Jugend, Familie und Generationen im Wandel: Erziehungswissenschaftliche Facetten [1. Aufl.] 9783658241841, 9783658241858

Jugend, Familie und Generationen sind durch einen fortschreitenden sozialen Wandel in allen Lebensbereichen charakterisi

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German Pages IX, 343 [339] Year 2020

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Jugend, Familie und Generationen im Wandel: Erziehungswissenschaftliche Facetten [1. Aufl.]
 9783658241841, 9783658241858

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Front Matter ....Pages 1-1
Aspekte der Jugendforschung (Alena Berg, Anja Schierbaum, Thorsten Fuchs)....Pages 3-8
Jugendforschung in Deutschland – aktuelle Bilanz und zukünftige Perspektiven (Heinz-Hermann Krüger)....Pages 9-23
Jugendbiographische Herausforderungen in der späten Moderne (Anja Schierbaum, Tobias Franzheld)....Pages 25-41
Ein vergessenes Thema bildungshistorischer Forschung: Mädchen im Bürgertum (Carola Groppe)....Pages 43-62
Zwischen Technik-Avantgarde und gesellschaftskritischer Subkultur – die jugendkulturellen Szenen der Nerds (Lea Puchert, Hans-Jürgen von Wensierski)....Pages 63-81
Sexualisierte Gewalt Peer-to-Peer – Reflexionen über die Bedeutung der Peers aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive (Sabine Maschke)....Pages 83-101
Biographisches Lernen (Jugendlicher) – Zum Konzept biographischen Lernens in der Erziehungswissenschaft und seiner empirisch gestützten Erweiterung (Alena Berg)....Pages 103-121
Biographische Bildungsprozesse erforschen, die „eigenen Spielregeln der ‚Objektivität‘“ befragen. Reflexionen anhand des narrativen Interviews mit „Paulina“ (Thorsten Fuchs)....Pages 123-147
„Erzähl bitte mal ganz genau, wie da eins zum anderen gekommen ist“ – Potenziale und Grenzen narrativer Gesprächstechniken in Beratungssituationen der Radikalisierungsprävention (Stefan E. Hößl)....Pages 149-163
Front Matter ....Pages 165-165
Konturen der Familienerziehung (Anja Schierbaum, Thorsten Fuchs, Alena Berg)....Pages 167-172
Familienerziehung in der Spätmoderne (Ronnie Oliveras, Jan Frederik Bossek)....Pages 173-189
Familienzeit als „Inszenierung“? Perspektiven Jugendlicher und ihrer Eltern auf den konjunktiven Erfahrungsraum der Familie (Michael Hermes)....Pages 191-208
Verletzlichkeit als Teil von Familie (Sabine Andresen)....Pages 209-226
Familienerziehung im ländlichen Raum – Das Beispiel der Familie Tanner (Hans-Rüdiger Müller)....Pages 227-243
Wer belehrt wen? (Johannes Bilstein)....Pages 245-258
Front Matter ....Pages 259-259
Stichworte zu Generationen (Thorsten Fuchs, Alena Berg, Anja Schierbaum)....Pages 261-266
Generativität und Generationalität (Jörg Zirfas)....Pages 267-283
Erdoğans Plan – Die öffentliche Diskussion zur Erziehung der jüngeren Generation in der Türkei (Arnd-Michael Nohl)....Pages 285-306
Generationale Ablösungsprozesse in der Fernsehserie „Gilmore Girls“ (Marcel Eulenbach, Christine Wiezorek)....Pages 307-328
Generationsspezifische Medienzugänge (Bianca Burgfeld-Meise, Dorothee M. Meister)....Pages 329-343

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Thorsten Fuchs · Anja Schierbaum Alena Berg Hrsg.

Jugend, Familie und Generationen im Wandel Erziehungswissenschaftliche Facetten

Jugend, Familie und Generationen im Wandel

Thorsten Fuchs · Anja Schierbaum · Alena Berg (Hrsg.)

Jugend, Familie und Generationen im Wandel Erziehungswissenschaftliche Facetten

Hrsg. Thorsten Fuchs Institut für Pädagogik Universität Koblenz-Landau Koblenz, Deutschland

Anja Schierbaum Humanwissenschaftliche Fakultät Universität zu Köln, Köln Nordrhein-Westfalen, Deutschland

Alena Berg Humanwissenschaftliche Fakultät Universität zu Köln, Köln Nordrhein-Westfalen, Deutschland

ISBN 978-3-658-24184-1 ISBN 978-3-658-24185-8  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-24185-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Laux Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Facetten sind für gewöhnlich unabhängig voneinander bestehende Einzelbetrachtungen. Betont wird mit ihnen die Vielfalt von Objekten und Phänomenen, ohne Anspruch darauf, sie in einer Gesamtgestalt zu überblicken oder eine solche aus der Summierung ihrer Teile herauszuarbeiten. Einem systematischen Interesse folgt das Facettieren daher in der Regel ebenso wenig wie der differenzierten Bildung einer Rangordnung. Es geht vielmehr darum, auf kleinen Flächen etwas sichtbar zu machen – durch filigranes Arbeiten und dem Gespür für das Detail, wobei die Kunst darin besteht, den Facetten keine scharfen Kanten zu geben, wie es etwa dort praktiziert wird, wo das Facettieren in seiner ursprünglichen Bedeutung ein Handwerk der Bearbeitung von Edelsteinen und Gläsern ist. Über Arbeiten des Ab- und Umschleifens bzw. Schneidens werden Flächen dabei nicht nur mit weichen Übergängen gestaltet, sondern auch zum Glänzen gebracht, um ihr Farbenspiel zu erhöhen und Lichteffekte zu erzeugen, die gleichermaßen Staunen und Freude hervorrufen. Jede Facette steht aber auch hier für sich allein. Keine gleicht der anderen. In jeder figuriert das Singuläre. Im vorliegenden Fall haben die bearbeiteten Facetten allerdings einen gemein­ samen Anlass ihrer Entstehung und Zusammenführung: Das Vorhaben, den 60. Geburtstag von Jutta Ecarius durch die Herausgabe einer Festschrift zu feiern. Dem Wandel von Jugend, Familie und Generationen in theoretischen Überlegungen und aktueller Forschung nachspürend, werden jene Themen bearbeitet, denen das wissenschaftliche Werk von Jutta Ecarius seit vielen Jahren besonders intensiv verpflichtet ist. Stehen im ersten Teil daher solche Beiträge im Mittelpunkt der Betrachtung, die sich den Veränderungen spätmoderner J­ ugend(-welten) und den Herausforderungen für die Jugendforschung annehmen, so ist es im zweiten Teil die Familienerziehung im Wandel, während der dritte Teil der Festschrift schließlich veränderte Generationenbeziehungen und -verhältnisse auf die Agenda setzt. V

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Vorwort

Nicht zufällig ist es die Metapher der Facette, unter der das Ergebnis des seinerzeit initiierten Vorhabens einer Würdigung des akademischen Schaffens von Jutta Ecarius nun steht. Denn wie einzelne Aspekte in Fragen der Jugend-, Familienund Generationenforschung jeweils für sich zu denken, aber auch zusammenzubringen sind, in welcher Weise hierbei Gleichzeitigkeiten bzw. Widersprüche durch integrative Theoriemodelle und empirische Analysen aufgehoben werden können, hat die Jubilarin immer wieder zum Nachdenken und erziehungswissenschaftlichen Forschen veranlasst. Was das Theorem der Individualisierung mit der Apostrophierung einer fast schon grenzenlosen Freiheit und De-Standardisierung von Lebensläufen für den jugendlichen bzw. postadoleszenten Lebensverlauf bedeutet und wie dieser wiederum mit Mechanismen sozialer Reproduktion zu erklären ist, war eine der ersten von ihr aufgeworfenen Problemzusammenhänge. Wenig später hat sie gefragt: „Was will die jüngere mit der älteren Generation?“, eine Umkehrung der bekannten klassischen Frage von Friedrich Schleiermacher, die gleichsam dialektisch mit der neu aufgeworfenen verzahnt und zur Disposition gestellt worden ist. Denn von Interesse war, wie man zeitgenössische Diskussionen um den Generationenvertrag und die Kontinuität familialer Solidarleistungen mit Thesen zur Auflösung der Familie und der Entfremdung zwischen den Generationen zusammenbringen kann. Von da aus stieß Jutta Ecarius sodann auf die intergenerative Familienerziehung, die sie mit qualitativen Methoden wie im Kunsthandwerk ‚schliff‘ und als ihr ‚Juwel‘ in der sich allmählich formierenden erziehungswissenschaftlichen Familienforschung einsetzte. Bearbeitet wurde von ihr die Frage: Auf welche Weise werden über die Transmission von Familienthemen sowohl Kontinuitäten als auch Veränderungen im zeitlichen Verlauf von Familiengeschichten hervorgebracht? Und die auf diesen sowie zahlreichen weiteren Feldern der Erziehungswissenschaft erarbeiteten Befunde gleichen dabei nicht selten dem Sehen mit einem Facettenauge, das – bestehend aus zahlreichen einzelnen Linsen – bei gleich bleibender Größe ein erstaunliches Gesamtbild liefert. Wir danken den Autorinnen und Autoren für ihre Mitwirkung an diesem nun vorliegenden facettenreichen Ergebnis sowie ihre Bereitschaft, die angefragten Beiträge auf den Horizont des Schaffens von Jutta Ecarius zu beziehen, um von dort aus ihre eigenen Themen der Jugend-, Familien- und Generationenforschung zu verfolgen. Allen, die solche und ähnliche Sammelbände herausgeben, kennen die Nöte der Endredaktion: Bei dieser Aufgabe hat uns Julia Scherer tatkräftig, zuverlässig und mit großer Akribie unterstützt. Ihr gilt ebenfalls unser herzlicher Dank. Thorsten Fuchs Anja Schierbaum Alena Berg

Inhaltsverzeichnis

Jugend im Umbruch – Herausforderungen der Jugendforschung Aspekte der Jugendforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Alena Berg, Anja Schierbaum und Thorsten Fuchs Jugendforschung in Deutschland – aktuelle Bilanz und zukünftige Perspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Heinz-Hermann Krüger Jugendbiographische Herausforderungen in der späten Moderne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Anja Schierbaum und Tobias Franzheld Ein vergessenes Thema bildungshistorischer Forschung: Mädchen im Bürgertum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Carola Groppe Zwischen Technik-Avantgarde und gesellschaftskritischer Subkultur – die jugendkulturellen Szenen der Nerds. . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Lea Puchert und Hans-Jürgen von Wensierski Sexualisierte Gewalt Peer-to-Peer – Reflexionen über die Bedeutung der Peers aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Sabine Maschke Biographisches Lernen (Jugendlicher) – Zum Konzept biographischen Lernens in der Erziehungswissenschaft und seiner empirisch gestützten Erweiterung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Alena Berg VII

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Inhaltsverzeichnis

Biographische Bildungsprozesse erforschen, die „eigenen Spielregeln der ‚Objektivität‘“ befragen. Reflexionen anhand des narrativen Interviews mit „Paulina“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Thorsten Fuchs „Erzähl bitte mal ganz genau, wie da eins zum anderen gekommen ist“ – Potenziale und Grenzen narrativer Gesprächstechniken in Beratungssituationen der Radikalisierungsprävention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Stefan E. Hößl Familie im Wandel – Über Erziehung und Erziehungserfahrungen Konturen der Familienerziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Anja Schierbaum, Thorsten Fuchs und Alena Berg Familienerziehung in der Spätmoderne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Ronnie Oliveras und Jan Frederik Bossek Familienzeit als „Inszenierung“? Perspektiven Jugendlicher und ihrer Eltern auf den konjunktiven Erfahrungsraum der Familie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Michael Hermes Verletzlichkeit als Teil von Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Sabine Andresen Familienerziehung im ländlichen Raum – Das Beispiel der Familie Tanner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Hans-Rüdiger Müller Wer belehrt wen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Johannes Bilstein Veränderte Generationenbeziehungen und -verhältnisse Stichworte zu Generationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Thorsten Fuchs, Alena Berg und Anja Schierbaum Generativität und Generationalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Jörg Zirfas

Inhaltsverzeichnis

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Erdoğans Plan – Die öffentliche Diskussion zur Erziehung der jüngeren Generation in der Türkei. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Arnd-Michael Nohl Generationale Ablösungsprozesse in der Fernsehserie „Gilmore Girls“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Marcel Eulenbach und Christine Wiezorek Generationsspezifische Medienzugänge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Bianca Burgfeld-Meise und Dorothee M. Meister

Jugend im Umbruch – Herausforderungen der Jugendforschung

Aspekte der Jugendforschung Alena Berg, Anja Schierbaum und Thorsten Fuchs

Jugend – „ein schillerndes Wort“ (Ecarius 2015, S. 89) und „gehaltvoller Begriff“ (Ecarius et al. 2011, S. 13) zugleich. Mit beiden Bedeutungsdimensionen ihres Gegenstandes sieht sich die Jugendforschung bereits zu den Anfängen ihrer Entstehung am Beginn des 20. Jahrhunderts konfrontiert. Schon zu jener Zeit ist ihr Ausbau motiviert gewesen vom gesellschaftliche Interesse an der Jugend, der Faszination an ihr, war sie doch das „Indiz für Modernisierung“ (Andresen 2005, S. 30) und Rationalisierung der Gesellschaft, aber auch einer Sorge um diese im Zwischenraum von Kindheit und Erwachsenenleben stehende Lebensphase angesichts zunehmend ‚widriger‘ werdenden Aufwachsensbedingungen. Mit dem Ziel der Gewinnung eines soliden jugendtheoretischen Wissens wurde der Gegenstand „Jugend“ in den folgenden Zeiten szientifisch vermessen, hat sich zugleich von rein sozialpädagogisch motivierten Intentionen gelöst – und ist in verschiedenen disziplinären Zugriffen mit unterschiedlichen Semantiken belegt und auf Basis spezifischer Implikationen zum Forschungsgegenstand gemacht worden. Stetig ausdifferenziert, aber ihrem Gegenstand nie ganz Schritt haltend, insbesondere nicht in den Bereichen jugendkultureller Neuerungen, erweist sich die Jugendforschung gegenwärtig mit heterogenen Theorien, Forschungszugängen und

A. Berg (*) · A. Schierbaum  Universität zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Schierbaum E-Mail: [email protected] T. Fuchs  Universität Koblenz-Landau, Koblenz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Fuchs et al. (Hrsg.), Jugend, Familie und Generationen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24185-8_1

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A. Berg et al.

-themen aus verschiedenen Einzeldisziplinen zusammengesetzt, die in ihrer Differenz einige Überschneidungen und Gemeinsamkeiten aufweisen (vgl. Riegel et al. 2010, S. 12). Einen systematischen Problemhorizont teilen sie streng genommen jedoch nicht, was mitunter in zunehmenden kritischen Reflexionen, Selbstvergewisserungen, mithin sogar einem sachlich geführten „Streit“ (du ­Bois-Reymond und Oechsle 1990) der am Diskurs beteiligten Akteure resultiert und Fragen nach besonderen Herausforderungen evoziert (vgl. Kleeberg-Niepage und Rademacher 2018; Ecarius und Eulenbach 2012; Sandring et al. 2015). Unmöglich geworden ist Jugendforschung in Anbetracht einer solchen Signatur deshalb jedoch keineswegs (vgl. Pfaff 2015). Auch wenn der Gegenstand immer noch und immer wieder diskussionswürdig ist, weil keine „festen Fahrpläne durch die Jugendphase“ (Fuchs-Heinritz et al. 1990) mehr bestehen, Entstandardisierung des Lebenslaufs also das ‚neue‘ Faktum bildet und auch Übergänge gegenwärtig fließend, z. T. sogar reversibel geworden sind und ehemals klare altersbezogene Grenzmarkierungen ebenso durch und durch fraglich wurden wie eine auf das Erwachsenensein ausgerichtete teleologische Entwicklungslinie, zeugt die Landschaft jugendtheoretischer Reflexion und empirischer Forschung von enormer Produktivität. Aktuell beschäftigt die Jugendforschung insbesondere der Wandel von der modernen zur spätmodernen Jugend (vgl. Ecarius im Erscheinen); auf dem Weg, den bisherigen Überlegungen noch weitere theoretische, vor allen Dingen aber empirische Forschungen folgen zu lassen, stehen Arbeiten zu den neuen bzw. veränderten Bildungsimperativen und den Selbstmodellierungen Jugendlicher an sowie zu Familienbeziehungen, Generationenmustern und Erziehungsprinzipien, schließlich auch zu der digitalen Kommunikation und dem jugendlichen Wohlbefinden (vgl. ebd.; Ecarius et al. 2017). Dass die Jugendforschung demnächst ihren Gegenstand endgültig zu Ende vermessen hat, ist also nicht absehbar. Immer wieder und aufs Neue versucht sie der Schnelligkeit von jugendlichen Entwicklungen gerecht zu werden und muss sich dazu selbst dem Umbruch aussetzen. Von solchen Herausforderungen zeugen die im Nachfolgenden versammelten Beiträge des ersten Teils, die – wie auch die jugendlichen Lebenswelten selbst – nicht unterschiedlicher sein könnten. Sie eröffnen einen Einblick in die Vielfältigkeit der gegenwärtig ausdifferenzierten Jugendforschung. Alle Beiträge stehen dabei im Zeichen eines entschiedenen Interesses, mithin einer echten Faszination vom Gegenstand. Zugleich ist ihnen zu entnehmen, wie sehr sie das Weiterdenken der Herausforderungen und anstehenden Entwicklungen neuer Forschungsperspektiven – sei es auf theoretischer und/oder forschungsmethodischer Ebene – der Jugendforschung im Auge haben und konkretisieren.

Aspekte der Jugendforschung

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Einen breit gelagerten Aufschlag dazu macht der Beitrag von H ­ einz-Hermann Krüger zur Jugendforschung in Deutschland, der sich in die genannten aktuellen wissenschaftlichen Selbstvergewisserungen einreiht. Ausgehend von Bilanzierungen der zurückliegenden Jahre, durch die die „ungünstige“ Ausgangssituation für die Entfaltung der Jugendforschung Plausibilität erlangen, werden im Beitrag zukünftige Herausforderungen dargelegt: auf institutioneller, theoretischer, methodischer und inhaltlicher Ebene. Angesichts der Fülle an Theorieangeboten bekräftigt Krüger dabei die Entwicklung von Brückenkonzepten, mit deren Hilfe „mehrere Analyseebenen des Gegenstandsfeldes Jugend“ zusammengeführt werden können. Auch methodische Ansätze, die mehrebenenanalytisch verfahren und zugleich quantitative wie qualitative methodische Zugänge integrieren, sind ihm zufolge stärker zu verfolgen. Forschungsbedarf auf inhaltlicher Ebene sieht Krüger wiederum aus Anlass des aktuellen Umbaus im Bildungswesen u. a. für eine bildungsbezogene sowie sich den Bedingungen und Folgen neuer Inklusions- und Exklusionsprozessen verschreibender Jugendforschung. Ebenfalls um Herausforderungen, nun jedoch auf Ebene der jugendlichen Subjekte, geht es im Beitrag von Anja Schierbaum und Tobias Franzheld, die einen theoretisch begründeten Blick auf die Konturen spätmoderner Jugend werfen. In Darlegung und Diskussion des Konzepts der Entwicklungsaufgaben befassen sie sich mit den biographischen Herausforderungen des Aufwachsens in einer von Widersprüchen gekennzeichneten spätmodernen Gesellschaft. In der Revitalisierung des alten Entwicklungsaufgabenkonzepts plädieren sie dabei dafür, dieses zur Beschreibung jugendlicher Entwicklung nicht ungenutzt zu lassen, wenn es darum geht, die Bedingungen spätmoderner Lebensverhältnisse zwischen Freiräumen des Aufwachsens und gesellschaftlichen Anforderungen mit einer biographischen Perspektive auf Jugend zu verbinden. Carola Groppe beleuchtet aus einer bildungshistorischen Perspektive die Lebenssituationen von Mädchen im Bürgertum des 19. Jahrhunderts. Auch wenn zu jener Zeit Heirat und Familiengründung das Lebensideal für Mädchen aus bürgerlichen Familien waren, lässt sich anhand von zeitgenössischen Briefen als historische Quellenmaterialien herausarbeiten, wie es gelang, aus der häuslichen Zurückgezogenheit herauszutreten und für sich im Prozess des Aufwachsens eine relative Freiheit zu beanspruchen. Die heranwachsenden Mädchen entfalteten eine „selbst gestaltete Jugendkultur in Peergroups und eine Selbstrepräsentation als eigenständig handelnde und entscheidende Person“. Zudem veränderten sich nicht nur Eltern-Kind-Beziehungen und Geschlechterkonzepte. Auch Bildungserfahrungen wurden für Mädchen um die Jahrhundertwende immer bedeutsamer,

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A. Berg et al.

die „schulische Qualifikation, Ausbildung und Berufstätigkeit“ der Ehe und Familie nicht als einen Gegenentwurf gegenüberstellten. Dem Wandel jugendkultureller Szenen und Praxen gehen Lea Puchert und Hans-Jürgen von Wensierski nach. Sie fokussieren ihre Betrachtung auf die Bedeutung mediatisierter Freizeit- und Alltagswelten von Jugendlichen. Dabei wird von ihnen ein umfassendes Bild des Phänomens der Nerd-Kultur mit verschiedenen Typen gezeichnet, wodurch das Spannungsverhältnis von Mainstream-Kultur und Subkultur – und damit zugleich die Pluralisierung jugendkultureller Szenen – zur Reflexion kommt. Die Herausforderung der Jugendforschung, sich diesem Phänomen sowohl auf theoretischer als auch empirischer Ebene intensiv zuzuwenden, heißt Puchert und von Wensierski zufolge in diesem Bereich nicht nur differenzierte Analysen vorzulegen, sondern den Zugang zu digitalisierten Lebenswelten auch über geeignete Methoden zu führen. Mit einem der prominentesten Themen der Jugendforschung befasst sich Sabine Maschke: der Peersozialisation. Vor dem Hintergrund der in diesem Beitrag referierten „Speak!“-Studien zu sexualisierter ­Peer-to-Peer-Gewalt richtet sie den Blick auf die vulnerable Seite der Jugendlichen in ihren Aufwachsensbedingungen und konterkariert somit den Blick auf die sich zunehmend verselbstständigenden Peers als positiv unterstützende Sozialisatoren. Da sexualisierte Peer-to-PeerGewalt – so die Befunde – zunehmend die jugendlichen Lebenswelten durchdringt und für viele Heranwachsende bereits zu einer alltäglichen Erfahrung im sozialen Nahraum geworden ist, gilt es, so Maschke, kritisch zu diagnostizieren, dass die Entwicklungen einer weitreichenden ‚Entpädagogisierung‘ zugunsten der Schaffung von autonom gestalteten Möglichkeitsräumen im Jugendalter, auch einer Viktimisierung und Täterschaft von sexualisierter Gewalt zuspielt. Überlegungen der pädagogischen Intervention als sensibilisierende Prävention durch Partizipation stehen daher am Ende des Beitrags. Der Beitrag von Alena Berg widmet sich dem biographischen Lernen. Abgrenzend von einem Blick auf jugendliches Lernen, das dieses bloß im Horizont schulischer Bildung betrachtet, werden Konzepte der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung in einen eigenen Forschungsansatz überführt, mit dem verschiedene Formen biographischer Lernprozesse luzide Konturen erfahren. Dabei differenziert sie zwei der von Ecarius (2008) und Alheit et al. (2003) benannten Formen des Lernens aus und plädiert schließlich dafür, die Erforschung von Lernprozessen mittels einer biographietheoretischen Grundlegung vorzunehmen, durch die dann auch Verflechtungen zwischen außerschulisch-lebensweltlichem und schulisch-institutionellem Lernen im Jugendalter transparent werden.

Aspekte der Jugendforschung

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Weitergeführt und methodisch-methodologisch flankiert wird diese biographisch akzentuierte Perspektive dann in den beiden letzten Beiträgen des ersten Teils. Thorsten Fuchs geht es um die Revision einer biographischen Fallanalyse, die seinerzeit in bildungstheoretischer Absicht stand und – mehr oder weniger subtil – Semantiken der Differenz von „gebildet/ungebildet“ aufgriff. ‚Gegenwendig‘ zu der an früherer Stelle von ihm vertretenen Interpretation wird in der erneuten Lektüre der lebensgeschichtlichen Erzählung einer 17-jährigen Gymnasiastin namens „Paulina“ gerade nicht die Lebensführung eines dogmatisierenden Vernunftgebrauchs thematisch gemacht bzw. dieser biographische Verlauf als einer jener Fallvarianten gedeutet, in denen sich keine transformatorischen Bildungsprozesse ereignen. Vielmehr erfolgt im Beitrag die Rekonstruktion von Ambivalenzen in der ‚Bildungsgestalt‘ Paulinas. Das so im Zuge der Revision anschaulich gemachte ‚Andersdenken‘ wird schließlich sowohl für die Reflexion der Bedeutung von Selbstkritik im Forschungsprozess aufgegriffen, als auch für Überlegungen genutzt, die der Entwicklung einer normativitätssensibel prononcierten Biographieforschung den weiteren Weg zu ebnen versuchen. Die Anwendung narrativ-biographisch ausgerichteter Forschungsmethoden in der pädagogischen Arbeit, die sich aus Anlass mutmaßlicher oder auch manifester Fälle von Radikalisierung der Reflexion eines angemessenen pädagogischen Handelns annimmt, wird schließlich von Stefan E. Hößl zum Thema gemacht. In seinem Beitrag wird ausgelotet, inwiefern diese Methoden, die ihr eingeschriebenen Gesprächstechniken und die durch den Einsatz narrativ-biographischer Verfahren evozierten Erzählungen dem Verstehen und ­ Beurteilen möglicher Radikalisierungstendenzen zuträglich sind. Die Bilanz fällt dabei eindeutig positiv aus: Obwohl man etwa hinsichtlich der Zeitintensität solcher Methoden durchaus Vorbehalte gegenüber dem Einsatz anmelden könnte, sieht Hößl unabweisliche Gründe für deren Nutzung in Beratungsgesprächen der Radikalisierungsprävention, womit er dann auch auf den Bedarf des Transfers von Wissen um spezifische Haltungen der interviewenden Personen aufmerksam macht.

Literatur Alheit, P., Dausien, B., Kaiser, M., & Truschkat, I. (2003). Neue Formen (selbst) organisierten Lernens im sozialen Umfeld. Qualitative Analyse biographischer Lernprozesse in innovativen Lernmilieus. Berlin: Arbeitsgemeinschaft Betriebliche Weiterbildungsforschung e. V.

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A. Berg et al.

Andresen, S. (2005). Einführung in die Jugendforschung. Darmstadt: WBG. du Bois-Reymond, M., & Oechsle, M. (1990). Jugendforscher streiten sich – statt einer Einleitung. In M. du Bois-Reymond & M. Oechsle (Hrsg.), Neue Jugendbiographie? Zum Strukturwandel der Jugendphase (S. 7–24). Opladen: Leske + Budrich. Ecarius, J. (2008). Elementares Lernen und Erfahrungslernen. Handlungsproblematiken und Lernprozesse in biographischen Erzählungen. In K. Mitgutsch, E. Sattler, K. Westphal & I. M. Breinbauer (Hrsg.), Dem Lernen auf der Spur. Die pädagogische Perspektive (S. 97–110). Stuttgart: Klett-Cotta. Ecarius, J. (2015). Familie und Jugend. Generationenordnung und familiale Unterstützungs- und Beziehungsformen. In S. Sandring, W. Helsper & H.-H. Krüger (Hrsg.), Jugend. Theoriediskurse und Forschungsfelder (S. 89–104). Wiesbaden: Springer VS. Ecarius, J. (im Erscheinen). Jugend: Moderne und spätmoderne Generationsmuster. In C. Grunert, K. Bock, N. Pfaff & W. Schröer (Hrsg.), Erziehungswissenschaftliche Jugendforschung. Ein Aufbruch. Wiesbaden: Springer VS. Ecarius, J., & Eulenbach, M. (Hrsg.). (2012). Jugend und Differenz. Aktuelle Debatten der Jugendforschung. Wiesbaden: Springer VS. Ecarius, J., Eulenbach, M., Fuchs, T., & Walgenbach, K. (2011). Jugend und Sozialisation. Wiesbaden: VS Verlag. Ecarius, J., Berg, A., Serry, K., & Oliveras, R. (2017). Spätmoderne Jugend – Erziehung des Beratens – Wohlbefinden. Wiesbaden: Springer VS. Fuchs-Heinritz, W., Ecarius, J., & Krüger, H.-H. (1990). Feste Fahrpläne durch die Jugendphase? In M. du Bois-Reymond & M. Oechsle (Hrsg.), Neue Jugendbiographie? Zum Strukturwandel der Jugendphase (S. 25–39). Opladen: Leske + Budrich. Kleeberg-Niepage, A., & Rademacher, S. (Hrsg.). (2018). Kindheits- und Jugendforschung in der Kritik. (Inter-)Disziplinäre Perspektiven auf zentrale Begriffe und Konzepte. Wiesbaden: Springer VS. Pfaff, N. (2015). Erziehungswissenschaftliche Jugendforschung am Neubeginn? Aktuelle Gegenstandsfelder und Perspektiven in der Forschung zu Jugend. In S. Sandring, W. Helsper & H.-H. Krüger (Hrsg.), Jugend. Theoriediskurse und Forschungsfelder (S. 35–55). Wiesbaden: Springer VS. Riegel, C., Scherr, A., & Stauber, B. (Hrsg.). (2010). Transdisziplinäre Jugendforschung, Grundlagen und Forschungskonzepte. Wiesbaden: VS Verlag. Sandring, S., Helsper, W., & Krüger, H.-H. (Hrsg.). (2015). Jugend. Theoriediskurse und Forschungsfelder. Wiesbaden: Springer VS.

Jugendforschung in Deutschland – aktuelle Bilanz und zukünftige Perspektiven Heinz-Hermann Krüger

Zusammenfassung

In diesem Beitrag werden zunächst die aktuellen personellen und finanziellen Rahmenbedingungen der Jugendforschung beschrieben und zukünftige institutionelle Herausforderungen diskutiert. Anschließend werden zentrale theoretische Diskurslinien, methodische Entwicklungen und inhaltliche Arbeitsschwerpunkte in der gegenwärtigen Jugendforschung skizziert und davon ausgehend jeweils weiterführende Perspektiven abgesteckt. Schlüsselwörter

Jugendforschung · Institutionelle Verfasstheit der Jugendforschung ·  Jugendtheoretische Diskurse · Methodische Entwicklungen der Jugendforschung · Forschungsschwerpunkte der Jugendforschung · Risikoforschung · Jugendkulturforschung ·  Bildungsbezogene Jugendforschung · Transnationale Jugendforschung

Blickt man auf die aktuelle Situation der Jugendforschung in Deutschland, so ergibt sich ein ambivalentes Bild. Auf der einen Seite ist eine Ausdifferenzierung der an der Jugendforschung beteiligten Fachdisziplinen sowie eine Vervielfältigung der zugrunde gelegten theoretischen Ansätze und aus-

H.-H. Krüger (*)  Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Halle, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Fuchs et al. (Hrsg.), Jugend, Familie und Generationen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24185-8_2

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gewählten methodischen Zugänge sowie der untersuchten Themenfelder zu konstatieren. Auf der anderen Seite sind die institutionellen und finanziellen Rahmenbedingungen für die Durchführung von Forschungsprojekten in der Jugendforschung eher ungünstig. Zudem sind komplexe mehrdimensionale Theoriekonzepte gegenwärtig ebenso wenig deutlich zu erkennen wie zeitlich und inhaltlich klar konturierte Forschungsprogramme. Orientiert an den Perspektiven der Wissenschaftsforschung werde ich im Folgenden eine Bilanz zu der aktuellen Verfasstheit und zu den zukünftigen Herausforderungen der Jugendforschung ziehen. Dabei werde ich entsprechend den Prämissen der Wissenschaftsforschung (vgl. Krüger 2018, S. 10) zwischen den sozialen Strukturen, den personellen und finanziellen Rahmenbedingungen sowie den Medien des fachlichen Austauschs, und den kognitiven Strukturen, den theoretischen Diskussionen, den methodischen Entwicklungen und den zentralen thematischen Forschungslinien der Jugendforschung unterscheiden.

1 Institutionelle Bilanz und Perspektiven 1.1 Schwierige personelle und finanzielle Rahmenbedingungen Eine von mir selber durchgeführte Internetrecherche zu den aktuell vorhandenen Professuren für Jugendforschung in den drei zentralen an diesem Forschungsfeld beteiligten Disziplinen, der Psychologie, Soziologie und Erziehungswissenschaft, ergab ein widersprüchliches Ergebnis. Während Professuren für Entwicklungspsychologie unter Berücksichtigung des Kindes- und Jugendalters zur Grundausstattung der meisten psychologischen Institute in Deutschland gehören, habe ich nur zwei Professuren im Fach Soziologie und sieben Professuren im Fach Erziehungswissenschaft mit der expliziten Denomination Kindheits- und/oder Jugendforschung gefunden (vgl. Krüger 2016a, S. 317). Zudem ist die Jugendforschung im Unterschied zu den Fachgesellschaften für Psychologie und Soziologie in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft auch nicht mit einer eigenständigen Sektion vertreten. Auch beim Deutschen Jugendinstitut, der größten Einrichtung für außerschulische Bildungsforschung in Deutschland, ist die Jugendforschung nicht institutionell gebündelt, sondern sind die Vielzahl der Projekte zu Themen der Jugendforschung über verschiedene Fachabteilungen und Forschungsschwerpunkte verteilt (vgl. DJI 2018). Ein weiteres Problem, mit dem die Jugendforschung konfrontiert ist, ist der Tatbestand, dass die Finanzierungsspielräume für Projekte oft von den ­kurzfristigen Verwertungsinteressen ihrer ökonomischen oder politischen Auftraggeber

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abhängig sind. Exemplarisch seien hier etwa die S ­ hell-Jugendstudien genannt. Aber auch viele Forschungsprojekte im Deutschen Jugendinstitut müssen eher kurzfristige jugend- und bildungspolitische Interessen der Bundes- oder Landesministerien bedienen. Hingegen sind grundlagenorientierte Forschungsprojekte wie etwa die Studie „Aufwachsen in Deutschland“ (Rauschenbach und Bien 2012) eher die Ausnahme. Blickt man auf die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die primär die Grundlagenforschung auch im Bereich der Jugendforschung unterstützt, so sind in deren aktuellen Datenbanken insgesamt nur 19 Projekte im Bereich der Jugendforschung erfasst, die sich zudem noch auf die Fächer Erziehungswissenschaft, Psychologie, Soziologie und Geschichtswissenschaft verteilen und somit eher auf die Vielfalt der an der Jugendforschung beteiligten Fachdisziplinen hinweisen (vgl. DFG 2018a). Im Unterschied zu den 1980er und 1990er Jahren, wo etwa die Erziehungswissenschaft und die Soziologie noch federführend an der Einrichtung und Durchführung von zwei DFG-Schwerpunktprogrammen zur pädagogischen Jugendforschung und zur Kindheit und Jugend im deutschdeutschen Vergleich sowie an einem Sonderforschungsbereich an der Universität Bielefeld beteiligt war, nehmen DFG-geförderte Projekte in diesen Fachdisziplinen gegenwärtig nur noch einen eher marginalen Stellenwert ein. Weitaus günstiger stellt sich der Institutionalisierungsprozess der erziehungsund sozialwissenschaftlichen Jugendforschung nur im Feld der Dokumentation des tradierten Forschungswissens in Handbüchern (vgl. etwa Krüger und Grunert 2010; Köhler et al. 2016; Ecarius 2007), Jahrbüchern (vgl. etwa Ittel et al. 2011) oder der Publikation aktueller Forschungsergebnisse in peer-reviewten Zeitschriften wie dem Diskurs Kindheits- und Jugendforschung oder der Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation dar.

1.2 Institutionelle Herausforderungen Welche Konsequenzen resultieren nun aus der beschriebenen nur schwach ausgeprägten personellen und institutionellen Ausgestaltung des Forschungsfeldes der Jugendforschung an Universitäten? Eine naheliegende Überlegung wäre sicherlich, ähnlich wie in der Psychologie oder Medizin, die Einrichtung von mehr Professuren für Jugendforschung in der Erziehungswissenschaft und Soziologie zu fordern. Angesichts der aktuellen bildungs- und sozialpolitischen Diskussionen und des Trends zum Ausbau der Kindergartenplätze für unter Dreijährige oder der Verbesserung der Betreuung und Pflege von älteren Menschen scheinen mir die hochschulpolitischen Rahmenbedingungen für die Durchsetzung

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dieser Forderung gegenwärtig nicht gerade günstig zu sein. Realistischer und aussichtsreicher scheint es mir hingegen zu sein, die bereits vorhandenen personellen und institutionellen Potenziale in der Jugendforschung zunächst zu bündeln. Zu diesen Maßnahmen könnte erstens die Einrichtung einer Arbeitsgruppe für Jugendforschung in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft gehören, die die vorhandenen Forschungsaktivitäten zusammenführt, da ja nicht nur in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft sondern auch etwa in der Schulpädagogik oder in der Sozialpädagogik sich eine ganze Reihe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit Fragen der Jugendforschung beschäftigen. Dazu zählt zweitens eine institutionelle Bündelung und Profilierung der Jugendforschung am Deutschen Jugendinstitut, wo mit der Einrichtung einer Referentenstelle im Rahmen einer Fachgruppe zu Lebenslagen von Jugendlichen und mit der Erstellung eines Konzeptpapiers zur Jugendforschung am DJI erste Fortschritte gemacht wurden. Und dazu würden drittens auch verstärkte Initiativen von Jugendforscherinnen und Jugendforschern an Universitäten im Hinblick auf die Beantragung von Einzel- oder Paketanträgen oder Forschergruppen und Graduiertenkollegs bei der DFG gehören. Das vor kurzem bewilligte DFG-Graduiertenkolleg „doing transitions“ an den Universitäten in Frankfurt und Tübingen, das sich mit den institutionellen Übergängen und deren biographischen Verarbeitungsformen im Lebenslauf, insbesondere auch im Jugendalter beschäftigt, stellt in diesem Kontext sicherlich einen ersten Schritt dar (vgl. DFG 2018b).

2 Theoretische, methodische und inhaltliche Bilanz und Perspektiven Im Folgenden werde ich nun meinen Blick auf die theoretischen Diskurse, methodischen Entwicklungen und zentralen inhaltlichen Forschungslinien der Jugendforschung in den vergangenen Jahrzehnten richten und dabei jeweils eine knappe Bilanz ziehen und einige zukünftige Herausforderungen skizzieren.

2.1 Von Großtheorien zu Brückenkonzepten In den 1980er Jahren waren die theoretischen Diskurse in der Jugendforschung und der diese rahmenden Sozialisationsforschung noch durch Versuche bestimmt ausgehend von metatheoretischen Modellvorstellungen die vorliegenden

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e­ntwicklungstheoretischen, sozialökologischen und gesellschaftstheoretischen Ansätze in komplexen mehrebenenanalytisch angelegten Großtheorien zu integrieren (vgl. Krüger und Lersch 1993). Diese Diskussion ist sicherlich am nachhaltigsten von Klaus Hurrelmann (1983, 2002) geprägt worden. Er hat orientiert am Modell des produktiv die Realität verarbeitenden Subjekts versucht theoretische Konzepte aus der Entwicklungspsychologie, der Sozialökologie und der Gesellschaftstheorie miteinander zu verbinden, um so die makro- und mikrosozialen ebenso wie die Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung im Jugendalter gleichzeitig analytisch fassen zu können (vgl. dazu auch Hurrelmann et al. 2008, S. 15). Im Unterschied zu den 1980er Jahren ist der theoretische Diskurs in der Jugendforschung nicht mehr durch die Suche nach integrativen komplexen Theorieentwürfen, sondern durch eine Pluralität, Ausdifferenzierung und eher ein Nebeneinander verschiedener Theorieströmungen bestimmt. Auf der Ebene gesellschaftstheoretischer Diagnosen finden sich erstens Fortschreibungen von Becks (1993) Theorie reflexiver Modernisierung und des Theorems von der Individualisierung der Lebenslagen, in einer positiven Lesart etwa bei Hitzler und Niederbacher (2010), die neue und flexible Einbindungen von Jugendlichen in posttraditionalen Vergemeinschaftungsformen betonen oder in einer skeptischen Lesart etwa bei Heitmeyer (2016), der in seinen Studien eher den Blick auf die Schattenseiten der Folgewirkungen von Individualisierungsprozessen in Form von Desorientierung, Destabilisierung und neuen Kontrollformen für Jugendliche richtet. Im Zuge der Wiederentdeckung der sozialen und insbesondere der Bildungsungleichheit treten zweitens wieder verstärkt theoretische Ansätze in den Vordergrund, die sich auf Bourdieus (1987) Theorie der Lebensstile, des sozialen Raums und des Habitus beziehen und Jugend unter der Perspektive der Reproduktion sozialer Ungleichheit und damit des generationalen Transfers betrachten (vgl. Kramer 2011; Helsper et al. 2018). Drittens haben in diesem Zusammenhang auch differenztheoretische Konzepte an Bedeutung gewonnen, die die Dimensionen von Klasse, Geschlecht und Ethnie als mögliche Verursachungsfaktoren von Ungleichheit gleichzeitig und in ihrem Zusammenspiel mit berücksichtigen (vgl. Gaupp 2017). Viertens wird versucht in Anlehnung an Bröcklings (2007) Konzept vom unternehmerischen Selbst oder an Rosas (2005) Theorem von der Beschleunigung des Sozialen den auch auf Jugendliche ausgeübten Beschleunigungsdruck durch eine Verkürzung der Schulbesuchs- und Studienzeiten (z. B. G8-Gymnasien, BA) und die ihnen aufgelegten Zwänge zur Selbstoptimierung theoretisch zu fassen (vgl. Helsper et al. 2015, S. 14).

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Auf einer mikroanalytischen Ebene rücken inzwischen praxistheoretische Konzepte (vgl. Reckwitz 2008) ins Zentrum, die in einer ethnographischen Perspektive die verschiedenen Sinnschichten des kulturellen Alltagslebens sowie die sozialen Praktiken von Jugendlichen beschreiben (vgl. Breidenstein et al. 2013) oder in einer wissenssoziologischen Variante (vgl. Bohnsack 2017) aus Gruppendiskussionen oder Interviews die kollektiven oder individuellen habituellen Orientierungen von Jugendlichen herauszuarbeiten suchen (vgl. Krüger et al. 2012, 2016). Auf einer persönlichkeitstheoretischen Ebene wurde das in der Jugendforschung seit den 1980er Jahren entwickelte Konzept vom Jugendlichen als aktivem Gestalter seiner materiellen Umwelt inzwischen in sozialkonstruktivistischen Theorielinien (vgl. Grundmann 2006, S. 38) oder in den aktuellen internationalen theoretischen Diskursen um das Agency-Konzept weiter ausdifferenziert und präzisiert. Theoretisch beziehen sich die gegenwärtigen Diskussionen auf ein Verständnis von Agency, das Handlungsfähigkeit nicht als internes Vermögen des Selbst fasst, sondern dessen Eingebundenheit in soziale Interaktionen und materielle Settings betont (vgl. Moran-Ellis 2014, S. 176). Auch wenn die aktuelle Theorielandschaft somit durch ein plurales Nebeneinander von Theorieangeboten gekennzeichnet ist und die Zeit für die Formulierung von „großen Theorien“ vorbei zu sein scheint, sollte man zukünftig zumindest doch Brückenkonzepte entwickeln, die in der Lage sind, mehrere Analyseebenen des Gegenstandsfeldes Jugend in den Blick zu nehmen und die anschlussfähig an die zentralen theoretischen Diskurse in den an der Jugendforschung beteiligten Fachdisziplinen der Erziehungswissenschaft, der Soziologie und der Psychologie sind (vgl. Krüger 2019). So könnten praxistheoretische Konzepte als geeigneter metatheoretischer Konvergenzpunkt fungieren, da sie darauf abzielen gesellschaftliche Strukturbedingungen, soziale und kulturelle Praxen und Prozesse der Subjektbildung in ihrem Zusammenhang dialektisch zu fassen (vgl. Giddens 1995; Bourdieu 1993). Vor diesem Hintergrund ließen sich gesellschaftstheoretische Ansätze aus der Bourdieu Tradition, mikrosoziologische praxeologische Theorielinien und sozialkonstruktivistische persönlichkeitstheoretische Ansätze verknüpfen und gleichzeitig könnten damit die gesellschaftlichen Bedingungen, die sozialen Interaktionen und kulturellen Praxen sowie darin eingewoben die Herausbildung und Entwicklung von Handlungsfähigkeiten von Jugendlichen theoretisch gefasst und empirisch untersucht werden.

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2.2 Ausdifferenzierung methodischer Ansätze und Verfahren sowie der Bedarf an komplexen Forschungsdesigns Im Bereich der methodologischen Begründungen und der praktischen Umsetzung quantitativer und qualitativer methodischer Zugänge sind in den vergangenen drei Jahrzehnten in der Jugendforschung enorme Fortschritte gemacht worden. Im Feld der quantitativen Jugendforschung wurden inzwischen eine ganze Reihe nationaler Jugendsurveys mit immer größeren Stichproben und unter Berücksichtigung umfassenderer Alterspannen (vgl. z. B. Rauschenbach und Bien 2012) sowie eine Vielzahl von Längsschnittstudien (vgl. zusammenfassend Butz und Gaedicke 2001; Blossfeld et al. 2019) durchgeführt. Auch in der qualitativen Jugendforschung wurden in den vergangenen Jahrzehnten in einer Vielzahl von Projekten das gesamte Spektrum an qualitativen Erhebungsinstrumenten von der teilnehmenden Beobachtung über verschiedene Formen von Interviews, Gruppendiskussionen bis hin zur Videographie erprobt. Zudem wurden die zentralen inzwischen sehr elaborierten verschiedenen Auswertungsverfahren wie z. B. das narrationsstrukturelle Verfahren, die Dokumentarische Methode oder die Objektive Hermeneutik eingesetzt und in jüngster Zeit auch einige qualitative Längsschnittuntersuchungen realisiert (vgl. Kramer et al. 2013; Krüger et al. 2012, 2016b, 2018). Ein Nachholbedarf besteht in der quantitativen Jugendforschung jedoch im Unterschied zur Schulforschung noch im Hinblick auf Studien, die das komplexe Verfahren der Mehrebenenanalyse nutzen, das es ermöglicht die Einflüsse von gesellschaftlichen und institutionellen Kontextvariablen und Individualvariablen auf ein zu untersuchendes Phänomen gleichzeitig in den Blick zu nehmen. Im Gegensatz dazu sind in der qualitativen Jugendforschung inzwischen komplexe mehrebenenanalytische Auswertungsverfahren (vgl. etwa Nohl 2013) und Forschungsdesigns entwickelt worden, die verschiedene qualitative Methoden wie Dokumentenanalysen, ethnographische und biographische Verfahren oder Gruppendiskussionen verbinden, um auf diese Weise die komplexen Zusammenhänge zwischen institutionellen Strukturen und biographischen Entwicklungen oder kollektiven Orientierungen von Gruppen herausarbeiten zu können (vgl. etwa Helsper et al. 2018; Krüger et al. 2018). Ein weiteres Defizit besteht in der Jugendforschung zudem im Hinblick auf Studien, die quantitative und qualitative methodische Zugänge in zeitlich sequenziell angelegten Phasenmodellen miteinander verbinden (vgl. Helsper et al.

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2006), um auf diese Weise z. B. eine qualitativ herausgearbeitete Typologie von biographischen Orientierungen in einem zweiten Schritt mithilfe quantitativer Verfahren auf ihre Verteilung nach Häufigkeiten zu untersuchen. In der Jugendforschung wird eine Triangulation quantitativer und qualitativer Verfahren zwar häufig eingefordert, aber oft nur in additiver Form eingelöst, etwa in den Shell Jugendstudien, wo biographische Porträts unvermittelt neben quantitativen Ergebnissen stehen.

2.3 Zwischen Risikoforschung und internationalem Forschungsbedarf Welches sind nun die relevanten thematischen Felder, die in der Jugendforschung in den vergangenen Jahrzehnten mehr oder weniger kontinuierlich bearbeitet worden sind? Dabei würde ich in Weiterführung und Zuspitzung von ähnlichen Systematisierungsvorschlägen von Nora Gaupp und Christian Lüders (2015) sowie Nicolle Pfaff (2015) vier Forschungslinien unterscheiden. Ein erster Themenschwerpunkt der Jugendforschung wird durch eine Reihe von Studien repräsentiert, die die Frage nach der sozialen und politischen Integration der Jugend in den vergangenen Jahrzehnten ins Zentrum der Analyse gerückt haben (vgl. etwa Helsper et al. 2006). Vor allem im Gefolge der deutschen Vereinigung hatten Studien zu politischen Orientierungen von Jugendlichen im Ost-West-Vergleich eine Konjunktur (vgl. etwa HoffmannLange 1995), die leider im letzten Jahrzehnt kaum fortgeführt wurde. Eine weitere Forschungslinie, die sich mit der Integrationsproblematik von Jugendlichen auseinandersetzt, bildete sich bereits in den 1980er Jahren im Kontext der Migrationsforschung heraus. Während die Diskussion in dieser Zeit noch stark durch eine Defizitperspektive geprägt war, indem eine behauptete bzw. beobachtete Traditionalität von Familien und Heranwachsenden mit Migrationshintergrund vor allem als Integrationshemmnis angesehen wurde (vgl. Gogolin und Krüger-Potratz 2012), wurden seit den 1990er Jahren eine Reihe von quantitativen und qualitativen Studien zu den Biographieverläufen, interethnischen Freundschaftsbeziehungen oder kulturellen Ausdrucksformen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund durchgeführt, die Migration im Spannungsfeld von Risiken und Ressourcen und ethnische Zugehörigkeit im Spektrum von Selbst- und Fremdzuschreibungen betrachten (vgl. etwa King und Koller 2015; Nohl 2001). Ein zweites zentrales Themenfeld in der Jugendforschung stellt die Jugendkulturforschung dar, die sich mit den kulturellen und medialen Praxen von

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Jugendlichen in Szenen und Peerkontexten beschäftigt und bereits in den 1980er Jahren einen ersten Höhepunkt erlebte (vgl. Baacke 1987; Breyvogel und Krüger 1986; Zinnecker 1987). Neben detaillierten Fallstudien zu einzelnen jugendkulturellen Szenen (vgl. etwa zu muslimischen Jugendlichen von Wensierski 2015), gibt es szenevergleichende Untersuchungen (vgl. Eisewicht et al. 2016) oder umfassendere Überblicke über das Spektrum jugendkultureller Stile (vgl. Richard und Krüger 2012). Daneben gewinnt vor dem Hintergrund der Digitalisierung jugendlicher Lebenswelten die Frage nach den vielfältigen medialen Praxen von Jugendlichen zunehmend an Relevanz (vgl. Authenrieth und Neumann-Braun 2016). Mediennutzung wird als Bildungsprozess im Sinne der Aneignung von Medienkompetenz (vgl. Grunert 2012) oder als informeller Lernprozess (vgl. Krüger 2016) analysiert. Ferner wird gefragt, wie neue Formen der Identitätsdarstellung in sozialen Netzwerken aussehen (vgl. Vogelgesang 2010) oder wie sich jugendkulturelle Szenen im Internet inszenieren (vgl. Richard 2015). Ein dritter inhaltlicher Schwerpunkt in der Jugendforschung ist die sogenannte Risikoforschung. Diese hat in der Jugendforschung mit Studien zum Gewalthandeln und deviantem Verhalten von Jugendlichen eine lange Tradition, die kontinuierlich fortgeschrieben wird (vgl. etwa Fuchs und Schmalz 2010). Andere Themen wie psychische oder somatische Störungen (vgl. Hackauf und Olbrecht 2010) oder gesundheitliches Verhalten (vgl. Kolip et al. 2013) erfuhren erst mit dem Ausbau der Gesundheitsforschung im vergangenen Jahrzehnt eine verstärkte Aufmerksamkeit (vgl. Gaupp und Lüders 2015, S. 70). Daneben hat sich in der Jugendforschung im vergangenen Jahrzehnt vor allem im Gefolge der PISA-Debatte ein vierter thematischer Schwerpunkt herausgebildet, bei dem die Analyse von Bildungskarrieren und -prozessen in Schule, Beruf, Studium und außerschulischen Lernwelten sowie an den Übergängen zwischen diesen Bildungsbereichen im Zentrum stehen. Untersucht wurden dabei Schülerbiographien (vgl. etwa Kramer et al. 2013; Helsper et al. 2018), die Relevanz von Peerbeziehungen für schulische Bildungsverläufe (vgl. Krüger et al. 2012, 2016), die Auswirkungen des Ausbaus von Ganztagsschulen auf das Peer- und Freizeitleben von Jugendlichen (vgl. Kanevski und von Salisch 2013), informelle Lernprozesse in der Jugendarbeit von Kommunen, Vereinen und Verbänden (vgl. im Überblick Grunert 2012) bzw. Jugendkulturen (vgl. Pfadenhauer und Eisewicht 2015) oder Übergänge von der Schule in den Beruf (vgl. Lex und Zimmermann 2011). In den nun auf der Basis des Nationalen Bildungspanels (vgl. Blossfeld et al. 2019) möglichen quantitativen Studien oder in rekonstruktiven Untersuchungen zu den schulischen, nachschulischen und außerschulischen Bildungsverläufen werden damit zugleich Verbindungslinien

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zwischen der Jugendforschung auf der einen Seite und der Schul-, Hochschulund Jugendhilfeforschung auf der anderen Seite hergestellt. Welche inhaltlichen Herausforderungen zeichnen sich vor dem Hintergrund der hier nur in sehr groben Linien skizzierten Forschungsbilanz ab? Erstens wird die bildungsbezogene Jugendforschung angesichts des aktuellen Umbaus des Bildungswesens, der durch gleichzeitige Trends zu einer vertikalen Hierarchisierung der Bildungsgänge, etwa durch die Expansion privater Grundschulen, Prime Gymnasien, Internationaler Schulen oder Eliteuniversitäten auf der einen Seite und durch eine Öffnung, etwa durch die Etablierung von teilintegrierten Schulsystemen, den weiteren Ausbau von Ganztagsschulen oder durch die Inklusion von Sonderschülerinnen und Sonderschülern ins Regelschulsystem auf der anderen Seite gekennzeichnet ist, weiterhin Konjunktur haben (vgl. Krüger und Helsper 2014). In diesem Zusammenhang stellt sich zum einen die Frage, wie sich die distinktiven Absetzbewegungen zwischen den Bildungsinstitutionen auf das Bildungswahlverhalten und die Bildungsorientierungen von Jugendlichen und ihren Eltern auswirken. Zum anderen müsste untersucht werden, welche Folgen die Inklusion von beeinträchtigten Heranwachsenden in das Regelschulsystem auf das Zusammenleben und den Alltag von Jugendlichen innerhalb der Schule und in ihren Freizeit- und Peerwelten sowie im Familienleben hat. Darüber hinaus fehlen in der Jugendforschung insgesamt Studien zu den Lebenslagen und Lebensentwürfen von Jugendlichen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen (vgl. Gaupp und Lüders 2015, S. 74). Auch wurde in der Jugendforschung bislang der Wandel von Familienformen und Eltern-Jugendlichen-Beziehungen zwar inzwischen umfassender untersucht ­ (vgl. etwa Ecarius 2015, 2016). Qualitative Studien zur Familie als Bildungsort sind aber immer noch eher ein Desiderat (vgl. als Ausnahme Brake und Büchner 2006). Mit der Frage nach den Folgewirkungen von neuen Inklusions- und Exklusionsprozessen ist zweitens die Herausforderung verbunden in der Jugendforschung noch stärker das Thema soziale Ungleichheit in den Blick zu nehmen. Diese Auswirkungen betreffen nicht nur die ungleichen Bildungs- und Arbeitsmarktchancen von Jugendlichen oder die Frage, wie Heranwachsende mit der Bewältigung von Armut und Arbeitslosigkeit etwa in Harz IV-Familien umgehen (vgl. Heitmeyer et al. 2011). Vielmehr stellen die aktuellen Entwicklungen auch die politische Integrationsbereitschaft von Teilen der jungen Generation infrage. Obwohl die gegenwärtigen Trends hin zu einer Verstärkung rechtspopulistischer Bewegungen in Deutschland und Europa nicht primär ein Jugendproblem bzw. nicht nur eine Protestbewegung benachteiligter Bevölkerungsgruppen sind, so sollten dennoch auch von der Jugendforschung neue Initiativen ausgehen,

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rechtspopulistische Orientierungen in quantitativen Surveys alterskohortenvergleichend zu untersuchen oder in qualitativen Studien die medialen Vernetzungen und politischen Ausdrucksformen von rechtspopulistischen Szenen wie etwa der „Identitären Bewegung“ genauer in den Blick zu nehmen (vgl. im Überblick Millbradt 2018). Eine dritte Herausforderung ergibt sich für die Jugendforschung aus der sich für die nächsten Jahrzehnte abzeichnenden demografischen Entwicklung. Auch wenn die bisherigen Prognosen zum Bevölkerungsschwund und zum Rückgang der Anteile an Kindern und Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung aufgrund aktuell wieder steigenden Geburtenraten und der kriegs- und armutsbedingten Zuwanderung wohl deutlich nach oben korrigiert werden müssen (vgl. Arbeitsgruppe Bildungsberichterstattung 2018, S. 4), wird zukünftig das Problem der Abwanderung aus spezifischen ökonomisch abgehängten Krisenregionen oder aus ländlichen Räumen weiterhin bestehen bleiben. Diese Entwicklung hat bereits jetzt und wird zukünftig noch stärker zum Rückbau der Bildungs- und Jugendhilfeeinrichtungen auch etwa im Bereich der Jugendarbeit führen, deren Folgewirkungen für die Bildungs- und Freizeitmöglichkeiten von Jugendlichen noch genauer zu untersuchen sind. Eine vierte Herausforderung für die gegenwärtige Jugendforschung stellt die Analyse der Folgewirkungen einer entfesselten Weltgesellschaft dar. Diese müsste vor diesem Hintergrund stärker transnational bzw. international vergleichend angelegt und das bislang auch in der Jugendforschung dominante Paradigma des „methodologischen Nationalismus“ (Beck und Beck-Gernsheim 2007) überwinden. Zwar sind im letzten Jahrzehnt einige Studien zu den Lebenslagen und kulturellen Praxen von Jugendlichen in Europa oder in anderen Weltregionen durchgeführt worden (vgl. du Bois-Reymond 2010; Villányi und Witte 2004). Trotzdem muss man feststellen, dass die transnational orientierte Jugendforschung in Deutschland nur schwach entwickelt ist. Finanzierungsprobleme, sprachlich-kulturelle Verständigungsprobleme und ungeklärte methodologische Fragen erweisen sich oft als Hemmnisse. Zukünftig sollten zudem Fragestellungen und theoretische Perspektiven der Migrationsforschung und der international vergleichenden Jugendforschung stärker aufeinander bezogen werden. In diesem Zusammenhang sollten nicht nur die Risikolagen von jungen Geflüchteten in Deutschland (Lechner und Huber 2017) oder anderen Weltregionen untersucht werden. Vielmehr sollten auch die zusätzlichen Chancen, die sich aus dem Leben in mehreren Ländern etwa für Jugendliche aus sozial privilegierten Milieus für transnationale Bildungs- und Berufskarrieren ergeben, in den Blick genommen werden (vgl. Keßler und Krüger 2018).

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Jugendforschung in Deutschland – aktuelle Bilanz und zukünftige …

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Jugendbiographische Herausforderungen in der späten Moderne Anja Schierbaum und Tobias Franzheld

Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag greift die biographischen Herausforderungen in der Adoleszenz auf und diskutiert deren Bedeutung in der späten Moderne. Ausgehend von einer Skizze spätmoderner Lebensverhältnisse und wie diese das Jugendalter beeinflussen, wird das Konzept der Entwicklungsaufgaben zur Beschreibung jugendlicher Entwicklung auf die sich verändernden sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen hin befragt und herausgearbeitet, wie sich jugendbiographische Herausforderungen an eine spätmoderne Jugend in widersprüchlichen Zeiten des Aufwachsens verändern. Auch wenn die Orientierung am ‚normalbiographischen‘ Lebensverlauf im Zuge des gesellschaftlichen Individualisierungs- und Transformationsprozesses obsolet zu werden scheint, sind kulturelle Normen und Entwicklungsanforderungen vorgegeben, die mehr oder weniger Gestaltungsspielräume für biographische Entwicklung lassen. Sie bilden eine Art Landkarte, anhand derer sich Heranwachsende auf dem Weg durch die Jugendbiographie orientieren.

A. Schierbaum (*)  Universität zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Franzheld  Universität Koblenz-Landau, Koblenz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Fuchs et al. (Hrsg.), Jugend, Familie und Generationen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24185-8_3

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Schlüsselwörter

Jugend in der späten Moderne · Jugendbiographische Herausforderungen ·  Entwicklungsaufgaben · Biographische Entwicklung · Spätmoderne Lebensverhältnisse

1 Jugend in der späten Moderne Was sind die Kennzeichen der Spätmoderne, die auch das Jugendalter beeinflussen? Migration, Populismus, soziale Ungleichheit, Wohlstandmehrung, Klimawandel, Wiederaufrüstung; demographischer Wandel; Globalisierung; neue Technologien; Nachhaltigkeit, Verantwortung für die Umwelt und Protestkultur; Landflucht und Urbanisierung; Stadtgärtnern und Veganismus sind nur einige Chiffren aktueller Lebensverhältnisse, in der die Welt zunehmend „ökonomisch und technisch verfügbar, wissenschaftlich erkennbar und beherrschbar, rechtlich berechenbar, politisch steuerbar und zugleich alltagspraktisch kontrollierbar und erfahrbar“ (Rosa 2018, o. S.) wird. Die damit verbundenen Steigerungs- und Dynamisierungsprozesse wirken in allen Lebensbereichen der spätmodernen Gegenwartsgesellschaft und markieren deutliche Unterschiede in der Lebensführung zu vergangenen Zeiten: „Es geht nicht mehr, wie in der einfachen Moderne, nur um die Frage, ob und wie ich das gesellschaftlich Erreichbare auch erreichen kann, sondern immer mehr darum, wie ich mich verorte, dass ich irgendwie handlungsfähig bleibe, mich sozial behaupten kann“ (Böhnisch und Schröer 2008, S. 49). Die Bedingungen des Aufwachsens haben sich durch den globalen sozialen Wandel grundlegend verändert: Es dominieren Diskurse des Optimierens, der Selbstökonomisierung und Selbstvermarktung bei flexibler Anpassung (vgl. Duttweiler 2016, S. 27; Ecarius et al. 2017, S. 33), der Entgrenzung des gesellschaftlichen Umfeldes (vgl. Böhnisch und Schröer 2008) und der Entfremdung (vgl. Rosa 2016). Stets für Neues und Besseres offen zu sein, sich immer wieder in biographisch übergreifenden sozialen Umwelten zu bewähren, sich situativ und flexibel auf das Eigene zu konzentrieren und sich immer wieder an neue Möglichkeiten und Herausforderungen anzupassen, sind die normativen Anforderung an die Gestaltung eines eigenen Lebensentwurfs im Rahmen dieser Lebensbedingungen (vgl. Ecarius et al. 2017, S. 33). Auch Heranwachsende im Jugendalter können sich der qualitativen Veränderung der sozialen Wirklichkeit nicht entziehen und sind gezwungen, ihr Leben an neuen Leitprinzipien auszurichten. Bei Ecarius et al. (2017) heißt es: „Heranwachsende sind aufgefordert, sich in einer spätmodernen und komplexen Welt zurechtzufinden,

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ein situatives Selbst oder eine Subjekthaftigkeit […] zu entfalten, in allen Lebensbereichen eigenverantwortlich das Leben zu gestalten und in der Bearbeitung von Passungsverhältnissen zwischen Freunden, Familie und Schule mehr oder weniger je nach Lebensbereich zeitlich versetzt ‚erwachsen‘ zu werden“ (ebd., S. 7). Aus einer Perspektive auf spätmoderne Lebensverhältnisse lässt sich kein einheitliches Bild von Jugend mehr zeichnen. Jugend folgt längst keinem festen Zeit- und Fahrplan mehr, sie dehnt sich mehr und mehr aus, ist weder eine Phase der Transition noch des Moratoriums, scheint längst nicht mehr an starke Altersnormierungen gebunden zu sein und verlaufe auch längst nicht mehr entlang der „klassischen Sequenzen Abschluss der Ausbildung, Beginn einer Berufstätigkeit, Heirat und Familiengründung“ (Ecarius 1996, S. 11). Jugend könne aufgrund von Pluralisierung, De- und Restandardisierung sich verändernder Zeiterfahrungen kaum noch als Übergangszeit zwischen Kindheit und Erwachsenenalter vereinheitlicht werden (vgl. Ecarius et al. 2017, S. 7). Jugend folgt, so die These, in der späten Moderne widersprüchlichen Logiken und verlangt fortwährend nach Stellungnahmen, sich immer wieder auf Neues einzustellen (vgl. King und Busch 2012; Rosa 2016). Heranwachsende stehen insofern vor der Herausforderung, spätmoderne Lebensverhältnisse und psychosoziale Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse aufeinander abzustimmen bzw. diese (neuen) Lebensbedingungen mit den zentralen Bewährungsaufgaben an eine selbstbestimmte Lebensführung in den Bereichen Familie, Beruf und Gemeinwohl (vgl. Oevermann 2004) zu arrangieren. Insbesondere, weil sich die Lebensbereiche von Jugendlichen zunehmend ausdifferenzieren und auch miteinander konkurrieren, werden unterschiedliche Bewährungsdynamiken zwischen ihnen freigesetzt. Das heißt auch, dass sich Jugend vor dem Hintergrund einer neoliberalen Umordnung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Strukturen zu einem offenen Ermöglichungsraum wandelt, in dem sich spezifische, neu auszuhandelnde und zu organisierende Bedingungen und Selbstverwirklichungsansprüche spiegeln und Heranwachsende mit der Notwendigkeit des permanenten Lernens und der Arbeit an sich selbst konfrontiert sind (vgl. Ecarius et al. 2017, S. 33). Wie Heranwachsende Jugend als Ermöglichungsraum aktiv nutzen und sich mit den Folgen spätkapitalistischer Systeme auseinandersetzen wird im Folgenden ganz plastisch illustriert: In einer Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung im Februar 2019 heißt es, „man hat ja übrigens schon ermüdend viel über die ‚Generation Selfie‘ gehört: selbstverliebt, handysüchtig, unpolitisch. Wie falsch das ist, zeigt sich in diesen Monaten. Junge Leute sind so politisch wie lange nicht. Und das ist nicht nur ein anekdotischer Eindruck

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der Protestaktionen, sondern Ergebnis empirischer Forschung“ (Stremmel 2019, S. 45). Soziales Engagement und gesellschaftliche Partizipation, beides Herausforderungen, die im mittleren und späten Jugendalter an Bedeutung gewinnen, zielen auf ein Hineinwachsen in größere soziale Gemeinschaften und die aktive Mitgestaltung der eigenen sozialen Lebensbedingungen. Daran sind offene Zukunftsentwürfe gesellschaftlicher Veränderungen gebunden, die Heranwachsende auffordern, sich zu positionieren und einen eigenen Standpunkt einzunehmen. Die 17. Shell-Jugendstudie, die die Jugend von heute als „pragmatische Generation im Aufbruch“ (Shell Deutschland Holding 2015, S. 375) beschreibt, verdeutlicht, dass das Politikinteresse heranwachsender Mädchen und Jungen zunehmend steigt, die sich mit der starken Herausforderung nach Selbstverantwortung und Beteiligung an Angelegenheiten der sozialen Gemeinschaft auseinandersetzen. Im Jahr 2002 notiert die Shell-Jugendstudie zu den Fragen „Interessieren Sie sich ganz allgemein für Politik? Würden Sie sagen, Sie sind stark interessiert?“ einen Wert von 30 %. Im Jahr 2015 sind 41 % der 12- bis 25-Jährigen politisch interessiert und beteiligen sich an politischen Aktionen wie beispielsweise dem weltweiten Freitagsschulstreik, der im August 2018 von der 16-Jährigen Greta Thunberg für Klimaschutz gestartet wurde. Bundesweit gab es mit Berufung auf das Vorbild der Schwedin und unter dem Motto „Fridays for Future“ bisher in über 50 Städten Kundgebungen, an denen sich hunderte SchülerInnen beteiligten – begleitet von einem nicht unerheblichen Medienecho. Politisches und ehrenamtliches Engagement und neue Aufmerksamkeiten für gesellschaftliche und politische Belange steigen in dieser Altersgruppe an, dies zeigt neben der Shell-Jugendstudie auch der 15. Kinder- und Jugendbericht (BMFSFJ 2017): Jeder Vierte habe bereits an einer Demonstration teilgenommen, 10 Prozent der Jugendlichen engagiere sich in einer Bürgerinitiative (vgl. Shell Deutschland Holding 2015) und die 14- bis 19-Jährigen sind diejenigen, die ehrenamtlich in Vereinen, der Schule, in der Kirchgemeinde, bei Rettungsdiensten oder der Freiwilligen Feuerwehr aktiv sind (BMFSFJ 2017, S. 235). Jugendliche interessieren sich wieder mehr für politische und gesellschaftliche Themen wie Klimaschutz, Fremdenfeindlichkeit und Zuwanderung, Terrorgefahr und Krieg. Sie wollen an Gestaltungsprozessen mitwirken (vgl. Shell Deutschland Holding 2015) und nicht untätig zusehen, wie die ‚Alten ihnen die Zukunft wegnehmen‘. Wichtig sind der jungen Generation aber nicht nur politische Themen, sondern auch ein stabiles Wertesystem in den Bereichen Freundschaften, Partnerschaft und Familie: Die eigene Familie ist nach wie vor für Heranwachsende von hohem Wert, sie ist behilflich bei der Organisation des Alltags (vgl. Ecarius et al. 2017, S. 36) und schafft Angebote und Möglichkeiten zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Obwohl andere Familienformen

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immer häufiger werden, wachsen 69 % der Kinder und Jugendlichen weiterhin in Familien mit verheirateten Eltern auf (vgl. BMFSFJ 2017, S. 206). Mehr als 90 % geben an, ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern zu haben, 72 % der Jugendlichen sagen von sich, ein gutes Familienleben zu führen und Dreiviertel würde die eigenen Kinder so erziehen, wie sie selbst erzogen wurden. Bedeutend sind aber auch gute Freunde (89 %), um über Alltagsprobleme zu sprechen, und auf Vertrauen basierende Partnerschaften (72 %) für den notwendigen Rückhalt auf dem Weg durch die Jugendbiographie (vgl. Shell Deutschland Holding 2015, S. 15, 28). Auch Ecarius et al. (2017) betonen den Bedeutungszuwachs von Familie: Im Mittelpunkt steht jedoch nicht mehr die Abgrenzung aufeinanderfolgender Generationen, sondern Familie wird stattdessen zum Ort, an dem „familiale Beratung und jugendliches Wohlbefinden ineinanderfließen“ (Ecarius et al., S. 9). Gleichzeitig spielen für Jugendliche Bildungs- und Berufsaspirationen sowie gestiegene Ansprüche an einen Arbeitsplatz eine starke Rolle: Jugendliche sind bis weit in die dritte Lebensdekade hinein durch Schule, Berufsvorbereitung, Ausbildung und/oder Studium im formalen Bildungssystem eingebunden (98,5 % aller 16-Jährigen (2014); 83,8 % der 18-Jährigen und 56,6 % der 21-Jährigen) (vgl. BMFSFJ 2017, S. 147). Angebote der schulischen und beruflichen Bildung werden systematisch als Ausgleich zu Benachteiligungen und sozialer Ausgrenzung ausgebaut (vgl. ebd., S. 10). Der Bildungstrend zeigt in Richtung Höherqualifizierung (vgl. ebd., S. 156): Auszubildende und Studierende arbeiten sich an neuen Möglichkeiten und Herausforderungen einer spätmodernen Lebensführung ab und setzen beruflichen Erfolg als Maßstab für ein ‚glückliches‘ Leben. Rund vier Fünftel der Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind sich sehr sicher, sich ihre eigenen beruflichen Wünsche erfüllen (vgl. Shell Deutschland Holding 2015, S. 14) und Schritt für Schritt das Bestmögliche unter den gegebenen Voraussetzungen erreichen zu können (vgl. Duttweiler 2016, S. 27). Gleichzeitig ist für 95 % der Jugendlichen ein ‚sicherer‘ Arbeitsplatz sehr wichtig. Sie wünschen sich Berufe mit anspruchsvollen Tätigkeitsprofilen, die sich mit ihrer Vorstellung von Familie und Familienleben und ihren Maßstäben an ein ‚glückliches‘ und ‚gesundes‘ Leben vereinbaren lassen (vgl. Shell Deutschland Holding 2015, S. 16; BMFSFJ 2017, S. 272). Der empirische Blick auf die Lage der Jugend zeigt deutlich die Veränderungen spätmoderner Lebensverhältnisse in Relation zu und als Anforderung an eine selbstbestimmte Lebensführung von Heranwachsenden, die sich in Bewährungsdynamiken von Familie, Beruf und Gemeinschaft niederschlagen und Jugendliche zu situativen Anpassungsleistungen auffordern. In gesellschaftliche Strukturen übersetzt, und auch politisch gewollt, wird Heranwachsenden durch eine Verlängerung der Schulpflicht, den Ausbau des Bildungssystems, ein Mehr

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an Entscheidungs- und Wahlmöglichkeiten und qualitativer Freiheit, sowie durch die Steigerung von Konsumorientierung und der Partizipation an gesellschaftlichen Belangen zunehmend ein eigenes Leben zugestanden (vgl. Ecarius et al. 2017, S. 12). Zugleich sind Jugendliche „angehalten, frühzeitig mit der eigenen Person und eigenen Lebensentwürfen zu experimentieren und dies in eigener Regie und unter Nutzung verinnerlichter Selbstzwänge“ (Zinnecker 1987, S. 325). Insofern haben sich zwar die Bedingungen zur Entfaltung von Jugend deutlich verändert, dennoch werden sie in denen für Jugendbiographien typischen Entwicklungs- und Bewährungsaufgaben verhandelt und fortgeschrieben. Partnerschaft und Familie, Bildung und Arbeit, Politikinteresse und gesellschaftliche Partizipation bleiben entscheidende Themen (Schierbaum 2018; Hurrelmann und Quenzel 2016), die auch den Weg durch eine spätmoderne Jugendbiographie kennzeichnen.

2 Herausforderungen im Jugendalter – Theoretische Positionen und aktuelle Befunde Das Konzept der Entwicklungsaufgaben ermöglicht einen sinnvollen Zugang, aber auch Anschlussmöglichkeiten, die Bedingungen spätmoderner Lebensverhältnisse mit einer biographischen Perspektive auf Jugend zu verbinden, sie gewissermaßen an einer ‚biographischen Entwicklung‘ (Garz 2000)1 abzutragen. Den Entwicklungsgedanken prägen zunächst gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen und Erwartungshaltungen, die der biographischen Entfaltung des Lebenslaufs Normen und Ziele als ‚Entwicklungsstandards‘ vorgeben. Biographische

1Der

Entwicklungsbegriff, wie ihn auch Garz (2000) vorschlägt, berücksichtigt sich in der Zeit vollziehend, die Auseinandersetzung mit signifikanten Anderen, die Entstehung von Strukturen und gleichermaßen die gesellschaftliche Integration wie auch autonome Urteils- und Handlungsfähigkeit des sich verändernden Subjekts (vgl. ebd., S. 8). Die genannten Merkmale, die Entwicklung kennzeichnen, werden bereits von Bühler (1962) herausgearbeitet. Bei ihr heißt es „jeder Mensch weiß, was Entwicklung ist: die parallel zum kindlichen Wachstum ablaufende Aufeinanderfolge und regelhaftes Auftreten gewisser Leistungen und Verhaltensweisen, die im allgemeinen bei einem Durchschnittsalter zu erwarten sind, und jeder Mensch weiß auch, dass die Entwicklung durch Einwirkungen der Umwelt beeinflusst werden kann. Sie mag beschleunigt werden durch Vorbild und Belehrung; sie kann verlangsamt sein, wenn vom Kinde zu wenig verlangt wird oder es in anderer Weise am Fortschritt gehindert wird. Und schließlich zeigen Kinder von Geburt an gewisse individuelle Unterschiede oder individuelle Differenzen, denen zufolge sie sich in verschiedenem Tempo und nach verschiedenen Richtungen hin entwickeln“ (Bühler 1962, S. 92 zitiert nach Garz 2000, S. 12 f.).

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­ ntwicklung bedeutet grundsätzlich „die permanente Auseinandersetzung eines E aktiven Subjekts sowohl mit einer aktiven äußeren Natur als auch mit einer nicht minder aktiven Gesellschaft“ (ebd., S. 15). Diese beschriebene Auseinandersetzung bezieht sich sowohl auf das aktive Subjekt als auch auf die normativen Erwartungen und Zielvorgaben der Gesellschaft im Spannungsverhältnis von Stabilität und Veränderung, Suche und Kompromissbildung, Optimierungsbestrebungen und sozialer Ungleichheit. „Wir unterstellen ein aktives Subjekt, das von sich aus, den Zugang zur Welt herbeiführt“ (ebd., S. 17), so Garz, sich dabei an Normen und Werten der unmittelbaren Umgebung orientiert und mit der Auseinandersetzung gesellschaftliche Mitgliedsrollen einübt. Entwicklung heißt aber auch, sich mit Problemen, Krisen und Entscheidungen auseinanderzusetzen, was wiederum zweierlei bedeutet: „Die Gelegenheit, etwas zu gewinnen sowie etwas zu verlieren. Und nur wenn wir uns in unserem ‚Projekt des Lebens‘ damit zurechtfinden, sowohl Neues zu wagen wie Altes aufzugeben, können wir uns entwickeln“ (Kegan 1994, S. 10). Die normativen ‚Standards‘2 der biographischen Entwicklung im Jugendalter sind am deutlichsten im Modell der Entwicklungsaufgaben – dem wohl ‚prominentesten Konzept‘ zur Beschreibung jugendlicher Entwicklung (vgl. Reinders 2002, S. 13) – ausgearbeitet worden: Jugendliche haben in diesem Ansatz spezifische Herausforderungen zu bewältigen – sie müssen sich bewähren, positionieren und performativ auf Veränderungen in den Bereichen Familie, Beruf und Gemeinschaft reagieren. Auch wenn Entwicklungsaufgaben dem Aufwachsen Ziele und Normen vorgeben, geht es nicht nur um die Frage, wie sich diese Ziele erreichen lassen, sondern im Rahmen ihrer Bewältigung auch darum herauszufinden, wie man sich zu ihnen positioniert und sie eigenhändig modifiziert (Böhnisch und Schröer 2008, S. 50).

3 Havighursts Modell der Entwicklungsaufgaben Das Modell der Entwicklungsaufgaben beschreibt die Entwicklung Heranwachsender im Jugendalter, die sich Havighurst als „einen Übergang von der kleinen in die größer werdende Welt“ (Trautmann 2004, S. 26) vorstellt. Er

2Mit

normativen ‚Standards‘ sind die Entwicklungsnormen angesprochen, die als gegeben angenommen werden und als ‚Quasi-Aggregat‘ aus der Erfahrung mit dem, was Heranwachsende als Gesellschaft interpretieren, resultieren können (vgl. Reinders 2002, S. 30). Die normativen ‚Standards‘ zielen aber auch auf die Entwicklungserwartungen, die von der Familie, Schule und Peers an Heranwachsende als „Normen der älteren Generation“ (ebd., S. 32) herangetragen werden.

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beleuchtet die Bewältigung von jugendspezifischen Aufgaben, die es zu erfüllen gilt, um „den Status eines Erwachsenen zu erlangen“ (Havighurst 1959, S. 80). Havighursts Stufenbeschreibung der Entwicklung entstand in den 1940er Jahren und genießt in der aktuellen erziehungswissenschaftlichen, psychologischen und soziologischen Jugendforschung eine nahezu ‚ungebrochene Popularität‘ (Reinders 2002). Havighurst (1972) greift den psychosozialen Ansatz und die Stufentheorie der Identitätsentwicklung von Erikson auf, sowie die darin festgelegte Dynamik zwischen Krisen und ihrer Bewältigung. Er beschreibt Entwicklung als alterstypischen und selbstregulativen Prozess, in dem zu bestimmten biographischen Zeitpunkten Entwicklungsaufgaben auftreten und bewältigt werden. Die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben, die für Havighurst mit gesellschaftlichen Zielvorgaben und den Lebensverhältnissen der amerikanischen Mittelstandsgesellschaft der 1940er Jahre in Verbindung stehen, sind als Interaktionsdynamik von Heranwachsenden (als aktiv Lernende) mit ihrer sozialen Umwelt und insofern als ein kontinuierlicher und unabgeschlossener Lernprozess beschrieben worden (vgl. Reinders 2002, S. 15; Schierbaum 2018, S. 58 ff.). Havighurst benennt vier für das Jugendalter und den ‚normalbiographischen Lebensvollzug‘ spezifische Entwicklungsaufgaben: I) Aufbau neuer und reiferer Beziehungen zu Gleichaltrigen, II) Herstellung emotionaler Unabhängigkeit von Eltern und anderen Erwachsenen, III) Vorbereitung auf und Anforderungen an Erwerbsarbeit sowie IV) Einüben sozial verantwortlichen Verhaltens. Diese Aufgaben bewegen sich „im Spannungsfeld von ‚normativen Zielprojektionen‘ und individuellen Bedürfnissen“ (Reinders 2002, S. 15). Sie stehen für die Gelingensbedingungen biographischer Entwicklung und bilden die Voraussetzung, in der ‚Erwachsenengesellschaft‘ Glück, Erfolg und Zufriedenheit im Leben zu erfahren (vgl. Abels 1993, S. 259; Hahn 2004, S. 179). Bezogen auf ihre Gestaltungsmöglichkeiten bewegen sich Entwicklungsaufgeben in einem Spannungsverhältnis zwischen universeller ‚Entwicklungsstandards‘ und historischer Veränderungen: I) Es gibt Entwicklungsaufgaben, die aus körperlichen Veränderungen resultieren und mit der biologischen Reifung zusammenhängen wie bspw. Körperwachstum oder Geschlechtsreife, die relativ universell und damit kulturunabhängig sind. Andere Aufgaben, die sich aus gesellschaftlichen Verhältnissen ergeben, wie Partnerschaft, Familiengründung oder Berufstätigkeit, sind hingegen kulturabhängig. II) Es gibt aber auch Entwicklungsaufgaben, die zu einem bestimmten biographischen Zeitpunkt auftreten, zeitlich begrenzt und zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossen sind, andere hingegen dehnen sich über die Entwicklung aus. Körperwachstum und biologische Reifung bilden solche Begrenzungen, wohingegen die Arbeit am Körper und das körperliche Erleben gestaltbar bleiben

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und sich der Lebenspraxis als Aufgabe immer wieder neu und auf andere Art und Weise stellen. III) Entwicklungsaufgaben sind als Abfolge von Stufen aufeinander bezogen, was bedeutet, dass die positive Bewältigung einer Aufgabe die Voraussetzung einer sich anschließenden Entwicklungsanforderung schafft. Außerdem stehen aufeinanderfolgende Aufgaben in Beziehungen zueinander. Erst wenn sich Heranwachsende neue Sozialbeziehungen außerhalb des Elternhauses aufbauen und emotionale Unabhängigkeit zu den Eltern herstellen können, so Havighursts These, können sie sich mit den Anforderungen an Partnerschaft auseinandersetzen. Damit ist eine selbstständige Lebensführung an die wechselseitige Bedingung gebunden, sich zu einem bestimmten biographischen Zeitpunkt vom Elternhaus abzulösen, eine Partnerschaft einzugehen und auch den Berufseinstieg praktisch zu bewältigen (vgl. Schierbaum 2018, S. 60). Havighurst betont die Interdependenz von Entwicklungsaufgaben, die durch körperliche Veränderungen und sich verändernde gesellschaftliche Erwartungen auch in den individuellen Bedürfnissen der Jugendlichen spiegeln (vgl. Reinders 2002, S. 15). Insofern beschreibt Entwicklung eine Reihe von Veränderungen, in der Reifung und Bildung durch Erfahrung gleichermaßen eingeschlossen sind (vgl. Niederbacher und Zimmermann 2011, S. 14). Die Beurteilung, wann eine Entwicklungsaufgabe bewältigt wurde, bleibt von kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen abhängig. Havighurst fragt aber nicht, wie Heranwachsende Entwicklungsaufgaben wahrnehmen, beurteilen und auf sie bezogene Bewältigungs- und Gestaltungsstrategien entfalten, sondern für ihn haben Heranwachsende Entwicklungsaufgaben dann abschließend bewältigt, „wenn das Ende der jeweiligen ‚sensitiven Periode‘ für das Erlernen einer durch die Entwicklungsaufgabe definierten Fähigkeit, Einstellung oder Rolle erreicht ist“ (Hahn 2004, S. 176) sowie entsprechende kulturell geteilte ­‚Erfolgs‘-Kriterien, die als Maßstab zur Beurteilung des Bewältigungsniveaus (niedrig, mittel, hoch) anlegt werden, erfüllt sind. Havighursts Modell der Entwicklungsaufgaben ist in seiner Grundidee ein Ansatz, Entwicklungsnormen als „inhaltlich definierte Verbindungsglieder zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und individuellen Bedürfnissen, Interessen und Zielen“ (Dreher und Dreher 1985a, S. 56) zu beschreiben. Diese sind immer gebunden an die Perspektive der Erwachsenengesellschaft und müssen als dem Jugendalter vorgängig betrachtet werden. Auch wenn im Modell die Gestaltung von Entwicklungsaufgaben und die personale Aushandlung von Entwicklungsnormen in den Hintergrund treten (vgl. Reinders 2002, S. 33), so bilden sie doch analytische Ausgangspunkte einer Rahmengestalt des Jugendalters und eine Folie für sämtliche Sozialisationsanstrengungen, die für Jugendliche individuelle Bildungs- und Entwicklungsprozesse ermöglichen.

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Auch wenn sich in der späten Moderne gesellschaftliche Erwartungen und Normalbiographien zunehmend verflüssigen und Jugendliche über vielfältige Optionen ihrer Lebensführung verfügen bzw. diese teilweise sogar dem Zwang zur Veränderung unterliegt, bietet Havighurst einen Zugang zur biographischen Ausformung, Aneignung und Übersetzung spätmoderner Lebensverhältnisse in individuelle Entwicklungsverläufe. Auch spätmoderne Anforderungen manifestieren sich in der Bearbeitung und Bewältigung von Entwicklungsaufgaben. Der Fokus auf gesellschaftliche Veränderungen und ihrer Bewältigungsdynamiken in den Lebensbereichen Partnerschaft, Beruf und Gemeinschaft rücken spätmoderne Lebensverhältnisse in das Sichtfenster der Jugend; sie verleihen dem Jugendalter Sichtbarkeit und eine analytische Rahmengestalt. Insbesondere vor dem Hintergrund der skizzierten spätmodernen Verhältnisse können die beschriebenen Entwicklungsaufgaben als Dreh- und Angelpunkt verstanden werden, sich diesen im Jugendalter biographisch zuzuwenden und sich gegenüber ihren Erwartungen und Vorgaben zu positionieren. Sich zu qualifizieren, zu binden, zu partizipieren und zu konsumieren bilden die vier zentralen Orientierungsgrößen sozialen Handelns, die sich auf alle Lebensbereiche beziehen und sich in unterschiedlicher Ausprägung in allen Lebensphasen finden lassen. Sie ergänzen einander und sind Voraussetzung dafür, sich mit den vielfältigen spätmodernen Anregungs- und Gelegenheitsstrukturen und der starken Herausforderung nach Selbstverantwortung und -verortung, Selbstoptimierung und Selbstmanagement auseinanderzusetzen (vgl. Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 24 ff.). Sie tragen aber auch dazu bei, „sich wie ein Unternehmer seiner selbst zu führen“ (Duttweiler 2016, S. 30). Das Modell der Entwicklungsaufgaben stellt den Versuch dar, Entwicklung nicht als ‚naturwüchsig‘ zu begreifen, sondern als sozial und kulturell initiiert, gesteuert und vermittelt: Heranwachsende bewegen sich in sich verändernden sozialen Umwelten; sie sind fortwährend aufgefordert, mit widersprüchlichen sozialen Erwartungen umzugehen und sich Veränderungen zu stellen. Insofern geschieht Entwicklung in der Entfaltung von Entwicklungsnormen, die auch weiterhin das Erwachsenwerden von Heranwachsenden strukturieren. Auch wenn Veränderungen von Entwicklungsaufgaben im Zuge des gesellschaftlichen Individualisierungs- und Transformationsprozesses mit Havighursts Modell nicht erklärt werden können und es die Eigenständigkeit der Jugendphase nur unzureichend beschreibt, bietet der theoretische Zugang einen Erklärungsansatz, mithilfe dessen bestimmte ‚Entwicklungsschritte‘ zur Entfaltung von Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit und Veränderungen im Prozess des Aufwachsens identifiziert werden können (vgl. Schierbaum 2018, S. 57).

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4 Theoretische Weiterführungen Zum „Dogma der Globalität von Entwicklungsnormen“ (Reinders 2002, S. 33) und der damit verbundenen Vorstellung, diese müssten in einem spezifischen Alter erfüllt werden, haben theoretische Weiterführungen und Relektüren beigetragen: Das Modell der Entwicklungsaufgaben erlebte in den 1970er und 1980er Jahren eine erste Renaissance. Insbesondere in der ­ (Entwicklungs-) Psychologie wird das Modell adaptiert und allen voran von Dreher und Dreher (1985a, b) auf der Grundlage von empirischen Forschungsarbeiten erweitert. Sie greifen die von Havighurst vorgeschlagene Grundidee der generationsübergreifenden Entwicklungsnormen auf und fassen Entwicklung im Jugendalter als einen Gestaltungsprozess von normativen Anforderungen, die als zu bewältigende Entwicklungsschritte den Weg durch die Jugendbiographie kennzeichnen. Der Umgang mit und die Thematisierung des eigenen Körpers und Körpererlebens; die Biographisierung von Geschlecht (Einüben einer Geschlechtsrolle Dreher und Dreher 1985a); der Aufbau neuer sozialer Beziehungen (wie Freundschaften, Peers, Schüler-Lehrer-Beziehungen etc.) außerhalb des Elternhauses; die Ablösung vom Elternhaus, aber auch der Übergang in Arbeit und Beruf, Partnerschaft und Elternschaft sowie die Entfaltung eines ethischen, moralischen und politischen Bewusstseins sind die „Dinge, die man können muss, um in einer konkreten Gesellschaft als […] [erwachsen] anerkannt zu werden“ (Abels 1993, S. 63). Im Gegensatz zu Havighurst unterscheiden Dreher und Dreher (1985a) zwischen Entwicklungsnormen zur Übernahme gesellschaftlicher Mitgliedsrollen (vgl. Hurrelmann und Quenzel 2016) und Entwicklungsaufgaben, die individuell angegangen werden. Sie betonen, „dass sich sowohl jüngere wie ältere Jugendliche gleichzeitig mit mehreren Entwicklungsaufgaben auseinandersetzen, sofern sie ihnen bedeutsam sind“ (Dreher und Dreher 1985a, S. 67). Damit werden auch die aktiven Gestaltungsmöglichkeiten von Entwicklungsaufgaben, die Fähigkeit Heranwachsender zur Selbstorganisation und Selbstpositionierung zunehmend hervorgehoben. Handlungstheoretische Überlegungen zum Umgang mit Entwicklungsauf­ gabenfinden finden sich aber nicht nur in der psychologischen Forschung zum Jugendalter (u. a. Silbereisen 1986, 1996; Fend 2003), sondern auch in soziologischen und erziehungswissenschaftlichen Zugängen (u. a. Hurrelmann und Ulich 1980; Lenz 1988; Kordes 1996; Zinnecker 2000; Griese 2001; Reinders 2002; Trautmann 2004; Schierbaum 2018). Hierbei liegt der Fokus auf der Bandbreite und Ausgestaltung der Aufgabenbewältigung bzw. auf ihrer inneren Dynamik und identitätsstiftenden Wirkung für die Übernahme gesellschaftlicher

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Mitgliedsrollen im gesamten Lebenslauf (Niederbacher und Zimmermann 2011, S. 147). Hurrelmann und Bauer (2015) sprechen davon, dass Entwicklungsaufgaben und das Handlungsrepertoire von Jugendlichen zusammentreffen (vgl. Hurrelmann und Bauer 2015, S. 107) und ihre Anforderungen an eine ‚gelungene‘ Lebensführung auch im Fall der Abweichung von normalbiographischen Bewältigungsmustern erhalten bleiben, selbst wenn diese eine enorme Virtuosität aufweisen (vgl. Hurrelmann 2003, S. 116 f.). In soziologischen und erziehungswissenschaftlichen Zugängen werden Entwicklungsaufgaben stärker mit einer sozialisationstheoretischen Perspektive verbunden, die Entwicklung weniger als „geordnete, gerichtete und langfristige, biologische und soziale Veränderungen des Erlebens und Verhaltens über die Lebensspanne“ (Schierbaum 2018, S. 39) beschreibt, sondern in den Kontext der „Neubildung und Veränderung von Handlungsfähigkeiten und Persönlichkeitsstrukturen auf der Grundlage der biopsychisch regulierten Interaktion von Wachstums-, Reifungsund Lernprozessen“ (Veith 2008, S. 87) setzt. Die Grundidee generationenund kulturübergreifender Entwicklungsnormen wird in diesen Diskussionen zunehmend von der Vorstellung der generationalen Erneuerung gesellschaftlicher Ordnung im Jugendalter gebrochen und die Abfolge von Stufen in der Entwicklung durch die Logik der permanenten Arbeit an sich selbst aufgehoben (vgl. Schierbaum 2018, S. 72). Aktuell mehren sich wieder Stimmen, die einerseits die Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse im Zuge von Steigerungsprozessen der Individualisierung, Pluralisierung, Rationalisierung und Technisierung für die Jugend betonen, aber auch im Rahmen dieser veränderten Bedingungen die Bedeutung von Entwicklungsaufgaben an der Schnittstelle von Individuierung, Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung hervorheben (vgl. Zizek 2016, S. 31; vgl. BMFSFJ 2017, S. 81 ff.). Weil sie den Normhorizont biographischer Entwicklung überspannen, sind sie ein geeignetes analytisches Werkzeug, spätmoderne Lebensbedingungen und die Lebensführung von Heranwachsenden systematisch aufeinander zu beziehen.

5 Jugendbiographische Herausforderungen an eine spätmoderne Jugend Entwicklungsaufgaben können zur Kritik spätmoderner Lebensverhältnisse beitragen, insbesondere dann, wenn Jugendlichen nicht der nötige Raum zugestanden wird, sich diesen unter entlastenden Rahmenbedingungen zuzuwenden und in ihrer Wirkung, die Entwicklung selbstbestimmter Lebensentwürfe verhindern. Wenn sich also Jugend zu einer Lebensphase entwickelt, in

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der „das Einüben in eine erhöhte Selbstkontrolle sowie die Fähigkeit zur Selbstorganisation, das Bündeln von Ressourcen und das aktive Herstellen von privaten Netzwerken […] an Bedeutung [gewinnen]“ (Ecarius et al. 2017, S. 33; d. Verf.), dann dominieren Selbstökonomisierung und Selbstvermarktung bei flexibler Anpassung (vgl. ebd.). Jugend ist keine Zeit des Moratoriums, das ‚freies Experimentieren‘ zulässt, und durch wohlfahrtsstaatliche Bildungs- und Unterstützungssysteme ermöglicht wird. Optimierungsstreben, Leistungsdruck und Zeitnot (King und Busch 2012) sind Chiffren, die der Forderungen nach einer gesellschaftlich zuerkannten „Karenzzeit zwischen Kindheit und Erwachsenenleben“ (Erikson 1966, S. 137) deutlich zu widerlaufen. Zu diesem Befund kommt auch die Sachverständigenkommission des oben bereits angesprochenen 15. Kinder- und Jugendberichts. Sie fordert aufgrund des Trends zu Selbstoptimierung und dem Verschwinden der Jugendphase, „Jugend zu ermöglichen“ (BMFSFJ 2017). Zur Absicherung dieser Forderung stützen sich die AutorInnen auf das Konzept der Entwicklungsaufgaben, demzufolge sie Jugend „nicht allein als Arrangement individueller Anforderungen oder Herausforderungen vorgegebener Stufen betrachte[n], sondern als Modus gesellschaftlicher Integration und generationaler Ordnung. Es wird grundlegend gefragt, wie der Integrationsmodus Jugend auf gesellschaftlich als funktional betrachtete Zuschreibungen an das Jugendalter antwortet“ (ebd., S. 96).

