliches Geschenk ist. Ich glaube, wenn ich wirklich jemandem ein persönliches Geschenk geben würde, er müsste erschrecken.“41 Unfähig, die Gabe zu empfangen, vermag sie sie nur wie zufällig weiterzugeben: In dieser Hinsicht denkt man an die Medikamentenproben, die Claudia über die Mutter an die Pensionierten im Dorf verteilt. Dass Claudia sich um sie seelisch kümmern sollte, „ist nicht Sache der Medizin“, denn über die eigenen Patienten sagt sie ja: „Ich bin kein Beichtpriester, ich verabreiche nicht Trost.“42 Die Kontrolle, die sie im menschlichen Verkehr nur mühsam aufrechterhält, verstärkt sie durch ihr Hobby, die Fotografie. Wie den ritualhaft ablaufenden Sex, hält sie auch das Entwickeln von Landschaftsfotos für ein Ritual, da sie aus ihrer Sicht die Kontrolle über das Ergebnis hat: „Das ist für mich ein Moment von Schöpfung, von Erzeugung.“43 Kurz darauf kommt es in der Assoziationskette zu einer aufschlussreichen Bemerkung, als sie sich an ihre zwei Abtreibungen erinnert; für sie hätten die Geburten eine „Unterbrechung“ bedeutet. Gerade eine solche Unterbrechung braucht aber ihr Alltag und fehlt ihm längst. Dabei fällt auf, dass, wie Claudia klinisch feststellt, die Verzweiflung höchstwahrscheinlich der „körperlichen Schwäche“ entstammt.44 Man könnte mehr Beispiele bringen, die Claudias Abneigung gegen jedes Ritual zeigen. Jedoch dienen alle Beispiele einer zunehmenden Resignation nur dazu, auf einen unterschwelligen, viel gründlicheren Verlust in ihrem Leben hinzuweisen; einen Verlust der viel größer ist als der von Henry: den Verlust der Klassenkameradin Katharina. Auf diese Zeit lässt sich zudem das Lernen des Schweigens zurückführen: Claudia kommen zur gleichen Zeit die Beziehungen zu Menschen und zur Sprache abhanden. Die gläubige Freundin ist gefährlich und wird von Claudias Eltern ungern gesehen. Als die zwei um die wenigen Plätze in der Oberschule wetteifern, erhält Claudia den Platz und Katharina wird aus der Schule verabschiedet; ihr Glaube haftet nämlich nicht dafür, hieß es damals, „dass sie das Erziehungsziel einer Oberschule unserer Republik erreichen könne“.45 An dieser Stelle lässt sich ein Bogen vom privaten zurück zum öffentlichen Bereich schlagen. Als einzige Schülerin in der achten Klasse lehnt Katharina die Anmeldung zur Aufnahme in die Freie Deutsche Jugend (FDJ) ab. Weil es sich 41 42 43 44 45

Ebd., S. 148. Ebd., S. 97 f. Ebd., S. 88. Ebd., S. 89. Ebd., S. 125.

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um den Weltfrieden handelt, heißt Verweigerung zwangsläufig so viel wie Herbeiführung eines Krieges. Claudia macht sich eines Tages in der Klasse über die lächerlichen christlichen Ansichten ihrer Freundin lustig. Bald nach einem Zusammenstoß landet Katherina mit ihrer Mutter in Niedersachsen bei den Brüdern. „Landesverrat“, stellt Claudia stolz fest.46 Claudias Geschichte ist die Geschichte einer Frau, die mit 14 Jahren – das Alter der Jugendweihe, obwohl 1953 noch nicht offiziell eingeführt – nicht in die Welt der Erwachsenen oder in ein sinnvolles Kollektiv eintritt wie es der Übergangsritus bezweckt, sondern in eine Welt des steten Todes im Leben, des Zynismus und der uneingestandenen Erkenntnisse, der Öde des sozialistischen Alltags, ja, der tödlichen Langeweile (im Liebhaber Henry am besten verkörpert). Claudia hat jedoch kein Gelöbnis, sondern eine Denunziation geleistet. Und diese verspätete Einsicht einer enttäuschten Jugend, an deren Ende nur Reue steht, wird auch nicht dadurch aufgeheitert, dass Claudia die Reise zum Dorf ihrer Jugend unternimmt. Sie erlebt das Vergangene wieder, ohne sich Klarheit zu verschaffen. Der Verlust einer Wahl – der Verlust irgendeiner alternativen Gemeinschaft – wird ausschlaggebend in Claudias Fall. Diese Ärztin mit ihrer verdüsterten Alltagsroutine verkörpert viele der Enttäuschungen des real existierenden Sozialismus. Noch gründlicher arbeitet, wie aufgezeigt wurde, im Totalitarismus ein ausgesprochen anti-liturgisches Moment, das durch staatliche Banalitäten die vom Mittelalter her bekannten natürlichen Zyklen von Feiern, Arbeit und Caritas ersetzen will. Der Sinnverlust in der Öffentlichkeit lässt die privaten Feiern nicht unberührt. Will die Gemeinschaft diesem von selbst begegnen, ist Freiheit unerlässlich; im Umkehrschluss entstehen Argwohn, Misstrauen und Einsamkeit, sobald Gemeinschaft als engmaschige politische Struktur aufgezwungen wird. „To be non-liturgical“, behauptet Pickstock, „means to have discarded the differentiations of time and space, and to live in a perpetual virtual space of identical repetition.“47 Wiederholungszwang ist der Eindruck von Claudias Lebenswelt: eine geschlossene Chronik ohne die Hoffnung, dem Teufelskreis entkommen zu können. So genannte spontane Taten oder Äußerungen sind im Endeffekt impressionistische Leerstellen, die die Aussicht auf Gewalt und Überraschung um der Überraschung willen enthalten. Das Ich behauptet sich erfolglos gegen das „Soll“ der Propaganda – oder hat sich dieser Entmündigung schon angepasst. Hier lässt sich Claudias Resignation im Alltag mit den Folgen eines anfangs aktiven Widerstandes vergleichen. Ehrhart Neubert geht davon aus, dass die Jugendweihe in der DDR als auferlegte Infantilisierung eine geistige und politische Entmündigung bedeutete. Wenn das Bedenken vom Ritual ausgeklammert 46 Hein, Sohn eines Pfarrers, wurde ebenfalls der Besuch einer Dresdner Oberschule verweigert. Er hatte sich jedoch schon vor dem Übergangsalter von vierzehn Jahren mit der Antipathie abgefunden. Ihm bedeutete dies weniger eine philosophische Auseinandersetzung als eine Realität, die man in Kauf nehmen musste; vgl. Bill Niven/David Clarke, „Ich arbeite nicht in der Abteilung Prophet“: Gespräch mit Christoph Hein vom 4. 3.1998. In: dies. (Hg.), Christoph Hein, Cardiff 2000, S. 14–24, hier 14. 47 Pickstock, Liturgy and Modernity, S. 27.