Chassé (2017) betont in einer Kommentierung des Berichts, dass das Modell der Entwicklungsaufgaben als eine Art Landkarte verstanden werden könne, die allgemein biographisch mögliche Ziele beschreibe, aber doch jedem Einzelnen die Suche nach den Wegen und Pfaden selbst überlasse (vgl. ebd., S. 180). Jugend müsse sich neu zwischen Kindheit und Erwachsenenalter formieren und eine Stellung in der Gesellschaft und ihrem institutionellen Regelwerk einfordern und behaupten. Diese Forderung verbinden die AutorInnen des 15. Kinder- und Jugendberichts mit neuen Herausforderungen für Jugendliche in den Bereichen Qualifizierung, Selbstpositionierung und Verselbstständigung. Sie übersetzen spätmoderne Lebensverhältnisse in eine Entwicklungsdynamik und verbinden das Konzept der Entwicklungsaufgaben mit der Gestaltung und Bewältigung von Übergängen zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. In diesen entgrenzten und entsynchronisierten „Übergangskonstellationen“ (BMFSFJ 2017, S. 464) verschwinden Freiräume zur aktiven Gestaltung und Auseinandersetzungen mit Entwicklungsanforderungen und -normen. Sie nötigen Jugendliche stattdessen zu einer einseitigen und ungebrochenen Übernahme gesellschaftlicher Leistungsanforderungen. Das Konzept der Entwicklungsaufgaben kann einen theoretischen

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Rahmen bereithalten, jugendspezifische Herausforderungen trotz der Ökonomisierung in allen Lebensbereichen und einer Steigerung der Individuierungsspirale und zeitlicher Dynamisierung (vgl. Ecarius et al. 2017, S. 33) in eine Relation zur Bewältigung dieser Anforderungen in den Biographien und der Lebensführung von Jugendlichen zu bringen. Erst dies schafft die Voraussetzung, Jugend unter spätmodernen Bedingungen sichtbar zu machen und als Lebensphase auch in institutionellen Arrangements zu ermöglichen.

6 Ausblick Auch wenn mit dem Konzept der Entwicklungsaufgaben keine Aussagen darüber getroffen werden, wie Heranwachsende jugendspezifische Herausforderungen konkret bearbeiten und wie sich die mit Entwicklungsnormen verbundenen Handlungsanforderungen im Zuge spätmoderner Lebensbedingungen verändern, so ist doch deutlich geworden, dass dieses Konzept eine Art Landkarte darstellt, anhand derer sich Jugendliche orientieren. Auch wenn das Konzept nur die jugendtypischen Entwicklungsanforderungen markiert, so verbindet es die Lebenswirklichkeit von Jugendlichen mit kulturellen Normen und Konstrukten von Normalität. „Will das Konzept der Entwicklungsaufgaben auch weiterhin Erklärungsgehalt in der Jugendforschung besitzen“ (Reinders 2002, S. 33), so lässt sich fordern, „muss es sich vom Dogma der Globalität von Entwicklungsnormen lösen und sich der konkret personalen Aushandlung dieser Normen zuwenden“ (ebd.). Entwicklungsnormen sind in dieser kritischen Kommentierung keine immerwährenden, ahistorischen Leitmotive und -dimensionen des Aufwachsens, sondern gesellschaftliche und kulturelle Dynamiken, die stets Anpassungen, Aushandlungen, aber auch Verwerfungen mit dem Jugendalter einkalkulieren müssen. Wie Entwicklungsnormen ausgehandelt werden und wie wichtig dabei personale und soziale Ressourcen für das Aufwachsen und Wohlbefinden Jugendlicher sind und gleichsam die Grundlage dafür bilden, den eigenen Lebensentwurf an Erwachsenenpositionen heranzurücken, zeigen eigene Untersuchungen und Befunde mit Rückgriff auf das Konzept von Entwicklungsaufgaben (vgl. Schierbaum 2018). Die Wahrnehmung, Beurteilung und die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben im Jugendalter sind als unausweichlicher Entscheidungsprozess in der permanenten Arbeit am jugendlichen Selbst rekonstruiert worden. Dabei zeigen sich ‚feine Unterschiede‘ in den habituellen Ausformungen des Umgangs mit ihnen und in den Handlungs- bzw. Bewältigungspraktiken von Jugendlichen, sich entlang von Entwicklungsanforderungen zu gesellschaftlichen Zielvorgaben zu positionieren. Es lässt

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sich mit diesen Befunden aber auch zeigen, welche Entwicklungs- und Entscheidungsspielräume Jugendlichen zur Verfügung stehen, kreativ und selbstbestimmt mit Herausforderungen umzugehen. Insofern ist das Konzept der Entwicklungsaufgaben ein Scharnier zwischen biographischer Ermöglichung und gesellschaftlicher ‚Bedrohung‘ des Jugendalters. Es steht für die Sorge nach Freiräumen nachkommender Generationen, die in der Pflicht stehen, gesellschaftlichen Leistungsanforderungen zu genügen, aber auch für Reflexionen, Adoleszente in dieser Lebensphase zu unterstützen und sie nicht dem Raum ihrer Arbeit am jugendlichen Selbst zu enteignen. Deshalb ist es wichtig, auch danach zu fragen, was Jugendliche selbst als notwendig erachten und welche Arrangements sie für sich finden, um sich in der sozialen Welt positionieren zu können. Um dies in den Blickzunehmen, braucht es eine Forschung, die sich mit der Lebenssituationen von Jugendlichen, ihren individuellen Dispositionen und gesellschaftlichen Anforderungen auseinandersetzt.

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Ein vergessenes Thema bildungshistorischer Forschung: Mädchen im Bürgertum Carola Groppe

Zusammenfassung

Historische Erziehungs- und Sozialisationsprozesse sind bislang nur geringfügig erforscht worden, bergen sie doch ein veritables Quellenproblem. So sagen Erinnerungen an die eigene Kindheit und Jugend im deutschen Kaiserreich, welche nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland niedergeschrieben wurden, nur wenig über die verbrachte Kindheit und Jugend aus, aber viel über deren spätere autobiographische Einordnung und Bewertung. Dagegen lassen sich aus zeitgenössischen Briefen Zugänge entwickeln, die zu den Weltdeutungen, Selbstpräsentationen und Handlungsorientierungen der Schreiberinnen und Schreiber führen, welche diese in einer historischen Lebenswelt ihren Briefpartnerinnen und -partnern präsentieren wollten. Besonders gering ist bislang das bildungshistorische Wissen über den Prozess des Aufwachsens von Mädchen. In dem Beitrag werden einige Fallbeispiele der Erziehung und Sozialisation bürgerlicher Mädchen zwischen der Jahrhundertmitte und den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts anhand historischer Briefe rekonstruiert. Dabei kommen Eltern-Kind-Beziehungen, Geschlechterkonzepte und die Selbstpräsentationen junger Mädchen gegenüber Eltern, Geschwistern und Freunden zur Sprache.

C. Groppe (*)  Helmut-Schmidt-Universität – Universität der Bundeswehr, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Fuchs et al. (Hrsg.), Jugend, Familie und Generationen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24185-8_4

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Schlüsselwörter

Mädchen · Bürgertum · Jugend · 19. Jahrhundert · Mädchenpensionate ·  Sozialisation · Freundschaft · Liebesbeziehungen

1 Einleitung Bürgerliche Mädchen sind in der Historischen Bildungsforschung bislang wenig zum Thema gemacht worden. Für das 19. Jahrhundert dominieren deshalb noch überwiegend Vorstellungen von bürgerlichen Idyllen und biedermeierlicher Häuslichkeit, in denen bürgerliche Mädchen erzogen, gebildet und sozialisiert worden seien. Während in diesem Zusammenhang ein Teil der Forschung die starke Einschränkung der Mädchen durch Familie, gesellschaftliche Rollenvorgaben und begrenzte Bildungsmöglichkeiten betont (vgl. Klika 1990; in einigen Aspekten auch Budde 1994), verweisen andere darauf, dass junge bürgerliche Mädchen in ihren Familien, aber auch in der Schule und in Peer Groups, über mehr Entfaltungsmöglichkeiten verfügten als oft angenommen (vgl. Trepp 1996; ­Hardach-Pinke 2000, 2005). Allerdings steht die Historische Bildungsforschung bezogen auf die Erforschung historischer Erziehungs-, Bildungsund Sozialisationsprozesse von Mädchen noch ganz am Anfang, sowohl für das Bürgertum als auch für andere soziale Schichten, und dies nicht nur für das 19. Jahrhundert. In den von mir für die folgenden Analysen herangezogenen Archiven gibt es viele Selbstzeugnisse,1 durch die sich ein differenziertes Bild bürgerlicher Mädchenjugend zeichnen lässt. Die Frage nach den Quellen ist in diesem Zusammenhang virulent. Das analytische Problem, historische Prozesse der Erziehung, Bildung und Sozialisation mithilfe autobiographischer Erinnerungstexte zu rekonstruieren, ist bereits vielfach diskutiert, und die Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen sind dabei ausgelotet worden (vgl. z. B. Klika 2016; Dausien und Kluchert 2016). Letztlich bleibt aber ein zentrales methodisches

1Selbstzeugnisse

gehören zu den Ego-Dokumenten. Als Ego-Dokumente werden in der Forschung sämtliche Dokumente bezeichnet, welche einen Zugang zu den Selbst- und Weltdeutungen und zu der Konstruktion von Sinnzusammenhängen und Lebenszielen ermöglichen. In Abgrenzung dazu berichtet eine Person in Selbstzeugnissen dezidiert über sich selbst. Selbstzeugnisse umfassen vornehmlich Briefe, Tagebücher und Erinnerungen (vgl. von Krusenstjern 1994; Schulze 1996).

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Problem ungelöst, nämlich welcher Natur die Verbindungen autobiographisch rekonstruierender Narrative mit den beschriebenen historischen Erfahrungen sind und wie beide gegebenenfalls unterschieden werden können. Aufgrund dieser Problematik sollten Erinnerungen jedweder Art hauptsächlich gelesen werden als erzählende Positionierungen der Schreiberinnen und Schreiber zum Zeitpunkt der Textabfassung.2 Historische Kindheits- und Jugendphasen können über sie nicht rekonstruiert werden, weil Erinnerungen mit späteren Bedeutungszuweisungen, Einordnungen in Epochenbilder usw. befrachtet sind. Und so beginnen sich geläufige Vorstellungen z. B. über Familienleben, Erziehung, Kindheit, Jugend und Schule im deutschen Kaiserreich auch immer dann zu differenzieren, wenn Quellen herangezogen werden, die weder als Erinnerungstexte abgefasst noch ausschließlich dem öffentlichen Diskurs entnommen wurden (z. B. die Quelle der Elterntagebücher und ihre Auswertung bei Gebhardt 2009). Für das 19. Jahrhundert liegen solche Quellen, also vor allem zeitgenössische Briefe und Tagebücher, bislang meist nur archivalisch vor und müssen für die Forschung erst nach und nach erhoben und ausgewertet werden. Die Historische Bildungsforschung hat Briefe bislang nur in geringem Maße als Quellen herangezogen. Anders als erinnernde Texte eröffnen sie aber einen direkten Zugang zur Kommunikation historischer Personen mit ihren Zeitgenossinnen und Zeitgenossen (vgl. Habermas 2000, S. 26 f.; Molthagen 2007, S. 37 f.). Diese direkte Beobachtung eröffnet Zugänge zu denjenigen Welt- und Selbstdeutungen, Werten, Normen, Sinn- und Zielformulierungen der Briefschreiberinnen und -schreiber, die sie meinten im Kontext der historischen Bedingungen ihrer Zeit darstellen und begründen zu sollen. Betont werden muss gleichzeitig, dass auch Briefe nur dasjenige sichtbar werden lassen, was die Schreiberinnen und Schreiber anderen präsentieren wollten; vieles an Verhaltensweisen und Überlegungen bleibt deshalb historisch verborgen. Trotz dieser Einschränkung ermöglichen Briefe einen durch keine andere Quellengattung gleichermaßen erreichbaren Zugang zu historischen Denk- und Lebensformen,

2Dagmar

Günther (2004) hat die methodischen Schwierigkeiten im Umgang mit autobiographischen Texten ausführlich untersucht und kommt zu dem Ergebnis, dass mit Erinnerungen nicht das Beschriebene selbst analysiert werden kann, sondern dass bei der Heranziehung autobiographischer und erinnernder Texte die „autobiographischen Sinnkonstruktionen“ (ebd., S. 9) der Schreibenden im Mittelpunkt der Analyse stehen müssen. Autobiographien und Erinnerungen eignen sich somit zur Untersuchung der Selbstpositionierungen der Verfasserinnen und Verfasser in Bezug auf historische Epochen, Erlebnisse und Erfahrungen, aber nicht zur Analyse dieser Epochen, Erlebnisse und Erfahrungen selbst (vgl. ebd., S. 5 ff.).

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denn sie offenbaren die zeitgenössischen Regeln und Erwartungen, die Sinnhorizonte und die Normen und Werte im öffentlichen und privaten Raum und die Positionierungen und Reflexionen der Briefschreiberinnen und -schreiber dazu. In den folgenden Ausführungen werden zur Analyse von Mädchenjugenden ausschließlich Briefe aus privaten Archiven verwendet.3 An mehreren Fällen zwischen der Jahrhundertmitte und den 1880er Jahren wird dargestellt, wie junge bürgerliche Mädchen erzogen, gebildet und sozialisiert wurden, welche Geschlechterkonzepte sie selbst formulierten, welche ihre Eltern für sie vorsahen und schließlich, welche Gelegenheiten es für bürgerliche Mädchen im Jugendalter gab, Kontakte zu männlichen Jugendlichen zu knüpfen. Insgesamt interessiert besonders, welche Einstellungen und Verhaltensweisen bürgerliche Mädchen in diesem Zusammenhang für sich selbst als angemessen definierten und welche nicht. Der Fokus liegt also auf den Selbstbeschreibungen der Mädchen. Gleichzeitig wird danach gefragt, ob sich in den genannten Punkten Veränderungen im Untersuchungszeitraum ergaben und welche Entwicklungen sich perspektivisch bis zum Ersten Weltkrieg abzeichneten. Einzelne Fallstudien wie die hier auf knappem Raum präsentierten können naturgemäß keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Aber sie können von bisherigen Forschungspositionen abweichende Ergebnisse erzielen, neue Thesen generieren und zu weiterer Forschung motivieren.

2 Erziehung, Bildung und Sozialisation eines bürgerlichen Mädchens um die Jahrhundertmitte Adele Bredt (1836–1893) war die Tochter des Textilunternehmers Emil Bredt und seiner Frau Adelheid. Sie besaß neben einer älteren Schwester noch drei jüngere Schwestern und drei jüngere Brüder (vgl. Bredt 1934, S. 226 ff.). Die Familie lebte in Barmen, einem Zentrum der Textilindustrie im Wuppertal. Im Alter

3Die

Privatarchive gehören der Unternehmerfamilie Colsman in Velbert-Langenberg und Umgebung, NRW. Mithilfe dieser Archive hat die Autorin eine Bildungsgeschichte des Bürgertums im deutschen Kaiserreich in Fallgeschichten erarbeitet. Der vorliegende Beitrag ist aus einem Kapitel zur Mädchensozialisation hervorgegangen, in dem an einer Reihe von Fällen die Entwicklung der Jugend bürgerlicher Mädchen zwischen den 1850er Jahren und dem Ersten Weltkrieg analysiert wird. Die Monographie ist im Dezember 2018 erschienen unter dem Titel „Im deutschen Kaiserreich. Eine Bildungsgeschichte des Bürgertums 1871–1918“ (Groppe 2018).

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zwischen zwölf und neunzehn Jahren, im Zeitraum zwischen 1848 und 1855, schrieb Adele Bredt regelmäßig Briefe an enge Freundinnen und Verwandte. Ihrer Freundin Maria Esch aus der benachbarten Kleinstadt Langenberg teilte Adele Bredt in solchen Briefen nicht nur ihre Wünsche und Gedanken mit, sondern berichtete auch ausführlich von den Geschehnissen im bürgerlichen Jugendmilieu ihrer Heimatstadt Barmen, welche um 1850 rund 35.000 Einwohner besaß. Die bürgerlichen Mädchen und Jungen des Ortes entwickelten ihren Briefen nach zu urteilen eine eigene Jugendkultur als Teilkultur der örtlichen Gesellschaft (vgl. Schäfers und Scherr 2005, S. 133 ff.). Neben einem von den Erwachsenen überwiegend unbeaufsichtigten Freizeitbereich am Nachmittag, welcher sowohl in gemischtgeschlechtlichen Jugendgruppen als auch in reinen Mädchen- oder Jungengruppen mit Stadtspaziergängen, Treffen in Parks und dem Zusammenkommen rundum in den Elternhäusern verbracht wurde, zählte dazu auch ein umfassendes und intensiv gepflegtes Briefnetzwerk der Jugendlichen untereinander. Bereits mit dreizehn Jahren hatte Adele Bredt ein ‚Verhältnis‘ und gewährte ihrem Verehrer abendliche Stelldichein, beendete dieses Verhältnis aber, als sich der Jugendliche recht ungeschickt dabei anstellte. So hatte er seine Freundin direkt in deren Elternhaus aufgesucht, statt in Absprache mit ihr unauffällige Begegnungen zu arrangieren. An ihre Freundin Maria Esch schrieb sie empört: „Was ich dir schreiben wollte ist dieses: Mein Verhältnis mit E. H. ist nicht mehr, das weißt du, aber auf welche Weise weißt du nicht wie ich glaube. Er kam des Abends vor unser Haus u. flötete, dann kam er jedes Mal herein und frug ist Emil nicht hier […], nun war es kein Wunder das es Mutter merkte u. nochmehr da ich mich an die Thüre stellte. Da habe ichs satt bekommen, u. ihm geschrieben, daß ich das Verhältnis bräche. I. Eykelskamp, Lauras Freundin hatte Otto Cleff; dieser machte es auf ähnliche Weise, u. I E. schrieb ihm auch ab“ (Adele Bredt an Maria Esch, 9. März 1849).

In Adele Bredts Briefen ist vielfach von Verwicklungen des Verliebtseins innerhalb der bürgerlichen Jugend Barmens die Rede: „Sonntag begegnete mir bei einem Gang aus der Kirche ein gewißer schwarzlockiger Jüngling zwei Mal, ich habe noch keine Gelegenheit gehabt, ihm das Vielliebchen abzugewinnen, od. es zu verlieren“ (Adele Bredt an Maria Esch, 19. März 1851). Gemeinsame Spaziergänge jugendlicher Paare, welche zur der von der bürgerlichen Erwachsenenwelt akzeptierten jugendlichen Teilkultur gehörten, boten den Jugendlichen Anlass zu den unterschiedlichsten Interaktionen. Dazu zählten kommentierende Berichte über die gesamte jugendliche Peergroup ebenso wie positiv integrierende oder negativ ausgrenzende Beschreibungen einzelner Mädchen und Jungen. Auf diese

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Weise wurde die eigene Peergroup sowohl brieflich handelnd konstituiert als auch reflektiert: „Du weißt, daß hier allerlei Verhältnisse sind, nämlich es handelt sich von Hulda Eykelskamp, Adeline Eykelskamp, Julie Eykelskamp, diese 3 haben ein Verhältniß; H mit Abr. Sondern, A mit C. Roth, welches der beste ist, I mit E. Hämmerle, dieser ist der Schlechteste. Diese 3 od. vielmehr sind umgeben von Neidern u. Feinden, welche ihnen ihr Glück nicht gönnen. Diese bestehen hauptsächlich aus Otto Cleff u. einem ganzen Complott, die Rache an uns nehmen wollen, weil wir nicht mit ihnen zu schaffen haben wollen. […] Otto Cleff mit seinen Getreuen schreiben als wohl Briefe an Hulda od. Emil worin dann Gratulationen stehen, es geschieht aber nur damit es die Eltern erfahren sollen“ (Adele Bredt an Maria Esch, 16. April 1850).

In dem Brief wurden angemessene von unangemessenen Verhaltens- und Umgangsweisen der Mädchen und Jungen unterschieden. Ein entscheidendes Kriterium ‚richtigen‘ Verhaltens war für Adele Bredt neben einem freundlichen und toleranten Umgang untereinander die Aufrechterhaltung der relativen Autonomie der Peergroup. Der Einbezug der Erwachsenenwelt war nicht gewünscht, wobei die Eltern in ihren Briefen nicht als Verbietende und Strafende erkennbar werden. Vielmehr ging es Adele Bredt um die Markierung einer Differenz von Erwachsenen- und Jugendkultur. Die jugendliche Peergroup bestand in Barmen aus den Söhnen und Töchtern der wirtschaftsbürgerlichen Familien und aus den Schülern der höheren Schulen des Ortes, d. h. aus Jugendlichen gleichrangiger sozialer Milieus. Die von den Eltern und der örtlichen bürgerlichen Gesellschaft eröffneten Freiräume besaßen allerdings einen begrenzenden Rahmen. Diesen bildeten die bürgerliche Lebensform und die elterlichen Verkehrskreise als Sozialisationskontext und als Bezugsgröße für Normen und Werte. Bedeutung und Integration bürgerlicher Lebensführung und deren Normen und Werte in einem zukünftigen eigenen Lebensmodell wurden in den Peergroups immer wieder diskutierend und handelnd ausgelotet. Gleichzeitig war insbesondere das Thema ‚Verhältnisse‘ aufregend und eine innerhalb der jugendlichen Peergroup sehr positiv bewertete soziale Praxis, auch wenn die Beschreibungen in den Briefen noch nichts über die Beziehungsrealität aussagen. Eine engmaschige Kontrolle insbesondere der Mädchen scheinen die Eltern weder konzipiert noch umgesetzt zu haben (vgl. Trepp 1996, S. 56; Hardach-Pinke 2005); auch über elterliche Strafen findet sich

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in den Briefen Adele Bredts nach der Aufdeckung solcher ‚Verhältnisse‘ nichts. Im Gegenteil: Die Mädchen konnten ihre Nachmittage recht frei gestalten: „Vorigen Sonntag war ich bei Antonie Engels, wo ich sehr viel Plaisir gehabt habe. Wir verkleideten uns. Elis. Engels in einen Jungen u. M. Eykelskamp ebenfalls. Lottgen Hulda Eykelskamp u. ich in Nonnen u. Antonie in eine Polin, wir führten ein Stück auf. Dann gingen wir nach Fried. Engels u. ließen uns besehen, dann nach jungen Eykelskamp dann nach Alten, dann nach Overbecks, dann nach Engels Knecht, dann nach jungen Engels, wo wir noch getantzt haben“ (Adele Bredt an Maria Esch, 7. Dezember 1848).

Die Gefühlswelt der bürgerlichen Mädchen wurde ersichtlich auch durch die romantischen Sprachformen zeitgenössischer Romane beeinflusst, welche in abgewandelter Form in den Peer Groups eingeübt wurden und in Briefen zirkulierten. Briefe von Mädchen an Jungen und Briefe von Mädchen an Mädchen sind in ihrer Emotionalisierung oft kaum zu unterscheiden und die intensiven Gefühle der Mädchen nicht ausschließlich auf das andere Geschlecht gerichtet. Adele Bredt unterschrieb Briefe an Freundinnen nicht selten mit: „Bis in den Tod deine Freundin Adele“. Gleichermaßen benutzten auch die männlichen Jugendlichen in ihren Briefen an Mädchen eine stark emotionalisierte Sprache (Briefe von Jungen untereinander liegen aus diesem Zeitraum in den benutzten Archiven leider nicht vor). So wandte sich ein Verehrer mit folgenden Worten an Adele Bredt: „Theuerste Adele! Du wirst dich verwundern, daß ich es wage, dir, der allgemein Vergötterten, diese Zeilen zu schreiben, allein ich kann nicht anders; […] ich muß dir erklären, was ich seit Jahren in seinen innersten Falten verborgen gehalten habe, nämlich daß ich ohne dich hinfort nicht mehr bestehen kann, daß ohne dich mein zu nennen, mir das Leben verhaßt ist. […] Du hast über mein Geschick zu entscheiden; es steht bei dir mich zu verderben, od. mich zum glücklichsten Menschen der Erde zu machen, Bedenke dieses, ehe du entscheidest u. mache glücklich deinen dir ewig treuen Doppelgänger“ (Briefabschrift eines Briefs von C. S., beigefügt Adele Bredt an Maria Esch, 5. Januar 1851).

Die leidenschaftliche, gleichwohl auch formelhafte Gefühlssprache erzielte jedoch in diesem Fall keine Wirkung. Die fünfzehnjährige Adele Bredt lehnte eine Beziehung mit diesem Verehrer ab. Im selben Jahr, 1851, erprobte Adele Bredt aber ihre weibliche Attraktivität an den während eines Manövers im Elternhaus einquartierten „Unteroffizieren“ (das waren diejenigen Offizierund Reserveoffiziersanwärter, die noch keinen Offiziersrang erreicht hatten).

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­ egenüber ihrer Freundin präsentierte sie sich als den aktiven Part der Flirts und G als erfahren in der Anbahnung erotischer Kontakte: „Vor 14 Tagen wollte ich dir schon schreiben, allein wir hatten einen reizenden Unteroffizier im Quartier, dieser wollte auch einige Briefe schreiben u. da bot ich ihm mein Schreibzeug an, welches er auch annahm. Jetzt haben wir wieder einen allerliebsten Unteroffizier, der auch viel Anziehungskraft besitzt. Doch was ich über die hiesigen Soldaten denke u. spreche, mag ich dem Papier nicht gern anvertrauen, aber diese hübschen Kerlchen vergesse ich nie, deshalb will ich dir alles nächstens unter 4 Augen erzählen“ (Adele Bredt an Maria Esch, 9. April 1851).

Nicht nur gab es für Adele Bredt und ihre Freundinnen zahlreiche Gelegenheiten, junge Männer kennenzulernen, sondern es gehörte für sie offenkundig auch zu den angemessenen Verhaltensweisen, Flirts aktiv anzubahnen und Erfolge als Beleg der eigenen Attraktivität zu werten. Bemerkenswert daran ist, dass solche Darstellungen und Selbstpräsentationen nicht dem im öffentlichen Diskurs der Zeit propagierten Ideal des passiv-schüchternen Mädchens entsprachen, das Hand- und Hausarbeiten verrichtend im Elternhaus auf den ‚Einen‘ wartete. Adele Bredts Jugend enthielt darüber hinaus eine Vielzahl fast täglicher Aktivitäten, die sie selbst initiierte und plante. Sie empfing während einer Woche nicht nur mehrfach Besuche von Freundinnen, sondern war auch Teil einer sich regelmäßig zu Unterhaltungen und Spielen treffenden Mädchengruppe, eines sogenannten ‚Kränzchens‘. Darüber hinaus absolvierte sie eigeninitiativ und unbegleitet Besuche zum Tee oder zum Abendessen bei Verwandten und befreundeten Familien und nahm gemeinsam mit Freundinnen oder Geschwistern an Landpartien und Tanzveranstaltungen teil, bei denen sowohl mit Mädchen als auch mit Jungen getanzt wurde. Über eine solche Landpartie mit anschließender Tanzveranstaltung schrieb sie: „Mittwoch den 25ten sind wir mit Siebels vor die Hardt gegangen. Ich tanzte mein Meist und mein Bestes, u. bin von 3erlei Elberfelder Dirnen aufgefordert worden. Eine redete mich so an: ‚Kann ich die Ehre haben um eine extra Tour?‘ Ich sagte: ‚Recht gern. u. tanzte die Polka mit ihr. Nachher sagte sie: ‚Danke‘ ich natürlich ‚Bitte‘. Indeed“4 (Adele Bredt an Maria Esch, 29. September 1850).

4Elberfeld

war das zweite Zentrum der Textilindustrie im Wuppertal. Zwischen Barmen und Elberfeld herrschte anhaltende Konkurrenz bezüglich Industrialisierung, Wohlstand und Kultur, welche vermutlich die abwertende Formulierung ‚Dirne‘ und die Ironie der Briefstelle zur Folge hatte.

Ein vergessenes Thema bildungshistorischer Forschung …

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Das aus diesem Brief ersichtliche jugendlich-weibliche Selbstbewusstsein und die Ironiefähigkeit lassen die Schlussfolgerung zu, dass in den Erziehungsprogrammen und Sozialisationskontexten Adele Bredts tendenziell andere Weiblichkeitsideale zum Tragen kamen als in bürgerlichen Rollenvorgaben der Zeit öffentlich artikuliert (vgl. Budde 1994, S. 220 ff.). Als These lässt sich überdies formulieren, dass, obwohl sich die Lebensziele für bürgerliche Frauen auch in den beschriebenen Sozialisationsumgebungen weiterhin klar auf Eheschließung, Kindererziehung und Familienleben richteten, Sozialisationsprozesse wie die dargestellten die Mädchen langfristig auch befähigten, Ansprüche auf andere Bereiche anzumelden, z. B. wie ihre Brüder und Freunde schulische Qualifikationen erwerben zu können. Vom Mai 1852 bis zum Herbst 1853 besuchte Adele Bredt ein Mädchenpensionat, was im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine feste, ein- bis zweijährige Bildungs- und Ausbildungsstation so gut wie aller Mädchen aus bürgerlichen Familien in den deutschen Staaten war. Das Pensionat (in Kleve am Niederrhein) war Adele Bredt nach eigener Darstellung durch den Vater folgendermaßen vermittelt worden: „Vor vielleicht 10 Minuten theilte mir Vater über Kleve allerlei mit, was ich dir nun kurz u. bündig erzählen will. Auf Mitte Mai bin ich dort angemeldet, daß ist sicher u. nicht nur das, sondern auch angenommen worden. Den Morgen wird um 7 gefrühstückt, um 7 ½ Uhr ist eine kleine Bibelstunde, wobei gestrickt wird, dann geht es bis 10 um allerlei gelehrte Sachen, dann wird etwas gegessen wobei man durch den Garten spazieren geht u. dann wird gehandarbeitet. Von 1–2 ist Essestunde u. nach dem Essen geht man wieder spazieren, dann wird gelernt bis 5, dann ein wenig gegessen u. dann bis 9 gearbeitet. Dann wird zu abend gegessen u. um 10 gehen wir den hölzernen Berg hinauf in’s Bett. Das Haus soll sehr schön sein mit einem großen schönen Garten umgeben worin wir immer spaziren gehen, 3 mal in der Woche geht man noch in die Umgegenden, die sehr schön sind. Für Erholung ist nun doch gesorgt, nicht wahr, u. es soll wohl ganz gut dort gehen“ (Adele Bredt an Maria Esch, 24. Februar 1852).

Neben Mädchen aus deutschen Bürgerfamilien befanden sich auch wohlhabende Niederländerinnen, Belgierinnen und Engländerinnen im Pensionat, und so wurde dort, von der Pensionatsleitung als Ausweis der Internationalität ihrer Einrichtung gefördert, im Alltag auch englisch und französisch kommuniziert. Im Vergleich mit der von Adele Bredt in Barmen zuvor besuchten Höheren Bürgerschule, in der sie den Unterricht gemeinsam mit Jungen besucht hatte, war der Pensionatsunterricht für sie zu einfach, und sie langweilte sich. Der Unterricht fand im Pensionat in Kleingruppen statt, die nach Niveaustufen geordnet waren, und so sollte sie diesen zunächst auf dem Niveau der sogenannten

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‚vierten Klasse‘ ­ mitmachen, was in etwa der letzten Klasse der Mittelstufe Höherer Mädchenschulen entsprach (vgl. zum Aufbau von Mädchenschulen Küpper 1987; umfassend Kleinau 1997). Klasse drei und zwei erwiesen sich nach einigen Probetagen ebenfalls als zu leicht, aber eine erste Klasse auf dem Niveau der Abschlussklasse Höherer Mädchenschulen besaß das Pensionat nicht: „Eine 1 Classe giebt es gar nicht. Ich finde das sehr einfältig, wie überhaupt hier Manches“ (Adele Bredt an Maria Esch, 3. Juni 1852). Gegenüber ihrer Freundin äußerte Adele Bredt daher auch mehrfach deutliches Missfallen am geringen Anspruch des Pensionatsunterrichts. Sie war aber selbstbewusst genug, um auch gegenüber ihren Eltern das Niveau des Unterrichts zu bemängeln und ihr eigenes, im Pensionat nicht abgerufenes Leistungsvermögen dagegen zu setzen: „Ich finde die Zeit ist mehr wie besetzt, Naturgeschichte u. Phisik ist mir hier ziemlich unnütz, da sich in diesen Gegenständen besonders in dem letzten zu Hause mehr gehabt habe, wie wir hier je durch nehmen werden. […] Ich lerne zwar jetzt sehr gerne, doch ich möchte auch, das, was ich lerne ordentlich können, u. das ist mir so ziemlich unmöglich. Ein französisches Buch zu lesen hat man hier gar keine Zeit, u. das ist doch auch sehr nützlich, besonders da hier die französische Sprache nicht zum Besten betrieben wird“ (Adele Bredt an die Eltern, 18. Juli 1852).

Gleichzeitig war der Pensionatsalltag mit allerlei ‚weiblichen‘ Beschäftigungen ausgefüllt, welche die Mädchen auf ihre spätere Lebensführung als bürgerliche Hausfrau und Mutter vorbereiten sollten: Hauswirtschaftskunde, Nähstunden sowie Gesangs- und Klavierunterricht, sodass der gesamte Tag bis zum späten Abend mit ‚weiblich-nützlichen‘ Beschäftigungen und mit zeitintensiver, aber wenig anspruchsvoller Lernarbeit ausgefüllt war (vgl. Adele Bredt an die Eltern, 13. Juni 1852). Der Lehrplan enthielt die klassischen Inhalte höherer Töchterbildung: Fremdsprachen, ästhetische Bildung, etwas Geschichte, Rechnen und Naturkunde, Hauswirtschaft und Instrumentalunterricht (vgl. Adele Bredt an die Eltern, 18. Juli 1852; Blosser und Gerster 1985, S. 195). Adele Bredts Briefe verbargen den Eltern aber auch nicht die Langeweile, der sie sich im Pensionat ausgesetzt sah: „Wenn ich mir all das Vergnügen vorstelle, welches Ihr zu Hause habt, denke ich oft, ich wäre lieber bei Euch, hier wäre es doch so sehr still, das wäre mir unangenehm, denn wenn ich auch gerne und sehr ungeheuer oft an Euch denke, so fühlt man sich doch leicht nicht mehr so glücklich bei dem Gedanken, zu Hause thun sie jetzt dies, und ich muß Gramatik lernen. […] Hier fällt im Ganzen Nichts vor, ich war vergangene Woche bei Frau Huyssens zum Thee, es war sehr angenehm“ (Adele Bredt an die Eltern, 3. Juli 1852).

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Nach ihrer im Herbst 1853 erfolgten Rückkehr aus dem Pensionat wurde Adele Bredt im Elternhaus stärker in Haushaltsaufgaben eingebunden. Dennoch stand es ihr frei, ihren Tagesablauf selbst zu organisieren und ihr geselliges Leben fortzusetzen, sofern sie die ihr zugewiesenen Aufgaben erfüllte. Wenn die Mutter sich auf mehrwöchigen Verwandtschaftsbesuchen in einem der Nachbarorte befand, war es Adele Bredts Aufgabe, mit inzwischen achtzehn Jahren die Haushaltsführung ganz zu übernehmen. Sie sollte sich um die kleineren Geschwister ebenso kümmern wie sie für die Beaufsichtigung des Personals zuständig war. Erforderliche weibliche Handarbeiten waren von ihr auszuführen, die Mahlzeiten vorzubereiten und ihre Zubereitung zu beaufsichtigen: „Montag nachdem Du abgereist warst, fuhr ich in meiner Beschäftigung die Betten zu machen fort, ich war gerade um 10 Uhr damit fertig und wollte mich hinauf begeben, als ein Wagen hielt, und W. Osterroth mit seiner Braut erschien, ich ließ sie zum Glück nicht lange warten, wünschte ihnen von Herzen Glück zu ihrer Verlobung, die Braut gefällt mir recht gut, obschon ich sie nicht hübsch finde, wohl anmuthig od. interessant, doch ist sie nicht die Schönheit, welche ich in ihr erwartete, sie ist sehr freundlich. Als sie weg waren, stopfte ich Vaters Handschuhe, flickte seinen Rock, u. zog mich ein wenig ordentlich an, um ganz fertig zu sein, wenn die Kinder aus der Schule kommen würden. Ich machte mit Emma Französisch, dann aßen wir bald; vor der Schule half ich Emil u. Rudolf noch an Einigem, damit sie am Abend allein fertig werden konnten, da ich Kränzchen hatte. In der Zwischenzeit gab ich Alles heraus, übte mich, las einige Zeilen, u. ging dann zu Rittershaus, wo ich viel Vergnügen hatte. Vater hatte an diesem Abend eine Versammlung, wir tranken Thee zusammen, ich las mit den Kindern und sie gingen zu Bett“ (Adele Bredt an ihre Mutter, 24. Februar 1854).

Von ihrer Mutter erwartete Adele Bredt bei der Führung des Haushalts eine partnerschaftliche Beratung, ihre Briefe spiegeln ein entsprechendes Verhältnis zur Mutter wider. Daher nahm sie gegenüber ihrer Mutter in den Briefen eine selbstständige Position ein; sie bat um Kommentare, nicht um Anweisungen, formulierte die Interpretation von Situationen selbst und überließ dies nicht ihrer Mutter: „Schreib mir doch mal, ob Du es sehr faul findest, daß ich noch nicht genäht habe, ich bin immer beschäftigt, man hat auch viele Kleinigkeiten zu denken, welche so viel Zeit in Anspruch nehmen. Nächste Woche kommen Esch, dann wird es mit dem Nähen, Üben u. s. w. auch nicht viel geben“ (Adele Bredt an die Mutter, 3. März 1854).

Die Lebensperspektiven für bürgerliche Mädchen um die Jahrhundertmitte des 19. Jahrhunderts waren dennoch klar strukturiert. Das damit verbundene

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Geschlechterrollenmodell wurde in Adele Bredts Briefen auch nicht infrage gestellt. Aber die Eröffnung von Freiräumen zur Selbstorganisation von Peergroups und zu jugendlichen Aktivitäten durch die Erwachsenen und der Besuch einer koedukativen, durch die Jungen und ihre Berufsziele stärker leistungsorientierten Schule erzeugten Kritikfähigkeit. Noch fehlten jedoch mobilisierende Debatten und gesellschaftliche Strukturveränderungen, welche den Mädchen den Weg von der Kritik zu schulischen Qualifizierungen und zu Berufstätigkeiten geebnet hätten. Es gibt in der vorliegenden bildungshistorischen Forschung nicht wenige Hinweise auf bürgerliche Mädchen im 19. Jahrhundert, deren Eltern ihnen viele Möglichkeitsräume zugestanden, von der elterlichen Förderung ihrer Interessen über die Bestärkung ihrer schulischen Leistungsbereitschaft bis hin zur Akzeptanz selbstgewählter und -gestalteter Freundeskreise (vgl. Budde 1994, S. 220 ff.; Hardach-Pinke 2000, S. 136 ff.). Adele Bredt wuchs nicht in einem traditionellen Befehlshaushalt auf; vielmehr kann man ihre familiale Erziehung als modernisierten Befehlshaushalt kennzeichnen. Eine hierarchische Struktur zwischen Eltern und Kindern war gekoppelt mit der Besprechung, nicht aber der Verhandlung von Regeln (vgl. du Bois-Reymond 1994, S. 148 ff.; Ecarius 2007, S. 143 ff.). Vor diesem Hintergrund waren Adele Bredts Erziehung und Sozialisation ambivalent strukturiert. Während bürgerliche Lebensformen und Geschlechterrollen als Entwicklungsziele vorgegeben waren, wurden gleichzeitig Freiräume zur Selbstentfaltung und zur selbstbestimmten Interaktion eröffnet, wodurch die Lebensformen und Geschlechterrollen aber tendenziell infrage gestellt werden konnten.

3 Erziehung, Bildung und Sozialisation bürgerlicher Mädchen in den 1880er Jahren Dreißig Jahre nach Adele Bredt führte Antonia („Tony“) Klincke (1870–1946), die fünfzehnjährige Tochter eines westfälischen Drahtfabrikanten aus dem kleinstädtischen Altena, einen Briefwechsel mit ihrer Cousine und Freundin Frieda Trappenberg. Tony Klincke befand sich während des Briefwechsels 1885/1886 in einem Mädchenpensionat in Darmstadt, zuvor hatte sie drei Jahre lang eine private Höhere Töchterschule am Heimatort besucht. Dagegen war ihre Freundin zur Zeit des Briefwechsels in einer Haustochterstelle in einem Dorf an der mecklenburgischen Seenplatte untergebracht. Haustochterstellen waren im 19. und frühen 20. Jahrhundert im Unterschied zu Mädchenpensionaten hauptsächlich dazu da, Mädchen die Führung größerer Haushalte zu vermitteln. B ­ ürgerliche

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Familien und alleinstehende adlige oder bürgerliche Damen, aber auch evangelische Pastoren wie im Falle Frieda Trappenbergs, boten solche Stellen an, in denen die Mädchen entweder im Anschluss an ein Pensionat oder alternativ dazu allein oder mit weiteren Haustöchtern ein bis zwei Jahre verbrachten. Die Mädchen waren gehalten, aktiv in den Haushalten mitzuarbeiten, erhielten aber oft noch einige Stunden Unterricht in Fremdsprachen, Klavierspielen und geselliger Konversation. Sie halfen in der Küche und lernten die Vor- und Zubereitung einfacher und festlicher Mahlzeiten für kleinere und größere Gesellschaften, übten Tischarrangements für den Alltag und für festliche Gelegenheiten ein, lernten Waschen, Bügeln und Plätten sowie grobe und feine Flick- und Näharbeiten auszuführen. Aus den Briefen von Tony Klincke und Frieda Trappenberg wird deutlich, wie unterschiedlich in der Arbeits- und Lernbelastung, je nach Wunsch und Einkommen der Eltern, Erziehungsinstitute und Haustochterstellen gestaltet sein konnten. So musste sich die Freundin Frieda z. B. intensiv in die Hausarbeit des großen Pastorenhaushalts einbringen; die Familie besaß insgesamt sechs eigene Söhne und zwei eigene Töchter. Darüber hinaus beherbergte der Pastor noch drei weitere Haustöchter, sodass insgesamt fünfzehn Personen täglich zu versorgen waren, denn dazu kam noch ein Dienstmädchen: „Wir stehen Morgens um ½ 6 Uhr auf. Sodann geht jede an ihre bestimmte Arbeit. Wir haben alle unsere Wochen, die eine Küchenwoche, die andere Kaffeewoche, die dritte Stubenwoche. Ich habe jetzt eine sehr angenehme Woche, ich muß nach dem Aufstehen eine Stube, die sogenannte ‚graue Stube‘ fertig machen, dann darf ich handarbeiten bis zum Kaffeetrinken, welches um ½ acht stattfindet. Nach dem Trinken muß jede ihr Schlafzimmer fertig machen, sodann hat jede wieder ihre bestimmte Arbeit. Um ½ 1 Uhr wird zu Mittag gegessen, und nach dem Essen fangen unsere Stunden an. Entweder haben wir Englisch, oder Französisch, oder Litteratur, od. Kunst od. Kirchengeschichte. Letztere Stunde haben wir mit drei Fräulein von Frisch zusammen. Nach dem Nachmittagskaffee machen wir einen Spaziergang (wenn es nicht zu heiß ist, sonst später). Nachher wird gehandarbeitet, wobei abwechselnd Französisch od. Englisch bei vorgelesen wird. Den Inhalt des Gelesenen müssen wir dann nächste Stunde in fremde Sprache erzählen. Nach dem Abendessen wird ein klassisches Stück gelesen. Um 10 Uhr gehen wir zu Bett, nachdem wir vorher noch viel Unsinn zusammen gemacht haben“ (Frieda Trappenberg an Tony Klincke, 12. Juni 1885).

Zur Hausarbeit kamen noch gärtnerische Tätigkeiten im Nutzgarten, das Einmachen von Obst und Gemüse und diverse Tisch- und Küchendienste, sodass die Haustöchter, da der Aufwand der Unterbringung und des Unterrichts recht gering war, nicht zuletzt kostengünstiges Hauspersonal darstellten. Die sechs Söhne der

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Familie befanden sich, wie bei bürgerlichen Familien in Kleinstädten und Dörfern ohne ausreichendes Schulangebot üblich (vgl. Groppe 2018, S. 199 ff.), in auswärtigen höheren Schulen und auf der Universität, kamen aber regelmäßig in den Ferien nach Hause: „Ich habe grade Kaffee gemacht für 15 Personen, denn alle sechs Söhne des Hauses, ein Student, ein Unteroffizier, ein Oberprimaner, ein Obersecundaner, ein Obertertianer, und ein Quartaner sind seit acht Tagen hier“ (Frieda Trappenberg an Tony Klincke, 1. Oktober 1885). Verhältnisse der Haustöchter mit den Söhnen der Familie blieben nicht aus. Ebenso wie Adele Bredt dreißig Jahre zuvor bahnte Frieda Trappenberg diese Beziehungen aktiv an. Aber auch für Besucherinnen von Mädchenpensionaten waren Freundschaften und Liebesbeziehungen mit männlichen Jugendlichen nicht unerreichbar, zum Beispiel durch in der Nähe angesiedelte höhere Knabenschulen. Tony Klincke hatte beispielsweise während ihres Aufenthalts im Darmstädter Mädchenpensionat ein Verhältnis mit einem Gymnasiasten (vgl. Frieda Trappenberg an Tony Klincke, 19. Januar 1886). Wie schon im Falle Adele Bredts drehte sich ein Großteil der Briefe der beiden Freundinnen um Liebesbeziehungen und deren Komplikationen.5 Für Frieda Trappenberg machte die Attraktivität der Söhne ihrer Gastfamilie einen Großteil ihres Genusses an der Haustochterstelle aus, und so schrieb sie Tony Klincke und deren älterer Schwester Selma: „Zuerst muß ich wohl die Euch noch unbekannten Söhne vorstellen. Also erstens […] Friedrig oder Fritz Hoyer Student der Theologie. Er ist hübsch, besonders von der Seite, äußerst liebenswürdig, zuvorkommend, höflich bringt uns immer zum Nachtisch das schönste Obst ect. ect. Wir haben ihn alle sehr gern. Sodann kommt Wilhelm der dritte Sohn, Günther der zweite ist nicht zu Hause da er dient, also Wilhelm der Oberprimaner ist nicht so nett wie sein Bruder und nicht so lustig, da er so viel fürs Examen zu lernen hat. Ferner Bernhard, Obersecundaner. Er ist wieder hübsch und der lustigste und witzigste von allen. Wir kommen beim Croquet spielen oft aus dem Lachen nicht heraus und amüsieren uns natürlich immer köstlich dabei. […] Weiter folgt Franz, Obertertianer. […] Wir führen hier jetzt ein Leben, es ist wirklich wonnevoll“ (Frieda Trappenberg an Tony Klincke, 12. August 1885).

Dass solche Beziehungen von den Mädchen nicht zwingend ernst genommen wurden, zeigt ein weiterer Brief Frieda Trappenbergs. Sie war mit dem ältesten Sohn Fritz eine Beziehung eingegangen, welcher nach Beendigung seines 5Gisela

Wilkending (2002) beschreibt in ihrer Darstellung der belletristischen Mädchenliteratur zwischen 1850 und dem Ersten Weltkrieg, dass auch dort voreheliche Beziehungen und die Sexualität junger Mädchen in der Darstellung oft nicht ausgespart wurden (vgl. ebd., S. 221 f., S. 232 f.).

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Studiums beabsichtigte, für ein Jahr als Hauslehrer nach Bayern zu gehen. Da sie die Beziehung nicht vertiefen wollte und bereits eine zweite, sehr attraktive Haustochterstelle in England in Aussicht hatte, schrieb sie, es sei „ganz gut, wenn er bald geht. Ich bitte hierüber um tiefstes Stillschweigen, und ich weiß ja auch, daß du liebe Töne deine Frieda nicht verrätst“ (Frieda Trappenberg an Tony Klincke, 1. Oktober 1885). Anders als Haustochterstellen waren Mädchenpensionate organisational auf Erziehung und Bildung der Mädchen ausgerichtet, auch wenn die Vorbereitung auf die Führung eines Haushalts mit berücksichtigt wurde, zum Beispiel durch Handarbeitsunterricht. Gleichzeitig wurden die Mädchen auf ein elegantes Auftreten in der Öffentlichkeit vorbereitet. Tony Klinckes ältere Schwester Selma berichtete aus dem Pensionat in Darmstadt, das auch Tony Klincke später besuchen sollte, dass sie in die dortige Gesellschaft eingeführt worden sei und einen Offiziersball6 besucht habe: „Am Mittwoch Abend war ich von von Schenks zu einem Casinoball eingeladen worden, ich habe mich ganz köstlich amüsiert. Von 7–11 Uhr habe ich getanzt. Die Namen der Offiziere und Lieutnants denen ich vorgestellt bin habe ich wieder vergessen. Die [unleserliches Wort, CG] habe ich mit einem Oberst von Keller getanzt, die Francaise mit einem Leutnant von Bodmer, mit Herrn von Schenk habe ich 5mal getanzt, mit Herrn Carl von Schenk (der Vetter von Anna von Schenk) auch ein paar mal. Ich hatte das Kleid mit der blauen Sammettaille an, meine Granatkette um und ein paar prachtvolle Rosenknospen anstecken. Der Boden des Tanzsaales war so glatt, daß man schliendern mußte um nur nicht hinzufallen. Ich wollte, du hättest diesen herrlichen Abend mit erlebt, es war wirklich zu schön“ (Selma Klincke an Tony Klinke, o. D., etwa 1883).

Durch Theaterbesuche gemeinsam mit den Pensionatsleiterinnen und den Mitpensionärinnen, durch Soireen und Konzertbesuche u. v. a. boten die Mädchenpensionate ein Bildungs- und Sozialisationsprogramm an, das die bürgerlichen Mädchen in möglichst milieugenauer Passung auf ihr Auftreten in Gesellschaften und auf ihre Rolle als Heiratskandidatinnen für junge bürgerliche Männer vorbereiten sollte.

6Offiziere

waren als Tänzer bei Abendgesellschaften aufgrund ihrer guten Körperhaltung und ihres häufig eleganten Auftretens gefragt. Weil ihre Dienstgehälter jedoch niedrig waren, kamen sie als Heiratspartner für Bürgertöchter aus etablierten Elternhäusern meist nicht infrage (vgl. Frevert 2001, S. 208 f.).

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Das Darmstädter Mädchenpensionat war mit einer öffentlichen Höheren Mädchenschule verbunden, welche über ein angeschlossenes Lehrerinnenseminar zur Ausbildung von Volksschul- und Mädchenschullehrerinnen verfügte. Weil die Seminaristinnen, welche sich auf eine Berufstätigkeit als Lehrerin vorbereiteten, teils auch im Mädchenpensionat untergebracht waren, trafen dort unterschiedliche Herkunftsmilieus und Lebensentwürfe aufeinander. Allerdings hatten auch die Eltern von Selma und Tony Klincke Wert auf eine anspruchsvolle Bildung gelegt und für ihre Töchter ein recht weit entferntes Mädchenpensionat ausgewählt, das als öffentliche Höhere Mädchenschule mit angeschlossenem Lehrerinnenseminar eine bessere Unterrichtsqualität versprach als private Höhere Töchterschulen oder eigenständige Mädchenpensionate, wie Adele Bredt eines in Kleve besucht hatte. So schrieb Tony Klincke ihrem Vater regelmäßig Briefe, in denen sie über den erhaltenen Unterricht referierte und dabei im Grunde jedes Mal eine schriftliche Prüfung über das Gehörte ablegte: „Du wünschest, lieber Papa, daß ich Dir mal einige Mitteilungen über die Vorträge in der Victoriaschule machen möchte. […] Sehr interessant u. angenehm ist es dagegen daß der Herr Director uns immer einiges von dem betreffenden Dichter in der eigentlichen alten Form vorliest. […] In der Lese Stunde haben wir mit Lessings ‚Nathan der Weise‘ begonnen. Zuerst sprach der Herr Director natürlich im allgemeinen über das Stück. – Er sagte daß Lessing uns durch seinen Nathan hat zeigen wollen, daß es auf das Dogma nicht ankommt, sondern wie der Mensch sich in seinem Leben bewährt. […] Er weicht darin von seinen eigenen Regeln in Bezug auf den Bau eines Dramas ab […]. Göthes Tasso ist auch kein gewöhnliches Drama. – Der Grund warum gerade ein Jude Gegenstand der Bewunderung in dem Stück ist, liegt darin, zu beweisen, daß die Christen nichts vor dem Judenthum voraus haben. – So weit sind wir mit Nathan bis jetzt gekommen; wenn es dich interessiert, lieber Papa, werde ich noch mehr darüber schreiben, falls der Herr Dir. uns mehr davon sagen sollte. – Über die Vorträge in Poetik werde ich nächstes Mal schreiben“ (Tony Klincke an Hermann Klincke, 27. Januar 1886).

Die bürgerliche Mädchenbildung wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aufgrund der sich unterschiedlich entwickelnden ökonomischen Lagen im Bürgertum und der damit verbundenen Lebensformen sozial differenzierter: Es gab eine oft international orientierte und überwiegend ästhetische Bildung für Mädchen aus gutsituierten bürgerlichen Familien, und es entwickelte sich eine auf spätere Berufsausübung ausgerichtete Mädchenbildung mit staatlichen Zertifikaten. Bürgerliche und mittelständische Milieus, welche auf eine notfalls eigenständige Versorgung unverheirateter Töchter, meist durch einen Lehrberuf, angewiesen waren, sorgten aber nicht nur für eine Ausdifferenzierung der Mädchenbildung (vgl. Zymek und Neghabian 2005, S. 29 f.; Kuhn 2000,

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S. 39 ff.), sondern auch, wie im vorliegenden Fall bei den Schwestern Klincke, für die Möglichkeit der Kenntnisnahme bürgerlich-weiblicher Lebensentwürfe, die auf Berufsausübung und Selbstständigkeit zielten. Während sich die Grundstruktur der Mädchenbildung in wohlhabenden bürgerlichen Milieus – weiterführende Mädchenschule, privat oder öffentlich, daran anschließend der Besuch eines Mädchenpensionats und/oder ein Haustochterjahr – nicht änderte, wurde sie zugleich feminisierter. Die Mädchen dieser Milieus, Unternehmer- und Kaufmannstöchter, Töchter etablierter Professoren, hochrangiger Richter usw., besuchten in den 1880er Jahren am Heimatort keine koedukativen Schulen mehr, sondern absolvierten schon vor dem Pensionatsbesuch reine Mädchenschulen. Allerdings gingen bürgerliche Mädchen auch in den 1880er Jahren Freundschaften und Beziehungen zu männlichen Jugendlichen ein und legten sich keineswegs eine keusche Zurückhaltung auf. Auch dreißig Jahre nach Adele Bredt und ihren Freundinnen präsentierten bürgerliche Mädchen Flirts und Beziehungen als ein angemessenes, moralisch unproblematisches Verhalten. Aber da sich der gesamtgesellschaftliche Sozialisationsrahmen veränderte, denn dieser wurde ab den 1880er Jahren im Kaiserreich bürgerlicher, kapitalistischer, industrialisierter, technisierter und zunehmend (groß-)städtisch, konnten auch Mädchen mit einem Bildungsgang an privaten Höheren Töchterschulen und in Mädchenpensionaten sich von traditionellen Frauenrollen zu lösen beginnen. Die Kenntnisnahme alternativer Lebens- und Ausbildungswege für Mädchen wie an der Höheren Mädchenschule in Darmstadt wird dabei vermutlich hilfreich gewesen sein.

4 Fazit und Ausblick Das Aufwachsen von Adele Bredt, Frieda Trappenberg sowie Tony und Selma Klincke stellte zwischen der Jahrhundertmitte und den 1880er Jahren je eine eigenständige Mädchenjugend dar, die von den Eltern ermöglicht und pädagogisch gefördert wurde. Für alle vier Mädchen gab es ein psychosoziales Moratorium als zeitlich ausgedehnte, für die Persönlichkeitsbildung und die Vorbereitung auf spätere Aufgabenfelder vorgesehene Lern- und Entwicklungsphase (vgl. Zinnecker 2000). Das Lebensideal einer Heirat und Familiengründung stand für Mädchen in bürgerlichen Familien während des gesamten 19. Jahrhunderts außer Frage; Bildung war in diesem Zusammenhang nicht unwichtig, aber anders als bei den Jungen nicht essentiell (vgl. Budde 1994, S. 227 ff., S. 240 ff.). Zu der relativen Freiheit der Mädchen gehörte sowohl in den 1850er als auch in den 1880er Jahren eine in den Briefen sichtbare, von den weiblichen Jugendlichen

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selbst gestaltete Jugendkultur in Peergroups und eine Selbstpräsentation als eigenständig handelnde und entscheidende Person. Erst an der Jahrhundertwende 1900 veränderten sich gesellschaftliche Sozialisationskontexte und Lebensperspektiven für bürgerliche Mädchen deutlich. Berufsfelder, nicht nur im Fürsorgebereich und in der Mädchenbildung, standen zunehmend auch Frauen offen. Insbesondere in den an Gesamtzahl und Einwohnerschaft wachsenden Großstädten konnten Mädchen neue, alternative Lebensformen beobachten oder sie als Erwachsene selbst ausprobieren. Dies begann bei kleinen Alltagspraktiken wie dem Kaffeehausbesuch einer jungen Frau ohne Begleitung und konnte bis zum Bezug einer Wohnung als Alleinstehende und bis zur Übernahme einer qualifizierten Berufstätigkeit reichen. Die Lebensideale wurden vielfältiger, bürgerliche Mädchen konnten sich nach der Jahrhundertwende insbesondere in Städten in pluraleren Sozialisationskontexten bewegen (erweiterte Freizeit- und Konsummöglichkeiten, geringe soziale Kontrolle, variantenreicheres Bildungs- und Ausbildungsangebot etc.) und sich auch an neuen Rollenvorbildern orientieren: Die ersten Unternehmen beschäftigten vor dem Ersten Weltkrieg qualifizierte Frauen als Abteilungsleiterinnen, Frauen machten sich als Geschäftsinhaberinnen (Schneiderinnen, Hutmacherinnen, Fotografinnen u. v. a. m.) selbstständig (vgl. Beuys 2014). Nach der Jahrhundertwende konnten Frauen regulär das Abitur ablegen und studieren, in Preußen, dem größten Einzelstaat des deutschen Kaiserreichs, seit 1908. Damit standen Frauen auch akademische Berufsfelder offen. Für die meisten bürgerlichen jungen Frauen war die Berufsarbeit aber kein Gegenentwurf zu Eheschließung und Familiengründung, sondern ein vorausgehendes Stadium, sofern sie nicht unverheiratet blieben. Dennoch wurden schulische Qualifikation, Ausbildung und Berufstätigkeit ab der Jahrhundertwende für bürgerliche Mädchen zu möglichen Alternativen in der Lebensplanung.

Literatur Primärquellen Privatarchiv Dr. Albrecht Colsman und Geschwister I, Velbert-Langenberg: Sign. 10, Familien- und Freundesbriefe an Tony Klincke, 1883–1890; Sign. 23, Briefe von Tony Colsman an Peter Lucas Colsman, 1891–1894; Briefe von Tony Klincke aus der Schulzeit, 1886. Privates Firmen- und Familienarchiv Gebrüder Colsman, Essen-Kupferdreh: B4g54, Briefe von Adele Bredt an Maria Esch, 1849–1855; B4g55, Briefe von Adele Colsman an die Eltern, 1852–1883.

Ein vergessenes Thema bildungshistorischer Forschung …

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Zwischen Technik-Avantgarde und gesellschaftskritischer Subkultur – die jugendkulturellen Szenen der Nerds Lea Puchert und Hans-Jürgen von Wensierski

Zusammenfassung

Trotz der gestiegenen Aufmerksamkeit für digitale und medienaffine Jugendszenen ist die Jugendkultur der Nerds bislang wenig ins Blickfeld der Jugendforschung geraten. Es fehlen einschlägige theoretische sozialwissenschaftliche Analysen und explizite empirische Studien der Jugendkulturforschung zum Thema. Der vorliegende Beitrag setzt an diesem theoretischen und empirischen Desiderat an und versucht, die Jugendkultur der Nerds als bedeutsame Szene für Jugendliche im Zeitalter der digitalisierten Moderne herauszuarbeiten. Im Ergebnis entsteht eine erste topographische Skizze zur Nerd-Jugendkultur, die sowohl auf die Ausdifferenzierung und Pluralisierung von jugendkulturellen Szenen als auch auf die Ambivalenz und Entwicklungsdimension jugendkultureller Phänomene aufmerksam macht. Schlüsselwörter

Digitale Jugendkultur · Jugendkultur · Jugendszene · Nerd · ­Nerd-Kultur ·  Jugendforschung

L. Puchert (*)  Universität Rostock, Rostock, Deutschland E-Mail: [email protected] H.-J. von Wensierski  Universität Rostock, Rostock, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Fuchs et al. (Hrsg.), Jugend, Familie und Generationen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24185-8_5

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Im Zuge der Individualisierung und Ausdifferenzierung jugendkultureller Szenen sowie der steigenden Bedeutung von Medien für die Gestaltung jugendkultureller Praxen hat sich seit den 1970/1980er Jahren ein pluralistisches Spektrum von Jugendkulturen herausgebildet. Diese facettenreiche Landschaft jugendkultureller Szenen zeichnet sich inzwischen nicht mehr überwiegend durch explizite jugendliche Protestkulturen als vielmehr durch eine Vielzahl postmodern und freizeitkulturell orientierter Jugendszenen aus. Vogelgesang sieht sogar Hinweise für eine regelrechte „Inflation medienfokussierter Jugendszenen“ (2014, S. 139). Deutlich wird in diesem Zusammenhang, dass insbesondere die mediatisierten und technisierten Freizeit- und Alltagswelten für Jugendliche im 21. Jahrhundert nicht nur zu zentralen Sozialisationsinstanzen, sondern auch zu einem bedeutsamen Erfahrungsbereich für soziale Distinktions- und Identitätsbildungsprozesse sowie jugendkulturelle Vergemeinschaftung geworden sind. Vor diesem Hintergrund hat die Beschäftigung mit den vielfältigen medialen Praxen von Jugendlichen sowie der sozialisatorischen und identitätsbildenden Rolle und Wirkung von Neuen Medien innerhalb der Jugendforschung in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Allerdings: Trotz der gestiegenen Aufmerksamkeit für digitale und medienaffine Jugendszenen ist die Jugendkultur der Nerds bislang noch wenig ins Blickfeld der Jugendforschung geraten. Obgleich die kulturelle Figur des Nerds in der öffentlichen Debatte sowie im medialen Raum bei Film und Fernsehen nicht neu ist, fehlen einschlägige theoretische sozialwissenschaftliche Analysen und explizite empirische Studien der Jugendkulturforschung zum Thema. So verzichtet etwa das Kompendium zur jüngeren Jugendkulturforschung „inter-cool 3.0“ (Richard und Krüger 2010), das sich explizit mit medienaffinen und digitalen Jugendkulturen beschäftigt, auf detaillierte Bezüge zur Nerd-Kultur. Krüger identifiziert zwar in seiner Kartographie aktueller jugendkultureller Stile und Szenen auch mediale Szenen, grenzt diese aber auf die Gruppen der „Daily-Soap-Fans“ und „Computerfreaks“ (2010, S. 34) ein. Selbst in dem thematisch einschlägigen Sammelband „Digitale Jugendkulturen“ (Hugger 2014) findet das kulturelle Leitbild vom Nerd wenn überhaupt nur indirekt Berücksichtigung in der Analyse digitaler, technikaffiner und mediatisierter Jugendkulturen. Darüber hinaus liegen lediglich einige kürzere wissenschaftliche Aufsätze oder kleinere Studien aus Examensarbeiten (z. B. Jänick 2013) vor. In populärwissenschaftlichen Monographien kommt dem Thema zwar vereinzelt eine größere, aber eher humoristische und publizistische Aufmerksamkeit zu (z. B. de Bruijn 2000; Nugent 2008; Zittlau 2012). Dennoch scheint uns die Jugendkultur der Nerds als bedeutsame Szene für Jugendliche im Zeitalter der digitalisierten Moderne (vgl. Baecker 2018). Zum einen gewinnt sie zunehmend an Bedeutung und Einfluss auf H ­ eranwachsende

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und ihre Gleichaltrigen. Zum anderen macht die Jugendkultur der Nerds auf die Ambivalenz und die Entwicklungsdimension jugendkultureller Phänomene aufmerksam. So stellen wir die These auf, dass die Jugendszene der Nerds von ihrer ehemals soziokulturellen Marginalisierung mittlerweile auch in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Der Typus des Nerds hat sich von einem ehemaligen mobbinggefährdeten sozialen Außenseiter zum Leitbild einer hippen technikkulturellen Avantgarde oder zum Prototyp eines anarchischen Hüters digitaler Grundrechte in der forcierten Mediengesellschaft entwickelt. Nachfolgend unternehmen wir daher den Versuch, den Typus des Nerds als jugendkulturelle Szene innerhalb digitaler bzw. medien- und technikaffiner Jugendkulturen zu rekonstruieren und in seinen spezifischen Ausprägungen zu skizzieren. In einem ersten Schritt gilt es dafür zu klären, wie sich der Nerd-Begriff entwickelt hat und welche Vorstellungen mit ihm verbunden sind. Im Anschluss daran stellen wir kursorisch eigene empirische Befunde aus einer qualitativen Biographie-Studie zu männlichen Ingenieurstudierenden (Puchert 2017) und ihrem Bezug zum kulturellen Leitbild des Nerds vor. In einer abschließenden Reflexion werden wir die bisherigen theoretischen und empirischen Erträge des Nerd-Diskurses resümieren und in eine erste systematisierende Skizze der Nerd-Jugendkultur zusammenführen.

1 Entwicklung des Nerd-Begriffs Das Lexem „Nerd“ hat sich mittlerweile als Anglizismus im deutschen Sprachschatz etabliert. Noch in den 1990er Jahren wurde es häufig für die Synchronisation US-amerikanischer Serien ins Deutsche übersetzt – meist mit negativen Bezeichnungen, wie Trottel, Musterschüler, Dummkopf, Idiot, Loser oder Computerfreak. Da es für die Figur des Nerds aber kein stimmiges inhaltliches Pendant im deutschen Vokabular gab, wurde sukzessive auf eine deutsche Übersetzung verzichtet (vgl. Osterroth 2015). Dabei ist die Etymologie des „Nerd“-Begriffes zwar bis heute nicht ganz geklärt. Überwiegend wird seine Entstehungsgeschichte aber mit der Entwicklung der amerikanischen Jugend- und Popkultur nach dem Zweiten Weltkrieg verbunden. Als Ursprung für den Nerd Begriff gilt u. a. das 1950 veröffentlichte Kinderbuch „If I Ran The Zoo“ aus der „Dr. Seuss“-Reihe. Darin wird ein Fabelwesen – „grumpy humanoid with unruly hair and sideburns, wearing a black T shirt“ (Burrows 2016) – als Nerd bezeichnet. Allerdings gilt ein inhaltlicher Zusammenhang mit dem kulturellen Leitbild vom Nerd im einschlägigen Fachdiskurs als umstritten. Eine stärkere Verbreitung findet der Begriff offensichtlich erst nach

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einem Artikel der Zeitschrift Newsweek vom 8. Oktober 1951 über die Entwicklung der amerikanischen Alltagssprache. Letztlich existieren aber auch weitere Theorien, die davon ausgehen, dass die Wortschöpfung eher durch die amerikanische Schüler- und Studentenszene geprägt ist: 1) als Begriff für Langweiler (,knurdsʻ) an Colleges; 2) als Figur namens Nurdly oder Nurd in zwei amerikanischen Studentenzeitungen; 3) als Akronym für Non Emotionally Responding Dude (vgl. Scholz 2014, S. 21 f.). Scholz (2014) vermutet, dass vor dem Hintergrund des veränderten amerikanischen Bildungssystems, gestiegener Schüler- und Studierendenzahlen sowie zunehmender Immigration insbesondere die amerikanische Bildungselite ihre gesellschaftlich ökonomische Hegemonie bedroht sieht und den Nerd-Begriff als Distinktionsstrategie verwendet. Zum Gegenpart des Nerds wird im Rahmen dessen vor allem der weiße, muskulöse Quarterback (,Jockʻ) stilisiert. Nach der Konsolidierung des Begriffes im amerikanischen Sprachgebrauch in den 1960er Jahren, kommt es in den 1970er Jahren schließlich zur Etablierung als „visueller Stereotyp“ (Mertens 2012, S. 58). Folgt man Scholz (2014) und Mertens (2012), so gelangt die Figur des Nerds im weiteren Verlauf vor allem durch amerikanische TV-Serien (Happy Days ab 1974; Family Matters ab 1989; Beauty and the Geek/Nerd ab 2005; The Big Bang Theory ab 2007) und Hollywood-Produktionen (Revenge of the Nerd, 1984; Hackers, 1995; Stirb langsam 4.0, 2007; The Social Network, 2010; I.T./ Hacked, 2016) letztlich auch zu einer „stereotypen Visualität“ (Mertens 2012, S. 60). „Stereotyp ist die äußerliche Erscheinung von Hornbrille, Pottschnitt, Tuchhose, Hosenträger und Hemd, in dessen Brusttasche einsatzbereite Kugelschreiber in vor Tintenauslauf schützenden PVC-Hüllen stecken. Alle anderen Attribute sind variabel, insofern, als sie nicht spezifisch sein müssen, sondern nur Interessen darstellen sollen, die die Nerds als asozial, weil nicht auf die Suche nach Sexualpartnern fixiert, kenntlich machen“ (ebd.).

Als charakteristisch für die stereotype Darstellung vom Nerd erweisen sich somit vor allem äußerliche Erscheinungsmerkmale, die Unattraktivität symbolisieren und zu gesellschaftlicher Exklusion führen. Dass der Computer bei der Vorund Darstellung über Nerds in den USA eher eine untergeordnete Rolle spielt, sieht Mertens (2012) in der für Zuschauer langweilenden Visualisierung von Computer-Aktivitäten in Serien und Filmen begründet. Alternativ wurden in den USA andere unattraktiv erscheinende Attribute für die Stilisierung zum Nerd verwendet: anfangs typische 80er-Jahre-Kleidung, später vor allem lange Haare und 1990er-Band-Shirts. Ab den 1980er Jahren wird das kulturelle Leitbild vom Nerd dann auch im internationalen Raum populärer. In Japan entwickelt sich im Zuge

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dessen der kulturelle Stereotyp vom „Otaku“ als Äquivalent zum Nerd. In der Bundesrepublik Deutschland findet das Nerd-Leitbild vor allem mit der stärkeren Bedeutung von Computern seine Verbreitung, sodass der Figur des Nerds in Deutschland mehr computerbezogene Assoziationen inhärent sind (vgl. Mertens 2012, S. 53 ff.; Scholz 2014). Sichtbar wird in der Entwicklung des kulturellen Leitbildes vom Nerd letztlich eine Bedeutungstransformation. „War die Bezeichnung in den 1980er Jahren noch klar als Beleidigung zu sehen (Nerd1), so hat sich das Lexem heute so entwickelt, dass es die Bezeichneten auch als Auszeichnung oder Kompliment wahrnehmen (Nerd2)“ (Osterroth 2015, S. 5). Die neue positive semantische Konnotation speist sich nach Osterroth vor allem aus der zunehmenden popkulturell aufgeladenen Bedeutung und aus spezifischen Wandlungsprozessen im englischen Sprachgebrauch (vgl. ebd., S. 1 ff.). Zugleich spiegelt sich darin aber die kulturelle Veralltäglichung des Computers, zunächst mit der Herausbildung des Personalcomputers, neuer digitaler Jugendmedien (z. B. Computerspiele, Spielkonsolen) sowie der Entwicklung des Internets. War Computertechnik zu Beginn etwas für sozial isolierte technische Einzelgänger in ihrer Garage, so avancieren Computer-Nerds jetzt zum gern aufgesuchten Experten für die eigenen Technikprobleme mit PC, Software und Online-Zugang. Glöss (2006) geht deshalb davon aus, dass die lange Zeit negativen Merkmale des Nerds zunehmend durch positive Bedeutungen ersetzt werden. Statt eines sozial wenig kompetenten Außenseiters, beschreibe das kulturelle Leitbild vom Nerd mittlerweile stärker einen charakterfesten und intelligenten Individualisten (vgl. ebd., S. 1 ff.). „Viele Anzeichen sprechen dafür, dass sich dieses neue Bild noch weiter durchsetzen wird, ist es doch die immer größer werdende Subkultur der Nerds, die durch ihr technisches Wissen die meisten Möglichkeiten hat, das Informationsmedium Internet zu gestalten“ (ebd., S. 5). Quail (2011) nimmt an, dass es sukzessive zu einer positiven Ausdifferenzierung des N ­ erd-Leitbildes kommt. Dies sieht die Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin vor allem in der steigenden Etablierung von ‚Nerd-Technik‘ in der gesellschaftlichen ­Mainstream-Kultur begründet (vgl. Quail 2011, S. 467). Scholz konstatiert schließlich, der Nerd sei mittlerweile zum „Vorbild der Informationsgesellschaft avanciert“ (2014, S. 10). Zudem steige der Nerd, der anfangs als besonders unmodisch galt, nunmehr mit seinen modischen Accessoires (wie z. B. der Hornbrille) zum stylischen Trendsetter auf. Aufgrund ihrer Technikkompetenz und -affinität entwickelt sich die ‚Nerd-Kultur‘ aus Sicht von Scholz aber zu einem zentralen „Prosumenten“ der vor allem amerikanischen Unterhaltungsindustrie und verliere damit, nicht zuletzt durch Selbststilisierung, gleichzeitig ihren subkulturellen Charakter (vgl. ebd., S. 10 ff.; 37 ff.). Die Nerd-Kultur,

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so resümiert Scholz kritisch, sei sich gegenwärtig ihrer eigenen Nerdigkeit bewusst, sie erzeuge Kulturprodukte der „Self-Awareness“, sodass der Subtext, der als Geheimsprache ehemals nur den Nerds vorbehalten war, langsam verschwinde und Teil des Mainstream werde (vgl. ebd., S. 46 ff.). Auch Zittlau sieht die Gefahr, dass die Nerd-Kultur durch den Einzug des Mainstreams ihre „anarchische Wesenskultur“ (Zittlau 2012) verlieren könnte. In der Frauen- und Geschlechterforschung wird das kulturelle Leitbild vom Nerd bzw. die Nerd-Kultur nach wie vor überwiegend unter einer kritischen Perspektive betrachtet. So gehen einige VertreterInnen davon aus, dass die Entwicklung einer Nerd-Identität mit der Übernahme des hegemonialen Männlichkeitskonzepts, insbesondere der weißen und männlichen westlichen Mittel- und Oberschicht, einhergeht. Damit sehen Akteure der Frauen- und Geschlechterforschung nicht nur die Gefahr einer Exklusion von Frauen, sondern identifizieren auch einen „race-gap“ in der Nerd-Kultur, der insbesondere schwarze Nerds ausschließe (vgl. Ganz 2014, 2018; Scholz 2014; Kendall 2011; Quail 2011; Eglash 2002).

2 Nerds im Blick der Sozialforschung Die Sozialforschung hat dem Nerd-Thema bislang wenig Aufmerksamkeit gewidmet. So existieren nur wenige Pionierstudien aus den 1990er Jahren (Turkle 1984; Baerenreiter et al. 1990; Eckert et al. 1991), die sich dann auch insbesondere mit den Alltagswelten und Szenen von Computerfans und Computerfreaks auseinandersetzen, dabei aber noch nicht den Begriff des Nerds verwenden. Eine systematische Auseinandersetzung mit und eine valide empirische Analyse der Nerd-Kultur unabhängig von Computerbezügen ist hingegen bis heute kaum zu identifizieren. So analysierte Turkle (1984) in einer ethnographischen Untersuchung die Bedeutung und den Einfluss von Computern für das Selbstbild von Computernutzern. Insbesondere die Ingenieur-Studenten vom MIT (Massachusetts Institute of Technology) identifizierte sie schließlich als „archetypical nerds“ (ebd., S. 197 f.). Baerenreiter et al. (1990) untersuchten mit ihrer qualitativen Studie (teilnehmende Beobachtungen und narrative Interviews) die biographische „Geschichte der Beschäftigung mit dem Computer“ von Jugendlichen und gehen dabei auch der Frage nach, ob jugendliche Computerfans eine Subkultur bilden. Mit der Entscheidung für den Begriff des „Computer-Fan“ beabsichtigt das Forscherteam, einen neutralen und offenen Begriff zu wählen, um vorschnelle

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stereotype Etikettierungen zu vermeiden. Bei der Untersuchung stellt sich zwar heraus, dass den Computer-Fans durchaus „der Inhalt solcher öffentlichen Zuschreibungen und der damit verbundene Diskurs bekannt [ist]. Nicht als Individuen, sondern als (imaginäres) Kollektiv angesprochen, müssen sie sich offenbar manchmal doch damit auseinandersetzen oder fühlen sich zu Richtigstellungen provoziert“ (ebd., S. 322; d. Verf.).

Insgesamt lassen sich aber solche Legitimierungs- und Selbstzuschreibungsmuster nur sehr selten in dem qualitativen Datenmaterial finden. Die von den Autoren herausgearbeitete Typologie der unterschiedlichen Verlaufsmuster der Auseinandersetzung mit dem Computer weist letztlich auf eine pluralistische Bedeutung des Computers in der Jugendbiographie hin. Die Autoren kommen daher zu dem Schluss, die Computer-Fans gebe es nicht. Insofern sind C ­ omputer-Fans für Baerenreiter et al. letztlich auch „kein oppositioneller Gruppenstil, keine Jugend- oder Subkultur, nicht einmal eine Szene“ (ebd., S. 217). Eckert et al. (1991) zielen mit ihrer ethnographischen Studie auf die Rekonstruktion spezifischer Aneignungsweisen und Gebrauchsstile von „Computerfreaks“ und eine anschließende Typenbildung. Entgegen der häufig kulturpessimistischen Etikettierung von Computerfreaks stellen die Autoren fest, dass der Computer als technisches Artefakt positiven Einfluss auf die Nutzer haben kann, etwa indem durch die Computerbeschäftigung neue soziale Kontakte und Freundschaften aufgebaut werden können. Der Computer übernimmt aus Sicht der Forscher daher eine „doppelte kommunikative Funktion: Erstens trägt er (über Kommunikationsnetze) zur Reduktion von räumlichen und zeitlichen Grenzen bei und begünstigt so die Entstehung von neuen Formen menschlicher Kommunikation. Zweitens schafft er neue soziale Beziehungen und Gesellungsformen, die sich durch einen hohen Grad von Persönlichkeit und Intimität auszeichnen“ (ebd., S. 149).

Darüber hinaus können Eckert et al. nachzeichnen, dass die befragten „Computerfreaks“ ihren computerbezogenen Habitus vor allem autodidaktisch, durch Selbstsozialisationsprozesse und im Peerverband, entwickeln. In ihrer Typologie arbeiten sie letztlich eine Differenzierung unterschiedlicher Typen in Hacker, Crasher, Programmierer und Cracker sowie Spieler als medienaffine und digitale jugendkulturelle Szenen mit spezifischen „Subwelten“ und disparaten „Sinnwelten“ heraus. Insofern sprechen sie, im Kontrast zu Baerenreiter et al. (1990), den „Computerfreaks“ durchaus die Konstituierung zu einem jugendkulturellen Phänomen zu.

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Wolffram und Winker (2005) ermitteln in ihrer quantitativ angelegten ­ragebogen-Studie über Technikhaltungen von StudienanfängerInnen in F technischen Studiengängen im Rahmen einer Clusteranalyse fünf unterschiedliche Technikhaltungstypen. Neben den „Allroundern“, den „Technikfreaks“, „den EinsteigerInnen“ und „den Distanzierten“ konnten die beiden Sozialwissenschaftlerinnen auch den Technikhaltungstyp der „Computerfreaks“ identifizieren. Letztere zeichnen sich durch ein positives computerbezogenes Fähigkeitsselbstkonzept, eine ausgeprägte Computeraffinität und umfangreiche Computerkenntnisse aus. Das computerbezogene Interesse der „Computerfreaks“ hat sich laut der beiden Sozialforscherinnen insbesondere im Rahmen von Peerkontexten und durch das Spielen an Computern und Konsolen in der Adoleszenz entwickelt (vgl. ebd., S. 71 ff.). Die Politikwissenschaftlerin Kathrin Ganz (2018) hat in ihrer hegemonietheoretisch angelegten qualitativen Studie Akteure der „Netzbewegung“ und deren Subjektkonstruktionen untersucht. Dabei kann sie die Nerd-Subjektposition als einen „der zentralen Kristallisationspunkte für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis der Bewegung“ (ebd., S. 216) herausarbeiten. So verwenden die befragten Netz-AktivistInnen den Nerd-Begriff vorrangig zur Charakterisierung der Netzbewegung und ihres z. T. ‚nerdigen‘ subkulturellen Milieus. Allerdings identifizieren sich nur wenige der Befragten selber mit der Identitätsfigur des Nerds. Stattdessen grenzen sie sich mit der Selbststilisierung zum „Nicht-Nerd“ (auch zum Nerd zweiter Klasse oder nicht-vollständigem Nerd) explizit von klassischen Nerds ab. Darüber hinaus schreiben die politisch engagierten Netzaktivisten den technikinteressierten Nerds eine technokratische Haltung und ein fehlendes Politikinteresse zu (vgl. ebd., S. 216 ff.). In seiner Masterarbeit widmet sich Jänick (2013) explizit der „Nerd-Kultur“. Dabei geht der Informatiker der Frage nach, ob es eine gemeinsame Nerd-Kultur gibt und was diese ausmacht. In seinem abschließenden Resümee konstatiert er, dass das Nerd-Bild im Laufe der vergangenen Jahre ständigen Veränderungen und Wandlungen unterworfen war. So verschiebt sich das Bild der 1950/1960er Jahre vom genialen aber auch überheblichen und angstauslösenden Wissenschaftler und Tüftler (z. B. Alan Turing) seit den 1970er Jahren durch die Zeit der Homecomputer und Videospiele hin zum Typus des eigenbrötlerischen und sozial unangepassten Computerfreaks (z. B. Steve Wozniak). Ab den 1990er Jahren kommt durch das Aufkommen des Internets zudem eine weitere Bedeutungsdimension hinzu – die des technikrevolutionären und non-konformen Programmierers. Prototypisch stehe hierfür Linus Torvalds, der mit Linux und seinen Vorstellungen eines Open Source-Vertriebes von IT-Software gegen das Establishment protestierte. Ab den 2000er Jahren erweitert sich das Bild vom Nerd dann

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um zwei neue Typen. Erstens, den New Economy-Manager, etwa in Person von beruflich und ökonomisch erfolgreichen und öffentlich gefeierten Nerds wie Bill Gates, Steve Jobs, Elon Musk, Larry Page oder Mark Zuckerberg. Zweitens anonyme Hacker, die ihren Wissens- und Kompetenzvorsprung im Computerund Internetbereich z. T. dafür nutzen, um einerseits gesellschaftskritische Analysen zu veröffentlichen (z. B. der Chaos Computer Club – CCC; das Hacker-Kollektiv Anonymous; die Whistleblower-Plattform WikiLeaks mit Julian Assange sowie dem bereits ikonischen Edward Snowden). Andererseits erweist sich die Hackerszene zugleich als janusköpfige Struktur. Der aufklärerischen und gesellschaftskritischen Funktion der CCC- und Whistleblower-Fraktion stehen als Antipoden global agierende kriminelle Netzwerke gegenüber, die im Rahmen organisierter Kriminalität massive politische, ökonomische und technische Schäden verursachen (vgl. Jänick 2013, S. 45 ff.). Von dieser delinquenten Szene abgesehen, gelten Nerds somit nicht länger nur als verschrobene Freaks, sondern erfahren immer häufiger gesellschaftliche, berufliche und fachwissenschaftliche Anerkennung als Experten in relevanten und zukunftsträchtigen Spezialgebieten der digitalen Moderne. Dieser Bedeutungswandel ist auch in der Perspektive von Jänick letztlich eng verwoben mit der medien- und popkulturellen Rezeption des Nerds in Film und Fernsehen. Während in TV-Serien aber nach wie vor der liebenswerte Sonderling mit seinen sozialen und frauenbezogenen Problemen zur Belustigung des Publikums dient (z. B. anfangs in Happy Days; Charakter des Steve Urkel als schwarzer Nerd in Family Matters; Beauty and the Geek/Nerd; The IT Crowd; aktuell: The Big Bang Theory), werden im Film die vormals negativ konnotierten Attribute mittlerweile deutlich reduziert (z. B. anfangs in Colussus – The Forbin Project, Revenge oft the Nerds, Tron, War Games und Hackers; aktueller: Startup, Matrix, Stirb Langsam 4.0, Tron Legacy, Password Swordfish, The Social Network, Ocean’s 8 und Ready Player One). Nerds werden darin als coole Programmierer, intelligente Actionhelden und Geheimagenten, smarte C ­harming-Boys, rebellische Untergrund-Kämpfer sowie eiskalte Geschäftsleute dargestellt. Das verstärkte Interesse der Medien- und Kulturindustrie am Nerd-Charakter sieht Jänick insbesondere auch in Zusammenhang mit der steigenden Bedeutung der Nerd-Jugendkultur als zahlungs- und kaufkräftige Kosumentengruppe begründet (vgl. ebd., S. 56 ff.). In Ocean’s 8 (2018) werden darüber hinaus mit der Hackerin Nine Ball und ihrer technikversierten Schwester Veronica zwei schwarze Frauen als Nerd-Figuren eingeführt. In der „Millenium Trilogie“ (2009, 2011) führt Stieg Larsson ebenfalls mit der Figur der Lisbeth Salander eine starke und prototypische weibliche Protagonistin als anarchische Hackerin und Computer-Spezialistin ein. In Ready Player One (2018) versammelt sich

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zudem gleich ein ganzes Ensemble an unterschiedlichen Nerd-Typen: der geniale ­Spiele-Programmierer mit Frauenproblemen; der skrupellose Geschäftsmann als Gegenspieler; der clevere Gamer mit Charme-Qualitäten und Heldenstatus, mit der rebellischen Untergrundkämpferin als Liebespartnerin; die technikbegeisterte und lesbische schwarze Mechanikerin, die mit ihrem männlich-muskulösen Avatar Aechs die Genderidentität wechselt; sowie die beiden japanischen Ninjaund Samurai-Kämpfer. Für die Nerd-Kultur identifiziert Jänick insgesamt sogar zwölf disparate Strömungen und Szenen, die er den unterschiedlichen technisierten und mediatisierten Handlungsräumen der digitalen Alltagskultur zuordnet. Zwischen den Gruppierungen bestehen allerdings zahlreiche Schnittmengen (vgl. ebd., S. 25 ff.): 1) IT/Computer: Tüftler und Bastler, die sich leidenschaftlich mit dem Computer und seiner Funktionsweise auseinandersetzen, u. a. mit der Gruppe der Modder, die Computerhardware nach eigenen Vorgaben anpasst und mit der Gruppe der Software-Programmierer; 2) Internet: Blogger, Betreiber sozialer Netzwerke und Internet-Plattformen; 3) Szene: die Gruppe des Computer-Untergrundes; 4) Hacker, die sich am Rande der Legalität bewegen (Hacktivisten wie bei WikiLeaks oder kriminelle Cracker); 5) Demo-Szene: Gruppierung, die audiovisuelle Präsentationen auf ungewöhnlichen Plattformen erstellt (Commodore C64 oder Amiga); 6) Gamer: diese Gruppe beschäftigt sich intensiv mit Computer- oder Konsolenspielen (Offlineoder Online-Spieler; Casual Gamer als Gelegenheitsspieler oder Mitglieder einer Clan-Organisation im professionalisierten E-Sport); 7) Klassische Spieler: Pen & Paper Spieler, Tabletop-Spieler; 8) Fantasy: hierzu gehören Rollenspieler sowie Live Action Role Player; 9) Science Fiction: Mitglieder dieser Szene treffen sich gerne auf Conventions und sind von Raumschiffen und Zukunfts-Technologien fasziniert; 10) Fernost: Fans von Manga, Anime und Cosplay; 11) Unterhaltung: ­Comic-Sammler sowie Musik- und Filmfreaks 12) Sonstige: Sammler (Briefmarken, Militaria, Sammelfiguren), Amateurfunker und Modellbauer. In einer eigenen qualitativen Studie (Puchert 2017) zu Biographien und Studienfachorientierungen von männlichen Ingenieurstudierenden konnten in einem Nebenbefund explizite Identitätsbildungsprozesse junger technikaffiner Männer im Zusammenhang mit dem kulturellen Leitbild vom Nerd nachgezeichnet werden. Dabei zeigte sich deutlich, dass die Identifikation mit der Nerd-Kultur bei den männlichen Ingenieurstudenten vor allem in Zusammenhang mit einer sozialen Integrationsproblematik im Peerverband steht. Die Orientierung an der jugendkulturellen Szene der Nerds erscheint in den Biographien insbesondere als Ergebnis einer Selbstreflexion der sozialen Identität und Selbstverortung. Zudem geht, anders als es etwa die Genderforschung z. T.

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proklamiert, mit dem identitätsbezogenen Nerd-Selbstbild keine Orientierung an hegemonialen Männlichkeitskonstruktionen bei den jungen Männern einher. Eher ist die Identifikation mit dem Nerd-Leitbild Ausdruck einer Distinktion gegenüber hegemonialen Jugendkulturen der (vor allem schulischen) Peers (vgl. ebd., S. 349). Darüber hinaus umfasst das Selbstbild vom Nerd auch bei den betreffenden Biographien unterschiedliche Ausprägungen: vom hochbegabten und sozial eher inkompetenten Computer-Nerd bis hin zum computerkompetenten Technikenthusiasten und „Nice Guy“ im Umgang mit Frauen. Mit Blick auf die Strukturverläufe der Nerd-Identitätsbildungsprozesse zeigen sich Unterschiede. Zum einen kann ein zunächst eher computerbezogener Nerd-Habitus in einen stärker puristischen technikkulturellen Habitus transformiert und das Selbstbild vom Nerd positiv konnotiert werden. Zum anderen ist das Selbstkonzept vom Nerd Ausdruck eines kontinuierlich fragilen sozialen Identitätsbildungs- und Individuierungsprozesses. Somit machen die Biographieanalysen sowohl darauf aufmerksam, dass die Identifikation mit der jugendkulturellen Szene der Nerds sehr spezifisch in die jeweiligen biographischen Bildungs- und Sozialisationsprozesse eingebettet ist. Zudem wird die vielschichtige biografische und sozialisatorische Bedeutung der Nerd-Jugendkultur für die Entwicklungsprozesse in der Jugendphase der jungen Männer sichtbar (vgl. ebd., S. 350; 373 f.; 392).

3 Die jugendkulturelle Szene der Nerds – eine topographische Skizze Infolge von Mediatisierung und Kommerzialisierung der Jugendphase haben medienaffine und digitale Jugendkulturen kontinuierlich an Bedeutung für Jugendliche gewonnen. Dabei ist es auch vermehrt zu innerszenischen Ausdifferenzierungen und neuen Szenebildungen gekommen. Die Szene der Nerds kann als ein solches (neues) Phänomen innerhalb der mediengeprägten und digitalen Jugendkulturen gelten. Für eine topographische Skizze lassen sich aus unserer Sicht letztlich drei Typen für die Jugendszene der Nerds ausmachen: 1) Technikkulturelle-Avantgarde; 2) Gamer und Spieler; 3) Gesellschaftskritische digitale Subkultur. Deutlich wird hierbei eine bipolare Struktur zwischen gesellschaftlicher Funktionselite der Business-Class (Typ 1) und gesellschaftskritischer subkultureller Szene (Typ 3). Die Gruppe der Technik-Avantgardisten steht somit im diametralen Kontrast zu den Vertretern des Underground. In der Konsequenz macht das auf ein zentrales Spannungsverhältnis aufmerksam, in dem sich die Nerd-Kultur gegenwärtig zu bewegen scheint: Mainstream-Kultur vs. Subkultur.

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Der Typus der Technik-Avantgardisten versammelt Technikexperten, die sich intensiv mit digitalen technischen und technikkulturellen Artefakten und Technologien (z. B. Computer, Internet, Soft- und Hardware) auseinandersetzen. Im Vordergrund stehen dabei neben dem anfänglichen Kennenlernen der technischen Funktionsweise und der ihnen zugrunde liegenden ingenieurund naturwissenschaftlichen Phänomene in einem nächsten Schritt die Weiterentwicklung und die – teils revolutionäre – Innovation vorhandener Technik (z. B. Smartphone). Mit ihrer technischen Vorreiterrolle kann die TechnikAvantgarde wegweisende und bahnbrechende technische, aber auch kulturrevolutionäre Entwicklungen für die Gesellschaft anstoßen. In dieser Funktion kann sich die jugendkulturelle Szene der Technik-Avantgarde – gleichsam mit dem Silikon-Valley als ideologischem Shangri La – letztlich als ein Motor für gesellschaftliche Entwicklungen einer digitalen Moderne verstehen. Ihren Mitgliedern verspricht die Szene der ­Technik-Avantgarde neben der Kultivierung des eigenen technikkulturellen Habitus somit vor allem auch soziale Anerkennung, ökonomischen Wohlstand und beruflichen Erfolg in einer postindustriellen, aber keineswegs postmateriellen Welt. In Gestalt der beruflich erfolgreichen und öffentlich gefeierten globalen Stars dieser Technik-Nerds wie Bill Gates, Steve Jobs, Marc Zuckerberg und Elon Musk lassen sich quasi Prototypen dieses ersten Typus identifizieren. In der Konsequenz entfaltet die „nerdige“ Technik-Avantgarde mit ihrer doppelten Aura des Ungewöhnlichen und Außergewöhnlichen für Jugendliche offenbar ein hohes orientierungsleitendes und identitätsstiftendes Potenzial. Denn die soziale und identifikatorische Verortung innerhalb der Technik-Avantgarde katapultiert quasi die ursprünglich passive Außenseiterrolle des seltsamen und sozial marginalisierten Technik-Nerds metamorphisch zu einer gesellschaftlich aktiven, sogar technikkulturell dominanten Leitfigur. Damit einher geht somit auch eine paradoxe Wendung des kulturellen Leitbildes vom Nerd. Die ehemals gesellschaftlich exkludierte und eher subkulturelle Figur des Nerds wird durch die positive Bedeutungstransformation sukzessive zu einem hegemonialen Leitbild transformiert. Der subkulturelle Charakter des nerdigen Garagen-Freaks schleift sich demnach mit dem Eingang in die Mainstream-Kultur zwangsläufig sukzessive ab. Wie schwer den personifizierten Leitbildern und Stars dieser TechnikAvantgarde dieser kulturelle Wandel vom T-Shirt-tragenden ­Garagen-Nerd zum milliardenschweren Vorstandschef globaler Konzerne schon rein ästhetisch und alltagskulturell fällt, lässt sich prototypisch an Personen wie Mark Zuckerberg oder Elon Musk beobachten. Auffällig ist an diesem Typus zudem die Geschlechterdimension. So überwiegen scheinbar bislang insbesondere männerdominierte Szenen.