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wird, gibt man zwangsläufig allmählich nach. Anfänglicher Widerstand besonders von Familien, die nicht an der Jugendweihe teilnehmen wollten, mündete in Resignation: „Die Zwangserfahrungen wurden verdrängt“ und eine „Fremdbestimmtheit“ des Glaubens machte sich geltend.48 Die Gesten, mit denen Claudia ihre Lebenswelt abgrenzt und abschirmt, scheinen Folge dieser Entmündigung zu sein. Hein selbst war überrascht, wie nach der Wende ostdeutsche Jugendliche im gleichen Alter wie Jugendweihlinge auf die Figur von Claudia reagierten, ungefähr: „‚Die Frau macht es richtig, genau so muss man es machen‘ – sie nahmen das geradezu als Anleitung zum Handeln. So muss man sein, also kühl, kalt, Ellbogen ausfahren, Fäuste hoch, keinen ranlassen.“49 Hatte Hein allerlei Illusionen mit vierzehn, lehnten diese Teenager den Trost ab – im vollen Bewusstsein, dass sie es beruflich, trotz Ausbildung, nicht weiter als zum Taxifahrer brächten. „Dann wird diese dicke Haut auf einmal, anders als für mich, eher ein Ideal als ein Schrecken. Wenn ich nicht so bin, habe ich gar keine Chancen. Das ist neu; das habe ich, als ich es geschrieben habe, so nicht gesehen.“50 Sind Claudias Symptome der Entfremdung falsch aufgefasst worden als Antidota gegen Verfremdung? Die Desillusionierung, die Hein in Bezug auf Nach-Wende Jugendliche beschreibt, wird wohl in Ute Mohrmanns Untersuchungen zur Jugendweihe widergespiegelt, in denen die Weihlinge bestimmte Apathien, Zweifel und Wünsche zum Wandel registrieren; schon deswegen, weil „sich nach der Jugendweihe nichts Entscheidendes im Lebensbereich der Jugendweihlinge, in ihrer sozialen Situation, verändert“.51 Die verzaubernde Wirkung bleibt aus. Zusammenfassend lassen sich folgende Thesen aufstellen: Die DDR betrachtete die Religion als eine gesellschaftliche Kindheitsphase, die mit dem Heranwachsen zugunsten der Vernunft der kommenden Herrschaft der Arbeiterklasse abgelegt wurde. Als Gesellschaft war die DDR, einem Individuum ähnlich, jedoch „ritenbedürftig“. Ein Ritus sollte dieses Individuum von einer Phase in die andere, von der alten in die neue Ordnung begleiten. Nur: Weil die DDR ihre Feste und Feiertage entweder entlehnte, ersetzte, abwandelte oder aus dem Nichts schöpfte, war das Gemachte, das Artifizielle, an ihnen allzu offensichtlich. Die Leere, die literarische Figuren im Zusammenhang mit den kollektiven Riten erleben, bleibt gleich, ob in der Kirche oder in einem vom Staat organisierten Festzug. Der Sozialismus, der die Konkurrenz – in der Form der Treue der Bevölkerung zu kirchlichen Gebräuchen – abzuschaffen versuchte, muss notgedrungen in deren Sprechakte und Feierlichkeiten kriechen, um sich beim 48 Ehrhart Neubert, Postkommunistische Jugendweihe und postkommunistische Religion. In: Griese (Hg.), Übergangsrituale, S. 165–177, hier 167. 49 Niven/Clarke, Christoph Hein, S. 16. 50 Ebd., S. 16 f. 51 Ute Mohrmann, Jugendforschung in der DDR – unter besonderer Berücksichtigung volkskundlicher Untersuchungen zur Jugendweihe. In: Klaus Beitl/Eva Kausel (Hg.), Gegenwartsvolkskunde und Jugendkultur, Wien 1987, S. 307–320, hier 318.

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Publikum Gehör zu verschaffen. Diese zweite Meta-Erzählung, die die Hülle der ersten (christlichen) Meta-Erzählung trägt, wirkt in ihrer Verkleidung umso weniger vertrauenserweckend, weil es sich bei ihr offensichtlich um ein künstliches Gebilde handelt. Bei sozialistischen Feiern (das Individuum betreffend) und Feiertagen (das Volk betreffend) lässt sich feststellen, dass der Sozialismus keine eigene Festsprache besaß. Wenn für Feierlichkeiten kein Platz ist – es sei denn, dass sie ideologisch Farbe bekennen – dann herrscht, wie wir bei Hein gesehen haben, eine nicht mehr abzubauende Melancholie vor, die sich oft als kaum verhüllter Zynismus im Privaten ablagert. Trotz des Vertrauens in das Wissenschaftliche gab es einen spürbaren, unerklärlichen Rest Sehnsucht. Zwischen den Trümmern der einen Teleologie und der Enttäuschung der anderen bleibt einer Figur wie Claudia nur ein unglückliches Hantieren um die Gegebenheiten von Schicksal und Zufall herum.

Utopie im Werk von Christa Wolf: Ein erweiterter Dialog zwischen Leser und Schriftsteller über die Mehrschichtigkeit von Realität und Sprache in Störfall. Nachrichten eines Tages Jennifer L. Good Der Dialog zwischen Christa Wolf und ihren Lesern und Leserinnen begann mit dem Schreiben ihres ersten Buches und lebt auch heute noch in den Diskussionen um die neusten Geschehnisse in Europa fort.1 Man fühlt sich stark von ihren Texten angesprochen, weswegen Wolfs Dialoge eine weit verbreitete Wirkung haben. Von Wolfs Anfangsversuch, ihren Weg im sozialistischen Realismus zu finden, über ihre Selbstverwirklichung und Selbstreflexion, bis hin zu ihren Bemerkungen über die Mächtekonstellation von 1989/90 und die daraus folgende scharfe Kritik an ihr, erwecken Christa Wolfs Texte den Eindruck, als wäre sie Seherin und Blinde zugleich.

1.

Literarische Utopien

1.1

Die Funktion einer Utopie

In der Diskussion über das Thema literarische Utopien in Christa Wolfs Texten2 muss auf die Wortbedeutung „Ortlosigkeit“ oder „Ort des Nirgends“ im Sinne 1

2

Vgl. Christa Wolf, Der geteilte Himmel. Erzählung, Halle 1963; dies., Nachdenken über Christa T., Halle 1968; dies., Kindheitsmuster, Berlin (Ost) 1976; dies., Kein Ort. Nirgends, Berlin (Ost) 1979; dies., Kassandra. Vier Vorlesungen und eine Erzählung, Berlin (Ost) 1983; dies., Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959–1985, Darmstadt 1987; dies., Störfall. Nachrichten eines Tages, Berlin (Ost) 1987; dies., Auf dem Weg nach Tabou, Köln 1994; dies., Medea. Stimmen, München 1996; dies., Erzählungen 1960–1980, München 1999; dies., Hierzulande Andernorts, München 1999; dies., Leibhaftig, München 2002; dies., Das dicht besetzte Leben. Briefe, Gespräche und Essays, Berlin 2003; dies., Ein Tag im Jahr 1960–2000, München 2003; dies., Ja, unsere Kreise berühren sich, München 2004. Vgl. fernerhin zur Utopie im Werk von Christa Wolf: Ute Brandes, Probing the Blind Spot. Utopia and Dystopia in Christa Wolf’s Störfall. In: Selected Papers from the Fourteenth New Hampshire Symposium on the German Democratic Republic, Lanham 1989, S. 101–114; Marily Sibley Fries, „The old utopias are dead“. Commentary on

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der griechischen Neuprägung zurückgegriffen werden.3 Dieses „Nirgendwo“, das benötigt wird, um der Literatur eine utopische Funktion zu verleihen, ist ebenfalls daraus zu lesen. Gibt es eine Möglichkeit, das Unmögliche zu beschreiben? Die Arbeit Wolfs zeigt, wie man gegenüber der „nie machbaren“ und der doch „prinzipiell möglichen“ Aufgabe des Schriftstellers (und seines Lesers), eine Utopie zu schaffen, Stellung nehmen kann.4 Christa Wolfs Störfall stellt am Übergang zwischen der reflektierenden Einführung des Lesers in die Erzählung und ihrem eigentlichen Beginn die Frage: „Mit wem spreche ich?“ Der Kommunikationsgebrauch der Erzählerin ist sofort zu erkennen; erst später stellt sich heraus, dass sie eine Utopie in der Kommunikation selbst sucht. Es gehört dazu, dass Wolf mit dieser Utopie der Kommunikation ihre Suche nach zwei anderen unauffindbaren Utopien erweitert, die sie schon in früheren Werken bearbeitete:5 die „Frauenproblematik“, verwandt mit der Frage, wie eine Frau zum Sprechen kommen kann, und eine gesellschaftliche Utopie, die die politischen Grenzen überschreitet und die Selbstverwirklichung innerhalb der Gesellschaft ermöglicht. Was vom Dichter, dem Literaturproduzenten, gesagt wird, gilt auch für den Leser, denn Wolf schreibt nicht nur, um eine Botschaft zu vermitteln, sondern um eine didaktische Rolle zu erfüllen. Die Grundaussage in Störfall hinterlässt einen ähnlichen Eindruck. Wolf sucht ihre utopischen Bilder/Geschichten so zu bauen, dass sie einen Selbstfindungsprozess initiieren. Die Unmöglichkeit der Begegnung mit dem Text wird literarisch realisiert und darf als Denkansatz in Erwägung gezogen werden. Die Erzählerin beginnt zwar das Gespräch, indem

3 4 5

Christa Wolf’s Conversation with Therese Hoernigk. In: Michigan Germanic Studies 21 (1995), S. 93–102; dies. (Hg.), Responses to Christa Wolf. Critical Essays, Detroit 1989; Karen Jankowsky, Difficult Hoping: Tenuous Utopian Consciousness in Christa Wolf’s Kein Ort Nirgends. In: Neue Germanistik, 2 (1981/1982), S. 31–38; Eva Kaufmann, „Unerschrocken ins Herz der Finsternis“. Zu Christa Wolfs Störfall. In: Angela Drescher (Hg.), Christa Wolf. Ein Arbeitsbuch. Studien, Dokumente, Bibliographie, Berlin (Ost) 1989, S. 252–269; James Knowlton, How Have We Become What We Are Today? History and Utopia in the Novels of Christa Wolf. In: Theo D’Haen/Hans Bertens (Hg.), History and Post-War Writing, Amsterdam 1990, S. 61–88; Peter Peters, Schwierigkeiten mit der Utopie. Aporien des Erzählens bei Christa Wolf. In: Literatur für Leser, 1 (1993), S. 19–31; Katrin Ruppenthal, Zwischen Trauerarbeit und Utopie. Die Auseinandersetzung mit der Deutschen Geschichte in der Literatur der DDR, Ann Arbor 1999; Ursula Ziller, Christa Wolf: Störfall. Nachrichten eines Tages. In: Herbert Kaiser /Gerhard Köpf (Hg.), Erzählen – Erinnern. Deutsche Prosa der Gegenwart. Interpretationen, Frankfurt a. M. 1992, S. 354–371. Vgl. Heinz Lippuner/Heinrich Mettler, Literatur als Ort des Nirgendwo. In: Rolf Jucker (Hg.), Zeitgenössische Utopieentwürfe in Literatur und Gesellschaft: Zur Kontroverse seit den achtziger Jahren, Amsterdam 1997, S. 139–158, hier 140. Vgl. Georg Kohler, Vernunftprinzip und Kontingenz. Zur Interpretation von Thomas Morus’ „Utopia“. In: Zeitschrift für Philosophische Forschung, 35 (1981) Heft 2, S. 197–221, hier 217. Die Frage „Wer spricht?“ wird von Heinz Lippuner und Heinrich Mettler mit Kein Ort Nirgends verbunden. Diese Frage wandelt sich deutlich in Störfall; vgl. dies., Literatur als Ort des Nirgendwo, S. 141.

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sie beispielsweise ihren Bruder anredet, aber wenn dessen Stimme fehlt, überlässt sie es dem Leser, mit ihr zu kommunizieren. Ist Störfall ein Bericht über die unvermeidlichen furchtbaren Folgen der Forschung, oder ist das Ende noch nicht entschieden? Christa Wolf stellt diese Frage und konfrontiert den Leser damit. Der Text wünscht sich vielmehr eine erweiterte Diskussion und einen daraus entstehenden Dialog, als dass der Leser durch ihn „nur“ die Wahrheit erkennen sollte.

1.2

Die Mehrschichtigkeit in Störfall

Dieser Dialog, so Christa Wolf, sollte mehrschichtig sein. In ihm wird der Leser dazu aufgefordert, sich zum Anfang und zum möglichen Ende einer Technokratie zu äußern.6 Die Diskussion über Männer und Frauen muss erweitert werden, um den Frauen eine Stimme zu geben. Gleichzeitig ist nach den Gründen und Ursprüngen des frauenfeindlichen Diskurses zu fragen, um diesen entgegen zu wirken. Die so genannte Vernunft, mit der man es so weit gebracht hat, muss jetzt in Frage gestellt werden. Alle diese Themen werden von Wolf in Störfall angesprochen. Dem Leser kommt die Aufgabe zu, den Dialog zu erweitern. Das Hauptereignis in Störfall stellt die Explosion des Atom-Reaktors in Tschernobyl dar. Mitte der 80er Jahre war der Kalte Krieg in den Gedanken der Politiker noch fest verankert. Als die Atomstrahlen in den westeuropäischen Raum gelangten und man sie zu messen begann, wurde diese Katastrophe zum Politikum. Die Katastrophe traf jeden auf unterschiedliche Weise. Ganz im Gegenteil zu Kassandra (1983) nimmt Christa Wolf keinen Abstand von den tief greifenden Ereignissen, obwohl sie in Störfall nie explizit von Tschernobyl spricht. Dies bedeutet nur, dass sie es für selbstverständlich hält; jeder müsste davon wissen, jeden würde das treffen, insofern bedarf es keiner weiteren Erklärung. Die Geschichte in Störfall ist keine Fiktion, da dort keine weit reichenden Allegorien wie in Kassandra vorkommen. Um sich wieder ausdrücken zu können, ändert Wolf ihre Erzählmethode nach Kassandra, da ihre alte Sprache/ Stimme mit Kassandras Tod verstummt ist. Die Reportage von Anfang Mai 1986 macht einen ganz anderen Eindruck als die altertümliche, mystische Geschichte in Kassandra. Störfall ist ein Buch über einen einzelnen Tag. Das Datum ist unbestimmt, wie die Katastrophe selbst. Christa Wolf lässt ihren Gefühlen und Gedanken freien Lauf, und der Leser findet den Text eindringlich und entsetzlich. Die Angstgefühle und die Beschreibungen von den vielen schwierigen Umständen, die Tschernobyl bereitet, schweben in jedem Absatz mit. Diese Unterschwelligkeit ruft beim Leser eine enorme Betroffenheit hervor. Gerade durch das Verschweigen von Ort und Datum verdeutlicht Wolf, dass die alleini6

In Christa T., Kein Ort. Nirgends und Kassandra setzt sich Wolf bereits mit der Technologieproblematik auseinander. Die Technologie, die in Der geteilte Himmel zu einer Lösung führen soll, wird in Störfall äußerst skeptisch betrachtet.

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ge Schuld an Tschernobyl nicht nur bei der UdSSR liegt, dass Tschernobyl also nicht nur ein Ostproblem, sondern vielmehr ein globales Problem ist. Natürlich kennen die Strahlen keine Grenzen oder künstlichen politischen Teilungen. Da die Worte des Schriftstellers ebenso grenzenlos in der Luft schweben können, erlangt das Sprechen über das Ereignis besondere Bedeutung. Es darf nicht nur „Nachricht“ bleiben, denn allein dadurch wird keine Änderung oder Verbesserung ermöglicht oder zumindest vorgestellt. Die Erzählerin in Störfall redet von der „Nachricht“, sie sucht jedoch einen Gesprächspartner für ihre Auseinandersetzung. Damit spiegelt Wolf beide Seiten des Ost-West Konflikts wider. In Der geteilte Himmel (1963) spricht sie auch von einer „Nachricht“, die positiv ist, nämlich die Raumfahrt Juri Gagarins. Wolf sah die Erweiterung der Technologie in diesem Fall als ausgezeichnet und sehr wünschenswert an. Dass diese positiven Gefühle der Technologie gegenüber sich bis Störfall ändern sollten, ist schon in Christa T. vorauszusehen. Die Technokratie wird negativ dargestellt, und Wolf fragt ständig, warum es so weit gekommen ist, denn solche eingreifenden Änderungen bedrohen die grundlegende Aufgabe einer Autorin.

2.