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Dem zweiten Typus „Gamer und Spieler“ lassen sich demgegenüber vor allem spieleorientierte Nerds zuordnen. Mitgliedern dieser Szene geht es weniger um die Funktionsweise und um die Weiterentwicklung von Technik. Vielmehr steht die intensive spielerische Auseinandersetzung mit Medien im Vordergrund. Einerseits geht es hierbei um hedonistisch-freizeitkulturelle Beschäftigungsformen von „Casual Spielern“, andererseits finden sich professionalisierte Aktivitätssettings von sogenannten „E-Sportlern“. Neben eher lockeren Vereinigungen und spontanen Vergemeinschaftungsformen (z. B. Spielen über Netzwerk und Foren) zeichnen sich darüber hinaus ebenso festere institutionalisierte und soziale Organisationsstrukturen (z. B. LAN-Parties; Clans; Rollenspielervereine; Conventions; Communitys; Kampagnen und Interessenverbände) sowohl auf virtueller Ebene als auch in der realen Welt ab. Bei den verwendeten Spiele-Medien handelt es sich sowohl um digitale Medien (z. B. Computerund Konsolenspiele), als auch um eher klassische Spiele-Mittel (z. B. Stift und Papier bei den Pen-&-Paper-Rollenspielern sowie Miniaturfiguren bei den Tabletop-Spielern). Darüber hinaus dienen bei den Live-Action-Role-Playern, den S ­cience-Fiction- und den Fantasy-Fans sowie den Cosplayern Kostüme, Verkleidungen, Masken und zahlreiche modische Accessoires als Medien. Im Kontrast zum Typ 1 erweist sich der Typ „Gamer und Spieler“ offenbar als weniger geschlechtsspezifisch strukturiert. So gibt es durchaus eine größere Gruppe an jungen Frauen, die sich aktiv in der Anime-, Manga-, Cosplayer und Rollenspieler-Szene beteiligt. Nichtsdestotrotz zeigt sich insbesondere die Gruppe der Computer- und Konsolenspieler als nach wie vor männlich dominiert. Der Typus 3 steht in seiner Ausrichtung als gesellschaftskritische Untergrundszene in deutlichem Kontrast zu den jugendkulturellen Praxen des ersten Typus. Mit ihren kritischen gesellschaftspolitischen Werteorientierungen grenzen sie sich distinktiv gegenüber den von ihnen als gesellschaftlich assimiliert eingestuften Technik-Avantgardisten ab. Dem Fortschrittsdenken der Technik-Eliten setzen sie eine deutlich technik- bzw. elitenkritischere ethische und gesellschaftspolitische Perspektive entgegen. Anstatt Technik in allen ihren Möglichkeiten weiterzuentwickeln, nutzen sie ihre hochspezialisierten technischen Kompetenzen, um auf geheim gehaltene gesellschaftliche Missstände, Grundrechtsverletzungen, unethisches Verhalten und kriminelle Verfehlungen von Regierungen und Unternehmen hinzuweisen und diese Informationen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Systematisch lassen sich hier vielleicht idealtypisch die beiden Varianten der Hacker und der Whistleblower unterscheiden, die beide aber die technische Virtuosität im Umgang mit Computer, Software und digitalen Netzwerken auszeichnet. Die heutige politische und gesellschaftskritische Hackerszene, hervorgegangen aus dem individualisierten

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Computer-Nerd mit seiner Leidenschaft für digitale Tabubrüche, weist deutliche Institutionalisierungsprozesse auf. Organisationen wie der Chaos-Computer-Club (CCC, seit 1981), mit dem jährlichen chaos communication congress (seit 1984) als intellektuellem Mekka einer internationalen Hackerszene, haben inzwischen den Charakter einer global operierenden zivilgesellschaftlichen NGO, die als zentrale reflexive Instanz für die Entwicklungen, Gefahren und Probleme einer forcierten digitalen Moderne dient und Bedeutung sowohl für die Grundrechte der Bürger, als auch für die sozialen Strukturen der digitalisierten Lebenswelt hat. Ein beliebter Treffpunkt für die Hacker-Community in der realen Welt sind sogenannte „Hackerspaces“ mit festen Räumlichkeiten, Geräten und Werkzeugen. Diese Szenetreffs haben sich zunächst in Deutschland entwickelt und wurden anschließend von der ausländischen Hacker-Community adaptiert (vgl. Ganz 2018, S. 41 f.). Whistleblower – in diesem Kontext – lassen sich letztlich als umfassend politisierte Hacker verstehen. Ihr subversives politisches Engagement zielt nicht mehr allein auf die Aufklärung über die Probleme der digitalen Welt. Die digitalen Kompetenzen der Hacker werden vielmehr als technisches Medium zur Aufklärung umfassender gesellschaftlicher Missstände eingesetzt. Whistleblower stehen dabei in der demokratischen Tradition des zivilen Ungehorsams (civil disobedience; Henry David Thoreau 1849). Das heißt, sie akzeptieren den Regel- und Gesetzesverstoß im Dienste einer übergeordneten Moral, aufgrund eines gravierenden Verstoßes des Staates und oder gesellschaftlicher Institutionen gegen Gesetz und Moral. In dieser quasi aufklärerischen Funktion als „Whistleblower“ und Protestszene agieren Hacker häufig am Rande oder auch jenseits der Legalität. Um sich vor staatlicher Kontrolle und Verfolgung zu schützen, bewegen sie sich daher des Öfteren im Schutz ihrer subkulturellen Szene und in der Anonymität des Internets. Die von staatlicher und juristischer Seite teilweise als illegal bewerteten Aktivitäten werden von Mitgliedern dieser Untergrund-Szene jedoch als moralische Pflicht legitimiert. Prototypische Nerds dieses dritten Typus, die sich aus der Untergrund-Szene herausbewegt haben und in der Öffentlichkeit eine größere Popularität erlangten, sind etwa Julian Assange, Bradley „Chelsea“ Manning und Edward Snowden. Neben diesen politisch und sozial motivierten „Hacktivisten“, hat sich jedoch mittlerweile auch eine Gruppe von „Cyber-Kriminellen“ herausgebildet. Diese sogenannten „Black-Hats“ verfolgen, anders als die „Hacktivisten“, eher unethische und kriminelle Absichten. In Form von Spams, Spionage oder Sabotage sollen auf der einen Seite Privatpersonen und auf der anderen Seite staatliche Regierungen bzw. Wirtschaftsunternehmen geschädigt werden. Gezielt

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angegriffen werden dabei spezifische digitale Programme, Datensysteme und Infrastrukturen. Die Motive dafür reichen von rein finanziellen Interessen, über den Versuch, sensible Daten auszuspähen und diese anschließend im Dark-Web zu verkaufen, bis hin zu dem Ziel, gesellschaftliche Akteure zu manipulieren und relevante Systeme zu kontrollieren. Vor dem Hintergrund dieser asozialen Aktivitätsmotive sind die kriminellen Hackergruppen im Blick der Gesellschaft letztlich deutlich negativer konnotiert als die „Hacktivisten“. Dennoch kann diese Gruppe durchaus ein identitätsstiftendes und orientierungsleitendes Potenzial für Jugendliche entfalten. Einerseits können sich die eigene Kompetenz und Überlegenheit im Umgang mit der digitalen Welt des Internets als finanziell ertragreich erweisen. Andererseits kann mit der Kontrolle über andere Personen sowie über Unternehmen und Regierungen auch die eigene Existenz als bedeutsam und einflussreich legitimiert werden. In der Zusammenschau erweist sich die jugendkulturelle Szene der Nerds damit als sehr facettenreiche und durchaus ambivalente Jugendkultur. So changiert sie gegenwärtig zwischen weiterhin subkulturellen Szenen und neuerdings ebenso Mainstream-Tendenzen. In diesem Spannungsfeld zwischen Avantgarde, Subkultur und Mainstream versammelt die jugendkulturelle Szene der Nerds gleichsam disparate Typen mit divergierenden Sinnwelten, Vergemeinschaftungsformen, Interessen- und Kompetenzfeldern, Stilbildungen, Identitätskonzepten, Geschlechterbildern, gesellschaftspolitischen und wertebezogenen Orientierungen sowie sozialisations- und jugendtheoretischen Funktionen. So finden sich bei den Vergemeinschaftungsformen neben sehr lockeren und losen, auch feste soziale und professionalisierte Organisationsstrukturen – sowohl in der virtuellen als auch in der realen Welt. Zudem lassen sich Untergrund-Szenen von Avantgarde-Gruppen mit starker medialer und ­ öffentlicher Präsenz unterscheiden. Die Identifikation mit gleichgesinnten Peers in der ­Nerd-Kultur dient dabei erstens als Katalysator für die Distinktions- und Verselbstständigungsprozesse gegenüber der Gleichaltrigengruppe; zweitens bietet sie die Möglichkeit, die eigenen sozialen und identitätsbezogenen Probleme durch jugendkulturelle Selbstvergewisserungen zu bewältigen; drittens erweist sich die Jugendkultur der Nerds als biographisches Moratorium, in dem die Nerds in der Gemeinschaft von Gleichgesinnten für ihre spezifischen Kompetenzen soziale Anerkennung erfahren und ihre freizeitkulturellen Aktivitäten nicht nur weiter ausleben, sondern auch sukzessive kultivieren können. Mit der Verortung in einer sozialen Gruppe wird letztlich das normative Stereotyp vom Nerd als sozialem Einzelgänger konterkariert. Als sehr facettenreich erweisen sich zudem die freizeitkulturellen Interessenfelder, Handlungsräume und Kompetenzbereiche der Nerd-Jugendkultur. Neben

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Spezialisten in technikpuristischen und digitalen Szenen, lassen sich Experten in künstlerisch-ästhetischen, szenisch orientierten und modeorientierten Praxen identifizieren. Heterogen sind dadurch auch die partizipatorischen Motive für die Identifikation mit den jugendkulturellen Szenen der Nerds: Kultivierung des eigenen technikkulturellen Habitus, Weiterentwicklung von Technik und Technologien als Beitrag für gesellschaftlichen Fortschritt; gesellschaftliche Aufklärung; Rückzug in Fantasiewelten und hedonistische Freizeitbeschäftigung; Kontrollgewinn gegenüber Dritten. In Hinblick auf die Identitätskonzepte lassen sich vielschichtige Schattierungen ausmachen. Neben der immer noch vorhandenen Figur des unattraktiven und sozial unsicheren Außenseiters finden sich ebenso die beruflich erfolgreichen, attraktiven und sozial beliebten Nerds. Des Weiteren kristallisiert sich im Kontrast zum eher bescheidenen und zurückhaltenden Nerd-Habitus mit dem „Nerd-Pride“ eine eher selbstbewusste bis elitäre Einstellung, etwa gegenüber wenig versierten Computer- und Internetusern, heraus. In Bezug auf die Stilbildung zeichnen sich ebenfalls disparate Szenen ab: Popkultur-Enthusiasten; Fanboys und -girls (mit T-Shirt-Aufdrucken von Serien, Comics, Filmen, Rollenspielen); US-amerikanischer Typus (mit Hemd in der Jeans und großer Brille); Heavy-Metal-Stil mit schwarzer Kleidung, langen Haaren und speziellen T-Shirts (vgl. Scholz 2014); Cosplayern; Rollen-Spielern; cooler-cleaner Mix aus Business und Casual Look (z. B. Mark Zuckerberg, Elon Musk). Die sprachlichen Codes von jugendkulturellen Szenen der Nerds setzen sich unter anderem aus Computer-Fachtermini, aber auch Spezialbegriffen der Rollenspieler-Praxen und Cosplayer (mitunter aus dem japanischen Bereich) zusammen. Selbst in die Hip-Hop-Kultur hat die Nerd-Szene mittlerweile Einzug gehalten. So hat sich ca. seit den 2000er Jahren der sogenannte „Nerdcore“ als Subgenre herausgebildet. Als Begründer des Nerdcore-Hip-Hop gilt der weiße US-amerikanische Rapper Damien Hess, alias MC Frontalot (vgl. Knoke 2007). Auffällig ist die Geschlechterdimension bei der Nerd-Jugendkultur. Während in stark technikaffinen, technikorientierten und digitalen Szenen nach wie vor eine männliche Dominanz zu verzeichnen ist, scheinen die kreativen Gruppen der szenisch orientierten Rollenspieler und modisch-ästhetisch orientierten und faninteressierten Cosplayer auch für junge Frauen attraktiv. Diese geschlechtsspezifische Segregation lässt die Jugendkultur-Szene der Nerds letztlich nicht gerade als Trendsetter für einen Wandel der Geschlechterverhältnisse erscheinen. Die sozialisations- und jugendtheoretische Funktion der Nerd-Jugendszene scheint hingegen eher äquivalent zu den typischen Bedeutungsdimensionen klassischer und einschlägiger Jugendkulturen. So geht es den jugendkulturellen Szenen der Nerds vor allem auch um das Spiel mit den persönlichen und sozialen

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Identitäten, die im Kontext spezifischer Stilbildungen öffentlich inszeniert werden. In der Folge dienen diese Identitätskonzepte der Distinktion gegenüber anderen adoleszenten Szenen und sozialen Gruppen. Ein Charakteristikum der Nerd-Jugendkultur war bislang die subkulturelle Abgrenzung gegenüber hegemonialen Jugendkulturen. Gegenwärtig scheint sie aber einen größeren Teil von Jugendlichen anzuziehen, sodass einzelne innerszenische Ausrichtungen der Nerd-Jugendkultur Eingang in Mainstream-Kulturen finden. Insbesondere die neue Ambivalenz des kulturellen Leitbildes vom Nerd (gefeierter ­Technik-Spezialist) scheint wohl für immer mehr Heranwachsende orientierungsleitendes und identitätsstiftendes Potenzial zu entfalten. Mit Blick auf ihre gesellschaftspolitischen und wertebezogenen Orientierungen decken die jugendkulturellen Szenen der Nerds ebenfalls ein breiteres Spektrum ab. Neben Szenen, die sich durch eine ungebrochene Identifikation mit gesellschaftlich relevanten Technologien, eine Orientierung an gesellschaftskonformen Werten und die Bedeutung als Motoren für gesellschaftliche Entwicklung auszeichnen, finden sich auch gesellschaftskritische, eher non-konforme Akteure, die auf gesellschaftliche Missstände im Zeitalter der ­ digitalen anonymen Welt hinweisen. Letztere stehen somit eher für eine ProtestSzene, die technische sowie politisch-wirtschaftliche Entwicklungen aufdeckt und kritisch hinterfragt. Darüber hinaus fungieren einige Nerd-Szenen mit ihren Phantasiewelten scheinbar als freizeitkulturelle, hedonistische biographische Moratorien, die es den Jugendlichen ermöglichen, zeitweise aus den bildungsbezogenen Erwartungsräumen der Erwachsenengesellschaft zu entfliehen. Zudem haben sich einige der Nerd-Szenen als Trendsetter für den Mainstream und somit als attraktive Gruppe für die Konsumindustrie entpuppt. Die Nerd-Jugendkultur macht damit sowohl auf die Ausdifferenzierung und Pluralisierung von jugendkulturellen Szenen als auch auf die Ambivalenz und Entwicklungsdimension jugendkultureller Phänomene aufmerksam. Als exemplarisches Beispiel einer der zahlreichen in den letzten 20 Jahren entstandenen „digitalen Jugendkulturen“ (Hugger 2014) macht die Szene der Nerds deutlich, dass die Jugendforschung ihren Blick auf die jugendlichen Lebenswelten systematisch erweitern muss. Waren die klassischen Jugendkulturen seit den 50er Jahren in allen westlichen Industriegesellschaften vor allem „Statthalter des Öffentlichen“ (Zinnecker 1987, S. 57), die wesentlich den öffentlichen Diskurs über den sozialen und kulturellen Wandel urbaner Alltagsund Freizeitwelten mitbestimmten, und darüber die Modernisierungsprozesse in den Konsumgesellschaften beförderten; so wird mit den digitalen Jugendkulturen zugleich ein neuartiger Strukturwandel der Öffentlichkeit erkennbar. Nicht nur verlagern sich Kommunikationsformen, Konsumgewohnheiten,

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soziale Beziehungen, Interaktionen und Freizeitaktivitäten sukzessive von den materiellen sozialräumlichen Strukturen urbaner Lebenswelten in den Cyberspace des Internets und der sozialen Netzwerke. Auch politische Diskurse, kulturelle und ästhetische Praxen und soziokulturelle Vergemeinschaftungsformen wie die Jugendszenen werden zunehmend in die virtuellen Lebenswelten des World Wide Web exportiert. Bisher hat die Jugendforschung, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, noch kaum einen – methodisch empirischen – Zugang zu diesen digitalen Jugendkulturen gesucht, geschweige denn gefunden. Insofern steht zu erwarten, dass auch die Jugendkultur der Nerds in ihren diversen innerszenischen Ausprägungen weiter an Einfluss gewinnt. Die Jugendforschung sollte sich stärker diesem Phänomen der digitalen Jugendszenen widmen und der bislang kaum existenten Forschungsarbeit in diesem Bereich eine empirisch fundierte und theoretisch differenzierte Analyse entgegensetzen.

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Knoke, F. (23. Juni 2007). Coole Computerfreaks. Die Rache der Nerds. Spiegel Online. https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/coole-computerfreaks-die-rache-der-nerdsa-489975.html. Zugegriffen: 26. Sept. 2018. Krüger, H.-H. (2010). Vom Punk bis zum Emo – Ein Überblick über die Entwicklung und aktuelle Kartographie jugendkultureller Stile. In B. Richard & H.-H. Krüger (Hrsg.), Inter Cool 3.0. Jugend, Bild, Medien. Ein Kompendium zur aktuellen Jugendkulturforschung (S. 13–41). München: Fink. Mertens, M. (2012). Nerds, Computer, Piraten. Die kulturgeschichtliche Erklärung des Syllogismus. In C. Bieber & C. Leggewie (Hrsg.), Unter Piraten. Erkundungen einer neuen politischen Arena (S. 53–65). Bielefeld: transcript. Nugent, B. (2008). American nerd. The story of my people. New York: Scribner. Osterroth, A. (2015). Der Einfluss der Synchronfassungen massenmedialer Produkte auf den Sprachwandel am Beispiel des Lexems Nerd. Sprachreport Informationen und Meinungen zur deutschen Sprache, 31, 1–8. Puchert, L. (2017). Männliche Ingenieurstudenten – Eine Biographieanalyse ingenieurwissenschaftlicher Studienfachwahl. Mit einem Gendervergleich weiblicher und männlicher Ingenieurbiographien. Opladen: Budrich. Quail, C. (2011). Nerds, Geeks, and the Hip/Square Dialectic in Contemporary Television. Television & New Media, 12, 460–483. Richard, B., & Krüger, H.-H. (Hrsg.). (2010). Inter-Cool 3.0. Jugend, Bild, Medien. Ein Kompendium zur aktuellen Jugendkulturforschung. München: Fink. Scholz, N. (2014). Nerds, Geeks und Piraten. Digital Natives in Kultur und Politik. Berlin: Bertz + Fischer. Thoreau, H. (1849). Civil Disobedience. Waiheke Island: The Floating Press. Turkle, S. (1984). The second self. Computers and the human spirit. New York: Simon & Schuster. Vogelgesang, W. (2014). Digitale Medien – Jugendkulturen – Identität. In K.-U. Hugger (Hrsg.), Digitale Jugendkulturen (2. Aufl., S. 137–154). Wiesbaden: Springer VS. Wolffram, A., & Winker, G. (2005). Technikhaltungen von Studienanfängerinnen und -anfängern in technischen Studiengängen. https://tore.tuhh.de/bitstream/11420/83/1/ Abschlussbericht_Erstsemesterbefragung_TUHH.pdf. Zugegriffen: 5. Sept. 2018. Zinnecker, J. (1987). Jugendkultur 1940–1985. Opladen: Leske + Budrich. Zittlau, J. (2012). Nerds. Wo eine Brille ist, ist auch ein Weg. Berlin: Ullstein.

Sexualisierte Gewalt Peer-to-Peer – Reflexionen über die Bedeutung der Peers aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive Sabine Maschke

Zusammenfassung

Auf der Basis von Ergebnissen der repräsentativen Speak!-Studien zu den Erfahrungen sexualisierter Gewalt Jugendlicher – die im Besonderen geprägt sind von sexualisierter Peer-to-Peer-Gewalt – folgt der Beitrag der Frage, ob das in der Jugendforschung seit mehreren Jahrzehnten vorherrschende Paradigma der Peersozialisation als ein überwiegend positiver Entwicklungsund Sozialisationsfaktor heute noch in dieser Weise haltbar ist. Angelehnt an den von Jürgen Zinnecker im Jahre 2000 eingebrachten Zusammenhang von Selbstsozialisation als Peersozialisation wird der zunehmende Rückzug erwachsener pädagogischer Akteure – im Zuge der Entpädagogisierung – aus Erziehungs- und Sozialisationsprozessen diskutiert. Ein Drei-Säulen-Modell (SePP), das abschließend vorgestellt wird, zielt mit seinem partizipativen Ansatzpunkt sowohl auf Prävention sexualisierter Gewalt als auch auf eine pädagogische (Wechsel-)Wirkung des Austauschs von erwachsenen und jugendlichen Akteuren. Schlüsselwörter

Sexualisierte Gewalt · Peersozialisation · Selbstsozialisation · Peergroup ·  Entpädagogisierung · Prävention · Speak

S. Maschke (*)  Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Fuchs et al. (Hrsg.), Jugend, Familie und Generationen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24185-8_6

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1 Einleitung Die Jugendforschung wird seit geraumer Zeit vom „Paradigma der Peersozialisation beherrscht“ (Zinnecker 2000a, S. 283); im Sozialisations- und Entwicklungsprozess Heranwachsender spielen die Peers eine herausragende Rolle (vgl. u. a. Youniss und Smollar 1985). Dabei handelt es sich um Beziehungen, die als austauschorientiert und konsensual beschrieben werden (vgl. ebd., S. 125). Von symmetrischen Beziehungsgefügen ist die Rede (vgl. King 2004). Jugendliche, so können wir vereinfacht in diesem Sinne sagen, begegnen einander gleichberechtigt auf Augenhöhe. Die Sozialisation Peer-to-Peer, die – zum Teil vor dem Hintergrund der Vorverlagerung der Pubertät – heute früher beginnt als noch in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts (vgl. Hurrelmann 2002a), fordert dabei im Besonderen „Prozesse der Selbstorganisation und Selbstfindung“ (ebd., S. 157) heraus, „eine kreative Gestaltung und eigenwillige Auseinandersetzung mit der äußeren Realität“ (ebd.). In der Erziehungswissenschaft verstehen wir Heranwachsende denn auch vornehmlich „als aktive Gestalter ihrer Umwelt […], die gesellschaftliche Erwartungen nicht lediglich übernehmen, sondern produktiv gestalten und Ko-Konstrukteure ihrer Bildungsbiographie sind“ (Krüger et al. 2012, S. 15). ­ Dies gilt auch mit Blick auf die sexuelle Sozialisation und Entwicklung Jugendlicher (vgl. Vogelsang 2017). Der vorliegende Beitrag problematisiert, dass durch eine Über-Betonung von Eigenständigkeit, Gestaltungskompetenz oder auch „Prozesse der Selbstorganisation der Persönlichkeit“ (Hurrelmann 2002a, S. 157) aus dem Blick zu geraten droht, dass diese Altersphase bestimmt wird von Spannungsverhältnissen, die sich zwischen „Autonomie und Abhängigkeit, Kompetenz und Verletzlichkeit“ (Andresen und Künstler 2015, S. 332) bewegen. Für die Erziehungswissenschaft ergibt sich die Herausforderung, die Spannungsverhältnisse, die für Jugendliche sowohl Herausforderung als auch Überforderung, Entwicklungschancen und -risiken (vor allem auch mit Blick auf die sexuelle Identitätsbildung) bedeuten, – und damit die Lebensphase Jugend als eine vulnerable Phase kennzeichnen – wahrzunehmen und in ihr Konzept von Jugend stärker zu integrieren. Die Notwendigkeit dieser Forderung ergibt sich im Besonderen auf der Grundlage der Ergebnisse der repräsentativen Speak!-Studien (Maschke und Stecher 2018a, b, c) zu den Erfahrungen Jugendlicher mit sexualisierter Gewalt. Diese zeigen, dass es sich in der Mehrheit der Fälle um gleichaltrige Täter/innen handelt, durch die Heranwachsende sexualisierte Gewalt erleben. Zudem wird deutlich, wie stark sexualisierte Gewalt, als Viktimisierung, Täterschaft und aus der Perspektive der Beobachtenden, die Lebenswelt Jugendlicher durchdringt.

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Dieser Beitrag wendet sich in einem ersten Schritt der Frage zu, wie die Erziehungswissenschaft Jugend – vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen und im Besonderen auf der Basis der Diskussion um ­(Selbst-)Sozialisation im Kreise der Peers und im Zuge einer zunehmenden Entpädagogisierung – versteht. Auf der Grundlage zentraler Ergebnisse aus den Speak!-Studien, die im dritten Kapitel vorgestellt werden, nimmt das Schlusskapitel u. a. in den Blick, welche spezifischen Herausforderungen sich für die Erziehungswissenschaft daraus ergeben. Da es sich um einen Beitrag im Rahmen eines Jubiläumsbandes für Jutta Ecarius handelt, boten sich zum einen inspirierende Anknüpfungspunkte an Jutta Ecarius’ Überlegungen zur Bedeutung der Peers als auch an die Erkundungen von Jürgen Zinnecker (in dessen Arbeitsbereich Jutta Ecarius einige Jahre als wissenschaftliche Mitarbeitern tätig war) zur Selbstsozialisation.

2 Die (Selbst-)Sozialisation der Peers im Zuge der ‚Entpädagogisierung‘ Wie in der Einleitung bereits angesprochen, verweist die Jugendforschung spätestens seit den grundlegenden Arbeiten von Youniss und Smollar (1985) auf die wichtige und kaum zu überschätzende Rolle der Peers im Sozialisations- und Entwicklungsprozess Heranwachsender. Fussan kommt zu dem Schluss, dass den Peers „insbesondere im Jugendalter eine entscheidende Bedeutung für die Persönlichkeitsund Identitätsentwicklung im Jugendalter zukommt“ (2006, S. 384). Ähnlich betont auch Fend die Bedeutung der Gleichaltrigen als „unentbehrliche Umwelten“ (1998, S. 231) im Entwicklungsprozess der Heranwachsenden. Ecarius et al. konstatieren in ihrem Beitrag zur Frage „Peergroup – Ressource oder biographische Gefährdung?“ (2012, S. 161), dass die Peergroup als ein zentraler „Bildungsort für den Erwerb von sozialen Kompetenzen“ angesehen wird. Insgesamt überwiegt die „positive Konnotation der Peergroup“ (ebd.), und es besteht über die Disziplinen hinweg Konsens darüber, „dass Peergroups als Sozialisationsinstanz den jugendlichen Individuationsprozess positiv unterstützen“ (ebd.). Obwohl in Einzelfällen den Peers auch negative Wirkungen zugesprochen werden, Ferchhoff spricht von der „Tyrannei der Peers“ (2011, S. 392), wird im selben Atemzug zugleich betont, dass Gleichaltrigengruppen, die „eher spektakuläre“ oder „für andere bedrohliche Verhaltensmuster an den Tag legen, die Ausnahmen“ (ebd.) sind. Die Beziehungen zwischen Gleichaltrigen werden als stark austauschorientiert und durch „cooperation, consensus, and co-construction“ (Youniss und Smollar 1985, S. 125) bestimmt beschrieben, basierend auf einem weitestgehend

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s­ymmetrischen Beziehungsgefüge (vgl. King 2004, S. 202). Übersehen wird durch eine solche Engführung, dass Peer-to-Peer-Beziehungen auch „machtförmig strukturiert“ (King 2004, S. 205) sind und, geprägt von Geschlechterverhältnissen, diese reproduzieren oder teils auch transformieren (vgl. ebd.). Macht kann als ein „ubiquitäres Phänomen“ (Wolf 2014, S. 139) verstanden werden, welches es in „jeweils spezifischen Ausdrucksformen“ (ebd.) überall gibt – und damit auch unter gleichaltrigen Jugendlichen. Mit Max Weber gesprochen bedeutet Macht „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (1981, S. 89). Dabei entstehen Prozesse, die von Macht und Ohnmacht, und damit von Asymmetrien gekennzeichnet sind, fortlaufend. Selbst geringe „Macht-Differentiale“ (Wolf 2014, S. 147) können Macht- und Statuskämpfe auslösen, beispielsweise im Ringen um soziale Anerkennung in der Gruppe, die mit zunehmendem Alter verstärkt eingefordert und gesucht wird (vgl. Göppel 2005). Wie Jutta Ecarius et al. (2012) betonen, gibt es eine Vielzahl von Hinweisen darauf, dass die Gleichaltrigen auch ein Entwicklungsrisiko darstellen können. Das Risiko bezieht sich für die Heranwachsenden dabei u. a. darauf, von den Gleichaltrigen sozial ausgegrenzt und stigmatisiert zu werden, oder Gewalt durch sie zu erleben – hierzu gehört auch sexualisierte Gewalt. All dies kann die Sozialisation und Identitätsbildung Jugendlicher nachhaltig negativ beeinflussen. Die Bedeutung der Peers für die Sozialisation wird im Folgenden durch Hinzunahme der Überlegungen von Jürgen Zinnecker (2000a) zum Konzept der Selbstsozialisation vertieft. Kurz gefasst erweitert Zinnecker in seinem „erkundende[n] Essay“ (2002, S. 145) die Akteursperspektive über das Konzept des produktiv verarbeitenden Subjekts1 nach Hurrelmann hinaus. Vor dem Hintergrund der „Aufwertung der Rolle, die Sozialisierte in diesem Prozeß spielen“ (Zinnecker 2000a, S. 274), fragt er nach dem Potenzial des Begriffs der Selbstsozialisation, insbesondere mit Blick auf mögliche Erneuerungen von Sozialisationsforschung. Diese ‚Erkundungen‘ haben einige kritische Stimmen auf den Plan gerufen (im Besonderen Bauer 2002). Fern all der Diskussionen um Selbstsozialisation vs. Selbstorganisation (Hurrelmann 2002a),

1Grundlegend

ist für Hurrelmanns Konzept, dass zwar die Umwelt die Entwicklung des Einzelnen „stark beeinflusst“ (2002b, S. 7), das Individuum die Umwelt allerdings „zugleich durch seine eigenen Aktivitäten auch mit gestaltet. Der Begriff ‚produktive Auseinandersetzung‘ soll auf diese aktiven Impulse für die Gestaltung der eigenen Lebenspraxis verweisen, die jeder Mensch in jedem Lebensabschnitt und jeder Lebenslage gibt.“ (Ebd., S. 7).

Sexualisierte Gewalt Peer-to-Peer …

87

Selbstsozialisation vs. Fremdsozialisation (Krappmann 2002) etc. bieten die Überlegungen Zinneckers wertvolle Ansatzpunkte, um über das Verhältnis von (Selbst-)Sozialisation und Peers und dem Rückzug der Pädagogik aus dem Sozialisations- und Erziehungsprozess zu reflektieren. Anschließen lassen sich dann daran Gedanken zur Jugendphase als eine (latent) vulnerable. Zentral ist an Zinneckers Überlegungen insbesondere die Rückführung von Selbstsozialisation auf „Gruppenaktivitäten“ (2000a, S. 282). Darunter wird die Aktivität einer Generation wie auch Gruppe verstanden, sich wechselseitig selbst zu sozialisieren, auch ohne Beteiligung und Einfluss von Erwachsenen. Zinnecker greift hier u. a. auf Margaret Mead und die Arbeiten des nordamerikanischen Kindheitsforschers William Corsaro zurück. Demnach werden die Stadien der „Peer Culture“ von den Heranwachsenden nicht nur durchlaufen, sondern aktiv mit anderen gestaltet. „Die entscheidenden Impulse zur Sozialisation [gehen] heute von den peers und nicht mehr von den Sozialisationsinstanzen der älteren Generation“ (ebd., S. 283; d. Verf.) aus. Mit Blick auf die US-amerikanische Forschung spricht Zinnecker von der „Inthronisierung der peers“ (ebd., S. 284). Begleitet wird dies beispielsweise von der Beobachtung, dass die Selbstverantwortung Heranwachsender, „immer früher […] lebensperspektivisch relevante Entscheidungen“ (Veith 2002, S. 170) treffen und tragen zu müssen, steigt. Hurrelmann spricht gar von einer „Frühreife der Persönlichkeitsentwicklung“ (2002a, S. 157), mit der zugleich die „Vielfalt von Anregungen in allen Lebensbereichen […] und die Pluralität der Ausdrucksformen der Lebensaneignung in den Gleichaltrigengruppen gestiegen“ (ebd.) sei. Auch Ecarius et al. stellen in ihrer Analyse der Sozialisationskontexte von Jugendlichen eine „stärkere Betonung der Eigenstrukturiertheit der Peerkultur“ (2011, S. 123) fest. Das bedeutet, dass in der erziehungswissenschaftlichen Jugendforschung Heranwachsende vornehmlich verstanden werden „als aktive Gestalter ihrer Umwelt […], die gesellschaftliche Erwartungen nicht lediglich übernehmen, sondern produktiv gestalten und Ko-Konstrukteure ihrer Bildungsbiographie sind“ (Krüger et al. 2012, S. 15). Zinnecker folgend, wird die Jugendforschung dann auch in ihren Fragestellungen „zunehmend vom Paradigma der Peersozialisation beherrscht“ (2000a, S. 283). Dabei gründet der Diskurs um Selbstsozialisation – als Aktivitäten von Gruppen bzw. Peers – vor allem in der Notwendigkeit, den eigenaktiven Anteil zu intensivieren, weil sich die für Heranwachsende entwicklungsrelevanten Umwelten verändern. Zinnecker sagt damit aber nicht, dass es keine „Fremdsozialisation“ durch „Eltern, Erzieher und Lehrer“ (Hurrelmann 2002a, S. 157) mehr gäbe; vielmehr verweist er darauf, dass sich „die kleinräumigen Anbindungen des Aufwachsen an die Einrichtungen der Nachbarschaft, Familie, Kirchengemeinde, Nachbarschaftsschule, Quartiersstraßen usw. […] im Verlauf des 20. Jahrhunderts

88

S. Maschke

entscheidend abgeschwächt haben“ (Zinnecker 2000a, S. 277). An deren Stelle sind als neue Sozialisationsagenten „Instanzen des Marktes, des Konsums, der neuen Dienstleistungen für Kinder und Jugendliche“ (Zinnecker 2000a, S. 277) getreten. Der ‚springende Punkt‘ an diesem deutlichen Wandel ist, „dass die neuen Instanzen den Kindern und Jugendlichen andere Formen der Beteiligung anbieten und ihnen diese auch abverlangen, als es die kleinräumig-nachbarschaftlichen Milieus der Erwachsenengesellschaft taten“ (ebd.). Beteiligung in dieser Form verlangt mehr Eigeninitiative und -tätigkeit als das Agieren in und der Umgang mit den traditionellen Sozialisationsinstanzen. Die marktorientierte (und austauschorientierte) Verfasstheit dieser neuen Agenten der Fremdsozialisation verweist damit selbst auf die zunehmenden Anforderungen an das handelnde Subjekt und das heißt auf das zunehmende Maß selbstsozialisatorischer und eigenaktiver Handlungsanteile – und dies insbesondere Peer-to-Peer. Die verstärkt geforderte Eigenaktivität schließt auch Entwicklungsaufgaben ein, die die sexuelle Sozialisation betreffen (vgl. Vogelsang 2017), im Besonderen der Umgang mit den Veränderungen des Körpers und seines Erscheinungsbildes, die Entwicklung sexueller Beziehungen und der eigenen geschlechtlichen Identität (vgl. Hurrelmann und Bauer 2015). Die „Sexualisierung des Körpers“ (Vogelsang 2017, S. 48) bringt neue Bedürfnisse und Interessen, zugleich Anziehungskräfte, Selbstzweifel und Unsicherheiten hervor. Mit diesen Zweifeln, Fragen und Unsicherheiten bleiben Jugendliche größtenteils unter sich. Bedeutet dies, dass sich der pädagogische Einfluss Erwachsener auf das Aufwachsen Jugendlicher abgeschwächt hat? Zinnecker verdeutlicht, „dass mit der Akzentsetzung auf Selbstsozialisation die Entpädagogisierung des Diskurses um Sozialisation weiter voranschreitet“ (2000a, S. 276). Dabei ist zu bedenken, dass Zinnecker ‚Entpädagogisierung‘ und ‚Pädagogisierung‘ als eine paradoxe Doppelbewegung versteht, einmal im Sinne der „Abschwächung des pädagogischen Monopols und der Wirkmacht des Moratoriums“ (2002, S. 152), zum anderen in der Expansion des pädagogischen Moratoriums2. Selbstsozialisation klammert „pädagogisches Handeln und Wollen“

2Kindheit

und Jugend als pädagogisches Moratorium „sind zunächst […] – in genau dieser historischen Reihenfolge – utopische Entwürfe, sodann eine Angelegenheit einiger weniger privilegierter Gruppen von Aufwachsenden, um schließlich dem Anspruch nach alle Kinder und Jugendlichen als herrschendes Muster des Aufwachsens zu umfassen“ (Zinnecker 2000b, S. 37). Wichtig daran ist, dass mit dem pädagogischen Moratorium „ein eigenes pädagogisches Generationenverhältnis begründet [wird]. Form und Inhalt der Interaktion und Beziehung zwischen Jung und Alt sollen sich ausdrücklich dem Gebot von Unterrichten, Belehren, Erziehen, Sanktionieren unterordnen.“ (Ebd., S. 39; d. Verf.) Das Moratorium steht zudem für eine „Selbstregulierung im Jugendraum“ (ebd., S. 52).

Sexualisierte Gewalt Peer-to-Peer …

89

(ebd.) geradezu aus. Mit der zunehmenden Anerkennung von Konzepten wie Selbstsozialisation oder Selbsterziehung geht eine „Relativierung und Individualisierung des objektiven Bildungskanons“ (Zinnecker 2000a, S. 286) einher und die „Ziele des Aufwachsens versubjektivieren sich unter dem Druck der Selbstsozialisation“ (ebd.). Dies hat Folgen und gipfelt beispielsweise in der pädagogischen Haltung, die besagt, „die pädagogische Klientel wisse sich schon selber zu helfen“ (ebd.). Verantwortlich für die „Verwahrlosung guter pädagogischer Sitte“ (ebd., S. 287) ist der Rückzug der Pädagogik aus der Erziehung bspw. durch die „Schaffung pädagogisch verdünnter Zonen innerhalb der pädagogischen Einrichtungen“ (ebd.). Hurrelmann führt in eine vergleichbare Richtung gehend aus, dass durch die Sozialisation im Rahmen der Peers sich Heranwachsende „pädagogisch-normativen Zielvorstellungen und erzieherischen Methodiken“ (2002a, S. 156) entziehen. Ein Prozess, der durch „teilweisen Rückzug der Eltern, Verwandten und Schulpädagogen aus dem Erziehungsprozess“ (ebd.) verstärkt wird. Wir können mit Zinnecker festhalten, dass Pädagog/innen zum einen „Betroffene des historischen Schubs in Richtung Selbstsozialisation“ (2000a, S. 287) sind, zum anderen aber auch als „Mitverursachende“ (ebd.) zu sehen sind, „indem sie sich von sich aus aus der Verantwortung von Sozialisationsagenten zurückziehen“ (ebd.). Einher geht damit eine (Über-)Betonung von Selbstsozialisation, Eigenständigkeit und Gestaltungskompetenz, die Jugendlichen zugesprochen wird. Überspitzt formuliert können wir sagen, dass Jugendliche größtenteils sich selbst überlassen werden bzw. auf sich selbst gestellt sind. Die Zuschreibung selbstsozialisatorischer Fähigkeiten, auch verbunden mit der Vorstellung des Selbst als „agency“ (Zinnecker 2000a, S. 281), verstellt dabei zunehmend den Blick darauf, dass diese Altersphase durchzogen ist von Wechselwirkungen zwischen „Autonomie und Abhängigkeit, Kompetenz und Verletzlichkeit“ (Andresen und Künstler 2015, S. 332). Bezogen auf das Phänomen der sexualisierten Gewalt zumindest scheinen wir, die Erwachsenen, diese Wechselwirkung und vor allem die vulnerable Seite Jugendlicher, insbesondere mit Blick auf die Peers, weitestgehend übersehen zu haben.

3 Zentrale Ergebnisse der Speak!-Studien Die Studie Speak! besteht aus zwei Teilerhebungen. Die erste Erhebung (Hauptstudie, HS) fand 2016/Anfang 2017 statt und wurde als eine klassenweise Befragung mittels standardisierter Fragebögen in den Jahrgangsstufen 9 und 10 an allen allgemeinbildenden Schulen (mit Ausnahme der Förderschulen) in Hessen durchgeführt. Insgesamt nahmen 2719 Schüler/innen aus 53 Schulen

90

S. Maschke

an der Befragung teil. Die zweite Erhebung an Förderschulen (Ergänzungsstudie, FS) fand 2017 bis Anfang 2018 statt. Auch hier handelt es sich um eine Befragung in Schulklassen in Hessen, die mittels (spezifisch angepasster und barrierefreier) standardisierter Fragebögen durchgeführt wurde. Einbezogen wurden die zahlenmäßig stärksten Förderschwerpunkte (u. a. Förderschwerpunkt Lernen). Insgesamt nahmen 264 Schüler/innen aus 30 Schulen ab dem 14. Lebensjahr an der Ergänzungsstudie teil. In beiden Erhebungen sind die Befragten mehrheitlich jeweils zwischen 14 und 16 Jahre alt. Die Befragungen wurden jeweils von Studierenden aus pädagogischen Fachrichtungen durchgeführt, die intensiv für ihre Aufgabe geschult wurden. Während und nach der jeweiligen Befragung standen verschiedene Unterstützungs- und (psychologische) Hilfeangebote für alle Beteiligten zur Verfügung (zur Durchführung siehe ausführlich Maschke und Stecher 2018a). Für die Durchführung beider Studien liegen genehmigte Datenschutzkonzepte und positive Ethikgutachten vor. Sexuelle oder Sexualisierte Gewalt? Beide Begriffe betonen unterschiedliche Verhältnisse von Gewalt, Sexualität und Macht. Beide Bezüge – einmal die Betonung von Gewalt und Sexualität, zum andern von Gewalt und Macht – sind im Phänomen der sexualisierten Gewalt Peer-to-Peer gegeben und können, in Anlehnung an die Definition bei Hagemann-White (1992, S. 23), die Integrität der Person verletzen, für die Betroffenen ernsthafte Folgen haben und die Entwicklung der Heranwachsenden nachhaltig negativ beeinflussen. Zudem besteht ein Zusammenhang zwischen der „Geschlechtlichkeit des Opfers und Täters“ (ebd.).

3.1 Betroffen von sexualisierter Gewalt – Prävalenzen Zur Erhebung der Häufigkeiten (Prävalenzen) von Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt wurde ein Fragebogeninstrument mit insgesamt 17 Einzelfragen eingesetzt, das aufbauend auf anderen Arbeiten (AAUW 2011; Averdijk et al. 2012) – zwischen verschiedenen nicht-körperlichen und körperlichen Erfahrungsformen unterscheidet. Die Fragen hinsichtlich nicht-körperlicher Erfahrungsformen erfassen drei unterschiedliche Erfahrungsbereiche: verbale und/oder schriftliche Erfahrungen (z. B. „Jemand hat über mich sexuelle Kommentare, Beleidigungen, Witze oder Gesten gemacht.“), Viktimisierung im Internet (z. B. „Ich wurde im Internet (z. B. in Facebook, Instagram, Snapchat usw.) sexuell angemacht oder belästigt.“) und Konfrontationen mit sexuellen Handlungen (z. B. „Jemand hat mich dazu gebracht, sein/ihr Geschlechtsteil anzusehen, obwohl ich das nicht wollte (Exhibitionismus)“). Hinsichtlich körperlicher Erfahrungsformen unterscheidet der Frage-

Sexualisierte Gewalt Peer-to-Peer …

91

bogen zwischen drei verschiedenen Erfahrungsbereichen: sexualisierte Gewalt mit indirektem Körperkontakt (z. B. „Mich hat jemand dazu gedrängt oder gezwungen, mich auszuziehen (ganz nackt oder teilweise).“), mit direktem Körperkontakt (z. B. „Mich hat jemand gegen meinen Willen in sexueller Form am Körper berührt („angetatscht“ z. B. Po oder Brust).“ und direktem Körperkontakt mit Penetration(sversuch) („Jemand hat versucht mich zum Geschlechtsverkehr zu drängen oder zu zwingen. (Es ist aber nicht zum Geschlechtsverkehr gekommen.“) und „Jemand hat versucht mich zum Geschlechtsverkehr zu drängen oder zu zwingen. (Es ist zum Geschlechtsverkehr gekommen.)“; ausführlich siehe Maschke und Stecher 2018a). Die Fragen nach den Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt beziehen sich auf die gesamte bisherige Lebensspanne der Jugendlichen, bilden also die Lebenszeitprävalenz ab. Wie Tab. 1 zeigt, gab in der Hauptstudie knapp die Hälfte der Befragten (48 %) an, nicht-körperliche sexualisierte Gewalt erlebt zu haben. Die Mehrheit der Betroffenen hat dies wiederholt und zugleich in mehreren Formen erlebt. Mädchen mit 55 % zu höheren Anteilen als Jungen (40 %). Schüler/innen, die Förderschulen besuchen, sind mit einer Prävalenzrate von 50 % etwas höher belastet. Auch in den Förderschulen sind die Mädchen mit 58 % stärker als die Jungen (45 %) betroffen. Bezogen auf verbale und/oder schriftliche Formen geben 41 % der Mädchen und 26 % der Jungen an, dass über sie sexuelle Kommentare, Beleidigungen oder Witze gemacht wurden (vgl. zu diesen und folgenden Befunden Maschke und Stecher 2018a). Eine Ausnahme im Vergleich zwischen Mädchen und Jungen zeigt sich hinsichtlich der Erfahrung, in einer negativen Art und Weise beispielsweise als „schwul“ oder „lesbisch“ bezeichnet zu werden. Diese Form homophober (verbaler) sexualisierter Gewalt zielt stärker auf männliche Jugendliche. 26 % der Tab. 1   Prävalenzen nicht-körperlicher sexualisierter Gewalt in Prozent Gesamt

Hauptstudie (HS)

Ergänzungsstudie (FS)

Gesamt

48

50

48

Weibl. Jugendliche

55***

58*

55***

Männl. Jugendliche

40

45

40

Quelle und Anmerkungen: Speak!-Ergänzungsstudie, Maschke und Stecher (2018d), ngültig = 248; Speak!-Hauptstudie, Maschke und Stecher (2018a) ngültig, gewichtet = 2651; Testung der Gruppenunterschiede bezieht sich jeweils auf den Vergleich zwischen Mädchen und Jungen in der Hauptstudie bzw. auf den Vergleich zwischen Mädchen und Jungen in der Ergänzungsstudie, Testung basiert auf 2-seitigem Chi-Quadrat-Test (*** = p ≤ ,001; ** = p ≤ ,01; * = p ≤ ,05)

92

S. Maschke

Jungen und 13 % der Mädchen berichten davon. In der Kategorie Konfrontation mit sexuellen Handlungen geben Mädchen zu 15 % exhibitionistische Handlungen an, Jungen zu 4 %. Unfreiwillig mit pornografischen Bildern konfrontiert zu werden, geben 6 % der Mädchen und 3 % der Jungen an. In der letzten Kategorie Viktimisierung im Internet berichten 33 % der Mädchen (und 9 % der Jungen) davon, dass sie im Internet sexuell „angemacht“ oder belästigt wurden (vgl. ebd.). Tab. 2 zeigt, dass der Anteil der Jugendlichen in der Hauptstudie, der körperliche sexualisierte Gewalt erlebt hat, mit 23 % bei fast einem Viertel aller Befragten liegt. Förderschüler/innen erfahren zu einem noch höheren Anteil körperliche sexualisierte Gewalt: 30 % und damit knapp ein Drittel geben an, dass sie ihr bereits ausgesetzt gewesen sind. Mehrheitlich haben die Betroffenen körperliche sexualisierte Gewalt wiederholt und auch mehrere Formen erlebt. Tab. 2 zeigt darüber hinaus, dass Mädchen – dies gilt für die Hauptstudie wie für die Ergänzungsstudie – einem deutlich höheren Risiko ausgesetzt sind, körperliche sexualisierte Gewalt zu erfahren. Die Prävalenzraten für Mädchen liegen in beiden Studien etwa 25 Prozentpunkte über denen der Jungen. Bezogen auf Formen indirekten Körperkontakts geben beispielsweise 7 % der Mädchen und 1 % der Jungen an, dass sie gedrängt/gezwungen wurden, sich auszuziehen (vgl. zu diesen und folgenden Befunden Maschke und Stecher 2018a). In der zweiten Kategorie, die den direkten Körperkontakt umfasst, hat es fast jedes dritte Mädchen (30 %) mindestens einmal erlebt, z. B. an Po oder Brust „angetatscht“ zu werden (im Vergleich: 5 % der Jungen). Gegen den Willen geküsst zu werden haben 13 % der Mädchen und 4 % der Jungen erlebt. Jedes zehnte Mädchen wurde am Geschlechtsteil berührt (4 % der Jungen). Die dritte Kategorie beinhaltet den direkten Körperkontakt mit versuchter und vollzogener Penetration: 11 % der Mädchen (1 % der Jungen) berichten von dem Versuch, eine Penetration zu erzwingen und 3 % der Mädchen (0,3 % der Jungen) von einer erzwungenen vollzogenen Penetration. Insgesamt liegen die Prävalenzraten für die Schüler/innen, die Förderschulen besuchen, grundsätzlich höher als für Befragte, die andere Schulformen besuchen. Tab. 2   Prävalenzen körperlicher sexualisierter Gewalt in Prozent Hauptstudie (HS)

Ergänzungsstudie (FS)

Gesamt

Gesamt

23

30

23

Weibl. Jugendliche

35***

45***

36***

Männl. Jugendliche

10

19

11

Quelle und Anmerkungen: siehe Tab. 1

Sexualisierte Gewalt Peer-to-Peer …

93

Weitere Befunde der Speak!-Studien – auf die im Rahmen dieses Beitrags nicht im Detail eingegangen werden kann – zeigen, dass die Mehrheit der befragten 14- bis 16-Jährigen (70 % der Befragten an Regelschulen und 58 % an Förderschulen) sexualisierte Gewalt beobachtet hat, dies in der überwiegenden Mehrheit mehrfach. 28 % hatten zudem in der Hauptstudie angegeben, schon mindestens einmal sexualisierte Gewalt ausgeübt zu haben (nicht erfragt wurden eindeutig straftatrelevante Handlungen); bei den befragten Jugendlichen, die Förderschulen besuchen, ist der Anteil höher (31 %). 38 % der Befragten sind mit dem Thema sexualisierte Gewalt durch „Hören-Sagen“, insbesondere durch andere Gleichaltrige, die ihre Erfahrungen berichten, in Berührung gekommen (das Hören-Sagen hat besonders nachhaltige Auswirkungen; dies mag damit zusammenhängen, dass es oft vertraute Personen sind, die von ihren sexualisierten Gewalterfahrungen berichten). Alle Erfahrungsformen und -perspektiven zusammengefasst, berichten 81 % der befragten Jugendlichen von Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt, sei es als direkt Betroffene, Beobachter/ innen, Aggressor/innen oder durchs Hören-Sagen. Wird über die Erfahrungen gesprochen? Und wenn ja, mit wem? Danach gefragt, ob über Erfahrungen sexualisierter Gewalt überhaupt gesprochen wird und wenn ja, mit wem, geben bei Erfahrungen mit ­ nicht-körperlicher sexualisierter Gewalt 52  % an, dass sie darüber gesprochen haben, bei Erfahrungen mit körperlicher sexualisierter Gewalt 60 %. Jeweils nicht unerhebliche Anteile sprechen nicht darüber. Zudem wird auch deutlich, dass mit der Anzahl der Formen körperlicher sexualisierter Gewalt, die Jugendliche erleben (und der damit einhergehenden Intensität der Folgewirkungen), die Bereitschaft sinkt, darüber zu sprechen. Insgesamt gesehen sprechen Jugendliche in der Mehrheit nicht mit Erwachsenen über ihre Erfahrungen, sondern mit Peers – und bleiben damit auch in dem Versuch, sich zu offenbaren, unter sich. Mit Blick auf präventive Maßnahmen ist denkbar, dies im Sinne eines Peers for Peers z. B. im schulischen Kontext positiv als Unterstützungsleistung zu fördern.

3.2 Risikoreiche Orte für sexualisierte Gewalt Die Jugendlichen wurden außerdem gefragt, wo sie diese Erfahrung gemacht haben. Aus einer Liste von insgesamt 34 vorgegebenen Orten (eine zusätzliche Option bestand darin, auch nicht in der Liste enthaltende Orte handschriftlich einzutragen) konnten die Befragten bis zu sechs Orte auswählen (Mehrfachantworten). In Tab. 3 sind die einzelnen Orte aus der Liste zu Oberkategorien zusammengefasst (siehe auch die Anmerkungen unterhalb der Tabelle).

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S. Maschke

Tab. 3   Risikoreiche Orte für sexualisierte Gewalt, in Prozent der jeweils Betroffenen Orte nicht-körperliche sex. Gewalt

Orte körperliche sex. Gewalt

Hauptstudie

Ergänzungsstudie

Hauptstudie

Ergänzungsstudie

1.

51 % Schule

34 % Schule

49 % Öffentl. Raum (Straße etc.)

26 % Öffentl. Raum (Straße etc.)

2.

44 % Internet

23 % Öffentl. Raum (Straße etc.)

44 % Andere Whg./Party

16 % Schule

3.

41 % Öffentl. Raum (Straße etc.)

21 % Internet

24 % Schule

15 % Andere Whg./ Party/Zuhause

4.

22 % Andere Whg./Party

12 % 18 % Andere Whg./Party Zuhause

10 % Internet

5.

15 % Zuhause

11 % Zuhause

8% Institutioneller Raum

10 % Internet

Quelle und Anmerkungen: Speak!-Ergänzungsstudie, Maschke und Stecher (2018d), ngültig =  130 (nicht-körperliche Erfahrungen) ngültig =  74 (körperliche Erfahrungen); Speak!-Hauptstudie; Maschke und Stecher (2018a), ngültig, gewichtet =  1053 bzw. 531; Mehrfachantworten möglich. Schule  =  z.  B. Klassenzimmer, Schulhof, Schulflur; öffentlicher Raum = z. B. Straße/öffentlicher Platz, Bahnhof/Bushaltestelle, Park, Kirmes; institutioneller Raum = z. B. Sportverein, Jugendzentrum, Musikschule, Nachhilfe

Tab. 3 zeigt bezogen auf die Hauptstudie und damit auf die Schüler/innen an Regelschulen, dass nicht-körperliche sexualisierte Gewalt vor allem in der Schule stattfindet, gefolgt vom Internet und vom öffentlichen Raum. 22 % der von nicht-körperlicher sexualisierter Gewalt Betroffenen geben an, dass sie diese Erfahrung auf einer Party bzw. in einer anderen Wohnung (private Wohnung, nicht das eigene Zuhause) gemacht haben. Auch bei den Förderschüler/innen liegt die Schule mit 34 % als Ort der Erfahrung nicht-körperlicher sexualisierter Gewalt auf Platz 1. Darauf folgen der öffentliche Raum, das Internet, die andere Wohnung/Party und dann das eigene Zuhause als Risikoorte. Die Angaben der Orte in der Hauptstudie und in der Ergänzungsstudie sind im Profil relativ ähnlich. In den Niveauunterschieden spiegelt sich die insgesamt bei den Förderschüler/innen zu beobachtende Antworttendenz wider, durchschnittlich weniger Angaben zu den Orten zu machen als die Befragten der Hauptstudie.

Sexualisierte Gewalt Peer-to-Peer …

95

3.3 Wer hat es getan? Mit Blick auf die Frage, von wem die erfahrene Gewalt ausgegangen ist, konnten die Befragten aus einer Liste von insgesamt 39 Personen bzw. Personengruppen jeweils getrennt nach weiblicher und männlicher Form (z. B. „ein Bekannter“, „eine Bekannte“) auswählen. Die Abfrage erfolgte getrennt für nicht-körperliche (hier waren bis zu sechs Personen-Angaben möglich) und körperliche (hier waren bis zu vier Personen-Angaben möglich) Erfahrungsbereiche. Da sich die Möglichkeit von Mehrfachantworten auch darauf bezog, dieselbe P ­ erson(-engruppe) mehrfach zu nennen, können die Anteile, die auf eine jeweilige Personengruppe entfallen, weitgehend unverzerrt geschätzt werden.3 Hinsichtlich der körperlichen Erfahrungsformen sollten die betroffenen Jugendlichen zusätzlich angeben „wie alt der/die Täter/in zum Zeitpunkt der Tat ungefähr“ war. Die Befunde aus Tab. 4 zusammenfassend wird deutlich, dass für den n­ichtkörperlichen Bereich ein hohes Risiko sexualisierter Viktimisierung vor allem von männlichen Personen ausgeht (80 % aller Nennungen fallen auf männliche Täter, vgl. zu diesen und folgenden Befunden Maschke und Stecher 2018a) – und hier vor allem von den Betroffenen unbekannten Personen (23 % aller genannten männlichen Täter waren den Betroffenen unbekannt, siehe Tab. 4), von Mitschülern (19 % aller Nennungen) und von Freunden (15 %). Weibliche Täterinnen kommen demgegenüber seltener vor. Obwohl die meistgenannte Einzelkategorie auf die unbekannte Person fiel, zeigt sich, dass 73 % aller genannten Täter/innen, und damit die weit überwiegende Mehrheit, den Betroffenen bekannt waren. Mit Blick auf körperliche sexualisierte Gewalt (siehe Tab. 4) ist das Bild weitgehend ähnlich. Auch hier entfällt die meist genannte Einzelkategorie mit 23 % aller Nennungen auf die männliche unbekannte Person (1 % auf die weibliche unbekannte Person), das heißt zu 76 % ist der/die Täter/in den Betroffenen bekannt. Hier sind 86 % aller Täter/innen männlichen Geschlechts (vgl. ebd.). Etwas stärker als bei der nicht-körperlichen sexualisierten Gewalt treten bei der körperlichen sexualisierten Gewalt (männliche) Freunde, Bekannte und ­ (Ex-) Partner in Erscheinung. Dies kann als Hinweis daraufhin gelesen werden, dass diese Form sexualisierter Gewalterfahrungen häufig im Rahmen enger sozialer oder auch erster sexueller Beziehungen auftritt. In der Haupterhebung wurden die

3Wenn

beispielsweise drei Mitschüler als Täter genannt wurden und einmal eine unbekannte Person, gehen die drei Mitschüler mit 75 % in die Berechnung der Nennungen ein.

96

S. Maschke

Tab. 4   Täter und Täterinnen – getrennt nach nicht-körperlicher und körperlicher sexualisierter Gewalt, Angaben in Prozent der Nennungen, nur Hauptstudie Täter/innen nicht-körperliche sex. Gewalt

Täter/innen körperliche sex. Gewalt

1.

23 % männl. fremde Person

4% weibl. fremde Person

23 % männl. fremde Person

1% weibl. fremde Person

2.

19 % Mitschüler

7% Mitschülerin

21 % Freund

6% Freundin

3.

15 % Freund

5% Freundin

10 % Mitschüler

1% Mitschülerin

4.

8% ein Bekannter

2% eine Bekannte

10 % ein Bekannter

2% eine Bekannte

5.

4% Ex-Partner

1% Ex-Partnerin

8% Ex-Partner

2% Ex-Partnerin

6.

1% … Partner

1% … Partnerin

3% … Partner

2% … Partnerin

10 % … Familienangehörige, sonstige erwachsene Personena

11 % … Familienangehörige, sonstige erwachsene Personen

Quelle und Anmerkungen: Maschke und Stecher (2018c, S. 128) aDarunter fallen: Vater, Stiefvater/Pflegevater, Freund/Lebensgefährte der Mutter, Bruder, Stiefbruder/Adoptivbruder/Pflegebruder, (anderer) männlicher Verwandter – und das jeweilige weibliche Pendant; Lehrer, Erzieher, Trainer im Verein, Sozialpädagoge, Nachbar, Erwachsener aus der Kirchengemeinde, Arzt – und das jeweilige weibliche Pendant

Betroffenen zudem auch nach dem Alter des/der Täter/in gefragt. Insgesamt zeigt sich, dass gut drei Viertel (77 %) der Täter/innen 18 Jahre oder jünger waren, also in etwa Gleichaltrige (vgl. Maschke und Stecher 2018c). Für die Förderschüler/ innen ergibt sich alles in allem ein relativ ähnliches Bild (vgl. Maschke und Stecher 2018d). Die Schweizer Studie der UBS Optimus Foundation (Averdijk et al. 2012), in der 2010 etwa 7000 Schüler/innen der neunten Jahrgangsstufe zu ihren Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt befragt wurde, kommt zu einem vergleichbaren Ergebnis: 71 % der von sexualisierter Gewalt Betroffenen gaben an, dass die Täter keine Erwachsenen, sondern Jugendliche unter 18 Jahren waren.

Sexualisierte Gewalt Peer-to-Peer …

97

Die Befunde aus Speak! können wir folgendermaßen deuten: 1. Dass sexualisierte Gewalt – als Viktimisierung, Täterschaft und aus der Perspektive der Beobachtenden – die Lebenswelt Jugendlicher durchdringt. Der größte Teil der Jugendlichen macht solche Erfahrungen wiederholt und erlebt oft mehrere Formen. Mädchen sind besonders stark betroffen. 2. In der überwiegenden Mehrheit handelt es sich um gleichaltrige Täter/innen. Mit Blick auf die Bedeutung der Gleichaltrigen als Risiko für sexualisierte Gewalt ist es wichtig, den erziehungswissenschaftlichen Fokus verstärkt auf sexualisierte Peer-to-Peer-Gewalt (und im Besonderen auch auf Geschlechterverhältnisse) zu richten. 3. Die Peers können damit einerseits als Gruppe angesehen werden, von der ein hohes Risiko für sexualisierte Gewalthandlungen ausgeht. Andererseits aber auch als Gruppe, die emotionale Unterstützung auf Augenhöhe bietet. Wenn Betroffene über ihre Erfahrungen sprechen, tun sie dies meist mit Gleichaltrigen, seltener mit Erwachsenen. Diese Unterstützung gilt es in der Präventionsarbeit zu nutzen.

4 Fazit Im Lichte der bisherigen Ausführungen, zeigt sich, dass – vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Wandlungen – den Jugendlichen bereits früh ein recht umfassendes Sozialisationsmanagement ‚in eigener Sache‘ abgefordert wird. Eine besondere Rolle spielt dabei die Selbstsozialisation, hier verstanden als verstärkter Anteil der Peers an der Sozialisation. Peersozialisation wird im Kontext erziehungswissenschaftlicher Jugendforschung vornehmlich als eine die Sozialisation und die Entwicklungsaufgaben positiv unterstützende kollektive Leistung angesehen. Begleitet wird die Verselbständigung der Peers von einem Prozess der Entpädagogisierung. Pädagogische Instanzen zur Sozialisation und Erziehung entfernen sich mehr und mehr von ihrer jugendlichen Klientel. Jugendliche bleiben ‚unter sich‘ und damit größtenteils sich auch selbst überlassen. Die Ergebnisse der Speak!-Studien verdeutlichen, dass sexualisierte Gewalt als Peer-to- Peer-Gewalt, gerade auch unter den Peers, die sich kennen oder einander vertraut sind, weit verbreitet ist – sexualisierte Gewalt als „everyday violence“ (Chiodo et al. 2009, S. 215). Demnach liegt eine nicht zu unterschätzende Verbreitung von „machtvollen Übergriffen mit Gewaltcharakter“ (Sielert 2011, S. 27) unter Peers vor. Fassen wir die Formen direkter Viktimisierungen und indirekter Erfahrungen (Beobachtungen, Hören-Sagen, selbst verübte sexualisierte Gewalt)

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S. Maschke

zusammen, wird sichtbar, dass die Lebenswelt der Jugendlichen von sexualisierter Gewalt durchzogen ist – und zu den alltäglichen Erfahrungen zählt. Dass Aushandlungen zwischen Jugendlichen stattfinden, die „nicht nur harmonisch und konfliktfrei“ (Fend 1998, S. 241) verlaufen, „sondern in einem Prozeß ambivalenten und widerspruchsintensiven Aushandelns, Auskämpfens und manchmal auch Überwältigens und Dominierens“ (ebd.), war und ist den pädagogisch Tätigen wie auch erziehungswissenschaftlich Forschenden bewusst. Darauf pädagogische Antworten zu geben, ob intervenierend oder präventiv, wurde jedoch versäumt; wohl auf der Hoffnung basierend, dass sich das Problem, ganz im Sinne der zugesprochenen symmetrischen und konsensualen Beziehungsstrukturen, schon peer(selbst) sozialisatorisch ohne die Unterstützung Erwachsener austarieren werde. Es liegt der Schluss nahe, dass unser im pädagogischen Kollektiv stillschweigend vereinbartes Wegsehen – im Zuge der ‚Entpädagogisierung‘ und Abschwächung der Wirkmacht des pädagogischen Moratoriums (vgl. Zinnecker 2002, S. 152) – mitverantwortlich ist für Viktimisierung wie Täterschaft in einer vulnerablen Lebensphase. Mit Blick auf die strukturellen Ermöglichungsmerkmale von sexualisierter Gewalt an einem konfessionellen Internat zeigen beispielsweise Keupp et al. (2017, S. 49) auf, wie ein Klima der Sexualisierung, der Duldung oder gar Förderung zahlreiche sexuelle Übergriffe begünstigt hat, auch unter den Schüler/innen selbst. Es stand niemand „zur Verfügung, der mit ihnen ins Gespräch gekommen wäre, was in diesem Bereich als ‚angemessen‘ oder ‚unangemessen‘ zu bewerten gewesen wäre; niemand ermunterte sie dazu, ein genaues Gespür für Intimität, für eigene körperliche Grenzen und für die körperlichen Grenzen der Mitschüler zu entwickeln“ (Keupp et al. 2017, S. 87). Ähnlich weist auch Sielert darauf hin, dass sexualisierte Gewalt immer mit einem „Umfeld mit mangelnden Standards und Spielregeln, aber auch blinden Flecken bei der Wahrnehmung von Macht und Sexualität bzw. […] bei der Gestaltung von Nähe und Distanz“ (2011, S. 27) zu tun hat (vgl. Maschke und Stecher 2018a). Nachfolgend die Worte einer 16-jährigen Schülerin aus einer der S ­ peak!-Studien. „Ich hasse das Thema sexuelle Gewalt insbesondere weil es Menschen kaputt macht, seelisch, körperlich, das Selbstvertrauen sowie Selbstbewusstsein geht weg. Man hat Schuldgefühle, weil man kann mit nichts abschließen. […] Hey, ihr da draußen, ich hoffe euch geht es nicht wie mir.“

Eine Lesart, die sich aufdrängt, liegt darin, dass sie mit „Hey ihr da draußen“ auch uns als Erwachsene anspricht und uns dazu auffordert zu handeln. Wie können wir Viktimisierung wie auch Täterschaft künftig vermeiden? Jugend als vulnerable Phase wahrzunehmen – ohne Jugendlichen Kompetenzen und den Wunsch nach zunehmender Autonomie abzusprechen – ist dabei eine besondere

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pädagogische Herausforderung. Dazu zählt sensibel wahrzunehmen, wo die Grenze zu ziehen ist zwischen eher unproblematischen oder sinnvollen sexuellen Interaktionen, in denen noch von einer gewissen Symmetrie in den Beziehungen der Handelnden im Sinne der bspw. von Youniss benannten Dimensionen Kooperation und Konsensualität ausgegangen werden kann, „und machtvollen Übergriffen mit Gewaltcharakter“ (Sielert 2011, S. 27), die auf einer deutlich machtbezogenen Asymmetrie zwischen den Handelnden beruhen (vgl. auch Allroggen et al. 2012) – und Interventionen durch Erwachsene fordern. Ein erster Schritt zielt auf die Umsetzung des Präventionsprojektes „Sensibilisierende Prävention durch Partizipation“ kurz: SePP (vgl. Maschke und Stecher 2018a). Das Projekt SePP gründet u. a. auf drei Gelingensfaktoren bzw. -säulen. Die erste Säule betont die Jugendphase als eine vulnerable; sie bezieht Viktimisierung und Täterschaft ein, und zwar vor dem Hintergrund der vielfältigen Sozialisationsund Entwicklungsaufgaben, die Jugendliche größtenteils eigenständig zu bewältigen haben. Ein Aspekt der Prävention zielt auf die Überwindung von ‚Sprachlosigkeit‘, und zwar nicht nur der Jugendlichen, sondern auch der Pädagog/ innen. Zugleich haben alle Jugendlichen in unterschiedlichen Ausprägungen Ressourcen und Kompetenzen, die sich auf die (Mit-)Gestaltung ihrer Umwelt beziehen. Die zweite Säule steht dafür, diese verstärkend einzubinden – im Sinne der Partizipation. Partizipation reduziert sich nicht allein auf die Einbeziehung Jugendlicher; vielmehr verbindet sich damit der Versuch, eine Begegnung und einen Austausch von Peers und erwachsenen Akteuren (vor allem im Kontext der Schule) in einem für alle Beteiligten fruchtbringenden pädagogischen Setting zu ermöglichen. Angesprochen ist damit die Frage von Schule und anderen pädagogischen Institutionen als schützender und präventiver Raum und zugleich als (Sozialisations-)Raum für Heranwachsende, der dem Wunsch nach Freiraum und Eigengestaltung nachkommt. Die dritte Säule steht für die große Bedeutung langfristiger, nachhaltiger und ganzheitlicher Angebote, die sexualpädagogische Inhalte ebenso wie Präventionsprozesse zum Phänomen sexualisierte Gewalt in Gang bringen wollen. Zusammenfassend lässt sich dies als „Sensibilisierende Prävention durch Partizipation“ (SePP) bezeichnen.

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Biographisches Lernen (Jugendlicher) – Zum Konzept biographischen Lernens in der Erziehungswissenschaft und seiner empirisch gestützten Erweiterung Alena Berg

Lernen in biographischen Erzählungen zu betrachten heißt, eine ganz spezifische Perspektive einzunehmen (Ecarius 1998, S. 143).

Zusammenfassung

Ausgehend von der theoretischen Betrachtung des Lernens Jugendlicher in Zeiten von Anrufungen an das Selbst zur Optimierung, wird sich im Beitrag für einen Lernbegriff aus biographietheoretischer Perspektive ausgesprochen, der für eine bildungsbezogene Jugendforschung mit empirischem Gewinn verbunden sein kann. Dazu werden Ansätze der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung aufgegriffen und zu einem Forschungskonzept biographischen Lernens zusammengeführt. Dieser theoretischen Auseinandersetzung folgt die Darstellung empirischer Ergebnisse: es werden verschiedene Formen biographischer Lernprozesse am Forschungsmaterial konturiert und in einem Modell abgebildet.

A. Berg (*)  Universität zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Fuchs et al. (Hrsg.), Jugend, Familie und Generationen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24185-8_7

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Schlüsselwörter

Jugend · Biographisches Lernen · Jugendforschung ·  Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung · Biographische Lernprozesse

1 Einleitung – Das Lernen Jugendlicher im Blick 1.1 Theoretischer Zugang Sozialisationstheoretisch sowie im Kontext gesellschafts- und modernisierungstheoretischer Zeitdiagnosen werden Jugendliche als aktive, eigenständige, die Realität produktiv verarbeitende Akteure wahrgenommen. Chancen und Risiken von Individualisierung, Pluralisierung und Flexibilisierung sind von den Jugendlichen vor dem Hintergrund ihrer individuell-biographischen Ressourcenlagen zu bewältigen und hängen immer stärker von ihrer Bildung ab (vgl. Walther und Stauber 2013, S. 28). Damit scheint – forciert bereits durch die P ­ ISA-Studien – eine lern- und bildungsbezogene Perspektive auf Jugend aufgerufen zu sein: Jugendliche geraten „als lernende oder sich selbst bildende Subjekte bzw. als zu bildende und qualifizierende Akteure in unterschiedlichen Lern- und Bildungskontexten“ (Gaupp und Lüders 2015, S. 61) in den Blick. Inspiriert von subjekttheoretischen (vgl. Reckwitz 2006) und unternehmerischen (vgl. Bröckling 2007) Ansätzen wird der einzelne Jugendliche nunmehr als intrinsisch motiviertes (vgl. Hurrelmann und Quenzel 2012, S. 37) und „eigenverantwortliches ‚Lernselbst‘“ (Helsper 2015, S. 136) konzipiert, das eigeninitiativ seine Lernfähigkeit optimiert (vgl. Maasen 2012, S. 149). Von den Jugendlichen wird die „Selbstmobilisierung“ (Bröckling 2007, S. 103) des Lernens – sei es institutionell-formell, außerschulisch-informell, lebenslang und biographisch – abverlangt (vgl. ebd., S. 71 f.). In der Schule entspricht dies dem von allen Heranwachsenden geforderten „Habitus des erfolgsorientierten, sich selbst kontrollierenden Leistungs- und Erwerbsmenschen“ (Helsper 2012, S. 84), bei dem (‚bestenfalls‘) sämtliche außerschulischen Lernerfahrungen, informellen Lernaktivitäten, Alltagspraxen und Beziehungen der institutionellen Verwertbarkeit und Funktionalisierung unterworfen sind (vgl. Reißig 2015, S. 188; Gaupp und Lüders 2015, S. 61). Während im Zeichen der Individualisierung die Jugendphase vor allem mit der Möglichkeit zur Selbst-Sozialisation ­verknüpft ist, sticht

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in Zeiten des Unternehmerischen und der Ökonomisierung der Zwang zur Selbstbildung, -mobilisierung, -verantwortung, -behauptung und -­vermarktung hervor und stellt Ansprüche an die jugendliche Lebensführung. Das Lernen Jugendlicher erhält damit eine neue Dimension, an die das lebenslange Lernen (im Erwachsenenalter) nahtlos anknüpft und in die sich auch der Begriff der Ganztagsbildung (vgl. Coelen und Otto 2008) im Zuge der Ganztagsschulbewegung einfügt. Begleitet wird dieser Zuwachs an Aufforderungen zum Lernen durch die Bezugnahme auf Konzepte wie jenem der Entwicklungsaufgaben (vgl. Havighurst 1948; dazu auch Schierbaum und Franzheld in diesem Band). Bspw. nennen Oerter und Dreher (1998) Entwicklungsaufgaben auch ‚Lernaufgaben‘ innerhalb des lebenslangen Lernprozesses und richten damit den Blick auf das heranwachsende Subjekt. Im Spannungsfeld zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Anforderungen sind die Heranwachsenden aufgefordert, sich Fertigkeiten und Kompetenzen anzueignen, um sozial konstruktiv am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können (vgl. ebd., S. 326). Diese jugendtheoretischen Entwicklungen spiegeln sich auch in den Forschungsthemen der erziehungswissenschaftlichen Jugendforschung wider, in der insbesondere Lernen und Bildung in den letzten beiden Jahrzehnten als thematische Schwerpunkte ausgewiesen werden. In der Forschung zu Heranwachsenden hat die Debatte um informelles Lernen bzw. informelle Bildung eine ‚bildungsbezogene Jugendforschung‘ (vgl. Pfaff 2015) beflügelt – eine erziehungswissenschaftliche Jugendforschung also, die sich mit Bildungsinstitutionen, Bildungsverläufen und Übergängen im Bildungssystem oder Lern- und Bildungsprozessen in institutionellen oder außerschulischen Kontexten befasst (vgl. ebd., S. 43 f.). Hier fallen nicht nur die Schul-, Bildungs- und Jugendforschung zusammen. In Überschneidung mit der Lebenslauf- und Biographieforschung werden auch individuelle Lern- und Bildungsverläufe sowie Übergänge zum Thema. So finden sich auch Parallelen zur erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung (vgl. Krüger 2012), deren Konzepte zum Lernen aus lebensgeschichtlicher Perspektive jedoch nahezu gar nicht in der Jugendforschung berücksichtigt und empirisch nutzbar gemacht werden. Und das obwohl die Zusammenführung von biographischer Jugendforschung und Schülerbiographieforschung – so zeigen sowohl Baacke und Sander (2006) als auch Helsper und Bertram (2006) auf – eine lange Tradition hat. Wie in der Qualitativen Bildungsforschung – verstanden in einem engeren Sinn – „Lern- und Bildungsprozesse eher aus einer subjekttheoretischen Perspektive“ (Marotzki und Tiefel 2013, S. 73) in den Blick genommen werden, kann dies auch für die erziehungswissenschaftliche (oder bildungsbezogene) Jugendforschung überlegt werden, um von dem Fokus auf Bildungsinstitutionen wegzulenken,

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welche aufgrund der „Institutionalisierung der Jugendphase im vergangenen Jahrhundert […] einen wesentlichen Schwerpunkt in der Erforschung jugendlicher Lebenswelten“ (Pfaff 2015, S. 43) bilden. Werden Lernen und Bildung im erziehungswissenschaftlichen Jugenddiskurs nicht explizit unter schulischen bzw. bildungsinstitutionellen Gesichtspunkten betrachtet, wird in aller Regel auf den Begriff des informellen Lernens zurückgriffen. Aber trotz der mittlerweile grundlegenden Anerkennung von außerschulischen Lern- und Bildungsprozessen im Zuge des 12. Kinder- und Jugendberichts (vgl. BMFSFJ 2006)1 wird die Frage nach deren Bildungsbedeutsamkeit noch immer überwiegend hinsichtlich ihrer verwertbaren, funktionalen Bedeutung gestellt – also inwiefern sich außerschulisch erworbenes Wissen und Können messen, bewerten und attestieren bzw. für die Schule in einem qualifikatorischen Sinn nutzen lässt (vgl. Fahrenwald 2005, S. 243). Lern- und Bildungsprozesse (jugendlicher) Heranwachsender werden also selbst hier noch überwiegend unter schulisch-institutioneller bzw. leistungsbezogener Perspektive fokussiert. Ansatzweise wird im mittlerweile sehr ausdifferenzierten erziehungswissenschaftlichen Diskurs um das informelle Lernen (vgl. Harring et al. 2016; Rohs 2016) die Verknüpfung von Lernen und Biographie theoretisch mitbedacht. Aber obwohl sich hinsichtlich der Begriffsbestimmung deutliche Parallelen zum biographischen Lernen erkennen lassen (vgl. Berg 2017a), werden diese im Diskurs nicht thematisiert oder empirisch aufgegriffen. Dabei bringt die Erweiterung des Blickwinkels das Potenzial mit sich, die Lernprozesse Heranwachsender in ihrer biographischen Gesamtheit und Komplexität zu verstehen.

1.2 Empirischer Zugang Mit meiner Dissertation zu „Lernbiographien Jugendlicher am Übergang ­Schule-Beruf“ (Berg 2017b) bin ich den hier formulierten und kritisch zu betrachtenden jugendtheoretischen Entwicklungen und dem Desiderat der

1Ausdruck

fand diese Anerkennung insbesondere in Form der beiden nahezu parallel erschienen Handbücher zum informellen Lernen (vgl. Harring et al. 2016; Rohs 2016), in denen sich die vielfältigen Forschungsaktivitäten in der Dekade nach dem Erscheinen des Jugendberichts und z. B. dem Band von Rauschenbach et al. (2006) zum informellen Lernen im Jugendalter sowie methodische Überlegungen zur empirischen Erfassung dokumentieren.

Biographisches Lernen (Jugendlicher) …

107

b­ iographischen Perspektive auf das Lernen Jugendlicher begegnet, weshalb ich im Folgenden zur Argumentationsführung auf diese zurückgreife. Dem Titel nach zu urteilen könnte man zwar davon ausgehen, dass auch hier eine schulischinstitutionelle Perspektive verfolgt wird, da die Bewältigung des Übergangs von der Schule in den Beruf thematisch ist – dieser Übergang impliziert einen erfolgreichen Schulabschluss sowie den Erhalt eines Ausbildungsplatzes. Jedoch ging es in der qualitativen Studie um mehr. Als Ausgangspunkt wurden die Lebensgeschichten – und nicht allein die Schulgeschichten bzw. schulischen Verläufe – der als abschlussgefährdet geltenden Jugendlichen gewählt, die in der allgemeinbildenden Schule eine Fördermaßnahme besuchten. Der Fokus lag damit nicht darauf bloß zu untersuchen, inwiefern die schulpädagogische Maßnahme Einfluss auf den institutionellen Lebenslauf der Schülerinnen und Schüler hat und inwiefern die Maßnahme bezüglich des Erwerbs des Schulabschlusses und des Übergangs in eine Ausbildung Erfolg bringend konzipiert ist.2 Vielmehr interessierte die biographische Einbettung und Relevanz der Fördermaßnahme, sodass auch die Veränderungen im Rahmen der zweijährigen Förderung im lebensgeschichtlichen Zusammenhang von Vorher und Nachher betrachtet wurden. Gefragt wurde nicht nur, welche Lernprozesse sich im Rahmen der Förderung ereigneten. In den Blick genommen wurden insbesondere die in die Maßnahme mitgebrachten, im biographischen Verlauf erworbenen Relevanzbzw. Erfahrungsstrukturen. Insofern stellte sich für die empirische Studie die Frage nach einem Lernbegriff, mit dem sich die Lern- und Bildungsprozesse der Jugendlichen abseits ihrer auf die Schullaufbahn bezogenen Funktionalisierung und auch unabhängig von schulablehnenden oder -annehmenden Bildungsorientierungen der Jugendlichen fassen lassen. In der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung werden diese auf Erfahrungen aufbauenden Prozesse aus einer subjektorientierten biographischen Perspektive in den Blick genommen und es wird – in einigen Ansätzen mehr, in anderen etwas weniger – ein biographischer Lernbegriff erörtert (vgl. Schulze 1993, 2003, 2006, 2007, 2009; Ecarius 1998, 2006, 2008; von Felden 2008a, b). Um also die Lern- und Bildungsprozesse der Jugendlichen in ihrer biographischen Relevanz zu untersuchen, habe ich diese Ansätze für

2Insofern

handelt es sich bei der Studie explizit nicht um Schul- oder Evaluationsforschung.

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meine empirische Studie zu einem (Forschungs-)Konzept biographischer Lernprozesse theoretisch ausgearbeitet und ausdifferenziert (vgl. Berg 2017b).3

2 Lerntheoretische Ansätze der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung – eine zusammenführende Betrachtung Theodor Schulze (1993, 2003, 2005, 2009) bemühte sich sowohl früh als auch beständig um die Explikation lebensgeschichtlich relevanter und die Beschreibung längerfristiger Lernprozesse. Wegweisend war der zusammen mit Dieter Baacke veröffentlichte Band „Aus Geschichten Lernen“ (Baacke und Schulze 1979), im Zuge dessen in der Biographieforschung „Lebensgeschichten zuerst einmal [als] Lerngeschichten“ (Krüger 2006, S. 16; d. Verf.) verstanden und in diesen Lern- und Bildungsprozesse analysiert werden. Weitere theoretische sowie methodische Überlegungen, die wie Schulze ebenfalls mit dem Begriff der Erfahrung(-saufschichtung) arbeiten, folgten dem mit je spezifischen Akzentuierungen nach. So hat sich Jutta Ecarius (1998, 2006, 2008) mit dem Begriff des biographischen Lernens auseinandergesetzt und dabei theoretischen Bezug auf u. a. Bateson (1985) oder Holzkamp (1993) genommen. Am empirischen Material hat sie zudem die Formen des grundlegenden bio-

3Durch

die Anwendung dieser theoretischen Konzeption biographischen Lernens konnte das gesamte biographische Werden und das Lernen der Jugendlichen – und mithin die Resultate ihrer Werdens- und Lernprozesse – entlang der lebensgeschichtlichen Erfahrungsaufschichtung rekonstruiert werden. Auf diese Weise erschloss sich, wie sich auf der einen Seite außerschulische und innerschulische Lernerfahrungen beeinflussen und wie auf der anderen Seite früheres biographisches Lernen und späteres ineinandergreifen. Vor diesem Hintergrund konnten dann die langfristigen Auswirkungen und die biographische Relevanz der Fördermaßnahme im lebensgeschichtlichen Zusammenhang verstanden werden. Dazu wurde eine Typologie mit drei Typen zur biographischen Relevanz der von den Jugendlichen besuchten Fördermaßnahme gebildet (vgl. Berg 2017b). In den Typen des Umbruchs, der Wegebnung und der Stabilisierung sowie in den entsprechenden Einzelfallrekonstruktionen kommt auf je spezifische Weise zum Ausdruck, wie die sozial-biographischen Erfahrungen mit der Teilnahme an der pädagogischen Fördermaßnahme verknüpft sind. Es zeigt sich, mit welchen, aufgrund von biographischen Vorerfahrungen gelernten Relevanzstrukturen die Jugendlichen in die Förderung hineinkommen, welche Lern- und Anknüpfungsmöglichkeiten sich ihnen dort bieten und was die Lernprozesse in diesem Rahmen – auf kurze oder lange Sicht – bewirkten.

Biographisches Lernen (Jugendlicher) …

109

graphischen Lernens und des Erfahrungslernens ausgeführt (vgl. Ecarius 2008). Im Kontext der Erwachsenenbildung und mit Blick auf das lebenslange Lernen sind die Arbeiten von Peter Alheit et al. (2003) und Bettina Dausien (2011) anzuführen. Auch Heide von Felden (2006, 2008a, b) setzte sich mit der Bestimmung eines Lernbegriffs in biographietheoretischer Perspektive auseinander und trifft Überlegung zur empirischen Rekonstruktion von Lernprozessen über die Lebenszeit (von Felden 2009, 2011). Dabei greift sie auf die heuristischen Kategorien Subjekt, Struktur und Prozess zurück (vgl. von Felden 2008b). Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Zugänge und Perspektiven kann nicht von einem einheitlichen oder gar dem einen, allgemeingültigen Konzept lebensgeschichtlichen bzw. biographischen Lernens gesprochen werden – insbesondere auf forschungspraktischer Ebene, auf der nur selten explizit damit gearbeitet wird auch wenn erste Überlegungen vorliegen. Die Gemeinsamkeiten der genannten Ansätze können jedoch zusammengeführt werden und mit weiteren, die sich mit dem Konzept biographischen Lernens überschneiden, ergänzt werden (vgl. Berg 2017b) – etwa mit dem Konzept zum biographischen Lernhabitus (Herzberg 2004). Abb. 1 integriert vor allem jene Elemente, die Theodor Schulze, Jutta Ecarius sowie Heide von Felden als konstitutiv für biographisches Lernen beschreiben: nämlich dass dieses ein erfahrungsbasierter Prozess des biographischen Subjekts ist, in dem sich frühere Erfahrungen mit nachfolgenden – meist unbewusst und schleichend – verbinden. Erfahrungen knüpfen demnach an biographische Vorerfahrungen an, welche die Grundlage für weitere Erfahrungen bilden. Und dieser stetige kreisläufige Prozess der Erfahrungsaufschichtung, in dem Vergangenes mit Gegenwärtigem verschmilzt (vgl. Ecarius 1998, S. 132) – wie auch die einzelnen Erfahrungen – ist an den sozialen Kontext gebunden. Im Lebensverlauf bildet sich allmählich eine umfassende an das jeweilige Subjekt geknüpfte biographisch aufgeschichtete Erfahrungs- bzw. Wissensstruktur (vgl. Alheit und von Felden 2009, S. 11; Hoerning 1989, S. 154 ff.), welche die Grundlage bzw. den „Horizont“ (Kohli 1976, S. 311) für weitere Erfahrungen, die gleichsam wieder in diese Struktur einfließen, bildet. Sie ist folglich keine feste, sondern eine fluide, sich fortschreibende Struktur (vgl. Hoerning 1989, S. 162). An biographische Erfahrungen gebundene Lernprozesse – also biographische Lernprozesse – bauen insofern auf sich selbst bzw. auf vorherigem Lernen auf. Schulze (1993, S. 205, 2006, S. 36) bezeichnet dies als durch das Leben selbst organisiertes Lernen; Ecarius formuliert, dass jedes Lernen „auf vorherige Erfahrungen zurück[greift]“ (1998, S. 143; d. Verf.); Alheit et al. (2003, S. 39) bezeichnen dies als Anschlusslernen, Göhlich et al. (2007, S. 16) sprechen schließlich von einer sich selbst fortschreibenden Lernform. Die sich im biographischen Prozess herausbildende Struktur oder biographische Gestalt, stellt eine „virtuelle Gesamtheit“ (Dausien 2011, S. 116) dar, die dem Subjekt selbst weitestgehend verborgen bzw.

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Abb. 1   Biographisches Lernen – zentrale Aspekte des (Forschungs-)Konzepts (Berg 2017b, S. 150)

unbewusst bleibt.4 In der Literatur lassen sich dafür viele verschiedene Begriffe wie etwa Orientierungsrahmen, Lernmuster, Strukturen der Weltaufordnung, Habitus(-formationen), biographisches Hintergrundwissen, generative Sinn- oder 4Zu

unterscheiden ist hierbei – und darauf weist z. B. der Lernhabitus als Teil des Habitus hin – meines Erachtens jedoch zweierlei: Erstens scheint es eine Art Gesamtstruktur zu geben, in die alle gemachten Erfahrungen des Subjekts integriert sind. Zweitens beinhaltet diese Gesamtstruktur einzelne Teilstrukturen, die sich auf ein – mehr oder weniger klar umrissenes – Lernfeld, -thema oder auch nur einen bestimmten Lerngegenstand beziehen können (Illeris 2010, S. 252). Etwa in Form von Verhaltensweisen, Handlungsmustern oder auch Persönlichkeitseigenschaften werden sie rekonstruierbar, weil sie bspw. den Umgang mit unbekannten Situationen oder die Einstellung zur Schule oder das Lernen betreffen können. Diese „durchgängige[n] Stränge“ (Schulze 1993, S. 205) ergeben sich durch die Verknüpfung von Erfahrungen in mehr oder weniger spezifischen Lernsituationen. Die biographisch gewachsene Gesamtstruktur besteht demnach aus einem Geflecht verschiedener Teilstrukturen und -stränge, deren Erfahrungsgehalte – als Ganzes gesehen – latent auf das Wahrnehmen, Denken und Handeln des biographischen Subjekts wirken.

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Lernstruktur, Aneignungssystem, Begründungszusammenhang, biographischer Wissensvorrat, unendliche Erfahrungsbasis oder auch Erfahrungsreservoir finden. Diese Selbst- und Weltverhältnisse oder Selbst- und Weltbilder liegen der Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit der Welt, anderen und sich selbst zugrunde. Biographische Lernprozesse verändern diese in der Regel graduell, klein(st) schrittig oder wie der Biographieforscher Fritz Schütze (1984, S. 82) es ausdrückt „spurenweise“. Wie das Konzept der Biographie, das „strukturell auf der Schnittstelle von Subjektivität und gesellschaftlicher Objektivität, von Mikro- und Makroebene angesiedelt“ (Krüger und Marotzki 2006, S. 8) ist, lassen sich biographische Lernprozesse ebenfalls in diesem Spannungsfeld verorten und sind „als sozial situierte Lernprozesse zu verstehen“ (Truschkat 2013, S. 57). Über die Erfahrungen, die das Subjekt mit dem sozialen Umfeld bzw. der Welt macht, sind in biographische Lernprozesse gesellschaftliche Lebenszusammenhänge und Sinnnormierungen eingewoben (vgl. von Felden 2008c, S. 11; Ecarius und Schäffer 2010, S. 7). Am Konzept des biographischen Lernhabitus (vgl. Herzberg 2004) wird diese Kontextabhängigkeit bzw. Lebensweltorientierung des Lernens bzw. des Lernenden besonders deutlich. Auch nahezu alle anderen Konzepte und (biographie-)theoretischen Überlegungen (vgl. Alheit und von Felden 2009, S. 10; Göhlich und Zirfas 2007, S. 56) machen deutlich, dass sich das Subjekt in seinen Erfahrungen mit anderem – d. h. personellen anderen, der dinglich-materiellen Welt und sozialen Strukturen – auseinandersetzen muss (vgl. Göhlich et al. 2007, S. 16). Zentral sind hierbei die unmittelbaren Lebensweltund Interaktionsbezüge, insbesondere der sozialisatorische Nahraum der Familie, in dem erste prägende Erfahrungen gemacht werden. Nach Ecarius (2008) findet hier elementares bzw. grundlegendes Lernen statt, aus dem eine sinngebende Lernstruktur resultiert und an welches das Erfahrungs- bzw. Anschlusslernen anknüpft. Vor allem im Lernebenenmodell von Gregory Bateson (1985), das im Diskurs als Bezugsquelle für die Unterscheidung von Lern- und Bildungsprozessen herangezogen wird, sowie im Konzept von Heidrun Herzberg (2004) zum Lernhabitus tritt die Bedeutsamkeit dieser frühen Kindheitserfahrungen und die Widerstandsfähigkeit der in dieser Zeit erlernten Muster deutlich hervor. Dass Lernen milieuspezifische Formen annehmen kann (vgl. Grundmann et al. 2010), die sich im Habitus oder der Lernstruktur niederschlagen, ist insofern plausibel. Lebenslagen, -umwelten, und -milieus nehmen auf das Lernen ebenso Einfluss – im positiven oder aber negativen Sinne –, wie die jeweils vorherrschenden historisch-kulturellen Gegebenheiten (vgl. Göhlich und Zirfas 2007, S. 56).

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3 Konturen und Formen biographischer Lernprozesse – ein erweitertes Modell In der Empirie der Dissertationsstudie konnten die beiden von Jutta Ecarius (2008) benannten „biographische[n] Lernformen“ (ebd., S. 99) des grundlegenden Lernens und des Erfahrungslernens ausdifferenziert werden. Im grundlegenden Lernen werden die elementaren Erfahrungsschemata modelliert. Deren konstitutiven Lernerfahrungen sind in der frühen Kindheit und im familiären Sozialisationskontext verankert (vgl. Ecarius 2008; Schulze 1993). Diese biographischen Lernprozesse führen zum Aufbau und zur Formung von grundlegenden Bezügen zu sich selbst, zu anderen und der Welt sowie damit zusammenhängend zum Aufbau von Verhaltensweisen, Deutungs-, Einstellungsund Handlungsmustern und auch Fähigkeiten. Hier knüpft nun das Erfahrungslernen an, bei dem sich die gebildeten Erfahrungsstrukturen fortschreiben. Dieses wird mit der Begrifflichkeit von Alheit et al. (2003) besser als Anschlusslernen bezeichnet, da biographisches Lernen grundsätzlich an Erfahrungen gebunden und somit Erfahrungslernen ist.5 Sozusagen als biographisches Bindeglied zwischen dem grundlegenden Lernen und dem Anschlusslernen bzw. dessen weiterer Formen zeigten sich in der empirischen Auswertung im fortschreitenden lebensgeschichtlichen Verlauf separat zu benennende Lernprozesse der Festigung. Diese ähneln denen des Aufbaus insofern, dass auch sie sich in den weitestgehend gleichen sozialen Bezügen mit den primären Interaktionspartnern vollziehen. Die weiteren Erfahrungen werden in die bisher gelernten Relevanzstrukturen integriert und festigen diese zunehmend. Das fortschreitende Alter und sich damit verändernde Erfahrungsmöglichkeiten machen hierbei den kleinen Unterschied aus. Abb. 2 zeigt, welche weiteren verschiedenen Formen des Anschlusslernens nun folgen können. Vor allem die biographischen Lernprozesse der Verstetigung gleichen hierbei abermals ihren Vorgängern und knüpfen an diese an. Allerdings ereignen sie sich nun in anderen, neuen lebensweltlichen und sozialen Bezügen wie etwa der Schule. Die Jugendlichen versuchen die Erfahrungen außerhalb

5Alheit

et al. (2003) grenzen das Anschlusslernen nicht wie Ecarius das Erfahrungslernen von einem grundlegendem Lernen ab, sondern vom transitorischen Lernen. Beim Anschlusslernen handelt es sich – wie etwa bei Ecarius auch – um die „Vertiefung und Erweiterung bestehender Erfahrungs- und Wissensstrukturen“ (Alheit et al. 2003, S. 39), deren Veränderungen sich von einer grundlegenden Umstrukturierung, im Sinne eines (transformatorischen) Bildungsprozesses, unterscheiden.

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Abb. 2   Formen biographischer Lernprozesse (Berg 2017b)

der Familie, die weitestgehend im Widerspruch zu ihren grundlegenden Lernerfahrungen stehen, weiterhin anschlussfähig an ihre gelernten Erfahrungsschemata zu halten. Und so kommt es, dass sie – in zum Teil unterschiedlicher Gestalt von defensiv-passiv bis offensiv-aggressiv – vor allem ihre Selbst- aber auch Weltverhältnisse verteidigen und Veränderungsanstöße abwehren. Die Jugendlichen verharren – zum Schutz ihres Selbst – in ihren Mustern bzw. lernen, an Bewährtem, d. h. an ihren subjektiven Relevanzen, festzuhalten. An einer Lebensgeschichte konnte weiterführend gezeigt werden, wie sich Verhaltens- und Handlungsmuster im Zuge weiterer Erfahrungsaufschichtung (in weiteren sozialen Kontexten) verselbstständigen können, d. h. als unabwendbar und die Handlungen selbstbegründend begriffen werden. Auch die biographischen Lernprozesse der Erweiterung schließen sich an die der Festigung an und stocken das Gelernte auf oder dehnen es aus. Die Selbstund Weltverhältnisse bleiben also mehr oder weniger gleich, aber es kommen neue Verhaltensweisen, Einstellungs- und Handlungsmuster hinzu. In der Auseinandersetzung mit seiner problembelasteten Familienwelt hat ein Jugendlicher Bewältigungs- und Handlungsmuster (z. B. das passive Aus- und Durchhalten in Belastungssituationen) entwickelt, die er im Zuge weiterer Lernerfahrungen fortführt und schließlich in einer veränderten bzw. erweiterten Form anwendet. Hier geht es nicht um eine Verteidigung und das Abwehren von Veränderungen, sondern zunächst um eine passive Annahme und Verarbeitung seiner sozialen Bezüge und Umwelten. Allmählich wagt der Jugendliche den nächsten Schritt

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aus der anfänglichen Passivität und entwickelt sich und seine Handlungsmuster weiter (wie das Nachfragen und um Hilfe bitten). Um eine Weiterentwicklung handelt es sich auch dergestalt, dass die alten wie neuen Muster zudem kontextübergreifend angewendet werden können – der Jugendliche sie also ausdehnt bzw. auf andere Kontexte transferiert. Schließlich lassen sich noch jene biographischen Lernprozessen benennen, die sich von den anderen dadurch unterscheiden, dass die bisherigen Orientierungen aufgebrochen werden und die Jugendlichen Teile ihrer Relevanzstrukturen dauerhaft ändern. Besonders auffällig werden diese biographischen Lernprozesse des Aufbruchs und des Umbaus in Abgrenzung zu den Lernprozessen der Verstetigung, Verteidigung und Verselbstständigung. Die biographisch gelernten Muster – hier insbesondere die erlernten schulablehnenden Verhaltensweisen – wurden von einem Jugendlichen nicht nur aufgebrochen, sondern allmählich zu einem neuen Handlungsmuster der Lern- und Anstrengungsbereitschaft umgebaut, das sich im Zuge weiterer positiver Erfahrungen in diesem Lernkontext zunehmend festigt und dann nachhaltig von Bedeutung ist. Seine übrigen subjektiven Relevanzstrukturen hält der Jugendliche bei und schafft es, die neuen schulisch-beruflichen Einstellungs- und Handlungsmuster in diese zu integrieren bzw. einzuflechten. Wie in diesem Fall den biographischen Lernprozessen des Aufbruchs nochmals solche der Festigung folgen können, können auch denen der Erweiterung oder auch der Verstetigung solche des Aufbruchs folgen. Denkbar wären aber auch andere Übergänge und Verbindungen, die mit weiteren Verbindungspfeilen dargestellt sind. Bei einigen Formen biographischen Lernens stellt sich darüber hinaus auch die Frage nach der Unterscheidung von biographischen Lernprozessen einerseits und Bildungsprozessen andererseits.6 In der empirischen Auswertung und der Verschriftlichung der Falldarstellungen ergab sich die Schwierigkeit, die feinen, jedoch auffälligen Unterschiede der verschiedenen biographischen Lernprozesse zu fassen – auch wegen einiger Überschneidungen und ihrer schmalen Übergänge biographischen Lernens. Ausdruck dieser Schwierigkeit der Abgrenzung sind daher die

6Diesbezüglich

kann hier nur auf die theoretischen Diskussionen und empirischen Betrachtungen in meiner Dissertation verwiesen werden (vgl. Berg 2017b). Nur eins: Vielleicht scheint es – gerade bezogen auf das Jugendalter – sinnvoll, Bildungsprozesse im Vergleich zu biographischen Lernprozessen nicht als etwas qualitativ Höherwertigeres zu verstehen, sondern vielmehr dergestalt von einer Andersartigkeit zu sprechen, dass die Unterschiede nicht größer sind als die zwischen den biographischen Lernprozessen der Festigung und Verstetigung oder etwa der Erweiterung und des Ausbaus.

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gewählten, sich doch sehr ähnelnden Begrifflichkeiten für die verschiedenen Lernprozesse. Aber gerade deren Nähe und die Überschneidungen verdeutlichen, wie sehr biographische Lernprozesse an die Aufschichtung und Verkettung von Erfahrungen gebunden sind, dass die Lernerfahrungen und -sequenzen zueinander „unterschiedlich zeitlich dimensioniert“ (Ecarius 2006, S. 103) in Beziehung und schließlich „in Bezug zur Gesamtheit des erfahrenen Lebens“ (ebd.) stehen.

4 Zusammenfassung und Ausblick Von einem biographietheoretischen Lernbegriff auszugehen, erweist sich für die Jugendforschung – insbesondere eine qualitative, bildungsbezogene Jugend(biographie)forschung – als einträglich. Entlang des Begriffs bzw. Forschungskonzepts des biographischen Lernens kann rekonstruiert werden, wie die Jugendlichen geworden sind, was sie erfahren haben, welche Relevanzstrukturen sie ausgebildet haben und wie andere an diesen biographischen Lernprozessen beteiligt waren (vgl. Ecarius 2006, S. 103). Insbesondere ermöglicht es dieser Lernbegriff bzw. das Konzept, die unterschiedlichen biographisch bedeutsamen ‚Resultate‘ der biographischen Lernprozesse herauszuarbeiten, die grundsätzlich begrifflich, theoretisch und empirisch schwer zu fassen sind (vgl. Berg 2015, S. 6; Ecarius und Friebertshäuser 2005, S. 14). Welche biographischen Lern-‚Resultate‘ rekonstruiert werden können, entscheiden die Jugendlichen – wie es in narrativ-biographischen Interviews beabsichtigt ist – mit der Wahl subjektiv relevanter Erzählthemen bzw. biographisch bedeutsamer Erfahrungen. Der Begriff der Relevanzstrukturen ist insofern ein subjektbezogener und umfasst jeweils – je nach dem, was die Jugendlichen erzählen – individuelle Sinngehalte bzw. Inhalte. Bei den einen sind dies vordergründig die eigenen Normalitätsvorstellungen im Sinne einer Orientierung an Freizeit, Freunden und Arbeit, die in ein positives Selbstbild eingelagert sind. Andere legen den Fokus ihrer Selbstdarstellungen auf ein negatives (schulbezogenes) Selbstbild sowie sozial abweichende Handlungsmuster, Verhaltensweisen und auch Persönlichkeitseigenschaften. Und bei wieder anderen handeln die Selbstpräsentationen vorzugsweise von Lebenslagen, in denen sie Handlungsmuster entwickeln, mit eben diesen und ihren aus der Lebenslage resultierenden psychosomatischen Befindlichkeiten zurechtzukommen. Die Jugendlichen lernen in ihren Lebenswelten und -lagen noch vieles mehr – etwa alltagspraktischer, (in-)formeller, psychomotorischer oder intellektueller Art –, was sie aber in den biographisch angelegten Interviews nicht explizit zur Sprache bringen. Ihren biographischen Lernprozessen verleihen sie – mehr oder weniger

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bewusst – Ausdruck in ihren biographischen Selbstpräsentationen, sodass diese aus dem individuellen lebensgeschichtlichen Verlauf herausgearbeitet werden können. Insofern sollten Lernprozesse Jugendlicher empirisch vermehrt – sofern es denn die Fragestellung zulässt – aus einer explizit subjektiv-biographischen Forschungsperspektive untersucht werden. Dieses prozessorientierte, biographische Verständnis bringt es mit sich, das Lernen Jugendlicher als Prozess der Erfahrungsaufschichtung und als Interaktionsgeschehen in verschiedenen sozialen Kontexten zu verstehen. Biographisches Lernen steht „in Bezug zur Gesamtheit des erfahrenen Lebens“ (Ecarius 2006, S. 103), sodass empirisch beantwortet werden kann, wie im Jugendleben „frühere Lernerfahrungen danach folgende Lernaneignungen steuern“ (von Felden 2006, S. 79), wie unterschiedliche Lernprozesse in verschiedenen lebensgeschichtlichen Kontexten aufeinander bezogen sind (vgl. Faulstich 2013, S. 163) und inwiefern die Bewältigung von Veränderungen und Übergängen mit Lernprozessen in Verbindung stehen. In diesem Sinne löst ein prozessorientierter biographischer Lernbegriff Lern- und Bildungsprozesse zwar aus den unmittelbaren Bezügen zu den Institutionen (vgl. auch von Felden 2008b, S. 111) und ordnet sie ins soziale Umfeld der zentralen Interaktionen (vgl. Ecarius 2006, S. 99 f.), ermöglicht gleichzeitig aber auch aufzuzeigen, wie unterschiedliche Lernprozesse in verschiedenen lebensgeschichtlichen Kontexten aufeinander bezogen sind (vgl. Faulstich 2013, S. 163; Alheit und von Felden 2009, S. 11). Insofern lassen sich auch (spannungsreiche) Beziehungen zwischen Schule und Familie aufzeigen – vor allem dann, wenn davon ausgegangen wird, dass sich durch biographische Lernprozesse Selbstbilder, Weltverhältnisse, Orientierungen, Einstellungsund Handlungsmuster sowie Verhaltensweisen und Persönlichkeitseigenschaften formen. Lern- und Bildungsprozesse werden damit ihren normativen Ansprüchen und Zielkategorien entzogen (vgl. Truschkat 2013, S. 58), da hier die individuelle biographische Relevanz, die Sinnhaftigkeit und soziale Einbettung im Vordergrund steht. Zugleich sperrt der Begriff schulisch-institutionelle Zusammenhänge aber nicht aus, weil im biographischen Lernen verschiedene Erfahrungskontexte aufeinander bezogen sind. Auf diese Weise werden die Lernund Bildungsprozesse der Jugendlichen fassbar, ohne sie auf schulisches bzw. ­normativ-funktionalisiertes Lernen zu beschränken. Abschließend ist festzuhalten, dass sich biographische Lernprozesse weder pauschal und als Reinform definieren, noch ohne Weiteres untersuchen lassen. Sie müssen im Kontext der gesamten Biographie bzw. anhand des – durch die biographischen Erfahrungen – Gewordenseins betrachtet werden. Erst die Analyse des biographischen Verlaufs und damit die Ausarbeitung einer – wie Schütze

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es nennt – biographischen Gesamtformung macht diese längerfristigen und dem Subjekt häufig unbewussten, allmählichen Lernprozesse sichtbar. Dann werden eventuelle Verbindungen, Übergänge oder Unterschiede von biographischen Lernprozessen und Bildungsprozessen sowie mögliche Verflechtungen oder Interdependenzen des längerfristigen, biographischen Lernens mit anderen Lernformen – bspw. dem institutionalisierten, dem informellen oder auch dem ­Lernen-Lernen – erkennbar (vgl. Faulstich 2013, S. 163).

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Biographische Bildungsprozesse erforschen, die „eigenen Spielregeln der ‚Objektivität‘“ befragen. Reflexionen anhand des narrativen Interviews mit „Paulina“ Thorsten Fuchs

Zusammenfassung

Ausgehend von der Diagnose eines im Feld der Wissenschaften nicht untypischen Mangels an Bemühungen zur Überwindung etablierter Denkstile wird mit dem Beitrag das Anliegen des eigenen Andersdenkens verfolgt und damit der Versuch unternommen, sich selbst einem transformatorischen Bildungsprozess auszusetzen. Dies geschieht, indem die lebensgeschichtliche Erzählung einer 17-jährigen Gymnasiastin namens „Paulina“ nicht bereits bestehenden Betrachtungen folgend zur Interpretation kommt, sondern ‚gegenwendig‘ zu ehemals als gerechtfertigt erschienenen Überlegungen, wenn darauf die Frage nach Bildungsprozessen appliziert wird. Über die kritische Auseinandersetzung mit der Normativität bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung und eine Problematisierung des Versuchs, biographische Bildungsprozesse als eindeutig ge- bzw. misslungen zu identifizieren, erfolgt in der Relektüre der lebensgeschichtlichen Erzählung nicht nur eine Revision der früheren Interpretation. Es werden zugleich Überlegungen für eine normativitätssensibel prononcierte Biographieforschung entwickelt, mit der über die Dekonstruktion normativer Implikationen die jeweilige Konstruktion der Forschung reflektiert und gegen Totalisierungen des Gedachten gearbeitet wird. T. Fuchs (*)  Universität Koblenz-Landau, Koblenz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Fuchs et al. (Hrsg.), Jugend, Familie und Generationen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24185-8_8

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Schlüsselwörter

Transformatorische Bildungsforschung · Biographieforschung ·  Bildungstheorie · Bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung ·  Revision · Fallanalyse · Normativität · Konstruktion · Dekonstruktion

1 Limitationen des Andersdenkens Manches hält sich länger als man denkt – und das nicht nur in den gesellschaftlichen Feldern, die gemeinhin einigermaßen bekannt dafür sein dürften: In der Politik etwa, wo statt der angekündigten Transformationen vielfach die Hartnäckigkeit von Traditionen deutlich wird (vgl. Bergem 1993). Genauso die Schule, Dauerthema vehementer Institutionenkritik; sie hat sich trotz der zahlreichen Reformen, mit denen sie in den letzten Jahrzehnten umstrukturiert worden ist, weniger als dynamisch-innovative denn als eine der trägsten Einrichtungen überhaupt in der ausdifferenzierten Gesellschaft einen Namen gemacht. Mit Siegfried Bernfelds „Sisyphos“ (1925), Hans-Jochen Gamms „Kritische Schule“ (1970), den von Protagonisten des Collège de France (1987) ausgearbeiteten Empfehlungen „für das Bildungswesen der Zukunft“ bis hin zu populärwissenschaftlichen Einlassungen (z. B. Precht 2013) liegen hierzu Positionen vor, die das immer wieder und aufs Neue deutlich herausstellen. Selbst in der Wissenschaft, wo das Interesse am Erkenntnisfortschritt eigentlich programmatisch verankert ist, sind Beharrungstendenzen nichts Unübliches, wie man an Reaktionen auf Thesen lernen kann, die das Mühen um permanente Weiterentwicklung – etwa im Modus der Kritik – zur Dauerinstallation des Erkenntnissystems in Universitäten, Laboren und sonstigen Orten wissenschaftlicher Wissensproduktion erklären. Falsifizierungen von Theorien, so zeigen diese gegenläufigen Positionen auf, sind doch nicht die normalwissenschaftliche Gangart, die vielfach reklamierten Paradigmenwechsel deutlich seltener als Verteidigungen des Bestehenden, Affirmationen anerkannter Verfahrensweisen wesentlich präsenter als ihre kritischen Infragestellungen. Kurzum: Wissenschaft neigt trotz einer ihr eingeschriebenen Norm, die als „organisierter Skeptizismus“ (Merton 1972, S. 55) bekannt geworden ist, unweigerlich zur ‚Fabrikation‘ von Gewissheiten, durch die verhindert wird, dass man sich jedes Mal seiner Annahmen versichert und sie in ihren Einschränkungen reflektiert, wenn man forscht, misst, analysiert, interpretiert. Die Folge ist, Begriffe und theoretische

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Ansätze unterliegen selbstläufiger Verwendung, methodische Einsätze werden zu instrumentellen Normen (vgl. Fuchs 2013, 2019, insbes. S. 505). Strenge Fokussierungen im theoretischen Blick, der Methodologie und Methode sind damit schnell eingenommen. Und auch die Bemühungen einer Überwindung von Denkstilen der polaren Entgegensetzung scheinen mithin viel weniger verbreitet als man anzunehmen vermag, wenn berücksichtigt wird, dass es in der Wissenschaftsgeschichte nicht gerade wenige sind, die sich eines solchen Ziels angenommen haben oder dies aktuell tun. Von langfristigem Erfolg gekrönt war bisher ganz offensichtlich jedoch keiner der so ausgerichteten ‚Gegenmanöver‘. Weder die von Theodor W. Adorno (1972) bestärkten Überlegungen, sich im Forschungsprozess mittels der Empirie der „eigenen Spielregeln der ‚Objektivität‘“ (ebd., S. 212) bewusst zu werden und diese kritisch zu befragen, noch die in dieser Denktradition stehenden und in den letzten Jahren revitalisierten Ansätze zur Entfaltung „immanenter Kritik“ (Romero 2014) haben breiten Niederschlag gefunden und sich zu allseits praktizierten Routinen entwickelt. Genauso gilt das auch für jene über die ‚Anatomie‘ der Kritischen Theorie hinausgehenden, von poststrukturalistischen und postkolonialen Debatten beeinflussten Bemühungen einer „Reflexiven Wissensproduktion“ (Kühner et al. 2013), die sich u. a. aufmachen, die „impliziten normativen Grundlagen und die konstitutiven Ausschlüsse in der ‚Ordnung des Diskurses‘“ (ebd., S. 8) einer Forschungspraxis, gerade auch der eigenen, zu sondieren. Woran es liegt, dass Revisionen und rigide Selbstkritik in der Wissenschaft nicht die Regel sind, hat Lorraine Daston (2001) in ihrer „Geschichte der Rationalität“ eindrücklich zeigen können. Die von ihr vorgelegte Erklärung ist ebenso einfach wie bestechend: ‚Tatsachen‘, sofern einmal erlangt und als solche in Umlauf gebracht, gelten als nahezu sakrosankt. Ihre Verteidigung schlägt sich in der Zurückweisung widerstreitender Ansätze nieder. M. a. W., die Bereitschaft, das eigene Tun zu relativieren, gar aus der Perspektive des advocatus diaboli zu betrachten, sind eher gering, die „Schwierigkeiten, nicht oppositionell zu denken“ (Balzer 2004), nicht das eine gegen das andere auszuspielen, die eine Theorie, Methode oder wissenschaftliche ‚Denkungsart‘, dagegen entsprechend groß. Das könnte Anlass zur Annahme geben, dass folglich überhaupt nicht zu vermeiden ist, mit ‚Denkschubladen‘ zu verfahren und – wie es mithin sogar für alle „epistemischen Kulturen“ ­(Knorr-Cetina 1999) gilt – kaum realisiert werden kann, „das Gegenteil des bisher Gedachten zu denken“ (Koller 2010, S. 192). Besser gar nicht erst aus einem solchen Anliegen des Andersdenkens heraus tätig zu werden, wäre dann die naheliegende Konsequenz, die man ziehen müsste.

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2 Aussichten transformatorischer Bildungsforschung Trotz dieser Ausgangslage, die in Anbetracht ihrer Konstellationen für das Vorhaben eigener Infragestellungen alles andere als euphorisch stimmt, sich wissenschaftsgeschichtlich sogar noch deutlich umfassender darstellen lassen würde (vgl. etwa Nieke 1972; Arnswald und Schütt 2011), wird im Vorliegenden von mir der Versuch unternommen, die lebensgeschichtliche Erzählung einer 17-jährigen Gymnasiastin namens „Paulina“ nicht bereits bestehenden Betrachtungen folgend zu interpretieren. Die Analyse positioniert sich vielmehr ‚gegenwendig‘ und ‚selbstkritisch‘ zu früheren Überlegungen, wenn nach biographischen Bildungsprozessen Ausschau gehalten wird. Das ganze Vorhaben hat dabei einen Hintergrund, den es zunächst – bevor also das Interview zum Gegenstand einer revidierten Reflexion gemacht wird – etwas ausführlicher zu skizzieren gilt. Im Zuge einer Ausweitung und Konsolidierung der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung, der dann von den 1990er Jahren an bis in die Gegenwart hinein auch durch Jutta Ecarius besondere Aufmerksamkeit zuteilwurde (vgl. Ecarius 1998, 2006, 2018; Ecarius und Fuchs 2012), hat sich an der Schnittstelle von Bildung und Biographie eine eigenständige Variante im Diskurs etabliert. Mit ihr wird sich zur Aufgabe gemacht, das Konstrukt „Biographie“ nicht nur in bildungstheoretischer Perspektive zu konzipieren, was etwa schon das ureigene Anliegen von Jürgen Henningsen und seinen in den 1980er Jahren revitalisierten Betrachtungen zum Verhältnis von „Autobiographie und Erziehungswissenschaft“ (1981) gewesen ist. Es geht zugleich bzw. darüber hinaus auch darum, konkrete Biographien unter Zuhilfenahme bildungstheoretischer Konzepte empirisch zu untersuchen und dabei den methodologischen Standards qualitativer Bildungsforschung Rechnung zu tragen. „Die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung“ (Koller 2016a, S. 173), so die schon seit den frühen 1990er Jahren bestehende Bezeichnung für diese Variante, „stellt den Versuch dar, zwei erziehungswissenschaftliche Forschungsrichtungen aufeinander zu beziehen, die traditionell strikt voneinander getrennt waren, nämlich die philosophisch orientierte Bildungstheorie, die sich innerhalb der Erziehungswissenschaft als Ort der Reflexion über Ziele, Begründungen und Kritik pädagogischen Handelns verstehen lässt, und die empirische Bildungsforschung, genauer: die qualitative bzw. rekonstruktive Erforschung der Verlaufsformen und Bedingungen tatsächlicher Bildungsprozesse“ (ebd.; Herv. i. O.).

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Gegenstand der Betrachtung sind dabei Stegreiferzählungen, das Instrument ihrer Erhebung narrative Interviews. Zur Auswertung kommen sie so, dass dadurch die Rekonstruktion von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen als Ausdrucksgestalt von Bildung möglich wird und sich Anlässe, Strukturen sowie Prozesse ihrer Veränderung ermitteln lassen. Mit diesem Aufgebot ist die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung sehr vielfältig rezipiert worden. Zu ihr liegt eine elaborierte Theoriediskussion sowie intensive Forschungspraxis vor. Gab es anfangs die wenigen, noch im tentativen Duktus gehaltenen Vorarbeiten von Rainer Kokemohr (1985, 1989), auf die sich bezogen wurde, wenn man mit diesem Ansatz gearbeitet hat, so ist das Spektrum inzwischen ungleich größer geworden. Längst ist es auch nicht mehr nur die ‚Tetralogie‘ der Arbeiten von Winfried Marotzki (1990), ­Hans-Christoph Koller (1999) sowie Heide von Felden (2003) und Arnd-Michael Nohl (2006), die als einschlägig ‚herzuzählen‘ ist. Über sie hinaus sind in der letzten Zeit etliche weitere entstanden, mit denen die Potenziale biographietheoretischer Herangehensweisen zur Untersuchung von Bildungsprozessen deutlich werden – so unterschiedlich die theoretischen Zugänge und so different die dabei verwendeten ‚semantischen Apparate‘ letztlich sein mögen (vgl. z. B. von Rosenberg 2011; Wulftange 2015; Thomsen 2019). Auch meine eigene, unter der Betreuung von Jutta Ecarius entstandene Arbeit hat sich der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung angenommen und aus Anlass diverser Anfragen, die v. a. im Horizont bildungsphilosophisch veranlasster Reflexion standen, einen Beitrag zur theoretischen und methodischen Reformulierung zu leisten versucht (vgl. Fuchs 2011a).1 So konsequent die Debatten seitdem zwar weitergeführt wurden, um das Profil dieses Ansatzes zu schärfen, und so sehr die biographischen Rekonstruktionen unter Zugrundelegung bildungstheoretischer Deutungen auch intensiviert wurden – unübersehbar ist, dass in den diversen Arbeiten, die mit jenem Zugriff der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung verfahrend vorliegen, alte wie neue, mindestens implizit eine normative Grundierung figuriert, die dann

1Der

genaue Begründungszusammenhang und die generierten Einsichten brauchen an dieser Stelle nicht umfassend wiederholt zu werden, denn das ist in der Folge einige Male bereits geschehen und – wenngleich hinsichtlich der erläuterten Problembefunde und in den Bilanzierungen nicht ad acta zu legen (vgl. dazu Fuchs 2020) – inzwischen insofern als einigermaßen gesättigt zu bezeichnen, als die vorgetragenen Argumente zusammen mit einigen weiteren für das Sondieren von Potenzialen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung Berücksichtigung fanden (vgl. z. B. Koller und Wulftange 2014; Koller 2016b; von Felden 2016; Klika 2016; Lipkina 2016; Kreitz 2019; Beier 2020).

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gerade in den Interpretationen der erzählten Biographien ungetrübt zum Vorschein kommt. Stets werden die biographischen Verläufe der befragten Personen im Horizont der Polarität von erfolgreichen und gescheiterten Bildungsprozessen gedeutet, was sich anhand von einigen exemplarisch gewählten Analysen deutlich machen lässt. Im Fall „Felix“, gleich mehrfach biographieanalytisch untersucht (vgl. dazu Koller 1994, 1999, insbes. S. 186 ff.; Schütze 1994 sowie Kochinka 2003), wird z. B. wenig Grund für das Urteil gesehen, den biographischen Werdegang und das Sprechen darüber als einen gelungenen Bildungsprozess zu qualifizieren. Zu eindeutig festgelegt seien die Eigendeutungen von Felix, zu wenig präsent die Möglichkeiten, die Lebenskonstruktion auf andere als bereits vertraute Interpretationsschemata hin auszurichten und somit den rhetorischen Modus der Präsentation einer veränderten Darstellung zuzuführen (vgl. Koller 1994). Ähnlich wird auch der Fall „Jannika“ bilanziert, der in unterschiedlichen Interpretationen vorliegt, eine davon dezidiert bildungstheoretisch ausgerichtet (vgl. Müller 2010). Darin wird festgehalten, dass Jannikas Bildungspotenzial durch ihre ‚fragmentierte Artikulationspraxis‘ begrenzt sei: sogar extrem.2 Die Fälle „Cordula“ (Marotzki 1990, S. 252 ff.) und „Hakan Salman“ (Koller und Wulftange 2014) wiederum werden ambivalent betrachtet: durchaus auf die Rekonstruktion der hervortretenden ‚Bildungsanstrengungen‘ ausgerichtet, wird jedoch in mehreren Interpretationen insgesamt eher deren Charakter als Lernprozess betont (vgl. z. B. von Rosenberg 2014). „Hubert Schlosser“ und „Beate Brandt“, biographische Fälle, die ebenfalls wiederkehrend einer Interpretation zugeführt worden sind (vgl. Nohl 2006, 2011, S. 102 ff.; Nohl et al. 2015, S. 56 ff.), stehen demgegenüber für Bildungsprozesse, die als gelungen betrachtet werden. Über spontane Handlungen sei es bei ihnen zu einer Transformation von Lebensorientierungen mit einem „neuen Selbst“ (Nohl 2006, S. 259) und einem „neuen Stellenwert“ (ebd., S. 281) der eigenen Lebensgeschichte gekommen. Auch der für meine Arbeit berücksichtigte Fall „Natalie“ (dazu Fuchs 2011a, S. 312 ff. und Fuchs 2011b; kritisch: Kreitz 2019, S. 380 f.) wird von mir positiv in seinem Bildungsverlauf rekonstruiert. Relevant dafür ist, dass sich in Natalies Erzählungen eine beachtenswerte „reflektiert-problematisierende Haltung“ (Fuchs 2011a, S. 338) gegenüber sich selbst, anderen und der Welt dokumentiert. 2Wobei Müller (2010) auch selbstkritisch die Frage aufwirft, mit welchem Recht derart „normative Vorstellungen von gelingenden Bildungsprozessen an einen Menschen“ – gemeint ist Jannika – herangetragen werden, „dem aufgrund seiner vertrauten Lebensbezüge ein solcher ‚Bildungs-Habitus‘ wenn nicht fremd, so doch äußerlich ist“ (ebd., S. 34).

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Mit solchen Unterscheidungen von positiven und negativen Bildungsprozessen kann derlei Biographieanalysen jedoch eine gewisse Nähe zu jener von Niklas Luhmann (1986) seinerzeit ironisch in die Diskussion um den spezifisch pädagogischen Selektionscode eingebrachten Differenz von „gebildet/ ungebildet“ (ebd., S. 158) nicht abgesprochen werden. Und wenngleich vermutlich nicht intendiert, so ist es doch äußerst folgenreich, wenn die Interpretationen weithin vereindeutigend einen Bildungsprozess zuerkennen bzw. absprechen.3 Denn an der Speerspitze grundsätzlicher Infragestellung führt das sogar zur radikalen Kritik am epistemologischen Status der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung und ihrer Qualifizierung als einen in sich nicht kohärenten Ansatz. So rigoros dieses Urteil ist, es gründet sich gerade nicht auf einer Unzulänglichkeit der generierten Theoriebausteine, die etwa nur rudimentär für die empirische Analyse aufbereitet worden seien. Es sind dagegen Probleme der Passung von bildungstheoretischem Räsonnement und empirischer Analyse, die ins Feld geführt werden und die die Einwände antreiben. Wesentlich motiviert ist die Kritik dabei zum einen durch die Unterminierung von Bildung als „Möglichkeitsdenken“ (Schäfer 2009, S. 187), wenn sie so ‚kleingearbeitet‘ bzw. ‚operationalisiert‘ wird, dass sie sich für empirische Forschungen anwenden lässt, d. h. wenn sie als Kategorie ‚identifizierenden Denkens‘ gebraucht wird. Zum anderen steht auch der Umgang mit den „normativen Entscheidungen aus

3Selbst

dort, wo erziehungswissenschaftliche Biographieforschung „narratologisch“ (Kokemohr 2018, S. 80) verfährt und sich „[j]enseits bloßer Subsumtion“ (ebd.) verstehen will, weil sie biographische Entwicklung schlicht „als lesbare Kontinuierung oder Veränderung textueller Kohärenz“ (ebd., S. 81) auffasst, damit also alles andere als ‚psychologisierend‘ argumentiert, sind Semantiken gebräuchlich, mit denen Bildungsprozesse in Abrede gestellt werden, wie etwa gerade der Ausdruck „Bildungsvorhalt“ (Kokemohr 2007, S. 20) signalisiert. Auch ganze, im Gestus narratologisch ausgerichtete Interpretationen von biographischen Erzählungen stehen im Zeichen der Differenz von positiven und negativen Beurteilungen. Siehe dazu Kokemohr (2014), der das narrative Interview mit dem 22-jährigen „Hakan Salman“ folgendermaßen bilanziert: „Hakans Erzählung führt, wenn auch sehr nah, nur an die Schwelle eines so verstandenen Bildungsprozesses. Einen Sprung über die Schwelle vollzieht sie, so weit ich sehe, noch nicht.“ (Ebd., S. 39) Vor diesem Hintergrund überzeugen m. E. dann die kritischen Hinweise von Bettina Dausien (2016) auf die offensichtlichen „normativen Verstrickungen“ (ebd., S. 30) der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung. Problematisch ist indes, dass sie diese jenseits der Debatten entwickelt, wie sie innerhalb der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung geführt werden, sich nur am Band von Koller und Wulftange (2014) abarbeitet und die dort versammelten Texte im Spiegel einer von ihr als Gegengebilde entworfenen, sozialwissenschaftlichen Biographieforschung positionell kritisiert, um sodann auf unterschiedlichen Ebenen eine „halbierte Rezeption“ (Dausien 2016, S. 34) auszumachen.

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dem Bereich der praktischen Bildungstheorie“ (Vogel 2019, S. 324) bei gleichzeitigem Anspruch, qualitativ-empirisch hergeleitete Interpretationen vorzulegen, in der Kritik. Da mit Bildungstheorien urteilende Stellungnahmen über Bildungsprozesse abgegeben werden, die ‚vor aller Erfahrung‘ normativ festgelegt seien, qualitativ-empirisch hergeleitete Interpretationen dagegen in Auseinandersetzung mit dem empirischen Material und auf der Basis theoretischer Erwägungen ungleich unprätentiösere „Validitätsdiskussionen“ (ebd., S.  325) verlangten, komme es ‚theorietechnisch‘ zu eklatanten Widersprüchen, die nur dadurch aufzulösen seien, indem eines von beiden fallen gelassen werde: Entweder bildungstheoretische Urteile dahingehend fällen, ob etwas, z. B. ein Lebensverlauf, den entwickelten Kriterien für ‚Bildung‘ entspricht bzw. ihnen zuwiderläuft, was zum Bestand der allgemeinpädagogischen Wissensform gehört, oder empirisch zu ermitteln, was in einer Biographie der Fall ist, bekanntermaßen eine Domäne empirisch-erziehungswissenschaftlicher Forschung. Das eine tun, ohne das andere zu lassen, verkompliziere Vogel (2019) zufolge nicht nur die „Diskussion um die angemessene Methodologie“ (ebd., S. 324 f.) der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung. Sie könne auch nur in einer ‚heillosen‘ Überforderung enden (ähnlich Vogel 2016). Was in einem solchen Horizont ‚exzentrischer Positionalität‘, hier freilich nicht anthropologisch verstanden, sondern dem Selbstverständnis der Wissenschaftsforschung entsprechend, konturiert wird, ist innerhalb von Diskussionszusammenhängen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung in den letzten Jahren mithin ebenfalls thematisch geworden. Wenngleich nicht mit jener Schlussfolgerung der Überforderung versehen und schon gar nicht mit dem Verzicht auf eines der beiden Anliegen, so werden in den Problemexpositionen doch ebenfalls gewisse Schwierigkeiten der Vermittlung von bildungstheoretischen Reflexionen und empirischen Rekonstruktionen entwickelt, sogar auch Einschränkungen im Aussagegehalt der vorgelegten Biographieanalysen betont, wenn diese nicht mehr leisten als die an sie herangetragenen Theoriekonzepte zu bestätigen (vgl. dazu von Felden 2003, S. 73). Die bislang gewonnenen Einsichten, die ein Verstehen der Anlässe, Verlaufsformen und Bedingungen von biographischen Bildungsprozessen ermöglicht haben, etwa dahingehend, dass „als Herausforderungen für Bildungsprozesse […] insbesondere Fremdheits- und Differenzerfahrungen gehören“ (Koller 2016a, S. 174) oder „dass Bildungsprozesse sich auch spontan, ohne besonderen krisenhaften Anlass vollziehen können“ (ebd.), werden insofern als noch nicht ausreichende Erkenntnisbemühungen betrachtet. Es sei weiterhin über Probleme und Perspektiven der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung

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nachzudenken, deren Weiterentwicklung noch nicht zum Ende gekommen, die Auseinandersetzung mit kritischen Stimmen fortzuführen – und das keineswegs weniger intensiv als bislang geschehen. Dem entsprechend wird die Frage danach, wie dem umfassend nachzukommen ist, nicht zuletzt mit Rekurs auf einen Modus wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion sondiert, der dem Stillstand des Denkens entschieden entgegentritt und sich in jene Spielarten einfügt, die im Anschluss an Adorno als ein „Gegen sich selbst denken“ ­(Müller-Doohm 2003, S. 730) zum Credo des szientifischen Selbstverständnisses erklärt wurden und insofern kontrafaktisch zu den vielfach auszumachenden Usancen der Festigung einmal erlangter Erkenntnis verfahren. Wie es gerade von Hans-Christoph Koller selbst wiederholt betont worden ist, heißt dies, dass Erkenntnisproduktion mit den Mitteln der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung nicht weniger bedeuten kann, als einem solchen selbstkritischen Programm zu folgen. Gerade die kursierenden Vorbehalte gegenüber der Einebnung von ‚inkommensurablen‘ Differenzen „zwischen der philosophischen Thematisierung von Bildung als Möglichkeit und dem Versuch einer empirischen Identifizierung von Bildungsprozessen“ (Koller 2016a, S. 180), seien sie wie etwa bei Schäfer eher bildungsphilosophisch-rationalitätskritisch entwickelt, oder wie bei Vogel auf wissenschaftstheoretischer Grundlage ausbuchstabiert, könnten sich folgendermaßen beseitigen lassen: „[I]ndem der Anspruch ernst genommen wird, die empirische Erforschung von Bildung […] selbst als einen transformatorischen Bildungsprozess der Forscherinnen und Forscher zu gestalten“ (ebd.), als einen Prozess also, in dem die eigenen Welt- und Selbstreferenzen transformiert und neu aufgeordnet werden. Es sind dabei die erzählten Lebensgeschichten, denen ein besonderes katalysatorisches Potenzial für die Initiierung transformatorischer Bildungsprozesse in der Forschung attestiert wird. Mit der Bereitschaft, sich als Forschende(r) von anderen Biographien in seinen eigenen Beschreibungen und Deutungsmustern „irritieren zu lassen“ (ebd.; Herv. i. O.) und in der konkreten Analyse gegen subsumtionslogische Vorgehensweisen zu arbeiten, könne es möglich werden, neue Begriffe, Konzepte und Methodiken zu entwickeln, die das Alte überwinden oder in veränderter Form weiterdenken lassen. Kurz gesprochen: Es geht mit einem solchen Zuschnitt biographischer Forschung darum, dass zugelassen wird, einen bereits gefestigten Standpunkt zu verflüssigen, ihn der Revision auszusetzen, Neuentdeckungen zu wagen und Tilgungen eines zuvor ‚Fürwahrgehaltenen‘ zu riskieren (vgl. Fuchs 2013, S. 520 f.). Und auf einen solchen Versuch soll es im Weiteren ankommen, wenn das Transkript der lebensgeschichtlichen Erzählung von „Paulina“ anders als zuvor gelesen und die frühere Interpretation revidiert wird, um die Art und Weise des eigenen wissenschaftlichen Tuns in die Grenzen der Fraglichkeit zu ziehen.

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3 Anstoß der Kritik Bevor man sich dem Früheren kritisch zuwendet und Neues zur Sprache gebracht werden kann, tut man in aller Regel gut daran, dieses Alte, von dem man sich abwendet, zunächst einmal grob zu konturieren, um so die Motive der Revision zu erläutern und das ‚Abweichende‘ zur Geltung bringen zu können. Der Fall „Paulina“ kommt in meiner Dissertation nicht sehr ausführlich zur Sprache, anders als der 18-jährige „Marc“, die 19-jährige „Sonja“ und die bereits erwähnte 17-jährige „Natalie“, deren lebensgeschichtliche Erzählungen jeweils umfassend in ihrer ‚Bildungsgestalt‘ und im Hinblick auf die Bildungsbedeutsamkeit von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen rekonstruiert werden. „Marc“ steht dabei für einen Fall, mit dem die Bildungsbedeutsamkeit der Selbstverhältnisse begründet wird, während es bei „Natalie“ die Bildungsbedeutsamkeit der Fremdverhältnisse ist. Der dritte intensiv betrachtete Fall „Sonja“ demonstriert schließlich die im Zusammenhang mit Bildungsprozessen stehende Relevanz von Weltverhältnissen (vgl. Fuchs 2011a, S. 380). Diese Unterscheidung von ‚Bildungsbedeutsamkeiten‘ und die Bestimmung der einzelnen Momente, in der Arbeit als „bildungstheoretische Topoi“ (ebd., S. 384) bezeichnet, geschieht im Wesentlichen in Aufnahme von Theoriereferenzen der ­transzendentalkritisch-skeptischen Pädagogik, insbesondere der von ihren Vertretern Wolfgang Fischer und Jörg Ruhloff entwickelten Bildungs- bzw. Jugendbildungskonzepte (dazu Fischer 1982 und Ruhloff 1996). Auf das Interview mit der 17-jährigen „Paulina“ wird nur ein einziges Mal und das auch nur sehr kurz eingegangen, um die Auswahl der drei berücksichtigen Fälle zu plausibilisieren und von 21 weiteren, aber nicht für detaillierte Biographieanalysen berücksichtigten lebensgeschichtlichen Erzählungen abzuheben. Die besagte Textstelle, in der ich den Fall „Paulina“, die in einer tabellarischen Übersicht der gesamten vorliegenden Interviews unter der Ziffer 4 (dazu Fuchs 2011a, S. 439) eingetragen ist, erwähne, liest sich folgendermaßen: „Einige Erzählungen illustrieren […] geradezu die Macht der dogmatischen ‚Denkungsart‘ und offenbaren somit Bildungshemmnisse; z. B. die lebensgeschichtliche Erzählung von Paulina (Nr. 4). Zwar kommen Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse auch darin zum Ausdruck. Diese werden aber nicht wie bei Marc, Natalie und Sonja auf Gründe und Bedingungen hin befragt. Hier herrscht vielmehr eine Lebensorientierung, die sich sehr an den Wünschen und Vorstellungen anderer ausrichtet. Die primäre Ausrichtung und Gestaltung erfolgt an den gleichaltrigen Freunden und treibt Paulina zu umfangreichen Peergroup-Aktivitäten, da sie immerzu fürchtet, etwas verpassen zu können. Ihre Gedanken und Handlungen münden deshalb auch nicht in den Entwurf einer klaren und eigenständig

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begründeten ‚Lebensstrategie‘. Die Konfrontation mit Sachverhalten, die intensiv durchdacht und in Frage gestellt werden wollen, vermeidet sie nahezu konsequent – sowohl in Bezug auf sich selbst als auch auf andere und Dinge und Themen der Welt, sodass von dem Versuch, eine Lebensführung aus rückhaltloser Gedanklichkeit zu betreiben, nicht gesprochen werden kann. In Anbetracht des leitenden theoretischen Entwurfs ist es deshalb auch nicht gerechtfertigt, hier eine ‚Bildungsgestalt‘ auszumachen“ (ebd., S. 383).

Obwohl ich zu „Paulina“ nicht mehr als dies geschrieben habe, ist dieser Fall in der Rezeption bisweilen stärker berücksichtigt worden als die drei ausführlich rekonstruieren Biographieanalysen. In einer von Manuel Peters (2013) vorgelegten Besprechung meiner Dissertation wird etwa angefragt, „was hier mögliche Faktoren der nicht auffindbaren Bildungsgestalt in ihrer spezifischen Artikulation von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen waren“ (ebd., Abs. 14), und zugleich kritisiert, dass es versäumt worden ist, eine solche Frage nach den Bedingungen der „Nichtauffindbarkeit von Bildungsgestalten“ (ebd.) an diesen Fall heranzutragen bzw. durch komparative Vergleiche zu klären. Auch Lothar Wigger (2016, 2019) nimmt Bezug auf den Fall „Paulina“, wenn er die Normativität des Bildungsbegriffs zum Thema macht und in seinen Beiträgen einen Teil des oben zitierten Wortlauts aus meiner Dissertation wiedergibt. In der Aufzählung mehrerer Rück- und Anfragen wird von ihm dabei in Zweifel gezogen, dass sich in Paulinas lebensgeschichtlicher Erzählung keine ‚Bildungsgestalt‘ dokumentiere, nur weil problematisierende Überlegungen nicht ebenso deutlich werden, wie in anderen untersuchten Biographien. Gäbe es nicht „Abstufungen, unterschiedliche Reichweiten oder different thematisierte Sphären des Wissens oder Wertens, die problematisiert werden“? (Wigger 2016, S. 123) Für Wigger ist die „theoretische Folie“ (ebd.), die in der Dissertation als Fundament dient, daher „zu eng“ (ebd.) gefasst, die Lebensführung aus rückhaltloser Gedanklichkeit als Bildungskonzept zu exklusiv konzipiert. Produktiver erscheint es ihm, Paulinas Lebensgeschichte dagegen als eine ambivalente Bildungsgestalt zu rekonstruieren – in ihrer Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit, in ihren Spannungsverhältnissen und Widersprüchlichkeiten. So ausgestaltet könnte dann auch aussichtsreich werden, was Robert Kreitz (2019) jüngst in die Diskussion um die Normativität biographischer Analysen, insbesondere solcher mit bildungstheoretischem Fundament eingebracht hat: Sie gerade nicht regelmäßig in eine „Defizitdiagnose“ (ebd., S. 382) einmünden zu lassen, weil die untersuchten Lebensgeschichten den Kriterien für gelungene Bildungsprozesse nicht gerecht werden, sondern alternativen Deutungen zuzuführen, in ihren Umständen zu rekonstruieren und Normativität reflexiv zu bearbeiten, statt sie bloß ‚weiterzureichen‘ (vgl. ebd., S. 380).

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4 Revision einer Fallanalyse Paulina4 ist zum Interviewzeitpunkt 17 Jahre alt und besucht die 12. Klasse eines Gymnasiums. Sie wird 1989 in Mittelhessen geboren, drei Jahre nach der Migration ihrer Eltern von Polen nach Deutschland. Sie hat eine ältere Schwester, die zwei Jahre vor ihr zur Welt kam. Die Großeltern leben noch in Polen. Man fährt ungefähr alle vier bis acht Wochen zu ihnen nach Westpommern, jedoch sind Paulina und ihre Schwester nicht immer mit dabei, wenn die Besuche anstehen. Ohne großen materiellen Wohlstand zu erlangen, hat sich die Familie von Paulina nach der Auswanderung eine Existenz in Deutschland aufbauen können. Der Vater besitzt in der Kleinstadt, in der die Familie eine bescheidene Hochhauswohnung5 bezogen hat, einen baugewerblichen Betrieb, die Mutter ist als Hausfrau tätig und hat, wie es scheint, in der Vergangenheit keinen konstanten Zugang ins Beschäftigungssystem gefunden. Paulinas Schwester, mit der nach wie vor auf beengtem Wohnraum ein Zimmer zu teilen ist, hat bereits das Abitur erlangt, genauso wie die Eltern, die seinerzeit in Polen den höchsten Bildungsabschluss erworben haben, wie im Datenbogen zum Interview notiert wurde. Für Paulina ergibt sich damit, ungefähr eineinhalb Jahre vor dem Abitur stehend, eine soziale Konstellation, in der es um die Aufrechterhaltung eines familialen Bildungsauftrags geht: Dementsprechend präsent ist die Schule im Interview. Sie wird schon zu Beginn thematisch, als Institution mit Leistungsanspruch wie auch als Ort, an dem über die Peers zuweilen ein negativer Einfluss auf die Bildungsbiographie ausgeübt wird (vgl. hierzu bspw. systematisch bearbeitet von Krüger und Deppe 2010), sodass Schulorientierung und Peerorientierung als widerstreitende Kräfte in Paulinas Biographie hervortreten. Der Anfang von Paulinas lebensgeschichtlicher Erzählung besteht aus einzelnen Momentaufnahmen, expositional beschreibenden Darstellungen und knappen evaluativen Einlassungen; allesamt keineswegs untypische Bestandteile von Anfangserzählungen über das eigene Leben (vgl. Schütze 1984, S. 84). Eine große biographische Linie wird hingegen nicht von der Ratifizierung des

4Pseudonymisiert

– wie selbstredend auch alle anderen personenbezogenen Angaben, die Rückschlüsse auf die Identität der Informantin ermöglichen würden. 5Das Interview fand im Esszimmer dieser Wohnung statt, wurde jedoch nicht von mir selbst geführt, sondern entstand im Rahmen eines an der Justus-Liebig-Universität Gießen angebotenen Lehrforschungsprojektes mit Studierenden des BA-Studiengangs „Außerschulische Bildung“; auch das ein Grund, warum dieses Interview seinerzeit nicht für eine ausführliche Analyse in der Dissertation Berücksichtigung fand, denn es wurden darin nur solche verwendet, bei denen ich selbst als Interviewer beteiligt gewesen bin.

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Stimulus („okay“, 66) aus entfaltet, ebenso wenig wie es zur Einführung einer Präambel kommt, mit der die lebensgeschichtliche Erzählung überschrieben ist. Im anfänglichen Erinnerungsstrom des autobiographischen Stegreifzerzählens orientiert sich Paulina vielmehr an ihrem Gang durch Institutionen der Erziehung und Bildung: Sie erzählt zunächst, auf den Migrationsstatus ihrer Eltern Bezug nehmend, wie sie sich im Kindergarten die deutsche Sprache weitgehend „selbst beigebracht“ (11) habe, dass sie seit der Grundschule einen großen Freundeskreis den ihren nennen könne, dann auf eine Schule gekommen sei, die man als „ein bisschen asozial“ (25), „ein bisschen seltsam“ (26) beschreiben müsse und aktuell mit der Herausforderung konfrontiert werde, „sehr viel lernen“ (32) zu müssen, um die Oberstufe mit dem Erwerb des Abiturs abzuschließen. Denn seit einem Schulwechsel nach der Sekundarstufe I von der ‚asozialen‘ Albert-SchweizerSchule auf das Sophie-Scholl-Gymnasium seien ihre Noten kontinuierlich schlechter geworden. Konkrete Lebenspläne hat sie – womöglich gerade wegen des ungewissen weiteren Verlaufs – noch nicht entworfen; zumindest spricht sie nicht darüber. Sofern ihre Noten das letztlich zulassen, erwägt Paulina es, ein Studium der Ernährungswissenschaften zu ergreifen. Auch einen Bachelor in Biologie zu machen, könnte sie sich auf der Basis ihrer schulisch erworbenen Erfahrungen mit dem Fach, das sie neben Kunst als einen Leistungskurs belegt, vorstellen. Derart gerafft wird dabei von ihr zunächst die Zeit bis zur achten Klasse erzählt. Es sind somit lediglich die vergangenen vier bis fünf Jahre, die Paulina im weiteren Verlauf der Stegreiferzählung ausführlicher zur Rekapitulation bringt und zu denen sie Sachverhaltsdarstellungen darüber hervorbringt, „was so zwischendurch noch passiert ist“ (39). Auch hier spiegelt sich das Episodische ihrer Erzählung wider. Immer wieder hält sie kurz inne, sucht nach Stationen, die sie zum Besten geben kann und die darüber informieren, was sie erlebt hat (z. B. „mhm … was hab ich denn noch so erlebt“, 167–168, ähnlich 54–55, 146 u. ö.). Zeitliche Kontinuität scheint dabei ohne Relevanz zu sein. Sie springt innerhalb der Jahre hin und her, ergänzt hier, präzisiert dort. Es macht den Anschein, als ob für sie nur das Herausgehobene, Außeralltägliche zum Gegenstand des legitim Erzählbaren geeignet erscheint und sie sich auf Basis dieser Voraussetzung der Präsentation ihrer biographischen Erfahrungs- und Ereigniskette annimmt. Bedeutsam sind für sie der Chronologie der Narration folgend zunächst ihre zahlreichen sportlichen Freizeitaktivitäten. Dazu gehören diverse Tanzdisziplinen,

6Diese

und die folgenden Zahlen nach Zitaten verweisen auf die Zeilennummern im Transkript des narrativen Interviews mit Paulina.

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insbesondere aber Handball, eine Sportart, der Paulina der Erzählung nach bereits in Kindheitstagen sowie erneut seit Beginn der Oberstufe in einem der örtlichen Vereine nachgeht. Seit der Wiederaufnahme rekrutiere sich hierüber auch ihr Freundeskreis der „Handballer“ (367), den sie im Interview als dem dörflichen Milieu fest zugehörig beschreibt; zuweilen seien sie zwar „seltsam“ (373), „nicht so ganz schlau“ (397–398), gerade im Vergleich zu den „Schulleuten“ (369) des Sophie-Scholl-Gymnasiums, mit denen sie viel mehr auf einer Wellenlinie liege. Allerdings könne sie mit den „Handballern“ unkompliziert vor Ort die Freizeit gestalten. Über ihre ausgeübten Sportarten kommt Paulina demnach in Kontakt zu weiteren Gleichaltrigen und findet leistungsbezogene Anerkennung durch andere sowie Ablenkung vom schulischen Alltag. Deutlich wird insofern: Paulinas Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zur Welt wird keineswegs nur über die Orientierung am höchsten Bildungsabschluss gestaltet. Eine reine Ausrichtung auf Transition herrscht bei ihr nicht vor. Es lässt sich sogar sagen, dass Paulina über den Sport und den Freundeskreis der „Handballer“ zeitweise eine Distanzierung vom familial vermittelten und in der Schule allzeit präsenten Bildungsauftrag lebt, ohne sich gänzlich von diesem zu lösen. Als die „Repräsentanz eines Anspruchs“ (Ziehe 1999, S. 626) wird die Schule nicht kritisiert oder gar radikal zurückgewiesen. Im zeitweisen Entzug von ihr wird dennoch implizit eine Infragestellung der Allgegenwärtigkeit schulischer Leistungserfüllung zum Ausdruck gebracht. Es ist somit der Sport, der Paulina Erfahrungsräume jenseits des Schulischen ermöglicht. Entsprechend strikt wird von ihr diese Welt auch von der schulischen geschieden. Überlappungen zwischen den „Handballern“ und den „Schulleuten“ bestehen gerade nicht. Schule und Sport kommen im Interview als weitgehend distinkte Lebensbereiche daher, in kultureller Hinsicht ebenso wie in sozialer. Anders als in der Schule, erzählt Paulina, habe sie beim Sport immer wieder große Erfolge verbuchen können. Bereits in den ersten Minuten des etwas mehr als einstündigen Interviews erwähnt sie, dass sie z. B. „immer ganz stolz“ (46) darauf gewesen sei, den „Goldstarkurs“ (45) absolviert und damit attestiert bekommen zu haben, eine sehr gute Standard-Tänzerin zu sein. Vorerst an den Nagel gehängt habe sie das Tanzen kürzlich nur deshalb, weil ihr langjähriger Tanzpartner plötzlich aufhörte und kein adäquater Ersatz zur Verfügung stand. Damit figuriert der Sport u. a. als Kompensation von schulischen Enttäuschungen, die für Paulina seit dem Schulwechsel präsent sind: „dort… ja… fing es dann an dass es mit den Noten ein bisschen runterging es wurde immer schwerer vom Stoff her“ (29– 31). Gleichwohl scheinen die sportlichen Aktivitäten, die zum Großteil mit den außerschulischen übereinstimmen, dem Leistungsabfall („die Noten wurden dabei immer schlechter“, 32–33) in der Oberstufe auch Vorschub geleistet zu haben.

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Denn Paulinas typische Woche ist stark durch die Koordination der diversen Termine geprägt – teilweise so sehr, dass dadurch das Erfordernis, eine Taktung zur Erfüllung des schulischen Pensums zu finden, konterkariert wird. Das ist ihr als Problem und Anlass gegenwärtiger Veränderungsabsichten bewusst: „es ist jetzt auch schon so ich mach mir jetzt hab auch schon überlegt ob ich irgendwas mal lassen sollte aber … mhm (lachend) ich wüsst jetzt nicht was“ (621– 623). Weitreichende Aktivitäten mit Gleichaltrigen sowie ein Bedürfnis, immerzu dabei zu sein, nichts zu verpassen und später bloß erzählt zu bekommen, wie aufregend das Erlebte gewesen ist, tun das Übrige bzw. sind die Folge ihres Spagats zwischen Schul- und Peerorientierung. Sie müssen damit jedoch gerade nicht – wie es in meiner früheren Deutung ihrer Biograhie der Fall gewesen ist – sogleich negativ als ‚Bildungsproblem‘ ausgelegt werden, weil sie keiner Problematisierung zugeführt oder zum Anlass kritischer Selbstbetrachtungen genommen werden. Vielmehr dokumentiert sich im Versuch, beide Lebensbereiche auszutarieren, jene ambivalente Struktur, die Paulinas ‚Bildungsgestalt‘ im Grundlegenden ausmacht. Die sportlichen Aktivitäten erfüllen für Paulina aber noch einen anderen Zweck – jenseits von Peer-Kontakten und sozialer Anerkennung außerhalb schulischer Bewertungslogiken: Sie erblickt darin zugleich Möglichkeiten, ihr Ideal der körperlichen Attraktivität zu erlangen, d. h. schlank zu sein, was sie im weiteren Verlauf der Stegreiferzählung bereits anspricht, im Nachfrageteil des Interviews dann umso deutlicher betont (vgl. 259–288 und 795–802). Der Grund, warum sie regelmäßig so viel Sport trieb, sei darin zu sehen, dass sie „früher immer abnehmen wollte“ (797), wie sie sagt. In Phasen, in denen die sportlichen Aktivitäten nicht den für sie gewünschten Effekt erbrachten und zu keiner weiteren Gewichtsabnahme führten, habe sie dann zu anderen Mitteln gegriffen, deren Nähe zu einem essgestörten Verhalten, das sich als eines der virulenten sozialen Probleme im Jugendalter bezeichnen lässt (Ecarius et al. 2011, S. 239 ff.), von ihr selbst hergestellt wird. Immer wieder einmal sind von ihr einwöchige Null-Diäten eingelegt worden, zumeist beendet mit einem „Fressanfall“ (263). Mehrmals erprobt wurde auch der Gewichtsverlust durch die Einnahme eines Abführmittels, was dann aber jedes Mal „voll die Magenkrämpfe“ (285) bei ihr hervorrief. Zwar bewertet Paulina diese Handlungen im Nachhinein als „das Dümmste was ich gemacht hab“ (289–290), sodass hier eine kritisch unterlegte, das eigene Handeln negativ beurteilende Einlassung in der autobiographischen Selbstdarstellung hervortritt. Es ist jedoch nicht der einzige Fehltritt, der so deklariert im Interview Erwähnung findet und über den Paulina mit ironisch-selbstbelustigtem Blick auf sich selbst erzählt. Die vergangenen Jahre scheinen voll von irgendwelchen Fauxpas, irrwitzigen Dummheiten und

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‚gestörten‘ Abwegen, über die im Überbietungsgestus gesprochen wird (etwa 278–287, 290–317, 317–364, 903–914). Paulina äußert sich, froh darüber zu sein, dabei keinen ernsten Schaden erlitten zu haben – es ist noch immer gut gegangen, ohne aktive Steuerung, ohne strategisches Entgegenwirken, ohne dass sie selbst etwas gemacht habe, so drückt es sich in ihren Positionierungen gegenüber den Geschehnissen gewissermaßen aus. Der angeschlagene ironische Ton lässt sich dabei als ein Modus der Selbstdistanzierung verstehen. Er ist Ausdruck ihres Selbstverhältnisses. Indem Paulina das Geschehene ironisch behandelt, statt das Begangene zu bereuen und die Vergangenheit zu betrauern, gelingt es ihr, eine Offenheit aufrechtzuerhalten, mit der vorbelastete Deutungen keine Extrapolierung in der biographischen Selbstauslegung erfahren. Nach vorne schauen heißt so besehen, keine Furcht vor neuen Fehlern zu haben. Die Zuversicht des Zukünftigen findet keine Grenze im Vergangenen. Dass von ihr Sachverhalte nicht intensiv durchdacht werden, ist damit jedoch gar kein reines ‚Bildungshemmnis‘, kein Ausdruck für dogmatisches Denken (vgl. Ruhloff 1996). Es ermöglicht ihr, unbedarft, ohne Umschweife das Kommende anzunehmen und mit ihm zu leben. Das ist auch dort nicht viel anders, wo es folgenreich für Paulina wird. Nachdem es ihr auf einer schulischen Skifreizeit gesundheitlich schlecht ging und sie mehre Tage mit Übelkeit das Bett hüten musste, bemerkt sie, nach Hause zurückgekehrt, dass ihr Bein dicker wird und zunehmend schmerzt. Ein durch die Eltern eingeleiteter Krankenhausbesuch ergibt die Ursache: eine Venenthrombose. Herbeigeführt worden ist sie offenbar durch die Einnahme von Kontrazeptiva, worüber Paulina die Eltern allerdings uninformiert ließ. Dass dies dem Vater bis zum Zeitpunkt des Interviews nicht bekannt ist, verdankt Paulina ihrer Mutter, die den vermuteten Auslöser für sich behält und damit einen potenziellen innerfamilialen Konflikt vermeidet. Analog zu anderen Situationen hätte ansonsten abermals ein Hausarrest oder eine drakonische erzieherische Strafe des Vaters gedroht, wie sie Paulina etwa auch schon mit einem einjährigen abendlichen Ausgehverbot erhalten habe, als sie einmal mit einem Freund im Wohnzimmer lediglich fernschauend gemeinsam „unter einer Decke“ (151) lag. Wie sehr die Thrombose sie nun seit knapp einem Jahr in ihrem Alltag einschränkt und mit welchen Konsequenzen es verbunden ist, Vorkehrungen gegen eine Verschlimmerung vorzunehmen, schildert Paulina folgendermaßen: „Also ich bin jetzt irgendwie total eingeschränkt in meinen Sachen. Zum Beispiel wenn’s um Sport geht was ich ja wirklich sehr gerne mache … das darf ich jetzt im Moment überhaupt nicht … so wirklich … wegen der Verletzungsgefahr weil da noch weitere Thrombosen sich bilden könnten oder Blutergüsse und … ja … sonst

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so was wie Freizeitpark das darf ich halt überhaupt nich mehr wegen den Achterbahnen. Das find ich halt auch’n bisschen blöd und … was noch blöd ist ist dass ich viel- ich weiß nicht das ist ganz komisch ich hab gedacht Gott sei Dank komm ich aus’m Krankenhaus raus und dann ist alles okay aber ich merke jeden Tag dass ich irgendwas mit’m Bein habe weil es tut mir jeden Tag weh und … das ist total nervig weil das ist einfach so scheiße weil ich das vorher so nicht kannte und jetzt wird’s mein ganzes Leben so sein deswegen ist das’n bisschen blöd“ (85–102)

Die aus einem längeren Darstellungszug entnommene Bilanzierung von Paulina macht ohne Umschweife deutlich, dass mit der Thrombose zu leben für sie ein „bisschen blöd“ (93, 94, 102), „nervig“ (99) und „einfach so scheiße“ (100) ist. Habe sie zunächst noch geglaubt, dass nach dem Überstehen des zweiwöchigen, bettlägerigen Aufenthalts im Krankenhaus wieder „alles okay“ (97) sei, so stellte sie danach fest, wie sehr ihr Bein jeden Tag schmerzte. Auch sei für sie sodann klar geworden, auf sämtliche sportliche Aktivitäten und einige andere freizeitbezogene Unternehmungen bis auf Weiteres verzichten zu müssen, um kein gesundheitliches Risiko einzugehen. Obwohl sie sich vorgenommen habe, zukünftig stärker darauf zu achten, was sie macht, nichts „leichtsinnig“ (515) zu unternehmen, „nichts heimlich“ (507) zu tun, da sie zur Kenntnis nehmen musste, dass ihr dies „eigentlich nichts gebracht“ (509) habe, hadert Paulina nicht mit sich selbst oder trauert ihrem früheren Leben nach. Das kommt gerade zum Ausdruck in der im Nachfrageteil des Interviews geäußerten Aussage, dass sich letztlich ihr „Leben gar nicht so verändert“ (531) habe. Zwar sei durch den Vorfall ihre Einstellung nicht mehr dieselbe wie zuvor, allerdings beschränkt sie die Veränderung einzig auf ihren Blick gegenüber dem Verhalten anderer. Was Paulina hier betont, lässt sich – bildungstheoretisch gelesen – als eine Transformation ihres Fremdverhältnisses verstehen. Die Thrombose habe sie dahingehend sensibilisiert, stärker darauf zu achten bzw. mit einem wacheren Blick zu verfolgen, was ihre Freunde machen, ob sie z. B. unbedacht ihre Gesundheit aufs Spiel setzen: „ja meine Einstellung zum Leben hat es schon verändert weil … wenn irgendwelche Leute zum Beispiel … sagen wir mal … die nehmen irgendwie Antibiotika und trinken dann Alkohol oder so was werde ich immer total sauer und dann motz ich die immer an (mit verstellter Stimme gesprochen bis*) ja was macht ihr denn* (…) Wenn’s um mich selbst geht dann seh ich da irgendwie nich so das Problem weil ich dann weiß was ich mache irgendwie (lachend) aber bei anderen Leuten da denk ich immer oh was machen die denn und ja … also durch die Thrombose hat sich da schon was verändert wenn es jetzt um die Einstellungen geht aber nur bei anderen bei mir auf mich bezogen hat sich da jetzt nicht so viel verändert“ (531–543)

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In Paulinas Biographie konsequente Vermeidungen von Infragestellungen sowie Ausflüchte vom Entwurf begründeter ‚Lebensstrategien‘ zu erkennen, muss damit jedoch als unzutreffend bezeichnet werden. Ihrer Lebensorientierung ist gar nicht nur eine Haltung des Bewahrens eingeschrieben, wie ich das seinerzeit gedeutet und z. B. darüber begründet habe, dass sie noch nicht über die Trennung von ihrem Freund hinweggekommen ist („dann… vermiss ich meinen Freund was ich auch blöd finde weil wir ja auch nich mehr zusammen sind“, 317–319). Es scheint nicht angemessen zu sein, bei ihr hinsichtlich der veränderten Lebenslage ein weitreichendes ‚Nicht-wahrhaben-Wollen‘ auszumachen. Denn offenbar hat sie sich in kürzester Zeit der neuen Situation angenommen und sich bei aller Kontingenz der weiteren Entwicklung mit der Thrombose arrangiert. Das fortan zu lebende Leben, das zunächst nicht länger den Sport als integralen Bestandteil enthalten wird, erscheint ihr dem alten gegenüber nicht weniger wert. Sie kann der gegenwärtigen Lage indes Positives abgewinnen, wie sie zum Ende ihrer Stegreiferzählung betont. Durch die Erkrankung der Thrombose sei es ihr möglich gewesen, Sport als Leistungsfach abzuwählen und durch Kunst ersetzen zu können. Obwohl sie sich in ihrer Freizeit liebend gerne sportlich betätigt, habe sie bereits in den ersten Monaten des Halbjahres erkennen müssen, dass sie sich keinen Gefallen damit getan habe, Sport zum schulischen Leistungsfach zu machen: „das war immer voll der Druck für mich weil das war irgendwie so ja… Leistungssport du musst es können und alle… du musst die Theorie können und alle können alles“ (482–485). Schon rasch habe sich ergeben, dass sie dort „so ungern hingegangen“ (482) sei. Obwohl anzunehmen ist, dass Sport auch in den Jahren zuvor im schulischen Kontext einer Bewertung unterzogen wurde, um Noten zu ermitteln, nun aber mit der Wahl als Leistungskurs die Anforderungen deutlich erhöht wurden, wird es für Paulina unmöglich, im Sport eine Gegenwelt zur Schule zu schaffen und die an sie herangetragenen Aufforderungen zur Leistungserfüllung im Sport auszublenden. So lässt sich dann nachvollziehen, wie Paulina die Einschränkungen durch die Thrombose zu einem Vorzug macht, wenn sie sagt: „voll cool dass ich jetzt das mit (lachend bis*) der Thrombose habe weil ich dann den Kurs wechseln konnte*“ (487–489). Dass Kunst für sie nun deutlich angenehmer ist als der belastende Sportunterricht, weil Zeichnen und Malen einfach „Spaß“ (495) macht, lässt sich damit nicht bloß als affektives Ausloten von Prioritäten verstehen oder als Ausdruck einer Beliebigkeit von eigenen Entscheidungen. Es geht hier darum, die Differenz von Lebensbereichen, durch die Paulinas ‚Bildungsgestalt‘ zum Ausdruck gebracht wird, aufrechtzuerhalten, bzw. m. a. W., unter veränderten Ausgangsbedingungen handlungsbereit zu bleiben – und ist nicht auch das ein Kriterium dafür, sein Leben als Bildungsprozess zu leben (vgl. Henningsen 1981; Meyer 2011, insbes. S. 99 ff.)?

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5 De-/Konstruktion von Normativität Die Relektüre der lebensgeschichtlichen Erzählung von „Paulina“ läuft auf eine Revision der früheren Interpretation in ihrer angedeuteten Kontur hinaus, weil Abstand davon genommen wird, im biographischen Prozessverlauf der Informantin eine Abstinenz von Bildungsprozessen zu betonen. Mit dem Verzicht darauf, biographische Bildungsprozesse an einer Intensität problematisierender Vernunft anzubinden – wie immer eine solche überhaupt zu bestimmen und von ihrem Widerpart des dogmatisierenden kategorial abzugrenzen ist (vgl. Müller 2000) –, wird die seinerzeit unternommene Deutung insofern durch und durch fraglich wie auch deren normative Grundlegung in ihrer grundsätzlichen Angemessenheit in Zweifel gezogen. Offenbar liegt, so die Konklusion, eine ‚Bildungsgestalt‘ nicht nur dann vor, wenn die eigentheoretischen Betrachtungen und Argumentationen markante Züge einer kritisch-problematisierenden Urteilskraft in rückhaltloser Gedanklichkeit erfüllen. Bildung erschöpft sich so betrachtet nicht in einer Haltung der Distanz und Fragen nach Begründung bzw. Rechtfertigung. Obwohl die revidierte Biographieanalyse, zumindest dem Anspruch nach, insofern auch eine geringere normative Imprägnierung als die alte aufweist, ist sie dennoch alles andere als deskriptiv gestaltet. In ihr figurieren mehr als nur Beschreibungen. Hier lässt sich ebenfalls keine Enthaltsamkeit von Normen diagnostizieren, was im Übrigen selbst dann nicht der Fall wäre, wenn ich in der Analyse auf den Bildungsbegriff verzichtet und ein anderes wissenschaftliches Konzept – etwa jenes der Sozialisation – zum Dreh- und Angelpunkt gemacht hätte. Und nur deshalb, weil diese Analyse normative Implikationen enthält, ist es überhaupt denkbar, sie ebenfalls wieder einer Revision zuzuführen. Wie u. a. Marian Heitger (1985) deutlich gemacht hat, beinhalten Aussagen(-systeme) – sogar die empirisch-erziehungswissenschaftlichen, wie sie mit Biographieanalysen vorliegen – nämlich jeweils einen Rückbezug, durch den sie möglich werden und über den sie sich in ihrer Geltung bzw. Verbindlichkeit erneut infrage stellen lassen. Ein solcher Rückbezug ist als ‚regulatives Prinzip‘ i. S. eines transzendentalen Begriffs dem zu Begründenden bzw. zu Analysierenden logisch vorgeordnet. Durch ihn sind „die Bedingungen der Möglichkeit der Diskussion von Normen, ihrer Kritik und Begründung“ (ebd., S. 114) gegeben. Er wird – bei Heitger sowie einigen weiteren Fachvertretenden (z. B. auch Löwisch 1978) – mit dem Begriff der Normativität bezeichnet und ist somit die Voraussetzung für jeglichen Entselbstverständlichungsversuch. Damit geht allerdings einher: Normativität ist nichts Störendes oder als eine unwissenschaftliche Strategie

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zu entlarven. Sie gilt es gerade nicht im Forschungsprozess zu vermeiden (vgl. Müller 2013). Es geht stattdessen vielmehr darum, über die Dekonstruktion von normativen Implikationen, die Konstruktivität der Normativität von Fall zu Fall zu reflektieren – sei sie, wie es vor allem für das Vorliegende zutrifft, als theoretische Normativität präsent, als eine dem methodischen Zugang eingeschriebene Normativität oder auch als eine praxisinhärente, von den Akteuren des untersuchten Falls durch ihre Orientierungen zum Ausdruck gebrachte Normativität (vgl. Krinninger und Müller 2012, S. 68). Über Dekonstruktionen die jeweilige Konstruktion zu reflektieren, bedeutet dann zum einen, mit den bestehenden Mitteln über Schleifen der Rekursion das bislang Ungehörte oder Ausgegrenzte ans Licht zu bringen, Totalisierungen des Gedachten zu identifizieren und ihnen Alternativen entgegen- bzw. besser „danebenzusetzen“ (Engelmann 2004, S. 19; Herv. i. O.). Zum anderen heißt es, dass jedes Andersdenken und „Weitermachen“ (Kubac et al. 2009) damit unaufhaltsam wird, sofern und solange eine derart verstandene Arbeit an der Normativität nicht in Abrede gestellt oder trivialisiert wird. Das Resultat einer solchen normativitätssensibel prononcierten Forschung mag ernüchternd erscheinen, da der Ausgang radikal offen und ein Abschluss der Denkbewegungen ebenso unerreichbar ist, „wie eine Ordnung in Aussicht steht, an der die Forschung an ein Ende gelangen könnte“ (Rucker 2014, S. 124). Das Unternehmen, die „eigenen Spielregeln der ‚Objektivität‘“ zu befragen, wird sodann aber auf Dauer gestellt und zielt permanent darüber hinaus, was zuletzt gedacht worden ist.

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Biographische Bildungsprozesse erforschen …

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„Erzähl bitte mal ganz genau, wie da eins zum anderen gekommen ist“ – Potenziale und Grenzen narrativer Gesprächstechniken in Beratungssituationen der Radikalisierungsprävention Stefan E. Hößl Zusammenfassung

Im Beitrag werden Potenziale und Grenzen des Einbezugs von narrativen Gesprächstechniken in Beratungssituationen der Radikalisierungsprävention diskutiert. Dabei wird ausgelotet, inwiefern narrative Fragestellungen und die Stimuli, mit denen in solchen Beratungsgesprächen gearbeitet wird, es ermöglichen, Fälle von Radikalisierung zu verstehen und so einzuschätzen, dass darauf abgestimmte pädagogische Maßnahmen getroffen werden können. Insbesondere wird hierbei skizziert, inwieweit der Transfer von Wissen um spezifische Haltungen der interviewenden Person im Kontext der Durchführung narrativer Interviews für Beratungssituationen der Radikalisierungsprävention nutzbringend sein kann. Schlüsselwörter

Radikalisierung · Prävention · Islamismus · Rechtsextremismus · Narratives Interview · Techniken der Gesprächsführung · Fremdverstehen

S. E. Hößl (*)  NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Fuchs et al. (Hrsg.), Jugend, Familie und Generationen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24185-8_9

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Im Sinne einer Hinführung zur Thematik „Potenziale und Grenzen narrativer Gesprächstechniken in Beratungssituationen der Radikalisierungsprävention“ möchte ich skizzenhaft auf Geschehnisse an zwei Schulen an unterschiedlichen Standorten in der Bundesrepublik eingehen: In einer Schule äußert ein Jugendlicher immer häufiger rechtsextreme Parolen und berichtet davon, dass er gute Freunde in einer Kameradschaft gefunden hat. In den Sommerferien konvertiert eine Schülerin zum Islam und kommt vollverschleiert in ihre Schule. Sie hat kaum Anschluss in der Klasse und auch ansonsten keine Freund*innen im schulischen Kontext, berichtet ihren Mitschüler*innen jedoch von neuen Bekannten in einer Moscheegemeinschaft, bei denen sie sich zum ersten Mal verstanden, aufgehoben und anerkannt fühlt. In beiden Fällen stellte sich für beteiligte Lehrkräfte die Frage, wie die Situation einzuschätzen ist. Gerade beim zweiten Beispiel stand auch und gerade im Raum, wie angemessen reagiert werden kann. Ist die Veränderung besorgniserregend? Oder ist es im Sinne der Religionsfreiheit schlichtweg zu akzeptieren, wenn Schüler*innen sich einer Religion zuwenden und diese ausleben? Diese und ähnliche Situationen gingen bei Lehrkräften, die mit diesen Szenarien konfrontiert wurden, mit Irritationen einher. Die Lehrer*innen waren mit ihren Fragen jedoch nicht auf sich selbst verwiesen; vielmehr waren durch das Modellprojekt „CleaR – Clearingverfahren gegen Radikalisierung“1 an beiden Schulen Fachkräfte der Radikalisierungsprävention vor Ort, die einen adäquaten Umgang mit den skizzierten Situationen fanden, indem sie zunächst weiterführende Informationen einholten und (Beratungs-)Gespräche mit den jeweiligen Jugendlichen führten, um herauszufinden, ob es sich überhaupt um ‚Fälle‘ handelt, die als tatsächlich sich abzeichnende Radikalisierungsprozesse im Clearingverfahren aufgenommen werden sollten. In diesem Beitrag frage ich, wie derartige (Beratungs-)Gespräche im Kontext der Radikalisierungsprävention ausgestaltet und moderiert werden können?

1Auf

das Projekt „CleaR“ gehe ich im Folgenden nicht mehr ein. Ich erwähne es, weil die beiden Geschehnisse während der Zeit der Durchführung des Projekts stattfanden. „Clear“ entwickelt in den Feldern Rechtsextremismus und Neosalafismus ein siebenstufiges hochstrukturiertes (Clearing-)Verfahren (vgl. https://www.clearing-schule.de; Zugegriffen: 13. November 2018). Es zielt darauf ab, dieses „Clearingverfahren zu erproben und damit ein zuverlässiges Verfahren der gezielten Prävention zu etablieren, das im Kern auf die Unterbrechung von Radikalisierung zielt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass Handlungs- und Melderoutinen aufgestellt und eingeübt werden“ (ebd.). Der Autor dieses Beitrags ist Mitglied des Fachbeirats des Projekts, das dankenswerter Weise die zwei eingangs erwähnten Situationsbeschreibungen zur Verfügung stellte.

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Welche Haltungen und Techniken der gesprächsführenden Fachkräfte können besonders positive Potenziale entfalten? Auch wenn im Feld der Radikalisierungsprävention vielerorts Reflexionen bspw. zu systemischer Beratung existieren, die auch in der Praxis umgesetzt werden, so ist insgesamt ein recht weitgehendes methodenbezogenes Theoretisierungsdefizit in diesem Bereich dann festzustellen, wenn die Frage nach dem WIE der Gestaltung von Gesprächen im Raum steht. Im Rahmen dieses Beitrags, in dem es nicht mein Ziel ist, weiterführend auf die konkrete Praxis des ‚CleaR‘-Teams oder auf die beiden skizzierten Beispiele einzugehen, möchte ich auf Haltungen und Techniken der Gesprächsführung im Feld der Radikalisierungsprävention fokussieren und darstellen, wieso ich denke, dass sich hier gerade aus der Theorie und der Praxis der Anwendung narrativer Interviews fruchtbare Impulse ableiten lassen. Mit dieser Fokussierung wende ich mich einem Thema zu, das bislang ein Desiderat darstellt. Es geht mir hierbei um erste Annäherungen. Nach einer kurz gehaltenen definitorischen Auseinandersetzung mit den Begriffen „Radikalisierung“ und „Prävention“ wende ich mich den theoretischen Grundannahmen des narrativ-biographischen Interviews zu, wie es maßgeblich von Fritz Schütze (1976, 1983, 1984) entwickelt wurde. Ein besonderes Augenmerk richte ich hierbei auf die Haltung und die Art und Weise der Gesprächsführung der Interviewenden. Hieran anschließend systematisiere ich meine Überlegungen auf die Frage hin, ob und inwiefern narrative Gesprächstechniken für Beratungskonstellationen der Radikalisierungsprävention einen Nutzen haben können und unter welchen Bedingungen sie ggf. auch nicht funktionieren.

1 Skizzenhafte Annäherung an die Begrifflichkeiten und Konzepte von „Radikalisierung“ und „Prävention“ „Radikalisierung ist eines der großen Schlagworte unserer Zeit, das im Mittelpunkt unzähliger medialer, wissenschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Diskurse steht, nicht weniger als ca. 3,5 Millionen Treffer liefert die Eingabe des Begriffs im Internet“ (Aslan et al. 2018, S. 17). In Bezug jedoch auf die Frage, was mit dem Begriff „Radikalisierung“ erfasst wird bzw. was unter Radikalisierung zu verstehen ist, gehen die Meinungen zum Teil weit auseinander. Den lateinischen Ursprung des Begriffs betrachtend ließe sich annehmen, dass Radikalisierung auf etwas abzielt, was als radix, also Wurzel betrachtet werden könnte (vgl. Neumann 2013; Dietrich 2016). ‚Radikalisierung‘

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könnte insofern interpretiert werden als ‚an die Wurzel gehen‘ (vgl. Dietrich 2016) – eine Interpretation, die in aktuellen, öffentlichen Diskussionen um Radikalisierung jedoch kaum anzutreffen ist, wo vornehmlich die Bereiche Rechtsextremismus/Neonazismus und Salafismus/Islamismus im Mittelpunkt stehen. ‚An die Wurzel gehend‘ könnte – verstanden als etwas Positives – auch bei Personen zutreffen, die sich als radikale Demokrat*innen in tiefgehender Weise mit der bundesrepublikanischen Gesellschaft, ihren Strukturen, politischen Entscheidungsprozessen etc. auseinandersetzen. Festzustellen ist, dass gegenwärtig verschiedene Definitionen von Radikalisierung vorliegen. Zum Teil spiegelt sich in ihnen ein unvereinbares Verständnis von damit verbundenen Phänomenen und Prozessen wider. Wenn ich hier von Radikalisierung spreche, so verstehe ich darunter in grundlegender Weise Hinwendungsprozesse zum Rechtsextremismus/Neonazismus und Salafismus/Islamismus, die in einer affirmativen Übernahme spezifischer (rechtsextremistischer oder islamistischer) Deutungsangebote zum Ausdruck kommen; Prozesse, in denen „sich bislang unauffällige Menschen in einem kürzeren oder längeren Zeitraum, in Gruppenprozessen oder alleine radikale Positionen zu eigen machen, die mit oder ohne Gewaltbefürwortung auf eine Beseitigung der hiesigen freiheitlich-demokratischen Werteordnung zielen“ (Silber und Bhatt zit. nach Ceylan und Kiefer 2013, S. 162). Der Extrempunkt in einem solchen Hinwendungsprozess ist eine gewaltbefürwortende Haltung, die das Potenzial in sich trägt, in tatsächliches Gewalthandeln umzuschlagen. Das Wissen um die Prozesshaftigkeit von Radikalisierung ist nunmehr von großer Bedeutung für Maßnahmen und Angebote aus dem Feld der ‚Prävention‘. Diese hat laut Michael Kiefer (2014, S. 127) „die Aufgabe, Problemlagen frühzeitig zu identifizieren, bestehende und mögliche Risiken kritisch einzuschätzen und auf der Grundlage dieser Einschätzungen spezifische Vorsorgemaßnahmen zu ergreifen.“ Allgemein werden hinsichtlich der Phänomenbereiche Rechtsextremismus/Neonazismus und Salafismus/Islamismus drei Formen der Radikalisierungsprävention unterschieden (vgl. hierzu Kaeding und Böhm 2014, S. 153; Ceylan und Kiefer 2013, S. 111 ff.; Kiefer 2014, S. 128 f.). Einerseits wird auf Maßnahmen im Rahmen einer universellen, primären Prävention verwiesen, die sich an Menschen richten, bei denen keine besonderen Risikofaktoren zu beobachten sind. Problematische Haltungen oder Verhaltensweisen sollen hier bereits im Vorfeld verhindert werden. Andererseits wird auf Maßnahmen im Bereich einer situativen oder selektiven, sekundären Prävention verwiesen, die sich an Menschen richtet, bei denen bereits Anzeichen einer spezifischen Problematik auszumachen sind und die darauf abzielen, dass sich bereits vorhandene, unerwünschte Haltungen nicht weiter verfestigen. Neben diesen beiden

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Formen der Prävention existieren noch Maßnahmen, die dem Bereich einer indizierten oder tertiären Prävention zugerechnet werden. Diese richten sich an Personen(-gruppen), die z. B. in rechtsextremen oder islamistischen Szenen verortet werden können. Sie zielen darauf ab, Menschen darin zu bestärken und zu unterstützen, sich von derartigen Szenen und/oder ihren antidemokratischen Ideologien abzulösen. Wenn ich mich in diesem Beitrag auf Prävention beziehe, so fokussiere ich damit vordringlich auf die Bereiche der sekundären und tertiären Prävention; Bereiche, die auch im Kontext von Beratungskonstellationen der Radikalisierungsprävention ganz zentral sind.

2 Das narrativ-biographische Interview und Strategien der Gesprächsführung In seiner ursprünglichen Form zielt das narrativ-biographische Interview auf Stegreiferzählungen, die durch einen narrativen, erzählgenerierenden Stimulus angeregt werden. Der oder die Interviewte wird dabei als Mensch mit einem Expert*innenwissen über die eigene Lebensgeschichte betrachtet (vgl. Hopf 2003, S. 355; Jakob 2003, S. 445; Fischer-Rosenthal und Rosenthal 1997, S. 413). Nach Schütze (1983, S. 285) besteht das narrativ-biographische Interview aus drei Teilen2: der „Anfangserzählung, den auf die Erzählkoda folgenden narrativen Nachfragen und den anschließenden beschreibenden und theoretischargumentativen Fragen“ (Riemann 2011, S. 120). Diese möchte ich eingehender betrachten: An die Erzählaufforderung, mit der das narrativ-biographische Interview beginnt und die auch narrativer Stimulus genannt wird, schließt im besten Fall – je nach Art und Weise des Stimulus – eine Stegreiferzählung der befragten Person zu bestimmten Ausschnitten ihres Lebens und Erlebens oder zur gesamten Lebensgeschichte an (vgl. Schütze 1983, S. 285). Für Interviewte stellen narrative Stimuli etwas gänzlich Außeralltägliches dar; Stimuli wie bspw. der von Jutta Ecarius (2002, S. 62) entwickelte – „Ich möchte gerne wissen, wie Ihr bisheriges Leben verlaufen ist. Erinnern Sie sich bitte zurück an die Zeit, als Sie noch ganz klein waren und erzählen Sie von da an bis heute ausführlich Ihr Leben. Ich sage jetzt erst einmal gar nichts und höre zu“ – dürften den meisten Menschen

2Autor*innen

wie Wolfram Fischer-Rosenthal und Gabriele Rosenthal (1997, S. 414 ff.) weisen mehr Phasen aus.

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kaum je im Alltag begegnen; und dies wohl auch relativ ungeachtet des Alters der Interviewten. Irritation und damit verbundene Nachfragen im Sinne von „Was genau soll ich erzählen?“ oder „Wo soll ich denn anfangen?“ sind insofern erwartbar. Erfahrungsgemäß zeigt sich in solchen Fällen, dass das Wiederholen des Stimulus’ oftmals damit einhergeht, dass die Interviewten – je nach eigener Relevanzsetzung – selbstbestimmt einen Anfangspunkt für ihre Erzählungen wählen. Ist es der Fall, dass eine Stegreiferzählung in Gang gesetzt wird, ist es hochbedeutsam, dass die interviewende Person sich mit jeglichen Kommentaren, weiteren Nachfragen oder Ähnlichem zurückhält. Die Stegreiferzählung wird von der interviewenden Person nicht unterbrochen (vgl. ebd.). Forscher*innen sind also aufgefordert, sich „strikt als Zuhörer[*innen zu] verhalten“ (Schütze 1976, S. 228; d. Verf.) und sich auf nonverbale Signale oder auf sogenannte Rezeptionssignale wie das Äußern von „mhm“ zu beschränken (vgl. Riemann 2011, S. 122). Ziel ist es, zu vermitteln, dass man als Interviewer*in aktiv und interessiert zuhört, um somit die Erzählung in Gang zu halten. Ein n­ arrativ-biographisches Interview unterscheidet sich insofern stark von der gewohnten Alltagskommunikation und erfordert von den Interviewenden eine nicht zu unterschätzende Professionalität in der Art und Weise der Interviewführung (vgl. Helfferich 2011, S. 46). Gelingt es, Stegreiferzählungen hervorzurufen, so ist besonders bedeutsam, dass dann die von Schütze (1976, S. 225) so bezeichneten „Zugzwänge des Erzählens“ eine Wirkmächtigkeit entfalten können. Er unterscheidet drei solcher Zugzwänge: einen Gestaltschließungszwang, einen Kondensierungszwang sowie einen Detaillierungszwang und führt hierzu aus: „Der erzählende Informant steht vor der Aufgabe, einem Zuhörer zu berichten, der selbst nicht in die zu berichtenden Ereigniszusammenhänge verwickelt war. Der Informant muß deshalb (a) den Gesamtzusammenhang der erlebten Geschichte als Episode oder historische Ereigniskonstellation durch das Darstellen aller wichtigen Teilereigniszusammenhänge in der Erzählung repräsentieren, da letztere sonst nicht vollständig, verständlich und ausgewogen wäre (Gestaltschließungszwang). Weil für die Erzählung nur begrenzte Zeit zur Verfügung steht, kann (b) der Tendenz nach nur das Ereignisgerüst der erlebten Geschichte berichtet werden (Kondensierungszwang). Sofern der Informant nicht Vorbereitungszeit und gezielte Motivation für eine fiktionale Erzählung hatte […], muß er sich (c) in der Erzeugung und Grundreihenfolge seiner narrativen Sätze an den tatsächlich im historischen Gesamtzusammenhang erfahrenen Ereignissen […] und ihrer Reihenfolge ausrichten; und wo für das vermeintliche oder faktische Verständnis des Zuhörers erforderlich, müssen kausale und motivationelle Übergänge zwischen den Ereignisknotenpunkten detailliert werden (Detaillierungszwang)“ (ebd., S. 224 f.).

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Die erwähnte, elementar notwendige Zurückhaltung der interviewenden Person ist vor diesem Hintergrund verständlich: Die Zugzwänge können nur entstehen, wenn die Interviewten ihre Erzählungen frei entfalten können. Unterbrechungen, Interventionen etc. könnten das Potenzial solcher Zugzwänge unterminieren (vgl. ebd., S. 228). Eine Erzählkoda wie z. B. „‚So, das war‘s: nicht viel, aber immerhin…‘“ (Schütze 1983, S. 285) verweist auf das Ende der Anfangserzählung. Ist diese zum Ende gekommen, schließen in der Konzeption narrativ-biographischer Interviews zwei Nachfragephasen an: eine immanente und eine exmanente. Immanente Fragestellungen richten sich zunächst auf das, was in der Eingangserzählung von den Interviewten verbalisiert wurde, wobei es von besonderer Bedeutung ist, „daß diese Nachfragen wirklich narrativ sind“ (ebd.). Der zweite, exmanente Nachfrageteil besteht nach Schütze sodann „einerseits aus der Aufforderung zur abstrahierenden Beschreibung von Zuständen, immer wiederkehrenden Abläufen und systematischen Zusammenhängen sowie aus den entsprechenden Darstellungen des Informanten sowie andererseits aus theoretischen Warum-Fragen und ihrer argumentativen Beantwortung. Es geht nunmehr um die Nutzung der Erklärungs- und Abstraktionsfähigkeit des Informanten als Experte und Theoretiker seiner selbst“ (ebd.).

Auf das Thema meines Beitrags zurückkommend ist festzustellen, dass sich als Zielgruppe von Beratungskonstellationen der Radikalisierungsprävention vornehmlich Jugendliche identifizieren lassen – eine Zielgruppe, bei der es laut Rosenthal et al. (2006) im Rahmen von Interviews oftmals schwierig ist, längere Erzählungen hervorzulocken. Vor dem Hintergrund ihrer Forschung stellen sie fest, dass sie die „Erfahrung machen [mussten], dass die Jugendlichen auf die Bitte, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, mit einer meist knappen Präsentation einzelner Stationen ihres Lebens antworteten. Im Extremfall antworteten sie nur mit einem Satz oder mit einem nur wenige Minuten dauernden Bericht“ (ebd., S. 192; d. Verf.). Für die qualitativ Forschenden ergab sich damit ein erhebliches Problem: Sie waren auf Narrationen angewiesen, die die Grundlage ihrer Analysen bilden sollten. Was tun, wenn Jugendliche nicht ins Erzählen kommen oder kommen können? Rosenthal et al. (2006) formulieren in ihrer Publikation ­‚Biographisch-narrative Gespräche mit Jugendlichen. Chancen für das Selbst- und Fremdverstehen‘ Wegweisendes dazu, wie narrative Interviews auch mit jenen Jugendlichen geführt werden können, denen es schwer fällt, eine längere Stegreiferzählung zu elaborieren. Mit Blick auf die Thematik dieses Beitrags möchte ich mich im Folgenden den diesbezüglichen Ausführungen eingehender widmen.

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Als etwas Zentrales weisen es Rosenthal et al. aus, im Interview auf „eine konsequent narrative Gesprächsführung“ (ebd.) zu setzen, also eine Gesprächsführung, die nach Möglichkeit v. a. Erzählungen hervorlocken soll.3, 4 Eine konsequent narrative Gesprächsführung führt, wie Rosenthal et  al. (2006, S. 192) darlegen, dazu, dass sich die Jugendlichen im Verlauf von Gesprächen zunehmend in Form längerer Erzählpassagen äußern. Wichtig sei es in diesem Zusammenhang, „den Jugendlichen gerade nicht eine Gesprächsbereitschaft abzusprechen oder gar von einer mangelnden Erzählkompetenz auszugehen“ (ebd.). Vielmehr würden die Jugendlichen einfach „etwas mehr Unterstützung von Seiten der ZuhörerInnen“ (ebd.) benötigen. Was macht eine derartige „konsequent narrative Gesprächsführung“ aus? Den Autorinnen zufolge sei im Rahmen einer solchen darauf zu achten, möglichst wenig inhaltlich vorzugeben „und die Themenwahl und die generelle Gestaltung des Gesprächs den Jugendlichen“ (ebd., S. 194) zu überlassen. Dies impliziert auch, nach Möglichkeit offene Frageformulierungen zu wählen. „Die Orientierung an den Vorgaben der Jugendlichen wird […] während des Gesprächs bis fast zum Ende beibehalten“ (ebd.), und erst am Ende wird auf Themen eingegangen, die die Jugendlichen nicht angesprochen haben (vgl. ebd.). Besonders, so Rosenthal et al., eignen sich hier vorsichtige Formulierungen wie z. B. „Könntest Du vielleicht über die Situation X erzählen?“ oder „Du hast bisher noch gar nicht über die Zeit X gesprochen… Möchtest Du darüber etwas erzählen?“ (vgl. ebd., S. 194 f.). Generell gilt es, die Interviewten zu dichteren Erzählungen zu motivieren5 – mit narrativ fundierten Detaillierungsfragen zu

3In

Bezug zur Wichtigkeit offener und narrativ fundierter Fragestellungen vgl. auch Nohl (2008, S. 20) und Bohnsack (2010, S. 20 f.). 4In Anlehnung an Schütze schreibt Nohl (2008, S. 48), dass sich „Erzählungen […] dadurch aus[zeichnen], dass in ihnen der Informant Handlungs- und Geschehensabläufe darstellt, die ein[en] Anfang und ein Ende und einen zeitlichen Verlauf haben“. 5Ethisch-moralische Reflexionen sollten den Interviewenden besonders in jenen Nachfrage-Situationen präsent sein, in denen es um sehr intime Details oder gar traumatische Erlebnisse geht – hier ist es seitens der Interviewenden dringend erforderlich, vorsichtig und mit Bedacht zu agieren (vgl. Rosenthal et al. 2006, S. 195). „Keineswegs“, so Rosenthal et al. (ebd.), sollte jedoch vorschnell „mit einem Themenwechsel reagiert werden. In jedem Fall empfehlen wir auch hier, mit einer Erzählaufforderung zu antworten, da sonst die Befragten den Eindruck bekommen könnten, dass ihre ZuhörerInnen nichts über diese schwierigen Themen hören wollen“ (ebd.). Falls aber eine Ablehnung seitens der interviewten Person zum Ausdruck gebracht wird, gebietet es sich, ein solches ‚Nein‘ unbedingt als ‚Nein‘ zu respektieren und ein ‚Nachbohren‘ zu vermeiden (vgl. ebd., S. 196).

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bereits Erwähntem oder Angedeutetem und/oder Stimuli, wie ich z. B. einen im Titel dieses Beitrags eingebracht habe. Gelingt es, die Jugendlichen „in einem Erzählprozess zu unterstützen, setzt meist auch ein Erinnerungsprozess ein, bei dem ihnen zunehmend die Details von Handlungsabläufen in den vergangenen Situationen einfallen“ (ebd., S. 197). Die Zugzwänge des Erzählens können so ihre Wirkung entfalten. Dafür, dass ein solcher Prozess einsetzt, ist m. E. eine grundlegend empathisch-anerkennungsvolle Zugewandtheit der interviewenden Person gegenüber den Interviewten, ein aufmerksames und genaues Zuhören sowie eine stetige Reflexion der Interviewenden dahingehend, wie Fragestellungen und Stimuli (im Anschluss an die Äußerungen Jugendlicher) nach Möglichkeit offen und narrativ formuliert werden können, eine elementare Voraussetzung. Zu fragen ist ja, wer bereit ist, einer fremden Person von sich und dem eigenen (Er-)Leben zu erzählen, wenn diese nicht eine gewisse Wertschätzung und Aufmerksamkeit an den Tag legt, sich auf das Geschilderte einlässt und über die Art der Fragestellung erkennbar macht, dass sie ein umfangreiches Interesse an den Ausführungen hat sowie auf das eingeht, was mitgeteilt wird. Rosenthal et al. (2006, S. 216) plädieren mit Blick auf die interviewende Person letztlich für eine methodische Fremdheitshaltung gegenüber den Befragten; eine Haltung für die u. a. zentral ist, dass die Interviewten in ihrer eigenen Geschichte, mit ihren eigenen Erfahrungen und ihrem Sosein als fremd wahrgenommen werden sowie eigenes Expert*innen- und Vorwissen zurückgestellt wird. Eine zentrale Aufforderung bezüglich der Haltung der interviewenden Person im Rahmen einer konsequent narrativen Gesprächsführung könnte formuliert werden mit den Worten: Seien Sie neugierig! Soweit zu den Annäherungen an narrativ-biographische Interviews aus einer theoretischen und durch Praxiserfahrungen informierten Perspektive. Im Folgenden gilt es nun zu klären, inwiefern die dargestellten Gesprächstechniken und -strategien in Beratungsgesprächen der Radikalisierungsprävention sinnvoll herangezogen und eingesetzt werden können. In diesem Zusammenhang wird herausgestellt, dass eine Haltung, wie sie die interviewende Person im narrativen Interview einnimmt, mit besonderen Potenzialen verbunden ist, in Beratungsgesprächen mehr über die Jugendlichen, ihr Werden, ihre Wahrnehmung und ihr Denken zu erfahren. Ein solches Mehr an Wissen, so wird argumentiert, kann insbesondere für Reflexionen dazu in gewinnbringender Weise herangezogen werden, wie pädagogisch-professionelles Handeln und Reagieren in Orientierung an den spezifischen Problemlagen und Bedarfen von Jugendlichen ausgestaltet werden soll.