Auffassung des Textes

2.1

Perspektive

Im Endeffekt ist Störfall aber nicht nur ein Protest gegen Atomwaffen und Kernkraftenergie, sondern gegen die Umstände, die die Katastrophe verursachten. Fragen zur Moral und Verantwortung müssen beachtet werden, wenn es um so viel Energie (gelesen: Macht) geht. In Wolfs Frühwerk bemerkt der Leser, dass die Erzählerin oft eine ostdeutsche Perspektive hat. In Kassandra und auch in Störfall erkennt man sofort, dass Wolf über die „Frauenperspektive“ in der Welt spricht. Der Sinn eines solchen Perspektivenwechsels ist sicherlich vielfach. Hier bedeutet er für Wolf eine Möglichkeit, den Dialog auszuweiten; hier wird nicht nur Ostdeutschland geschildert, sondern die ganze Welt und das weibliche Geschlecht, in dem Christa Wolf eine Utopie sucht. Die Perspektive in Störfall spricht ihre früheren Werke an und erweitert sie. Die Subjektivität ihrer Geschichten, besonders in Kindheitsmuster (1977), kehrt in Störfall wieder. Der Stil ist hier weniger rigoros als in Kassandra, aber die Erinnerungen und das persönliche Dasein sind auch in Störfall wichtig. Dies lässt den Text authentisch und dem Leser vertraut erscheinen. Wolf benutzt eine personale Perspektive, eine Ich-Erzählerin und das Perfekt, um die Geschichte zu erzählen. Die Erzählerin schreibt bereits ein paar Monate nach Tschernobyl: „Eines Tages, über den ich in der Gegenwartsform nicht schreiben kann“.7 Indem sie zwischen Gegenwarts-, Vergangenheits- und Zukunftsformen wechselt, lässt Wolf zu, dass die Erzählerin trotzdem eine Stimme entwickeln kann: 7

Wolf, Störfall, S. 11.

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„In Störfall, she [Wolf] uses the nonliterary, that is, conversational, present perfect tense to describe past events. Her renunciation of the epic preterite in Störfall is the grammatical manifestation of her process-oriented, antiauthoritarian narrative stance. As the linguist Harald Weinrich has shown, German speakers use the present perfect tense when discussing past events that have relevance for them in the present and when they seek to impart the emotional residue of these events. In other words, it is the tense used when a person is still working through past events. It is therefore singularly appropriate to Wolf’s current undertaking [Störfall].“8

Gleichzeitig aber stößt die Erzählerin an „Grenzen des Sagbaren“ und drückt auch Bedenken aus: „Vor welchem Grad der Zerstörung ich zurückschrecken würde? Nicht mehr sagen, was ich sagen könnte? Lieber in Schweigen verfallen? [...] An Spaltungssymptomen hätte unsereins wohl auch das Seine vorzuweisen [...] In welcher Klemme, lieber Bruder, sitzen wir da eigentlich alle miteinander?“9 Wenn es um Kommunikation geht, entwickelt Wolf eine Kommunikationsutopie, denn sie glaubt, dass die Sprache einen Ausweg bieten kann: „Nicht zuviel – zuwenig haben wir gesagt und das Wenige zu zaghaft und zu spät.“10 Die Erlebnisse und Ergänzungen dazu werden öfter in Vergangenheitsform angegeben, während sie ihre Reaktionen und Gefühle im Präsens beschreibt. Sicherlich findet die Erzählerin auch für sich eine Zukunft, aber sie enthält sehr schwierige Fragen. Außerdem ist da die Angst vor der Zeit. Man braucht nur die Halbwertszeit von Plutonium im Vergleich zum Menschenleben zu bedenken, um die Gefahr genau zu erkennen. Die altertümliche Sprache und die neuere Psychologie werden zusammengesetzt, um die Spaltung der Menschheit zu vergegenwärtigen: „Wie merkwürdig, dass A-tom auf Griechisch das gleiche heißt wie In-dividuum auf lateinisch; unspaltbar. Die diese Wörter erfanden, haben weder die Kernspaltung noch die Schizophrenie gekannt. Woher nun der moderne Zwang zu Spaltungen in immer kleinere Teile, zu Abspaltungen ganzer Persönlichkeitsteile von jener altertümlichen, als unteilbar gedachten Person.“11 Das war natürlich auch in Kassandra ein Thema. Alle ihre Werke sind „Erfahrungsmuster“, wie sie in Fortgesetzte Versuche erklärt. Ihre Literatur ist Realität transformiert durch Erfahrung und Engagement. Tschernobyl ist kein alltägliches Ereignis. Christa Wolf betrachtet dieses Ereignis sowohl aus historischer als auch aus persönlicher Perspektive: „Wieder einmal, so ist es mir vorgekommen, hatte das Zeitalter sich ein Vorher und Nachher geschaffen. Ich könnte mein Leben beschreiben, ist mir eingefallen, als eine Folge solcher Einschnitte, als eine Folge von Eintrübungen durch immer dichte-

8

Anna Katharina Kuhn, Christa Wolf’s Utopian Vision: From Marxism to Feminism, New York 1988, S. 218. 9 Wolf, Störfall, S. 55 f. 10 Ebd., S. 68. 11 Ebd., S. 35 f.

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re Schatten. Oder, im Gegenteil, als fortlaufende Gewöhnung an härtere Beleuchtungen, schärfere Einsichten, größere Nüchternheit.“12 Wie in Kassandra ist die Erinnerung an das Vorher eine kritische Übung. Kassandra sieht die Tatsachen, die zum Krieg geführt haben, erst nach Kriegsausbruch. Die Erzählerin in Störfall erkennt im Nachhinein die Probleme, die „Kernkraft“ und „Macht“ hervorrufen können: „Das ist einer der Tage gewesen, an dem mir alle Zeichen eingefallen sind, die wir schon zu sehen gekriegt haben, ohne sie zu verstehen.“13 Und was nutzt ihr dieses Wissen im Nachhinein? Sie muss eine alternative Hoffnung finden, da der Fehler schon begangen ist.

2.2

Sprache

In Störfall spielen das „Vorher“ und das „Nachher“ eine sehr große Rolle.14 Diese beiden Faktoren stellen für Christa Wolf nicht nur die historische Wahrheit, sondern auch die linguistische Wahrheit oder Sprache dar. Sie versucht in der „Nachricht“ zu bekennen, was und wo sich für sie etwas veränderte. Die Veränderlichkeit von Sprache vor und nach Katastrophen wird in Störfall verdeutlicht. Wenn sie von Begriffen wie „Wolke“, „strahlendem Himmel“, und „Explosion“ im Zusammenhang mit Tschernobyl spricht, stellen diese Schlüsselbegriffe eine Bedrohung der Sprache und besonders der Poesie dar. Für die Autorin bedeutet das eine bewusstere Verwendung der Sprache, fast eine Selbstzensur: „Nun aber, habe ich gedacht, [...] durfte man gespannt sein, welcher Dichter es als erster wieder wagen würde, eine weiße Wolke zu besingen. Eine unsichtbare Wolke von ganz anderer Substanz hatte es übernommen, unsere Gefühle – ganz andere Gefühle – auf sich zu ziehen.“15 Diese Stelle beruft sich sicherlich auf Adorno und seine Frage, ob man nach Auschwitz noch Gedichte schreiben kann/soll. Anna Kuhn erklärt: „By inviting a parallel between the Holocaust and the nuclear holocaust, she makes clear just how profound a caesura that accident is for the narrator. After Chernobyl nothing can ever be the same for her.“16 Weiteres Experimentieren ohne Moral ist eine Katastrophe und bedeutet den Tod. Für Wolf ist die Sprache gefährdet. Die Wörter der Technokratie und der Macht, über die sie ihre Kraft ausübt, werden Teil der Sprache. Statt die Sprache zu bereichern, verfallen die Machthaber in einen technokratischen Sprachusus und reden nur noch über die täglichen Neuerungen auf dem Gebiet der Technologie. Der Wortschatz der Katastrophe setzt Realität und Unsicherheit gleich. Wie soll man darüber schreiben, wenn hieraus nur Angst erwächst? Für 12 13 14 15 16

Ebd., S. 43. Ebd., S. 93. Vgl. Kuhn, Christa Wolf’s Utopian Vision, S. 214. Wolf, Störfall, S. 62. Kuhn, Christa Wolf’s Utopian Vision, S. 215.