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3 Narrative Gesprächstechniken in Beratungssituationen – theoretische Reflexionen zu Potenzialen und Grenzen Für Beratungssituationen der Radikalisierungsprävention lassen sich zentrale Zielsetzungen auf mehreren Ebenen feststellen: Zu Beginn gilt es, wie bei den eingangs dargestellten Szenarien, zu klären, ob und inwiefern radikalisierungsrelevante Sachverhalte vorliegen – ob es also überhaupt einen ‚Fall‘ für die Radikalisierungsprävention gibt. Zeichnen sich bei den Jugendlichen tatsächlich Radikalisierungsprozesse ab? Oder zeigt sich bei genauerem Zuhören vielleicht, dass Jugendliche in ganz anderen Bereichen pädagogische Begleitung oder Unterstützung benötigen? Im Sinne einer ersten Einschätzung und mit Blick auf eine weitere Bearbeitung der Fälle ist die Klärung solcher Fragen unverzichtbar. Auch hinsichtlich der Wahl pädagogischer Maßnahmen (ggf. auch in Abstimmung mit anderen Akteur*innen wie Eltern(-teilen) oder gar den Sicherheitsbehörden) sowie mit Blick auf Festlegungen, in welcher Art und Weise mit Schüler*innen wie den oben genannten umgegangen werden soll, ist es hochbedeutsam, deren Bedarfe und Hintergründe adäquat einzuschätzen. Vieles hierzu kann über vertiefende Recherchen im sozialen, auch schulischen Umfeld der Jugendlichen geschehen, indem bspw. Lehrkräfte befragt werden, aber letztlich ist der Einbezug der jeweiligen im Fokus stehenden Person zwingend erforderlich. Ein Einbezug kann hierbei entweder im Rahmen einer freiwilligen Teilnahme in einer Beratungssituation umgesetzt werden oder je nach Situation im Sinne einer Auflage auch einen Zwangscharakter aufweisen. Vermutet werden könnte ein Zusammenhang zwischen einer vorhandenen oder nicht vorhandenen Freiwilligkeit und der Aufgeschlossenheit und Offenheit der Jugendlichen in solchen Situationen. Expert*innen wie Kiefer verweisen jedoch vor dem Hintergrund ihrer Praxiserfahrungen darauf, dass die Annahme falsch ist, es gäbe einen markanten Unterschied in der Offenheit von Jugendlichen, wenn es um Beratungssituationen der Radikalisierungsprävention in einem Zwangs- gegenüber einem freiwillig gewählten Kontext geht. Sowohl im Rahmen einer freiwillig in Anspruch genommenen Beratung wie auch einer eher unfreiwilligen Teilnahme sind Jugendliche präsent, die jeweils eine mehr oder weniger verschlossene oder offene Haltung an den Tag legen. Die Voraussetzungen seitens derjenigen, die an Beratungsgesprächen teilnehmen, variieren insofern stark und nehmen letztlich massiv Einfluss auf die Möglichkeit für ein Gespräch und dessen Gestaltung. Narrative Gesprächstechniken eröffnen die Möglichkeit, dass Jugendlichen eigene Themenschwerpunkte setzen und damit den eigenen Relevanzsetzungen

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folgen können.6 Sie sind dabei mit der Chance verbunden, Jugendliche dazu zu motivieren, über ihre erlebte Geschichte (oder bestimmte Passagen hieraus) zu sprechen zu kommen. Über ein aktives Zuhören und eine grundsätzliche, wertschätzende und interessierte Aufmerksamkeit gegenüber dem Erzählten können sie zum Schaffen von Vertrauen im Gespräch beitragen. Wenn ein authentisches Interesse an der Person gezeigt und ggf. auch mit Worten wie „Du interessierst mich. Ich finde es spannend, Dir zuzuhören!“ verbalisiert wird, kann dies einer offenen Atmosphäre und der Bereitschaft Jugendlicher, sich (weiterführend bzw. ausführlicher) zu sich selbst zu äußern bzw. über sich selbst zu erzählen, zuträglich sein. Was Müller et al. (2014, S. 153) in einem anderen Zusammenhang formulieren, betrachte ich auch mit Blick auf Beratungssituationen der Radikalisierungsprävention als etwas Bedeutsames: dass nämlich grundsätzlich die Frage nach der Beziehung und Bindung vor allem anderen steht. Im Sinne einer ‚Beziehungsarbeit‘ scheint mir jene Haltung besondere geeignet, wie ich sie mit Verweis auf Rosenthal et al. skizziert habe. Eine solche beinhaltet, sich im Gespräch (als gesprächsführende Person) zunächst zurückzuhalten, nicht zu diskutieren, sondern zuzuhören und die Jugendlichen ernst zu nehmen und nicht zu unterbrechen. Jene, die in die Beratungssituation kommen, sollen schließlich im Mittelpunkt stehen – Jugendliche mit ihren ganz eigenen Geschichten und Hintergründen. Hierfür zwingend erforderlich ist ein geschützter Raum für das Gespräch; ein Raum, in dem Jugendliche auch auf sensible Themen wie die eigene Vulnerabilität, Emotionales, Intimes und eben ihr Erleben und ihre Biographie bzw. Ausschnitte daraus zu sprechen kommen können. Die Anwesenheit Dritter gilt es entsprechend zu vermeiden und im Nachgang an das Gespräch sorgfältig zu überprüfen, was wie mit anderen (z. B. Schulleitung, Lehrkräften, Sozialpädagog*innen, Eltern(-teilen) etc.) kommuniziert wird. Dies gerade auch, um das Vertrauen der jeweiligen im Gespräch involvierten Person nicht zu verletzen, wenn bspw. intime Details geäußert werden, die der oder die Jugendliche der oder dem Gesprächspartner*in nur im Vertrauen mitgeteilt hat. Mit Blick auf etwaige Folgegespräche sollte unbedingt vermieden werden, einen Vertrauensverlust bei den Jugendlichen, die sich in Beratungsprozessen befinden, zu riskieren.

6Bohnsack et al. (1995, S. 435) sprechen mit Fokus auf qualitative Forschung davon, dass bei der Erhebung als Grundprinzip zu gelten hat, „daß der Forscher bzw. die Forscherin Bedingungen der Möglichkeit dafür zu schaffen hat, daß […] das Individuum […] sich in seiner Eigenstrukturiertheit prozeßhaft zu entfalten vermag.“ In offenen, narrativ-biographischen Interviews wird dies in besonders umfangreicher Weise gewährleistet.

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Gelingt es, die Jugendlichen unter Berücksichtigung einer offenen und narrativ fundierten Gesprächsführung zu Erzählungen anzuregen, können im besten Fall jene Zugzwänge des Erzählens greifen, wie sie von Schütze beschrieben werden und die auch bei Rosenthal et al. von zentraler Bedeutung sind. Jugendliche können sich dann bestenfalls als Personen erfahren, deren Geschichten ernst genommen werden. Die Gesprächsführenden wiederum haben die Chance, sich vertiefend mit den Perspektiven, den Hintergründen und dem auseinanderzusetzen, was die Jugendlichen über sich selbst erzählen.7 Mit Blick auf eine Einschätzung hinsichtlich des Vorhandenseins eines Radikalisierungsprozesses oder auch des ‚Grades‘ der Radikalisierung, auf ggf. vorhandene biographische Schieflagen, Probleme im persönlichen oder familialen Bereich etc. ist erahnbar, dass hierin wichtige Impulse für die Reflexionen zu pädagogischer Begleitung oder zur Art und Weise etwaiger Interventionen zu finden sind – je nachdem, was sich bei den Jugendlichen als relevant herausstellt. Unter Umständen kommen auch spezifische Problemlagen zum Vorschein, die die Hintergrundfolie einer vermeintlichen Radikalisierung bilden. Hinsichtlich der Angemessenheit einer Einschätzung lassen sich Fragen dahin gehend wohl adäquater beantworten, ob jemand mit islamistischen oder rechtsextremen Ideologemen ‚spielt‘, um daraus einen Mehrwert für sich (z. B. sozialer Status in der Klasse als ‚grenzenloser Outlaw‘) zu generieren oder bereits gar ein gefestigtes rechtsextremes oder islamistisches Weltbild aufweist. Informationen wie diese können in sinnvoller Weise herangezogen werden, um Überlegungen zu angemessenen pädagogischen Reaktionen anzustellen. Über narrativ fundierte Fragestellungen können daneben auch Irritationen erzielt werden, die Reflexionsprozesse in Gang bringen können – bspw. dann, wenn Jugendliche logische Brüche in dem erkennen, was sie äußern. Insofern ließe sich – je nach Situation – auch darüber nachdenken, gegen Ende des Gesprächs eine konfrontativ-fragende Strategie anschließen zu lassen, in der von der gesprächsführenden Person erkannte logische Brüche oder Leerstellen thematisiert werden. Zwar existieren zahlreiche Potenziale narrativer Gesprächstechniken; diese dürfen aber nicht über explizite Grenzen für die Möglichkeiten, solche Techniken in Beratungsgesprächen der Radikalisierungsprävention einzusetzen,

7…auch

wenn die Art und Weise der Analyse in Beratungssituationen insofern nur verkürzt möglich ist, dass tiefer gehende Interpretationen, wie sie in wissenschaftlichen Forschungszusammenhängen üblich sind, viel zu zeitintensiv sind und Ressourcen erfordern, die im Alltag der Radikalisierungsprävention so nicht eingebracht werden können.

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h­ inwegtäuschen. Die wohl offensichtlichste ist dann zu finden, wenn Jugendliche nicht bereit sind, sich auf Erzählungen einzulassen oder sich in einem Gespräch verweigern. Mitunter kann versucht werden, über das vielleicht auch Wenige, was Jugendliche äußern, im Sinne Rosenthals et al. wiederholende, narrative Detaillierungsfragen zu stellen – und im besten Fall gelingt es auch, längere Erzählungen in Gang zu bringen – aber diese Strategie läuft ins Leere, wenn Jugendliche beharrlich sind und sich nicht auf ein Gespräch einlassen wollen. Ein wesentliches Problem hinsichtlich der Anwendung narrativer Gesprächstechniken besteht darüber hinaus generell darin, dass Erzählungen zeitintensiv sind. Wo finden Beratungsgespräche der Radikalisierungsprävention statt? In der Schule, in der Pause? Welche Zeitfenster können dafür genutzt werden? Ist die kalkulierte Zeit ausreichend? Wird Zeit benötigt, die der Person in der Beratungssituation als Freizeit verloren geht? Gerade Letzteres, so ist anzunehmen, kann eine stark abträgliche Wirkung dahin gehend haben, sich für ein Gespräch zu öffnen. Und auch wenn ausreichend Zeit vorhanden ist, kann ein Gespräch, bei dem konsequent narrativ nachgefragt wird, theoretisch zu einer umfassenden Vertiefung von Themen führen, denen im Kontext der Radikalisierungsprävention keine Relevanz zukommt… oder letztlich vielleicht doch? Nun: dies wird sich wohl nur in der konkreten Praxis von Gesprächen in Beratungssituationen der Radikalisierungsprävention im Rahmen der jeweiligen Arbeit an einzelnen Fällen herausfinden lassen. Wie auch immer: Deutliche Potenziale narrativer Gesprächstechniken sehe ich in diesem Feld in vielerlei Hinsicht – und letzten Endes stellt sich doch die Frage, wieso nicht zumindest versucht werden sollte, diese zu nutzen? Zu fragen ist, was in einem Fall, in dem der Einsatz solcher Techniken keinen Erfolg im obigen Sinne mit sich bringt, passiert. Im ‚schlimmsten Fall‘ begegnen jene, die Gespräche führen, Jugendlichen mit einer wertschätzenden, offenen, interessierten Haltung und versuchen, sie dazu zu motivieren, über sich zu erzählen – ein solches ‚Risiko‘ scheint mir recht übersichtlich zu sein.

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Familie im Wandel – Über Erziehung und Erziehungserfahrungen

Konturen der Familienerziehung Anja Schierbaum, Thorsten Fuchs und Alena Berg

Von der anfänglichen Fürsorge nach der Geburt von Kindern bis zur Verselbstständigung der jungen Heranwachsenden erweist sich die Familie als eine höchst ambivalente Institution, die in der übrigen Gesellschaft keine Entsprechung findet (vgl. Giesecke 1990, S. 224). Sie ist „der Ort der emotionalen Unterstützung und der persönlichen Beratung“ (Ecarius et al. 2011a, S. 74), schafft Stabilität und Orientierung, bietet Erfahrungsräume für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen und ermöglicht die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Zugleich ist mit ihr aber auch eine bedeutsame Risikoquelle für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen benannt. Denn vielfach wird deutlich, dass die Erziehung in der Familie den Prozess des Aufwachsens erschweren und eine gelungene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verhindern kann: Stetig zunehmende Liberalisierung und der Wandel des Erziehungsleitbildes, in dem sich die breite Beförderung von Autonomiebestrebungen junger Menschen dokumentiert, dürfen folglich nicht vergessen lassen, dass es Familien gibt, in denen soziale Probleme wie Armut und Gewalt das Zusammenleben bis zur Unerträglichkeit belasten und die psychosoziale Entwicklung der Heranwachsenden immens beeinträchtigen (vgl. Lamnek et al. 2006).

A. Schierbaum (*) · A. Berg  Universität zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Fuchs  Universität Koblenz-Landau, Koblenz, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Berg E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Fuchs et al. (Hrsg.), Jugend, Familie und Generationen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24185-8_10

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Da Lebensläufe durch das Aufwachsen in Familien so besehen nachhaltig beeinflusst werden, kann aus pädagogischer Sicht ihr Einfluss auf Heranwachsende nicht hoch genug eingeschätzt werden. Lange Zeit ist die Familie allerdings von ausgiebigen erziehungswissenschaftlichen Reflexionen weitgehend unbedacht geblieben (vgl. Macha 2004; Ecarius 2007). Statt der Erforschung konkreter familialer Erziehungsprozesse wurden vielmehr und viel deutlicher professionelle Handlungsfelder – etwa die Familienhilfe als Teil der Sozialpädagogik – fokussiert. Die Frage, wie Kinder in Familien erzogen werden, inwiefern sich jüngere und ältere Mitglieder gegenseitig beeinflussen, welche Möglichkeiten Heranwachsende haben, auf familiale Interaktionen Einfluss zu nehmen und auf welche Weise Regeln der Erziehung hervorgebracht, gefestigt sowie verändert werden, blieb bis in die 1980er Jahre hinein – von wenigen Ausnahmen abgesehen (vgl. z. B. Mollenhauer et al. 1975) – weitgehend unberücksichtigt; Familienerziehung aus Innenansichten heraus methodisch kontrolliert zu erfassen, „besonders aus der Perspektive des erzieherisch bedeutsamen Familienalltags“ (Matthes 2018, S. 250), galt trotz einer ‚realistischen Wendung‘ der empirisch-pädagogischen Forschung als schwer greifbar. Noch im Jahr 2004, als die Familie im Nachgang des novellierten Kinder- und Jugendhilfegesetzes auch in rebus paedagogicis stärkere Aufmerksamkeit erfahren hatte, stellte R ­ olf-Torsten Kramer (2004, S. 209) fest, dass trotz wichtiger Impulse eine erziehungswissenschaftliche Familienforschung „noch zu entwickeln“ wäre. Inzwischen hat sich das unbestritten sehr verändert: Nicht nur das öffentliche, auch das fachwissenschaftliche Interesse an der Familie ist groß geworden, was sich in der steigenden Zahl an Studien und einschlägigen Veröffentlichungen dokumentiert, sodass auf diese Weise aktiv gegen die lange Zeit fehlende Tradition der Familienpädagogik gearbeitet worden ist (vgl. Winkler 2012; Ecarius et al. 2009; Ecarius und Schierbaum im Erscheinen). Für eine erziehungswissenschaftliche Theorie der Familie können als Ertrag der in den zurückliegenden Jahren deutlich intensivierten Forschungsbemühungen nun zumindest „Konturen“ (Macha 2009) gezeichnet werden. Dabei kommen nicht nur Veränderungen der Erziehungsstile oder Entwicklungen vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt zur Betrachtung, mit denen gerade auch kursierende Mythen über die Familie aufgeklärt werden. Besonderheiten, die sich aus der Modellierung von Familie als ein Generationengeflecht ergeben, haben den Blick auf Familie auch geschärft als eine „komplexe, sich in ihren Formen stetig verändernde Lebensform“ (Ecarius et al. 2011b, S. 13), die familiale Fürsorge und Erziehungspraktiken intergenerational reguliert und auf Anforderungen des Arbeitsmarktes und der sozialen Gemeinschaft reagiert (vgl. Ecarius 2002). Neuvermessungen des erzieherischen Auftrags von Familie konnten in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen

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u. a. eine „Erziehung des Beratens“ (Ecarius et al. 2017) herausarbeiten. Und jenseits des Erziehungsauftrags, der zwar eine wesentliche, nicht aber die einzige Funktion ist, die dieser Institution zukommt (vgl. Hettlage 1998; Ecarius 2006), sind zudem die Bildungsleistungen der Familie untersucht worden – und das gerade nicht nur im Verständnis eines Beitrags zur Stärkung des schulischen Kompetenzerwerbs von Kindern und Jugendlichen (vgl. Büchner und Brake 2006; Büchner 2009). Sich derart differenziert mit theoretischen und empirischen Fragestellungen auseinandersetzend wurde das Feld der erziehungswissenschaftlichen Familienforschung mit pädagogische Fragestellungen – historischen wie auch aktuellen – immer weiter bestellt und sukzessive über eine Vielzahl damit verbundener sozialer, kultureller und politischer Themen erkundet. Zu diesen gehören: Erziehungserfahrungen und familiale Sozialisation, biographische Lern- und Bildungsprozesse in Familien, soziale Ungleichheit und Reproduktion, Elternschaft, Fürsorge und emotionale Unterstützung, reziproke Verantwortung und Verletzlichkeit, familiale Geschlechterkonzepte sowie Gemeinschafts- und Zeiterfahrungen in Familien. Facetten dieser unterschiedlichen Frage- und Problemstellungen zu Familie werden im zweiten Teil aufgegriffen und hierauf bezogen wichtige Standpunkte einer erziehungswissenschaftlichen Familienforschung skizziert. Insgesamt wird dabei deutlich, dass die „Familie als Ort der ersten Erziehungs- und Bildungserfahrung, der Sozialisation und der Erfahrung von sozialer Reproduktion“ (Ecarius 2009, S. 106 f.) sowie als Ermöglichungsbedingung zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eine breit gefächerte Bedeutung in der Erziehungswissenschaft hat. Ronnie Oliveras und Jan Frederik Bossek richten ihren Fokus auf Familienerziehung in der Spätmoderne und fragen vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Gegenwartsdiagnosen, inwiefern sich die Vorstellungen von bzw. über Familie transformieren. Mit ihren Analysen beobachten sie einen sich verändernden Umgang von Eltern und ihren Kindern und arbeiten heraus, dass Familie unter aktuellen Lebens- und Aufwachsensbedingungen sowohl als „Heimathafen“ als auch als zusätzliche „Belastung“ wahrgenommen wird, was sie an den Befund einer der gegenwärtigen familialen Erziehungspraxis imprägnierten „Erziehung des Beratens“ rückbinden. Diese deuten sie in ihrem Beitrag vor allen Dingen subjektivationstheoretisch aus und verbinden die kritischen Betrachtungen abschließend mit Überlegungen, die auf die Dringlichkeit qualitativ-empirischer Konkretisierung und das Weiterdenken der Widersprüche spätmoderner Familienerziehung hinauslaufen. Mittels der Aufnahme neuerer praxeologischer Theoriekonzepte präzisiert Michael Hermes daraufhin die Familie zum einen als eine hochgradig fragile

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Herstellungsleistung im gegenseitig aufeinander bezogenen Miteinander verschiedener Generationenangehöriger. Zum anderen konkretisiert er die Familie als konjunktiven Erfahrungsraum, der sich in der gemeinsamen Lebenspraxis der Familienmitglieder konstituiert. Auf empirischer Grundlage zweier Familieninterviews zum Alltag der gelebten Erziehungspraxis wird herausgearbeitet, dass Familien in Beziehungsarbeit und gemeinsame Familienzeit investieren müssen, um intergenerationale Beziehungen aufrechterhalten und sich gegenüber den Anforderungen außerfamilialer Erfahrungsräume abgrenzen zu können. Sabine Andresen beleuchtet ebenfalls eine Dimension familialer Beziehungen: Das Konzept der transgenerationalen Weitergabe von (Erziehungs-)Erfahrungen aufgreifend und den eigenen Einsatz darin verortend wird Verletzlichkeit in ihrem Beitrag als unvermeidbares, d. h. strukturelles Konstituens familialer Sorgebeziehungen zum Thema gemacht und mit kindheitstheoretischen Diskussionen zur Vulnerabilität verknüpft. Familien in prekären Lebenslagen bilden dabei den Bezugspunkt zur systematischen Reflexion über Verletzlichkeit, die im Kontext einer qualitativen Studie zu Armut in Familien entfaltet wird. So instrumentiert werden jene Modi bzw. Schlüsselthemen der Sorge um Kinder und Familie herausgearbeitet, die Eltern in eine verletzliche soziale Position bringen, und weiterführende Anknüpfungspunkte für eine familientheoretische Analyse der Trias von Armut, Sorge und Verletzlichkeit aufgezeigt. Hans-Rüdiger Müller behandelt Familie als Ort von Erziehungserfahrungen, die er im Generationenvergleich untersucht. Ausgehend von vielfach kolportierten, jedoch auch dramatisierten Befunden zu einer „überforderten Elterngeneration“, zeigt er in seinem Beitrag, dass die von ihm untersuchten familialen Lebenspraxen der in den Mittelpunkt gerückten „Familie Tanner“ gerade quer zu aktuellen Klassifizierungen des wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurses liegen und daher womöglich für die Etablierung eines neuen Typus familialer Lebensführung sprechen, welcher sich auszeichnet durch die Orientierung an postmateriellen Werten, einem ausgeprägten Maß an pädagogischer Reflexivität, dem Erleben der Elternschaft als Bereicherung des Lebens und einer Alltagsgestaltung, bei der die Last der Betreuung auf mehrere Schultern verteilt wird. Im Beitrag von Johannes Bilstein wird abschließend eine im Gegenwartsdiskurs präsente Denkfigur familialer Transferprozesse genauer in den Blick genommen, gleichsam in intenio obliqua. Ausgehend von den Richtungen des Kulturtransfers zwischen den Generationen wird anhand des 1879 entstandenen Gemäldes „Der zwölfjährige Jesus im Tempel“ von Max Liebermann die präfigurative Struktur mit ihrer Konterkarierung einer Dominanz der Altersweisheit als ein der abendländischen Tradition fest eingeschriebener Topos in der

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Thematisierung von Einflüssen der Kinder auf ihre Eltern herausgearbeitet. Mit einer engen Verzahnung von Bildanalyse und geistes- bzw. ideengeschichtlicher Reflexion zeigt sich dabei, dass in der Frage „Wer belehrt wen?“ alles andere als eine anthropologische Grundkonstante der Relationierung von Jungen und Alten auszumachen ist.

Literatur Büchner, P. (2009). Familie als Bildungsinstanz. In H. Macha & M. Witzke (Hrsg.), Familie. Handbuch der Erziehungswissenschaft 5 – Studienausgabe (S. 153–175). Paderborn: Schöningh. Büchner, P., & Brake, A. (2006). Bildungsort Familie. Transmission von Bildung und Kultur im Alltag von Mehrgenerationenfamilien. Wiesbaden: VS Verlag. Ecarius, J. (2002). Familienerziehung im historischen Wandel. Eine qualitative Studie über Erziehung und Erziehungserfahrungen von drei Generationen. Opladen: Leske + Budrich. Ecarius, J. (2006). Konflikte in Familie und Schule um die Erziehung der Kinder: Wer hat welche Erziehungsbefugnisse? In K.-S. Rehberg (Hrsg.), Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede: Verhandlungen des 32. Kongresses der DGS in München. Teilbd. 2 (S. 898–909). Frankfurt a. M.: Campus. Ecarius, J. (Hrsg.). (2007). Handbuch Familie. Wiesbaden: VS Verlag. Ecarius, J. (2009). Jugend und Familie. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer. Ecarius, J., & Schierbaum, A. (Hrsg.). (im Erscheinen). Handbuch Familie. Bd. 1: Gesellschaft und differentielle Felder, Bd. 2: Erziehung, Bildung und sozialpädagogische Arbeitsfelder. Wiesbaden: Springer VS. Ecarius, J., Groppe, C., & Malmede, H. (Hrsg.). (2009). Familie und öffentliche Erziehung. Theoretische Konzeptionen, historische und aktuelle Analysen. Wiesbaden: VS Verlag. Ecarius, J., Eulenbach, M., Fuchs, T., & Walgenbach, K. (2011a). Jugend und Sozialisation. Wiesbaden: VS Verlag. Ecarius, J., Köbel, N., & Wahl, K. (2011b). Familie, Erziehung und Sozialisation. Wiesbaden: VS Verlag. Ecarius, J., Berg, A., Oliveras, R., & Serry, K. (2017). Spätmoderne Jugend – Erziehung des Beratens – Wohlbefinden. Wiesbaden: Springer VS. Giesecke, H. (1990). Familie als pädagogisches Feld. Neue Sammlung, 30, 223–231. Hettlage, R. (1998). Familienreport. Eine Lebensform im Umbruch (2., aktual. Aufl.). München: Beck. Kramer, R.-T. (2004). Familie. In H.-H. Krüger & C. Grunert (Hrsg.), Wörterbuch Erziehungswissenschaft (S. 204–209). Wiesbaden: VS Verlag. Lamnek, S., Luedke, J., & Ottermann, R. (2006). Tatort Familie. Häusliche Gewalt im gesellschaftlichen Kontext (2., aktual. Aufl.). Wiesbaden: VS Verlag. Macha, H. (2004). Auf dem Weg zu einer Theorie der Familienerziehung – empirische und systematische Aspekte. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 80, 41–65.

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A. Schierbaum et al.

Macha, H. (2009). Konturen einer pädagogischen Theorie der Familie. In H. Macha & M. Witzke (Hrsg.), Familie. Handbuch der Erziehungswissenschaft 5 – Studienausgabe (S. 7–27). Paderborn: Schöningh. Matthes, E. (2018). Familie und Familienforschung in der Erziehungswissenschaft. In A. Wonneberger, K. Weidtmann & S. Stelzig-Willutzki (Hrsg.), Familienwissenschaft. Grundlagen und Überblick (S. 249–280). Wiesbaden: Springer VS. Mollenhauer, K., Brumlik, M., & Wudtke, H. (1975). Die Familienerziehung. München: Juventa. Winkler, M. (2012). Erziehung in der Familie. Innenansichten des pädagogischen Alltags. Stuttgart: Kohlhammer.

Familienerziehung in der Spätmoderne Die Erziehung des Beratens Ronnie Oliveras und Jan Frederik Bossek

Zusammenfassung

Im Rahmen aktueller soziologischer Gegenwartsdiagnosen lassen sich zahlreiche soziale Bedingungen identifizieren, denen Individuen ausgesetzt sind und die diese gegenwärtig zu meistern haben. Prozesse der Individualisierung, Flexibilisierung und Optimierung können dabei als Anforderungen beschrieben werden, die insbesondere im Hinblick auf spätmoderne Subjektivierungsweisen diskutiert werden. Anhand der von Ecarius et al. vertretenen These des Erziehungsmusters einer „Erziehung des Beratens“ und der Vorstellung ihrer Studie Spätmoderne Jugend – Erziehung des Beratens – Wohlbefinden soll hier der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Vorstellungen der Lebensphase Jugend, von Familie und Familienerziehung – und damit auch von sozialen Gemeinschaften und Praktiken – in einen Zusammenhang zu aktuellen sozialen Bedingungen und Subjektanrufungen gebracht werden können. Schlüsselwörter

Erziehung · Beratung · Familie · Jugend · Spätmoderne

R. Oliveras (*) · J. F. Bossek  Universität zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] J. F. Bossek E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Fuchs et al. (Hrsg.), Jugend, Familie und Generationen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24185-8_11

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1 Einleitung Betrachtet man aktuelle soziologische Gesellschaftsanalysen, dann scheinen Individualisierungs- und Beschleunigungsprozesse (vgl. Beck 1986; Rosa 2005) vor dem Hintergrund eines offenen ethischen Horizonts (vgl. Taylor 1995) vermehrt zu einer Erosion traditioneller Lebensstile und Lebensläufe zu führen. Weiterhin lässt sich feststellen, dass in eine von Unsicherheit geprägte Notwendigkeit zur Lebensgestaltung verstärkt Imperative des Unternehmerischen und der (Selbst-)Reflexion dringen und von Subjekten ein hohes Maß an Autonomie und Selbstverantwortung verlangen. Während die von Bröckling beschriebene Anrufung des „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2013) auf eine kontinuierliche individuelle Bereitschaft zur Selbstoptimierung und Leistungserbringung abzielt, soll Illouz zufolge das durch therapeutische Diskurse seit den 1960er Jahren hervorgebrachte „reflexive Selbst“ (Illouz 2009) fortdauernde Selbstinterpretationsarbeit leisten, um auf der Grundlage einer reflektierten Gefühlslage selbstsicherer handeln zu können. Uns stellt sich die Frage, inwiefern diese sozialen Entwicklungen auch die Lebensphase Jugend und die Vorstellungen von Familie verändern und eine Familienerziehung beeinflussen. Hinweise hierfür gibt die von Ecarius et al. (2017) vertretene These einer „Erziehung des Beratens“, die wir in diesem Text vorstellen. Dazu werden zunächst aktuelle Bedingungen von Jugend und Familie skizziert. Daran schließt sich eine Definition von „Familienerziehung“ an und es werden die zentralen Ergebnisse der 2017 veröffentlichten Studie Spätmoderne Jugend – Erziehung des Beratens – Wohlbefinden (Ecarius et al. 2017) vorgestellt sowie erörtert, inwiefern eine Erziehung des Beratens in einem Zusammenhang zu den sozialen Bedingungen der Spätmoderne steht.

2 Jugend und Familie in der Spätmoderne Eine Zusammenführung von jugendtheoretischen Untersuchungen und soziologischen Gegenwartsdiagnosen lässt sich nach Helsper et al. (2015, S. 12) spätestens seit den 1980er Jahren vermehrt wahrnehmen. Zu dem Zeitpunkt also, an dem makrosoziologische Gesellschaftsbeschreibungen soziale Phänomene wie bspw. ansteigende Individualisierung, Globalisierung, Pluralisierung von Lebensstilen und Flexibilisierung aufzeigen und eine Auflösung von Identitäten diagnostizieren, erscheint es notwendig, auch die soziale Kategorie „Jugend“ im Lichte eben jener neuen gesellschaftlichen Bedingungen zu betrachten (vgl.

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Heitmeyer und Olk 1990). Im Hinblick auf die Jugendforschung wird dabei deutlich, dass sowohl positive Veränderungen durch etwa die Vervielfältigung von individuellen Möglichkeiten, Freiräumen und Selbstentwürfen für Jugendliche betont werden, aber auch auf Risiken der Modernisierung wie etwa Destabilisierung und Überforderung hingewiesen wird. Begriffe wie Patchworkidentitäten, Bastelbiographien, fluide Szenen, Formen posttraditionaler Vergemeinschaftung, Statusinkonsistenz und Destandardisierung zeugen von einem Wandel im Rahmen der Betrachtung und des Verständnisses von Jugend (vgl. Helsper et al. 2015, S. 12). Konkret zeigt sich dies etwa darin, dass das für die Moderne diagnostizierte Bildungsprivileg der Jugend in Form eines Bildungsmoratoriums (vgl. Zinnecker 1991, S. 10) angesichts erhöhter Ansprüche an Qualifikation verstärkt zu einem Bildungszwang avanciert, wodurch die spezifische Qualität der Lebensphase „Jugend“ diffuser zu werden scheint (vgl. Ecarius et al. 2017, S. 27). Die Programmatik des lebenslangen Lernens kann hier als Beleg für diese zunehmende Entgrenzung der Jugendphase dienen (vgl. Fraij et al. 2015, S. 180), die alle Generationen gleichermaßen dazu aufruft, sich im Sinne des Unternehmerischen als eigenverantwortliches Lernselbst auf ein lebenslanges, selbstständiges Lernen einzustellen und sich darin einzuüben (vgl. Helsper 2015, S. 136; Bröckling 2013, S. 71 f.). Damit einher gehen eine Verlängerung der Ausbildungszeiten sowie veränderte Vorstellungen von Lebensverläufen, Partnerschaft und Familiengründung (vgl. Hurrelmann und Quenzel 2013, S. 111, 132; BMFSFJ 2017, S. 53). So sind die Lebensphase „Jugend“ und das Verhältnis zwischen den Generationen – insbesondere in der Familie – im Rahmen veränderter sozialer Bedingungen neu zu betrachten, denn nicht nur „Jugend“ verliert an ihrer vermeintlich klaren Bestimmbarkeit, sondern auch Familie und Elternschaft erfahren neue Aufmerksamkeiten. Betrachtet man erziehungswissenschaftliche und familiensoziologische Diskurse über den Gegenstand „Familie“, dann lassen sich auch hier eine Vielzahl von diagnostizierten veränderten Bedingungen wahrnehmen (vgl. Nave-Herz 2015). Das Aufschieben der Geburt des ersten Kindes, höhere Lebenserwartungen, eine Deinstitutionalisierung der Ehe (vgl. Bertram und Deuflhard 2015), eine Pluralisierung von Lebensformen und Familienbildern, sich wandelnde familiäre Binnenstrukturen und Praktiken sowie erweiterte Rollenerwartungen stellen neue Gestaltungsmöglichkeiten von „Familie“ dar. Familie hat sich, so Illouz (2009), individualisiert, indem sie sich „von einer Institution zum Aufziehen von Kindern und zur Sicherung des wirtschaftlichen Überlebens von Männern und Frauen in eine Institution [verwandelt hat], die den emotionalen Bedürfnissen ihrer Mitglieder zu dienen“ (ebd., S. 187; d. Verf.)

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hat. Dabei resultieren aus dieser transformierten Bedeutung von Familie zwei unterschiedliche Effekte: Einerseits wird der Handlungsspielraum und die Vielfalt an Gestaltungsmöglichkeiten für den Einzelnen deutlich erweitert, andererseits sind diese gewonnenen Freiheiten angesichts einer neoliberalen Umordnung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Strukturen mit starken Herausforderungen nach Mobilität, Flexibilität, Optimierung und Selbstverantwortung verknüpft. So betonen Jurczyk et al. (2009), dass Familie angesichts aktueller Bedingungen sowohl einen Fluchtpunkt in einer ökonomisierten Welt darstellen kann1, als auch als zusätzliche Belastung wahrgenommen wird2 (ebd., S. 58). Innerhalb dieses Kräfteverhältnisses – zwischen einer familialen sozialen Praxis und den sozialen Anforderungen, zwischen Heimathafen und Belastung – haben sich die Lebensentwürfe und Vorstellungen der einzelnen Individuen verändert und es stellt sich somit die Frage, inwiefern sich dies in einer Praxis der Erziehung ablesen lässt.

3 Familienerziehung In der Familienforschung hat sich für die Art, wie Eltern erziehen und wie die Generationen in diesem Prozess miteinander interagieren, der Terminus der „Familienerziehung“ durchgesetzt. Diese ist durch eine familiale Generationsbeziehung – als spezifische Form familialer Interaktion zwischen älteren und jüngeren Generationen – strukturiert (Ecarius 2009, S. 113) und gekennzeichnet durch eine Generationendifferenz, für die ein Hierarchie- und Kompetenzgefälle charakteristisch ist (vgl. Köbel und Walgenbach 2012, S. 311). Familienerziehung ist nicht ein von gesellschaftlichen Diskursen und sozialen Bedingungen unabhängiger, über alle Generationen gleichbleibender Prozess, sondern findet „in einem immer schon vorgestalteten sozialen Raum statt, der durch die biographischen Erfahrungen vieler älterer Generationen vorstrukturiert ist“ (Ecarius

1So

wird in der Shell-Jugendstudie 2015 von der Familie als „Heimathafen“ (Shell Deutschland Holding 2015, S. 15) gesprochen. 2Titel wie „Eltern unter Druck“ (Merkle et al. 2008), „Familie – nein danke?!“ (SeiffgeKrenke und Schneider 2012) und diskutierte Konzepte eines „doing family“ (Jurczyk et al. 2014), einer „Work Life Balance“ (Kastner 2011), von „Doppelkarrierepaaren“ (Leinfellner 2018), eines „Coparenting“ (Langmeyer 2015) und einer „verantworteten Elternschaft“ ­(Nave-Herz 2012; Hünersdorf 2014) spiegeln diesen Wandel, der oftmals durch eine Beschreibung von Unsicherheiten und Belastungen ergänzt wird, wider.

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et al. 2011, S. 54)3. Historische Kontexte haben so nicht nur Einfluss auf biographische Verläufe, sondern auch auf Inhalte der Familienerziehung und die (Beziehungs-)Struktur zwischen Eltern und Kindern4. Dies zeigt sich etwa im Rahmen historischer Analysen, die einen Wandel von einer Erziehung des Befehlens zu einer Erziehung des Verhandelns beschreiben (vgl. zur Übersicht Baader et al. 2014). So gilt bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts das Erziehungsmuster des Befehlens als charakteristisch, das sich durch einen autoritären Erziehungsstil, eine asymmetrische Machtbalance zwischen Eltern und Kindern, Bestrafungsmaßnahmen und dem Erziehungsziel der Gehorsamkeit auszeichnet (vgl. Ecarius 2002, S. 224). Seit den 1980er Jahren lässt sich vor dem Hintergrund von innerfamiliären Intimisierungs- und Demokratisierungsprozessen ein Wandel zu einer Erziehung des Verhandelns diagnostizieren (vgl. Büchner 1983; du ­Bois-Reymond et  al. 1994; Ecarius 2002). Diese ist verstärkt von einer „Unterstützung von Selbstständigkeit und freie[m] Willen, einer Intimisierung der Generationsbeziehungen, einer Nivellierung der Machtbalance zwischen Älteren und Jüngeren und einem Zugewinn an Freiheitsräumen für die junge Generation“ (Ecarius et al. 2011, S. 39) geprägt. Das Ideal der Autonomie gilt hier als Erziehungsziel. Betrachtet man im Folgenden die These einer Erziehung des Beratens von Ecarius et al. (2017), dann lässt sich dieser Dynamik eines sich verändernden Umgangs von Eltern und ihren Kindern weiter folgen.

3Abzulesen

ist dies etwa in unterschiedlichen Analysen von Eltern- und Erziehungsratgebern (vgl. Schmid 2011; Eschner 2017) und in Diskursen um den Wandel von gesellschaftlichen Leitbildern von ‚guter‘ Elternschaft und ‚guter‘ Erziehung (vgl. Waterstradt 2018; Schneider et al. 2015; Jergus et al. 2018; Betz et al. 2013). 4Da an dieser Stelle keine fachspezifische Auseinandersetzung mit dem Begriff „Erziehung“ stattfinden kann (vgl. zur Schwierigkeit und Komplexität etwa Kraft 2013), sollen im Anschluss an Ecarius (2002) die Inhalte der Erziehung und die ­(Beziehungs-) Struktur folgendermaßen zusammengefasst werden: Zu den Inhalten gehören Erziehungsregeln, Erziehungsziele, Vorstellungen vom Subjekt (zum Beispiel Unterordnung, Selbstständigkeit), Lern- und Bildungsanforderungen sowie Gestaltungsräume (Familie und Freizeit). Die (Beziehungs-)Struktur der Erziehung umfasst das familiale Generationengefüge, das ambivalente Verhältnis von Nähe und Distanz und die Frage, in welchem Machtverhältnis Generationen zueinander stehen (vgl. ebd., S. 49).

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4 Erziehung des Beratens In ihrer 2017 publizierten Studie Spätmoderne Jugend – Erziehung des Beratens – Wohlbefinden unterziehen Ecarius et al. (2017) Daten der quantitativen Querschnittstudie Jugend.Leben NRW 2012 (Maschke et al. 2013), in deren Rahmen die Einstellungen von 5.520 Kindern und Jugendlichen zwischen zehn und 18 Jahren zu verschiedenen Themenbereichen erforscht wurden, einer sekundären Clusteranalyse. Sie fragen in ihrer Studie danach, wie Heranwachsende „Mutter und Vater wahrnehmen, welche Probleme sie mit ihnen besprechen und inwiefern sie sich von ihnen verstanden fühlen“ (Ecarius et al. 2017, S. 76). Sie stellen die These auf, dass sich in der Spätmoderne eine Erziehung des Beratens beobachten lässt, die sich durch einen veränderten kommunikativen Umgang mit Bedürfnissen und Emotionen auszeichnet und für die eine empathische und resonante Beziehung charakteristisch ist. Als analytische Kategorien werden einerseits Themen der Erziehung (Was wird besprochen?) und andererseits Beziehungsqualität (Wie gestaltet sich das familiale Generationsgefüge hinsichtlich der Anerkennungsbeziehungen und Vertrauen?) definiert. Beide stehen in Abhängigkeit miteinander, denn von der Beziehungsqualität hängt ab, „was Kinder ihren Eltern erzählen und wie offen sie über Themen sprechen, die sie berühren“ (ebd., S. 76). Zur differenzierteren Untersuchung der Themen der Erziehung modellieren Ecarius et al. gemäß ihrem Verständnis von Familie als konjunktivem Erfahrungsraum (vgl. Mannheim 1980, S. 211 ff.), in dem sich Jugendliche „gleichsam mit dem eigenen Selbst und der Welt auseinandersetzen“ (Ecarius et al. 2017, S. 76), Kategorien der „Weltsicht“ und „Selbstsicht“5. Im Folgenden sollen exemplarisch einige Ergebnisse der Studie dargestellt werden.

5Somit

ergibt sich die folgende Operationalisierung der Erziehung des Beratens: Die Items, die zu der Kategorie der Selbstsicht zusammengefasst werden, sind die Fragen „Schätze einmal ein, wie gut Dir Deine Mutter/Dein Vater in den folgenden Dingen den richtigen Rat geben kann…“ 1) „was ich machen soll, wenn es mir schlecht geht“, 2) „wem ich vertrauen kann“, 3) „mir darüber klar zu werden, was ich kann“ (Ecarius et al. 2017, S. 79). Für die Weltsicht lauten die Fragen „Schätze einmal ein, wie gut Dir Deine Mutter/Dein Vater in den folgenden Dingen den richtigen Rat geben kann…“ 1) „warum es Krieg und Ungerechtigkeit auf der Welt gibt“, 2) „bei Problemen mit Leuten in meinem Alter“, 3) „bei Problemen mit Lehrern/Lehrerinnen“ (ebd.). Beantworteten die Heranwachsenden alle drei Items mit sehr gut oder gut, sind die Mutter oder der Vater BeraterIn für die Selbstsicht (MBS/VBS) oder Weltsicht (MBW/VBW). Die Elternteile sind kein/e BeraterIn, wenn alle drei Items mit kaum oder überhaupt nicht beantwortet wurden (kBS/kBW). Die Befragten, welche die mittleren Antwortmöglichkeiten gewählt haben, wurden in der Sekundäranalyse nicht berücksichtigt.

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4.1 Erziehung des Beratens: Zentrale Ergebnisse Aus den Ergebnissen der Studie lässt sich zunächst folgern, dass die Befragten zu hohen Anteilen eine Erziehung des Beratens erfahren. Für 63,7 % ist die Mutter und 50,1 % der Vater BeraterIn für die Selbstsicht (MBS/VBS), während für die geringen Anteile von 3,6 % die Mutter und 8,4 % der Vater kein/e BeraterIn für die Selbstsicht sind (MkBS/VkBS). Hinsichtlich der Kategorie Weltsicht geben 37,7 % für die Mutter und 34,6 % für den Vater an, dass diese/r als BeraterIn in Erscheinung tritt (MBW/VBW) und für nur 5,4 % ist die Mutter und 9 % der Vater kein/e BeraterIn für die Weltsicht (MkBW/VkBW)6. Damit können Mütter und Väter für eine hohe Zahl an Kindern als stete AnsprechpartnerInnen beschrieben werden. Weitere Ergebnisse zeigen: Sind Eltern BeraterInnen für Themen der Selbstsicht, dann erzählen ihnen Heranwachsende eher, was sie beschäftigt, wenn sie sich alleine fühlen oder Angst haben und wenn ihnen etwas Tolles gelingt. So geben 43,2 % der Heranwachsenden, deren Mutter eine Beraterin und 35,8 %, deren Vater ein Berater für die Selbstsicht ist, an, dass sie ihnen immer erzählen, was sie gerade besonders beschäftigt. Nur 14,2 % tun dies selten und 4,3 % nie (MBS; VBS 21,7 % selten und 6,4 % nie). Sind die Eltern keine BeraterInnen, sinkt der Anteil der Befragten, die ihnen davon immer erzählen, auf 0 % (MkBS) bzw. 2,6 % (VkBS) und es steigt der Anteil derjenigen, die ihren Eltern selten oder nie erzählen, was sie gerade besonders beschäftigt (Ecarius et al. 2017, S. 99). Die Ergebnisse fallen in den übrigen Kategorien ähnlich aus. Sind die Eltern BeraterInnen für die Weltsicht, dann erzählen ihre Kinder eher, wenn sie von anderen geärgert werden, wo sie nach der Schule ihre Freizeit verbringen und wie sie in der Schule zurechtkommen. Da sich die Ergebnisse der Fragen ähneln, wird hier die Beantwortung der letzten Frage exemplarisch vorgestellt: Fast drei Viertel der Befragten, deren Mutter Beraterin für die Weltsicht ist (73 %), erzählen ihr immer, wie sie in der Schule zurechtkommen und 20,3 % erzählen es ihr gelegentlich. Lediglich 4,9 % dieser Gruppe erzählen ihr selten und 1,7 % nie von der Schule. Die Werte der Heranwachsenden, deren Vater

6Vor

allem bei der Selbst-, in geringerem Umfang auch bei der Weltsicht, liegt damit die Mutter vor dem Vater, wenn es um die Beraterfunktion geht. Die Tendenz bestätigt sich auch bei den übrigen erfragten Kategorien. Ecarius et al. führen dies auf die weiterhin in Familien dominierende geschlechtsspezifische Zuständigkeit der Mütter für die Erziehung der Kinder und auf ungleiche Beschäftigungsverhältnisse zurück (vgl. Ecarius et al. 2017, S. 82).

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Berater für die Weltsicht ist, fallen ähnlich aus. Ist die Mutter keine Beraterin für die Weltsicht, dann erzählen ihr nur 12 % immer, wie sie in der Schule zurechtkommen, dem Vater, wenn dieser kein Berater ist, sogar nur 3,7 %. Auch sonst wird eher der Mutter als dem Vater erzählt, wenn beide keine Beraterfunktion haben (gelegentlich MkBW: 42 %, VkBW: 29,3 %). Da Ecarius et al. vermuten, dass für eine Erziehung des Beratens eine resonante, empathische Beziehung zwischen Eltern und Kindern grundlegend ist, fragen sie, inwiefern eine Beraterfunktion der Eltern mit der Einschätzung der Befragten korreliert, ob und wie sich die Eltern für sie interessieren. Eine große Mehrheit von über 90 % der Heranwachsenden, für die die Mutter oder der Vater BeraterIn für die Selbstsicht ist, stimmen zu und eher zu, dass die Eltern ihnen zuhören (MBS: 96,7 %, VBS: 95,6 %). Sind Eltern keine BeraterIn, fällt das Ergebnis deutlich niedriger aus und Eltern hören selten zu (MBS: 57,6 %, VBS: 67,1 %). Auch die Ergebnisse für die Frage, inwiefern Mutter und Vater die Heranwachsenden nur anzuschauen brauchen und wissen, dass etwas nicht stimmt, deuten auf eine empathische Beziehung zwischen Eltern und Kindern hin, die eine Erziehung des Beratens auszeichnet (vgl. Ecarius et al. 2017, S. 108). Weiterhin stimmen fast drei Viertel der Heranwachsenden mit der Mutter als Beraterin für die Selbstsicht (71,6 %) und mehr als drei Viertel der Heranwachsenden mit einem Vater als Berater für die Selbstsicht (75,7 %) der Aussage „in meiner Familie kann ich zeigen, was ich alles weiß“ genau zu. Demgegenüber geben dies nur 30,3 % (MkBS) beziehungsweise 39,5 % (VkBS) der Kontrastgruppe an. Die Anteile derjenigen dieser Gruppe, die der Aussage eher nicht oder nicht zustimmen, oder die in ihrer Familie gar nicht zeigen möchten, was sie alles wissen, ist höher als diejenigen Anteile der Gruppe mit Eltern als BeraterInnen. Zusammenfassend kommen Ecarius et al. zu dem Schluss, dass Heranwachsende in Familien, in denen Eltern beratend erziehen, ihre Kompetenzen eher zeigen als in Familien, in denen sie so eine Erziehung nicht erfahren. Aus diesen kontrastreichen Ergebnissen der beiden Gruppen lässt sich schließen: Beratend erziehende Eltern sind „an einer durch Vertrauen und Aufmerksamkeit geprägten Kommunikation interessiert, durch die Kinder erleben, dass Mutter und Vater ihre Befindlichkeiten kennen und für sie da sind“ (ebd., S. 112). Heranwachsende, die ihre Eltern nicht als BeraterInnen empfinden, haben eine weniger resonante Beziehung zu ihnen, ihnen wird weniger zugehört und ihre Meinung wird seltener erfragt. Gleichwohl auch Heranwachsende, deren Eltern keine BeraterInnen sind, von positiven Familienbeziehungen berichten, weisen die Ergebnisse hinsichtlich der Bedeutung einer Erziehung des Beratens auf eine besondere Beziehungsqualität hin. Mütter und Väter können für eine hohe Zahl der befragten Kinder als stete AnsprechpartnerInnen

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beschrieben werden, die in beratenden und intimen Gesprächen das Interesse des heranwachsenden Kindes in den Vordergrund stellen (vgl. ebd., S. 57). Durch die Selbstöffnung der Heranwachsenden gegenüber ihren Eltern bietet sich für die Eltern die Möglichkeit, Intimes über ihre Kinder zu erfahren und damit im „Gespräch erziehend zu wirken, indem sie mit ihrem Kind das Erfahrene einschätzen und bewerten. Auch können sie dann bei Ängsten und Sorgen trösten [oder] auf ‚richtiges‘ oder ‚falsches‘ Verhalten eingehen“ (ebd.). An den Antworten der Kontrastgruppe kann gezeigt werden, dass diese Heranwachsenden nur selten oder nie mit ihren Eltern über die erfragten Themen sprechen. Sie äußern „eine schlechte Beurteilung von Mutter und Vater, wenn nicht sogar […] Enttäuschung und Verletztheit“ (ebd., S. 151) über wenig elterliches Interesse an ihren Gefühlen, Ängsten, Problemen oder Fähigkeiten. Wenn Gespräche zustande kommen, erzählen Heranwachsende noch eher der Mutter als dem Vater etwas (vgl. ebd., S. 107). Wie beurteilen nun Heranwachsende eine Erziehung des Beratens? Hierzu untersuchen Ecarius et al., inwiefern Aussagen über die erlebte Erziehung mit der Beratungsfunktion der Mutter korrelieren. Ist die Mutter Beraterin für die Selbstsicht, dann schätzen mehr als die Hälfte der Befragten ihre Erziehung als (sehr) nachsichtig ein und würden zu 83,8 % ihre eigenen Kinder genauso und ungefähr so erziehen (VBS 84,9 %). Eine (sehr) strenge Erziehung wird nur von einem viel niedrigeren Anteil angegeben, deren Mutter beratend erzieht (MBS addiert 13,9 %). Ein Drittel der Befragten antwortet, mal so, mal so erzogen zu werden. Die Daten der Kontrastgruppe zeichnen ein anderes Bild: Insgesamt geben circa zwei Fünftel der Heranwachsenden, deren Mutter keine Beraterin für die Selbstsicht ist, an, eine (sehr) strenge Erziehung zu erleben (MkBS addiert 37,9 %) und nur circa ein Viertel wird nach eigener Aussage (sehr) nachsichtig erzogen (MkBS addiert 27,5 %). Weiterhin ist dann der Anteil derer, die ihre eigenen Kinder (ganz) anders erziehen würden, um ein Vielfaches höher als für Heranwachsende mit beratenden Eltern (MkBS: 66,7 %, VkBS: 49,3 %). Eine Erziehung des Beratens ist damit durch eine symmetrische(re) Machtbalance gekennzeichnet und Eltern sind eher (sehr) nachsichtig im Umgang mit ihren Kindern, was auf große Befürwortung seitens der Heranwachsenden stößt und ihre Zufriedenheit erhöht (vgl. ebd., S. 142). Besonders interessant ist letztlich die Frage, inwiefern Eltern in Abhängigkeit vom Alter der Befragten als BeraterInnen eingeschätzt werden, da dies Aufschluss über den Zusammenhang aktueller Familienerziehung und den Umgang mit jugendlichen Kindern zu geben vermag. Ecarius et al. differenzieren nach den drei Altersgruppen 10 bis 12, 13 bis 15 und 16 bis 18 Jahre, um analysieren zu können, inwiefern sich Erziehung im Umgang mit unterschiedlichen Altersklassen

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verändert (ebd., S. 149). Mit zunehmendem Alter der Befragten nimmt die Beratertätigkeit der Eltern ab. Beurteilen 38,3 % der 10- bis 12-Jährigen ihre Mutter als Beraterin für die Selbstsicht und 41,8 % ihren Vater, sinken diese Anteile in der Altersgruppe der 16- bis 18-Jährigen bis auf 24,5 % für die Mutter und 22,7 % für den Vater. Es lässt sich daher die These formulieren, „dass die ,große Zeit‘ einer permanenten Beratung aufgrund einer Verselbstständigung der Heranwachsenden abnimmt und Vater und Mutter dadurch weniger häufig um Rat gefragt werden bzw. sich weniger als Berater anbieten“ (ebd., S. 155). Dennoch zeigen die Ergebnisse, dass auch die Lebensphase „Jugend“ von elterlicher Zuwendung geprägt ist und „dass Erziehung nicht mit dem Ende der Kindheit – das sich zeitlich nicht konkret bestimmen lässt – aufhört, sondern eine beratende Erziehung die Jugendphase intergenerational rahmt und Erziehung weiter stattfindet“ (ebd., S. 72). Wie die Ergebnisse der Studie nahelegen, wird in Familien verstärkt beratend erzogen. Die Mehrheit der Heranwachsenden setzt sich gemeinsam mit ihren beratenden Eltern (und insbesondere mit der Mutter) verstärkt mit unterschiedlichen Themen auseinander. Sie führen gemeinsame Gespräche über ihre persönlichen und intimen Befindlichkeiten und über die Welt. Zudem können sie auf einer „Ebene der Performanz“ ihr handwerkliches Können, Hobby, Wissen, Ängste und Unsicherheiten zeigen. Diese Ergebnisse deuten auf starke Zusammenhänge von „Eltern als Beratern“ und einem ausgeprägten elterlichen Interesse am Kind (ebd., S. 161) hin und verweisen auf ein starkes Anerkennungsverhältnis. Erziehung ist hier verstärkt kommunikativ und partnerschaftlich organisiert. Es stellt sich nun die Frage, inwiefern dieses Erziehungsmuster in einem Zusammenhang mit sozialen Bedingungen interpretiert werden kann.

4.2 Erziehung des Beratens: eine Antwort auf spätmoderne Bedingungen Wie gezeigt, verlangen spätmoderne Bedingungen verstärkt nach einem selbstverantwortlichen und selbstreflexiven Selbst. Es stellt sich die Frage, inwiefern eine Erziehung des Beratens diesen Anforderungen entsprechen kann. Professionelle Beratung kann als eine kommunikative Methode angesehen werden, mit deren Hilfe spätmoderne Unsicherheitserfahrungen kompensiert und Lösungen für Probleme erarbeitet werden können (vgl. Duttweiler 2007, S. 59). Beratung gilt nach Dewe als „fall- und sachbezogene[r], aber an sozial anerkannten Mustern der Problembearbeitung orientierte[r] punktuelle[r] Deutungsvorgang individueller, situativ-konkreter Problemlagen“ (Dewe 1996,

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S. 124). Damit ist Beratung ein „in Gesprächsform externalisierter Reflexionsprozess“ (Kraft 2009, S. 46) zweier oder mehr Personen (Beratende/r, Ratsuchende/r), der seinen Ausgangspunkt in einem Problem der/s Ratsuchenden findet, für welches diese/r keine Lösung hat. Das ratsuchende Subjekt benötigt Evaluations- und Deutungswissen, das ihm „hilft, widersprüchliche Sachverhalte und Optionen abzuwägen, Relevanzen zu erkennen und in [seiner] Lebenswelt Prioritäten zu setzen“ (Bergmann et al. 1998, S. 183; d. Verf.). Die Beratenden versuchen, „Verfahrensweisen zur Identifizierung und Operationalisierung von Problemen sowie zur Interpretation von Erfahrungen und Gefühlen“ (Duttweiler 2013, S. 25) bereitzustellen und die Beratenen in einer Enthüllungsoder Geständnisprozedur „aus der Einstellung natürlicher Selbstverständlichkeit in die Einstellung der Reflexion“ (Kraft 2009, S. 46) wechseln zu lassen. Bedingung hierfür ist die Bereitschaft der Ratsuchenden, sich zu öffnen und ihre Gefühle zu verbalisieren (vgl. Illouz 2009). Die Beratungssituation bietet dabei für die Lösung des Problems einen gesonderten, außeralltäglichen Raum, in dessen Rahmen die Beratenen „ein Gefühl der Sicherheit erleben“ (Kraft 2009, S. 49) und ihre „Denkfähigkeiten ungehindert entfalten“ (ebd.) können. Ziel von Beratung ist es nicht, normative und standardisierte Antworten zu geben, sondern sie möchte „lediglich Verfahrensvorschläge zur Operationalisierung von Problemen bereitstellen“ (Duttweiler 2013, S. 24), indem sie z. B. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Beratenen miteinander verknüpft und evaluiert, wie sich vergangenes Verhalten und Entscheidungen gegenwärtig auswirken und die Zukunft beeinflussen könnten. Durch die Beratung sollen die Beratenen lernen und sich letztendlich selbst erziehen: „Der Ratsuchende wählt […] die für sein […] Lernen als hilfreich erachteten Berater selbst aus, er bestimmt die Themen, den Zeitpunkt, den Verlauf, die Dauer und bewertet das Ergebnis. Beratung ist also ein Modus der Selbsterziehung“ (Kraft 2009, S. 52). Beratung zielt „auf die Herstellung beweglicher, auf ihre zukünftigen Möglichkeiten orientierter Subjekte“ (Traue 2013, S. 86) ab, indem sie Autonomie und Entscheidungsfähigkeit durch stete Evaluation und Reflexion zu stärken versucht. Durch den Akt der Responsibilisierung (vgl. Duttweiler 2013, S. 25), der die Verantwortlichkeit für die Letztentscheidung an die Ratsuchenden delegiert, kann Beratung im Sinne Foucaults als „Technologie des Selbst“ beschrieben werden (ebd.; Foucault 1993). Beratung und die ihr inhärente „Vorstellung eines gestaltbaren mentalen und affektiven ,Inneren‘ des Menschen“ (Traue 2010, S. 238) sowie der Selbstverbesserung und Kultivierung des Selbst (vgl. Burkart 2006, S. 21) lässt sich so als Teil von Optimierungsprozessen interpretieren (vgl. Straub 2012). Sie unterstützt die Selbstdisziplinierung, -beobachtung und -führung der Subjekte und unterwirft sie

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damit auch neoliberalen Anrufungen eines unternehmerischen Selbst, welches unter permanentem Druck steht, die richtigen Entscheidungen und Investitionen zu tätigen (vgl. Traue 2010, S. 254; Maasen 2011, S. 19). Sich beraten zu lassen wird zur Schlüsselkompetenz, zur „Regierungstechnologie“ eines beratenen Selbst „in einer neoliberal regierten und neosozial organisierten Gesellschaft“ (ebd., S. 17)7. Hinsichtlich des Zusammenhangs dieser spätmodernen Subjektanforderungen und einer Erziehung des Beratens lässt sich festhalten: 1) Während im Rahmen der Erziehung des Befehlens von einem sich unterordnenden und gehorsamen Subjekt ausgegangen wird, bestimmt bereits die Erziehung des Verhandelns das Subjekt als selbstständig, autonom und in der Lage, einen Standpunkt zu vertreten. Die Erziehung des Beratens knüpft an dem letztgenannten Subjektverständnis an und verstärkt die Bedeutung von Autonomie und Selbstverantwortung. 2) In einer Erziehung des Beratens tritt das Kind als ratsuchendes oder -erhaltendes Subjekt auf und gestaltet damit die Generationendifferenz aktiv mit, indem es die Eltern als BeraterInnen anspricht oder von diesen als zu beratendes Subjekt angesprochen wird, wobei die Folgehandlung ihm überlassen bleibt. Hier finden sich somit einerseits das ausgedrückte Erziehungsziel der Autonomie, und andererseits die Angewiesenheit auf einen Rat, bei gleichzeitigem Anerkennen der Eltern als potenzielle Ratgeber. 3) Wie die professionell Beratenden gegenüber ihren Klienten sind Eltern dazu angehalten, „nicht zu bestimmen, was ihre Kinder tun sollen“ (Ecarius et al. 2017, S. 50), sondern diese im Sinne der Responsibilisierung zu eigenständigem Überlegen, Entscheiden und Handeln anzuleiten (vgl. Duttweiler 2013). Erzieherische Beeinflussung, die individuelle Bedürfnisse berücksichtigt und der am Wohlbefinden der Heranwachsenden gelegen ist, folgt dem Ziel der Autonomie vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Notwendigkeiten der Selbstverantwortung und Optimierung. Dabei gilt es, sich selbst regulieren, Gefühle objektivieren und Einstellungen reflektieren zu können (vgl. Illouz 2009). Im familiären Austausch über unterschiedliche Themen der Selbst- und Weltsicht werden dabei Gefühle und „die Inhalte des Erfahrenen verbalisiert […] und das

7Implizit

wird damit auch der Programmatik des lebenslangen Lernens gefolgt, denn sowohl in professioneller als auch erziehender Beratung wird das Subjekt dazu angeleitet, „sich als Subjekt lernend zu machen und zu führen, damit es sich permanent in neuer Weise in Beziehung zu sich selbst und zu seiner sozialen Welt positionieren kann, Stabilität über dynamische Prozesshaftigkeit des steten Lernens hergestellt wird“ (Ecarius et al. 2017, S. 23).

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Geschehene auf subjektive Missverständnisse hin durchleuchtet“ (Ecarius et al. 2017, S. 165). Eine Erziehung des Beratens, die sich durch stete Kommunikation, Evaluation und Beratung auszeichnet und die dynamische Stabilisierung der Subjekte gewährleistet, fügt sich somit in spätmoderne Bedingungen ein. Sie kann als Mittel dienen, die Familie als „Resonanzhafen“ (Rosa 2016, S. 341) zu gestalten und einen Rahmen der Unterstützung und liebender Anerkennung „derart herzustellen, dass Mutter und Vater zu wichtigen Erziehungs- und Bezugspersonen werden, damit die Bindung Stürmen der Abgrenzung und des Marktes (des Unternehmerischen) sowie Meinungen und Ansichten Anderer standhält“ (Ecarius et al. 2017, S. 157). Damit lassen sich Anrufungen des Unternehmerischen nach Autonomie, Selbstverantwortung und nach Selbstreflexion in diesen familialen Interaktionen und der praktizierten Erziehung des Beratens erkennen.

5 Ausblick In der Zukunft bedarf es an weiteren, qualitativen Untersuchungen, die es nicht nur vermögen, den historischen Wandel hin zu einer Erziehung des Beratens und deren konkrete Praxis aufzuzeigen, sondern auch kritische Aspekte dieser Familienerziehung herauszuarbeiten und zu diskutieren. So stellt sich die Frage, inwiefern eine Erziehung des Beratens unter dem Vorzeichen familiärer Nähe mit der im professionellen Beratungsprozess geforderten objektiven Distanz zu vereinbaren ist. Ob und inwiefern Heranwachsende elterliche Ratschläge annehmen und welche Rolle das Eigeninteresse der Eltern im Rahmen der Beratung spielt, gilt es empirisch zu prüfen. Weiterhin wäre der normierende und normative Gehalt einer Erziehung des Beratens zu analysieren. Inwiefern kann diese als Technik eines elterlichen Monitorings interpretiert werden? Spezifische Aufmerksamkeit gilt es auch Aspekten sozialer Ungleichheit (Gender, Milieu, Ethnizität, Alter) zu schenken. Außerdem wäre eine Erziehung des Beratens hinsichtlich ihres überfordernden Potenzials kritisch in Augenschein zu nehmen. Angesichts aktueller gesellschaftlicher Ansprüche an Eltern und eine kompetente Erziehung, sind diese dazu aufgefordert, sich und ihre Erziehungspraxis stets zu reflektieren und zu optimieren. Die möglicherweise daraus entstehende Überforderung kann in einem erhöhten Bedarf nach Hilfe und Orientierung münden. Inwiefern steht eine Erziehung des Beratens in einem Zusammenhang mit der Notwendigkeit von Eltern sich selbst beraten zu lassen? Hinsichtlich der Effekte für Heranwachsende müsste empirisch

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untersucht werden, was eine Erziehung des Beratens aufgrund ihrer inhärenten Responsibilisierung tatsächlich von Kindern abverlangt: So wäre vorstellbar, dass Prozesse einer verfrühten Verantwortungsübergabe zu einer Überforderung der Heranwachsenden führen könnte. Speziell im Hinblick auf Familien mit jugendlichen Kindern ist von Interesse, wie sich eine Erziehung des Beratens auf die Beziehungsqualität zwischen Eltern und Jugendlichen auswirkt. Zu fragen wäre z. B. nach der Gestaltung von Ablösungsprozessen und nach dem (emotionalen) Bedeutungsgewinn von Eltern und Familie, wie er in aktuellen Jugendstudien derzeit aufgeführt wird (vgl. Shell Deutschland Holding 2015). Letztlich ist eine symmetrische Beziehungskonstellation, wie sie in der Erziehung des Beratens in Erscheinung tritt, dahingehend zu betrachten, ob Kinder auch für ihre Eltern als Ratgeber fungieren.

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Familienzeit als „Inszenierung“? Perspektiven Jugendlicher und ihrer Eltern auf den konjunktiven Erfahrungsraum der Familie Michael Hermes

Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag nimmt Perspektiven Jugendlicher und ihrer Eltern auf die gemeinsam als Familie verbrachte Zeit in den Blick. Im Mittelpunkt stehen Interviewpassagen, in denen die innerfamilialen Beziehungen sowie die gemeinsam als Familie verbrachte Zeit thematisiert werden. In Anlehnung an die praxeologische Forschungsperspektive des „doing family“ wird die Herstellungsleistung der eigenen Familie fokussiert. Rekonstruiert werden im Rahmen eines subjektorientierten Forschungsansatzes exemplarische Interviewauszüge anhand der dokumentarischen Methode. Durch die Rekonstruktionen lässt sich zeigen, dass grundlegende Orientierungen mit dem Erfahrungsraum Familie eng verbunden sind und zugleich die eigene Perspektive auf die Beziehungen in Familie sowie die gemeinsam verbrachte Zeit als Familie prägen. Schlüsselwörter

Familie · Familienzeit · Elternschaft · Jugendliche · Erfahrungsraum ·  Generationenverhältnis

M. Hermes (*)  Kolpingwerk, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Fuchs et al. (Hrsg.), Jugend, Familie und Generationen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24185-8_12

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1 Familienzeit – eine Herstellungsleistung Es sind die bedeutenden Transformationen im Bereich der Arbeitswelt (Änderungen arbeitsrechtlicher Rahmenbedingungen, Wandel zeitlicher Strukturen der Erwerbsbeteiligung von Müttern und Vätern, etc.) sowie der Auswirkungen der Digitalisierung auf den Familienalltag und die Erziehungspraxis von Eltern, die in den vergangenen Jahren exemplarisch für einen Bruchteil der Anforderungen stehen, die auf der gesamtgesellschaftlich-strukturellen Ebene Familien und ihr Zusammenleben beeinflussen. Im Bereich der Forschung haben die Familienwissenschaften darauf mit dem sogenannten „practical turn“ reagiert (vgl. etwa Jurczyk 2014), womit die neuen Herausforderungen an das Familienleben zeitdiagnostisch begründet wurden und die „Herstellungsleistung“ von Familien in den Blickpunkt geriet (vgl. Jurczyk 2018, S. 144). Dieser praxeologischen bzw. handlungsorientierten Perspektive auf die Konstitution von Familie ist jene wissenssoziologische Perspektive nicht fern, mit der Familie nach Karl Mannheim (1980) als ein konjunktiver Erfahrungsraum verstanden werden kann. Familie ist ein Ort zentraler Erfahrungen: Kinder erlernen hier Verhaltensregeln, die in späteren Lebenssituationen von ihnen angewendet werden. Es sind frühe Lebenserfahrungen, die als Maßstab bei der Beurteilung späterer Erfahrungen fungieren. Familial verallgemeinerte Interaktionserfahrungen schaffen Handlungsperspektiven. Alltägliche Interaktion in Familien wird – wie bereits angedeutet – durch gesamtgesellschaftliche Anforderungen beeinflusst, misst sich jedoch auch an normativen Zuschreibungen und Erwartungen. So erfolgt in der Außenperspektive ein Abgleich mit Rollen und Erwartungen. Aus einer Binnenperspektive wird deutlich: Innerfamiliale Interaktion ist Interaktion für die Familie und damit Interaktion für Beziehungen (inter- sowie intragenerational) (vgl. Maiwald 2013). In diesem Zusammenhang sprechen Euteneuer und Uhlendorff von „prekären Balancen“ (2014, S. 727), denn Familienmitglieder müssen den sozialen Innenraum ihrer Familie – im Rahmen von Beziehungsarbeit – sowie ihr Verhältnis zu weiteren Erfahrungsräumen abseits von Familie stetig neu herstellen. Die Alltäglichkeit der Herstellungsleistung der familialen Beziehungen und Interaktionen ist von besonderer Relevanz und gerät nicht selten aus dem (forschenden) Blick: „Oft vorbewusste Routinen und Rituale sind für das Familienleben von herausgehobener Bedeutung, denn sie entlasten von permanenten Entscheidungen, geben dem Alltag Struktur, sie gewährleisten Sicherheit und Kontinuität, und ermöglichen so, manchmal über Generationen, die Reproduktion der familiären Ordnung und Identität“ (Jurczyk 2018, S. 150).

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Wie nehmen Eltern und Jugendliche die Familienzeit in ihrer Familie wahr? Zeigen sich Anforderungen aus einer Außen- und Binnenperspektive? Lassen sich Homologien zwischen grundlegenden Orientierungen und der Perspektive auf den eigenen Erfahrungsraum Familie herausarbeiten? Anhand exemplarischer Fallportraits aus zwei Familien soll im Folgenden aufgezeigt werden, wie Familien gemeinsam verbrachte Zeit generieren und erleben, und dabei die jeweilige „Herstellungsleistung“ ihrer eigenen Familie in den Blick nehmen. Vor dem Hintergrund einer subjektorientierten Forschungsperspektive lässt sich anhand der Rekonstruktion der exemplarischen Interviews aufzeigen, dass sowohl die voraussetzungsvolle Leistung der „Herstellung“ von Familie als auch die Perspektive auf den Erfahrungsraum der eigenen Familie, durch grundlegende Orientierungen bedingt sind, denen im konjunktiven Erfahrungsraum Familie eine handlungsleitende Bedeutung zugeschrieben wird.

2 Konjunktiver Erfahrungsraum Familie Abseits einer Bestimmung von Familie anhand von Strukturmerkmalen wie Familienstand oder Verwandtschaftsbeziehungen vollzieht die subjektorientierte Familienforschung eine Perspektivierung von Familie als Ort persönlicher und intimer Beziehungen. Familie kann somit verstanden werden als ein „gegenseitig aufeinander bezogenes Miteinander verschiedener Generationen“ (Ecarius 2002, S. 37). Insbesondere Familien zeichnen sich durch ein intensives „interaktives Beziehungsgeflecht“ (ebd.) aus. Spezifische Handlungen und Einstellungen der heranwachsenden Generation prägen sich durch eine „tägliche Erfahrung“ (Mannheim und Stewart 1973, S. 141) in Familien aus und machen Familie zu einer bedeutenden Instanz primärer Sozialisation. Für Ecarius (2002) sind mit Blick auf die soziale Binnenstruktur von Familien insbesondere „kognitive Schemata familialer Interaktion“ von Bedeutung: „Die kognitiven Schemata familialer Interaktion zwischen den Generationen sind Ergebnis intergenerationeller Erfahrungen, die über die alltägliche familiale Interaktion immer wieder bestätigt und auch verändert werden. Sie stellen Handlungsmuster bereit und dienen als Handlungsgrundlage für weitere Interaktionen. In ihnen sind Familienthemen eingeflochten, die auch als familiale Aufgaben bezeichnet werden können. Sie haben in jeder Familie andere Inhalte“ (ebd., S. 46).

Es zeigt sich: Existentielle Beziehungen sind die Grundlage jeder Familie. Gleichzeitig konstituiert sich vor dem Hintergrund entsprechender Beziehungen – folgt man Karl Mannheim – ein konjunktiver Erfahrungsraum auf der Grundlage gemeinsamer

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Alltagspraxis (vgl. Bohnsack 2003, S. 62). Nach Mannheim kann jede Art des Erkennens als eine „besondere Art der existentiellen Beziehung“ (1980, S. 205) gefasst werden, welche von ihm als „Kontagion“ (ebd.) bezeichnet wird. Aus der Kontagion bzw. einem seelischen Abtasten zwischen zwei Menschen resultiert eine Beziehung, die „in ihrer Besonderheit stets verschieden und einem jeden Menschen gegenüber eine andere“ (ebd., S. 210 f.) ist. Es entwickelt sich im zeitlichen Verlauf jener Beziehungen eine perspektivische Erfahrung, welche von Mannheim als „konjunktiv“ (ebd., S. 211) bezeichnet wird. Familie verkörpert die Wirklichkeit derjenigen Personen, die an ihr teilhaben, bedingt durch ein „implizites oder stillschweigendes Wissen“ (Bohnsack 2013, S. 179), welches die Familienmitglieder miteinander teilen. Dies kann am Beispiel der Familienerziehung verdeutlicht werden: Wird ein Kind in einen (bereits bestehenden) konjunktiven Erfahrungsraum der Familie hineingeboren, übernimmt es die konjunktiven Wissensbestände der Familienmitglieder bzw. setzt sich dazu ins Verhältnis. Auf der Ebene der Eltern bestimmen konjunktives Wissen und grundlegende Orientierungen darüber, wie die jeweilige Erziehungspraxis ausgestaltet wird (vgl. Hermes 2017, S. 238 ff.). So bestehen beispielsweise homologe Bezüge zwischen konjunktiven Wissensbeständen und der Erziehungspraxis etwa mit Blick auf formale Bildungsorientierungen: Eltern, die in einem hohen Maße an einer möglichst großen Autonomie ihrer Kinder orientiert sind, beziehen diese in die Schulwahl mit ein und ermöglichen es ihren Kindern an schulischen Übergängen eigene Entscheidungen zu treffen. Auf der anderen Seite entscheiden jene Eltern mit Blick auf die Schulwahl eher autoritär, bei denen sich eine hohe formale Bildungsorientierung rekonstruieren lässt (vgl. ebd., S. 225 ff.). So fungiert Familie als ein Möglichkeitsraum (vgl. etwa Büchner und Brake 2006). Mit anderen Worten: Relationale Prozesse und konjunktive Wissensbestände ermöglichen – oder begrenzen – Lern- und Bildungsprozesse innerhalb des Erfahrungsraums Familie und bedingen damit auch die Genese und Realisierung individueller Bildungsorientierungen (vgl. Hermes 2017, S. 271 ff.). Konjunktive Erfahrungsräume basieren auf konjunktiv-gemeinschaftlichen Seinserfahrungen von Menschen. Nach Karl Mannheim kann zwischen seinsgebundenem und seinsverbundenem Denken unterschieden werden: Alles Denken ist unmittelbar mit der Sozialität des Menschen verbunden, was im Begriff der „Seinsgebundenheit“ zum Ausdruck kommt. Der Begriff der „Seinsverbundenheit“ verweist darauf, dass es „im gemeinschaftlichen Denken je spezifische geistige Identitätsmuster gibt, die je nach Gruppierungen oder Milieus differenzieren“ (Jung 2007, S. 139). Familie gründet als ein gruppenspezifischer Erfahrungsraum auf einer unmittelbaren („face-to-face“) Beziehung. Sie ist – als Erfahrungsraum – durchdrungen von weiteren gruppenspezifischen sowie milieuspezifischen Erfahrungsräumen, die nicht auf unmittelbaren Beziehungen, sondern auf

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„strukturidentischen, d. h. homologen Erfahrungen“ (Nohl 2013, S. 50) beruhen. Gemeinschaftliches Denken und kollektive Erfahrungen sind jedoch nicht im Sinne eines Determinismus an die in unterschiedlichen Erfahrungsräumen vorhandenen Wissensbestände gebunden: Sozialität und Offenheit kennzeichnen den Erfahrungsraum Familie; jede konjunktive Erfahrung ist durch „außenweltliche Dinge“ (Mannheim 1980, S. 214) und weitere Erfahrungsräume beeinflusst: „Das Individuum nimmt also in seiner Totalexistenz an verschiedenen Stufen und Kreisen der Gemeinschaften teil“ (ebd., S. 264). Zusammenfassend kann konstatiert werden: „Es sind neben den Orientierungen einzelner Familienmitglieder je individuelle biografische Erfahrungen, die in Familie stetig neu verhandelt werden, im konjunktiven Erfahrungsraum der Familie ineinander übergehen und ihre spezifische Relevanz entfalten“ (Hermes 2017, S. 295). In einem ersten Schritt der empirischen Annäherung an den Erfahrungsraum Familie, rücken somit die konjunktiven Erfahrungen der Familienmitglieder untereinander in den Blick. Vor dem Hintergrund dieser Perspektive möchte ich zusammenfassend drei Aspekte besonders hervorheben: 1. Eine Gruppierung von Familien anhand milieuspezifischer Kategorien ist im Rahmen empirischer Rekonstruktion dann vorzunehmen, wenn – als primärer Schritt – zunächst relationale und biographische Prozesse in den Blick genommen wurden, die im jeweiligen konjunktiven Erfahrungsraum Familie je individuell wirken (vgl. Hermes 2017). 2. Nach Mannheim (1980) basieren konjunktive Erfahrungsräume auf einer „Für-einander-Existenz“ (ebd., S. 214). Aus dieser Perspektive sind selbstverständlich auch Familienformen wie Patchwork- oder Ein-Elternfamilien als „Familie“ zu bezeichnen: Der konjunktive Erfahrungsraum Familie basiert auf dem alltäglichen Zusammenleben der Familienmitglieder, die durch jene grundlegenden Orientierungen und durch ein konjunktives Wissen miteinander verbunden sind, welches ihren konjunktiven Erfahrungsraum der Familie kennzeichnet (vgl. Hermes 2017). 3. Der konjunktive Erfahrungsraum Familie muss alltäglich in gelebten (familialen) Beziehungen hervorgebracht werden und sich zu gesellschaftlichen Gegebenheiten stetig neu ins Verhältnis setzen. Wie genau charakterisieren Eltern und ihre jugendlichen Kinder das Hervorbringen des Erfahrungsraums ihrer Familie? Vor dem Hintergrund des vorliegenden Beitrages rücken – neben den interviewten Eltern – auch Jugendliche

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in den forschenden Blick. Mit der „Entgrenzung“ der Lebensphase Jugend (vgl. Schröer 2017, S. 38) gehen Diskontinuitätserfahrungen einher, die zusätzlich zu strukturellen Übergängen (etwa jenen des Bildungssystems) zu bewältigen sind und nicht selten als bruchhaft erfahren werden (vgl. etwa Hermes 2018). Aufwachsen und Älterwerden kennzeichnen die Generationenbeziehungen auch der Familien, die im empirischen Material dieses Beitrages Berücksichtigung finden. Nähe und Distanz, die immer auch Erziehung und damit die Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern prägen, sind aus der liebenden Anerkennung heraus stets neu verhandlungsbedürftig (vgl. Honneth 2003). Ort dafür ist die Familie als konjunktiver Erfahrungsraum. Die folgenden exemplarischen Rekonstruktionen verorten die Perspektive der Interviewpartner*innen vor dem Hintergrund ihrer grundlegenden Orientierungen, die ihrerseits mit dem konjunktiven Erfahrungsraum der jeweiligen Familie verbunden sind. Zuvor erfolgen jedoch einige Anmerkungen bezüglich des rekonstruktiven Zugangs zum empirischen Material.

3 Empirischer Zugang und Sample Die Auswertung der Interviews erfolgt anhand der dokumentarischen Methode nach Bohnsack (vgl. etwa Bohnsack 2010 sowie 2013), mit der – im Rahmen des vorliegenden Beitrags – auf mikroanalytischer Ebene die Perspektive auf den eigenen Erfahrungsraum Familie herausgearbeitet werden soll. Unter Rückgriff auf die dokumentarische Methode werden Orientierungen rekonstruierbar, welche der Alltagskommunikation zugrunde liegen und handlungsleitend sind, als solche jedoch nicht unmittelbar expliziert werden (können). Von besonderer Bedeutung ist die komparative Analyse, die sich durch die gesamte Forschungspraxis zieht. Sie ist als durchgängige Haltung anzusehen und hat eine erkenntnisgenerierende und erkenntniskotrollierende Funktion (vgl. Nohl 2013, S. 15). Im Rahmen des vorliegenden Beitrags vollzieht sich eine Rekonstruktion des Interviewmaterials durch die formulierende und reflektierende Interpretation. Die Ergebnisse werden anschließend vermittelnd und zusammenfassend in einer Diskursbeschreibung aufeinander bezogen. Rekonstruiert wird, welche Orientierungen jeweils bedeutsam sind und wie vor diesem Hintergrund die gemeinsam als Familie verbrachte Zeit von den interviewten Personen wahrgenommen wird. Interviewinterne, familieninterne und familienübergreifende

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Vergleiche stellen somit – im begrenzten Rahmen dieses Beitrags – den Kern der Auswertung von zwei exemplarischen Familienportraits dar. Ein subjektorientierter Forschungsansatz generiert im Rahmen der qualitativen Familienforschung stets familienspezifisches empirisches Material, welches vor dem Hintergrund der dokumentarischen Methode in Relation steht zu Wissensbeständen weiterer gruppenspezifischer Erfahrungsräume sowie jenen milieubzw. strukturspezifischer Natur (vgl. etwa Bohnsack 2010 sowie Nohl 2013). Im Rahmen des hier vorliegenden Beitrags erfolgt die Rekonstruktion konjunktiver Wissensbestände, die im gruppenspezifischen Erfahrungsraum der eigenen Familie verortet werden und sich in der explizierten Perspektive der Befragten auf diesen beziehen. Die eigene Perspektive auf den Erfahrungsraum Familie ist dabei – so zeigen die exemplarischen Interviewauszüge – nicht losgelöst von grundlegenden Orientierungen zu betrachten, die ihrerseits in den konjunktiven Erfahrungen der Familie verwurzelt sind. Je Familie liegen zwei Interviews vor, die im Jahr 2014 geführt wurden. Es handelt sich dabei um themenzentrierte Interviews mit narrativem Einstieg. Die Interviewpassagen stammen aus dem abgeschlossenen Dissertationsprojekt von Hermes (2017). In dieser Studie werden Bildungsorientierungen im Erfahrungsraum jeweiliger Familien rekonstruiert. Der Studie liegen 23 themenzentrierte Interviews mit insgesamt zehn Familien zugrunde. Interviewt wurden Jugendliche, die sich zum Interviewzeitpunkt in der achten Klasse eines Gymnasiums befinden. Je Familie liegt zudem ein Interview mit mindestens einem (leiblichen) Elternteil vor. Vor dem Hintergrund des vorliegenden Beitrags sind insbesondere jene Fragekomplexe von Bedeutung, die den konjunktiven Erfahrungsraum und insbesondere den familialen Alltag in den Blick nehmen. Die Eltern und ihre jugendlichen Kinder wurden jeweils getrennt voneinander befragt. Für den vorliegenden Beitrag werden exemplarisch jeweils zwei Interviews aus zwei Familien im Rahmen einer komparativen Analyse (vgl. etwa Nohl 2007) ausgewertet.

4 Fallportraits Bevor die Ergebnisse der Rekonstruktion exemplarischer Interviews dargestellt und diskutiert werden, sind die Familien anhand kurzer Portraits in den Blick zu nehmen.

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4.1 Familie Meyer1 Für den vorliegenden Beitrag werden die Interviews mit Max und seinem Vater rekonstruiert. Max ist das jüngste Kind der Familie und hat eine Schwester (Anna), die ein Jahr älter ist als er. Gemeinsam besuchen beide ein städtisches Gymnasium. Die Familie bewohnt ein Reihenhaus in einer deutschen Großstadt. Herr Meyer ist Professor an einer Hochschule, seine Frau arbeitet als examinierte Pflegekraft im Bereich der stationären Pflege. Oft übernimmt sie die Spätschicht, sodass Max und seine Schwester häufig alleine sind, wenn sie von der Schule nach Hause kommen. Zwei Themen ziehen sich durch die Interviews mit Max und seinem Vater. Zum einen werden die schulischen Probleme von Max thematisiert. Schon in der Grundschulzeit kam es zu schulischen Problemen, die von seinen Eltern auf die schlechte Schrift sowie Unlust zu lernen zurückgeführt werden. Hinzu kommt eine logopädische Diagnose und die Tatsache, dass Max in der Grundschule über nur wenige freundschaftliche Kontakte verfügt. Er erhält keine Empfehlung für ein Gymnasium, wird – auf Druck seines Vaters – jedoch an einem Gymnasium aufgenommen, welches sich einige Stadtteile entfernt befindet. Die schulischen Probleme setzen sich auch nach dem Wechsel zum Gymnasium fort. Es fällt Max schwer, Freunde zu finden, zudem hat er mit den formalen schulischen Anforderungen zu kämpfen. Zunehmend zieht sich Max in sein Zimmer zurück, wo er stundenlang PC-Spiele spielt. Darunter leiden seine Eltern sehr. Insbesondere sein Vater äußert sich kritisch und distanziert zu Max und seinen Fähigkeiten. Daran schließt sich ein zweites bedeutsames Thema an, welches die Interviews kennzeichnet: Differenzierungen zwischen Max und seiner Schwester werden vollzogen. Max wird als gelangweilter und antriebsloser Jugendlicher dargestellt. Die Beziehung zwischen den Eltern und ihrem Sohn scheint distanziert. Anders stellt sich die Situation bei Anna dar. Sie wird als eloquent und schulisch erfolgreich beschrieben. Zudem sucht sie zur Freude ihres Vaters proaktiv seinen Rat. Eltern und Tochter verfügen über eine vertrauensvolle und wertschätzende Beziehung.2 Interviews Im Interview mit ihm verweist Max auf die gemeinsamen Unternehmungen der Familie und darauf, dass Mahlzeiten wenn möglich „immer“ (FI-S, Z. 285) gemeinsam eingenommen werden. Er führt aus:

1An

dieser und allen folgenden Stellen der Darstellung und Diskussion der Interviews sind alle Namen, Ortsbezeichnungen o. ä. geändert. 2Für eine ausführlichere Falldarstellung siehe Hermes (2017, S. 114 f.).

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„wir reden auch manchmal einfach nur so beim Essen (.) ich hab ge- bei meinen Freunden essen die zwanzig Minuten, essen auf, räumen ab, gehen weg (.) äh wir sitzen da eine Stunde (.) reden über den Alltag, was so passiert ist und diskutieren auch manchmal Probleme“ (ebd., Z. 300 ff.).

Max grenzt seine eigene Familie von anderen ihm bekannten Familien ab und betont die – aus seiner Sicht – Besonderheit, dass „einfach nur so“ beim Essen geredet wird. Neben alltäglichen Gesprächen werden ihm zufolge dann jedoch auch „Probleme“ besprochen. Für Max ist bedeutsam, dass seine Eltern morgens „ungefähr“ (ebd., Z. 323) zur selben Zeit mit ihm und seiner Schwester aufstehen. Laut ihm hat seine Mutter meistens Spätdienst, verlässt morgens um neun Uhr das Haus und kommt etwa gegen halb sieben abends wieder nach Hause zurück. Das gemeinsame Abendessen (um etwa sieben Uhr) bildet einen Fixpunkt im Tagesablauf, der in der Regel von allen Familienmitgliedern eingehalten wird. Max berichtet, dass er sich nach der Schule zunächst bis zum Abendessen schlafen legt. Nach dem gemeinsamen Abendessen macht dann „jeder was er will“ (ebd., Z. 335). Nach dem Abendessen – so wird deutlich – steht den Familienmitgliedern Zeit für eine individuelle Abendgestaltung zur Verfügung. Bis auf das Spielen am eigenen PC berichtet Max jedoch nicht von Freizeitaktivitäten. Feststehende Termine sind laut ihm nicht vorhanden, sodass er die Zeit zwischen Schulschluss und Abendessen mit Schlafen verbringen kann. Auch am Wochenende stehen bei Max keine festen Termine an. Über außerfamiliale Aktivitäten (Hobbys, Vereinszugehörigkeit, Peergroups) berichtet er nichts. Wochenenden sind in dem Sinne durch ein Zusammensein als Familie geprägt, in dem gemeinsam „besprochen“ (ebd., Z. 341) wird, was unternommen werden soll. Als Beispiele für einen gemeinsam verbrachten Abend berichtet Max von Filmabenden, an denen Pizza bestellt wird, oder vom Spielen von Gesellschaftsspielen nach dem Abendessen. Ein gemeinsamer Abend bedeutet für Max: „wenn wir einen Film gucken zum Beispiel“ (ebd., Z. 352). Für Max ist dies gleichbedeutend mit einer strukturierten Familienzeit, zu der sich alle Familienmitglieder im Untergeschoss des Hauses einfinden (Max und seine Schwester bewohnen eine eigene Etage). Max betont: „wir […] gucken einen Film (.) und danach gehen wir hoch und ist gut“ (ebd., Z. 353 f.). An dieser Interviewpassage lässt sich hervorheben, dass sich Familienzeit für Max durch eine zeitliche und physische Kopräsenz der Familienmitglieder herstellt, die durch einen konkreten Anlass (etwa gemeinsame Mahlzeit oder in diesem Beispiel einen Film anschauen) initiiert wird.

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Für Herrn Meyer ist eine typische Woche in der Familie dadurch gekennzeichnet, dass „die Kinder sehr viel weg sind“ (FI-V, Z. 401). Seine Kinder kommen ihm zufolge – bedingt durch den Nachmittagsunterricht am Gymnasium – erst „sehr spät“ (ebd., Z. 403) nach Hause. Zudem hat seine Frau immer „sehr unterschiedliche Dienste, mal früh, mal spät, mal Wochenende, mal Nacht, sodass dieser Dienst quasi so eingestreut ist, der stört aber den Familienbetrieb nicht“ (ebd., Z. 406 ff.). Dennoch stiften die unterschiedlichen Dienste seiner Frau „viel Chaos“ (ebd., Z. 403), so Herr Meyer, da seine Frau momentan nicht weiß, „wie das mit dem Essen dann eigentlich gehen soll“ (ebd., Z. 404). Die Strukturierung der Mahlzeiten obliegt der Verantwortung der Eltern. Aus Perspektive von Herrn Meyer ist es seine Frau, die im Rahmen des „Familienbetriebs“ die Mahlzeiten zubereitet. Deutlich wird an dieser Stelle auch, dass die Arbeitszeiten seiner Frau aus Sicht von Herrn Meyer in den Alltag des Erfahrungsraums Familie „eingestreut“ sind und den Anforderungen des Familienlebens möglicherweise entgegenstehen. Es zeigt sich eine auffallende Abgrenzung von Familie zu den Settings Schule bzw. Arbeitswelt, die auch in der folgenden Interviewpassage deutlich wird: „ich bin halt entweder in der Hochschule, oder zu Hause, sodass ich das mit ihr auch abspreche = also wenn sie, wenn sie weg ist […] dann bleibe ich auch zu Hause und nutze die Zeit mal alleine zu Hause zu sein“ (ebd., Z. 412 ff.).

An jedem zweiten Wochenende muss Frau Meyer nicht arbeiten, sodass ein solches Wochenende als ein „Familienwochenende“ (ebd., Z. 420) bezeichnet wird, an dem etwas „zu viert“ (ebd., Z. 421) unternommen werden kann. Das tägliche gemeinsame Abendessen wird von Herrn Meyer als „Jour Fixe“ (ebd., Z. 423) bezeichnet. Es stellt damit einen Fixpunkt im Tagesablauf aller Familienmitglieder dar, über den eine Übereinstimmung im Sinne eines familialen common sense existiert, der sich auf eine (elterliche) Strukturierung des Familienalltags bezieht. Im Interviewverlauf wird dieser Aspekt mit der Frage nach dem Ablauf eines gemeinsamen Abends fokussiert. Herr Meyer führt aus: „Ja, das muss man schon inszenieren (.) wenn er abläuft dann also wenn man nichts macht (.) gehen die Leute auf ihre Zimmer, jetzt gerade die Kinder in ihrem Alter (.) wir können aber nach wie vor sagen heute machen wir was“ (ebd., Z. 431 ff.).

Mit dem Begriff der Inszenierung erschließen sich im Rahmen dieser Interviewpassage einige Aspekte des Zusammenlebens der Familie. Zunächst zeigt sich, dass Familienzeit als solche hier in dem Sinne als fluide erscheint, weshalb eine Notwendigkeit der Strukturierung besteht. Ohne Strukturierung durch die Eltern

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findet ein gemeinsamer Abend – so Herr Meyer – nicht statt. Zugleich verweist er auf die eigene Durchsetzungskraft: Trotz des Alters seiner Kinder, greifen elterliche Strukturierungen und bestimmen den Alltag von Max und seiner Schwester. Herrn Meyer zufolge beginnt ein „typischer“ Abend im Kreise der Familie mit einem Grillen, an dem sich das Spielen von Gesellschaftsspielen anschließt. Ausgangspunkt weiterer Aktivitäten ist somit die gemeinsame Mahlzeit der Familienmitglieder. Herr Meyer betont: „das wäre ein typischer Abend, den man als gesellig inszeniert […] unter der Woche gibt es das nicht“ (ebd., Z. 440 f.). Es drängt sich unmittelbar die Frage danach auf, ob ein solcher Abend lediglich als „gesellig“ inszeniert werden muss, weil er es (aus der Perspektive von Herrn Meyer) nicht ist. Aus einer solchen Perspektive heraus müsste die Beziehung zwischen Herrn Meyer und seinen Kindern beziehungsweise seiner Frau genauer in den Blick genommen werden. Vor dem Hintergrund der Fragestellung dieses Beitrages lässt sich jedoch zusammenfassen: Gemeinsame Mahlzeiten sind ein bedeutsames Setting für die Rahmung gemeinsam als Familie verbrachter Zeit und dienen zur Strukturierung des Familienalltags. Bei Familie Meyer wird eine aktive Strukturierung durch die Eltern deutlich, die – so Herr Meyer – nötig ist, da ansonsten intergenerational verbrachte Zeit „kaum noch“ (ebd., Z. 460) ­möglich ist.

4.2 Familie Herzog Die Interviews mit Tamara und ihrer Mutter bilden den empirischen Kern des Portraits zu Familie Herzog. Zu dieser Familie gehören Herr und Frau Herzog sowie ihre drei Kinder Lena (19 Jahre), Louis (16 Jahre) und Tamara (15 Jahre). Tamara und ihr Bruder besuchen ein städtisches Gymnasium, während Lena nach ihrem Abitur (Abschlussnote 1,4) verschiedene Praktika absolviert und sich auf ihr Psychologiestudium vorbereitet. Tamaras Eltern sind Mediziner. Ihre Mutter arbeitet als angestellte Ärztin halbtags in der Palliativstation eines Krankenhauses, das sich in etwa 30 km Entfernung vom Wohnort der Familie befindet. Herr Herzog arbeitet als niedergelassener Psychotherapeut in einer eigenen Praxis, die sich in der Nähe des Mehrfamilienhauses, in dem die Familie lebt, befindet. Bildung (formale als auch informelle) sowie Leistungsorientierung sind wesentliche Themen der durchgeführten Interviews. Tamara hat die achte Klasse mit einem 1,0 Notendurchschnitt abgeschlossen. Sie setzt sich Ziele und schafft es, sie in die Tat umzusetzen. Durch ihre Eltern weiß sie sich unterstützt und verweist darauf, dass Entscheidungen gemeinsam in der Familie getroffen werden. Dies trifft auch auf

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ihr Hobby zu: Tamara spielt Basketball in einer Bundesligamannschaft, was mit einigem Zeitaufwand – auch für ihre Eltern – verbunden ist. Trotz einer Vielzahl an Terminen die alle Familienmitglieder regelmäßig wahrnehmen (müssen) und eines Umbruchs im Zusammenleben als Familie (anstehender Auszug Lenas), bildet die gemeinsame Wohnung für die Familie einen Mittelpunkt, der von allen wertgeschätzt wird.3 Interviews Mit Blick auf ihre Familie verweist Tamara zunächst darauf, dass ihr Vater „ganztägig“ (FIV-T, Z. 79) und ihre Mutter „seit neuestem […] halbtägig“ (ebd.) arbeiten. Zudem führt sie aus, dass ihre Mutter in einem Krankenhaus arbeitet und daher auch manchmal später als geplant nach Hause kommt. Sie betont: „also das kann man ja nie genau so sagen“ (ebd., Z. 81). Morgens verlassen alle fast zeitgleich das Haus und gehen ihrem Alltag nach. Anschließend – so Tamara – kommen „wir halt alle hier hin“ (ebd., Z. 88). Laut Tamara ist das gemeinsame Zuhause ein Ort, an dem die Familie abends zusammenkommt. Aus einer Orientierung am sozialen Miteinander der Familie heraus kann dabei die Partikel „halt“ gedeutet werden: Das Zusammenkommen als Familie ist familialer common sense und damit eine Selbstverständlichkeit, die aus Tamaras Perspektive heraus nicht besonders hervorgehoben werden muss. Neben den Klavierstunden, zu denen ihre Mutter sie wöchentlich mit dem Auto fährt, ist für Tamara ihre Mitgliedschaft im Basketballverein von sehr hoher Bedeutung. Da das Team in der Bundesliga aktiv ist, stehen regelmäßig Spiele auf dem Spielplan, die lange Fahrtzeiten mit sich bringen. Tamara führt aus: „das ist halt viel Fahrerei so für meine Mama, weil mein Bruder spielt Basketball, ich spiel Basketball, dann hab ich noch Klavier […] das heißt das ist extremst weit weg und so und das ist halt viel Fahrerei, aber ich wollte das halt unbedingt und ja dann haben die halt- haben wir uns halt irgendwann dazu entschieden, dass wir das halt machen“ (ebd., Z. 100 ff.).

Tamara nimmt wahr, inwieweit ihre Eltern – insbesondere ihre Mutter – organisatorische/logistische Aufgaben für sie wahrnehmen müssen. Aus einer Orientierung am sozialen Miteinander als Familie heraus, äußert sie ein Verständnis für den Aufwand, den ihre Eltern aufgrund ihres Hobbys auf sich nehmen müssen. Deutlich wird jedoch auch: Familie sein bedeutet für Tamara, die ­Reichweite von Entscheidungen für den gesamten Erfahrungsraum Familie – hier 3Siehe

dazu ausführlicher Hermes (2017, S. 116 f. und insbesondere S. 153 ff.).

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am Beispiel des Eintritts in die Bundesliga-Basketballmannschaft – einzuschätzen und entsprechende Entscheidungen (an der Stelle im Interview korrigiert sich Tamara) gemeinsam zu treffen. Für Frau Herzog ist das gemeinsame Frühstück aller Familienmitglieder von großer Bedeutung. Sie betont: „ganz klar ist, wir frühstücken jeden Morgen zusammen“ (FIV-M, Z. 104 f.). Sie macht das Frühstück, während ihr Mann die Kinder weckt. Nach dem Frühstück „geht jeder so seiner Wege“ (ebd., Z. 113). Die Relevanz der elterlichen Strukturierung der Mahlzeiten ist auch Thema in einer weiteren Interviewpassage, in der Frau Herzog mit Blick auf Tamara und ihren Bruder ausführt: „die haben beide einen Schlüssel, je nachdem wann die heimkommen sind die auch schon mal vor mir da, weil ich leider als Stationsärztin dann nicht immer pünktlich um zwei Uhr alles fallen lassen kann. Ich bemühe mich da zu sein, insbesondere wenn die Tamara Heim kommt (..) ähm (.) dann ja mache ich Essen“ (ebd., Z. 113 ff.).

Anforderungen aus zwei Erfahrungsräumen (dem der Familie sowie der neuen Arbeitsstelle der Mutter)4 werden vor dem Hintergrund einer Orientierung an Familie bearbeitet: Frau Herzog macht deutlich, wie wichtig es ihr ist, zum Mittagessen pünktlich zu Hause zu sein. Sie hebt hervor („insbesondere“), dass dies vor allem dann von Bedeutung ist, wenn Tamara von der Schule nach Hause kommt. Das soziale Miteinander der Familie – gerahmt durch eine Strukturierung des Familienalltags – wird von Frau Herzog auch am Beispiel des Abendessens verdeutlicht. Ihr zufolge hat es sich über die Jahre hinweg „so etabliert“ (ebd., Z. 133), dass auch Tamaras große Schwester ihren Tagesablauf danach ausrichtet, „wann wir essen“ (ebd., Z. 134), so Frau Herzog. Sie führt weiter aus: „dann versuchen wir das irgendwie unter einen Hut zu kriegen, weil diese gemeinsamen Mahlzeiten doch offensichtlich von allen, also teilweise auch ein bisschen durchgedrückt von uns, aber doch von allen unterm Strich glaube ich sehr geschätzt werden, weil das schon so ein Forum ist wo (.) ganz viel erzählt wird […] weil dann auf einmal so Assoziationsketten losbrechen und jeder will dann gleichzeitig erzählen“ (ebd., Z. 135 ff.).

4Auf

die Anforderungen des Settings Schule kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Siehe dazu ausführlich Hermes (2017, S. 176 ff.) sowie zur Thematik von Bildungsorientierungen und elterlichem Schulengagement Buse und Hermes (2019).

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Anforderungen des Alltags sollen so organisiert werden, dass ein gemeinsames Abendessen für alle möglich ist. Frau Herzog bemerkt, dass eine elterliche Strukturierung die Familienmahlzeiten bedingt, ist jedoch auch der Meinung, dass auch ihre Kinder den Wert der gemeinsam verbrachten Zeit erkennen und schätzen. Die Narrationen im konjunktiven Erfahrungsraum der Familie, die durch existenzielle Beziehungen gekennzeichnet ist, vollziehen sich an ausführlichen Gesprächen, in deren Rahmen laut Frau Herzog „Assoziationsketten“ entstehen. In den vorgestellten Interviewpassagen zeigen sich Mahlzeiten ebenfalls als Rahmen für gemeinsam verbrachte Zeit als Familie. Auch Frau Herzog betont eine elterliche Strukturierung dieser Familienzeiten. Rekonstruieren lässt sich jedoch gleichzeitig eine Orientierung am sozialen Binnenraum der Familie, der Frau Herzog – in Abgrenzung zu den Anforderungen der Arbeitswelt – nachkommen will. Tamara nimmt die organisatorischen Leistungen ihrer Eltern wahr und orientiert sich ebenfalls am Miteinander im Erfahrungsraum Familie, in dessen Rahmen auch Entscheidungen von allen – intergenerational – gemeinsam getroffen werden.

4.3 Zusammenfassende Analysen Welche Perspektiven von Jugendlichen und ihren Eltern lassen sich aus den diskutierten Interviewausschnitten herausarbeiten? Zeigen sich homologe Zusammenhänge zwischen der Betrachtung gemeinsamer Familienzeit und grundlegender Orientierungen? Zunächst lässt sich festhalten, dass in den Interviews beider Familien gemeinsame Mahlzeiten als bedeutsamer Fixpunkt in der (elterlichen) Strukturierung des gemeinsamen Familienalltags hervorgehoben werden. Beide interviewten Elternteile verweisen auf die von ihnen intentional strukturierten Anlässe gemeinsam verbrachter Familienzeit. So sind beispielsweise Mahlzeiten ein Anlass dafür, das Zuhause aufzusuchen. Dies ist der Ort, an dem die Familie zusammenkommt und die Familienmitglieder aus Anlass der Mahlzeiten Zeit gemeinsam miteinander verbringen. Mit Blick auf rekonstruierbare Orientierungen zeigen sich jedoch Differenzen zwischen beiden Familien. Bei Max wird eine individuelle Strukturierung des Tagesablaufs deutlich, die einer Orientierung am sozialen Miteinander der Familie entgegensteht und als adoleszente Individuation gedeutet werden kann. Prägnant dokumentiert sich dies in den Ausführungen von Max, in denen er schildert, dass er und seine Schwester sich nach der Schule zunächst schlafen legen, zum Abendbrot kurz mit den Eltern

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zusammenkommen und „dann macht jeder was er will“ (FI-S, Z. 335). Gleichwohl besteht ein familialer common sense über die alltäglichen Tagesabläufe. Auch wenn sich bei Max eine relativ autonome zeitliche Gestaltung herausarbeiten lässt, so ist das Einnehmen gemeinsamer Mahlzeiten eine routinierte Tätigkeit, die als Handlungsmodi der Herstellungsleistung von Familie (vgl. Jurczyk 2018, S. 150) zu erfassen ist und als solche Kontinuität vermittelt. Beide Generationen erfahren dadurch eine gewisse Sicherheit in der Strukturierung des Familienalltags; Herr Meyer bringt dies im Interview mit dem Ausdruck „Jour Fixe“ pointiert zum Ausdruck. Bei Tamara und ihrer Mutter lässt sich eine Orientierung an gemeinsam als Familie verbrachter Zeit rekonstruieren, die an den Interviewpassagen deutlich zutage tritt, an denen beispielsweise der Wert gemeinsam getroffener Entscheidungen betont wird. Auch zeigt sich bei Frau Herzog die Tendenz der Abgrenzung zu den lebensweltlichen Anforderungen der Arbeitswelt. Mit Blick auf Familie betont sie: „ich bemühe mich da zu sein“ (FIV-M, Z. 116) und verweist damit auf die für sie hohe Bedeutung des sozialen Miteinanders im Erfahrungsraum (ihrer) Familie. Wenn Herr Meyer den Ausdruck der „Inszenierung“ wählt, so beruht dies möglichweise auf einem Gefühl dessen, dass keine geteilte Orientierung am sozialen Miteinander als Familie (wie bei Tamara und ihrer Mutter) vorliegt. Demgegenüber steht der Ausdruck des „Forums“, den Tamaras Mutter für gemeinsam verbrachte Zeit wählt, in dessen Rahmen sich bedeutsame Interaktionen zwischen den Familienmitgliedern vollziehen. Familie wird somit zum Ort innerfamilialer Interaktion, die Interaktion ist für Familie und damit für die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander (vgl. Maiwald 2013). Im folgenden Kapitel wird zusammenfassend dargestellt, dass eine funktionalistische Perspektive auf den Erfahrungsraum der eigenen Familie von jener der Kohäsion des Erfahrungsraums zu unterscheiden ist.

5 Erfahrungsraum Familie: Anpassung zwischen Kohäsion und Destruktion Familien müssen in alltäglicher Hervorbringung – im Rahmen von Beziehungsarbeit – „prekäre Balancen“ (Euteneuer und Uhlendorff 2014, S. 727) bearbeiten, die sich aus den Anforderungen verschiedener Erfahrungsräume ergeben. Zugespitzt formuliert vollzieht sich das Finden einer Balance zwischen den Polen (sozialer) Kohäsion oder Destruktion des Erfahrungsraums Familie. Dies zeigt sich etwa am Beispiel von Frau Herzog, deren Orientierung am sozialen Miteinander in der Familie gerade in Abgrenzung zu den Anforderungen des

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Berufslebens hervortritt. Aus ihrer Wahrnehmung heraus ist der Erfahrungsraum ihrer Familie positiv konnotiert: Im Mittelpunkt steht die soziale Kohäsion des Erfahrungsraums, der durch gemeinsam verbrachte Zeit und Investitionen in die intergenerationalen Beziehungen aufrechterhalten werden soll. Demgegenüber kann Herr Meyer seiner Wahrnehmung einer drohenden Destruktion des Erfahrungsraums Familie lediglich die „Inszenierung“ von Familienzeiten entgegensetzen, die ihm zufolge ausschließlich dann „gesellig“ sind, wenn sie als solche von den Eltern inszeniert werden. Aus dieser funktionellen Perspektive heraus kann sich im Ausdruck einer „Inszenierung“ von Familienzeit (vgl. Familie Meyer) ein elterlicher Wunsch dokumentieren, gemeinsame Familienzeit als von allen authentisch wertgeschätzt zu erleben. Die „Inszenierung“ von Familienzeit ist somit ebenfalls als – funktionalistisch aufgeladene – Interaktion für die Beziehungen (vgl. Maiwald 2013) zu verstehen, die im Rahmen elterlicher Strukturierung des Familienalltags einer möglichen Destruktion des Erfahrungsraums Familie entgegengesetzt wird. Damit rücken auch die intergenerationalen Beziehungen in den forschenden Blick, wobei aus der Rekonstruktion intergenerational geteilter Orientierungen keine Rückschlüsse auf die Beziehungen zwischen den Jugendlichen und ihren Eltern gezogen werden können. Herausgearbeitet werden kann, dass handlungsleitende Orientierungen (etwa die der Orientierung am sozialen Miteinander als Familie bei Familie H ­ erzog) die Wahrnehmung gemeinsamer als Familie verbrachter Zeit prägen und sich wiederum auf die Strukturierung des Familienalltags auswirken. Neben den Orientierungen der Familienmitglieder sind es auch individuelle biographische Erfahrungen, die im konjunktiven Erfahrungsraum Familie bearbeitet werden. Aus diesem Grunde ist auch auf die Thematik der Adoleszenz hinzuweisen, die dem vorgestellten empirischen Material gemeinsam ist: Tamara und Max befinden sich in der Lebensphase der Adoleszenz, die jene Entwicklungsprozesse zulässt, „die mit dem Abschied von der Kindheit und der schrittweisen Individuierung im Verhältnis zur Ursprungsfamilie, zu Herkunft und sozialen Kontexten in Zusammenhang stehen“ (King 2013, S. 38). Nach Dornes ist die Zeit der Adoleszenz bei Heranwachsenden durch eine „Gleichzeitigkeit von Konfliktfreude und stabiler Verbundenheit“ (2012, S. 297) gekennzeichnet. Freilich müssen empirische Rekonstruktionen dies berücksichtigen, wenn die intergenerationalen und sozialen Verflechtungen des konjunktiven Erfahrungsraums Familie im Mittelpunkt der Analysen stehen. Insbesondere ist in den Blick zu nehmen, welche Bedeutung der Phase der Adoleszenz im jeweiligen Erfahrungsraum Familie von den Familienmitgliedern beigemessen wird und wie Familie diese Lebensphase mit- und ausgestaltet. In diesem Sinne sind „familiale und adoleszente Dynamiken“

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(Silkenbeumer et al. 2017, S. 343) nicht im Sinne deterministischer Zuschrei­ bungen an das empirische Material heranzutragen, sondern als solche vor dem Hintergrund konjunktiver Wissensbestände im jeweiligen Erfahrungsraum Familie zu rekonstruieren. Homologien zwischen grundlegenden Orientierungen und der Familienerziehung sowie dem Handeln von Familien an Übergängen im Bildungssystem konnten bereits an anderer Stelle herausgearbeitet werden (vgl. Hermes 2017). Im Rahmen dieses Beitrags standen Interviewausschnitte mit Jugendlichen und ihren Eltern aus zwei Familien im Mittelpunkt, deren Rekonstruktionen darauf verweisen, dass die Herstellungsleistung von Familien nicht losgelöst von (handlungsleitenden) Orientierungen der Familienmitglieder betrachtet werden kann.

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Verletzlichkeit als Teil von Familie Perspektiven der erziehungswissenschaftlichen Familienforschung auf Familien in Armutslagen Sabine Andresen Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag stellt die Frage nach sozialer Verletzlichkeit von Familie als System und einzelner Familienmitglieder aufgrund ihrer sozialen Position. Familien in Armutslagen bilden eine Art Brennglas, um die Verletzlichkeit empirisch herausarbeiten zu können. Dies wird auf der Basis einer Untersuchung zu Familien in Armutslagen (vgl. Andresen und Galic, Kinder. Armut. Familie. Alltagsbewältigung und Wege wirksamer Unterstützung, Bertelsmann, Gütersloh, 2015) vorgenommen. Eingeleitet wird der Beitrag mit der Frage nach einer unvermeidlichen Verletzlichkeit, die aber durch soziale Bedingungen verschärft werden kann. Daran anschließend werden nach einer Einführung in die konzeptionelle und methodische Anlage der Studie ausgewählte Schlüsselthemen von Eltern in Armutslagen vorgestellt und diskutiert. Ausgewählt wurde der Blick auf die Persönlichkeit des Kindes, die Sorge um emotionale Belastungen und die Frage nach den Bedürfnissen des Kindes und wie diese erfüllt werden können. Schlüsselwörter

Armut · Erziehung · Familienalltag · Kindheitsforschung · Vulnerabilität/ Verletzlichkeit

S. Andresen (*)  Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Fuchs et al. (Hrsg.), Jugend, Familie und Generationen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24185-8_13

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1 Unvermeidliche Verletzlichkeit – Zur Einführung Jutta Ecarius (2002, 2008) hat Familienforschung systematisch mit dem Erziehungs- und Generationenbegriff verbunden. Dies war und ist für eine erziehungswissenschaftliche Annäherung an Familie und Familienforschung wegweisend. In ihrer Drei-Generationen-Studie zeigt Ecarius (2002) auch die Bedeutung der Weitergabe von Erziehungserfahrungen und -vorstellungen auf. Hier ergeben sich bereits 2002 auch systematische Anschlüsse an Konzepte der transgenerationalen Weitergabe etwa von Gewalterfahrungen, von Einsamkeit, Traumatisierung, aber auch von Liebe und Erfolg in Familiengeschichten und -beziehungen. Als besonders aufschlussreich für die Analyse generationaler Ordnungen in den Arbeiten von Jutta Ecarius sind Erfahrungen mit Erziehung. Schaut man auf Familie im gesellschaftlichen und historischen Kontext, so ist Erziehung ein Phänomen, das die erwachsenen Familienmitglieder selbst als einstige Kinder und Adressat_innen erlebt haben, erinnern oder unbewusst wiederholen. Erziehung bildet aber zugleich in einer Familie mit der jüngeren Generation, also Kindern und Jugendlichen, den Kern alltäglicher Praxis. Erziehung lässt sich in Anlehnung an Ecarius’ Familienforschung als zentrales Phänomen generationaler Ordnung fassen, und hier liegen systematische Schnittpunkte zwischen Familien- und Kindheitsforschung. In den Untersuchungen zu Erziehung über drei Generationen wird die Eingebundenheit der Familienmitglieder in den Lauf der Geschichte rekonstruiert und die damit verbundenen sozialen Positionen analysiert. An diesen Forschungskontext zu Familie ließe sich auch mit familien- und kindheitstheoretischen Fragen sozial bedingten Verletzlichkeiten anschließen. Der vorliegende Beitrag greift dies auf und stellt die Frage nach der Verletzlichkeit von Familie als System und einzelner sozialer Positionen in der Familie. Einen Ausgangspunkt für die hier vorgestellten Überlegungen bilden die Diskussionen zur Vulnerabilität in der Kindheitsforschung (vgl. Andresen et al. 2015). Dabei ist von Interesse, wie Kindheits- und Familienforschung miteinander verflochten sind und welches Erkenntnispotenzial daraus zu ziehen ist. Der Kindheits- und Gewaltforscher David Finkelhor (2008) hat die Ursachen der Verletzlichkeit von Kindern primär darin gesehen, dass sie keinerlei Kontrolle darüber hätten, mit wem sie Leben und ihren Alltag verbringen (vgl. Andresen 2018). Dies trifft insbesondere auf die Familie zu, in die Kinder hineingeboren oder in die sie gegeben werden, etwa als Pflege- oder Adoptivkind. Merkmal dessen ist, dass Kinder keine Möglichkeit haben, sich für oder gegen ihre Familie zu entscheiden. Ähnliches gilt im Prinzip auch für nahezu alle pädagogischen Einrichtungen wie Kindertagesstätte oder Schule, denn auch hier haben Kinder

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selbst in der Regel kaum Mitspracherecht und sie verfügen über wenig Kontrolle, mit welchen anderen Kindern und Erwachsenen sie zusammen sind. Dieser elementare Mangel an Kontrolle über die unmittelbaren Mitmenschen und die erhebliche Begrenzung von Kindern, sich zu entziehen, gehört zu den Ursachen von Verletzlichkeit. Hinzu kommen für Finkelhor (2008) eine generelle entwicklungsbedingte Einschränkung gegenüber Erwachsenen, weil Kinder weniger Wissen und weniger Erfahrungen zur Verfügung haben sowie ein gesellschaftlicher Mangel an Sensibilität für die elementare Abhängigkeit von Kindern. Doch auch die erwachsenen Familienmitglieder sind verletzlich. Zum einen aufgrund der prinzipiellen Ausstattung des Menschen und seiner Anfälligkeit für körperliche, psychische und soziale Angriffe, der Körperlichkeit und Angewiesenheit auf die Erfüllung von Bedürfnissen. Darüber hinaus stellt sich jedoch die Frage nach der besonderen Verletzlichkeit von Familienmitgliedern, aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Familie. So macht die Sorge um die eigenen Kindern Mütter und Väter spezifisch abhängig etwa von einer angemessenen Infrastruktur oder vom Zugang zu medizinischer Versorgung. Sorgeverhältnisse an sich sind demnach auch als Kern von Verletzlichkeit zu deuten (vgl. Rössler 2008a, b). Eltern, Mütter und Väter, erfahren viele Situationen, in denen sie sich Sorgen um ihr Kind machen etwa bei einer Erkrankung, bei Lernschwierigkeiten, wenn die Tochter plötzlich das Verhalten ändert, wenn ein Nacktfoto des eigenen Kindes in den sozialen Medien kursiert, der Sohn abends nicht wie verabredet zuhause ist usw. Schließlich lässt sich auch eine geschlechtertheoretische Sichtweise entfalten etwa im Hinblick auf ökonomische Abhängigkeiten durch eine asymmetrische Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern, Verdienstunterschiede oder Erwartungen, im Betrieb regelmäßig Überstunden zu machen und am Wochenende erreichbar zu sein. Der Beitrag basiert auf diesen kindheits- und familientheoretischen Überlegungen zu Verletzlichkeit primär durch soziale Rahmenbedingungen, die Abhängigkeiten verschärfen oder erst produzieren und Entscheidungs- und Handlungsspielräume einschränken. Dazu wird Vulnerabilität/Verletzlichkeit in Anlehnung an Mackenzie et al. (2014) gefasst. Sie verstehen aus einer feministisch-philosophischen Perspektive menschliches Leben generell als verletzlich, und zwar aufgrund der Körperlichkeit (embodiment) und der Abhängigkeit von Fürsorge durch andere. Darüber hinaus wird in diesem feministischen Ansatz betont, dass Menschen als soziale, emotionale und außerdem politische Wesen stets auch abhängig sind von der unmittelbaren Umgebung, in der sie leben und vom gesellschaftlichen Kontext, in dem sie eingebunden sind. Die Wirkung dieser zentralen Aspekte von Verletzlichkeit treffen Menschen entlang der Generationen-, Geschlechter-, Alters- und ökonomischen Differenz unterschiedlich stark und zudem unterscheidet sich das Ausmaß entlang

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sozialer Kontexte, geographischer Lagen und geopolitischer Strukturen. Hier ist an eine erziehungswissenschaftliche Lesart anzuschließen. Diese stammt von Vera King (2015), für die Vulnerabilität aus der prinzipiellen Asymmetrie zwischen den Generationen und den darin eingelagerten Machtverhältnissen resultiert. In diesem Beitrag geht es vor allem um die Sorgeverhältnisse, durch die Familie als System und Familienmitglieder verletzlich sind, vor allem weil Mütter und Väter über zu wenige materielle oder/und soziale und emotionale Ressourcen verfügen. Verletzlichkeit in Sorgeverhältnissen und durch Sorgebeziehungen wird als für Kindheits- und Familienforschung relevantes Phänomen verstanden. Dies wird auf der Basis einer qualitativen Familienarmutsstudie entfaltet. Nach der Beschreibung des konzeptionellen und methodischen Zugangs, wird an ausgewählten Schlüsselthemen aufgezeigt, wie die Sorge um Kinder und Familie Eltern in eine verletzliche soziale Position bringt. Der Beitrag schließt mit einem fokussierten Fazit.

2 Konzeptioneller und methodischer Zugang zu Verletzlichkeit von Familien am Beispiel einer Studie zu Familien in Armutslagen Für diesen Beitrag und seine Intention wird auf die 2015 veröffentlichte Studie „Kinder – Armut – Familie. Alltagsbewältigung und Wege zu wirksamer Unterstützung“ (Andresen und Galic 2015) zurückgegriffen. Der familientheoretisch angelegte Zugang der empirischen Untersuchung hatte an die Forschung zu Familie als Erziehungsmilieu (u. a. Krinninger et al. 2011) sowie an Studien zu dem Verhältnis zwischen Familien und pädagogischen Institutionen angeschlossen (vgl. Andresen und Richter 2012). Zugrunde gelegt wurde für „Kinder – Armut – Familie“ die Annahme, dass Familien in einer prekären Lebenslage vor unterschiedlichen Herausforderungen stehen und vielfältige Unterstützungsbedarfe haben, etwa wenn eines der Kinder eingeschult wird. Das heißt, die Analyse der Übergänge in Kindheit und Jugend und der damit verbundenen Anforderungen an die gesamte Familie bieten einen konzeptionellen Zugang zur Verletzlichkeit von Familien insgesamt. Aufschlussreich sind hierfür beispielsweise die Untersuchungen aus der angloamerikanischen Forschung zu Bildungsübergängen (etwa Dockett 2014) oder der britischen Familienforschung (vgl. Easton et al. 2012). So verwendet Dockett das Konzept von Familien mit komplexen Unterstützungsbedürfnissen (families with complex support needs). Auf der Basis ihrer Analyse von über 100 Gesprächen mit Familien oder einzelnen Familienmitgliedern in der Phase des Übergangs eines der Kinder in die Grundschule

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betont sie erstens die Bedeutung sich wandelnder Beziehungen für die Familie, zweitens den Mangel an Reputation bzw. Anerkennung etwa in der Schule oder bei Ämtern (power of reputation) und drittens die Herausforderung nicht nur der Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familie, sondern von Haushalt, Erwerbsarbeit und Schule. Diese drei Dimensionen, nämlich Wandel von Beziehungen, Mangel an Reputation und Balancierung der Anforderungen von Haushalt, Familie und Bildungsinstitutionen kennzeichnen den theoretischen Blick auf Familie in der Studie. Damit lässt sich auch an die familiensoziologische Untersuchung von Jurczyk und Klinkhardt (2014) anknüpfen. Deren Analyse repräsentiert den Diskussionsstand der Problematisierung gesellschaftlicher Anforderungen an Familie in ­Deutschland. Der Blick in die internationale Familienforschung etwa in England und Australien zeigt, wie dort das Konzept der multiplen und komplexen Bedürfnisstruktur von Familien zugrunde gelegt wird. Dabei geht es um Familien, die • • • •

multiple Benachteiligungen erfahren, multiple Beeinträchtigungen (auch gesundheitlich) erleben, multiple Widrigkeiten/Schwierigkeiten im Alltag bewältigen müssen, komplexe gesundheitliche Probleme haben.

Durch diesen Zugang soll die Verschränkung unterschiedlicher Bedürfnisse, das Bündel an Herausforderungen im Familienalltag sowie deren Folgen für einzelne Familienmitglieder betrachtet werden. Familien, insbesondere in prekären Lebenslagen, stehen vor umfassenden Herausforderungen, wie auch Jurczyk und Klinkhardt (2014) in ihrer Studie herausarbeiten. Sie betonen zudem eine fehlende Passung zwischen den heutigen Bedürfnissen von Familien und der zur Verfügung stehenden Infrastruktur. Die Verletzlichkeit von Familie als System und einzelner Familienmitglieder aufgrund ihrer sozialen Position sollte über die Vielfalt methodischer Zugänge erfolgen. Es hängt von dem spezifischen Erkenntnisinteresse ab, welches Design gewählt wird. Für die Studie „Kinder – Armut – Familie. Alltagsbewältigung und Wege zu wirksamer Unterstützung“ wurde ein qualitatives Vorgehen gewählt. Die Untersuchung fand in drei Kommunen (Nürnberg, Hagen und Neubrandenburg) statt, die jedoch auf der Basis sozialstatistischer Daten und vorliegender Sozialberichterstattung einbezogen wurden. In jeder Kommune wurden nach einem vorab festgelegten Plan für den Feldzugang qualitative Interviews mit erwachsenen Familienmitgliedern und Familiendiskussionen, an denen auch Kinder teilgenommen haben, durchgeführt. Alle beteiligten Familien lebten in Armutslagen (meist mit SGB II Bezug). Darüber hinaus wurden Gruppendiskussionen mit Fach-

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kräften aus den Kommunen, deren Tätigkeitsfeld in der Unterstützung von Familien in Armut lag, durchgeführt. Ein Bereich der Forschung konzentrierte sich auf die Rekonstruktion von Erfahrungen mit der Unterstützung von Familien in Armutslagen auf kommunaler Ebene. Dabei wurde die Sicht beider Akteursgruppen (Eltern und Professionelle) erhoben und analysiert. Davon ausgehend sollten Barrieren für eine gelingende Unterstützung ebenso herausgearbeitet werden – aus der Sicht der Beteiligten, nämlichen Anbieter und Adressaten der Unterstützung – wie Erfahrungen mit guten Bedingungen und gelingender Unterstützung. Ein zweiter Schwerpunkt der Untersuchung lag auf der Rekonstruktion alltagsrelevanter Themen aus Sicht der Mütter und Väter. Hier ging es maßgeblich um die Frage, wie der Familienalltag hergestellt und bewältigt wird, wenn er durch Armut und Mangel mit geprägt ist. Die Auswertung der Interviews in Anlehnung an die dokumentarische Methode konzentrierte sich auf zentrale Kategorien, wie der Alltag aus der Sicht der Mütter und Väter hergestellt wird und welche Themen von ihnen relevant gemacht werden.

3 Sorge, die verletzlich macht. Wie Mütter und Väter in Armut über ihre Verantwortung den Kindern gegenüber reflektieren1 Sorgebeziehungen adressieren Bedürfnisse. Mütter und Väter sind in der Verantwortung, die Bedürfnisse ihres Kindes zu erkennen und angemessen zu erfüllen, wobei die Spielräume hierfür nicht klar definiert sind. Das heißt, sie sind auf ihre eigenen Deutungen angewiesen, und sie müssen erkennen und verstehen, was Kinder ihnen signalisieren. Dafür haben sie einen unterschiedlich großen Interpretations- und Handlungsspielraum, insbesondere wenn es um die Erfüllung der Bedürfnisse geht. Hier kommt schließlich auch der jeweilige Erziehungsstil zum Tragen: Auch für Eltern in Armutslagen ist die Orientierung an den Bedürfnissen des Kindes maßgebend, in ihrem Alltag jedoch oft sehr herausfordernd aufgrund mangelnder Ressourcen und Spielräume. Ein zentraler Bezugspunkt ist für Mütter und Väter die Persönlichkeit ihres Kindes, auf sie wird in den Interviews wiederholt verwiesen. Wie Eltern die Bedeutung der Kinderpersönlichkeit thematisieren und mit ihrem Handeln in Verbindung bringen, wird als

1Die

Analyse stammt maßgeblich aus dem Forschungsbericht von Andresen und Galic (2015).

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erstes Schlüsselthema in diesem Abschnitt dargelegt. Ein zweites Thema ist der Umgang mit den Gefühlen als Herausforderung im Familienalltag und drittens sollen die Sichtweisen der Mütter und Väter auf die von ihnen wahrgenommenen Bedürfnisse des Kindes rekonstruiert werden. Die Persönlichkeit und die Bedürfnisse der Kinder sowie die emotionalen Aspekte des Familienalltags in einer Armutslage werden hier als wesentliche Teile der Sorgebeziehung und der ­elterlichen Sorgen gefasst.

3.1 Der Einzigartigkeit des Kindes gerecht werden wollen Die Persönlichkeit ihres Kindes korrespondiert für die meisten Eltern mit der Einzigartigkeit ihrer Tochter oder ihres Sohnes. Die Bitte, ihr Kind bzw. ihre Kinder zu beschreiben und zu erzählen, was ihnen an ihrem Kind gefällt, stößt bei nahezu allen Elternteilen im Interview auf eine große Offenheit. Sehr gern erzählen sie von den Leidenschaften oder Besonderheiten ihrer Kinder, berichten von alltäglichen ebenso wie von außerordentlichen Begebenheiten oder lustigen Szenen. Dabei lässt sich auf der Basis der Thematisierung der Persönlichkeit des Kindes vor allem elterlicher Stolz nachzeichnen. Das Gefühl, auf das Kind, seine besonderen Fähigkeiten oder Leistungen stolz sein zu können, lenkt den Blick von Müttern und Vätern. Dieser positive Anschluss an die ­Eltern-Kind-Beziehung bietet nicht nur in einer Interviewsituation gute Zugänge zu elterlichen Interessen und Perspektiven. Darin sind auch wesentliche Ressourcen im Rahmen der sozialen Arbeit mit Familien zu sehen. Nicht zuletzt scheint dieser Zugang die Möglichkeit zu bieten, über Schwierigkeiten, Sorgen und Ängste der Eltern hinsichtlich ihres Kindes zu sprechen: Sei es etwa über eine ADHS-Diagnose und wie diese einzuordnen ist oder sei es über spezifische Herausforderungen im Umgang mit dem Kind und seiner Erziehung. Diese führen die Eltern ursächlich auf bestimmte Entwicklungsphasen zurück, etwa auf die Pubertät oder den Übergang in die Schule. Spätestens bei diesen Themen kommen auch die außerfamiliären Institutionen und deren Bedeutung für die Kinder ins Spiel. Insbesondere sportliche Fähigkeiten und die Begeisterung für eine bestimmte Sportart ist ein Aspekt, über den die Eltern mit Stolz berichten. Gleichzeitig problematisieren sie in dem Zusammenhang ihre fehlenden finanziellen oder zeitlichen Ressourcen. Nicht immer sind sie in der Lage, ihrem Kind beispielsweise eine Vereinsmitgliedschaft zu ermöglichen und ihm so eine Förderung angedeihen zu lassen. Dies nehmen die interviewten Eltern teilweise als persönliches Versagen wahr.

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Besonders in Familien, in denen nicht ausschließlich Deutsch gesprochen wird, weil Familienmitglieder andere Herkunftssprachen haben, sind die Deutschkenntnisse des Kindes eine von den Eltern positiv hervorgehobene Eigenschaft und Teil der Persönlichkeit. Dies ist deshalb besonders bemerkenswert, weil viele frühpädagogische Programme auf die Sprachentwicklung und die Förderung der deutschen Sprache bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern zielen. Der Stolz einer Mutter über die sprachlichen Fähigkeiten ihres Kindes, den sie dem pädagogischen und öffentlichen Diskurs über Sprachdefizite entgegenstellt, zeigt sich exemplarisch in der Aussage einer Mutter mit Migrationshintergrund über ihren Sohn: Frau Klint2: Der hat kluge Kopf. Der ist nicht dumm. (3) Der ist gut mit Mathe. Der kann gut lesen. Der spricht zwei Sprachen. Akzentfrei. Beide Sprachen. Russisch und Deutsch.

Die Begabung des Sohnes und seine umfassenden Fähigkeiten gipfeln darin, dass er beide Sprachen, die der Mutter und die der Mehrheitsgesellschaft, beherrscht und damit auch eine mögliche Brückenfunktion für sie selbst und ihre gesellschaftliche Teilhabe hat. Zwar kann auch sie Deutsch sprechen und sich – wie das Interview zeigt – gut verständigen. In ihrer zweiten Sprache vermag sie ihre Gedanken gut zum Ausdruck zu bringen, was sie besonders betont. Im Unterschied zu ihr spreche der Sohn allerdings ‚akzentfrei‘. So werde er nicht auf seinen Migrationshintergrund reduziert. Frau Klint selbst sieht im akzentfreien Sprechen einen Beleg für die Kompetenzen und die Intelligenz ihres Sohnes. Insgesamt spielt für Frau Klint ihre eigene Herkunft eine große Rolle. Eine positive Identifikation ihres Sohnes als russischer Junge ist ihr wichtig und sie hofft, dass er aufgrund seiner russischen Sprache keine Diskriminierung erfahren wird. Das einzige ‚russische Kind‘ in der Klasse zu sein, macht ihren Sohn in den Augen der Mutter einzigartig, was sie mit Stolz erfüllt. Frau Klint: Und habe ihm gesagt, ‚ach, schau mal, du bist der russische Kind; (2) einzige Kind in ganze Klasse; (2) und du hast‘ (2). Ich war sehr stolz. Ich habe alle Leute erzählt. (lacht)

Das Beispiel von Frau Klint zeigt, wie die Persönlichkeit des Kindes mit Gefühlen ethnischer Identität verbunden und diese als Ressource im Gespräch mit anderen platziert wird. 2Alle

Namen sind anonymisiert.

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Demgegenüber lassen sich anhand der Erzählung einer anderen Mutter, sie wurde hier Frau Bäcker genannt, eher die wahrgenommenen Beschränkungen elterlicher Fördermöglichkeiten und das Eingehen auf die Vorlieben des Kindes rekonstruieren. Sie nutzt die Beschreibung des Hobbys ihrer Tochter erstens um die Unterstützung durch die Sozialarbeiterin deutlich zu machen und zweitens um ihre erzieherischen Herausforderungen zu schildern. Sie muss ihrer Tochter erklären, dass sie auf Unterstützung angewiesen sind und sie ihr allein nicht „so viel kaufen“ kann. Frau Bäcker: Und ab drei Jahre sie fährt mit Pferde. Und Frau W. hat für Valentine ein paar Mal Angebote gemacht. Das kostet teuer. Ein Tag 55 Euro! Pferdereiten. Und die hat einmal vier Tage, einmal eine Woche, ganze Woche. Die freut sich so! Und diese Ferien, Sommerferien, ich habe vier Tage für Valentine gekauft. Und sie hat gesagt, ‚hm, Frau W. für mich eine Woche hat gemacht‘. ‚Aber die vier Tage, Valentine, verstehe, hat mit Geld zu tun; ich kann nicht viel kaufen; Frau W: das hat gemacht, Jugendamt hat bezahlt, aber ich kann nicht für dich so viel kaufen‘.

Einige Kinder lernen etwa durch Ferienfreizeiten oder die Schule ein Hobby kennen und schätzen und bitten ihre Eltern darum, es weiter betreiben zu können. Diese Situationen treten in einer durch Freizeit und non-formale Bildungsangebote stark geprägten Gesellschaft häufig auf. Doch was in Familien, die mit durchschnittlichen oder gar überdurchschnittlichen Ressourcen ausgestattet sind, als erzieherische Aushandlung zwischen Eltern und Kindern stattfindet, scheint in den hier interviewten Familien primär der Logik der nicht zur Verfügung stehenden oder knapp bemessenen Mittel zu folgen. Einem Hobby wie dem Reiten nachgehen, es aus einem Spektrum von anderen Aktivitäten frei wählen zu können oder nicht, ist in erster Linie eine Frage der finanziellen Ressourcen der Familie und damit der familiären Auswahl- und Entscheidungsmöglichkeiten. Einige Eltern machen darüber hinaus die Persönlichkeit ihres Kindes vor allem an deren Kompetenzen und Strategien fest, mit dem finanziellen Mangel umzugehen. Daneben finden sich aber auch andere Thematisierungsweisen, besonders bezogen auf Belastungen, die nicht schnell bewältigt werden können. Hierfür ziehen Eltern teilweise Diagnosen wie ADHS heran, die ihre Besorgnis erregen, oder sie reflektieren besonders sensible Phasen ihres Kindes, wie etwa die Pubertät. Eine Mutter, Frau Walter, berichtet von den Erziehungsproblemen mit ihrer Tochter Dani und thematisiert die Verhaltensauffälligkeiten des Kindes, verbunden mit ihren Beobachtungen, wie das Therapieangebot bei ihr wirkt. Interessant ist an der im Folgenden zitierten Passage der knappe Hinweis, dass Frau Walter ihre Tochter auf die Empfehlung der Schule hin

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für die therapeutischen Gespräche angemeldet hat. Verhaltensauffälligkeiten ihrer Tochter führt die Mutter auf die Pubertät und den Gruppendruck zurück, etwa Markenkleider zu tragen, die sie sich aber nicht leisten könnten. Zu dem Problemkomplex rechnet sie auch Lernschwierigkeiten, denen sie mittels Nachhilfe zu begegnen sucht. Sie identifiziert sich mit ihrer Tochter und fühlt sich selbst adressiert, Lösungen zu finden. Frau Walter: Also haben wir so jetzt so ein bisschen arge Probleme. Und ich merke dass bei Dani auch was fehlt. Das ist definitiv so, nä. Das merkt man in der Pubertät jetzt auch. I: Ja. Frau Walter: Wird sehr anstrengend, nä. Also ich habe/, also gerade in der Schule auch, da. Keine Hausaufgaben. Wurde auch schon ähm von der Schule suspendiert. Wegen auffälliges Verhalten. Also haben wir so jetzt so ein bisschen arge Probleme. Deswegen habe ich auch jetzt wegen Nachhilfe angemeldet. Und (holt tief Luft) habe ich sie auch in der/ bisschen also auch von der Sch/ auf Empfehlung von der Schule aus äh in Psychotherapie jetzt gemacht. Nä? Dass sie eben/ und da ist Gott sei Dank ein Mann. Mit dem quatscht sie wie so ein Wasserfall. Kommt aber heulend raus. Kein Thema. Aber, also es tut ihr gut. Das merke ich. (Nein, das ist so/, da fängt sie sich) auch so ein bisschen. Das ist ja auch das Alter, wo denn ein Teil denn so die Markensachen haben. Können wir nicht. Nä? Also, das ist ganz/ ganz extrem auch so, das merkt man. Nä?, so, geht eben nicht. […] I: Und merken Sie, dass das jetzt mit der Nachhilfe und mit der Therapie ein bisschen besser geworden ist? Frau Walter: Ja. Definitiv.

Die Analyse sensibilisiert dafür, worauf sich die Sorge der Eltern richtet, wenn sie den Eindruck haben, aufgrund der knappen Spielräume der Persönlichkeit ihres Kindes nicht gerecht zu werden. Hier erleben sie sich selbst als ganz besonders abhängig von einer passgenauen Unterstützung für die Kinder oder auch als Erziehungsberatung für sie selbst.

3.2 Umgang mit Gefühlen und Thematisierung emotionaler Belastungen In vielen Interviewpassagen berichten Mütter und Väter davon, wie kompetent ihre Kinder auch schwierige Situationen und Phasen extremer materieller Engpässe bewältigen. Dies ist aufseiten der Eltern auch mit Schuldgefühlen verbunden. Der Blick auf den Alltag in Familien und die damit verbundenen Herausforderungen der Eltern wird stark durch das kindliche Gefühlserleben beeinflusst, das Mütter bzw. Väter wahrnehmen oder dass sie ihren Kindern

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zuschreiben. Eng damit verbunden sind ihre eigenen emotionalen Befindlichkeiten. Frau Dogon, Mutter von fünf Kindern, thematisiert zum Beispiel ihre Hilflosigkeit, die sie angesichts der für die Familie emotional belastenden, weil von Mangel geprägten Wohnsituation empfindet. Sie verweist, so ihre Erzählung im Interview, in Gesprächen mit ihren Kindern auf die Schulden, als deren Verursacher sie den Vater anführt. Werden negative Gefühle der Kinder durch die interviewten Eltern hervorgehoben, so bringen sie diese häufig mit traumatischen Erlebnissen in der Familie oder aber mit einem abwesenden Elternteil in ­Verbindung. Frau Dogon beschreibt und bewertet die materielle Situation der Familie mit Blick auf die Kinder, denen gegenüber sie sich auch zur Rechtfertigung genötigt sieht. Schuldgefühle der Mutter stehen hier im Vordergrund: Frau Dogon: Und die Wohnung ganz alt, Altstadtwohnung, dritte Stock, Dachboden. (Atmet tief ein und aus.) Meine Kinder haben nichts Bett, richtig Bett, nichts. Keine Kleiderschrank und alte Fernseher und, aber ich kann nichts machen. Ich habe (selber?) meine Kinder, ‚ich bin alleine, deine Papa nur Schulden lassen‘.

Die Eltern merken zudem vielfach an, dass ihre Kinder emotional belastet sind, wenn sie die Sorgen der Eltern wahrnehmen und um diese wissen. Kinder sind betroffen von den Ängsten der Eltern und spüren in der Regel, wenn es den Eltern nicht gut geht. Frau Bienzle, Mutter von sechs Kindern, deutet in der unten stehenden Passage an, wie sie versucht, ihre persönlichen Grenzen auch den Kindern gegenüber deutlich zu machen. Ihre erzählte Strategie liegt im offenen Umgang mit Belastungen, damit ihre Kinder wissen, wie es um sie steht. Darüber hinaus beschreibt sie weitere Entlastungsstrategien und verweist auf die sensiblen Reaktionen ihres ältesten Sohnes. Es ist die Sensibilität von Kindern bezogen auf die Situation der Mutter bzw. Eltern, die diese in ihrer Ambivalenz beschäftigt. Auch in diesem Zusammenhang spielen Schuldgefühle eine zentrale Rolle. Gleichwohl betont hier Frau Bienzle, wie sich die Sensibilität der Kinder und besonders des „Großen“ positiv auf den Familienalltag und besonders auf sie persönlich auswirkt: Frau Bienzle: Und die letzten zwei Wochen war das wieder der Fall. Ich kam nicht zur Ruhe und ich habe kaum Schlaf gehabt. Das lag aber auch daran, gestern war der Todestag meiner Schwester. Und wenn ich dann merke, ich kann nicht mehr, dann sage ich das auch. Dann, bis hierhin und nicht weiter. Dann kann ich nicht mehr. Und dann will ich auch nicht mehr. Dann merken aber auch meine Kinder, okay, wir müssen jetzt mal ein bisschen leiser sein; wir gehen jetzt einfach mal ein bisschen spielen. Die Zwillinge verstehen das noch nicht so. (lacht leicht) Aber

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dann merke ich, okay, bis hierhin und nicht weiter. Und dann ist auch Feierabend. Und wenn es dann noch das Wochenende dazu kommt und die Drei sind schon mal bei ihrem Papa, dann habe ich immer noch meinen Großen. Und der sagt dann zu meinem Freund, ‚und wir gehen jetzt mit den Zwillingen nach draußen und Mama hat dann‘/. DANN kann ich mich, egal was, in die Badewanne legen oder ins Bett legen. Dann kann ich schlafen.

Die Fürsorge eines Kindes für die Mutter oder für jüngere Geschwister ist in vielen Interviews Gegenstand der Erzählungen. Die Feinfühligkeit der Kinder gerade für bedrückende Situationen und ihr Wunsch, den Eltern eine Freude zu machen, werden von diesen in der Regel wahrgenommen. Gleichzeitig werden dadurch ambivalente elterliche Gefühle hervorgerufen, die Kinder emotional zu sehr zu belasten. Die Kinder hingegen zeigen ihr Bedürfnis, die Mutter zu entlasten und ihr oder der ganzen Familie etwas Schönes einzukaufen, wenn sie Geld hätten. Dies wird in einem Familieninterview deutlich, in dem die Kinder gefragt werden, was sie denn mit mehr Geld machen würden: I: Was würdet ihr mit dem Geld machen? Kind der Familie Amsel: Ich würde damit einkaufen. Für Mutti. Dass wir mit essen können.

Auch in anderen Studien zeigt sich: Kinder versuchen empathisch auf die prekäre Situation in ihrer Familie zu reagieren, indem sie nach eigenen Handlungsmöglichkeiten suchen und nach Wegen, ihre Eltern zu unterstützen (vgl. Andresen et al. 2013). Diese emotionale Sensibilität der Kinder kann den Familienalltag insbesondere in belastenden Situationen mit prägen und gestalten. Solche Verantwortungsübernahmen der Kinder im Sinne einer fürsorglichen Haltung etwa für die Mutter führen zu speziellen Kindheitserfahrungen. Sie müssen aber nicht dramatisiert werden, weil diese Erfahrungen nicht zwangsläufig zu einer Einschränkung kindlicher Entwicklung führen. Möglicherweise erleben sich Kinder in dieser Situation durchaus auch als handlungsfähig, gleichwohl ist die Sorge um Geld bei Erwachsenen und Kindern in den Familieninterviews deutlich. Die Frage, die sich darüber hinaus stellt, ist die nach den damit verbundenen Gefühlen der Eltern. Für sie ist die erfahrene Fürsorge der Kinder aufgrund der multiplen, besonders aber hinsichtlich der dominanten finanziellen Belastungen eine emotionale und persönliche Herausforderung. Aufseiten der Kinder kann es aber auch zu ganz praktischen Hilfestellungen im Familienalltag kommen, etwa beim Ausfüllen von Formularen oder bei schulischen Angelegenheiten von jüngeren Geschwistern. Frau Dogon beschreibt, wie die ältere Tochter die jüngeren Geschwister bei den Hausaufgaben betreut

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und darüber hinaus administrative Aufgaben erledigt. Für die Mutter ist sie dadurch eine unverzichtbare Unterstützung. I: Okay. Also das heißt, sie ist sozusagen die Unterstützung dann bei den Hausaufgaben für die Kleineren. Frau Dogan: Ja. Oder Papier. Wenn nicht weiß, äh, schicken, weißt du, den Bescheid. Oder wenn kommt Brief und so, dann äh. Weil meine Tochter doch Ausbildung drei Jahre, nä, Bürokauffrau. Denn sie weiß alles und sie uns viel helfen.

Neben der Thematik von Verantwortungsübernahme und Fürsorge der Kinder für Eltern oder Geschwister ist die elterliche Sensibilität häufig dadurch gefordert, dass sie miterleben, wie ihre Kinder erfahrene Stigmatisierungen verarbeiten. Dieses Thema spricht Frau Bienzle bezogen auf ihren ältesten Sohn an. Frau Bienzle: Mein Sohn. Mein gro/ mein Ältester. Jeden Tag auf’s Neue. Der versteckt morgens seine Frühstücksbrote, weil er in der Schule verhauen wird, weil er Brote mit hat und kein Geld.

Neben der von der Mutter wahrgenommenen und problematisierten Strategie des Sohnes, wird an diesem Interviewauszug deutlich, wie weitreichend Schule die Alltagsorganisation jenseits von Bildungsangelegenheiten tangiert und wie stark sie die allgemeine Wahrnehmung mitbestimmt. Auch das Jugendamt als ‚drohende‘ Instanz ist in manchen Sorge-Beziehungen ein relevantes Thema, wie das Interview mit Frau Klang zeigt. Frau Klang: Ja.// Die merken das. Die fra/. Meine Große zum/, die fragt immer, ‚Papa, wieso ist das so‘. Und er muss dann halt eine Erklär/. Die merkt das, dass irgendwas mit uns nicht stimmt. Die kommt ja immer. ‚Mama, ist irgendwas; Mama, komm ich ins Heim‘. Ich so, ‚NEIN‘, ich so, ‚wie kommst du denn DA drauf‘. ‚Ja, Mama, die und die hat das gesagt‘. Ich so, ‚nein, ich pack’ euch nicht ins Heim‘. Ich so, ‚Mama und Papa geht’s im Moment einfach nicht gut‘. Ja, und dann versteht sie das auch, nä. Aber ich kann ihr ja nicht sagen, warum.

Noch in der Erzählung wirkt Frau Klang erschrocken über die Fragen des Kindes. Sie versucht angemessen und kindgemäß auf die Ängste ihrer Tochter zu reagieren und diese zu beruhigen, ohne sie detailliert in ihre eigenen Sorgen einzuweihen. Wie Eltern ihren Kindern schwierige Situationen der Familie, materielle Beschränkungen oder aber Reaktionen von Kindern oder Erwachsenen in der Schule erklären, kann sich erheblich auf den Familienalltag auswirken. Zumindest wird in den Interviews deutlich, dass dies die Mütter und Väter stark beschäftigt und sie darum ringen, die richtige ‚Sprache‘ für ihr Kind zu

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finden. Vor diesem Hintergrund wird noch einmal besonders deutlich, welche Erziehungsprobleme Eltern in prekären Lebenslagen im Kopf haben, wenn sie sich mehr Unterstützung wünschen (vgl. Diakonisches Werk der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig und Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz 2011). Die Herausforderung von Erziehung liegt etwa darin, Kindern schwierige Situationen wie Arbeitslosigkeit zu erklären, auf die damit möglicherweise verbundenen Ängste der Kinder zu reagieren und die eigenen Gefühle angemessen zu zeigen.

3.3 Bedürfnisse des Kindes Die Sichtweise der Eltern auf kindliche Bedürfnisse hängt eng mit den wahrgenommenen emotionalen Belastungen zusammen. Vor allem aus der Sicht der Mütter beeinflussen die Herausforderungen der Alltagsorganisation die Sichtweisen auf kindliche Bedürfnisse. Ein sehr großer Themenkomplex ist in diesem Zusammenhang die Versorgung von Kindern bei beruflich bedingter Abwesenheit der Mütter. In den Interviews ragt das schlechte Gewissen der Mütter, möglicherweise den Bedürfnissen der Kinder nicht gerecht zu werden, in die Gesamtproblematik der Koordination von Kindererziehung und Erwerbstätigkeit hinein. Dies wird dann verschärft, wenn es Schwierigkeiten in den Betreuungseinrichtungen gibt oder das Kind bestimmte Probleme bzw. Auffälligkeiten ausbildet. Die Mütter interpretieren dies häufig zu ihren eigenen Ungunsten. Sie artikulieren das Gefühl und ihr schlechtes Gewissen, die kindlichen Bedürfnisse nicht ausreichend zu berücksichtigen. So entsteht eine nur schwer zu durchbrechende Dynamik, wie die Erzählung von Frau Philips belegt, deren Sohn ab sechs Uhr morgens außerfamiliär betreut werden musste: Frau Philips: Sechs war er da. Mhm. Ich hatte vorher gehabt eine 40 ­StundenWoche. Ging gar nicht. Also er ist aggressiv geworden. Sehr aggressiv. Er hat auch, wie gesagt, im Kindergarten ganz doll nachgelassen. (holt tief Luft). Ja. Da ging es teilweise so, sage ich mal, halt eben wie Kinder so untereinander sind, aber zuhause war ganz schlimm. Ganz, ganz schlimm. Also ich konnte mir da anhören, wie ‚du hast mich nicht mehr lieb; ich hasse dich‘. […] Musste ich nachher kündigen. Weil, war nicht mehr möglich. Er fing dann auch wieder an einzunässen. (holt tief Luft) Sich die Haare rauszuziehen, selber, ja, Wunden zuzufügen, um einfach Aufmerksamkeit, nä. Und dann habe ich aufgehört zu arbeiten. War dann wieder zuhause für ihn. Und denn, ja, innerhalb von zwei Wochen, es war wieder nicht da/ das liebste, artigste Kind, so wie ich ihn eigentlich kannte, nä.

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Eng verbunden mit individuellen Merkmalen des Kindes sind besondere Bedürfnisse aufgrund körperlicher oder geistiger Einschränkungen oder Behinderungen. Dabei geht es wiederum vor allem den Müttern um die Frage, wie sie diesen Bedürfnissen gerecht werden, wer welche Verantwortung trägt und wie sie die Bedürfnisse des Kindes in den Familienalltag integrieren können. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Freizeitgestaltung der Kinder, insbesondere die Möglichkeit, Sportangebote zu nutzen. Immer wieder verhandeln Eltern in den Einzelinterviews und Kinder in den Familiendiskussionen die erlebten Beschränkungen bei der Teilhabe an Freizeitmöglichkeiten, die sie zu den Bedürfnissen des Kindes zählen. Auch in diesem Kontext zeigen sich bei den Kindern fürsorgliche, aber höchst ambivalente Sichtweisen auf die Ressourcen der Familie. Einerseits wünschen sie sich vielfach, einen bestimmten Sport treiben zu können und wollen wie andere Gleichaltrige – die dazu passende Ausrüstung, z. B. Fußballschuhe. Andererseits unterdrücken sie oftmals dieses Bedürfnis, wohl wissend, dass der finanzielle Spielraum der Familie dafür zu eng ist. Im Familieninterview mit Familie Amsel geht es in diesem Sinne um das Hobby des Kindes. Mutter Amsel: Na, dein Hobby wäre Basketball. Du würdest zum Basketball da gehen. Warum gehst du nicht zum Basketball? Weil es zu teuer ist. Kind der Familie Amsel: Weil ich es nicht kann. Weil es zu teuer ist.

Durch die hohen Kosten bleiben Zugänge verwehrt, die Ausbildung von Fertigkeiten in diesem Feld bleibt aus. Das Kind in diesem kurzen Interviewauszug verweist auf beides, es kann nicht spielen, weil es keine Möglichkeit zur praktischen Übung hat und es kann nicht teilhaben, weil das Geld fehlt. Gerade in den Familieninterviews kommen die unerfüllten Wünsche der Kinder zur Sprache, mit denen die Eltern im Alltag immer wieder konfrontiert sind und zu denen sie sich verhalten müssen. Tochter der Familie Bohn: Diese schwarzen Stiefel, die halt so, also die. I: Ja. Tochter: Ähm, na ja, aber nicht nur schwarz, aber halt mit den Schnürsenkeln. […] I: Hast du auch solche? Tochter: (leise) Noch nicht. Mutter der Familie Bohn: (sehr leise) Noch nicht. I: Magst du solche haben? Tochter: Ja! Mutter: Die soll sie auch bekommen, wenn sich unsere Probleme so ein bisschen lösen. Also es ist, nä, es müssen halt momentan alle so ein bisschen leiden. (3)

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Familie Bohn verhandelt den unerfüllten Wunsch nach den schwarzen Stiefeln als Ausdruck der aktuellen prekären Situation und gibt der Hoffnung Ausdruck, dass es sich um eine vorübergehende Phase handelt, in der sich alle einschränken müssen. Die Eltern erbitten von ihrer Tochter Geduld, geben ihr das Versprechen, den Wunsch erfüllt zu bekommen, wenn die Probleme gelöst sind. Hier zeigt sich, dass die Verhandlungsthemen der Erziehung in Armutslagen sehr stark auf den Mangel gerichtet sind. Kinder müssen angehalten werden, die Erfüllung ihrer Wünsche, die Befriedigung ihrer Bedürfnisse aufzuschieben. Das muss keine negativen Folgen für die Entfaltung der Kinder haben, zeigt aber wiederum die strukturell bedingte Verletzlichkeit von Sorge- und Erziehungsbeziehungen in Armutslagen.

4 Familien in Armutslagen als Bezugspunkt zur systematischen Reflexion über Verletzlichkeit Ausgangspunkt dieses Beitrags ist die Frage nach der strukturell bedingten Verletzlichkeit von Familien und Familienmitgliedern in ihrer Rolle, wenn die Familie arm ist und finanzieller Mangel den Alltag prägt. Die Sorge der Eltern ist anhand der drei Schlüsselthemen herausgearbeitet worden. Diese bezieht sich auf die Persönlichkeit und Interesse des Kindes, auf die Gefühle, die mit Mangelerfahrungen einhergehen können sowie auf Bedürfnisse, auch materielle Bedürfnisse des Kindes. Dabei zeigt sich Verletzlichkeit durch die engen Handlungsspielräume der erwachsenen Familienmitglieder in der Gestaltung ihrer Erziehung und der Handlungsspielräume der Kinder, etwa wenn sie einem Hobby nicht nachgehen können oder wenn sie versuchen, auf die Sorgen ihrer Eltern Rücksicht zu nehmen. Kinder aus Familien in prekären Lebenslagen ebenso wie ihre Eltern sind unentwegt mit Konsumreizen konfrontiert. Aufgrund prekärer finanzieller Verhältnisse ist der Alltag mehr noch als in durchschnittlich versorgten oder privilegierten Familienhaushalten durch Beschränkungen und das Zurückweisen von Wünschen geprägt. Für Kinder bedeutet es eine Herausforderung, im Vergleich mit Gleichaltrigen mit begrenzteren Konsummöglichkeiten umzugehen. Am Beispiel der schwarzen Schnürstiefel, die sich die Tochter der Familie Bohn wünscht, zeigt sich wie Bedürfnisbefriedigung aufgeschoben wird. Die Jugendliche wird um Geduld und auch Verständnis für die soziale Lage der Familie gebeten und somit in bestimmte Bereiche des elterlichen Nachdenkens, der elterlichen Sorgen einbezogen. Künftig wird die Jugendliche möglicherweise zögern, welche Wünsche, insbesondere Konsumwünsche sie artikuliert und welche sie

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wissentlich verschweigt, um die Eltern nicht in eine Rechtfertigungssituation zu bringen. Hierin liegen weiterführende Anknüpfungspunkte für eine familientheoretische Analyse von Armut, Sorge und Verletzlichkeit. Diese muss sich ebenso auf Rollendiffusion aufgrund mangelnder Spielräume richten wie auf die Frage nach den Gefühlen, die dem Alltag der Familie eine bestimmte Färbung geben und die Sorgebeziehung charakterisieren.

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Familienerziehung im ländlichen Raum – Das Beispiel der Familie Tanner Hans-Rüdiger Müller

Zusammenfassung

Ausgehend von der Feststellung, dass im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs über Elternschaft vor allem das hohe Ausmaß an Belastungen und eine ebenso straffe wie individuell zugeschnittene, häufig mit einem hohen Stresslevel verbundene Lebenspraxis als typisch für junge Familien in der Bundesrepublik behauptet werden, stellt der Beitrag anhand einer westdeutschen Familie, die auf dem Lande lebt, einen zu den gängigen Vorstellungen in Kontrast stehenden, gleichwohl zukunftsträchtigen Fall dar. In ihm verbinden sich traditionale Elemente eines Familienlebens im dörflichen Milieu mit einer starken Aufgeschlossenheit für innovative berufliche Arbeitsformen, die einen relativ entspannten Ausgleich von erfolgreichem Berufsleben und familialen Bedürfnissen nach Nähe und Aufmerksamkeit bei hoher Zufriedenheit aller Mitglieder der Familie ermöglichen. Der vorgestellte Fall stammt aus einem von der DFG geförderten Forschungsprojekt zur „Familienerziehung im Generationenvergleich“. Schlüsselwörter

Familienerziehung · Familie · Leben auf dem Lande · Familienkultur ·  Elternschaft · Work-Life-Balance · Creative Economy · Erziehungspraktiken ·  Generationenverhältnisse · Großeltern

H.-R. Müller (*)  Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Fuchs et al. (Hrsg.), Jugend, Familie und Generationen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24185-8_14

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1 Einleitung In Wissenschaft und Politik findet man gegenwärtig die verbreitete Auffassung, dass junge Eltern heute unter einem besonderen Druck stehen. Empirische Befunde zu einer überforderten Elterngeneration, deren Familienphase sich in einem engen biografischen Zeitraum mit der Etablierung beider Eltern im Berufsleben überschneidet (vgl. Bertram und Deuflhard 2015; Lutz 2012), stützen diesen Eindruck. Einerseits verschiebt sich durch längere Qualifikationsphasen und späten Berufseintritt (für Frauen ebenso wie für Männer) der biografische Zeitpunkt der Familiengründung und die Geburt des ersten Kindes deutlich in das vierte Lebensjahrzehnt, andererseits verlangt die veränderte Arbeitswelt ein starkes Engagement und eine ausgeprägte zeitliche und räumliche Flexibilität beim Aufbau der Berufskarrieren beider Partner (vgl. Jurczyk et al. 2009). Hinzu kommt, dass aufgrund bildungspolitischer Maßnahmen zur Entkoppelung von Bildungserfolg und sozialer Herkunft der Schulkinder auch die Qualität der familialen Kinderbetreuung unter besonderer Beobachtung steht. Von den heutigen Eltern wird erwartet, dass sie sich bemühen, ihren Kindern die bestmöglichen Voraussetzungen für einen Erfolg im Bildungssystem zu bieten bzw. dort, wo dieses Bemühen an Grenzen stößt, sich aktiv an einer Kooperation mit Institutionen des Bildungssystems zum Zwecke der Kompensation oder Prävention von Leistungsschwächen zu beteiligen (vgl. Fegter et al. 2015). Erforderlich werden so mehr oder weniger kunstvoll auf den je individuellen Bedarf zugeschnittene Betreuungsarrangements, die es den sich dynamisch wandelnden familialen Lebenskonstellationen anzupassen gilt. Aus gesellschaftstheoretischer Perspektive fügen sich diese Befunde in unterschiedliche sozialstrukturelle Kontexte ein. Folgt man der kürzlich von Reckwitz (2017) vorgelegten Gesellschaftsanalyse, dann konzentrieren sich diese sozialstrukturellen Konstellationen mehr und mehr auf zwei Pole: Die weitgehend akademisch gebildete, auf erfolgreiche Selbstverwirklichung und kulturelle Besonderung ausgerichtete, mit einem vorwiegend urbanem Lebensstil in ausgewählten Stadtvierteln ansässige ‚neue Mittelklasse‘ und die von sozialem Abstieg bzw. von prekären Lebensverhältnissen betroffene, kulturell entwertete (und daher umso mehr auf traditionale kollektive Identitätsanker angewiesene), in den kulturell weniger hoch bewerteten Stadtvierteln oder ländlichen Regionen beheimatete soziale ‚Unterklasse‘. Zwischen beiden Klassen liegt die ‚alte Mittelklasse‘ der ausgehenden Industriegesellschaft, die sich einerseits mit ihrem klassisch-modernen, auf Leistungsstandards und Arbeitstugenden ausgelegten Habitus gegen einen kulturalisierten, den individuellen

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Erfolg mit einer persönlichen Lebenskunst verbindenden Lebensstil der neuen Mittelklasse abgrenzt und sich andererseits vom Abstieg in die neue Unterklasse bedroht sieht, die nicht nur materiell benachteiligt, sondern vor allem auch kulturell entwertet scheint. Während die Familie der neuen Mittelklasse die Last der erfolgreichen ‚Kulturalisierung‘ und ‚Valorisierung‘ ihres Lebensstils von der Wahl der richtigen Wohnumgebung, über die Esskultur, die Reisekultur und die Bewegungskultur und die der Einzigartigkeit des Kindes angemessenen Schulkultur zu tragen und in immer wieder neuen performativen Auftritten zu bewältigen hat (vgl. ebd., S. 308), muss die Familie der alten Mittelklasse sich darum sorgen, mit ihren tradierten Praktiken des Primats beruflicher Verpflichtungen, der an allgemeinen Werten orientierten Lebensführung und der von Prinzipien geleiteten Erziehung ihrer Kinder, nicht vom Lauf der Zeit abgehängt zu werden. Das sind in dieser Kürze (und auf dem Abstraktionslevel sozialstrukturelle Analysen) gewiss holzschnittartige Charakterisierungen, aber sie prägen ein Bild von Familie, das sich im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs rasch festzusetzen beginnt, wenn nicht auf der Ebene konkreter empirischer Untersuchungen Hinweise zu einer differenzierenden Sicht gegeben werden. Daher soll es in diesem Beitrag darum gehen, den Fall einer Familie vorzustellen, der sich gegen solche groben Charakterisierungen eher sperrig erweist und dazu auffordert, familiale Lebenspraxen auch quer zu den gängigen Klassifizierungen zu rekonstruieren – durchaus im Sinne der von Jutta Ecarius schon vor über zehn Jahren betonten Notwendigkeit, Familie als Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Diskurse „gegen den Strich zu bürsten“ (Ecarius 2007, S. 10).

2 Fallbeispiel „Familie Tanner“ Der im Folgenden analysierte Fall stammt aus einem Sample von 36 anhand von leitfadengestützten biografischen Interviews nach ihren Erziehungspraxen und alltagstheoretischen Entwicklungsvorstellungen befragten Elternpaaren.1

1Das

Forschungsprojekt trägt den Titel „Familienerziehung im Generationenvergleich. Eine Studie zu Erziehungspraxen und alltagstheoretischen Entwicklungskonzepten ost- und westdeutscher Väter und Mütter zweier Elterngenerationen“ und wird seit 2017 unter der Leitung des Verfassers im Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Osnabrück durchgeführt (gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, DFG-Fördernummer MU 1450/9-1). Der Verfasser dankt den ProjektmitarbeiterInnen Sylvia Jäde und Christoph Kairies für anregende Hinweise im Rahmen der Materialauswertung.

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Das Sample ist nach den Merkmalsdimensionen Generationenzugehörigkeit (heutige Eltern- und Großelterngeneration) und geografische Lage (Stadt/ Land; Ost-/Westdeutschland) differenziert. Die Auswertung der Interviews erfolgt nach der Dokumentarischen Methode. Das Forschungsinteresse richtet sich in diesem Projekt insbesondere auf die Frage, wie sich die Erziehungspraxen der Verhandlungsfamilie in der ersten und der zweiten elterlichen ‚Verhandlungsgeneration‘ voneinander unterscheiden und in welchen Bezügen diese Differenzen zum g­esellschaftlich-kulturellen Wandel in Deutschland stehen. Im Rahmen dieses Beitrags beziehen sich die Betrachtungen allein auf eine Familie aus der aktuellen Elterngeneration, die in einem Dorf in der Nähe einer mittelgroßen Stadt in Westdeutschland lebt.

2.1 Familie Tanner Die Familie Tanner besteht im Kern aus dem Elternpaar Thorsten (46 Jahre) und Tanja Tanner (45 Jahre) und ihrem Sohn Tim (7 Jahre), mit dem sie in einem geräumigen und ‚gehoben‘ ausgestattetem Einfamilienhaus leben. In dem Haus ist auch die IT-Firma von Herrn Tanner untergebracht. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite wohnen die Eltern von Herrn Tanner. Thorsten Tanner ist seit seinem Fachabitur in der IT-Branche selbstständig tätig und beschäftigt inzwischen in seiner Firma mehrere Angestellte. Frau Tanner hat nach dem Abitur eine kaufmännische Ausbildung absolviert und arbeitet in ihrem Beruf als Angestellte im Betrieb ihres Mannes. Tim geht in die zweite Klasse der örtlichen Grundschule. Die Familie wohnt in dem Dorf, in dem Thorsten Tanner geboren und aufgewachsen ist, ebenso wie seine Eltern beide in diesem Ort geboren wurden, aufwuchsen und bis heute leben. Sein Vater war Prokurist und Außendienst-Mitarbeiter in einem Betrieb, sein Großvater väterlicherseits Landwirt und nach dem Krieg sieben Jahre lang Bürgermeister des Ortes. Sein Großvater mütterlicherseits ist im Zweiten Weltkrieg gefallen; seine Großmutter hat nach dem Krieg alleine die Gastwirtschaft der Familie mit angeschlossenem Lebensmittelgeschäft und kleiner Bäckerei fortgeführt. Nicht nur Thorsten Tanner sondern auch seine Frau Tanja stammen aus einem ländlichen bzw. kleinstädtischen Kleinbürgermilieu. Tanjas Eltern, und nach deren Scheidung ihre Mutter und ihr Stiefvater unterhielten jeweils ein Fleischereigeschäft in einer Kleinstadt bzw. dem Randbezirk einer mittleren Großstadt. Die Mitarbeit der Frauen in den Familienbetrieben war selbstverständlich; das Muster des selbstständigen Familienbetriebs hat sich über mehrere Generationen hinweg bis in die heutige Elterngeneration tradiert, wenn auch jeweils in unterschiedlichen

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Erwerbssphären. Zudem ist die Familie von Thorsten Tanner über mehrere Generationen hinweg ununterbrochen am Wohnort ansässig.

2.2 Die Anpassung der Arbeitsorganisation an die Familiensituation Den objektiven Daten der Familiengeschichte und der Familiensituation nach scheint Familie Tanner (wenn man einmal von der IT-Branche als beruflichem Tätigkeitsfeld absieht) jenem ländlich-konservativen, auf Bestand und Bewahrung des herkömmlich Allgemeinen bedachten, weder sozial noch räumlich mobilen Milieu zuzugehören, das durch Fleiß und Beharrlichkeit einen Lebensstil aufrecht zu erhalten sucht, der angesichts der sozialwissenschaftlichen Analysen zum gesellschaftlichen Wandel und den damit verbundenen Herausforderungen und Entwicklungstendenzen (vgl. Reckwitz 2017) fast antiquiert wirkt. Gerade der Bereich von IT-Dienstleistungen wird sonst häufig als Paradebeispiel für jene ökonomischen, sozialen und kulturellen Umwälzungen gesehen, die von den Flexibilitätsanforderungen einer creative economy geprägt sind und deren Träger sich weitgehend aus einem akademisch gebildeten Sozialmilieu rekrutieren, das seinen Lebensstil in enger Verbindung mit den kulturellen wie sozialen Möglichkeiten des Großstadtlebens entwickelt hat und sich dynamisch an immer neue Entwicklungen und hohe Mobilitätserwartungen adaptiert. Doch schon früh finden sich in dem Elterninterview Hinweise auf eine Form der Lebensführung, die zu dem Bild der antiquierten konservativen Landfamilie nicht recht passen. Das zeigt sich bereits bei der Geburt des Sohnes Tim, die nach den Darstellungen der Eltern eine erheblich Neujustierung nicht nur des familialen, sondern gerade auch des beruflichen Alltags der Familie ausgelöst hat. Tm: Also2 da hat sich bei mir auch mit der Geburt von unserm Sohn, ähm, bei mir also innerhalb meiner Person, äh, n ziemlicher Schalter umgelegt, also vorher bin ich immer nur unterwegs gewesen, wenig zu-, also verhältnismäßig wenig zuhause, und mit dem Tag der Geburt hab ich gesagt, ich möchte nich mehr so viel Auto fahrn, statt sechzigtausend Kilometer fahr ich jetzt noch fünfzehntausend Kilometer, bin mehr oder weniger bei jeder Mahlzeit da und hab das sozusagen in der Form dann umgeswitcht.

2Die

Zitate aus den Interviews sind der besseren Lesbarkeit halber von formalen Transkriptionsregeln weitgehend befreit. Unterstreichungen zeigen eine Betonung an. Tm = Herr Tanner, Tf = Frau Tanner.

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Tm: Und da war für mich dann auch sofort die Situation getroffen: ich will so viel es geht in irgendeiner Form, äh, mit meinem, oder mit unserm Kind im Prinzip verleben, äh, und aufgrund dieser Situation hab ich gesacht, ich werde beruflich das bei mir umstellen, dass ich das hinkriege. Ich bin in der Luxussituatio-, oder wir sind in der Luxussituation, dass man das kann, dass ich sage, ähm, ich möchte wie gesacht maximale Zeit, ähm, damit verleben, äh, und hab dann damals sozusagen auch alles entsprechend sofort so in die Wege geleitet, dass das der Fall war und somit ist das für mich-, also für mich n riesen Einschnitt gewesen vonner, vom, vom Grundsatz her, und schwer beschreibbar, aber wunderschön.

Herr Tanner berichtet von einer äußerst raschen und flexiblen Anpassung seiner beruflichen Tätigkeit an die durch die Geburt eines Kindes entstandene neue Familiensituation. Die offenbar ohne weitere materielle Verluste erfolgte Umorganisation des Verhältnisses von Arbeit und Familie (Herr Tanner hat vor allem seine außerhäuslichen Tätigkeiten reduziert) war aufgrund der beruflichen Selbstständigkeit möglich, die einen großen Dispositionsspielraum für die zeitliche Strukturierung bietet und auch spontane Abstimmungen zwischen familialem und beruflichem Engagement zulässt. Die Umstellung der beruflichen Tätigkeiten lässt sich zum einen mit der Beschäftigung von Angestellten in der Firma erklären, zum anderen nutzt Herr Tanner auch die durch die neuen Medien eröffneten Kommunikationsmöglichkeiten, indem er beispielsweise Telefonkonferenzen vom häuslichen Büro aus mit seinen Geschäftspartnern abhält. Indessen fordert die räumliche und soziale Nähe zwischen Arbeitsplatz und Familie selbstverständlich auch ein gewisses Maß an Regulierung; diese wird aber sehr flexibel an die je konkrete Situation angepasst. Auftauchende Interessenkonflikte finden eine rasche Auflösung. Tm: Irgendwie bisschen Zeit zum Arbeiten braucht man dann ja auch noch, ähm… Tf: Ja (aber schon allein die Mahlzeiten oder einfach auch, ja,) dass man… Tm: Ja auch zwischendurch, er hat natürlich auch hier wieder den Luxus, dann kommt er im Prinzip mal zu dir an den Schreibtisch Tf: Ja, ja. Tm: …mal zu mir an Schreibtisch, komm mal gerade eben b- irgendwie, und dann, w- w- machen wir das dann halt auch, aber ich glaube, da sind wir nicht der klassische Durchschnitt. Tm: Wenn ich hin und wieder Telefonkonferenzen habe kann es sein, […] dass ich mit acht Leuten zusammen am-, in einer Telefonkonferenz ne, und dann kommt Tim an und sacht ‚Papa Essen‘, ähm, dann ist das jetzt auch nicht so von Vorteil, weil ich dann doch re- sehr konzentriert in dem Thema bin, und dann hab ich auch keine Zeit mit ihm das jetzt auszudiskutieren, weil andere acht Leute da sitzen, äh, und sozusagen auf mich gerade hören in dem Moment, äh, dann drück ich das Telefonat für, ja, drei Sekunden auf still, wenn überhaupt, sag Tim ‚jetzt gehts nicht‘, und das

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zeig ich ihm ziemlich deutlich in der Form, dass ich das einmal deutlich sage, äh, und dann drück ich das Gespräch wieder zu mir und fa- kann das Gespräch weiter führen.

Diese als ausgesprochen ‚komfortabel‘ empfundene Möglichkeit der ­ WorkFamily-Balance auf der Mikroebene der sozialen Interaktion wie auch auf der Ebene von festen raum-zeitlichen Arrangements beruht unter anderem auch auf einer guten Einbettung der Familie in das soziale, insbesondere das verwandtschaftliche Umfeld innerhalb eines gut überschaubaren lokalen Rahmens. Die in derselben Straße wohnenden Eltern von Herrn Tanner wie auch die ein paar Kilometer weiter entfernt wohnende Mutter von Frau Tanner sind in das Betreuungsarrangement für ihren Sohn Tim konsequent eingebunden. Es gibt einen festen Oma-und-Opa-Tag in der Woche, und insbesondere in der ersten Zeit nach der Geburt des Sohnes hat auch die Mutter von Frau Tanner regelmäßig bei der Betreuung des Kindes geholfen, sodass bis zum Alter von drei Jahren eine externe Betreuung nicht erforderlich war. Tim war von morgens bis abends Teil eines Familienalltags, der von unterschiedlichen Personen aus der örtlich ansässigen Verwandtschaft regelmäßig unterstützt wurde.

2.3 Das sozialräumliche Umfeld der Familie Auch das weitere sozialräumliche Umfeld der dörflichen Gemeinschaft trägt zur Entlastung und zum Wohlbefinden der Familie bei. Tm: Wir sind ja aufm Lande, und hier is noch, ähm, ich hätte jetzt fast gesagt ‚Friede – Freude – Eierkuchen‘, ähm, ja also, ähm, wir ham im Bekanntenkreis, is auch überall, ähm äh, ich sach jetzt mal also, al- ich sach mal jetzt mal im näheren Bekanntenkreis eigentlich nirgendswo, wo irgendwo, ähm, ich sach jetzt mal nich vorbildliche Familienleben da sind, alle ham ä- äh, sind verheiratet, nich geschieden, habn zwischen, ich sach jetzt mal zwei und mehreren Kindern so ungefähr, ähm, also sehr, ähm, ja wie soll ich sagen, ländlich oder noch also hier aufm Dorfe, ähm, ne- wie heißt das noch, also ja vorbildlich, äh, wobei wenn man das vorb-, ne also, mh, klar was gemeint ist. – Was meinst du? Tf: Ja soziales Umfeld, also, ja also w- wie gesacht, Familie sind wir in der glücklichen Lage, dass die nah beziehungsweise sehr nah auch is, ähm ja, Freunde-, Freundeskreis habn wir, äh, also jetzt nich besonders groß, aber, äh, einige die in der ähnlichen Lebenssituation sind, aber auch nich alle würd ich jetzt sagen, also es gibt halt auch, äh, natürlich Alleinstehende oder, äh… Tm: Mmh ((bestätigend)) Tf: …Paare ohne Kinder.

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Der vergleichsweise unsichere Sprachgestus der Eltern zeigt an, dass das Thema der freundschaftlichen Verbindungen zum sozialen Umfeld in der Dorfgemeinschaft normativ etwas ambivalent belegt ist. Mit vielen sprachlichen Floskeln zur Relativierung der Ausdrucksweise weisen die Eltern auf die „Vorbildlichkeit“ der Lebensweise der befreundeten Personen hin, die vor allem an der Stabilität der Paarbeziehungen festgemacht wird. Gleichzeitig klingt in der Darstellung eine gewisse ironische Distanzierung gegenüber der idealisierend anmutenden Charakterisierung der ländlichen Familienstrukturen an („Friede – Freude – Eierkuchen“). Das Elternpaar Tanner scheint sich sehr wohl darüber bewusst zu sein, dass der normative Maßstab „aufm Lande“ sich an der inzwischen normativ weitgehend akzeptierten Pluralität von Familien- und Paarbeziehungen bricht, und appelliert an die Interviewer, in ihren Äußerungen auch ‚richtig‘ verstanden zu werden („klar was gemeint ist“). Die unkomplizierte Erreichbarkeit von anderen Eltern und die Stabilität der sozialen Beziehungen empfinden sie offenbar als einen Vorteil ihrer „glücklichen Lage“, den sie aber nicht als normativen Maßstab verallgemeinert wissen wollen. Ähnliches gilt für die sozialisatorischen Effekte des ländlichen Umfelds. Tf: Ich sach jetzt mal so Thema schiefe Bahn, ähm, m, dass er erst gar nicht die, die, äh ich sach jetzt mal, ähm, so gedankentechnisch dahinrutscht, […] und das sich auch n bisschen daraus resultiert, äh, mit, mit, welche Spielkameraden er jetzt schon hat, äh, aufgrund des, des ländlichen Umfeldes hier, natürlich alles mehr Friede-Freude-Eierkuchen ist, als wenn ich jetzt in der Stadt irgendwo bin, wo, wo vieles anders ist, auch vieles anders wieder vorgelebt wird. Das sieht er ja gar nicht, und wir zeigen ihm, ich will jetzt nicht sagen immer nur die heile Welt, aber er kriegt schon mehr hier noch das, äh, Schönere gezeigt, sach ich jetzt mal, als wies woanders ihm Leben ist.

In diesem Zusammenhang ist von Interesse, inwiefern das dörfliche Umfeld Erwartungen in Bezug auf die soziale Präsentation der Familie Tanner und die Erziehungsvorstellungen der Eltern bereithält, und wie sich die Eltern im Sinne ihres displaying family (Finch 2007) dazu verhalten. Tf: Natürlich hat man seine eigenen Ansprüche, aber die Gesellschaft oder, oder obs jetzt Nachbarn, oder äh Lehrer, äh Omas, Opas, Tanten, äh, haben natürlich auch, äh, gewisse, äh, Ansprüch- oder was heißt Ansprüche, aber, äh, Erwartungen würde ichs vielleicht einfach sagen, ja äh, dass man natürlich s… Tm: Erwartungen, ja. Tf: …obs jetzt, also rein äußerlich natürlich erstmal, äh, wie sieht das Kind aus, wie ist es angezogen, hats dreckige Fingernägel, äh, dass, dass da einfach ne gewisse Erwartungshaltung, sagen wir mal, obs jetzt also hier in unseren B ­ reitengraden oder

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in, in, in unserm Umkreis jetzt konkret ist, ähm, oder ob n Kind halt gehorcht in Anführungsstrichen, ähm, äh, da kann man sich halt nie ganz von frei m, machen, aber es ist natürlich dann, teilweise sinds auch die, die eigenen Ansprüche, die man an sein Kind hat, sind nicht immer deckungsgleich, man versucht natürlich auch son, so… Tm: Aber… Tf: sein’n individuellen Turn zu fahren aber es geht halt auch nicht, nicht immer, dass man sich halt auch manchmal dabei ertappt, so nach dem Motto, ne, ‚das kannste jetzt aber nicht machen‘, äh, ‚was sollen denn die Leute sagen‘, also, aber d, das hat ja jeder für sich individuell auch, äh, und ähm, äh, ja also, das Gleiche überträgt man natürlich auch auf sein Kind dann, un, oder äh, angefangen davon, äh, auch vielleicht dass es ohne Jacke bei sonem Wetter rausgeht, oder vielleicht im Schlafanzug zur Schule gehen wollen würde, das sacht man natürlich in gewisser Weise ‚ja ph, könnte er ja machen‘, so, also es tut ja keinem weh, aber man versucht ihn natürlich auch davor zu bewahren, zum Beispiel Spott ausgesetzt zu werden, also, mh ja, also so als Beispiel. Tm: Trotzdem würd ich sagen, sind wir da nicht fremdbestimmt o, oder wür, wür, lassen wir uns da wenig fremdbestimmen. Tm: Da haben wir einfach unserer Vorstellungen, und die decken sich halt in vielerlei Hinsicht mit, mit, mit, mit gesellschaftlichen, ähm, äh, Sachen, aber wie gesagt, […] trotzdem glaube ich dass wir da wenig fremdbestimmt sind, weil aber im Umkehrschluss unserer Einstellung schon so sind, wie sie hier aufm Lande halt, ja… Tf: …Einstellungen unserer Erziehung und unserer, ja man… Tm: Ja. Tf: …ist natürlich auch geprägt und gibt das ja auch so weiter in gewisser Weise.

Man wird aus diesen Äußerungen kaum schließen können, dass die Eltern Tanner sich einfach dem Erwartungsdruck der sozialen Umgebung unterwerfen oder überzeugt in ungebrochener Tradition den normativen Horizont des ländlichen Milieus weiterführen. Eher scheinen sie ein pragmatisches Verhältnis zu den Erwartungen ihrer Umwelt zu haben, in das selbstverständlich auch Prägungen einfließen, die sie selbst in ihrer Sozialisation auf dem Lande erworben haben und die, das ist ihnen durchaus bewusst, gewissermaßen hinterrücks im familialen Zusammenleben wirksam werden.

2.4 Der Familienalltag der Familie Tanner Die ‚komfortable‘ Lage der Familie, die die Eltern selbst auch als ‚Luxus‘ beschreiben, ermöglicht einen relativ entspannten Familienalltag, in dem die Ansprüche der Berufsarbeit und der Familie miteinander ausgeglichen werden.

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Am Beispiel des ritualisierten morgendlichen Aufstehens lässt sich dies anschaulich demonstrieren. Tm: ich geh morgens zu, also ich hole morgens Tim im Prinzip ausm Bett, geh zu ihm hin, ähm, wecke ihn, ähm, nimm ihn mit rüber u, oder er kommt dann mit rüber, ähm, das wir drei dann zusammen nochmal kuscheln, äh, so ne Viertelstunde oder so zwanzig Minuten, von ich sach jetzt mal zehn vor sieben bis zehn nach sieben, Viertel nach sieben, ähm, gut, dann geh ich in die Dusche, äh, dann gehts darum, wer als Erster im Badezimmer ist. Wenn ich das Spiel nich genau… Tf: Das ist immer ganz wichtig. Tm: Wenn ich das Spiel nicht machen würde, hätt ich das Problem, dann würden die nachher immer noch da sein, deswegen versuch ichs immer so, dann ist Tim in der Regel sogar meist noch Erster. Tf: Das ist ihm auch wichtig. Tm: Das ist ihm wichtig, genau, da muss er noch über mich drüberweg klettern, dass er jaa, äh, auch als Erster im Badezimmer dann ist, weil das ist dann das Spiel, das rituelle Spiel mehr oder weniger, äh, was wir haben. Gut, ich dusche, er zieht sich an, äh, Zähneputzen, so das, ich, ich sach mal, Übliche, hätt ich jetzt fast gesagt. Na gut, dann gehn wir im Prinzip nachher zu dritt runter, frühstücken gemeinsam, ähm, er deckt inzwischen sogar den Tisch.

Im Unterschied zu vielen Familien, in denen gerade der Beginn des Tages mit den für jedes Familienmitglied individuell festgelegten Arbeits- und Unterrichtszeiten und Frühstücksbedürfnissen einen hohen Synchronisierungsbedarf erzeugt, dem ein straff rhythmisierter Zeitplan folgt, beginnt das alltägliche Aufstehen in der Familie Tanner mit einer zwanzigminütigen gemeinsamen ‚Kuschelphase‘, bevor ein routinierter, auf ein gemeinsames Frühstück hin ausgerichteter Interaktionsablauf beginnt – ein Tagesbeginn, wie er in anderen von uns untersuchten Familien allenfalls sonntags stattfindet. Auch nach dem gemeinsamen Frühstück setzt sich die familienzentrierte Startphase noch eine Weile fort. Tims Vater betont, dass er sehr viel Wert darauf legt, Tim zusammen mit ein paar Nachbarskindern zur Schule zu bringen, gewissermaßen als eine Art Morgenspaziergang, denn der eigene Arbeitsplatz ist ja zuhause. Tm: Wir machen dann irgendwelche Spielchen aufm Weg zur Schule, äh, was weiß ich, wenns darum geht äh, was weiß ich, ob der Mond nun abnehmend oder zunehmend ist, bis hin zu irgendwelchen andern Sachen, also, nutz diesen Weg auch zur Schule um irgendwelche, ähm, ja weiß ich nicht, äh, hört sich jetzt vielleicht n bisschen doof an, aber irgendwelche Lehrinformationen nochmal rüber zu bringen, einfach Alltagssituationen, aufpassen aufn Verkehr, auch wenn die Ampel grün ist heißt das nicht, dass das Auto zwingend anhält, äh, auch schon gehabt.

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Zwanglos und auf eine eher unterhaltende Art versucht Herr Tanner den Schulweg dazu zu nutzen, die Kinder zu einer aufmerksamen und verständigen Beobachtung ihrer Umwelt zu animieren und so in ein praktisches Alltagswissen einzuführen. Auch wenn es vielleicht ein bisschen aufgesetzt klingen mag („hört sich jetzt vielleicht n bisschen doof an“), macht es ihm offenbar Spaß, die Kinder in ein pädagogisches Arrangement einzubeziehen, das sie als Lernende adressiert und das sich insofern auch als Übergang in die Schule als professionellen Ort des Unterrichtens interpretieren lässt. Wieder zuhause angekommen, gibt es zunächst, als Übergang in die dann beginnende Arbeitsphase, ein gemeinsames Kaffeetrinken des Elternpaares, bevor beide Partner ihrer jeweiligen Tätigkeit nachgehen. Auch das tägliche Mittagessen wird (ebenso wie das Abendessen) von der Familie gemeinsam eingenommen und für ausführliche Gespräche genutzt. Einmal in der Woche nimmt die Familie ihre Mittagsmahlzeit bei den Eltern von Herrn Tanner ein („ist ganz praktisch, dann brauchen wir einfach nur rübergehen“), wo sie sich „in großer familiärer Runde, […] meine Schwester ist dann auch dabei, […] sozusagen an den gemachten Tisch“ setzen können. Während Tim den Nachmittag draußen mit Freunden oder auch alleine zuhause spielend verbringt, kümmern sich Herr und Frau Tanner am Abend in der Regel gemeinsam um den Sohn (außer Tim und sein Vater verbringen einen „Männerabend“ miteinander, während Frau Tanner einen portugiesischen Sprachkurs besucht). Auch wird der Tag häufig mit dem gemeinsamen „Kuscheln“ bzw. „Fernsehen“ der Familie im elterlichen Bett beendet, wobei die Eltern selbst erstaunt sind, dass Tim, auch wenn er länger aufgeblieben ist, morgens ohne Probleme rechtzeitig aufsteht. Auch nach Auskunft eines aus dem Kundenkreis bekannten Kinderarztes sei das späte Zubettgehen, wie die Eltern betonen, nicht bedenklich. Die Aufteilung der Arbeiten im Haushalt hat sich, wie Herr und Frau Tanner berichten, weitgehend nach dem Muster der „klassischen Rollenverteilung“ eingespielt. Während Herr Tanner von sich sagt, in Bezug auf das Kochen „zwei linke Hände“ zu haben, und sich auch nicht am Waschen der Wäsche und Einkaufen beteiligt, überlässt Frau Tanner „alles Handwerkliche“ ihrem Mann. Allerdings scheint es für sie auch problemlos zu sein, ihre Hausarbeit mit ihrer beruflichen Tätigkeit in der Firma ihres Mannes zu verbinden, da die räumliche Nähe und die zeitliche Flexibilität einen weiten Spielraum lassen: „Da haben wir auch nie sogar groß drüber geredet, ähm, das, ja, funktioniert einfach irgendwie.“ Anders verhält es sich hingegen mit der Betreuung und Erziehung ihres Sohnes. Dies sehen beide gleichermaßen als ihre Aufgabe an.

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2.5 Elternschaft und Erziehung Dass Elternschaft für das Ehepaar Tanner eine wichtige Rolle in der Lebensführung spielt, ist bereits aus den bisherigen Äußerungen deutlich geworden. Diese besondere Bedeutung des Kindes für die Lebensgestaltung der Familie („Das is schon, ähm, ja einfach, äh, ne Lebensaufgabe“, Tf) markiert einen Unterschied zu den Erfahrungen, die die Tanners in ihrer eigenen Kindheit gemacht haben. Zwar fühlten auch sie sich, wie sie im Interview betonen, als Kinder von ihren Eltern anerkannt, aber bei den täglich von den Eltern zu erfüllenden häuslichen und beruflichen Pflichten waren die Kinder im Familienalltag eher sich selbst überlassen, als dass spezielle Betreuungs- und Freizeitbedürfnisse der Kinder explizit mitberücksichtigt wurden. Einerseits ist Herr Tanner „auch sehr behütet halt hier im, aufm Lande aufgewachsen“ und auch damals schon „immer im Dialog“ mit seinen Eltern gewesen, andererseits „hat halt keiner meiner Eltern jetzt groß die Betreuung übernommen sag ich jetzt mal“. Letztlich kam es darauf an, dass der Alltag der Erwachsenen nicht wesentlich gestört wurde und die Kinder „funktionierten“. Demgegenüber scheint den Eltern das Ausmaß der Betreuung, das Tim auch von Seiten der Großeltern, der Tanten und der Onkel zuteil wird, eher schon ein bisschen zu extrem zu sein („von allen Seiten m, m, mehr als betüddelt, ähm, was manchmal eigentlich gar nicht so gut ist“). Es wäre, so meinen sie, „vielleicht nicht verkehrt, wenn er auch mal mehr lernt wie es ist, wenn, wenn er mal auf jemand warten muss“, sodass sie nun auch damit beginnen, ihn ab und zu abends zuhause allein zu lassen, oder ihn (nach Absprache) auch eine Stunde länger als nötig in der schulischen Betreuung lassen, wo er dann lernen kann, sich außerhalb des Unterrichts mit Gleichaltrigen auseinander zu setzen. Andererseits schreiben sie aber dem Umstand, dass Tim vergleichsweise häufig mit Erwachsenen zusammen ist, auch einen gewissen Entwicklungsvorsprung in der sprachlichen Ausdrucksweise und in der kognitiven Strukturierung seiner Umwelt zu. Beides zeigt indessen, dass sie ihr Kind und dessen Entwicklung mit großer Aufmerksamkeit begleiten, ohne aber, wie sie betonen, in das Extrem der „Helikoptereltern“ abgleiten zu wollen. Das innere und äußere Engagement für ihren Sohn, das sich u. a. auch in einem aktiven Kontakt zur Schule (Tm: „beim Elternsprechtag bin ich, glaub ich, der einzige Vater“) und dem Interesse an Vorträgen zum kindlichen Lernen äußert, heißt allerdings nicht, dass die Eltern Tanner einem expliziten Erziehungskonzept folgen.

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Tf: Erziehung da, ähm, also das haben wir eigentlich nie so festgelegt, weil wir einfach auch, äh, im Großen und Ganzen gemerkt haben, dass wir sozusagen in einer, da auf einer Welle schwimmen un, und, ja, das dann einfach einfach machen.