Utopie im Werk von Christa Wolf

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den Leser ist Wolfs Beziehung zum utopischen Potenzial in Technologie und Sozialismus fraglich: „Treiben die Utopien unserer Zeit notwendig Monster heraus? Waren wir Monster, als wir um einer Utopie willen – Gerechtigkeit, Gleichheit, Menschlichkeit für alle –, die wir nicht aufschieben wollten, diejenigen bekämpften, in deren Interesse diese Utopie nicht lag (nicht liegt), und, mit unseren eigenen Zweifeln, diejenigen, die zu bezweifeln wagten, dass der Zweck die Mittel heiligt? Dass die Wissenschaft, der neue Gott, uns alle Lösungen liefern werde, um die wir ihn angehen würden?“17

Diese Verzweiflung bezieht sich auf die Geschichte der Technologie und der Wissenschaft in der DDR. Wie William Rey erklärt: „‚Waren wir Monster [...]?‘ Auch wenn diese Frage nicht positiv beantwortet wird, zeigt sie doch, wie nachdenklich Wolf heute ihrer eigenen Vergangenheit in der DDR gegenübersteht.“18 Auf der einen Seite stellt dies eine Kritik an der ganzen Gesellschaft dar, andererseits bietet der angestrebte Dialog eine Möglichkeit zur Rettung. Hier kann man sehen, wie Wolf die Utopie der Gesellschaft angeht. Das Utopische ist kein genau beschriebenes Ziel, sondern ein Prozess des Verstehens. Wolf geht die jetzigen Probleme der Welt an und legt sie für ihre Leser bloß. Es entstehen nicht ihre Ideen, sondern die der Leser. Sie weckt die Erwartung, dass etwas dagegen getan werden muss, stellt jedoch ihren Lesern frei, die Kreativität und Vorstellung zu haben, etwas Eigenes zu unternehmen. Gleichzeitig aber mahnt sie das „Nichtstun“ an und will durch die Kommunikationsutopie Innovationen erzeugen – darunter wären politische, technologische, soziale und persönliche Änderungen zu verstehen. Offensichtlich traf Tschernobyl Christa Wolf so schwer, dass es ihr wichtig war, einen Bericht über die Katastrophe zu schreiben. Was an Störfall aber besonders interessant ist, ist die Geschichte, die die Erzählerin parallel zu Tschernobyl beschreibt: Die Geschichte ihres Bruders, der gerade operiert wurde. Die Wörter „Störfall“ und „Nachrichten“, die bereits im Titel erscheinen, tragen viel zu der oben genannten Geschichte bei. Der Bruder lässt sich am Gehirn operieren. Bei misslungener Operation könnte er an einem „Störfall“ leiden. Die „Nachrichten“ in dieser Geschichte sind im Warten und in der Ungewissheit zu erkennen, die oft im Krankenhaus zu erleben sind. Die Erzählerin führt, um beim Warten nicht die Nerven zu verlieren, mit ihrem Bruder Gespräche. Diese Konversation über das Verfahren und ihre Sorge um ihn und die Welt wird der Relevanz wegen im Perfekt geführt und drückt ihre tiefe emotionale Betroffenheit aus – sie hat die Situation noch nicht verarbeitet. Sicherlich kann Tschernobyl mit der Operation im Text gleichgesetzt werden. Die zwei Geschichten sind korrespondierende Röhren, zwischen denen das dialogische Gespräch möglich ist. Mit dem „du“ im Gespräch mit ihrem Bruder wendet sich Wolf auch gleichzeitig an ihren Leser und sucht einen Gesprächspartner, mit dem sie ihre Ängste und ihre Wut diskutieren kann. Der Anlass zur 17 Wolf, Störfall, S. 37. 18 William H. Rey, Blitze im Herzen der Finsternis: Die neue Anthropologie in Christa Wolfs „Störfall“. In: The German Quarterly, 62 (1989) Heft 3, S. 379.

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Diskussion ist ihr Bruder, und dieses „du“ erleichtert dem Leser die Identifikation und den Zugang zu dieser persönlichen Geschichte. Das Buch wird zugänglicher, und der Leser bekommt die Aufgabe zugewiesen, zur Kommunikationsutopie beizutragen. Wolf expliziert hierzu: „Die Prosa kann sich nur mit gedanklichen Strömungen und gesellschaftlichen Bewegungen verbinden, die der Menschheit eine Zukunft geben.“19 In der Kommunikationsutopie entdeckt sie diese Zukunft. Die Schriftstellerin schreibt über Tschernobyl und die Veränderungen, die ihr auffallen. Sie schreibt aber auch über ganz gewöhnliche, alltägliche Dinge wie Gärten, Kochen, Fahrradfahren und Telefonieren, um zu verdeutlichen, wie wenig sich äußerlich – selbst nach Tschernobyl – verändert hat. Neu ist nur die Angst vor dem Alltäglichen. Trotzdem wird hier Hoffnung ausgedrückt. Die Erzählerin scheint sehr stark an positive körperliche und geistige Energie zu glauben: „Alles geht gut. Dies ist die Botschaft, die ich dir, ehe sie dich in den Narkoseschlaf versetzen, als einen gebündelten Energiestrahl übermittle. Nimmst du ihn wahr? Alles geht gut.“20 Diese Hoffnung ist sehr wichtig für die Parallele zu Tschernobyl, weil die Nachrichten über das Ausmaß der Strahlen und die damit zusammenhängende Gefahr von Tag zu Tag deutlicher wurden.

3.

Die Utopie und das Ende

3.1

Der Rahmen – Zitate von Carl Sagan und Konrad Lorenz

Dem utopischen Denken entspringen die Ideen, die Wolf als Rahmen des Textes konstruiert, wenn sie am Anfang des Buches Carl Sagan und Konrad Lorenz zitiert. Der Konflikt zwischen Menschen und Technologie wird in diesem Rahmen mit einem Gedankengang aus Sagans Buch The Dragons of Eden. Speculations on the Evolution of Human Intelligence angesprochen, damit der Leser nicht nur an Tschernobyl denkt, wenn er Störfall liest: „Civilization develops not from Abel, but from Cain the murderer. The very word civilization derives from the Latin word for city [...] The first city, according to Genesis, was constructed by Cain, the inventor of agriculture – a technology that requires a fixed abode. And it is his descendents, the sons of Lamech, who invent both ‚artifices in brass and iron‘ and musical instruments. Metallurgy and music – technology and art – are in the line from Cain [...] The connection between murder and invention has been with us ever since. Both derive from agriculture and civilization.“21

19 Wolf, Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959– 1985, Band 2, Berlin (Ost) 1986, S. 35. 20 Dies., Störfall, S. 10. 21 Carl Sagan, The Dragons of Eden. Speculations on the Evolution of Human Intelligence, New York 1977, S. 94. Der letzte Satz des Zitats wird in Störfall wiedergegeben: „Die Verbindung zwischen Töten und Erfinden hat uns nie verlassen. Beide entstammen dem Ackerbau and der Zivilisation.“

Utopie im Werk von Christa Wolf

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Wolfs auf den letzten Teil des Zitats gekürzte Fassung des Arguments deutet auf die Probleme der Menschheit hin, wenn Erfindungen und Entdeckungen gemacht werden. Es besteht immer die Möglichkeit, dass eine Erfindung nicht nur Positives verursachen wird. Durch die so genannte Zivilisierung der Welt entsteht zugleich Gutes und Böses. Ohne die Erfindung des Bogens, um diese Ambiguität in Anlehnung an Sagans These zu illustrieren, ist weder Streichmusik noch Bogenschießen möglich. Weil sich Sagan gegenüber Atomwaffen und der Kernenergie kritisch äußert, schließt sich Wolf seinen Ansichten an und benutzt sie als Sprungbrett für ihre eigene Kritik. Das Zitat von Konrad Lorenz bietet eine spekulative Hoffnung an, die Wolf aufnehmen will: „Das langgesuchte Zwischenglied zwischen dem Tier und dem wahrhaft humanen Menschen sind wir.“22 Lorenz behauptet, dass Menschen sich selbst verstehen müssen, damit sie die Aggression beherrschen können. Er besteht darauf, dass Egoismus und Eigenliebe Feinde der Menschheit sind. Wolf ermahnt die Menschen, sich selbst zu erkennen. Das Lorenz-Zitat deutet auf die unveränderbare Vergangenheit, die auch von Sagan angesprochen wird, und stellt sie dann in Frage. Lorenz und Wolf gehen von einer Verbindung zwischen Fortschritt und Zerstörung aus. Wenn der Mensch anfängt, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen, kann der Kreis von Fortschritt und Zerstörung durchbrochen werden. Wolf gibt dem Leser für die Auseinandersetzung mit dem „Störfall“ zur Aufgabe, die Selbstzerstörung der Menschheit durch die von humanen Zwecken abgelöste Entwicklung der Technik zu durchdenken. Die Aufgabe der Menschheit ist es also, Erfindungen nur positiv zu gebrauchen, um die Welt zu verbessern, und nicht, technologische Fortschritte in zerstörerischer Weise zu verschwenden.

3.2

Joseph Conrad

Aufgrund der Themen Tschernobyl und „Gehirnstörfall“ wäre denkbar, dass das Buch in dunkler Angst und Hoffnungslosigkeit endet. Die Katastrophe kann nicht vermieden werden; das Gefühl des Verlusts ist groß. Solche Momente sind im Text zu finden, aber Wolf macht klar, dass man weiterschreiben, dass man weiterleben muss. In Störfall geht die Erzählerin ins Bett und fängt an zu lesen. Sie liest die Geschichte Heart of Darkness von Joseph Conrad. Indem die Erzählerin die Kunst und Wichtigkeit von Conrad wahrnimmt, erfährt sie mehr über sich selbst. Sie schreibt: „‚Der Tag ging in stillem Glanz zu Ende.‘ So fängt sie an. Ich habe sie zweimal gelesen. Dann aber hat der Erzähler, der Marlow heißt, plötzlich mir ins Gesicht hinein den Satz gesagt: ‚Und auch dies ist einmal einer der dunklen Orte der Erde gewesen.‘ Da habe ich endlich einmal wieder

22 Konrad Lorenz, Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, Wien 1963, S. 228 f.

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jenen Schlag gegen mein Herz gespürt, den ich nur dann spüre, wenn ein Schreiber aus der Tiefe seiner Selbsterfahrung zu mir spricht.“23 Die Tiefe oder Dunkelheit Afrikas in Conrads Buch kann von der Erzählerin als Metapher aufgefasst werden. In dieser Zeit der Kultur und Zivilisation ist trotzdem die Tiefe zu spüren, aber alles ist damit noch lange nicht verloren. Die Menschheit dringt in das Universum ein und bedroht es mit ihrer fragwürdigen Technologie. Es ist also ein Teufelskreis – die weitere wissenschaftliche Forschung kann wahrscheinlich Krebs und ähnliche Krankheiten heilen, aber steht dies noch in Verbindung zu der Gefahr, die die radioaktiven Strahlen mit sich bringen? Wenn man Krebs heilen kann, den die Menschheit durch ihren Einfluss auf die Natur selbst verursacht hat, erscheint das paradox. Was bedeutet es, wenn Energie geschaffen wird, die die Erde verseucht? Technologie kann keine Utopie mehr vorbereiten, aber gleichzeitig bleiben glaubwürdige utopische Elemente in der Literatur weiter lebendig und beruhigend: „Und auch dies ist einmal einer der dunklen Orte der Erde gewesen. Dies auch. Und auch dies.“24 Das „Zuhause“ eines Schriftstellers bleibt als möglicher Ort innerhalb der verschiedenen Dimensionen der Utopie.

4.

Schlussbemerkung

Es folgt ein weiterer, letzter Satz: „Wie schwer, Bruder, würde es sein, von dieser Erde Abschied zu nehmen.“25 Trotz allem Pessimismus ist doch ein Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Obwohl Wolf Gründe hat, die Welt negativ zu betrachten, kann sie sich einen Abschied von dieser Welt nur schwer vorstellen. Ihr ist sehr wichtig, dass man die Zustände erkennt, wie sie sind. Allerdings ist der nächste Schritt der Wichtigste. Der Mensch muss sich auf sich selbst besinnen, damit das Positive über das Schlechte – die Technokratie und die patriarchalische Weltordnung – siegen kann. Der Leser muss sich von der Selbstzerstörung lösen. Gleichgültigkeit und Verantwortungslosigkeit stellen eine Gefahr für Umwelt und Menschheit dar, oder wie Anna Kuhn es ausgedrückt hat: „Christa Wolf implicates us all in Chernobyl and calls upon us to resist.“26 Wolfs „Botschaft“ über die menschenfeindlichen Potenziale der Welt der Technologie und über eine Kommunikation, die nichts sagt, ist der „Störfall“. Sie nimmt mit ihrem Werk Anteil am Utopischen, aber auch am Utopieverlust – wie kaum eine andere moderne Autorin. Joseph Pischel schreibt über Wolfs Entwicklungsprozess hinsichtlich der Utopie: „The Utopian impulse in Christa Wolf’s thoughts and feelings derives less and less from theoretical and rational designs aimed at enlightenment, from systems and ideologies, and she turns in-

23 24 25 26

Wolf, Störfall, S. 115. Ebd., S. 116. Ebd., S. 118. Kuhn, Christa Wolf’s Utopian Vision, S. 214.

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creasingly to everyday, livable forms of individuality, communality and solidarity.“27 Die gegenwärtigen Texte der Autorin28 scheinen sehr von diesen alltäglichen Impulsen zu stammen. Zusammengenommen mit den Texten der Nachkriegszeit zeigt Christa Wolfs Oeuvre bedenkenswerte Entwicklungen im Utopiegespräch auf.

27 Joseph Pischel, The End of Utopia? The Current Discussion on GDR Literature and the Controversy Surrounding Christa Wolf. In: Arthur Williams/Stuart Parkes/Roland Smith (Hg.), German Literature at a Time of Change 1989–1990. German Unity and German Identity in Literary Perspective, Bern 1991, S. 117–127, hier 122. 28 Vgl. Wolf, Das dicht besetzte Leben; dies., Ein Tag im Jahr 1960–2000; dies., Ja, unsere Kreise berühren sich.

Personenverzeichnis

Abusch, Alexander 74 Adorno, Theodor W. 35,93, 122, 140 f., 194 Aksakov, Sergej 157 Anacker, Heinrich 106 f., 113–115 Anders, Günter, 20 Andersch, Alfred 149 f. Anderson, Sascha 170 Apitz, Bruno 164 Arendt, Hannah 20, 91, 97 Arneke, Ralph 167 Assmann, Jan 96 Averkiev, D. 152 Bach, Johann Sebastian 87, 145 Bakunin, Michail 168 Bangert, Otto 114 Barthel, Kurt (Kuba) 102, 117 Barthes, Roland 122 Bartz, Manfred 167 Batt, Kurt 179 Becher, Johannes R. 14, 39–53, 55, 60, 62, 64 f., 70–72, 74, 102, 104, 106–108, 140 f., 145, 149 Becker, Hannelore 167 Becker, Jurek 179 Becker, Rolf 167 Beckett, Samuel 166 Bedny, Demjan 58 Beethoven, Ludwig van 145 Benjamin, Walter 40, 48, 113 Benn, Gottfried 41, 121, 124, 145 Bergengruen, Werner 147 Besymenski, Alexander 58 Biermann, Wolf 168, 179 Biha, Otto 68 f. Bloch, Ernst 124, 179–181 Blumenberg, Hans 122 f., 129 Boccaccio, Giovanni 157 Braun, Volker, 179

Braungart, Wolfgang 81 Brecht, Bertolt 15, 20, 25, 27 f., 66, 77–89, 93 Bredel, Willi 64, 69, 164 Breuer, Stefan 41 Broch, Hermann 16, 119, 125–134 Bronnen, Arnolt 48 Bruckner, Ferdinand 22, 30 Bucharin, Nikolai 58 Büchner, Georg 145 Camus, Albert 164 Carossa, Hans 105 Cenin, S. 152 Chačaturjan, Aram 152 Chaplin, Charlie 36 Chhrapčenko, Michail 151 Chlebnikov, Velimir 164 Chrennikov, Tichon 16, 151–160 Chruschtschov, Nikita Sergejewitsch 88 Conrad, Joseph 197 Dessau, Paul 166 Döblin, Alfred 19, 32, 35 f., 37, 60, 69, 142 Dörner, Andreas 123 Dürer, Albrecht 145 Eckart, Gabriele 177 Eckert, Edeltraud 16, 162–164, 168, 171 Eisler, Hanns 77–89 Emmerich, Wolfgang 161, 179 Engels, Friedrich 92, 101–105, 107, 116 Enz, Robert 16 Enzensberger, Hans Magnus 93, 179 Erpenbeck, Fritz 68