Das Hauptprinzip, dem Tanners in ihrer familialen Erziehungspraxis folgen, lässt sich entsprechend der auch von ihnen selbst gewählten Begrifflichkeit mit dem Muster „Vorleben – Nachmachen“ beschreiben. So haben sie schon ihre eigene Erziehung (von gelegentlichen Disziplinarmaßnahmen abgesehen) erlebt, und so kennzeichnen sie auch den Umgang, den sie mit ihrem Sohn Tim pflegen. Tf: Also ich will jetzt nicht sagen, Erziehung passiert so, also nebenbei, das hört sich jetzt so, ähm, also eher so negativ an, wenn ichs jetzt so sch, so ausspreche. Aber, also wir versuchen halt, oder ich versuche, ich kann ja nur für mich sprechen, ähm, äh, also Tim so nach meinen Wertevorstellungen oder auch natürlich eigenen Erfahrungen zu erziehen, ohne das jetzt so schul, planmäßig, äh, zu machen, sondern das so, so ihm vorzuleben auch einf, also ohne jetzt zu sagen, so jetzt geh ich hin und erziehe mein Kind, irgendwas zu tun oder halt nicht zu tun, sondern ich versuche ihm das einfach vorzuleben. Tm: Dass man, ähm, ihm einfach zeigt und er sich das abschaut. Ich sach mal erziehen, also, das ist für mich erziehen im Endeffekt, zu zeigen, äh, wie man gemeinsam miteinander was erreichen kann, auch mit ihm zusammen natürlich gemeinsam, und wie wir uns untereinander alle gegenüber jeweils dem Anderen verhalten, ähm, das ist erziehen. Und natürlich muss man irgendwann mal, äh, Grenzen setzen, äh, weil wenn man das nicht macht, ähm, ja wie soll ich sagen, ähm, ist es auch schlecht, aber manchmal machen wirs dann auch so, dass er selber erkennen muss, wo die Grenz, eh Grenze ist, äh, weil nur durch, durch, durch, ich sach jetzt mal Eigenempfinden, natürlich eher das irgendwo im Kopf gespeichert bleibt, als wenn ich ihm sage, du darfst bis da und nicht weiter, ähm, besser ist es wenn mans selber erfährt in irgendeiner Form, aber durch vorleben schlicht und einfach, also, äh, die Kinder sind das Spiegelbild eines Selbst.

Wenn man der terminologischen Unterscheidung Mollenhauers (2008) zwischen der (für die Vormoderne typischen) ‚Präsentation‘ und der (seit Beginn der Moderne zunehmend relevant gewordenen) ‚Repräsentation‘ der Lebensform der Erwachsenen gegenüber der nachwachsenden Generation folgen möchten, dem Lernen im Modus des ‚Mitmachens‘ einerseits und dem Lernmodus der sekundären Aneignung eines pädagogisch transformierten kulturellen Wissens andererseits, dann lässt sich der Erziehungsgestus der Familie Tanner überwiegend dem Modus der ‚Präsentation‘ der eigenen Lebensform zurechnen. In gewisser Weise kann man die Dominanz dieses Lernprinzips für die Familienerziehung generell geltend machen, denn durch das alltägliche Zusammenleben von Eltern und Kindern ist Erziehung stets in eine gemeinsame Lebenspraxis der

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Familie eingebunden (vgl. Müller und Krinninger 2016). Das Besondere an der Familie Tanner ist jedoch, dass sie hierin eine pädagogische Praktik sieht, dem sie mit hoher pädagogischer Reflexivität und in Abgrenzung zu anderen möglichen pädagogischen Praktiken folgt. Das gilt sogar im Hinblick auf eine mögliche Relevanz der familialen Interaktionserfahrungen für die spätere, möglicherweise berufsrelevante Sphäre des Geschäftslebens. Mit Blick auf die familiale Praktik des Interessenausgleichs zwischen Tim und seinen Eltern sagt Herr Tanner: Tm: Jeder […] versucht seine Interessen durchzusetzen und da muss man schauen, wie man, äh, unter Umständen mit Kompromissen, sacht ‚gut ((klatschen)) das ist der Kompromiss für alle‘ oder für die Beteiligten, die in dem Fall einfach davon betroffen sind, äh, um es durchzusetzen, ich sach mal, das ist, äh, das ist Leben, behaupte ich einfach mal, das ist im Geschäftsleben genauso.

Schon die enge räumliche und familiale Verbindung von Berufsarbeit und Privatsphäre entspricht in gewisser Weise dem Haushaltsmodell des vorindustriellen Zeitalters, bekräftigt durch die soziale Nähe der verwandtschaftlichen und dörflichen Gemeinschaft. Der im Wesentlichen auf den Modus der Präsentation hin ausgerichtete Erziehungsgestus der Familie unterstreicht diese Charakteristik. Das Erziehungsmilieu der Familie Tanner zeichnet sich durch eine besondere Mischung von vorindustriellen (intergenerationale Ortsgebundenheit; Relevanz, Intensität und Verlässlichkeit der verwandtschaftlichen Beziehungen; Dorfgemeinschaft und Leben auf dem Lande; Arbeit und Familie in einem Haus) und postindustriellen Merkmalen (Partizipation an der creative economy im Sinne einer frühen selbstständigen Unternehmensgründung; Berufstätigkeit im IT-Dienstleistungssektor; digitale ortsunabhängige Organisation beruflicher Funktionsabläufe; Nutzung der strukturell ermöglichten Lebensumstände für ein individuelles doing family (Jurczyk et al. 2014); hohe Reflexivität und Individualität der Lebensführung und der Kindererziehung) aus. Insofern ist gegenüber einer grob gezeichneten historischen Transformationsthese von der Vormoderne über die klassische Moderne zur Postmoderne mit ihren typischen Gewinnern und Verlierern die Frage aufzuwerfen, ob nicht im Hinblick auf die konkrete Familienrealität in den lokal sehr unterschiedlichen sozialen Milieus von einem viel weiter aufgespannten Möglichkeitsspektrum zukunftsfähiger familialer Lebensformen auszugehen ist, als es in der gegenwärtigen Debatte um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die ‚Rushhour des Lebens‘ und der neuen sozialkulturellen Klassenstruktur der Gesellschaft erscheint.

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3 Schlussgedanke: Ein neuer Typus familialer Lebensführung? Familie Tanner scheint zumindest einen Weg gefunden zu haben, ihre über Generationen hinweg tradierte Verwurzelung in einem dörflich strukturierten, eng begrenztem Sozialraum mit Zügen einer an den sozialen Wandel angepassten Lebenspraxis zu verbinden, die sonst eher in den sozialstrukturell völlig anders situierten Milieus der urbanen, akademisch gebildeten, IT-affinen und mobilen neuen Mittelklasse zu finden ist. Tanners haben – auf ihre Weise – die für beide Herkunftsfamilien charakteristische Tradition des Familienbetriebs fortgesetzt, sie nutzen problemlos die technischen und logistischen Möglichkeiten der postindustriellen Arbeitswelt, sie orientieren sich – auf guter materieller Grundlage – an postmateriellen Werten wie einer hohen Lebensqualität und einer ausgeglichenen Work-Life-Balance, sie verbinden mit ihrer Elternschaft einen hohen Anspruch auf Bereicherung ihres Lebens, verfolgen mit einem ausgeprägten Maß an pädagogischer Reflexivität einen unprätentiösen Erziehungsstil der Teilhabe und Partnerschaftlichkeit und folgen implizit einem Konzept von Familienkindheit als einem Mehr-Generationen-Projekt, das die Last der Betreuung auf mehrere Schultern verteilt. Eine solche familiale Figuration lässt sich nicht – das betonen die Eltern im Interview mit den ForscherInnen selbst – problemlos verallgemeinern, es ist, wie sie sagen „ein luxurielles Leben […], jetzt nicht im materiellen Sinne […], was sicherlich nicht der klassische Durchschnitt ist“. Aber handelt es sich deshalb um einen kuriosen Einzelfall? Immerhin ließen sich Argumente anführen, dass zumindest einige Elemente der rekonstruierten Lebenspraxis künftig auch strukturell gesehen naheliegen könnten: • Die Digitalisierung der Arbeitswelt lässt es mehr und mehr wahrscheinlich werden, dass Arbeitsplätze ortsunabhängiger werden und daher die räumliche Trennung von Arbeit und Familie nicht notwendig der Normalfall sein muss; die deutliche Zunahme von Home-Office-Arrangements stützen diese Annahme (vgl. IZA Newsroom 2018). • In dem Maße, wie das Wohnen in den (größeren bzw. attraktiveren) Städten teurer wird und von vielen Familien kaum noch zu bezahlen ist, gewinnt möglicherweise das Leben auf dem Land wieder neu an Anziehungskraft, insbesondere für Familien mit kleinen Kindern (vgl. Dettling 2018). Die vorgenannten neuen Kommunikationsformen (einschließlich des ­online-Einkaufs) und Arbeitsplatzregelungen legen es nahe, dass das Leben in dörflicher

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Umgebung nach und nach sein Image des Provinziellen verliert und den Vorteilen der familialen Residenz auf dem Lande mehr Gewicht zugemessen wird. • Die kontinuierliche Verlängerung der Lebenszeit und Verbesserung der Gesundheit im Alter sowie die parallele Verschiebung des Zeitpunkts der Erstgeburt im Lebenslauf bei gleichzeitig hohen beruflichen Erwartungen beider Elternteile lassen vermuten, dass die Beteiligung der Großelterngeneration an der Betreuung der Kinder tendenziell weiter zunehmen wird und das Modell der Familienkindheit als Mehr-Generationen-Projekt an Plausibilität gewinnt (vgl. Adam et al. 2014). Dabei kommt unterstützend hinzu, dass Erziehungseinstellungen und Erziehungspraxen bei den Angehörigen der heutigen Elterngeneration und der Großelterngeneration längst nicht mehr in dem Maße differieren, als es noch in der Zeit des Übergangs vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt der Fall war. Das sind gewiss zunächst nur heuristische Überlegungen, die sich an den rekonstruierten Fall eher locker anschließen lassen. Ob sie sich in der Auseinandersetzung mit weiteren empirischen Befunden halten lassen oder sich gar als Merkmale eines neuen (weiteren) Typus der familialen Lebensführung erweisen können, bleibt zunächst eine offene Frage.

Literatur Adam, U., Mühling, T., Förster, M., & Jakob, D. (2014). Enkelkinderbetreuung. Facetten einer wichtigen intergenerationalen Leistung. Opladen: Budrich. Bertram, H., & Deuflhard, C. (2015). Die überforderte Generation. Arbeit und Familie in der Wissensgesellschaft. Opladen: Budrich. Dettling, D. (2018). „Glokalisierung“. Stadt, Land, Flucht? https://www.zeit.de/2018/22/ glokalisierung-land-stadt-daniel-dettling-zukunftsforscher. Zugegriffen: 6. Nov. 2018. Ecarius, J. (2007). Einleitung. In J. Ecarius (Hrsg.), Handbuch Familie (S. 9–13). Wiesbaden: VS Verlag. Fegter, S., Heite, C., Mierendorff, J., & Richter, M. (Hrsg.). (2015). Neue Aufmerksamkeiten für Familien. Diskurse, Bilder und Adressierungen in der sozialen Arbeit (neue praxis: Sonderheft 12). Lahnstein: Verlag neue praxis. Finch, J. (2007). Displaying Families. Sociology, 41, 65–81. IZA Newsroom. (2018). Homeoffice auf dem Vormarsch. https://newsroom.iza.org/de/ archive/research/homeoffice-auf-dem-vormarsch/. Zugegriffen: 6. Nov. 2018. Jurczyk, K., Schier, M., Szymenderski, P., Lange, A., & Voß, G. G. (2009). Entgrenzte Arbeit – entgrenzte Familie. Grenzmanagement im Alltag als neue Herausforderung. Berlin: Edition Sigma. Jurczyk, K., Lange, A., & Thiessen, B. (2014). Doing Family. Warum Familienleben heute nicht mehr selbstverständlich ist. Weinheim: Beltz.

Familienerziehung im ländlichen Raum …

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Wer belehrt wen? Johannes Bilstein

Zusammenfassung

Kultur wird innerhalb der Familie nicht nur in eine Richtung, also von den Eltern zu den Kindern, transferiert, sondern auch umgekehrt: Gerade unter modernisierten Bedingungen kommt den kulturellen Einflüssen der Kinder auf ihre Eltern besondere Bedeutung zu. Dabei ist das Konzept eines gegenseitigen, auch von den Kindern ausgehenden kulturellen Einflusses durchaus traditionell, lässt sich in der europäischen Bild- und Legendentradition bis in die Antike hinein zurückverfolgen. Der Topos vom belehrenden Kind erscheint dabei sowohl in heidnisch-antiken als auch in christlichen Varianten und bringt eine entsprechende Bildtradition mit sich. Schlüsselwörter

Familiärer Kulturtransfer · Generationenverhältnis · Kulturelle Bildung ·  Max Liebermann · Puer senex · Zwölfjähriger Jesus im Tempel

1 Transfers in alle Richtungen Einerseits ist die Sache ziemlich eindeutig: Es sind immer wieder zunächst und vor allem die Familien, die dafür sorgen, dass die nachwachsenden Generationen irgendwie ins gesellschaftliche Spiel kommen. Es sind die Familien, in denen die J. Bilstein (*)  Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Fuchs et al. (Hrsg.), Jugend, Familie und Generationen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24185-8_15

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Kinder großgezogen werden, in denen sie die Welt und das Leben kennenlernen und in denen sie die ersten Fähigkeiten erwerben, mit dieser Welt und mit diesem Leben zurechtzukommen. Zwar hat sich inzwischen Vieles geändert, haben sich vor allem unsere Vorstellungen davon, was eine Familie ist, grundlegend verschoben – aber dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass es die Familien sind, in denen Kinder und Kultur sich allererst begegnen (vgl. Ecarius 2018). „Die Familie ist ein Ort, wo Kultur gelebt und weitergegeben wird. […] Eltern leben die kulturellen Muster einer Gesellschaft vor, die nachgeborenen Kinder leben sie nach und modifizieren sie dabei.“ (Stecher und Zinnecker 2007, S. 389) Einerseits also ist alle Bildung, alle Eingliederung in die Kultur auf das Engste an die Basis der Familie gebunden. Andererseits jedoch sind die Verhältnisse alles andere als eindeutig. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass Kinder die kulturellen Muster ihrer Eltern nachleben, und wenn sie denn beginnen, diese Muster zu modifizieren, entstehen vielfältige und sehr differente Handlungsmuster, entstehen auch vielfältige Konflikte. Zwar kann man die kulturelle Leistung von Familien in Bezug auf die Kinder unter „Transfer“ behandeln (vgl. Brake und Kunze 2004; Büchner 2006; Büchner und Brake 2006; Zinnecker et al. 1998; Stecher und Zinnecker 2007) – aber die Formen dieser ­Transfer-Prozesse sind genauso vielfältig wie die Familienformen, und die Zumutungen für alle Beteiligten im Laufe dieser Transferprozesse sind oft nur mit Mühe rekonstruierbar. Hinzu kommt, und das soll hier besonders interessieren, dass die Transfers keineswegs immer nur in eine Richtung verlaufen. Insofern ist der Zusammenhang von familiären Lebensformen einerseits und den kulturellen Formen andererseits weiterhin hoch klärungsbedürftig. Die weitgehend konsensuelle Formel von der „relativen Autonomie“ der Familie (Elias 1939, S. 70; Müller 2016) gilt besonders für ihre kulturellen Haltungen und Aktivitäten. Auch hier entwickeln die Familien eigene Stile und eigene Binnenkulturen, auch hier sind sie auf das Engste und in vielfältiger Weise mit der umgebenden Welt verbunden. Welche Regeln befolgt werden, welche Musik gehört wird, welche Bilder angeschaut oder gemalt werden, welche religiösen Ritualisierungen verfolgt werden – all die konkreten Formen kulturellen Lebens entfalten sich in jeder Familie auf ganz besondere Weise: insofern entfalten sie sich autonom. Zugleich jedoch ist dieses kulturelle Handeln verbunden mit den Stilen der umgebenden Welt, ist es determiniert von der Umwelt, in der sich eine Familie bewegt – nicht zuletzt von den ökonomischen Verflechtungen und Bedingungen, in denen sich ihr Leben abspielt. Insofern ist alle Autonomie des jeweiligen kulturellen Profils immer nur relativ (vgl. Müller und Krinninger 2016, S. 20 ff.).

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Freilich sind die Wirkungen der Familien als Kultur-Agenturen eng mit s­ozio-kulturellen Determinanten verbunden. Ob Eltern sich zutrauen, ihren Kindern Kultur weiterzugeben, hängt eben in ganz hohem Ausmaß davon ab, ob sie selbst über entsprechende Vorbildung verfügen und ob sie die ökonomischen Möglichkeiten dazu haben. Es ist immer wieder so, dass die Eltern in Familien aus besseren ökonomischen Verhältnissen in der Regel über einen höheren Bildungsabschluss verfügen, sie dann auch deutlich mehr Wert auf Grundwissen im Bereich der Kultur legen und kulturellen Angeboten größere Bedeutung zumessen als Eltern mit geringerem Bildungsabschluss. Die Leistungsfähigkeit der Familie als kulturelle Transfer-Agentur, als Vermittlungsinstanz kulturellen Kapitals, hängt also direkt und ganz eindeutig von sozio-ökonomischen Determinanten ab (vgl. Stecher und Zinnecker 2007; Büchner und Brake 2006; Rat für Kulturelle Bildung 2017). Allerdings muss man Familie dabei immer als ein System gegenseitiger Beeinflussung ansehen, keineswegs wirken da nur die Eltern auf die Kinder, und gerade im Bereich der Kultur ist die umgekehrte Richtung von besonderem Interesse. Britische Untersuchungen können sehr schön zeigen, dass Kinder, wenn sie Projekte der Kulturellen Bildung besuchen, davon zuhause intensiv berichten, sowohl ihre Eltern als auch die ganze Familienkultur intensiv beeinflussen. Insbesondere der Zugang zur Schule kann deutlich verbessert und erleichtert werden: Solche Projekte bieten niederschwellige Angebote an, von denen sich Eltern ermutigt fühlen, sich mit Lehrern und der ganzen Schule – auch kritisch – auseinander zu setzen (vgl. Safford und O’Sullivan 2007, S. 4). Die Beteiligung von Kindern in Projekten der Kulturellen Bildung führt dann z. B. bei immerhin 47 % der Eltern dazu, dass sie Kulturinstitutionen außerhalb der Schule besuchen bzw. in Anspruch nehmen: Museen, Kunstgalerien, Theater etc. (vgl. ebd., S. 38). Die britische Studie über elterliche Perspektiven auf die kulturelle Bildung der Kinder stellt deutlich heraus: „children who participate in a cultural or creative education programme – mostly through their schools – might be a motivational key to open up cultural and creative learning settings for their parents/grandparents who might otherwise never participate in cultural activities as they might think it is ‚not for us‘“ (Cultural Learning for Families 2013, S. 6). Wenn man also von Familien als Agenturen des Kulturtransfers spricht, dann geschieht dieser Transfer zwischen den Generationen in beide Richtungen. Auch Kinder fungieren als Kultur-Agenten, auch Eltern übernehmen kulturelle Muster von ihren Kindern – sie lernen von ihnen. Und dabei wirkt gerade der Transfer von den Kindern auf die Eltern im Zweifelsfall unabhängig von den ­sozio-ökonomischen Determinanten. Margaret Meads These vom Vordringen präfigurativer Kulturformen, also von Generationenverhältnissen, in denen die Eltern

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von den Kindern lernen, formuliert bereits 1970 – nicht ohne kulturkritische Akzente – deutliche Hinweise auf diese Gegenseitigkeit der Einflussnahme und zugleich eine deutliche Warnung davor, familiäre Kultivationsleistungen allzu eindimensional zu verstehen (vgl. Mead 1971, bes. S. 27 ff.; Ecarius 2001, 2008, S. 60 ff.). Es sind eben auch oft die Kinder, die ihren Eltern die Kultur beibringen. Nun ist das Wissen um diese Gegenseitigkeit kulturellen Einflusses in der Familie keineswegs neu. Gerade in Bezug auf herausgehobene Kinder, auf besonders begabte oder gar göttlich auserwählte Kinder wird schon seit der Antike die Möglichkeit verhandelt, dass es die Kinder sind, die Kultur prägen – nicht umgekehrt. Dass besondere Kinder auch besonders wirken, dass sie, gerade was die kulturelle und normative Orientierung der Familie angeht, Einfluss auf das familiäre Umfeld und die umgebende Kultur ausüben können, gehört zu den fest etablierten Topoi der Generationendiskurse in unserer Tradition (vgl. Bilstein 2012).

2 Max Liebermanns Jesus-Kind In Max Liebermanns Bild „Der zwölfjährige Jesus im Tempel“ wird dieser alte Topos in einer jüdisch-christlichen Variante vorgestellt (Abb. 1). Zu sehen sind Menschen im Innenraum einer Synagoge, die sich ins Gespräch vertieft haben. Fünf Männer, erkennbar jüdische Schriftgelehrte, sind in einem nach vorne offenen Halbkreis um einen Knaben versammelt, hören ihm skeptisch und zweifelnd, ablehnend aber auch mit einer gewissen Andacht zu: Es ist Jesus, der den Schriftgelehrten predigt. Am Fuß einer gewundenen Treppe ist mit dem Rücken zum Betrachter eine männliche Figur zu erkennen: Joseph, der sich der die Treppe herunterkommenden Maria zugewandt hat. Durch die beiden großen Männer-Gestalten rechts und links entsteht eine räumliche Konzentration auf das Kerngeschehen im Mittelbereich des Bildes, auf die mit einigem gestischen Aufwand betriebene Überzeugungsarbeit des kleinen Jesus. Das Gemälde ist geprägt von warmen, erdtönigen Farben, die Pinselführung ist grob und lebendig, an vielen Stellen dick aufgetragen. Insbesondere die Lichtführung hat immer wieder Bewunderung und Aufmerksamkeit erregt: Das Licht verbindet die einzelnen Teile des Bildes miteinander, das Gesicht des ­Jesus-Knaben ist in einen Lichtkranz gehüllt. In der Mittelzone liegen dunkle und helle Streifen nebeneinander; der Steinboden ist durch Schattenbereiche lebendig strukturiert, ganz im Hintergrund scheint das Tageslicht durch ein Fenster herein. Darunter ist eine Gruppe alter Juden im Gespräch zu erkennen. Die Szene ist dramatisch und lebendig, es scheint ein wichtiges Ereignis zu sein, das da gerade stattfindet (vgl. Eberle 1995, S. 159 ff.).

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Abb. 1   Max Liebermann: Der zwölfjährige Jesus im Tempel. 1879. (149,6 cm × 130,6 cm; Öl auf Leinwand; Hamburger Kunsthalle)

Das Bild hat eine lange und wechselvolle Geschichte. Erste Skizzen Liebermanns gibt es schon viele Jahre vor der Fertigstellung 1879; für die Gestaltung des Synagogenraumes dienen ihm die Amsterdamer Synagoge und die Synagoge von Venedig als Vorbilder. Höchst akribisch fertigt Liebermann von jeder Figur zunächst Einzelskizzen, auch Aktskizzen, um bei der Körperhaltung und Gestik

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seiner Figuren keine Fehler zu machen (vgl. Leppien 1989). Als das Bild vollendet ist, lässt Liebermann es sogleich bei der internationalen Kunstausstellung im königlichen Glaspalast in München ausstellen und verursacht damit auf der Stelle einen richtigen Skandal. Der Bayerische Prinz Luitpold entrüstet sich, lässt das Gemälde in ein Nebenkabinett hängen, die Presse nimmt heftigen Anstoß, die katholische Kirche protestiert – und schließlich kommt es am 15. Januar 1880 im bayerischen Landtag zu einer richtigen Parlamentsdebatte über Liebermanns Werk. Drei Abgeordnete schimpfen und entrüsten sich darüber, dass „der erhabene Gegenstand dieses Bildes in einer so gemeinen und niedrigen Weise dargestellt ist, dass jeder positiv gläubige Christ sich durch dieses blasphemische Bild aufs Tiefste beleidigt fühlen musste“ (ebd., S. 21). Auf der anderen Seite solidarisiert sich die künstlerische Avantgarde mit dem Maler; Liebermann wird gerade wegen dieses Bildes schlagartig berühmt und hat von nun an seinen Platz in der Riege der wichtigsten zeitgenössischen Künstler Deutschlands.

3 Der weise Knabe Es gibt wohl zwei Gründe für diese ganze Aufregung: Zum einen das Thema selbst und zum anderen die spezifische Behandlung durch Liebermann. Was das Thema angeht, so geht es auf eine allgemein bekannte Geschichte zurück, deren kanonisierte Standardversion sich im Lukas-Evangelium findet. Dort wird erzählt, wie der kleine, zwölfjährige Jesus seinen Eltern auf einer Reise verloren geht. Vater und Mutter sind verzweifelt, sie suchen ihn überall, kehren schließlich nach Jerusalem zurück und finden ihn dort, nach drei Tagen der Suche, „im Tempel, wie er mitten unter den Lehrern saß, ihnen zuhörte und sie fragte. Es staunten aber alle, die ihn hörten, über seine Einsicht und seine Antworten.“ (Lk 2, 46–47) Bekannt ist auch der distanziert-robuste Tenor seiner Antwort auf die Vorhaltungen, die ihm vor allem die Mutter macht: „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“ (Lk 2, 49) Der kleine Jesus klärt die Verhältnisse, ordnet sich – durchaus konventionell innerhalb der alten jüdischen Kultur – einer Männerwelt zu, in der er freilich als Messias sofort eine dramatisch herausgehobene Stellung einnimmt (vgl. Lk 2, 46–50; Herweg 1994, S. 80 ff.). Den Eltern, insbesondere Maria gegenüber verhält er sich belehrend, es ist dieser Knabe, der hier für kulturellen Transfer sorgt. Neben dieser offiziellen Geschichte findet sich eine breiter ausgeschmückte Variante im apokryphen Thomas-Evangelium, das wohl aus dem 2. Jahrhundert nach Christus stammt. Dort ist besonders die Bewunderung der Erwachsenen noch eindringlicher dargestellt:

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„Und nach dem dritten Tage fanden sie ihn im Tempel sitzend zwischen den Lehrern, wie er das Gesetz anhörte und sie fragte. […] Alle aber gaben auf ihn acht und wunderten sich, wie er, ein kleines Kind, die Ältesten und Lehrer des Volks verstummen machte, da er ihnen die Hauptstücke des Gesetzes erklärte und die Sprüche der Propheten. […] Die Schriftgelehrten und Pharisäer aber sagten: bist du die Mutter dieses Kindleins? […] Selig bist du unter den Weibern, denn der Herr hat die Frucht deines Leibes gesegnet; denn solchen Glanz und solches Vermögen und solche Weisheit haben wir niemals gesehen noch gehört.“ (Thomas-Evangelium 1924, S. 101; Meyer 1924, S. 93 ff.)

Auch über diese Kernszene hinaus ist in dem gnostisch geprägten ­ ThomasEvangelium die übernatürliche Weisheit des Jesusknaben offensichtlich von großer Bedeutung. Berichtet wird an anderer Stelle von einem regelrechten Wettstreit zwischen dem kleinen Knaben Jesus und dem etwas zwielichtigen Lehrer Zacchäus. Der will dem Kleinen das Alphabet beibringen, lehrt ihn erfolgreich „Alpha“ sagen, als er aber zum „Beta“ fortschreiten will, bekommt er seine Lektion: Jesus bringt ihm zunächst einmal das „Wesen“ des „Alpha“ bei, bezogen auf die graphische Anordnung der Linien im Schriftzeichen und auf die heilsgeschichtliche Bedeutung dieses Buchstabens. Vorher könne man doch nicht zum „Beta“ fortschreiten. Das ist für den armen Lehrer zu viel: „Weh mir, ich bin in die Enge getrieben, ich Unglücksmensch, der ich mir selbst Schande bereitete, indem ich dies Kind an mich zog. […] Ich habe danach gerungen, einen Schüler zu haben, und es fand sich, dass ich einen Lehrer hatte. O Freunde, ich bin mir meiner Schande voll bewusst: denn obwohl ein alter Mann, bin ich von einem Kinde besiegt. Mir bleibt nichts anderes übrig als zunichte zu werden und zu sterben, und alles um dieses Knaben willen.“ (Thomas-Evangelium 1924, S. 98 f.)

Das Kind ist zum Lehrer geworden, und dem Lehrer gefällt das gar nicht. Zumal der Gegenstand der Lehre nicht etwa irgendetwas Neues, eine neue Technologie zum Beispiel, ist, sondern altes Wissen. Wissen, Kultur und Tradition werden hier vom Jungen auf die Alten weitergegeben – nicht umgekehrt. All diese Geschichten, sei es im kanonisierten, sei es im apokryphen Text, gehören jedenfalls in eine Traditionslinie, die Elemente der Lehr- und G ­ elehrten-Ikonographie mit Motiven aus dem großen Topos-Repertoire der wunderbaren Kinder zusammenführt. Neu nämlich oder ungewöhnlich sind zu Zeiten des L ­ ukas-Evangeliums weder die Geschichte des zwölfjährigen Jesus im Tempel noch die dieser Geschichte zugrunde liegenden Phantasien. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich vielmehr dieses göttliche Kind, dessen Verehrung eines der wichtigsten Grundmotive unseres kulturellen Selbstverständnisses bildet, als Sondervariante aus der Spezies der

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wunderbaren Kinder – einer Spezies, die sich durch alle Zeiten und alle Kulturen hindurch verfolgen lässt (vgl. Lenzen 1985, S. 193 ff.). Geschichten jedenfalls von wunderbar gelungenen und weisen Kindern gehören zu den immer wieder auftauchenden Topoi der Götter-, Heroen- und Fürsten-Biographik. Die Besonderheit eines besonderen Menschen streicht man dadurch heraus, dass man erzählt, wie er schon besonders früh Besonderes besonders gut kann: Schlangen erwürgen (Herakles), Viehherden stehlen (Hermes), mit Tieren sprechen (Iamos), Wagen umwerfen und Milch und Butter stehlen (Krishna), Kranke heilen und ertrunkene Kinder retten (Krishna, Rama), mit berggroßen Steinen um sich werfen (Gargantua) – um nur einige Beispiele zu nennen (vgl. Lacarrière 1993; Meyer 1924, S. 94). Was die spezifisch abendländische Geschichtsschreibung angeht, so stammt die Ausgangsgeschichte für all diese wunderbaren und lehrenden Kinder wahrscheinlich aus der Kyros-Biographik. Bei Herodot findet sich im 5. Jahrhundert vor Christus die Erzählung von Kyros, dem Enkel des Herrschers Astyages. Der Knabe soll – damit eine für den Landesherren ungünstige Traum-Prophezeiung sich nicht erfüllt – getötet werden, wird aber von einem mitleidigen Hirtenpaar als eigenes Kind aufgezogen und lebt so unerkannt als Hirtenkind unter Hirtenkindern fern von der Hauptstadt. Als er zehn Jahre alt ist, kommt jedoch die Wahrheit an den Tag, denn beim Spiel mit seinen Altersgenossen benimmt sich der kleine Kyros als das, was er in Wirklichkeit ist – als König. Er gibt Kommandos, delegiert Aufgaben, bestraft aufsässige Spielkameraden, selbst wenn die aus besserer Familie stammen. Zur Rede gestellt, wie er als Sohn eines Niederen es wagen könne, einem höhergestellten Knaben übel mitzuspielen, hält der junge Kyros eine Rede, die „stolz und frei“ klingt und ihn als geborenen Herrscher ausweist: „Herr, er hat es verdient! Die Kinder im Dorf, unter denen auch er war, haben gespielt und mich zu ihrem König gewählt. Sie meinten, ich eignete mich am besten dazu. Die anderen Knaben haben denn auch getan, was ich befahl, aber er gehorchte nicht und achtete mich gar nicht, bis er seine gerechte Strafe erhielt. Habe ich Unrecht getan: hier bin ich!“ (Herodot 1971, Historien, I, 115, S. 54; Lacarrière 1993, bes. S. 24 f.).

Auch in dieser Geschichte also behauptet sich ein über seine Jahre hinaus kluger Knabe disputierend und argumentierend in der Welt der Erwachsenen und demonstriert dadurch seine Besonderheit. Von hier aus, mit starken Einflüssen indischer und persischer Mythologeme, zieht sich eine lange Traditionslinie von weisen und besonders begabten Kindern durch die europäische Geschichte – von Kindern, die durch kluges Reden und verständige Worte auffallen, und die

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dadurch nicht zuletzt in den familiendynamischen Zusammenhängen, in denen sie leben, Einiges an Durcheinander anrichten. Sie übernehmen zumindest eine der traditionell väterlichen oder elterlichen Funktionen selbst: das Zeigen, sie leisten einen kulturellen Transfer in umgekehrter Richtung, sie belehren. Staunende und erschreckte Eltern oder Pflegeeltern, überraschte Experten und übersprungene Mitglieder der jeweils etablierten Hierarchie müssen mit ihnen fertig werden (vgl. Kris und Kurz 1980). Das Motiv des puer senex, das man sich gerade in Zeiten als fest angenommener Altershierarchien einigermaßen skandalös vorstellen kann, macht dann in der heidnischen Spätantike endgültig Karriere, etabliert sich in Heiligen-, Fürsten- und Künstlerbiographien als „hagiographisches Klischee, nachwirkend bis ins 13. Jahrhundert.“ (Curtius 1948, S. 108 ff.) Der zwölfjährige Jesus im Tempel erscheint so als Sonderfall einer breiten Topos-Tradition, von der Curtius vermutet, dass sie auf universell gültige „Archetypen“ zurückzuführen ist. Was nun die christliche Rezeption angeht, so wird – einerseits – die fast uneingeschränkte, ja bisweilen geradezu schwärmerische Verehrung des Alters, die in der ganzen Antike vorherrscht, übernommen. Nicht zuletzt aus durchsetzungsstrategischen Gründen wird das junge Christentum keineswegs gegen das kulturkonventionell hohe Ansehen des Alters argumentieren. Andererseits fließen in die christlichen Denkmuster und Legendenbildungen Elemente der hellenistischen Philosophie, besonders der Stoa, ein – Denkmuster, die für eine Unabhängigkeit der Eudaimonia von der Zeit eintreten und denen deshalb gerade die Überwindung der natürlichen Altersstufen als besondere und besonders auszeichnende Leistung erscheint. „Der Prozess der Popularisierung philosophischen, besonders stoischen Lehrguts erfasste auch den Satz von der Irrelevanz des Lebensalters, und hierdurch erklärt sich zu einem wesentlichen Teil, dass wir in den späteren Jahrhunderten so viel von frühreifen Knaben und altersklugen Jünglingen hören. Der Gedanke setzte sich vorzugsweise in bestimmten Bereichen fest, im inschriftlichen und literarischen Totenpreis etwa oder in der Herrscherpanegyrik, wirkte aber auch allgemein als Lobschema.“ (Gnilka 1972, S. 206)

Eine solche Transzendierung der natürlichen Altersabfolgen ist für das junge Christentum nicht zuletzt deshalb von besonderem Interesse, weil sich damit die unhinterfragte Autorität und Prädominanz der Altersweisheit konterkarieren lässt: Die „Alten“, das sind ja noch im 3. und 4. Jahrhundert vor allem die vorchristlichen Philosophen, denen man gar nicht so unbedingt uneingeschränkte Geltung und Bewunderung zukommen lassen will (vgl. ebd., S. 115 ff.). „Alterstranszendenz“ wird so nicht nur zum durchgängig wirkenden literarischen Motiv,

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sondern auch zum Ausdruck christlichen Lebensgefühls und zum politischen Argument: Die natürlichen Alter können und sollen überwunden werden, ihre Überwindung macht gerade das Besondere der Großen und Heiligen aus (vgl. ebd., S. 165 ff.). In diesem Sinne ist die Überwindung der Altersgrenzen ein durchaus spezifisch christliches Ideal mit nicht zuletzt religionspolitischem Argument. Und dabei geht es ganz überwiegend um weise Knaben, es finden sich nur vereinzelte Belege für die puella anilis, das weise Mädchen – meist auf das biblische Motiv der klugen Jungfrauen bezogen (vgl. Mt. 25, 1/13). Das christliche Ideal der Alterstranszendenz gilt im Prinzip für beide Geschlechter, die Exempla jedoch sind in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle männlich (vgl. Gnilka 1972, S. 32). Die epochenübergreifend wirkende Phantasie von der Aufhebung der Lebensalter bekommt so im Christentum einen eigenen durchsetzungsstrategischen Akzent: der puer senex wird zu einer geradezu ideal geeigneten Figur, um einerseits den antiken Respekt vor dem Alter und vor dem Althergebrachten beizubehalten und andererseits den Erneuerungsanspruch des Christentums durch Identifizierung mit der Jugend zu demonstrieren (vgl. von Franz 1987). Ganz gleich freilich, ob man den weisen Knaben nun als spezifisch spätes oder als spezifisch christliches Motiv ansieht, er gehört in eine lange Traditionslinie und in die Kontinuität einer Motivgeschichte, die nicht nur christlich und keineswegs nur europäisch ist. „Gräbt man […] noch etwas tiefer, so findet man, dass in verschiedenen Religionen Heilbringer durch die Verbindung von Kindheit und Alter charakterisiert werden.“ (Curtius 1948, S. 111) Immerhin – um nur zwei außereuropäische Beispiele zu nennen – kann auch der Name Lao-Tse als „altes Kind“ übersetzt werden, gibt es auch buddhistische Legenden von Weisheit predigenden Jünglingen (vgl. ebd., S. 110 f.). Der zwölfjährige Jesus im Tempel, das ist also eine Geschichte, die ihrerseits auf früheren Traditionen aufbaut, die mit aktuellen Durchsetzungsinteressen verbreitet wird und die zudem als anthropologisches Beispiel fungieren kann für einen Kulturtransfer, der nicht in der üblichen Richtung geschieht.

4 Die Bildtradition: Jesus als weiser Knabe Was nun die Bildtradition des Motivs angeht, so lassen sich zwei Grundtypen voneinander unterscheiden, die sich beide aus der antiken Gelehrtenikonographie herleiten: der Lehrtypus und der Diskussionstypus. Beim Lehrtypus sind die Personen der Szene – die Schriftgelehrten, Jesus und manchmal Maria und Josef – symmetrisch angeordnet, wobei die Jesusfigur manchmal zwar höhergestellt oder

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hervorgehoben ist, sich aber ansonsten in das graphische und räumliche Gesamtarrangement eingliedert. Was hingegen den Diskussionstyp angeht, der sich ebenfalls bis in die frühchristliche Zeit hinein zurückverfolgen lässt, so sitzt oder steht da der Jesusknabe den zu einer Gruppe zusammengefassten Schriftgelehrten gegenüber und ist weniger mit deren Belehrung als mit der disputierenden Auseinandersetzung befasst. Auch diese Bildtradition des Motivs zieht sich nahezu ungebrochen durch die Jahrhunderte, mit jeweils epochenspezifischen Akzentuierungen: da wird – um nur ein Beispiel zu nennen – in der Aufklärungstradition die Szene zu einer griechischen Akademie umgedeutet, mit Jesus in der Rolle des weisen Philosophen (vgl. Osteneck 1972, S. 588 f.). Gemeinsam ist all diesen Geschichten von weisen, die Erwachsenen belehrenden Kindern, dass es immer um Junge und Alte geht, deren Verhältnis zueinander vom generativen Normalfall abweicht. Die Transfers sind hier umgekehrt. Und mit geradezu notorischer Häufigkeit geht es dazu noch um die Klärung des Verhältnisses zwischen den Original- und den Ersatzeltern: Bei Kyros sind das die Hirten, bei der Jesusgeschichte sind es die etwas komplizierten Vaterschaftsverhältnisse, die gerade in dieser Szene dramatisch herausgestellt werden: „Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“ (Lk 2, 49) Immer steht ein von den Erwachsenen auf paradoxe Weise distanziertes Kind im Mittelpunkt der Geschichte. Damit sind die Generationendifferenzen nicht aufgelöst, vielmehr werden sie in der Umkehrung auf geradezu dramatische Weise verstärkt. Der weise Jesus im Tempel bleibt ein Kind, tritt nicht als ihresgleichen unter die Erwachsenen, sondern erstaunt, belehrt und unterrichtet sie, tritt zudem seinen sich um ihn sorgenden Eltern mit geradezu herrischer Distanziertheit entgegen. Dieser Knabe vermittelt seinen Eltern Grundnormen der Kultur: dass er „in dem sein muss, was des Vaters ist“, und diese Vermittlung geschieht nicht ohne vorwurfsvolle Ermahnung: „Wusstet ihr nicht…?“. Dieses Kind belehrt seine Eltern. Was die spezifische Behandlung dieses Themas durch Liebermann angeht, so gehört das Bild eindeutig in die Traditionslinie des Diskussionstypus. Der kleine Jesus erscheint als debattierender Teilnehmer eines engagierten Diskurses unter Gleichberechtigten. Genau hier aber liegen – im wörtlichen Sinne unter der Oberfläche des uns heute bekannten Bildes – die Gründe für die zeitgenössischen Aufregungen: Liebermann hat nämlich die ursprüngliche, in München gezeigte Fassung überarbeitet, und zwar hat er den Jesus-Knaben nahezu vollständig neu gemalt. Im Originalbild war da ein struppig-dunkelhaariger, heftig gestikulierender Knabe zu sehen, der einen kurzen Rock trug, eine Art Schurz vor den dünnen Beinen hatte und einen Ansatz von Schläfenlocken aufwies. An dessen Stelle ist nun ein blondes Kind getreten, dessen ehemals leicht gebogene

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Nase begradigt erscheint. „Die überarbeitete Fassung zeigt keinen flinken frechen Judenknaben, sondern ein niedliches stupsnasiges Kind mit goldenem Haar, von dem man nicht weiß, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. […] Der vormals leicht bucklige Rücken wurde von Liebermann geglättet und die Haltung des Oberkörpers gestrafft.“ (Boskamp 1993, S. 29; vgl. dazu auch Amishai-Maisels 1982) Katrin Boskamp hat im Einzelnen nachgezeichnet, wie der säkularisierte Jude Liebermann in diesem Bild versucht hat, seine eigene Position in den Auseinandersetzungen um das Problem der jüdischen Assimilation in Deutschland zu formulieren. Dass er sich schließlich wohl gezwungen sah, das Bild zu verändern und zu konventionalisieren, gibt insofern nicht zuletzt ein Stück biographischer und politischer Resignation wieder. Liebermanns Bild spiegelt in seiner heute vorliegenden Gestalt wie in seiner Geschichte auf beeindruckend-bedrückende Weise die politischen und kulturellen Ambivalenzen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wider. Ein selbstbewusster deutscher Bürger jüdischer Herkunft versucht ein Bild zu malen, das sein Selbstverständnis zwischen zionistischen Identifikationsanforderungen und deutscher Kulturzugehörigkeit, zwischen autonomem Kunstanspruch und gesellschaftlichen Widerspiegelungsambitionen, zwischen Vorstellungen von generationaler Normativität und Verkehrungsphantasien wiedergibt. Er wird durch dieses Bild berühmt, gerät zugleich aber auch in ein ideologisches Kampfgebiet hinein, das durch religiöse Ressentiments, Kulturkampf-Mentalitäten, Rassismus und Antisemitismus geprägt ist. Mit der Übermalung versucht er, diesen vielfältigen Widersprüchen zu entkommen, ohne dass ihm dies gelingt. Auch für Ambivalenzen gilt: Gerade als Abgewehrte kehren sie umso sicherer wieder. Was bleibt, ist das Bild eines lehrenden Knaben, der seiner Familie demonstriert, welche der hergebrachten kulturellen und religiösen Normen er für wichtig und richtig hält: er verhält sich postfigurativ und präfigurativ zugleich, ein Lehrender, der nichts Neues, sondern das göttlich verbürgte Alte lehrt.

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Wer belehrt wen?

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J. Bilstein

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Veränderte Generationenbeziehungen und -verhältnisse

Stichworte zu Generationen Thorsten Fuchs, Alena Berg und Anja Schierbaum

„Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?“ (Schleiermacher 1957, S. 9) – diese Frage und der mit ihr zusammenhängende Themenkomplex sind im pädagogischen Denken unbestritten traditionsreich (vgl. Klika 2002; Kraul 2004). Indem ein so formuliertes Anliegen der Klärung vor knapp 200 Jahren zum Ausgangspunkt von vielfach rezipierten Überlegungen gemacht wurde, hat man zugleich die Weichen für die Hervorbringung von Generation als einen Grundbegriff der Pädagogik gestellt (vgl. Ecarius 1998a; Müller 1999). Was in dieser Ausrichtung interessiert, ist die Sicht der älteren Generation auf die jüngere bzw. das Mühen um Präsentation und Repräsentation der ­gesellschaftlich-historischen Kultur, damit die jüngere Generation kulturelle Zusammenhänge sichert, Errungenschaften bewahrt und Unvollkommenes der Gesellschaft verbessert (vgl. Mollenhauer 1983). Neueren Datums ist die umgekehrte Frage: „Was will die jüngere mit der älteren Generation?“ (Ecarius 1998b; ähnlich auch Müller 1996); man wird allerdings ebenso wenig behaupten können, dass im Gegensatz zur ersten hiermit ein pädagogisches Sujet der ‚aktuellen Stunde‘ vorliegt. Ein historisch sensibilisierter Blick zeigt, dass diese Frage spätestens mit der sozialgeschichtlich zu verstehenden

T. Fuchs (*)  Universität Koblenz-Landau, Koblenz, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Berg · A. Schierbaum  Universität zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Schierbaum E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Fuchs et al. (Hrsg.), Jugend, Familie und Generationen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24185-8_16

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„Erfindung des Jugendlichen“ (Roth 1983) und dem Aufkommen einer Jugendbewegung am Beginn des 20. Jahrhunderts Eingang in pädagogische Reflexionen gefunden hat. Bereits zu dieser Zeit, als Jugend ‚erwachte‘, interessierte, wie die junge Generation mehr und anderes sein kann als ein ‚Anhängsel‘ der älteren Generation, wie sie die Besinnung auf sich selbst und die Artikulation eigener Lebensperspektiven vornimmt, um ihre Differenz zur älteren Generation und deren Traditionen zu unterstreichen. Beide Fragen erfuhren seit ihrem Aufkommen zwar unterschiedlich intensive Aufmerksamkeit, waren insofern Konjunkturschwankungen ausgesetzt, haben dabei aber kaum an Komplexität eingebüßt (vgl. Bock 2008). Offenbar wird es immer schwerer, das „Problem der Generationen“ (Mannheim 1928) noch systematisch einzugrenzen. Ohne Aussicht darauf, ein Amalgam bilden zu können, gilt es in Rechnung zu stellen, dass mit dem Problem familienund schulbezogene Aspekte ebenso verbunden sind wie sozialpädagogische wie auch sozialpolitische (vgl. Hermann 1987; Lüscher 1993; Müller et al. 2010). Auch ist das Generationenproblem in den zurückliegenden Jahren nicht weniger brisant geworden. Im Gegenteil: Angetrieben durch die Verlagerung der demographischen Balance zwischen der jüngeren und der älteren Generation zugunsten der Letzteren, wodurch „Gerechtigkeit zwischen den Generationen“ (Brumlik 1995) herzustellen womöglich ausweglos geworden ist, verschieben sich permanent die Koordinaten, und ehemals nützliche begriffliche Instrumente der Analyse scheinen nicht mehr probat. In Anbetracht vielfältiger technologischer, ökonomischer und kultureller Transformationsprozesse der Spätmoderne, von denen alle Gesellschaftsmitglieder betroffen sind und sie mit neuen Lern- und Entwicklungsaufgaben konfrontieren, steht somit auch infrage, inwieweit sich die Generationen noch etwas zu sagen haben, insbesondere dann, wenn „singularistische Lebensführungen“ (Reckwitz 2017, S. 273) die generationalen Differenzen nun doch wieder verstärken. Kurzum: Vieles, was das Verhältnis der Generationen zueinander betrifft, ist „in jeder Hinsicht in Bewegung“ (Shell Deutschland Holding 2019, S. 9) geraten. Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Bedingungen schöpfen pädagogische Generationenprojekte neuerdings ihre besondere Legitimation, indem sie den Dialog institutionell kultivieren und wechselseitige Lernprozesse anregen wollen – vor allem zwischen den Jungen und den sogenannten ‚alten Alten‘. Dabei bildet der alltägliche familiale Hintergrund – das hat Jutta Ecarius (1997, 2001; Ecarius et al. 2017) in ihren Arbeiten der letzten Jahre immer wieder deutlich machen können – bereits die strukturelle Ausgangssituation für diese Form des intergenerationalen Lernens, sodass nicht etwa erst durch das spezifische Arrangement von Generationenprojekten die Bedingungen hierfür geschaffen

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werden. Schon Familieninteraktionen sind eo ipso intergenerational angelegt und die gelebten Generationenbeziehungen in Form von ko-konstruierten Lernvollzügen gestaltet, da jüngere und ältere Generation tagein, tagaus wechselseitig voneinander lernen – etwa durch Erkundung, Nachahmung oder auch Abgrenzung. In dieser Weise betrachtet wird anschaulich, dass traditionale Relationen zwischen den Generationen sich insofern verkehrt haben, als die Eltern eher von den Kindern lernen, was Margaret Mead (1971) im „Konflikt der Generationen“, ihrem Systematisierungsversuch intergenerationaler Einflüsse, als die präfigurative Struktur der Moderne beschrieben hat. Weil das Lernen unter den Vorzeichen einer derartigen Signatur „nicht mehr als ausschließliche Aufgabe der Jugendzeit definiert“ (Liebau 1997, S. 17) ist, sondern zu einer auf Dauer gestellten, lebensbegleitenden, jüngere wie auch ältere Generationen gleichermaßen betreffenden Herausforderung wurde, weist es über neue Konstellationen der sozialen Ordnung von Generationen hinaus und schlägt sich in der Gestaltung generationaler Beziehungen nieder. Eine solche Betrachtung der gelebten Generationenbeziehungen macht dann wiederum deutlich, dass die jüngere Generation nach wie vor stark der älteren bedarf, insbesondere dort, wo es um persönliche, soziale und existenzielle Qualitäten geht: Sicherung des Lebensunterhalts, berufliche Zukunftsplanung usw. Jede Rede von der radikalen Um- bzw. Abkehr entbehrt insofern trotz weitreichender Veränderungsdynamiken einer überzeugenden Grundlage (vgl. Giesecke 2005, S. 96 f.; Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen 2012). Den Blick auf das konkrete interaktive Miteinander der Generationen zu lenken, ist vor diesem Hintergrund etwas, das für die erziehungswissenschaftliche Theorieentwicklung und Empirie daher höchst aufschlussreich ist. Nur indem genauer danach gefragt wird, „was sich innerhalb der personal strukturierten Erziehungsmilieus der Familie, der Schule und anderen Einrichtungen des Erziehungssystems gegenwärtig ereignet“ (Müller 1999, S.  793  f.), können aufgeklärte Perspektiven gewonnen, empirische Befunde erzeugt und im Hinblick auf theoretische Positionen wie auch praktische Konsequenzen reflektiert werden. Mit Notwendigkeit vorläufig bleiben sie dabei dennoch. Die im dritten Teil versammelten Beiträge widmen sich allesamt Fragen von veränderten Generationenbeziehungen und -verhältnissen aus dem Movens der Hervorbringung erziehungswissenschaftlicher Betrachtungen. Jörg Zirfas inspiziert aus einem anthropologisch informierten Blickwinkel zwei Funktionen des Generationenbegriffs für pädagogisches Denken und Handeln: zunächst jene zur Diskussion der Geburt als ein ‚pädagogisches Ereignis‘. Im Durchdenken der in Überlegungen von Kant, Arendt und Lévinas aufgehobenen Philosopheme werden dabei An- und Aussichten entfaltet, die

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unter der Rubrizierung der Generativität die Beziehung zwischen älterer und jüngerer Generation auch und gerade in dialektischen Kategorien – etwa jener von Möglichkeit und Festlegung – beschreibt. Eine Erweiterung finden diese Gedanken sodann in einer zweiten Funktionsanalyse. In dieser wird nicht nur rekonstruiert, wie die pädagogischen Grundoperationen des Aneignens und Vermittelns über die Zeiten hinweg generational bestimmt wurden, sondern zugleich infrage gestellt, inwiefern die pädagogische Idee einer Generationenerziehung noch trägt in Anbetracht von Gegenwartsdiskursen, die unmissverständlich demonstrieren, dass die kontingente, kaum intentionalisierbare Sozialisation omnipräsent geworden ist. Arnd-Michael Nohl nimmt in seinem Beitrag das im Jahr 2012 in der Türkei formulierte politische Bestreben einer religiösen Erziehung der jüngeren Generation zum Anlass, in Reaktion darauf erschienene Zeitungsartikel einer komparativen Diskursanalyse zuzuführen, um sowohl übergreifende „Strukturen des Denkens“ (Mannheim 1980), als auch drei scharfe Kontraste zu rekonstruieren. Die fallspezifischen Diskursinterpretationen zu der Frage, wie die ältere Generation eine jüngere religiöse Generation erzeugen will, enthüllen damit das ganze Panorama an Positionen und normativen Erwartungen, wenngleich letztlich, insbesondere seit den politischen Ereignissen des Jahres 2016, der staatsunterstützende Erziehungsdiskurs in der Türkei dominant wurde: die unterschiedlichen Auslegungen der Bedeutung von Erziehung für Individuum und Gesellschaft, die dem Staat zufallenden Aufgaben in der Gestaltung der Erziehungspolitik und die Rolle des Islams als religiöses Fundament. Die mediale Inszenierung von Generationenbeziehungen in der ­US-amerikanischen TV-Serie „Gilmore Girls“ ist Gegenstand des Beitrags von Marcel Eulenbach und Christine Wiezorek. Konzeptionell verortet in die Debatten zu Qualitätsserien als Stimulanzien erziehungswissenschaftlicher Reflexion fokussieren sie die fiktionale Generationenbeziehung zwischen der alleinerziehenden Lorelei Gilmore und ihrer Tochter Rory – insbesondere hinsichtlich der virulenten Ablösungsprozesse, die sich zwischen den beiden Protagonistinnen ereignen und zwischen ihnen zum Anlass für Konflikte werden. Im Mittelpunkt der so instrumentierten Betrachtung steht eine filmische Streitszene. Der fiktionale Erzählraum dient dabei jedoch nicht nur dazu, die ambivalente Struktur von Ablösung im Spannungsfeld der Generationen zu illustrieren. Es geht zugleich auch darum, Theorieentwicklungen zu initiieren, indem im Horizont der „Erziehung des Beratens“ (Ecarius et al. 2017) auf Folgekosten aufmerksam gemacht wird, die sich zwischen den generational Anderen durch die fehlende Bereitstellung adoleszenter Möglichkeitsräume ergeben.

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Bianca Burgfeld-Meise und Dorothee M. Meister führen die mit den beiden vorangegangenen Beiträgen eröffnete ‚medial‘ fundierte Perspektive auf Generationen weiter und zugleich zu einem vorläufigen Ende, indem sie die historische Relevanz von Medien für Jugendliche ebenso diskutieren wie die wissenschaftlichen Zugänge, die darauf aus sind, den Konsum junger Menschen differenziert zu erfassen. Sie können dabei aufzeigen, dass Medienhandeln von Jugendlichen nicht nur generationale Spezifika aufweist, sondern mit den sozialen Milieus, Geschlechterunterschieden und auch technischen Fortschritten ‚korreliert‘ – eine zentrale Erkenntnis für weitere Studien, die sich etwa der sogenannten „Digital Natives“ annehmen und generational verfasste Medienpraxiskulturen zu untersuchen beabsichtigen.

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Generativität und Generationalität Pädagogisch-anthropologische Perspektiven auf Geburt und Erziehung Jörg Zirfas Zusammenfassung

Der Beitrag rekonstruiert aus dem Blickwinkel der pädagogischen Anthropologie den Begriff der Generation in zwei Aspekten: Zum einen stellt er einen Bezug zur Herkunft und damit zu Fragen nach der pädagogischen Bedeutung der Geburt her (Generativität); und in Bezug zu anderen Generationen in der Erziehung geht es dezidiert um die pädagogische Beziehung, um Vermittlung und Aneignung (Generationalität). Neuere Forschungen, die die Vermittlungsund Aneignungsvorgänge insgesamt betrachten, rücken nicht nur intendierte Erziehungs- und Bildungsvorstellungen, sondern auch mehrperspektivische und multidimensionale Lehr- und Lernprozesse in den Fokus. Die Generationenerziehung erscheint dabei durch eine kaum intentionalisierbare Sozialisation ersetzt. Schlüsselwörter

Aneignung · Erziehung · Geburt · Herkunft · Sozialisation · Vermittlung ·  Zeugung

J. Zirfas (*)  Universität zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Fuchs et al. (Hrsg.), Jugend, Familie und Generationen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24185-8_17

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1 Einleitung Seit einigen Jahren findet der Generationenbegriff in den Human-, Sozialund Kulturwissenschaften verstärkte Aufmerksamkeit – wozu nicht zuletzt auch die Studien von Jutta Ecarius beigetragen haben (vgl. Ecarius 1997, 2007, 2008, 2009). Diese Aufmerksamkeit ist unter anderem den zahlreichen sozialen, politischen, ethischen aber auch pädagogischen Diskussionen um den Generationenvertrag, den Modernisierungsdiskurs, die Veränderungen von Kindheit, Jugend und Alter, die Debatten über Pflegeversicherung und Sterbehilfe und nicht zuletzt um die herkunftsbedingten Ungerechtigkeiten des Bildungssystems geschuldet. Die einschlägigen Diskussionen verdeutlichen die zentrale Stellung der Generationenfrage in den Wissenschaften vom Menschen. Sie führen dazu, auch pädagogische Prozesse wieder stärker in ihrer Einbettung in Generationenzusammenhänge zu begreifen. Generation ist ein vielschichtiger Begriff, der mehrere Dimensionen umfasst. Etymologisch betrachtet geht das lat. „generatio“ auf das „genos“ zurück, das in der griechischen Gesellschaftsordnung ein – in der Regel aristokratisches – Geschlecht oder einen adligen Familienverband bezeichnete, dessen Angehörige sich auf ihre Abstammung in männlicher Linie vom selben Ahnherren beriefen und die im Allgemeinen sich wenigstens einmal im Jahr trafen, um Beamte zu wählen, Verfügungen zu erlassen und neue Mitglieder aufzunehmen. Und auch der lateinische Begriff „gens“, der ebenfalls die maskuline Abstammung betont, gehört zum etymologischen Umfeld der „generatio“. Im Unterschied zum genos der Griechen bezieht sich die gens zwar auch auf einen Ahnherren, den die Römer, anderes als die Griechen, jedoch weder der Nachwelt überlieferten noch verehrten (vgl. Specht und Riedel 1974). Das genos der Griechen und das gens der Römer verweisen auf Geborensein, Zugehörigkeit und Mitgliedschaft; nimmt man darüber hinaus den griechischen Begriff genea (Geschlecht, Abstammung) hinzu, so kommt noch eine andere, nämliche diachrone Perspektive in den Blick. Genea verweist auf die Kontinuität von Generationenfolgen, eine zeitlich befristete Einheit, die immer wiederkehrt und vergeht. Die Griechen ordneten diese Zeiteinheiten zyklisch an, sodass die Generation als zeitliche Gestalt, als Glied einer Kette verstanden wurde, die als Mit-Glied der großen und unvergänglichen Kette der Lebewesen erscheint. In diesem Sinne hat der Mensch mit seinen Kindern an einer in die Ewigkeit reichenden Kette von Generationen und somit an der Erzeugung der Unsterblichkeit teil – so etwa bei Platon (vgl. Weigel et al. 2005; Jureit 2006; Parnes et al. 2008).

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Der Generationenbegriff hat in der Erziehungswissenschaft verschiedene Funktionen: Er dient (historisch) als Begründung der Pädagogik, als Thematik der pädagogischen Professionalisierung, als vielschichtiger Reflexions- und Problematisierungsbegriff sowie – wegen seiner vielseitigen disziplinären Bezüge – als interdisziplinäres Kontextualisierungskonzept (vgl. Liebau und Wulf 1996; Liebau 1997a, b; Kramer et al. 2001; Zirfas und Wulf 2004; Ecarius 2008). Im Blickwinkel der pädagogischen Anthropologie erscheinen vor allem zwei Aspekte von Belang: Mit dem Generationenbegriff lassen sich im Bezug zur Herkunft vor allem Fragen nach der pädagogischen Bedeutung der Geburt diskutieren (Generativität); und in Bezug zu anderen Generationen geht es dezidiert um die pädagogische Beziehung, um Vermittlung und Aneignung (Generationalität).

2 Generativität: Herkunft und Natalität Mit einem Blick in die Geschichte anthropologischer Vorstellungen innerhalb der Pädagogik fällt zunächst auf, dass man die Diagnose von Hans Saner (1995), der von einer „Geburtsvergessenheit“ und „Todesversessenheit“ in vielen Stationen des abendländischen Denkens spricht, auch für die Pädagogik unterstreichen muss. Während der Tod in vielen Erziehungskonzeptionen eine bedeutsame Rolle einnimmt, wird die Geburt kaum bedacht (vgl. Zirfas 2008). Das mag verwundern, denn im Unterschied zur pädagogisch kaum reflektierten Geburt als realem Entbindungsvorgang von Mutter und Kind kam den Anfängen in pädagogischer, didaktischer und methodischer Hinsicht in der Pädagogik immer eine bedeutsame Rolle zu. Unter dem Titel „Geburt“ wird hier im Folgenden nicht nur auf die leibliche Entbindung von Mutter und Kind, sondern auch die Zeugung abgehoben. Es ist wohl kein Zufall, dass es eine Frau, nämlich Hannah Arendt (1906– 1975) war, die als erste die Thematik der Geburt anthropologisch bedachte. Sie ist zugleich diejenige, die Erziehung dezidiert als Antwort auf die Tatsache der Geburt des Neuen verstanden hat – vor allem mit ihrem Aufsatz „Die Krise in der Erziehung“ von 1958 (Arendt 1994, S. 255 ff.). Zugleich versucht sie den Zusammenhang von Geburt und Erziehung mit Blick auf Freiheit, das Handeln, die Neuheit und die Verantwortung zu klären. Und zwar thematisiert sie die Natalität sowohl aus der Perspektive der älteren wie auch der jüngeren Generation – wobei sie merkwürdigerweise die Elternschaft nicht erwähnt. Unter Geburt als Anfang versteht Arendt die Möglichkeit, Initiative zu ergreifen, aus eigener Kraft etwas Neues anfangen zu können. Menschen sind

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Anfänger des Anfangs bzw. des Anfangens, sind spontane Wesen, die von sich aus in der Lage sind, eigene Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster zu entwickeln (vgl. Arendt 1987, S. 166). Menschen sind in diesem Sinne freie Wesen, die ihr Freisein darin erfahren, dass sie Anfänger von etwa sein können. Die Leistung von Arendt liegt nun darin, dass sie den Menschen als anfangenden Anfänger verstehen kann, dessen Geburt, besser Geburtlichkeit, in jedem Handeln zum Ausdruck kommt: „Handeln als Neuanfangen entspricht der Geburt des Jemand, es realisiert in jedem Einzelnen die Tatsache des Geborenseins“ (ebd., S. 167). Das Wunder jeder neuen Generation bedeutet potenziell immer auch die Freiheit für einen Neuanfang, für einen Novus Ordo Saeclorum oder für die Rettung der Welt, da sich die menschliche Gattung durch sie immer wieder erneuert (vgl. Arendt 2018, S. 36 ff.). Während die Geburt als Anfang die Innenperspektive des (geborenen) Menschen thematisiert, bezieht sich die Geburt als Neuheit auf die Außenperspektive: Die Geborenen erscheinen den älteren Generationen als neue Menschen. Arendt schreibt: „Neu ist das Kind nur in bezug auf eine Welt, die vor ihm da war, die nach seinem Tode weiter bestehen wird und in der es sein Leben verbringen soll“ (ebd., S. 266). Das geborene Kind erscheint somit als das unerwartete, unberechenbare Wesen, als „unendlich Unwahrscheinliches“, oder als ein „Wunder“ (ebd., S. 166 f.). „Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und vor dem Verderben rettet, das als Keim in ihm sitzt und als ‚Gesetz‘ seine Bewegung bestimmt, ist schließlich die Tatsache der Natalität, das Geborensein, welches die ontologische Voraussetzung ist, daß es so etwas wie Handeln überhaupt gegen kann“ (ebd., S. 243).

Sodann ist die Geburt nicht nur Anfang und Neuheit, sondern auch Potenzialität und Werden; es zeigt der älteren Generation „ein Doppel-Gesicht: Es ist neu in einer ihm fremden Welt, und es ist im Werden: es ist ein neuer Mensch, und es ist ein werdender Mensch“ (Arendt 1994, S. 266). Hiermit wird auf Geborenwerden als Grundvorstellung für Werden und Wachsen, auf natura als nascitura (= Reich der Geburt), abgehoben (Thomas v. Aquin). Erziehung ist somit, wie Bernfeld formuliert, die „Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache“ (1981, S. 53), die sich durch einen Doppelbezug auszeichnet, da nach Arendt in der Erziehung einerseits der Weltbezug und andererseits der kindliche Lebensbezug verantwortet werden muss. Während der Mensch das Werden allerdings mit allem Lebendigen teilt, das in vielfacher Weise ebenso unvollkommen zur Welt kommt wie der Mensch, besteht die eigentliche pädagogische

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Brisanz vielmehr in der mit dem Menschen verbundenen eigentümlichen Neuheit. Diese soll durch Erziehung bewahrt werden; wäre diese nicht im pädagogischen Blick, so wäre Erziehung nur Funktion des Lebens, und damit „Erhaltung des Lebens und Training oder Einübung ins Lebendigsein“ (Arendt 1994, S. 266). An diese drei Grunddifferenzierungen der Geburt als Anfang, Neuheit und Potenzialität lässt sich folgende Überlegung anschließen: Wenn Arendt über Geburt als Anfang und Anfangen spricht, bezieht sie sich auf den politischen Ort als gemeinsame Praxis der Freiheit; wenn sie sich auf Geburt als Neuheit (und Potenzialität) bezieht, steht die Erziehung im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Die Politik ist schließlich die Aktualisierung der Geburt als Initiation, deren Potenz durch die Erziehung als Konservierung des Neuen gesichert wird, und Erziehung hat mit der Vorbereitung auf das gemeinsame Handeln zu tun. Erziehung hat nach Arendt eine doppelte Aufgabe, einerseits das neue Kind mit der Welt bekannt zu machen, andererseits darauf zu achten, dass die durch das Kind vermittelte Neuheit vom Alter der Welt nicht unterdrückt wird, damit die gemeinsame Erneuerung der Welt vorangetrieben werden kann. Erziehung heißt Erhaltung des Neuen zur Verbesserung des Alten; diese Grundfigur ist seit Schleiermacher bekannt. Interessant erscheint allerdings die von Arendt mitgelieferte Begründung, die dem Erziehungsgeschehen viel von seinem Natalitätspathos nimmt: „Erziehen tun wir im Grunde immer für eine aus den Fugen geratene oder geratende Welt, denn dies ist die menschliche Grundsituation, in welcher die Welt von sterblichen Händen geschaffen ist, um Sterblichen für eine begrenzte Zeit als Heimat zu dienen“ (Arendt 1994, S. 273; Herv. v. Verf.). Neben der Neuheit als Grund der Erziehung zwingt die Endlichkeit, „der Ruin der Zeit“ (ebd.), die Menschen, Gesellschaft und Kultur pädagogisch zu erneuern, um sie zu erhalten. Doch würde man selbst die einmal erreichte politische Form der Freiheit verstetigen, unterliefe man die mit der Geburt verbundenen Momente der Selbstinitiative, des Neuen und des Werdenden. Nur der älteren Generation ist die Möglichkeit vorbehalten, politische Neuanfänge zu initiieren; Erziehung soll daher die Bedingungen dieser Möglichkeit sicherstellen. Dafür braucht sie Autorität, die sie nicht an die sich selbst verwaltenden Kinder delegieren darf, die als Werdende die gemeinsame Welt noch nicht mitbestimmen können. Sie braucht die Tradition einer Differenzierung von Privatheit und Öffentlichkeit, weil Kinder sich nur im Schutz der Privatheit emanzipieren können. Und sie muss Verantwortung reklamieren, um die Kinder vor der Welt und die Welt vor den Kindern in Schutz zu nehmen. Erziehung zielt daher auf eine zweite politische Geburt als Erwachsener, der nicht nur Verantwortung für die Erneuerung der Welt, sondern auch die „nackte Tatsache des Geborenseins“, gleichsam die Verantwortung für seine eigene Geburt

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ü­bernehmen soll (Arendt 1987, S. 165). Das Ziel der Erziehung nach Arendt ist der politisch handelnde Mensch, der quasi im Handeln die anerkennende Bestätigung seines Geborenseins bzw. seiner Geburtlichkeit vornimmt. Dieser Mensch erscheint als Grund seiner selbst, er bringt sich und die Bedingungen seines Lebens im politischen Handeln immer wieder selbst hervor. Greifen wir an dieser Stelle noch einmal den Gedanken der Neuheit der Geborenen auf, so kann man diese Idee mit Überlegungen von Emanuel Lévinas (1906–1995) zur „Fruchtbarkeit“, zur Bedeutung der Kinder und zur Elternschaft noch ein wenig weitertreiben. Er schreibt: „Die Kindesbeziehung ist noch geheimnisvoller [als die Liebesbeziehung]: Sie ist eine Beziehung zum Anderen, wo der Andere radikal anders ist, und wo er dennoch, in einer gewissen Weise, Ich ist; das Ich des Vaters hat mit einer Andersheit zu tun, welche die seinige ist, ohne Besitz oder Eigentum zu sein“ (Lévinas 1992, S. 54; d. Verf.).

Ohne jetzt hier im Einzelnen die vielfältigen Philosopheme von Lévinas (zur Beziehung, zur Verantwortung, zum Antlitz, zur Zeit usw.) nachzuzeichnen, soll mit ihm hervorgehoben werden, dass man von (den eigenen) Kindern in einem besonderen Maße in den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Erkennens betroffen ist. Kinder fordern Eltern in einer sehr authentischen Art und Weise dazu auf, sie anders als in den Erwachsenenontologien zu verstehen. Die Beziehungen der Elterlichkeit lassen sich – mit Lévinas – durchaus auf pädagogische Verhältnisse übertragen, indem man gegenüber dem Anderen eine väterliche und mütterliche Haltung einnimmt (vgl. ebd., S. 56), sodass auch in einer professionellen pädagogischen Kindesbeziehung eine Beziehung möglich wird, die er als „jenseits des Möglichen“ (ebd., S. 54) angesiedelt sieht. Kinder verkörpern Entwicklungs-, Denk- und Handlungsmöglichkeiten, die über die eigenen Möglichkeiten hinausgehen und die doch – in gewisser Hinsicht – auch die eigenen Möglichkeiten darstellen. Kinder sind beides: eigene und andere Möglichkeiten. Sie verweisen daher über die bestehenden Möglichkeiten hinaus auf ein „Jenseits der Möglichkeiten“ (Lévinas 2002, S. 391). Damit ist nicht die narzisstische Selbstverwirklichung von Eltern und Pädagogen angesprochen, sondern im Gegenteil der Hinweis darauf, dass Kinder diesen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmöglichkeiten bieten, die sie bisher noch nicht wahrzunehmen, zu denken und zu praktizierten wagten und wohl auch nicht wagen können. Sie sind deshalb „jenseits“ des Möglichen, weil jedes mögliche Mögliche immer schon ein erwachsenes, und kein kindliches Mögliches ist. Kinder sind insofern transzendente Wesen, die ihren

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eigenen Möglichkeiten folgen. Und ‚natürlich‘ ist deren Möglichkeitslogik wiederum von der biologischen oder auch der intellektuellen ‚Fruchtbarkeit‘ von Eltern oder Pädagogen abhängig; doch deren Fruchtbarkeit übersteigt ihr ‚natürliches‘ oder ‚erzieherisches‘ Sein auf andere Möglichkeiten radikal (vgl. Lévinas 1992, S. 54). „Die Beziehung zu einer solchen Zukunft, die nicht auf die Macht über Mögliches zurückgeführt werden kann, nennen wir Fruchtbarkeit“ (Lévinas 2002, S. 392). Folgt man hier Lévinas, so gewinnt man mit jeder Geburt eine radikale Andersheit und die damit verbundenen „Räume anderer Möglichkeiten“. Eltern und Pädagogen haben mit der Geburt die Möglichkeit, „aus der Abgeschlossenheit der eigenen Identität und aus dem, was einem zugeteilt ist, zu etwas, was einem nicht zugeteilt ist und dennoch von einem selbst ist, herauszutreten“ (Lévinas 1992, S. 54). Die Geburt bildet also auch eine Emanzipationsmöglichkeit für die Erziehenden. Kinder befreien die Erwachsenen, in dem sie Neues verfolgen – d. h. etwas, von dem die Erwachsenen nichts wissen und nicht wissen konnten. Die Geburt macht befreiende Antworten möglich und konstituiert damit auch die Identität der Erwachsenen, die sich zentral diesen neuen Antworten verdankt (vgl. Lévinas 1996, S. 19 ff.). Mit der Geburt als Situation der Emanzipationen gewinnen die Erwachsenen ihre kindliche Selbstfremdheit und ihre exterioren Lebensmöglichkeiten. „Die Vaterschaft ist nicht einfachhin eine Erneuerung des Vaters im Sohn und seine Verschmelzung mit ihm, sie ist auch das Außerhalbsein des Vaters in bezug auf den Sohn, ein pluralistisches Existieren“ (Lévinas 1995, S. 62). Der Verlust von Kindern stellt somit auch einen Selbstverlust der Erwachsenen dar. Ihnen fehlt einerseits die Gegenwart einer Gemeinschaft, die sie in gewisser Weise auch selbst verkörperten; und ihnen fehlt andererseits die Zukunft, die sie überrascht, weil sie sie nicht ergreifen können, und die in ihren Kindern doch präsent war (vgl. ebd., S. 49). Die Rede davon, Kinder repräsentierten die Zukunft, meint dann nicht den eher trivialen Sachverhalt, dass sie die Kultur und die Gesellschaft schon irgendwie erhalten oder weiterbringen werden (ein Modell der gegenwärtigen Zukunft), sondern, dass Kinder eine andere, eine zukünftige Zukunft verkörpern, von der man noch nichts wissen oder sagen kann, und die dennoch die eigene ist: „Die unendliche Zeit, die durch die Diskontinuität der Generationen hindurchgeht, ist besser; sie empfängt ihren Rhythmus von den unerschöpflichen Jugenden des Kindes“ (Lévinas 2002, S. 393; Herv. i. O.; vgl. Zirfas 2018). Gehen wir jetzt noch einmal einen Schritt zurück und fragen nach der pädagogischen Bedeutung der Zeugung, so kann man einerseits der Frage nachgehen: Warum wollen wir Kinder? (Vgl. Mollenhauer 1983, S. 17) In unserer modernen mitteleuropäischen Kultur, in der die Existenz von Kindern im hohen

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Maße von der Entscheidung der Eltern abhängig ist, ist diese Frage die vielleicht erste pädagogische. Auch wenn heute noch nicht alle Kinder geplant und einige auch ungewollt zur Welt kommen, so ließe sich doch selbst nach der Geburt eine Legitimation für die Existenz des Kindes finden, die dem Wollen der Eltern eine nachträgliche Begründung gibt. Was im Einzelnen die Eltern dazu bewogen haben mag bzw. bewegt, Kinder zu bekommen, ist eine interessante Frage für die empirische Forschung. Man kann andererseits aber auch die pädagogische Frage nach der moralischen Bedeutung der Zeugung stellen. In dieser Perspektive resultiert nach Immanuel Kant (1724–1804) die Pflicht zur Erziehung, ja die Pflicht zu einer am Kindeswohl orientierten Erziehung, nicht erst aus der Tatsache der Geburt, sondern schon aus der ethischen Handlung der Zeugung. Denn mit der Zeugung greifen die Eltern in das Autonomiepotenzial des Kindes ein und bringen das Kind, ohne es zu fragen, auf ‚unsere‘ Welt. Im Artikel 28 seiner Metaphysik der Sitten, der das Elternrecht behandelt, schreibt Kant, dass man „den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen [hat], wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt, und eigenmächtig in sie herübergebracht haben; für welche Tat auf den Eltern nun auch eine Verbindlichkeit haftet, sie, so viel in ihren Kräften ist, mit diesem ihrem Zustande zufrieden zu machen“ (Kant 1982, S. 394).

Während Erziehung sich in diesem Sinne als Reaktion auf die anthropologische Tatsache der Geburt verstehen lässt, zielt ihr ethischer Anspruch darauf, eine Schuld zu begleichen, Wiedergutmachung zu betreiben, um, so Kant, den Eingriff in die Freiheit des anderen abzugelten. Dafür sind die Eltern nach der Geburt aufgefordert, ihren Kindern entsprechend ihren Möglichkeiten ein Höchstmaß an Zufriedenheit zu gewährleisten. Folgt man diesen Gedankengängen Kants, so hat dieser ein ethisch begründetes Pflichtprogramm der Erziehung formuliert, das zu allen Zeiten und allen Orten Gültigkeit beansprucht. Kant begründet Erziehung nicht über die Hilfsbedürftigkeit oder über die kulturellen Erfordernisse, sondern über einen generativen Eingriff in die Freiheit. Hervorzuheben ist, dass es die leiblichen Eltern sind, die Kant zur Erziehung verpflichtet; das Kind hat ein Recht auf Wiedergutmachung gegenüber seinen Erzeugern. Das erzieherische Verhältnis wird durch die Zeugung nach Kant zu einer einzigartigen und nicht substituierbaren Verpflichtung. Im Grunde gehen die Eltern mit der Zeugung die Verpflichtung gegenüber dem Kind sowie auch eine Selbstverpflichtung ein, das

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Kind zu einem selbstständigen Menschen zu erziehen. Kurz: Die Eltern schulden sich und dem Kind die Freiheit. Das Verursacherprinzip stiftet zwischen Eltern und Kindern ein unwiderrufliches und asymmetrisches Verantwortungsverhältnis. Lässt sich vor diesem Hintergrund einer guten, d. h. an der Selbstständigkeit und Autonomie orientierten Erziehung von einem Recht des Kindes auf eine solche sprechen? Kann ein Kind gute Erziehung einklagen? Kant spricht in eben erwähnten Paragraphen nicht vom Recht auf eine gute Erziehung, was pädagogisch ohnehin fragwürdig wäre, denn Erziehung als Vermittlungsgeschehen kennt weder eine Produkthaftung noch im engeren Sinne einen Kunstfehler, wie ihn die Medizin oder die Juristik kennt. „Die Eltern haften zwar für ihre Kinder, d. h. für das, was sie anrichten, sie haften aber nicht für deren Erziehung im Hinblick darauf, eine falsche Erziehung veranstaltet zu haben, eben weil man nicht weiß, was worauf zurückzuführen ist“ (Prange 1992, S. 70).

Nur in gewalttätigen Grenzfällen, bei denen es in der Regel strittig sein dürfte, ob man es noch mit Erziehung zu tun hat, können Eltern in Deutschland – seit dem Jahr 2000 – auch für ihr erzieherisches Verhalten juristisch haftbar gemacht werden. Wegen der fehlenden, ursächlichen Verbindung der Intention und der Wirkung, d. h. dem Technologiedefizit der Erziehung, und wegen niemals vollständig vorhandener pädagogisch-methodischer Kompetenzen („so viel in ihren Kräften ist“), spricht Kant auch sinnvollerweise nur von einer intentionalen, nicht von einer Wirkungsverbindlichkeit. Wenn Erziehung weder in Methodik noch in Wirkung vollständig kontrollierbar erscheint, so doch zumindest im Hinblick auf die aus der Zeugung resultierenden intentionalen Verbindlichkeit. Folgt man also der Argumentation Kants, so würde Mündigwerden vor diesem Hintergrund bedeuten, seinen Eltern rückwirkend die Absolution für die Zeugung zu erteilen; d. h. Autonomie bedeutet, selbst die Ursache seiner selbst noch mitverantworten zu können (vgl. Sloterdijk 1993, S. 275 f.). Der Erzogene erteilt den Erziehern Prokura für seine Existenz, indem er ihre Zeugungshandlung nachträglich legitimiert. Diese Vorstellung lässt sich natürlich kritisieren: „Wenn zutrifft, dass Menschen ‚ungefragt‘ ins Leben gesetzt werden, so können sie entweder überhaupt nie mündig werden – weil eine nachträgliche Anhörung in Zeugungsfragen ein Ding der Unmöglichkeit ist – oder in dem Augenblick, in dem das Individuum die bevormundende Bestimmung zum Leben durch seine Erzeuger nachträglich gut geheißen und sich mit allen Folgen der sexuellen Selbstherrlichkeit seiner Eltern einverstanden erklärt hat“ (ebd., S. 275).

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In modernen pädagogischen Konzeptionen wird die Geburt als initium eines neuen, individuellen Lebens verstanden, dessen zukünftige, offene Entwicklung Erziehung auf eine Selbstbestimmungsfähigkeit des Zöglings verpflichtet, die selbst noch die eigene Geburt umfassen soll. Paradox erscheint die bei Kant – wie tendenziell auch bei Arendt – vorhandene pädagogische Strategie, die Fremdheit und Unverfügbarkeit der eigenen Geburt nachträglich als Eigenheit des Ichs zu legitimieren, und somit Fremdbestimmung in Selbstbestimmung zu transformieren. Diese Strategie ist insgesamt der neuzeitlichen Subjektphilosophie verpflichtet, die den Menschen als Grund seiner selbst versteht. Doch anthropologisch betrachtet bedeutet Geburt die existenzielle Fremdheitserfahrung, dass der Mensch in seiner Selbstbestimmung nicht aufgeht. Sein Anfang ist immer ein angefangener Anfang. So muss Erziehung in der Moderne über den Versuch einer pädagogischen Vermittlung der Anerkennung der eigenen Existenz sowie der Selbstachtung und Selbstwirksamkeitsüberzeugung des Educanden hinaus, dezidiert auch dessen Umgang mit Kontingenz und Unbestimmbarkeit einüben. Geburten bedeuten immer auch Festlegungen (vgl. Ricœur 2006, S. 241 ff.). Sie verweisen auf Herkunft. Mit der Geburt wird dem Einzelnen innerhalb bürgerlicher Institutionen eine Identität verliehen, der mit der Beziehung als „Tochter oder Sohn von“ zu tun hat. Und diese verliehene Identität wird zum Teil der Selbstachtung, die für den Einzelnen hoch bedeutsam sein kann. Konfrontiert sich der Einzelne nun mit der Tatsache seiner Geburt, so taucht ein Dilemma auf, sich einerseits als ‚Resultat‘ einer Entscheidung oder eines Zufalls verstehen zu können (man hätte auch nicht geboren werden können oder man wäre ein anderer), und sich in der absoluten Faktizität des Daseins zu erleben (man kann Fragen nach der Herkunft nur stellen, wenn man existiert). In diesem Sinne kann der Generationenbegriff auch als eine Form der Selbstvergewisserung verstanden werden. Indem man sich und auch die Eltern in eine Abstammungsreihe einordnet; in dem Sich-Wiederfinden oder Wiederkennen in einer genealogischen Ordnung wird ein Rest metaphysischer Sicherheit wirklich, die in einer Moderne, die als Zeitalter des „toten Gottes“ (Nietzsche) oder der „Entzauberung“ (Weber) verstanden wird, kaum mehr möglich erscheint. Doch aus erziehungswissenschaftlicher Sicht kann mit dieser herkunftsbezogenen Selbstvergewisserung auch die Festlegung auf die negative Identität eines bildungsfernen Subjekts bzw. eines Bildungsverlierers verknüpft sein.

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3 Generationalität: Vermittlung und Aneignung Aufgrund der zeitlichen Begrenztheit des menschlichen Lebens ist die Erhaltung, Veränderung und Weiterbildung der Gattung Mensch nur möglich, weil menschliches Leben in Generationen und Generationenbeziehungen organisiert ist und dadurch über den Tod der einzelnen Menschen und Generationen hinaus kulturelle Kontinuität und Evolution herstellen kann. Als pädagogischer Begriff verweist „Generation“ auf die Weitergabe des nicht-genetischen Erbes; dieses ist in Institutionen, Werten, Rechten und Techniken realisiert, die jeweils weitervermittelt und angeeignet werden müssen, damit eine Gruppe oder Gesellschaft überleben bzw. gut leben und sich im Hinblick auf die Zukunft auch weiterentwickeln kann (vgl. Sünkel 1996; Wulf und Zirfas 2014). Der Generationenbegriff ist für die Thematik der Erziehung und Bildung zunächst insofern wertvoll, als er auf den pädagogischen Bezug von Älteren und Jüngeren sowie auf einen kontinuierlichen Wandel der Generation verweist, der es permanent notwendig macht, Erziehungs- und Bildungsziele, -stile und -inhalte zu reflektieren, will man den sozialen Fortbestand einer Gesellschaft mitbestimmen oder aber den Einzelnen in die jeweilige Gesellschaft enkulturalisieren. Erziehung erscheint in diesem Zusammenhang als Möglichkeit der Formatierung von Generationenverhältnissen und somit als ein Machtverhältnis. Man kann Friedrich Schleiermachers (1768–1834) Theorie der Erziehung als Generationenerziehung vor dem Hintergrund dieser Problemlage verstehen (im Folgenden greife ich auf einige Passagen aus: Wulf und Zirfas 2014 zurück). In seinen pädagogischen Vorlesungen fundiert er die Notwendigkeit von Erziehung in der Generativität menschlichen Lebens (vgl. Schleiermacher 1957). Dabei steht zunächst die Frage im Vordergrund, die eine Theorie des gesamten pädagogischen Generationenverhältnisses umfasst: „Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?“ (ebd., S. 9). Zu dieser Frage gehört eine weitere: „Wie soll die Einwirkung der älteren Generation auf die jüngere beschaffen sein?“ (ebd., S. 13) Beide Fragen – die nach der Aufgabe und die nach den Möglichkeiten der Erziehung – lassen sich, so Schleiermacher, nur aus der „Idee des Guten“ (ebd., S. 20) beantworten. Diese identifiziert er mit einer Idee des „höchsten Gutes“ als den „Organismus“ aller wahren Güter in ihrem wesentlichen Zusammenhang. Diese Güter sind für ihn solche, die sich in den Praxisfeldern der Gesellschaft, d. h. in Geselligkeit, Politik, Wissenschaft und Religion tradiert haben und die als wertvoll betrachtet werden. Schleiermacher orientiert sich in seiner pädagogischen Theorie des Generationenverhältnisses an

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der Theorie einer transgenerationellen Ethik, in der die Erziehung als generatives Problem kooperativen Handelns, der „Mitgesamttätigkeit“, zur Realisation eines ideell gedachten Guten verstanden wird. Die jüngere Generation soll sich das von der älteren Generation vermittelte Wissen und Können so aneignen, dass sie in der Lage ist, nicht nur die wertvollen Traditionen aufzugreifen und aktuell kooperativ mit anderen Generationen zusammenzuarbeiten, sondern sie soll auch dahin gehend kompetent sein, die zukünftige Entwicklung voranzutreiben. Ziel der Erziehung ist mithin die selbstständige Weiterführung des Fortschrittes der Generationen. Mit dem Ziel einer regulativen Idee des Guten als dem Ineinander von Vernunft und Natur, „der Natur gewordenen Vernunft“ und der „Vernunft gewordenen Natur“ liegt, so Schleiermacher, das Spekulative der Pädagogik zugrunde; dieses soll sich am Fortschritt zum höchsten Gut über die Generationen beteiligen. Mehrere Gesichtspunkte, die auch den modernen pädagogischen Diskussionsstand um Generation widerspiegeln, erscheinen problematisch: So wird die spekulative Teleologie im Sinne einer allgemeingültigen Theorie des Guten kaum spezifiziert und sie scheint auch moralisch fragwürdig zu sein, da die Generationen für ein nicht näher bezeichnetes Ziel instrumentalisiert werden. In der Gegenwart wird nicht nur problematisch, was und inwiefern etwas als Fortschritt gelten kann, sondern auch, inwiefern man einen solchen überhaupt prognostizieren kann; auch die Dialektik des Fortschritts – die schon Rousseau erkannte, der mit dem Aufstieg der Wissenschaften und Künste auch einen Verfall der Sitten und Werte diagnostizierte – macht die Perspektive einer ‚Höherentwicklung‘ der Gesellschaft fragwürdig. Hierbei lassen die mit den modernen generativen Perspektiven der ‚Multiperspektivität‘ und ‚Multigenerativität‘ einhergehenden Problematiken – dass eben nicht mehr nur eine Generation die jeweils andere jüngere erzieht, dass die soziale und moralische Perspektivität zwischen den Generationen nicht mehr linear, e­ indeutig und synonym verläuft, sodass idealtypisch einem bestimmten Alter eine bestimmte moralische Orientierung an Normen und Werten eigen ist – Schleiermachers Theorie der Generationenerziehung fragwürdig erscheinen. Die Frage der erzieherischen Möglichkeiten in der Generationenerziehung klärt dann Schleiermacher sehr differenziert durch ein Begriffsquartett von Verhüten, Gegenwirken, Unterstützen und Entwickeln, das auch heute noch seine Gültigkeit beanspruchen kann. Die Thematik der Erziehung wird bei Herman Nohl (1879–1960) ebenfalls im Kontext des Generationenverhältnisses diskutiert, das wiederum als Grundlage und Bedingung von Pädagogik, aber auch als ihre eigentliche Schwierigkeit verstanden wird. Wird der pädagogische Bezug als historische Arbeit an der

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Entwicklung dieses Verhältnisses begriffen, so lässt sich mit Nohl seit der Aufklärung eine Umgestaltung konstatieren: Die jüngere Generation ist für Nohl durch die Werke von Rousseau, Fichte und Wyneken zum pädagogischen Leitbild avanciert. Der Fortschritt innerhalb der Pädagogik bemesse sich nun daran, inwiefern der Zögling sein Eigenrecht habe und inwieweit die Erziehung dieses Eigenrecht berücksichtige. Die hiermit eingetretene sittliche Verschiebung zwischen den Generationen sieht Nohl insofern kritisch, als sie vor allem die ältere Generation aus dem pädagogischen Leben ausschalte (vgl. Nohl 1979, S. 589) und durch die Fokussierung auf Individualität, Jugendform und Jugendzwecke das ursprüngliche erzieherische Verhältnis umkehre. Durch diese Verschiebung wird für Nohl zudem deutlich, dass die Jugendpädagogik ihrem eigenen Prinzip nicht gerecht werden könne, da sie 1. die innere Entwicklung der Jugend, „ihre gesunde Dumpfheit des inneren Wachsens“ (ebd.) zugunsten eines unbedingten Glaubens an die Kräfte der Jugend aufgegeben habe; 2. die innere Grenze des Jugendbegriffs nicht mit reflektiere und so 3. das Komplement von Jugend, nämlich Alter vergessen habe. Nohls Resümee: „Das Verhältnis zur älteren Generation ist die tiefste Erfahrung, die die Jugend hat. Und dies Verhältnis erschöpft sich nicht in seinen Zwecken, auch nicht in dem Ziel der Entwicklung der Autonomie der Jugend, sondern als Lebenszusammenhang und Träger der Kontinuität des Geistes ist es ein Unendliches“ (ebd., S. 591; Herv. i. O.).

Klaus Mollenhauer (1928–1998) hat dann wiederum herausgearbeitet, dass die Generationenerziehung in der Moderne auf mehreren pädagogischen Grundvorgängen und – prinzipien aufbaut, die die Nohlsche ‚Verschiebung‘ mitbedenken: Hierzu gehören die Legitimation der pädagogischen Maßnahmen gegenüber der nachkommenden Generation, das Präsentieren und Überliefern derjenigen Inhalte, die für die ältere Generation wichtig erscheinen, wozu vor allem das Vorleben eines als gut empfundenen Lebens gehört, das Repräsentieren, d. h. das Auswählen von Bestandteilen der Kultur, die man für die nachwachsende Generation nicht nur in der Gegenwart, sondern in der Zukunft als sinnvoll erachtet, sowie die Annahmen von Bildsamkeit und Selbsttätigkeit, d. h. die pädagogisch-anthropologische Unterstellungen, dass Menschen entwicklungsfähig und -willig sind und dass man sie zur Selbsttätigkeit auffordern müsse (vgl. Mollenhauer 1983). In diesem Sinne lassen sich Schleiermacher, Nohl und Mollenhauer zur geisteswissenschaftlichen Pädagogik als Kulturpädagogik zählen. Diese fokussierte die Einführung des subjektiven in den objektiven Geist, die Initiation des Kindes in die Kultur als den Rahmen für das individuelle Leben und das

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­ erstehen. Und man spürt, dass im Verlauf der letzten 200 Jahre die Einführung V in eine als wertvoll verstandene Kultur immer problematischer wurde. Im Mittelpunkt der kulturellen Vermittlungs- und Aneignungsvorgänge, so machen neuere Forschungen deutlich, stehen nicht nur intendierte Erziehungsund Bildungsvorstellungen, sondern auch mehrperspektivische und multidimensionale Lernprozesse (vgl. Gebauer und Wulf 1992, 2003). Nach lernpsychologischen Erkenntnissen sind Kleinkinder schon im Alter von ca. neun Monaten in der Lage, sich so auf einen anderen Menschen zu beziehen, dass sie nicht nur seine Körperbewegungen nachahmen, sondern auch die Intentionalität seiner Handlungen verstehen können; sie können Handlungen und Intentionalitäten auf andere Kontexte übertragen und dort selbsttätig vollziehen (vgl. Tomasello 2002). Hier zeigt sich die bereits von Aristoteles betonte besondere mimetische Fähigkeit der Menschen, die es ihnen ermöglicht, sich mit Hilfe von Körper, Sprache, Wahrnehmung, Bewusstsein und Imagination komplexe kulturelle Zusammenhänge zu vergegenwärtigen, d. h. Wissen und Können von einer anderen Generation zu lernen, zu verändern und weiter zu entwickeln. Kulturelles Lernen ist vor allem mimetische Aneignung, die durch die gemeinsame vom Lehrenden und Lernenden vollzogene Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf etwas – sei es ein Gegenstand, eine Handlung oder ein Problem – zustande kommt. Die Aufmerksamkeit führt zum Verstehen der kommunikativen Absichten anderer Menschen, der Entwicklung von Perspektiven in der Verwendung sprachlicher Symbole und zur Fähigkeit, soziale Rollen zu tauschen. Aufgrund ihres mimetischen, für das Lernen in Generationsverhältnissen zentralen, Begehrens identifizieren sich Kinder schon sehr früh mit anderen Personen. Säuglinge und Kleinkinder „nehmen andere als intentionale Akteure wie sich selbst wahr; nehmen mit andern an Aktivitäten gemeinsamer Aufmerksamkeit teil; verstehen viele der kausalen Beziehungen, die zwischen physischen Gegenständen und Ereignissen in der Welt bestehen; erkennen die kommunikativen Absichten, die andere Personen durch Gesten, sprachliche Symbole und Sprachkonstruktionen ausdrücken; lernen anhand der Imitation durch Rollentausch, anderen gegenüber dieselben Gesten, Symbole und Konstruktionen hervorzubringen; und bilden sprachlich basierte Gegenstandskategorien und Ereignisschemata“ (ebd., S. 189).