202

Personenverzeichnis

Faust, Siegmar 167 Fechtner, Paul 136 Feuchtwanger, Lion 14, 22–25, 66 Fischer, Ruth 82 Flake, Otto 145 Franco Bahamonde, Francisco 27 f. Frank, Leonard 32 Freud, Sigmund 34, 45, 131, 168 Friedländer, Saul 92 Friedrich, Carl Joachim 96, 99 Frisch, Max 140 f. Fuchs, Jürgen 168 Gabor, Andor 71 Gagarin, Juri 192 Gangl, Manfred 41 Gauger, Klaus 49 Geipel, Ines 161 Gennep, Arnold van 180 Gide, André 19 Goebbels, Joseph 12, 60, 73 Goethe, Johann Wolfgang von 93, 131, 140, 145–149 Good. Jennifer L. 17 Gor’kij, Maxim (Alexej Maxinmowitsch Peschkov) 62, 64, 72, 154, 156 Göring, Hermann 25 Graedener, Hermann 112 Grimes, Ronald 182 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoph von 165 Gudzij, Nikolaj 157 Gurlitt, Hildebrand 70 Häckel, Manfred 94 f. Halbwachs, Maurice 48 Harder, Hermann 107 Härtl, Heidemarie 171 Hauptmann, Elisabeth 77 f. Heartfield, John (Helmut Herzfeld) 72 Heidegger, Martin 45, 145

Hein, Christoph 17, 74, 174, 176, 179–187 Hemingway, Ernest 27 f. Hensing, Dieter 179 Herder, Johann Gottfried von 145 Hermlin, Stefan 179 Heukenkamp, Ursula 161 Heydrich, Reinhard 31, 36 Heym, Stefan 174 Hiller, Kurt 144 f. Hilsenrath, Edgar 36 Himmler, Heinrich 12 Hitler, Adolf 16, 24 f., 34, 36, 62, 65, 99 f., 102–117, 135–137, 142–144, 146 Hofmannsthal, Hugo von 95, 126 Hölderlin, Friedrich 131, 145 Holzapfel, Carl Maria 102, 115 Holzlöhner-Goltsch, Edelgard 111 Honecker, Margot 168 Horkheimer, Max 35, 122 Hübner, Kurt 122 f. Huebsch, Benno W. 127 Hultenreich, Jürgen K. 167 Jacoby, Leopold 115 Jarustovskij, Boris 152, 155 f. Jaspers, Karl 136, 148 Johst, Hanns 12, 62, 71, 107, 114 Joyce, James 19, 166 Jung, Carl Gustav 146 Jünger, Ernst 14, 21, 39–53, 145 Kafka, Franz 19, 30 Kant, Hermann 169 Kant, Immanuel 145, 178 Kantorowicz, Alfred 57, 138 Kästner, Erich 66, 137, 147 Katz, Henry William 22 Kegel, Max 115 Keller, Uwe 167 Kerenyi, Karl 131 Kershaw, Ian 86, 88 Ketelsen, Uwe-Karsten 84

Personenverzeichnis

Kiesel, Helmuth 15 Kirsch, Sarah 179 Kisch, Egon Erwin 55, 66 Klaar, Ernst 102, 115 Klages, Ludwig 45 Kleist, Heinrich von 145 Koch, Lars 14 Koepper, Anne Marie 109 Koestler, Arthur 27, 29 Köhn, Lothar 121 Kolbenheyer, Erwin Guido 59, 71, 109 Kolbenhoff, Walter 149 Köpke, Wulf 14 Körner, Thomas 16, 162, 164– 166, 171 Korsch, Karl 88 Krabiel, Klaus-Dieter 78 Krolkiewicz, Ralf-Günter 167, 171 Kružkov, V. 153, 155 f., 158 f. Kuhn, Anna 194, 198 Kükelhaus, Hermann 110 Kunert, Günter 179 Kurella, Alfred 74 Kurpanik-Malinowska, Gizela 9 Lämmert, Eberhard 10 Langgässer, Elisabeth 147 Langhoff, Wolfgang 22 Laskys, Melvin J. 146 Lazarowicz, Klaus 80 f. Lebedev, Polikarp 151–160 Lenin (Wladimir Iljitsch Uljanow) 44, 58, 62, 104, 107, 113 Lessing, Gotthold Ephraim 24, 131, 145 Lethen, Helmut 45, 48 Ley, Robert 99 Liebknecht, Karl 44 Loest, Erich 182 Lorenz, Konrad 196 f. Lörke, Tim 15 Lubinetzky, Raja 167 Lukács, Georg 41, 64, 73

203

Lunatscharsky, Anatoli 58–60, 71 Luther, Martin 95, 145 Luxemburg, Rosa 35, 44, 64, 106 Makropoulos, Michael 47 f. Mallarmé, Stéphane 19 Mann, Erika 70 Mann, Heinrich 30–32, 36, 55 Mann, Klaus 24 f. Mann, Thomas 12, 15, 23 f., 32 f., 36 f., 66, 119, 123, 125, 130– 134, 140, 142 f., 143, 146, 148 f. Marchwitza, Hans 69, 74, 164 Marcuse, Herbert 165 Marquard, Odo 122, 129, 132 Marx, Karl 44, 63, 92, 101–105, 107–109, 111–116, 145 Mehring, Walter 66 Meinicke, Michael 167 Meuschel, Sigrid 162 Meyer, Katrin 121 Miegel, Agnes 111 Moder, Josef 110 Mohrmann, Uta 186 Möller, Eberhard Wolfgang 83, 108 Molo, Walter von 142, 145 Monk, Radjo 167, 171 Morgner, Irmtraud 173, 179 Mueller, Magdalene 181 f. Muradeli, Vanno 160 Mussolini, Benito 21 Neubert, Erhart 185 Neukrantz, Klaus 69 Niebelschütz, Wolf von 148 Nietzsche, Friedrich 120 f., 131, 145 Nossack, Hans Erich 142 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 166 Nylandt, Rose 109 f. Orwell, George 27

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Personenverzeichnis

Papen, Franz von 21 Patera, Klaus 77 Petersen, Jan 74 Petronius (Gaius Petronius Arbiter) 165 Pfeiffer, Jörns 167 Pickstock, Catherine 185 Pieck, Wilhelm 104 Pieper, Josef 178 Piper, Ernst 74 Pischel, Joseph 198 Platon 145 Plivier, Theodor 141 Prokof’ev, Sergeij 152 Proust, Marcel 19 Pulz, Christian 167 Rabelais, Francois 165 Rathenau, Walther 131 Raulet, Gérard 41 Regler, Gustav 27–29 Reichel, Peter 39 Reimann, Andreas 167 Renn, Ludwig 55 Reuschle, Max 95 Rey, William 195 Richter, Alexander 167 Richter, Hans Werner 149 Rilke, Rainer Maria 19, 163 Romeiß, Frank 167 Rosenberg, Alfred 56 f., 59 f., 65– 67, 71, 73 Rosenberg, Wilhelm Ludwig 56 f., 59 f., 65–67, 71, 73 Roth, Joseph 144 Rougemont, Denis de 125, 129 Rubiner, Frida 55, 74 Rüther, Günther 10, 161 Saeger, Uwe 181 Sagan, Carl 196 Schäfer, Wilhelm 103 Schiller, Friedrich von 145

Schirach, Baldur von 94, 103, 107, 114, 116 f. Schirmer, Dietmar 123 Schleicher, Julius 21 Schmidt, Hans Jörg 15, 121 Schmitt, Carl 40 f., 45, 48 Scholz, Wilhelm von 103 Schönstedt, Walter 22 Schopenhauer, Arthur 145 Schröder, Rudolf Alexander 95, 145 Schumann, Gerhard 115, 117 Schwaabe, Christian 121 Segebrecht, Wulf 93 Seghers, Anna 24–26, 32, 35, 55 Shakespeare, William 157 Sorel, Georges 122 f. Sorg, Bernhard 9 Šostakovič, Dmitrij 152 Spengler, Oswald 45, 127 Stalin (Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili) 24, 52 f., 88, 102, 104, 106–108, 110, 112 f., 117, 155 Stang, Walter 74 Stanislawski, Konstantin 58 Steinweg, Rainer 77 Stern, Maurice Reinhold von 109, 114 f. Stötzer, Gabriele 16, 163, 168–171 Strauß, Emil 71 Süskind, Wilhelm Emanuel 141 Suslov, Michail 153, 155 f., 159 Tallafuss, Petra 15, 94 Tarasov, P. 153, 155 f., 156, 158 f. Teuffenbach, Ingeborg 100, 110 f. Thälmann, Ernst 102, 104, 107, 111 Thieß, Frank 147 Tjulpanow, Sergeij I. 64 Toller, Ernst 66, 69, 99 Tolstoi, Leo Nikolajewitsch 61 Tracy, Spencer 25

Personenverzeichnis

Trakl, Georg 19 Troeltsch, Ernst 40 Trotzki, Leo (Lejb Bronstein) 24, 58 f., 168 Tucholsky, Kurt 22, 66, 69 Turek, Ludwig 69 Turgenev, Ivan 157 Ulbricht, Walter 110, 114, 176 Unruh, Fritz von 140–143, 145 Valery, Ambroise 19 Vdovičenko, V. 152 Voegelin, Eric 124, 133 Voltaire (Francois-Marie Arouet) 165 Wagner, Richard 101, 115 Walther von der Vogelweide 61 Walther, Joachim 16, 161 Weber, Max 96, 120, 128–130 Wehner, Josef Magnus 71 Weinert, Erich 55, 64, 106 Weinrich, Harald 193

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Weisenborn, Günter 21, 137 Weiskopf, Franz Carl 30 f. Weiss, Peter 36 Wende, Waltraud ›Wara‹ 16 Werfel, Franz 143 f. Weyrauch, Wolfgang 139 Widmer, Urs 139 Wiechert, Ernst 21, 140 f., 143 Wilson, Woodrow 36 Winder, Ludwig 30 f. Wisely, Andrew 17 Wolf, Christa 17, 189–199 Wolf, Friedrich 15, 23, 58, 61–64 Wolf, Gerhard 179 Zedong, Mao 165 Zetkin, Clara 63 Ziemann, Wilfried 77 Zimmering, Max 104, 108, 112 Zola, Emile 61 Zschorsch, Gerald 167 Zuckmayer, Carl 32 f. Zweig, Arnold 32, 34 f., 66 Zweig, Stefan 32 f.

Autorenverzeichnis

Robert Enz, cand. Dr. phil.: Studium der mittleren und neuen Geschichte und aktuell Promotion an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg mit einer auf Materialien Moskauer Staats-, Partei- und Kunstarchive fußenden Dissertation über die sowjetische Repertoirepolitik der Stalinjahre am Beispiel Moskauer und Leningrader Opern- und Balletttheater wie Philharmonien. Jennifer Good, Dr.: Seit 2003 Assistant Professor für deutsche Literatur an der Baylor University in Waco (Texas). Forschungsschwerpunkte: Geschichte des DEFA-Films, deutsche Literatur und Kultur im Kontext des Kalten Krieges. Helmuth Kiesel, Prof. Dr.: Seit 1990 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der deutschsprachigen Literatur von 1918– 1945. Zahlreiche Veröffentlichungen u. a. zu Thomas Mann, Döblin, Benn, Brecht, Celan und Jünger. Zuletzt erschienen: Geschichte der literarischen Moderne: Sprache, Ästhetik, Dichtung im 20. Jahrhundert (2004). Lars Koch, Dr.: Promotion an der Rijksuniversiteit Groningen mit einer Studie über den Ersten Weltkrieg als Medium der Gegenwartsmoderne. Zu den Werken Walter Flex und Ernst Jünger (2005). Seit August 2004 Post-doc-Stipendiat der Onderzoekschool Geesteswetenschappen Groningen mit dem Forschungsprojekt „Bildungskonzepte nach 1945. Der Topos ‚Jugend‘ im diskursiven Spannungsfeld von Nationalkultur und Amerikanisierung, Elitenkunst und Konsumorientierung“. Zuletzt erschienen: Imaginäre Welten im Widerstreit – Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900 (2006). Wulf Köpke, Dr.: Distinguished Professor emeritus der Texas A&M University. Forschungsschwerpunkt: deutschsprachige Exilliteratur zwischen 1933 und 1945 und das späte 18. Jahrhundert. Mitherausgeber der Zeitschrift Exilforschung – Ein internationales Jahrbuch und des Herder-Jahrbuchs. Studien zu Herder, Jean Paul, Alfred Döblin und Lion Feuchtwanger. Zuletzt erschienen: The critical reception of Alfred Döblin’s major novels (2003) und Hitler im Visier. Literarische Satiren und Karikaturen als Waffe gegen den Nationalsozialismus (2005). Tim Lörke, cand. Dr. phil.: Seit Oktober 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Germanistischen Seminars der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, zuvor am Faust-Archiv Knittlingen tätig. Mitherausgeber des Faust-Jahrbuchs. Sprecher des Kreises junger Thomas Mann-Forscher in der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft. Zuletzt erschienen: Vom Nutzen und Nachteil der Theorie

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Autorenverzeichnis

für die Lektüre. Das Werk Thomas Manns im Lichte neuer Literaturtheorien (2006). Hans Jörg Schmidt, cand. Dr. phil.: Von 2004 bis 2006 Mitarbeiter am HannahArendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden. Seine Dissertation ist eine ideengeschichtliche Studie zum Topos „Die deutsche Freiheit“. Neueste Veröffentlichungen zu Robert Blums Freiheitsverständnis und zu Volker Brauns Hinze-Kunze-Roman. Petra Tallafuss, cand. Dr. phil.: Von 2004 bis 2006 wissenschaftliche Assistentin am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden. 2005–2006 Mitarbeiterin am Goethe-Institut Dresden (Kulturarbeit). Promotionsprojekt über die kulturpolitischen Rahmenbedingungen der Rezeption der sozialkritischen Dramen Gerhart Hauptmanns in der DDR. Joachim Walther: Freier Schriftsteller und Publizist, veröffentlichte zusammen mit Ines Geipel die Studie Sicherungsbereich Literatur (1996) über Kulturkontrollmechanismen in der DDR. 2004 Mitbegründer des „Archivs unterdrückter Literatur in der DDR“. Seit 2005 Herausgeber der Edition Die Verschwiegene Bibliothek. Waltraud ›Wara‹ Wende, Prof. Dr.: Seit 2000 Inhaberin des Lehrstuhls für Literatur und Kultur der deutschsprachigen Gebiete an der Rijksuniversiteit Groningen. Kultur- und medienwissenschaftliche Arbeitsschwerpunkte: Krieg und Gedächtnis, Großstadtliteratur, Genderstudies, Parodie und Satire, Geschichte im Film, mediale Inszenierungen des Holocausts, Diskursanalyse, rezeptionsgeschichtliche Aufarbeitung von Totalitarismen. Zuletzt erschienen: Krieg und Gedächtnis. Ein Ausnahmezustand im Spannungsfeld kultureller Sinnkonstruktionen (2005). Andrew Wisely, Prof. Dr.: Seit 2003 Associate Professor und Direktor der Abteilung für Deutsch und Russisch an der Baylor University in Waco (Texas). Arbeitsschwerpunkte: Fin-de-siècle-Literatur, Auslotung der Grenzbereiche zwischen Religion und Literatur. Zuletzt erschienen: Arthur Schnitzler and Twentieth-Century Criticism (2004).