Diese Fähigkeiten werden zu Beginn des Lebens vor allem in ­ generativenmimetischen Prozessen erworben. Menschen erwerben Fähigkeiten der Selbst-, Welt- und Anderenbeziehung durch Angleichung an die Umwelt und die Mitmenschen. Die Aneignung der Kultur geschieht in konkreten Zusammenhängen und in der Teilnahme am inter- und intragenerativen Leben. In diesen

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­ ernprozessen überlagern sich Rezeptivität und Aktivität; in ihnen verschränken L sich die vorgegebene Welt, die Intersubjektivität und die Subjektivität der sich auf sie mimetisch Beziehenden. Erst in der Auseinandersetzung mit der Welt – die in frühen Lebensaltern in hohem Maße durch die ältere Generation präsentiert wie repräsentiert wird – können Menschen ihre Individualität gewinnen. Die Menschen machen sich der Außenwelt ähnlich und bilden sich in diesen Prozessen; insofern transformieren sie zugleich Generationenbilder und ­-verhältnisse (vgl. Wulf und Zirfas 2014). Dabei kann man davon ausgehen, dass die Distanz im Hinblick auf Einstellungen, Ziele und Werte zwischen den Generationen (Kind, Jugend, Erwachsener) schwindet, was durch Erhebungen im Rahmen der ­Shell-Jugendstudie (vgl. Shell Deutschland Holding 2010, S. 43 ff.) noch einmal unterstrichen wird. Charakteristisch ist für das Generationenverhältnis heute eine nicht mehr genau definierbare Grenze zwischen den Generationen zugunsten von Übereinstimmungen, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten, Brüchen, Unregelmäßigkeiten und Widersprüchlichkeiten. Auch der erzieherische Einfluss erscheint nicht mehr so eindeutig, wie noch zu Zeiten der Aufklärung oder der Reformpädagogik, weshalb die Frage Schleiermachers – wie Nohl schon ahnte – mittlerweile ihre Umkehrung erfahren hat: „Was will die jüngere Generation mit der älteren?“ (Ecarius 1997). Wenn auch die mit dem Vermittlungs- und Aneignungsgeschehen einhergehende Problematik der Asymmetrie in der Eltern-Kind-Beziehung in den ersten zehn Jahren des Kindes hinsichtlich Wissen und Können in einem umfassenden Sinne noch recht eindeutig erscheint, so sind die Kompetenzen der jüngeren Generation hinsichtlich Technik, Ästhetik, Medien und Pragmatik oftmals auch für die ältere Generation maßgebend. Faktisch wie normativ wird der Gedanke der Reziprozität und der Symmetrie der Generationen stärker in den Blick gerückt, d. h. dass beide Ältere und Jüngere voneinander lernen und dass pädagogische Sachverhalte in einer Atmosphäre wechselseitiger Anerkennung von ihnen ausgehandelt werden (sollen). Vor dem Hintergrund einer Ent-Differenzierung der Generationen, d. h. einer Infantilisierung der Erwachsenen und einer Seniorisierung von Kindern und Jugendlichen, wird zeitgenössisch auch vom „Ende der Erziehung“ (Giesecke 1985) gesprochen. Ging das traditionelle Modell von einer Generationenbeziehung aus, in der der pädagogische Einfluss der älteren Generation auf die jüngere in der Regel von der Pädagogik als Erziehung zur „Tugend“, zu (moralischen) Einstellungen, zur Tradierung von Werten und Vermittlung von Normen, Handlungsmotiven und Orientierungsmustern verstanden worden ist, so wird – angesichts moderner uneindeutigerer Generationenbeziehungen,

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angesichts fragwürdiger politischer, kultureller und moralischer Werte und Einstellungen sowie angesichts einer Fülle von Miterziehern wie Medien und Peergroups – Erziehung problematischer. Anders formuliert: Die Generationenerziehung erscheint durch eine kaum intentionalisierbare Sozialisation ersetzt. Während Erziehung traditionell als entscheidende Gelenkstelle für Sittlichkeit und Moralität, Loyalität, Sozialität und Wertebindung erscheint, ist Sozialisation, d. h. die Auseinandersetzung von Menschen mit ihren intellektuellen und praktischen Umwelten, weniger kontrollier- und steuerbar, weniger eindeutig und konform und weniger didaktisch und methodisch gesichert.

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Erdoğans Plan – Die öffentliche Diskussion zur Erziehung der jüngeren Generation in der Türkei Arnd-Michael Nohl

Zusammenfassung

Wie in anderen Ländern, so sind die Generationenverhältnisse und die durch sie implizierten Erziehungsideale auch in der Türkei normalerweise so selbstverständlich, dass sie kaum thematisiert werden. Nur in Zeiten des Umbruchs und der Krise werden sie zum Fokus öffentlicher Diskussion. In dem Beitrag wird eine solche Diskussion, die der damalige Ministerpräsident Erdoğan durch den Plan, eine „religiöse Jugend“ heranzuziehen, in Gang gesetzt hat, diskursanalytisch untersucht und dabei drei Erziehungsdiskurse rekonstruiert: jene des staatszentrierten Kemalismus, des staatsunterstützenden Konservatismus und des verfassungsbasierten Liberalismus. Schlüsselwörter

Generation · Türkei · Jugend · Religion · Dokumentarische Diskursinterpretation

Zwar hatte Friedrich Schleiermacher die Frage „Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?“ (Schleiermacher 1959, S. 38) der Wissenschaft gestellt, doch nach Antworten suchen ebenso PolitikerInnen, die interessierte Öffentlichkeit wie auch Eltern, die vor den tagtäglichen Aufgaben der Erziehung stehen. Die sich dabei entfaltenden Diskussionen sind als

A.-M. Nohl (*)  Helmut-Schmidt-Universität – Universität der Bundeswehr, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Fuchs et al. (Hrsg.), Jugend, Familie und Generationen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24185-8_18

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ein Aspekt der „Generationenverhältnisse“ zu betrachten, in denen „sich die Bildungsplanung der älteren Generation für die nachfolgenden Generationen“ (Ecarius 2010, S. 705) offenbart. Soweit Erziehung, sei es in der Bildungspolitik oder in der praktischen Lebensführung einer Familie, unproblematisch ist, bleiben solche Diskussionen allerdings eher randständig; Ziele und Methoden der Erziehung sind dann weitgehend habituiert (vgl. Nohl 2018). Doch in Zeiten familialer und politischer Krisen oder starken gesellschaftlichen Wandels wird all das, was einst selbstverständlich war, nunmehr zur Disposition gestellt. Den Wandel dessen, was der Erziehung an Zielen und Methoden unterlegt wird, kann man in einzelnen Milieus und im Vergleich aufeinander folgender Generationen untersuchen, wie dies Jutta Ecarius (2002) in ihrer wegweisenden Studie getan hat. Man kann aber auch die öffentlichen Debatten analysieren, so selten diese sich auch mit Erziehungsfragen beschäftigen. In Ländern wie der Türkei, die seit ihrer Gründung der Erziehung (nicht nur der jüngeren Generation) einen hohen Wert für die Formierung des „erwünschten Staatsbürgers“ (Üstel 2004) beimessen und zudem von rasantem sozialen Wandel wie auch tief greifenden politischen (Legitimations-)Krisen betroffen sind (vgl. Nohl und Somel 2020), finden sich immer wieder Debatten um die Frage, wie denn die jüngere Generation aufwachsen solle und welchen Beitrag die ältere Generation dazu leisten könne. Dies hat auch damit zu tun, dass die jeweiligen Regierungen sich nicht damit bescheiden, nur den allgemeinen (bildungspolitischen) Rahmen festzulegen, innerhalb dessen Kinder und Jugendliche dazu angeregt werden, ihre je eigenen Selbst- und Weltreferenzen, d. h. ihre Orientierungen zu entfalten. Vielmehr macht es sich die Politik zur Aufgabe, auch die Haltungen und Gesinnungen der nachwachsenden Generationen zu prägen und sie insofern zu erziehen.1 In der jüngsten Geschichte der Türkei entluden sich zu eben dieser Frage, welche Haltungen und Gesinnungen die jüngere Generation sich zu eigen machen solle, zu zwei eng miteinander verknüpften Zeitpunkten heftige Diskussionen. Im Jahr 1997 war es der islamistischen Partei unter Necmettin Erbakan gelungen, in eine Regierungskoalition einzutreten. Dies erzürnte die laizistisch orientierten Generäle derart, dass sie nicht nur diese Koalition zur Aufgabe zwangen, sondern all jene, die sie des Islamismus verdächtigten, aus den

1Erziehung

verstehe ich hier als nachhaltige Zumutung von Lebens- und Handlungsorientierungen, während Bildung eher vonseiten der sich Bildenden zu denken ist und auf Angeboten und Anregungen zur Entfaltung eigener Orientierungen beruht.

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einflussreichen Stellen in Staat und Gesellschaft zu entfernen versuchten. Da dies von einer Schulreform begleitet werden sollte, die den als Kaderschmieden der IslamistInnen verdächtigen Imam-Hatip-Lyzeen den Zustrom an SchülerInnen abzuschneiden geeignet war, kam es zu einer an Anfeindungen, Verdächtigungen und pointierten Stellungnahmen nicht armen Kontroverse, die vor allem in den Zeitungen und von ihren KolumnistInnen ausgetragen wurde (siehe hierzu Nohl 2008). In der Folge dieses sogenannten ‚postmodernen Putsches‘ spaltete sich die islamistische Bewegung; neben einer konservativen wurde auch eine Partei moderneren, dem Westen zugewandten Antlitzes gegründet, deren Führung sehr bald Recep Tayyip Erdoğan übernahm. Im Jahr 2002 gelang es dieser „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP), bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit zu erringen und fortan die Regierung zu stellen. Trotz dieses Erdrutschsiegs benötigte die AKP zehn Jahre, um sich gegen Einflussnahmen vonseiten des Militärs und gegen eine überwiegend kemalistisch-laizistisch orientierte Bürokratie durchzusetzen (ein Prozess, bei dem ihr nicht nur eine an den Kriterien der Europäischen Union orientierte politische Agenda, sondern vor allem die Zusammenarbeit mit dem Prediger Fethullah Gülen half, dessen AnhängerInnen die KemalistInnen mit meist unsauberen Methoden aus ihren Ämtern drängten). Im Jahre 2012 hatte die AKP dann so weit ihre Macht gefestigt, dass sie auch in Erziehungsfragen umfassende Reformen in Angriff zu nehmen wagte, die der Formung der ihr genehmen StaatsbürgerInnen dienen sollten (vgl. Lüküslü 2016, S. 639). Als Recep Tayyip Erdoğan am 1. Februar 2012 in einer Rede vor Regionalvorsitzenden seiner Partei erklärte, man wolle nunmehr eine „religiöse Generation heranziehen“, provozierte dies eine breite gesellschaftliche Debatte in der Türkei. Diese heftige Diskussion wurde erneut auch von den KolumnistInnen unterschiedlicher Zeitungen und politischer Couleur ausgefochten. Zusätzlich angefeuert wurde sie noch durch eine Gesetzesinitiative der AKP, die eine Änderung der Erziehungsgesetze vorsah: Während es seit 1997 eine Pflicht zum Besuch einer einheitlichen Primarschule von Klasse 1 bis 8 gab (die die SchülerInnen vom Besuch der Imam-Hatip-Schulen und Korankurse abhielt), schlug die Mehrheitspartei nunmehr vor, die Schulpflicht auf 12 Jahre auszuweiten, den SchülerInnen (und ihren Eltern) aber nach der 4. Klasse die Wahl zwischen unterschiedlichen Schultypen (unter diesen die ­Imam-Hatip-Schulen) zu ermöglichen (vgl. ebd.). Dieser Vorschlag traf nicht nur auf den starken Protest der oppositionellen, kemalistisch orientierten Republikanischen Volkspartei (CHP), sondern führte auch zu einer intensiven Debatte über die Bedeutung und

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Funktion von Erziehung im Allgemeinen. Erziehung2 wurde erneut zu einem, wie einer der damaligen Kolumnisten es nannte (Türköne 2012a), „Schlachtfeld“, das sich über die Zeitungen des Landes und ihre Kolumnen erstreckte. Während in deutschen Zeitungen der Kommentar mit wechselnder Autorenschaft dominiert, sind die KolumnistInnen in der Türkei „unvergleichlich einflußreicher“ (Erzeren 1999, S. 19), vollzieht sich doch ein Teil der „politischen Willensbildung nicht über den Parteienstreit, sondern wenige Chefkolumnisten definieren quasi das ‚öffentliche Interesse‘“ (ebd., S. 21; ähnlich auch Hermann 2003, S. 37). Diese KolumnistInnen verdanken ihren – in den vergangenen Jahren noch gewachsenen (vgl. Sandıkçıoğlu 2015, S. 56) – Einfluss nicht notwendig ihrer intellektuellen Unabhängigkeit, sondern auch ihrer Bindung an „verschiedene ethnische, religiöse oder weltanschauliche Lager“ bzw. an den „Staat“ (Mahcupyan 1999, S. 33; vgl. auch Adaklı 2013, S. 560). Das in den Kolumnen virulente Wissen ist selbstverständlich nicht als objektiv oder neutral zu verstehen, ist doch „jedes historische, weltanschauliche, soziologische Wissen – auch wenn es die absolute Richtigkeit und Wahrheit selbst sein sollte – eingebettet und getragen vom Macht- und Geltungstrieb bestimmter konkreter Gruppen, die ihre Weltauslegung zur öffentlichen Weltauslegung machen wollen“ (Mannheim 1964b, S. 573; Herv. i. O.). Diese meinungsbetonten Kommentare und Kolumnen, denen eine „argumentative Textstruktur“ (Lüger 1995, S. 126) zu eigen ist, sollen in diesem Beitrag einer empirischen Analyse unterzogen werden, die den Auswertungsschritten der Dokumentarischen Diskursinterpretation folgt (vgl. Nohl 2016). Im Unterschied zu anderen Ansätzen der Diskursanalyse geht es der Dokumentarischen Diskursinterpretation nicht darum, vornehmlich einen dominanten oder gesellschaftsweiten Diskurs zu rekonstruieren, sondern zwischen unterschiedlichen Diskursen zu vergleichen und diese zu typisieren. Ausgehend von den zentralen Schritten der Dokumentarischen Methode (vgl. Bohnsack 2014) werden die Texte zunächst in ihrem immanenten Sinngehalt, d. h. hinsichtlich der „Denkinhalte“ (Mannheim 1984, S. 87), zusammengefasst und dann daraufhin untersucht, wie, d. h. in welcher (wesentlich impliziten) „Denkweise“ (ebd.) in ihnen Themen und Probleme, die um das Thema Erziehung ranken, bearbeitet werden. Sodann gilt es, fall-, d. h. textübergreifende

2Ich

folge hier dem türkischen Sprachgebrauch, in dem stets von „eğitim“ die Rede ist, was von der ursprünglichen Wortbedeutung her dem Begriff der „Erziehung“ nahe kommt, auch wenn je nach Kontext auch Phänomene, die man im Deutschen als „Bildung“ bezeichnen könnte, gemeint sein mögen.

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modi operandi der Bearbeitung von Themen und Problemen herauszuarbeiten, da diese sinngenetisch typisierbaren modi operandi jeweils als einzelne Diskurse verstanden werden können. Wie mehrere, auf unterschiedliche Themen bezogene Diskurse zur Erziehung miteinander verknüpft sind, wird schließlich in einer relationalen Typenbildung herausgearbeitet (vgl. Nohl 2016). Ich habe die Zeitungsdiskussionen über Erdoğans Plan und die Neuordnung der Schulpflicht, später bekanntgeworden als das „4+4+4“-Modell3, vom 31. Januar bis zum 22. April 2012 verfolgt. Diese Diskussion lieferte reichlich Material zur Rekonstruktion der stillschweigenden „Denkweisen“ (Mannheim 1984, S. 87), die in der türkischen Öffentlichkeit zur Erziehung vorherrschten. Ich untersuche die Kolumnen als Manifestationen der unterschiedlichen – und manchmal sogar widersprüchlichen – „öffentlichen Weltauslegung“ (Mannheim 1964b, S. 573), wie sie sich auf die Rolle von Erziehung vor dem Horizont von Religion, Ideologie, dem Staat und den Rechten von Eltern und Kindern bezieht. Ich habe eine große Anzahl von Kolumnen gesichtet, die in der „Yeni Şafak“, „Sabah“, „Cumhuriyet“, „Milliyet“ und „Zaman“4 veröffentlicht wurden, Zeitungen mit recht unterschiedlichen politischen Ausrichtungen und einer noch größeren Bandbreite an KolumnistInnen.5 Während sich ein beachtlicher Teil der Kolumnen eher mit politischen oder technischen Fragen der Erziehungsdebatte beschäftigte und daher aus der Analyse ausgeschlossen wurde, konstituierten die übrigen 44 Kolumnen den Kern meiner Analyse. Nach der dokumentarischen Interpretation der einzelnen Kolumnen habe ich fallübergreifende Diskurse, die um das Oberthema Erziehung ranken, identifiziert und herausgearbeitet, wie diese zusammenhängen. Dabei zeigten sich drei voneinander abgrenzbare und miteinander scharf kontrastierende Relationen von Diskursen: jene des staatszentrierten Kemalismus, des staatsunterstützenden Konservatismus und des verfassungsbasierten Liberalismus. Ich beginne die folgenden Diskursinterpretationen, indem ich mich den unterschiedlichen und bisweilen antagonistischen Diskussionen zu Erdoğans Plan,

3Vier

Jahre Grundschulpflicht, vier Jahre Mittelschulpflicht (mit Schultypwahl), vier Jahre Oberschulpflicht (mit Schultypwahl). 4Die „Yeni Şafak“ verkaufte in der Zeit zwischen Januar und April 2012 etwa 105.000 Exemplare pro Tag, die Cumhuriyet 50.000, die Milliyet 121.000 und die Zaman 945.000 Exemplare (hierzu: http://www.medyatava.com/tiraj.asp [Zugegriffen: 1. Juni 2015]). 5Die Kolumnen von Zeitungen türkisch- oder kurdisch-nationalistischer oder auch sozialistischer Prägung habe ich aus Gründen der Komplexitätsreduktion aus der Untersuchung ausgeklammert.

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„eine religiöse Generation heranzuziehen“, widme (Abschn. 1). Hier deuten sich bereits die drei Relationen von Erziehungsdiskursen an, auf die ich sodann eingehe: auf die Kolumnen, in denen sich die Erziehungsdiskurse eines staatszentrierten Kemalismus dokumentieren (Abschn. 2), wie auch auf jene des staatsunterstützenden Konservatismus (Abschn. 3) und des verfassungsbasierten Liberalismus (Abschn. 4). Die Kolumnen, denen diese Diskurse unterliegen, erscheinen heute, nach nur sechs Jahren, völlig veraltet; nach einer Spaltung im islamistischen Lager und einem gescheiterten Putsch sind gar einige ihrer VerfasserInnen im Gefängnis gelandet, und Zeitungen, in denen sie erschienen sind, verboten oder Repressalien ausgesetzt. Dies alles, aber auch die – erwartungswidrige – Aktualität dieser Diskurse, soll in der gebotenen Kürze zum Schluss erörtert werden (Abschn. 5).6

1 Ein umstrittenes Thema: „Eine religiöse Generation heranziehen“ Einen Tag nach Erdoğans Rede überschrieb Cüneyt Arcayürek, einer der bekanntesten Kolumnisten der Tageszeitung Cumhuriyet, seine Kolumne mit „İtiraf!“ („Geständnis“) und unterstellte damit dem Ministerpräsidenten, seine wahren Pläne für die Zukunft der Gesellschaft offenbart zu haben (Arcayürek 2012a). Im Gegensatz zu Erdoğan beschrieb Arcayürek die „laizistische Erziehung“ als das „Grundelement“ der „Modernität“ und empfahl dem Oppositionsführer (dem Vorsitzenden der CHP), sich in seiner Kritik Erdoğans an die Worte Mustafa Kemals zur Erziehung zu erinnern: „Er hätte sogar (falls er es denn angemessen findet, seinen Namen in den Mund zu nehmen und von seinen Prinzipien zu sprechen) an folgende Aussage zur Erziehung erinnern können, zu einer Erziehung, die als Unterbau der von Atatürk begonnenen Aufklärungsperiode gilt und das Fundament der Republik und der Partei ist: ‚Die Erziehung muss national, wissenschaftlich, laizistisch, koedukativ und praktisch sein.‘“ (Ebd.)

6Die

folgende Diskursanalyse ist im Rahmen des DFG-Projekts „Bildung und sozialer Wandel: Zur Dynamik zwischen staatlichen Bildungsorganisationen und sozialen Milieus am Beispiel der türkischen Curriculumsreform 2004“ entstanden (siehe Nohl und Somel 2019) und wurde zuerst auf dem Turkologentag 2016 vorgetragen. Für die Übersetzung der Abschn. 1 bis 4 aus dem Englischen danke ich Philip Schelling, für Hinweise zu der Diskursanalyse ist Annegret Warth, Gökçe Güvercin und vor allem Nazlı Somel zu danken.

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Cüneyt Arcayürek unterstellte hier, dass Erziehung, in der von Mustafa Kemal definierten Form, fundamental für die Republik sei. Mit dieser Aussage nahm er stillschweigend an, dass Erziehung kein Produkt der Gesellschaft, sondern genau andersherum: dass die (moderne) Gesellschaft ein Ergebnis von Erziehung sei. Diese Auslegung der Erziehungsrealität, die ich als staatszentrierten Kemalismus bezeichnen werde, blieb nicht ohne Antwort. Wie Hayrettin Karaman, ein äußerst einflussreicher Religionsgelehrter und Kolumnist der „Yeni Şafak“, konzedierte, hatte Erdoğans Plan der Opposition eine gute Gelegenheit gegeben, den Premierminister zu kritisieren (vgl. Karaman 2012a). Karaman wiederum baute zur Verteidigung Erdoğans seine Argumentation dann in sehr geschickter Weise auf den „Menschenrechtsabkommen“ und der türkischen Verfassung auf, um auf diese Weise das Recht der Eltern zu betonen, ihre Kinder in der von ihnen gewünschten Weise religiös zu erziehen. Dieses Elternrecht mutiert allerdings im dritten Satz seiner Kolumne zur „Pflicht“ des „Staates“, den Eltern auch die „Möglichkeit hierfür zu geben“: „Die Dokumente der Menschenrechte geben den Eltern das Recht, ihre Kinder bis zum Alter von 18 Jahren gemäß ihres eigenen Glaubens aufzuziehen. Der Paragraph 24 der Verfassung der Türkischen Republik überlässt die religiöse Erziehung und Lehre der Kleinen ihren Eltern. In diesem Fall ist es die Aufgabe des Staates, jenen Eltern, die ihre Kinder als religiöse Muslime aufziehen möchten, diese Möglichkeit zu geben. Dieser Paragraph wurde bis heute nicht angewandt, an Neuerungen hinsichtlich der Verfassung wird gearbeitet und der Ministerpräsident hat bekundet, dass man denjenigen, die ihre ‚Kinder als religiöse Muslime‘ aufziehen möchten, helfen wird. Man muss wohl ‚Verstehensprobleme‘ haben, wenn man seine Worte so versteht, als hätte er gesagt, ‚wir werden alle Kinder des Landes, ob es ihre Eltern wollen oder nicht, zu religiösen Muslimen machen‘. Die politische Opposition hat kein ‚Verstehensproblem‘, aber die cleversten ZerrbildexpertInnen kommen aus der politischen und ideologischen Opposition. Was soll das heißen? Der Staat könne angeblich keine Gläubigen heranziehen. Wenn es die Eltern wünschen, muss der Staat Wege eröffnen, Gläubige heranzuziehen.“ (Ebd.)

Gegenüber jenen KritikerInnen, die Erdoğan unterstellten, er wünsche „alle Kinder des Landes“ zu „religiösen Muslimen“ zu machen, behauptete Karaman, dass dies nur solche Kinder betreffe, deren Eltern eine religiöse Erziehung wünschten. Er kontrastiert sodann die Sicht von „politisch und ideologisch Andersdenkenden“, dass „der Staat keine Gläubigen heranziehen dürfe“, mit der ‚Pflicht‘ des Staates, gerade eben dies doch zu tun, „wenn Eltern dies wünschten“. Hinter diesen Zeilen steckt eine weitere Auffassung, die implizit auch in ähnlichen

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Kolumnen vorliegt: Staatliche Erziehung sollte den Forderungen und Überzeugungen der Menschen, genauer: der Bevölkerungsmehrheit, folgen und ihnen helfen, die junge Generation in ihrem Sinne zu erziehen. Es gibt zahlreiche weitere Punkte, die mit dieser Haltung, die ich staatsunterstützenden Konservatismus nenne, verbunden sind, und die ich weiter unten analysieren werde. Im Unterschied zu dem staatszentrierten Kemalismus des Cüneyt Arcayürek wie auch dem staatsunterstützenden Konservatismus von Hayrettin Karaman interpretierte Hasan Cemal, ein bekannter Journalist und Schriftsteller der „Milliyet“, das Erziehungsthema eher in einer liberalen Weise. Den Premierminister fragte er in seiner Kolumne: „Was passiert, wenn ich nicht möchte, dass mein Kind gläubig und konservativ aufwächst? Lassen sich denn die Unterschiedlichkeiten, die eine Demokratie schützt, mit einem Erziehungssystem vereinbaren, dass darauf ausgerichtet ist, gleichartige Köpfe wie aus einer Drechselbank heranzuziehen?“ (Cemal 2012a)

Unter Bezugnahme auf die Situation einzelner Eltern bringt Cemal hier einen neuen Punkt in die Diskussion: Staatliche Erziehung müsse die Wünsche des Individuums achten, nicht nur diejenigen der Bevölkerungsmehrheit oder des Staates. Ein Erziehungssystem, das die „Gehirne“ der Kinder standardisiere, sei nicht in der Lage, in der Gesellschaft „Vielfalt zu beschützen“. Auf diese Weise wird hier eine Form von Erziehung, die für Vielfalt sorgt, mit der Metapher einer „Drechselbank“ kontrastiert, d. h. mit einer Gerätschaft, die Rohmaterial zu „gleichartigen“ Produkten verarbeitet. Der Verfasser dieser Kolumne vergleicht anschließend Erdoğans Vorschlag, eine „religiöse, konservative Generation“ heranzuziehen, mit der Absicht früherer Machthaber, eine „kemalistische Generation“ zu formen. Damit legt er den Schluss nahe, dass die islamisch-konservative Regierung nur einen Übergang von „einem autoritären Verständnis zu einem anderen“ herbeigeführt habe. Im Hinblick auf ein solch autoritäres Staats- und Erziehungskonzept fragt er die LeserInnen (und den Ministerpräsidenten), ob in einem demokratischen und laizistischen Land der Staat nicht denselben Abstand zu allen Religionen, Glaubensrichtungen und Atheismen halten müsse (vgl. ebd.). Diese drei Kolumnen zeigen bereits, wie divers und mitunter antagonistisch die öffentliche Debatte zur Erziehung in der Türkei ausfallen kann. Jede der drei Kolumnen deutet einen eigenen Erziehungsdiskurs an; diese drei Erziehungsdiskurse möchte ich nun nacheinander en détail untersuchen.

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2 Der staatszentrierte kemalistische Diskurs zur Erziehung Während es auch bei anderen Zeitungen KolumnistInnen gibt, die einer staatszentrierten kemalistischen Argumentationslinie folgen, war die Cumhuriyet, die seit 1924 verlegt wird, zum Zeitpunkt der hier untersuchten Debatte am bekanntesten für ihre Lobpreisungen von Mustafa Kemal (Atatürk) und der Politik der frühen türkischen Republik. Obwohl mir 17 Kolumnen für eine Untersuchung des kemalistischen Diskurses zu Erziehung vorliegen, würde es den Rahmen sprengen, Nachweise aus jedem einzelnen Text, den ich interpretiert habe, anzuführen. Ohnehin sind Einzelfälle (Kolumnen) für die Dokumentarische Methode nur ein Vehikel, um typische Aspekte des öffentlichen Diskurses zu identifizieren. Ich beginne meine Untersuchung mit den Erörterungen der Kolumnen zur Erziehungspolitik der Regierung, gehe dann über zur komplizierten Beziehung von Erziehung und Gesellschaft, mache weiter mit einigen Eckpfeilern der „laizistischen Erziehung“ und werfe schließlich ein Schlaglicht auf einige Punkte, die auf immanente Widersprüche in diesem Diskurs hinweisen. Bilder einer ‚islamistischen Konterrevolution‘ Nur einen Tag nach seiner Kolumne über Erdoğans Plan bezichtigte Cüneyt Arcayürek die Regierung der Entwicklung eines „Plans“ zur „Errichtung einer religiöseren Gesellschaft“ (Arcayürek 2012b), in der die nationale durch eine religiöse Identität ersetzt werde. In ähnlicher Weise sprach auch Zeynep Oral von einer „Konterrevolution“ (Oral 2012), die u. a. die Bildungschancen von Mädchen beträchtlich beschränken würde. Sowohl Arcayürek als auch Oral überspitzen und verspotten mögliche Regierungsmaßnahmen. Oral argumentiert sogar in sarkastischem Tonfall, dass es nicht ausreichend sei, wie geplant Arabisch in der Grundschule als Fremdsprache zu unterrichten. Vielmehr sollte man wieder vollständig das arabische Alphabet übernehmen.7 Orhan Bursalı zufolge fürchte die Regierung das wachsende Bildungsniveau und bevorzuge eine Bevölkerung, die sich wie eine „Herde“ (Bursalı 2012a) von Schafen verhalte. Es ist eine Besonderheit dieses Erziehungsdiskurses, dass die KolumnistInnen Vermutungen zu den wahren Intentionen politischer FührerInnen anstellen.

7Kurz

nach Gründung der Republik hatte Mustafa Kemal das arabische Alphabet außer Kraft gesetzt und die lateinische Schrift verbindlich eingeführt.

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Diese KolumnistInnen gehen davon aus, dass die islamische Partei ihre wahren Intentionen verbirgt, ein Vorgang, der unter dem Begriff „takiyye“ wohlbekannt ist. Wie sich in der Zeit nach 2012 zeigen sollte, konnten diese AutorInnen sich mittelfristig auf die Stichhaltigkeit ihrer Vorwürfe berufen. Die konstitutive Rolle der Erziehung in der Gesellschaft Es wurde bereits erwähnt, dass der kemalistische Diskurs „laizistische Erziehung“ als ein „Grundelement“ für „Modernität“ auffasst (Arcayürek 2012b). Işık Kansu, ein weiterer Autor der Cumhuriyet, geht sogar einen Schritt weiter und unterstellt, dass eine gemeinsame Geschichte und Zukunft, vor allem aber „geteilte Werte“ Eckpfeiler der „Einheit der Gesellschaft“ seien (Kansu 2012). Dies impliziert allerdings, dass es kaum noch Raum für die Pluralität von Werten gibt. Mustafa Balbay, der damals in Untersuchungshaft saß,8 erinnerte seine LeserInnen an ein chinesisches Sprichwort, das besagt: „Wenn du 100 Jahre im Voraus denkst, so erziehe deine Gesellschaft“. „Erziehung begründet den Geist einer Gesellschaft“, fuhr er fort und erklärte dies zum Hauptgrund dafür, dass Mustafa Kemal der Erziehung so einen hohen Stellenwert zugeschrieben hatte (Balbay 2012). Wenn Erziehung eine konstitutive Rolle für die Gesellschaft zugesprochen wird, erklärt dies andererseits auch, warum diese KolumnistInnen so große Angst vor einer religiösen Wende in der Erziehung hatten, da dies auch den einst kemalistischen Geist der türkischen Gesellschaft transformieren würde. Ja noch mehr, die laizistische Erziehung gilt ihnen als Werkzeug zur „Erleuchtung/Aufklärung unseres Volkes“, wie Öztin Akgüç schreibt, während die religiös beeinflussten „Änderungen im Erziehungssystem“ in der Zeit der AKP-Regierung das Potenzial hätten, die „Zukunft der Türkei zu verdunkeln“ (Akgüç 2012).9 Eckpfeiler einer „laizistischen Erziehung“ Wenn Erziehung in diesem Diskurs so wichtig ist, wo liegen dann ihre Drehund Angelpunkte? Unglücklicherweise erörtern die KolumnistInnen der Cumhuriyet – ganz ähnlich ihren KollegInnen anderer politischer Ausrichtungen

8Damals

wurde Balbay des Umsturzversuchs bezichtigt. Wie sich später herausstellte, war er selbst Opfer eines Komplotts der Untergrundorganisation von Fethullah Gülen und der Erdoğan-Regierung geworden, die mit diesem und anderen Hochverratsverfahren unliebsame Personen aus einflussreichen gesellschaftlichen und staatlichen Positionen vertreiben wollte. 9Das hier genutzte Wortspiel zwischen Erleuchtung und Verdunkelung funktioniert im Türkischen, da dort Aufklärung und Erleuchtung/Beleuchtung wortgleich sind.

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und Medienunternehmen – nicht den Inhalt und die Methoden der Erziehung, sondern ihre politischen Implikationen und Strukturen. Allerdings finden sich in manchen beiläufigen Kommentaren und Nebensätzen Hinweise auf die diesbezüglichen, als selbstverständlich genommenen Annahmen der KolumnistInnen. Ein Aspekt der von ihnen favorisierten Erziehung, der als so selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass er sich nur in Adjektiven äußert, ohne die Notwendigkeit zu spüren, zu erklären, was damit gemeint sei, betrifft den Nationalismus. Die KolumnistInnen fürchten nicht nur, dass der Halbsatz „Ich bin Türke“ aus dem Schwur, den die SchülerInnen allmorgendlich aufsagen müssen, entfernt und durch „Ich bin Muslim“ ersetzt werde (Arcayürek 2012b). Cüneyt Arcayürek befürchtet auch, dass die Erziehung ganz allgemein weniger „nationalistisch“ werde, wobei er hier das Wort „ulusalcı“ nutzt, das mit der kemalistischen (im Unterschied zu einer islamisch-konservativen) Version des Nationalismus konnotiert ist (Arcayürek 2012c). Sicherlich plädiert er hier nicht per se für einen undemokratischen Nationalismus. Vielmehr setzt er die Nation in Bezug zu der Souveränität der Republik und kontrastiert dies mit der dem Premierminister unterstellten Befürwortung einer göttlichen Herrschaft (vgl. ebd.). Während der nationalistische Charakter der von ihnen präferierten Erziehung mehr oder weniger als selbstverständlich vorausgesetzt wird, investieren die KolumnistInnen dieses Erziehungsdiskurses einiges an Mühe in die Erklärung des zweiten wichtigen Aspekts laizistischer Erziehung: die „Wissenschaftlichkeit“. Orhan Bursalı beispielsweise kontrastiert die Beherrschung der Erziehung durch „religiöse Ideologien und Gesetze“ mit einer ideologiefreien Erziehung, die sich unter anderem aus „wissenschaftlichem Wissen“ speise. In dieser Sichtweise ist wissenschaftliches Wissen über Ideologien erhaben und nicht durch gesellschaftliche und politische Belange verzerrt. Diese technische und positivistische Auffassung von Wissenschaft reicht sogar bis zu der These, dass wissenschaftliches Wissen die „Welt führe und die Naturgesetze erkläre“. Wissenschaft und wissenschaftliches Wissen werden hier als getrennt von der Welt und durch sie unberührt angesehen, während sie gleichzeitig deren Richtung bestimmen (Bursalı 2012b). Allerdings gibt es, wie sich in einer Kolumne von Yakup Kepenek dokumentiert, eine signifikante Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität. Obwohl beispielsweise Kepenek gleichermaßen zur Distanz gegenüber den Schriften von „Necip Fazıl“ Kısakürek, einem von Recep Tayyip Erdoğan verehrten islamischen Autor, und den Werken von Nâzım Hikmet, dem berühmten Dichter der türkischen Linken, aufruft, charakterisiert er selbst den erstgenannten Autor abwertend als unterwürfig, während er letzteren dafür preist, dass er

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„Freiheit fördert“ (Kepenek 2012). Es gibt noch weitere Fälle einer solchen Diskrepanz. Deutlich wird etwa, dass eine laizistische Erziehung, wie sie in diesem öffentlichen Diskurs virulent wird, nicht ausschließlich auf vermeintlich neutraler Wissenschaft basiert, sondern auch offensichtlich ideologische Elemente beinhaltet.

3 Der staatsunterstützende konservative Erziehungsdiskurs Während der staatszentrierte kemalistische Diskurs die Regierungspartei bezichtigt, Erziehung mit einer ideologisch-religiösen Perspektive zu rahmen, sind es für die KolumnistInnen aus dem eher konservativen Spektrum10 gerade die KemalistInnen, die eine ideologische Erziehungspolitik befürworten. Hasan Celal Güzel etwa beschreibt die Kader der Oppositionspartei als „konservative“ und rückständige Menschen, die für eine Erziehung argumentierten, die die neue „Generation“ standardisiere. Noch weitergehend charakterisiert er diese Position mit Attributen wie „Auswendiglerner“, „dogmatisch“, „monotypisch“ und „veraltet“; Begriffen, die Kemalisten selbst häufig für die Charakterisierung islamischer Erziehung verwenden. Das heißt, dieser Kolumnist übernimmt die Diktion seiner GegnerInnen und wendet sie gegen diese selbst. Ein wichtiger Punkt, der sich aus der Umkehrung des Arguments gegen den ursprünglichen Urheber ergibt, ist die Suche nach einer modernen Erziehung in „Harmonie mit den Bedingungen des 21. Jahrhunderts“, die mit dem sozialen „Wandel“ schritthalte (Güzel 2012). Die „Normalisierung“ der Erziehung Während die laizistische Erziehung selbst als eine Ideologie dargestellt wird, sind die KolumnistInnen dieser politischen Sparte sehr erpicht darauf, Vorwürfe, sie selbst würden einem ideologischen Verständnis von Erziehung zuneigen, zurückzuweisen. Für sie bedeutet das Säubern des Erziehungssystems von kemalistischen Symbolen eine „Demokratisierung“ und „Normalisierung“ (Karaman 2012a), die Mümtaz’er Türköne beispielsweise Zeynep Orals Formulierung einer „Konterrevolution“ (Türköne 2012b) gegenüberstellt.

10Zur

Rekonstruktion dieses Erziehungsdiskurses wurden 19 Kolumnen analysiert.

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Islam als universales Fundament von Erziehung Der Gedanke, dass Erziehung frei von Ideologie sein sollte, ist selbst dort vorherrschend, wo die KolumnistInnen unverblümt eine islamische Erziehung fordern. Hayrettin Karaman beispielsweise spricht sich gegen Schulen, die von religiösen Orden geleitet werden, aus und befürwortet Schulen, die „Wahrheiten ohne jegliche Lüge“ unterrichten. Eine solche „Normalisierung“ der Schule würde implizieren, dass den Kindern keine Ideologie aufgezwungen werde. Im weiteren Verlauf seiner Kolumne hinterlässt er jedoch den Eindruck, dass der Islam ohne Frage Teil seiner idealen Schule und Gesellschaft sei und dass es nur einen „Islam“ gebe (Karaman 2012b). Der Islam wird hier nicht nur von „Ideologien“ getrennt, sondern auch als das „Firmament“ (Karaman 2012c) von allem, einschließlich der „Wissenschaft und Technik“ (Gülerce 2012), angesehen. Vor dem Hintergrund eines solchen Islamverständnisses scheint es selbsterklärend, dass diese KolumnistInnen sich vehement dafür einsetzen, der Religion in der Erziehung mehr Raum zu geben. Man erinnere sich an die Kolumne von Hayrettin Karaman, der innerhalb weniger Zeilen das Recht auf freie Religionsausübung zu einer Pflicht des Staates, religiöse Erziehung bereitzustellen, umwandelt. Während diese Kolumne in der unmittelbaren Folgezeit von Erdoğans Rede geschrieben wurde, veröffentlichte Fehmi Koru den folgenden Artikel nach der Übernahme jenes Gesetzes, das nicht nur SchülerInnen ermöglicht, nach der vierten Klasse Imam-Hatip-Schulen zu wählen, sondern auch Wahlpflichtfächer wie „Koran“ und das „Leben des Propheten“ einführt: „Das Wahlpflichtfach Koran ist ein Standbein der Normalisierung, wie wir sie in vielen Bereichen erleben. Der Staat, der bei Themen wie Gesundheit und Sicherheit Dienstleistungen produziert oder ihre Produktion ermöglicht, die von den BürgerInnen benötigt und gefordert werden, kann gegenüber dieser Forderung nicht gleichgültig bleiben. Es ist ein Indikator der Neutralität des Staates, dass er auch im Negativen nichts aufzwingt. Es gehört zu den Aufgaben des Staates, denjenigen, die es möchten, die Möglichkeit zum Lernen zu geben.“ (Koru 2012)

Fehmi Koru stellt hier Religion mit jedem anderen Bedürfnis von „BürgerInnen“, wie „Gesundheit und Sicherheit“, gleich, ohne zu berücksichtigen, dass letztere allen Bürgern dienen, während Religion möglicherweise nicht den Bedürfnissen der gesamten Bevölkerung entspricht. Dann erwähnt er die Frage der „Neutralität“, die er in einem ersten Schritt als Verbot, spezifische religiöse Praktiken zu illegalisieren, interpretiert. Im nächsten Schritt geht er jedoch noch deutlich weiter, indem er argumentiert, dass der Staat eine „Möglichkeit schaffen muss für diejenigen“, die Religion „lernen wollen“. Es dokumentiert sich hier, dass

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Fehmi Koru, ähnlich wie Hayrettin Karaman zuvor, die Religionsfreiheit der BürgerInnen zu einer religiösen Bringschuld des Staates umwandelt. Die selbstverständliche Durchsetzungskraft der Mehrheit Den hier untersuchten KolumnistInnen ist klar, dass es auch SchülerInnen gibt, die sich nicht für eine fromme, praktische religiöse Erziehung in der Schule entscheiden oder die eine andere Denomination als den sunnitischen Islam wählen. Sowohl Nazlı Ilıcak (2012) als auch Hayrettin Karaman (2012d) sind aber optimistisch in Bezug auf die gleichzeitige Erziehung von SchülerInnen, die an sunnitischer religiöser Erziehung teilnehmen, und derer, die dies nicht tun. Karaman geht sogar so weit zu fordern, dass der „religiöse Kultur und Moral“ (ebd.) genannte Unterricht pluralistischer werde. In Bezug auf den optionalen sunnitischen Unterricht plädiert er dann aber dafür, die Erfordernisse der Option zu vertauschen: Da es „in einem Land, dessen Bevölkerung zu 99 % muslimisch“ sei, „natürlich“ wäre, diesen Unterricht zu besuchen, müssen „diejenigen, die [diesen Unterricht nicht besuchen] wollen, dies äußern“, wohingegen bei all jenen, die dies nicht tun, davon ausgegangen werden kann, dass sie „teilnehmen wollen“ (Karaman 2012e; d. Verf.). Wie andere KolumnistInnen geht Hayrettin Karaman davon aus, dass ein Großteil der Gesellschaft nicht nur muslimisch sei, sondern auch eine sunnitische Erziehung durch die Schulen begrüße. Die freiwillige Option für ein Unterrichtsfach wird dementsprechend in die Möglichkeit des Abwählens umgewandelt. Darüber hinaus denken Karaman und die andern KolumnistInnen dieser Ausrichtung über keinerlei andere Wahlpflichtfächer als den Unterricht in der Sunna (dem Leben und den Sprüchen des Propheten) nach und vergessen damit, dass es auch andere Konfessionen innerhalb und außerhalb des Islams gibt. Mehr noch, diejenigen, die nicht am Sunna-Unterricht teilnehmen, werden nur vage als „andere SchülerInnen“ bezeichnet, ohne dass ihnen eine Identität zugesprochen würde, d. h. sie werden nicht als Menschen mit eigenen (religiösen) Bedürfnissen angesehen. Unterstützung staatlicher Erziehung Die Bezugnahme auf die unterstellte religiöse Mehrheit der türkischen Gesellschaft ist also ein signifikantes Element des konservativen Erziehungsdiskurses. Anstatt dass der Staat die Bevölkerung erziehe und dadurch die Gesellschaft forme – eine Idee, der implizit die kemalistischen KolumnistInnen anhängen (s. o.) –, soll staatliche Erziehung durch die Gesellschaft, oder genauer: durch ihre Mehrheit geprägt werden. Der konservative Erziehungsdiskurs wandelt mithin auf einem schmalen Grad zwischen den vermeintlichen Forderungen

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der Gesellschaft und der unterstellten Notwendigkeit, diese Forderungen in staatliche Politik zu überführen. Im Kontrast zu einem liberalen oder einem kommunitaristischem Diskurs überantworten diese KolumnistInnen die unterschiedlichen Wünsche der Bevölkerung nicht an die Zivilgesellschaft und private Unternehmen, indem sie sich beispielsweise für private Schulen oder durch religiöse Gemeinden und Orden organisierte, religiöse Erziehung aussprechen würden.11 Vielmehr versuchen diese KolumnistInnen, die Forderungen der Mehrheit zu erfassen und schlagen vor, dass der Staat diese Forderungen in seine Erziehungspolitik integriere.

4 Der konstitutionalistisch-liberale Erziehungsdiskurs In dem letzten öffentlichen Diskurs, den ich hier analysiere, bilden die Rechte von Minderheiten und, was noch wichtiger ist, von Individuen einen ausschlaggebenden Referenzpunkt in den Überlegungen zur Erziehung. Es ist jedoch nicht nur der Schutz des Individuums innerhalb des Erziehungssystems, um den sich die KolumnistInnen sorgen. Sie haben auch klare Vorstellungen davon, wie die öffentliche Erziehung funktionieren soll.12 Respekt für Diversität als Eckpfeiler der Erziehung Hasan Cemal, der Kolumnist, mit dem ich in den liberalen Erziehungsdiskurs eingeführt habe, antwortet in einer seiner Kolumnen auf Erdoğans Behauptung, diejenigen, die nicht als fromme Menschen erzogen werden, würden zu „Kleb­ stoffschnüfflerInnen“13, indem er auf seine eigene Sozialisation in einer säkularen Familie verweist: „Ich habe mir eine respektvolle Sprache angewöhnt. Ich habe alles in toleranter Weise betrachtet. Aber ich wollte denselben Respekt und dieselbe Toleranz auch für meine Werte.

11Ein

solcher Erziehungsdiskurs ließ sich noch 1997 in der Türkei rekonstruieren (vgl. Nohl 2008). 12Für diesen Abschnitt habe ich acht Kolumnen en détail analysiert. 13Eine unter Straßenkindern in der Türkei verbreitete Form der Sucht.

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Ich habe die Ansicht verteidigt, dass der Weg zu echter Ruhe und Frieden nur über den wechselseitigen Respekt, die Toleranz und Geduld gegenüber dem Glauben und dem Unglauben führt. Diese Ansicht verteidige ich auch heute. Aus dieser Perspektive heraus sage ich weiterhin, dass der einzige richtige Weg darin besteht, sich an die Demokratie und Laizität zu halten.“ (Cemal 2012b)

In diesen Zeilen setzt Cemal nicht nur „gegenseitigen Respekt und Toleranz“ als höchste Priorität der Erziehung der Jugend. Er erklärt diese auch als durch die „Demokratie und Laizität“ garantiert. Damit bezieht sich der Kolumnist nicht auf die Forderungen oder Werte irgendeiner Mehrheit und erwähnt auch nicht die Rechte von Minderheiten. Vielmehr nimmt er eine politische Haltung ein, die auf einer Art ‚Meta-Wert‘ basiert, beispielsweise Werten, die – so wird hier offenbar angenommen – in der Lage sind, eine Koexistenz verschiedener Wertesysteme, die von den Individuen einer Gesellschaft gelebt werden, zu erleichtern. Dieses Verständnis von „Laizität“, das sich wesentlich vom kemalistischen Diskurs unterscheidet, kann auch in der Kolumne von Ali Sirmen, einem langjährigen Kolumnisten der Cumhuriyet, rekonstruiert werden. Wie alle anderen KolumnistInnen auch, ist Sirmen der Meinung, dass die staatliche Erziehung keinerlei Form von „Ideologie“ enthalten sollte. Gegenüber seinen MitkolumnistInnen der Cumhuriyet betrachtet er den Kemalismus jedoch als eine eigenständige Ideologie und nicht als neutrales Fundament von Erziehung. Mit einer Formulierung, die mit derjenigen von Hasan Cemal fast identisch ist, untermauert der Kolumnist anschließend die Bedeutung von „gegenseitigem Verständnis“, „der Idee der Demokratie“ und „der Toleranz gegenüber Vielfalt“ als Grundpfeilern von Erziehung (Sirmen 2012a). Es ist keine Überraschung, dass diese KolumnistInnen neben dem Kemalismus auch den Islamismus und den Nationalismus in der Erziehung kritisieren. Kritisches Denken als wichtige Fähigkeit Stattdessen ist die Fähigkeit zum kritischen Denken, beispielsweise das Kritisieren und das Verstehen und Akzeptieren von Kritik, ein wichtiges Element des liberalen Erziehungsdiskurses. Wider der Indoktrinierung von SchülerInnen mit einem Gemisch aus religiöser und nationalistischer Ideologie fordert Levent Köker, ein Autor der „Zaman“, eine „kritische Mentalität“ unter den SchülerInnen zu fördern, da er diese als konstitutiv für eine „pluralistische Haltung“ ansieht (Köker 2012). In ähnlicher Weise setzt Ali Sirmen laizistische Erziehung mit einer Praxis gleich, die das „Zweifeln“ und „Hinterfragen“ fördert und nicht „einige Konzepte tabuisiert“ (Sirmen 2012b). Anscheinend impliziert

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der Meta-Wert des gegenseitigen Respekts und der Toleranz in gewisser Weise die Notwendigkeit, mit dem Anderen ohne Vorurteile zu interagieren. D. h., gemäß dieses liberalen Diskurses müssen gegenseitiger Respekt und Toleranz mit einer Erziehung zu kritischem Denken kombiniert werden. Unterstützung bei der Entwicklung eigener Präferenzen Kritisches Denken allein gibt SchülerInnen jedoch keine konkrete Perspektive auf die Welt. Der liberale Diskurs ist in dieser Hinsicht sehr zurückhaltend darin, sich für eine Erziehung hin zu einem spezifischen Verständnis der Welt auszusprechen. Angesichts von Erdoğans Plan versucht Hasan Cemal beispielsweise, hinsichtlich der erwünschten „Überzeugung“ individueller SchülerInnen gleichgültig zu bleiben (Cemal 2012b). Diese relativistische und individualistische Sicht auf den Glauben und die Lebensweise von SchülerInnen wird auch von Şahin Alpay geäußert, der das Spektrum der akzeptablen „Ideen“ und „Glaubensrichtungen“ auf jene beschränkt, die mit den „Menschenrechten“ vereinbar sind und keine „Gewalt und Rassismus“ implizieren (Alpay 2012). Einer der liberalen KolumnistInnen fühlt sich jedoch verpflichtet, sich mit der Frage, wie Kinder Werte und eine Perspektive auf die Welt entwickeln sollen, zu beschäftigen. Ahmet Turan Alkan glaubt, dass es zu einfach und oberflächlich sei, sich im Kontext staatlicher Erziehung für das Recht von Kindern auf eine eigene Präferenz einzusetzen (vgl. Alkan 2012). Da das Kind auch dem Einfluss oder gar der „Indoktrinierung“ durch seine „Familie“ ausgesetzt sein könne, müsse die staatliche Schule das Kind sowohl vor solchen Zumutungen schützen als es auch dabei unterstützen, eigene Präferenzen zu entwickeln (ebd.). Dass dieses Argument nur von einem einzigen liberalen Kolumnisten vorgebracht wurde, lässt erahnen, dass es einfacher ist, Meta-Werte zu definieren, die in der Schule unterrichtet werden sollen, als eine erzieherische Perspektive auf die Frage zu entwickeln, wie Kinder eine eigene Perspektive auf die Welt und ihr persönliches Leben ausbilden können.

5 Postskriptum Vergleicht man die in den vorangegangenen Abschnitten rekonstruierten Diskurse zur Erziehung mit denjenigen, die in der Türkei im Jahre 1997 virulent waren (vgl. Nohl 2008), so wird – obwohl sie z. T. von anderen AutorInnen getragen wurden – eine hohe Kontinuität deutlich. Schon damals sahen der liberale, der konservative und der laizistisch-kemalistische Diskurs die Funktion und ­Aufgabe

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von Erziehung vis-à-vis des Staates in markant unterschiedlicher Weise. Die Diskurse zur Erziehung, so deutet sich hier an, werden zwar von individuellen AutorInnen reproduziert, sind von diesen aber nicht abhängig. Und sie können große politische Umwälzungen wie jene, die durch die Regierungsübernahme der AKP 2002 in Gang gesetzt wurden, überdauern. Dies sollte man im Blick haben, wenn man die politischen Entwicklungen in der Türkei nach 2012 betrachtet. Schon 2012 begann die Zusammenarbeit Erdoğans mit Fethullah Gülen, mit der die AKP sich erfolgreich der ­kemalistisch-laizistischen Kader in Militär, Bürokratie und Justiz entledigt hatte, erste Risse zu erhalten; nachdem Ende 2013 gülenistische StaatsanwältInnen und PolizistInnen versucht hatten, zentralen Figuren in und im Umfeld der ­AKP-Regierung aufgrund von Korruptionsvorwürfen den Prozess zu machen, wurden die AnhängerInnen Gülens ihrerseits verfolgt. Diese waren dann am 15. Juli 2016 in einen erfolglosen, aber blutigen Militärputsch verwickelt, in dessen Folge Erdoğan seine Herrschaft weiter festigen konnte. Zehntausende wurden verhaftet, eine noch größere Zahl entlassen, weil ihnen die Beteiligung am Putsch oder die Anhängerschaft Gülens vorgeworfen wurde. Zu den Untersuchungshäftlingen, die zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels noch auf ihren Prozess warteten, gehören u. a. die KolumnistInnen Alpay, Türköne und Ilıcak, deren Zeitung Zaman – wie viele andere Medien auch – verboten wurden. Selbst die Führungsriege der Cumhuriyet wurde der Unterstützung Gülens bezichtigt und für mehr als ein Jahr in Untersuchungshaft genommen. Hat damit Recep Tayyip Erdoğan alle Möglichkeiten, nunmehr seinen Plan in die Realität umzusetzen? Die Schulreform war schon im Jahr 2012 Gesetz geworden, und seither mehren sich die Anzeichen, dass der Unterricht, nicht nur im ausufernden Fach Religion, immer stärker von religiösen, inzwischen aber auch wieder nationalistischen Elementen durchdrungen wird (vgl. Lüküslü 2016; Nohl und Somel 2020). Doch selbst wenn der konservative, staatsunterstützende Erziehungsdiskurs zur Erziehung im Jahr 2018 dominant geworden sein und Erdoğans Plan als die politisch einzig gültige Antwort auf Schleiermachers Frage gelten mag, so heißt dies doch nicht, man hätte eine „religiöse Generation“ nach Machart von SozialingenieurInnen herstellen können. Der Kern jenes Phänomens, das wir als Generation bezeichnen, liegt nämlich nicht darin, dass die jüngere Generation von der älteren geprägt werden könnte. Wie Karl Mannheim vielmehr in seinem bahnbrechenden Aufsatz gezeigt hat, können junge Menschen sich auch „einen ‚neuen Zugang‘ zum akkumulierten Kulturgut“ (Mannheim 1964a, S. 530) der Gesellschaft erarbeiten, weil sie aufgrund der „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ (Pinder, zit. n. Mannheim 1964a, S. 521) an den gesellschaftlichen Geschehnissen in einer anderen,

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früheren biographischen Phase partizipieren als ältere Menschen und damit von deren existenziellen Bindungen frei sind. Dies fundiert „Erfahrungen, die während der Jugendphase, der Zeit des In-Frage-Stellens und der dadurch hinzugewonnenen Reflexivität, geschichtlich Geronnenes problematisieren“ (Ecarius 1998, S. 44). Gerade wenn man berücksichtigt, dass nicht alleine öffentliche Diskurse und politische Macht das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen prägen, sondern die sozialen Milieus und Familien, in denen sich das Aufwachsen praktisch realisiert, eine große Rolle spielen,14 muss daher auch die Frage gestellt werden: „Was will die jüngere mit den älteren Generationen?“ (Ecarius 1997, S. 143).

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14Für

eine umfassende Studie, in der wir empirisch rekonstruieren, wie in der Türkei eine Curriculumreform auf den verschiedenen sozialen Ebenen – vom Ministerium über die Einzelschulen bis hin zu den (Organisations-)Milieus der LehrerInnen und SchülerInnen – realisiert wurde, siehe Nohl und Somel 2019. Für die empirische Rekonstruktion der unterschiedlichen Formen, in denen Heranwachsende die Jugendphase in Istanbul mit Leben erfüllen, siehe Warth 2020. 15Die in der seit 2016 verbotenen Zaman erschienenen Kolumnen sind in der Originalversion nicht mehr im Internet auffindbar.

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Generationale Ablösungsprozesse in der Fernsehserie „Gilmore Girls“ Ein Beitrag zur Illustration und Irritation des theoretischen Blicks auf Generationenbeziehungen Marcel Eulenbach und Christine Wiezorek Zusammenfassung

Der Beitrag greift die erziehungswissenschaftliche Diskussion um das Erkenntnispotenzial von literarischen Werken und Fernsehserien auf und setzt sich mit der Frage auseinander, wie generationale Ablösungsprozesse in der US-amerikanischen Serie „Gilmore Girls“ inszeniert werden. In dieser Serie geht es um das Zusammenleben einer alleinerziehenden Mutter und ihrer jugendlichen Tochter. Im Hauptteil des Beitrags werden generationale Ablösungsprozesse zunächst in den „theoretischen Blick“ genommen. Auf dieser Hintergrundfolie wird die Fernsehserie „Gilmore Girls“ betrachtet bzw. zur Illustration des theoretischen Blicks auf Ablösungsprozesse und generationale Konflikte herangezogen. Um schließlich zu zeigen, dass die Serie auch zur Irritation theoretischer Annahmen geeignet ist, wird der inszenierte Beziehungs- und Erziehungsalltag der „Gilmore Girls“ mit der Konzeption einer Erziehung des Beratens (Ecarius et al. 2017) konfrontiert. Schlüsselwörter

Generationenbeziehungen · Generationale Ablösung · Individuation · Erziehung des Beratens M. Eulenbach (*) · C. Wiezorek  Justus-Liebig-Universität Gießen, Gießen, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Wiezorek E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Fuchs et al. (Hrsg.), Jugend, Familie und Generationen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24185-8_19

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1 Einleitung Amerikanische Serienproduktionen wie „Die Sopranos“, „The Wire“ oder „Breaking Bad“, die hierzulande mit der üblichen Verzögerung anliefen, zogen eine Vielzahl euphorischer Rezensionen in den Feuilletons deutscher Zeitungen nach sich. Bald wurden diese kulturellen Produkte auch in wissenschaftlichen Kontexten diskutiert1 – und nicht nur innerhalb der Medienwissenschaft oder Soziologie, sondern auch in der Erziehungswissenschaft hat man sich zu solchen „Qualitätsfernsehserien“ (Sanders 2018, S. 266) geäußert, die aus fachspezifischen Erwägungen heraus Interesse wecken. Eine Gemeinsamkeit jener Serien (und weiterer wie „Gilmore Girls“, „Lost“ oder „House of Cards“) besteht darin, dass sie nicht episodenhaft geschlossen, sondern als anspruchsvolle Fortsetzungsgeschichten konzipiert sind. Daran anknüpfend stellt die akademische Serienbetrachtung die Qualität der ‚neuen‘ Serien durch Vergleiche mit etablierten Kunstgattungen bzw. -formen wie dem Film oder dem Roman heraus. Als Qualitätsattribute werden u. a. die narrative Komplexität, der am Kinofilm geschulte visuelle Stil und die Vervielfältigung von Sinnbezügen durch Intertextualität genannt (vgl. Köhler 2011; Winter 2011). Im Unterschied zu älteren Serien wird die Aufmerksamkeit und Empathie der Zuschauenden stärker durch die Figuren gefesselt, die ungleich präziser gezeichnet werden, vor allem aber im Voranschreiten der Geschichten tief greifende Veränderungen durchlaufen (vgl. Rieger-Ladich 2016). Aufgrund dessen fordern die neuen Serien z. B. zu bildungstheoretischen Reflexionen heraus: Die Serienbiographien der Hauptfiguren von „Breaking Bad“ und „Die Sopranos“ eignen sich dabei nicht nur als illustrative Beispiele für Prozesse der Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen, die in diesem fiktionalen Format minutiös inszeniert und – anders als im Medium der Theoriesprache – anschaulich gemacht werden. Damit wird auch eine produktive Irritation theoretischer Konzepte möglich (vgl. ­Rieger-Ladich 2014a; Sanders 2014). Im Folgenden wollen wir dies – die Illustration und Irritation des theoretischen Blicks – bezugnehmend auf die amerikanische Qualitätsserie „Gilmore Girls“

1Beispielhaft

für den deutschsprachigen Raum: Dravenau und Fischer (2017) deuten die Serie „The Wire“ als kapitalismuskritisches Gesellschaftspanorama und stellen Bezüge zu den literarischen Sittengemälden Balzacs und Zolas her. Pilipets und Winter (2018) beschäftigen sich aus mediensoziologischer Perspektive mit der Serie „House of Cards“, zu der Breitweg et al. (2018) eine politikwissenschaftliche Analyse vorlegen.

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vornehmen, in der es um das Mit-, Neben- und auch Gegeneinander der alleinerziehenden Mutter Lorelai Gilmore und ihrer Tochter Rory geht. Damit stehen adoleszente Ablösungsprozesse der Tochter Rory, Fragen generationaler Ordnung und Aspekte von Generationenbeziehungen im Fokus der Serie. Zunächst wird eine methodische Skizze der erziehungswissenschaftlichen Erschließung fiktionaler Werke vorgelegt (Abschn. 2), gefolgt von einem „Seriensteckbrief“, der mit der Serie „Gilmore Girls“ vertraut machen soll (Abschn. 3). Anschließend wird der Versuch unternommen, die Verbindung von Theorie und fiktionaler Serienwelt in Bezug auf diese Serie produktiv zu machen (Abschn. 4). Dazu wird zunächst die Problematik generationaler Ablösungsprozesse entfaltet (Abschn. 4.1), um diese an der Generationenbeziehung der „Gilmore Girls“ zu veranschaulichen (Abschn. 4.2). Das Abschlusskapitel stellt diese Ergebnisse in den Zusammenhang einer Bestimmung familialer Kommunikation, die als konstitutiv für eine „Erziehung des Beratens“ (Ecarius et al. 2017) gelten kann (Abschn. 5).

2 Methodische Anmerkungen Insofern die Serien des Qualitätsfernsehens künstlerische bzw. fiktionale Produkte darstellen, es sich also nicht um Forschungsdaten handelt, ist eine Deutung dieses Materials in theoretischer Absicht nur dann möglich, wenn eine methodische Begründung für dieses Vorhaben gegeben wird. Nach Rieger-Ladich (2014a) verfügen die Serien über ein erziehungswissenschaftliches Erkenntnispotenzial, das dem literarischer Texte gleicht. Damit soll jedoch nicht gemeint sein, „dass kulturelle Artefakte und künstlerische Produktionen wissenschaftliche Theorien in einem schlichten Sinne widerlegen können oder ihnen gar – in erkenntnistheoretischer Sicht – überlegen seien. Objekte des künstlerischen Feldes folgen einer signifikant anderen Logik als Objekte des wissenschaftlichen Feldes“ (Rieger-Ladich 2014b, S. 18; Herv. i. O.). Diese andere Logik von literarischen Texten sowie TV-Serien liegt darin, dass Einblicke in singuläre Geschichten und Erfahrungswelten eröffnet werden, die – weil sie nicht dem Rationalitätsniveau erziehungswissenschaftlicher Theorien unterworfen sind und keine „Allaussagen“ (ebd.) intendieren – mit einem Höchstmaß an Konkretheit und Differenziertheit der beschriebenen Phänomene einhergehen. Anders als bei theoretischen Texten geht es bei künstlerischen Objekten nicht darum, Rezipient/innen von einem bestimmten Standpunkt argumentativ zu überzeugen, sondern darum, Ausschnitte der Wirklichkeit – wenn auch fingierte – in höchstem Detaillierungsgrad zu zeigen.

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Mittlerweile liegen mit den „Pädagogischen Lektüren“ (Koller und ­Rieger-Ladich 2005a, 2009, 2013) drei erziehungswissenschaftliche Bände zu zeitgenössischen Romanen vor. Der Erkenntnisgewinn einer Auseinandersetzung mit Romanen, der sich aus der Anschaulichkeit singulärer Geschichten und Begebenheiten ergibt, wird gleichsam gesteigert, wenn mehrere Figuren, „die unterschiedlichen sozialen Klassen, Geschlechtern und Generationen angehören“ (Rieger-Ladich 2014b, S. 359), mit ihren jeweiligen Innenperspektiven dargestellt werden. Romane ermöglichen insofern auch den Nachvollzug der Perspektiven, unter denen die Figuren einander wahrnehmen und die den erzählerischen Zusammenhang einer Geschichte erst konstituieren. Es ist diese umfassende Beobachterposition, die stark gemacht wird, um die Funktion literarischer Texte zur Illustration und Irritation erziehungswissenschaftlicher Theorien zu begründen. Dass die literarisch bearbeitete Realität erziehungswissenschaftliche Annahmen irritieren kann, hängt aber auch mit der Thematisierung von Beschädigungen und Deformationen der Subjektivität zusammen – auch und gerade als Ergebnis pädagogischen Handelns (vgl. Koller und Rieger-Ladich 2005b, S. 9 f.). Dieses Erkenntnispotenzial wird mittlerweile ebenfalls den Qualitätsserien attestiert, was insofern nur folgerichtig erscheint, als das Herausstellen der ‚Innenwelten‘ von Figuren ebenso wie die Multiperspektivität von Ereignisverläufen sich auch in anspruchsvollen Serien zeigen. Bezogen auf die US-Serie „Breaking Bad“ sind bislang die umfangreichsten ­ (erziehungs-)wissenschaftlichen Interpretationen vorgelegt worden (vgl. Sanders et al. 2016). Diese Serie bietet den Zuschauenden die Gelegenheit, dem Wandlungsprozess des zunächst unscheinbaren Lehrers Walter White beizuwohnen, der nach dem Schock einer Krebsdiagnose und der Aussicht, die anstehenden Arztrechnungen nicht bezahlen zu können, in die Produktion der synthetischen Droge Chrystal Meth einsteigt. Der Preis des fortan geführten Doppellebens ist jedoch hoch und liegt unter anderem in der zunehmenden Verstrickung Whites in die kriminellen Machenschaften des Drogenmilieus. Unter bildungstheoretischem Gesichtspunkt kommt dieser Serie ein Anregungspotenzial zu, wie Rieger-Ladich (2014a) ausführt: Die Hauptfigur „wird deshalb zu einer ‚bildungstheoretischen Provokation‘, weil die einzelnen Staffeln eine radikale Veränderung seines Charakters nachzeichnen, eine grundlegende Transformation seines Selbst- und Weltverhältnisses, welche die Frage aufwirft, ob diese in überzeugender Weise als Bildungsprozess ausgewiesen werden kann“ (ebd., S. 20). Die Serie „Gilmore Girls“ ist ebenfalls Gegenstand erziehungs- und sozialwissenschaftlicher Reflexionen (vgl. Kreienbaum und Knoll 2011). Fokussiert

Generationale Ablösungsprozesse …

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werden in der Analyse der Serie vor allem Gender-Repräsentationen sowie Rezeptionsprozesse, also Fragen des Umgangs der Zuschauenden mit den Deutungsangeboten der Serie. Es bieten sich bislang kaum Anknüpfungspunkte bezogen auf den Fokus unseres Beitrags – Ablösungsprozesse in Generationenbeziehungen.

3 Die „Gilmore Girls“ – ein Seriensteckbrief Im Zentrum der Handlung stehen Lorelai und Rory Gilmore – eine alleinerziehende Mutter und ihre Tochter. Lorelai wurde ungewollt schwanger und bekam ihre Tochter im Alter von 16 Jahren. Zu Beginn der Handlung in der ersten Staffel der Serie ist sie 32 Jahre alt. Während Rory 16 Jahre alt und somit noch eine Jugendliche ist, wird Lorelai ebenfalls als jugendlicher Typ inszeniert: Beide fallen durch Schlankheit und ein attraktives Äußeres auf. Das Außergewöhnliche dieser Figuren wird aber auch durch ihr Zusammenleben in Szene gesetzt, denn die Serie weicht stark von den etablierten Darstellungskonventionen bei ­Mutter-Tochter-Beziehungen ab. Weit über das übliche Maß werden informalisierte Umgangsformen zwischen den „Gilmore Girls“ gezeigt. Zur ‚Serienfamilie‘ der Gilmores gehören auch Lorelais Eltern, Rorys Großeltern namens Emily und Richard, mit denen Lorelai sich jedoch überworfen hat. Bereits kurz nach Rorys Geburt – so erfährt man in einigen Rückblenden – hat Lorelai das Haus und die Stadt ihrer Eltern verlassen und ist in die Kleinstadt „Stars Hollow“ gezogen. Hier kommen Mutter und Tochter zunächst im Hinterhaus eines Hotels unter, in dem Lorelai eine Anstellung annimmt, und das sie später selbst leiten wird. Nebenschauplätze bilden die Stadt Hartford als Wohnort der Eltern und die Universitätsstadt New Heaven, die beide im Unterschied zu „Stars Hollow“ tatsächlich im amerikanischen Bundesstaat Connecticut existieren. Abgesehen von wenigen Ausnahmen spielt die Serie an diesen Orten (vgl. Kreienbaum 2011, S. 16 ff.). Der Punkt, ab dem die Zuschauenden diese fiktionale Welt mitverfolgen, ist eine Handlungskomplikation: Lorelai möchte ihre begabte Tochter auf eine teure Privatschule schicken, ist aber nicht wohlhabend genug, um das dafür nötige Schulgeld aufzubringen. Ihre Eltern sind es – und so wird die Beziehung zu ihnen, die sich bislang auf wenige Treffen im Jahr (Weihnachten, Thanksgiving) beschränkte, neu belebt. Das Schulgeld zahlen Emily und Richard nämlich nur unter der Bedingung eines wöchentlichen Treffens, fühlen sie sich als (Groß-)Eltern doch bislang aus dem Leben ihrer (Enkel-)Tochter ausgeschlossen.

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Die Serie erzählt sieben Jahre im Leben der „Gilmore Girls“.2 Sieben Staffeln mit insgesamt 153 Folgen bilden gewissermaßen einen 100-Stunden-Film (vgl. ebd., S. 13), der Rorys Schulwechsel, ihr Studium in Yale und ihren Berufseinstieg als Journalistin erfasst, während die Mutter im Verlauf der Geschichte ihren Arbeitsplatz als angestellte Hotelmanagerin aufgibt, um gemeinsam mit der Köchin und Freundin Sokie ein eigenes Hotel zu eröffnen. Einen breiten Raum nehmen die Liebesbeziehungen der Figuren ein, die als weit gespannte Erzählbögen teilweise sogar staffelübergreifend angelegt sind. Lorelai verliebt sich zunächst in einen Lehrer an Rorys neuer Schule, dessen Heiratsantrag sie schließlich doch ablehnt, um nach einigen amourösen Verwicklungen am Ende der Serie eine Beziehung mit Café-Besitzer Luke Danes einzugehen, dessen Lokal eine Institution in „Stars Hollow“ ist. Die Figur Luke wurde von Anfang an als guter Freund Lorelais portraitiert. Auch, dass beide mehr als nur freundschaftliche Gefühle füreinander empfinden, ist Teil dieses Narrativs. Rory macht ihre ersten Beziehungserfahrungen mit Dean, den sie aber bald wegen eines anderen Jungen verlässt: dem rebellischen Jess, der sich jedoch als unzuverlässig entpuppt. Eine längere Beziehung geht sie dann während ihrer Studienzeit in Yale ein. Ohne Zweifel ist das „Erzähluniversum“ (Winter 2011, S. 165) der „Gilmore Girls“ bei Weitem nicht so imposant wie das anderer Serien (z. B. „The Wire“). Qualitätsserien zeichnen sich nach Blanchet (2011) aber auch durch Selbstreflexivität und Intertextualität aus. Neue Bedeutungen und Lesarten werden durch intertextuelle Verweise ermöglicht, „[d]as Spektrum reicht dabei von Filmklassikern und Medienklischees über die Welt der Popmusik bis hin zu wissenschaftlichen Themen“ (ebd., S. 61). Dass das selbstreferenzielle Spiel zum Wesenskern populärkultureller Produkte gehört, die sich zitierend auf den gesamten Zeichenkosmos des Populären beziehen können, wurde vielfach betont. Im Falle der „Gilmore Girls“ wird diese Form der Intertextualität durch die Bezugnahme auf Hochkulturelles, insbesondere auf Romane und Bühnenstücke, nochmals gesteigert: Betrachtet man nur die ins Deutsche übersetzten Bücher, die in der Serie erwähnt werden, sind es über 300 (vgl. Paul 2016, S. 55 ff.). Diese Sinnbezüge fließen in Alltagsgespräche ein und prägen den ‚Markenkern‘ der Serie: den kreativen und anspielungsreichen Wortwitz der „Gilmore Girls“.

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Serie wurde in den Vereinigten Staaten von 2000 bis 2007 und im deutschsprachigen Raum von 2004 bis 2013 ausgestrahlt. Eine Fortsetzungsstaffel, bei der innerhalb der Erzählzeit ein Sprung von zehn Jahren umgesetzt wurde, ist seit 2016 in den USA und in Deutschland auf Netflix zu sehen (dt. Titel: „Gilmore Girls: Ein neues Jahr“).

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Darüber gewinnen die Figuren Lorelai und Rory ihre Kontur, doch auch die anderen (Neben-)Figuren sind mit einer facettenreichen Personensemantik ausgestattet. Bei den Gilmore Girls handelt es sich um eine dialogzentrierte Serie, die ihre Spannung nur selten aus dem Eintreten außeralltäglicher Ereignisse bezieht. Meistens agieren die Figuren in alltäglichen Situationen, sie werden beim Kaffeetrinken, auf der Arbeit, in der Schule, in ihrem häuslichen Umfeld etc. gezeigt. Hier begegnen sie sich freundschaftlich oder im Streit, sie schmieden Pläne, lachen und lästern, sie tauschen Erfahrungen und als Paare Zärtlichkeiten aus etc. Aufgelockert wird dieser ‚Serienalltag‘ durch Stadtfeste, auf die man als Zuschauer/in durch die Darstellung der emsigen Vorbereitungsarbeiten, an denen viele Bewohner von Stars Hollow beteiligt sind, eingestimmt wird. Diese Vorbereitungen ebenso wie die Festakte selbst sind Inszenierungen eines weitgehend harmonischen Kleinstadtlebens, das bisweilen zur Gemeinschaftsidylle überzeichnet wird. Jede Folge der „Gilmore Girls“ besteht aus einer überschaubaren Anzahl an Handlungssträngen, die nach dem aus Soap-Operas bekannten Prinzip der „Zopfdramaturgie“ (Göttlich 2000, S. 33) im stetigen Wechsel präsentiert werden. So lassen sich mehrere Geschichten parallel erzählen. Diese sind häufig als Fortsetzungsgeschichten angelegt, die über mehrere Folgen hinweg – manche mit Unterbrechungen – entfaltet werden, oder als ‚roter Faden‘ sogar die gesamte Serie durchziehen. Ermöglicht wird so „zum einen die Vielfalt des Personeninventars und zum anderen die differenzierte Darstellung und die Komplexität der Figuren, die nicht eindimensional und berechenbar reagieren“ (Kreienbaum 2011, S. 26). Maßgeblich ‚geformt‘ werden die Figuren in Generationenbeziehungen, die gleichsam das Meta-Thema bilden und durch die dialogzentrierte Erzählstruktur der Serie auch im Vordergrund stehen. Es stellt sich die Frage, wie diese inszeniert werden und insbesondere was daran sichtbar wird, wenn diese Inszenierungen mit theoretischen Annahmen zu generationalen Ablösungsprozessen konfrontiert werden. Das soll im Folgenden geschehen.

4 Lorelai und Rory Gilmore – eine fiktionale Generationenbeziehung theoretisch gelesen Generationenbeziehungen sind – wie bereits erwähnt – in der Serie „Gilmore Girls“ allgegenwärtig. Als konfliktbeladene Beziehung wird die zwischen Lorelai und ihren Eltern, Emily und Richard Gilmore, inszeniert. Die grundverschiedenen Lebenseinstellungen, die wiederkehrend zu Konflikten führen, verweisen auf

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generationale Differenzen (vgl. Kreienbaum 2011, S. 16). Als Gegenmodell dazu wird die enge Bindung von Lorelai und ihrer eigenen Tochter Rory ins Spiel gebracht. In der Beziehungsdyade von Lorelai und Rory scheinen generationale Differenzen, generationsbezogene Standpunkte und darauf basierende Konflikte nahezu bedeutungslos zu sein. Diese Lesart wird insbesondere durch die Darstellung von Mutter und Tochter als Freundinnen nahegelegt.3 So sind die beiden in unzähligen, für die Serie typischen Szenen vergnüglich vereint, z. B. beim ritualisierten Kaffeetrinken in „Luke’s Diner“. Auch grenzt Rory sich nicht durch eigenwillige Musik- und Medienpräferenzen von ihrer Mutter ab. Vielmehr fühlen sich beide durch ihre musikalischen Vorlieben verbunden, was u. a. dadurch in Szene gesetzt wird, dass sie gemeinsam ein Konzert der „Bangles“ besuchen (1.134). Als jugendtypische Ereignisse werden auch die obsessiven Video-Abende der beiden inszeniert: Mutter und Tochter schauen sich mehrere Filme hintereinander an und vertilgen dabei Unmengen an Fast-Food und Süßigkeiten. Das Darstellungsschema ‚Mutter und Tochter als Freundinnen‘ wird überdies dadurch verankert, dass das generationale Sorgeverhältnis in bestimmten Situationen ein wechselseitiges ist. Lorelai wird als eine unfreiwillig alleinstehende Frau dargestellt, die in Gefühls- und Beziehungsangelegenheiten eher unbeholfen ist. Daran ändern weder ihre Attraktivität noch die sich bietenden Gelegenheiten etwas. Vor diesem Hintergrund wird Rory bisweilen zur Trösterin Lorelais, wenn diese sich gerade in einem „Beziehungstief“ befindet (1.11 und 5.14). Bei Liebeskummer Trost zu spenden ist somit etwas, das nicht nur von der Mutter ausgeht und auf die Tochter gerichtet ist. Kreienbaum (2011) resümiert: „Wer erwachsen ist oder verantwortungsbewusst handelt, das ist bei den Gilmore Girls nicht immer selbstverständlich die Mutter“ (ebd., S. 14; Herv. i. O.). Das Erziehungsverhalten Lorelais ist durch Aufmerksamkeit und Feingefühl für die emotionalen Befindlichkeiten ihrer Tochter gekennzeichnet. Lorelai wirkt ermutigend auf Rory ein und fördert damit deren Selbstwahrnehmung als selbstbewusste und begabte junge Frau. Sie bringt Rory gegenüber zum Ausdruck, dass sie darauf vertraut, dass diese mit den ihr gewährten Freiheiten verantwortlich umgeht und verteidigt diese Freiräume auch gegen Einmischungsversuche seitens

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ist der zentrale Erzählhintergrund. Bereits der Serientitel „Gilmore Girls“ ist eine Anspielung auf Freundschafts- oder Peerbeziehungen. In Italien wurde die Serie unter dem Titel „Una Mamma per amica“, zu Deutsch „Eine Mutter als Freundin“ ausgestrahlt (vgl. Wikipedia 2018). 4Die Kennzeichnung der Folgen, denen die nachfolgend analysierten Szenen entnommen sind, erfolgt in Klammern (1.13). Gemeint wäre in diesem Beispiel die 1. Staffel, 13. Folge.

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ihrer eigenen Eltern, also Rorys Großeltern Emily und Richard. Szenen, in denen Lorelai das töchterliche Verhalten durch Zwang oder Bestrafung zu lenken versucht und sich dabei auf ihren Wissen- und Erfahrungsvorsprung beruft, kommen in der Serie kaum vor. Eine dieser Szenen soll hier knapp skizziert werden: Rory möchte ihre eigene Entscheidung, an die renommierte Privatschule „Chilton“ zu wechseln, am Abend vor dem Schulwechsel rückgängig machen. Grund dafür ist die High-School-Bekanntschaft mit Dean, einem neuen Mitschüler, der Interesse an ihr gezeigt hat. Auf diese ‚Ansage‘ hin kommt es zu einem direktiven Erziehungsverhalten Lorelais, die den Wunsch Rorys rigoros mit den Worten zurückweist: „Wir haben’s immer mit der Demokratie gehalten, wir haben immer nur das getan, worüber wir uns einig waren. Aber: Ich fürchte, jetzt muss ich mal die Mutter raushängen lassen. Du wirst nach Chilton gehen, ob es Dir nun gefällt oder nicht. Montagmorgen wirst Du dort anfangen. Und keine Widerrede!“ (1.01). An dieser kurzen Episode wird deutlich, dass trotz aller freundschaftlichen Verbundenheit die Mutter-Tochter-Beziehung als generationale nicht infrage steht. In der vorliegenden Situation entscheidet Lorelai für ihre Tochter und macht unmissverständlich deutlich, dass diese Entscheidung nicht zur Disposition steht. Deutlich wird somit: Die freundschaftliche und egalitäre Beziehung zwischen einer Mutter und ihrer Tochter bildet die Kernnarration der Serie „Gilmore Girls“. Die Beziehung von Lorelai und Rory wird im Spannungsfeld zwischen ‚besten Freundinnen‘ und Generationenbeziehung dargestellt. Dieser Figurenkonstellation sind Reibungen und Widersprüche eingeschrieben, die die Wirklichkeitsnähe der Serie erzeugen. Bevor wir auf die ‚Serienwirklichkeit‘ dieser Mutter-Tochter-Beziehung eingehen, soll eine theoretische Betrachtung generationaler Ablösungsprozesse erfolgen.

4.1 Generationale Ablösung und Ambivalenzerleben Die Ablösung der Jugendlichen von der Elterngeneration und ihre zunehmende Unabhängigkeit ist keinesfalls ein Prozess, der allein von der jüngeren Generation getragen wird. Dies hat insbesondere King (2002, 2009, 2010) herausgearbeitet. Die Vorstellung von Ablösung als eine von der jüngeren Generation herbeigeführte Trennung ist somit ungenau. Stattdessen ist von einer Umgestaltung der Generationenbeziehung auszugehen, die sich unter Mitwirkung der älteren Generation vollzieht. In den Arbeiten Kings bilden die Generativität der älteren und die Individuation der jüngeren Generation analytisch unterscheidbare Perspektiven, die sich gleichwohl ergänzen. In ihrem Ineinandergreifen vollzieht sich „Ablösung“. Ferner gehen sie mit je spezifischen Ambivalenzen einher.

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Generativität In pädagogischen Generationenbeziehungen ergeben sich für die erwachsenen Bezugspersonen der Jugendlichen spezifische Aufgaben, die zu bewältigen sind. King fragt: „Welche Bedingungen muss die je ältere Generation bei sich selbst herstellen, um für die jüngere Selbstbildungsprozesse zu ermöglichen?“ (2006, S. 67; Herv. i. O.). Unter dem Begriff der Generativität werden diese Bedingungen näher bestimmt. Eine generative Haltung besteht im Zugeständnis von Freiräumen, die den Heranwachsenden die Auseinandersetzung mit einem eigenen Lebensentwurf ermöglichen und Gelegenheiten bieten, bislang unhinterfragte Normen, Werte und kulturelle Praktiken auf ihre Angemessenheit zu prüfen. Ein solcher „psychosozialer Möglichkeitsraum“ (King 2002, S. 28) kann aber nur entstehen, wenn die ältere Generation darauf verzichtet, „störend oder gar destruktiv in die adoleszenten Selbstfindungsprozesse einzugreifen“ (ebd., S. 57). Die damit verbundene Herausforderung für die erwachsene Generation besteht in der Bewältigung von Ambivalenz – und zwar in (mindestens) zweifacher Hinsicht: Zunächst ist die Gewährung eines Möglichkeitsraums nicht gleichbedeutend mit einem vollständigen Rückzug der Erwachsenen, vielmehr obliegt ihnen ein schwieriger Balanceakt zwischen Begleitung und Unterstützung einerseits und Zurückhaltung und Abgrenzung gegenüber der jüngeren Generation auf der anderen Seite (vgl. King 2006, S. 67). Des Weiteren wird die zunehmende Eigenständigkeit der adoleszenten Lebensentwürfe von der Erwachsenengeneration als ambivalent erlebt, weil hiermit zugleich ihre eigenen Werte, Wissensbestände, Lebensmodelle und kulturellen Praktiken relativiert werden. Generativität meint nämlich „die gesellschaftlich sich wandelnden Formen der Ermöglichung des ‚Heranwachsens‘ der Folgegeneration und damit sukzessive auch der – zwangsläufig ambivalenten – Ermöglichung der eigenen Ablösung durch die jeweilige Folgegeneration“ (King 2009, S. 41; Herv. i. O.). Damit wird zugleich deutlich, dass der Beitrag der Elterngeneration zum Heranwachsen der Jüngeren historischen Wandlungsprozessen unterworfen ist und nicht als überzeitliche Entität bestimmt werden kann. Individuation Wie bereits deutlich gemacht wurde, vollzieht sich die Ablösung der Jugendlichen als Prozess, der von den Eltern und ihren jugendlichen Kindern gleichermaßen getragen wird – dabei allerdings mit je spezifischen Aufgaben verbunden ist. Für die Individuation der Heranwachsenden lassen sich nun ebenfalls bestimmte Bedingungen und Ambivalenzen angeben. Vor dem Hintergrund der familialen Sozialisation, die auf Erziehungspraktiken, aber auch auf

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der Wirkmächtigkeit impliziter Wissensbestände, Rollenmodelle und Familienthemen beruht (vgl. Ecarius 2007), müssen Jugendliche ihre Individuation vollziehen. Sie setzen sich aufgrund des Zugewinns an Reflexivität mit familialen Einflüssen auf neue Weise auseinander. Die Individuation realisiert sich über Phasen der Infragestellung des Vorgefundenen, schließt aber die Möglichkeit der Zustimmung zu elterlichen Lebens- und Geschlechtsentwürfen sowie vorgelebten Beziehungsformen keinesfalls aus – im Sinne eines reflektierten und darin eigenständigen Selbstentwurfs (vgl. King 2002, S. 106 ff.). Der ‚Aufbruch zu neuen Ufern‘ ist strukturell an das Heraustreten aus den gewohnten Sicherheiten und den Verlust der Anerkennung durch die primären Bezugspersonen gebunden. Im Prozess der Individuation entsteht also zwangsläufig ein zumindest zeitweiliges Anerkennungsvakuum (vgl. ebd., S. 88 f.). Daraus resultiert das spezifische Ambivalenzerleben der Jugendlichen, denn diese bleiben auch im Prozess der Individuation an ihre Eltern gebunden. Vorherrschend können „Angst und Schmerz sein, wenn Adoleszente phasenweise diejenigen in Frage stellen, auf die sie noch angewiesen sind“ (King 2010, S. 14). Die Fähigkeit, eine reflexive Position gegenüber den vertrauten und ‚eingespielten‘ Familienbeziehungen einzunehmen, entsteht im Kontext andersartiger Beziehungserfahrungen. Hier sind an erster Stelle die Peergroups der Gleichaltrigen zu nennen. Impulsgeber können aber auch pädagogisch gerahmte, außerfamiliale Generationenbeziehungen sein (vgl. King 2006). Die intragenerationellen Beziehungsnetze der Jugendlichen bilden einen Experimentier- und Schonraum, der ein Probehandeln in egalitären Beziehungsformen und das eigenständige Hervorbringen kultureller Praktiken ermöglicht (vgl. ebd., S. 203 ff.). Beziehungen zu Gleichaltrigen haben überdies eine kompensatorische Funktion angesichts des Anerkennungsvakuums, das zeitweilig zu Belastungen und Verlusterfahrungen in intergenerationellen Beziehungen führt (vgl. King 2010, S. 14). Zudem liegen in der Wechselwirkung von peerbezogenen Erfahrungen hier und familialer Beziehungswelt dort Individuierungsmöglichkeiten, wenn „die intergenerationellen von intragenerationellen Beziehungserfahrungen konterkariert, in wechselnden Hinsichten ergänzt, korrigiert, infrage gestellt oder erweitert werden können“ (King 2002, S. 111; Herv. i. O.). Familie und Peergroup sind somit nicht nur durch unterschiedliche Themen und Konfliktanlässe charakterisiert, sondern auch durch differente Kommunikations- und Interaktionsformen (siehe auch Youniss 1994). Mit King (2002) ist zu konstatieren, dass die peerbezogene Aneignung differenter Kommunikationsformen der Neupositionierung gegenüber den elterlichen Sichtweisen strukturlogisch vorausgeht: Indem Jugendliche ihre Erfahrungen mit egalitärer Kommunikation in

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Peerbeziehungen auf die Eltern-Kind-Kommunikation übertragen, können sie sich innerlich von familialen Selbstverständlichkeiten lösen und sind schließlich auch zu eigenständigen Positionierungen innerhalb von Generationenbeziehungen in der Lage (vgl. ebd., S. 109 ff.). Inwiefern diese Zusammenhänge in der Serie „Gilmore Girls“ sichtbar werden, ist Gegenstand des folgenden Kapitels.

4.2 Zur Inszenierung generationaler Ablösungsprozesse bei den „Gilmore Girls“ Einige Anmerkungen sind notwendig, um die Sequenz, die im Weiteren analysiert wird, als Teil des Handlungsverlaufs verständlich zu machen. Nachdem die Beziehung zwischen Rory und ihrem ersten Freund Dean ein abruptes Ende genommen hat, leidet die junge Frau unter dem Trennungsschmerz. Lorelai ist besorgt und rät ihr, sich zuhause zu ‚vergraben‘ und Trauer und Schmerz auszuleben. Rory schlägt diesen Rat nicht nur aus, sie beschließt sogar, das Gegenteil dessen zu tun: Sie stürzt sich in einen Aktionismus und fasst den Plan, die vielen Aufgaben, die mit der baldigen Aufnahme des Studiums in Yale zusammenhängen, in kürzester Zeit zu erledigen. Sie hofft ihren Ex-Freund Dean zu vergessen, was ihr jedoch nicht gelingt. Ihre Mutter und Max Medina – ein Lehrer Rorys, mit dem Lorelai liiert war – haben nach ihrem Beziehungsabbruch doch wieder Kontakt zueinander aufgenommen. Dies erfährt Rory aber nicht von ihrer Mutter, sondern von Mr. Medina, der sie nach einer Schulstunde zur Seite nimmt und signalisiert, dass er den Grund für ihre Unaufmerksamkeit im Unterricht kenne, weil er mit Lorelai telefoniert habe. Sein freundliches Angebot, mit ihr über die Trennung von Dean zu sprechen, weist Rory brüsk zurück. Auf dem Heimweg von der Schule begegnet sie ihrer Mutter. Diese sieht sich sogleich mit der Verärgerung ihrer Tochter konfrontiert und hält ihr vor, dass ihre Unausgeglichenheit nicht mehr zu ertragen sei. Daraufhin kommt es zu einem heftigen Streit: „Lorelei: Hör zu, du bist seit einer Woche mies drauf, und obwohl ich die vielen Freuden und Leiden als Mutter genieße, kann ich nur sagen, ich hab genug von der trüben Tasse, ich will meinen Sonnenschein wieder. Rory: Du kriegst keinen normalen Satz zu Stande, was! Sowas wie „Lass uns reden!“ ist dir zu langweilig. Lorelei: Hey, lass uns reden! Rory: Und worüber? Oh warte, genau, vielleicht über dich und Mr. Medina. Lorelei: Was? Rory: Ich hab gehört, ihr zwei seid wieder zusammen.

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Lorelei: Hast du das von Max? Rory: Nach dem Unterricht wollte er mit mir noch über meine furchtbare Trennung reden. Lorelei: Wir sind nicht zusammen, wir-wir haben nur telefoniert, und jetzt wollen wir auch wieder ausgehen. Rory: Wieso hast du nie was davon erzählt? Lorelei: Weil es so was ähnliches ist wie die Sache mit Nevina Cutler und Todd. Rory: Was? Lorelei: Früher auf der Junior High, da-da hatte ich n Freund, Todd irgendwas. Kein Seelenverwandter, aber ich war total verrückt nach ihm. Er hat mich abserviert. Ich war am Boden zerstört, zu nichts anderem fähig als im Bett zu liegen, zu heulen und Air Supply zu hören. Ein Tiefpunkt in meinem Leben. Zwei Tage später kam meine beste Freundin Nevina Cutler wieder mit ihrem Freund zusammen, Randy irgendwas. Er hatte sie kurz vor der Sache mit mir und Todd verlassen, und sie hat sich so gebrüstet mit ihrem neuen Glück und sich ununterbrochen ausgelassen, wie toll es mit ihm sei, dass ich mich immer schlechter fühlte. Rory: Und Ende. Gehen wir! Lorelei: Hör zu, ich wollte nicht sein wie Nevina Cutler, okay? Du warst so deprimiert wegen Dean, was hätte ich deiner Meinung nach sagen sollen, hey, die Sache mit Dean tut mir leid, aber ich hab Max wieder, wie schön. Wär das besser gewesen? Rory: Das wär spitze gewesen! Lorelei: Ich wollte es dir noch erzählen, ich-ich wollte dir einfach n bisschen Zeit lassen und äh dir Gelegenheit geben, dich zu fangen. Ich wollte dich beschützen, das ist alles. Hey! Rory: Lass es sein! Es ist vollkommen egal, ob du mir das mit Max verschweigst oder nicht, ihr trennt euch ja sowieso wieder. Lorelei: Entschuldige mal! Rory: Das kannst du doch am besten! Lorelei: Hey, krieg dich mal wieder ein! Rory: Du machst Schluss mit ihm, heulst, verträgst dich wieder, machst Schluss mit ihm. Eigentlich ist es völlig egal, ich will’s lieber nicht so genau wissen. Sag’s mir, wenn du dich endgültig entschieden hast. Lorelei: Na hör mal, ich glaub du tickst nicht ganz richtig! Auch wenn’s dir gerade nicht gut geht, irgendwo ist Schluss. Ich erwarte ne Entschuldigung! Rory: Bitte: es tut mir leid! Ich will nach Hause, und zwar sofort! Lorelei: Ja. Da üben wir dann, wie man sich richtig entschuldigt.“ ­(Sherman-Palladino et al. 2001, 1.20, 20:38–22:16)

Den Dialog eröffnet Lorelai, die hier die Sorge um ihre Tochter zugunsten ihrer eigenen Befindlichkeit zurückstellt und den Wunsch äußert, nicht mehr länger unter der Übellaunigkeit Rorys leiden zu müssen. Die Einlassung „obwohl ich die vielen Freuden und Leiden als Mutter genieße…“ könnte hier als eine Art Perspektivumkehr gelesen werden, die Lorelai von einem überpersönlichen Standpunkt aus vollzieht: Aus der Sicht einer Mutter sei die Unausgeglichenheit

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ihrer jugendlichen Kinder – und mithin das eigene Schwanken zwischen freudund leidvollem Mitgefühl – zwar grundsätzlich zu akzeptieren (euphemistisch gewendet: „ich (…) genieße“). Dennoch sei es für eine Mutter legitim, zur Rücksichtnahme gegenüber den eigenen Gefühlen aufzufordern, wenn ein Kind die elterliche Geduld überstrapaziert. In der vorliegenden Situation bringt Lorelai durch diese Perspektivumkehr eine Distanzierung gegenüber der emotionalen Verletzung Rorys zum Ausdruck – nachdem sie in etlichen vorhergehenden Situation allerdings sehr einfühlsam auf Rory zugegangen war, diese aber stets ‚dicht gemacht hat‘. Die Individuation Rorys wird in diesem Dialog als Umgestaltung der Beziehung zur Mutter und Transformation bisheriger Erfahrungsmuster sichtbar. Rory macht gegenüber Lorelai deutlich, dass sie nicht willens ist, mit ihr über Trennung und Trennungsschmerz – also über relevante Erfahrungen im Kontext ihrer ersten Intimbeziehung – zu sprechen. Nachdem Lorelai auf Rorys geifernde Bemerkung „Du kriegst keinen normalen Satz zu Stande, was! Sowas wie ‚Lass uns reden!‘ ist dir zu langweilig“ mit einem Gesprächsangebot reagiert, lenkt Rory das Thema sogleich auf Mr. Medina: Sie unternimmt den Versuch, das Verhältnis thematischer Ein- und Ausschlüsse in der Kommunikation zwischen Tochter und Mutter neu zu bestimmen, indem sie das Thema ‚Trennung von Dean‘ aus dieser Kommunikation ausschließt. Dieses Verhalten ist vor dem Hintergrund der verstärkten Hinwendung zu Gleichaltrigen zu betrachten, die als Bezugspersonen für die Erfahrungsverarbeitung zunehmend wichtig werden – gerade mit Blick auf die jugendspezifischen Entwicklungsthemen Sexualität und Aufbau von Intimbeziehungen. Die Ablösung von der familialen Beziehungswelt führt dazu, dass es fortan nur noch „Schnittmengen von Themen [gibt], die mit Eltern und mit Freunden besprochen werden“ (Youniss 1994, S. 136). Da Rory das Thema ihrer Trennung unter Verschluss hält, wird ihre psychische Krise, die auf diese Trennung folgte, ebenfalls der kommunikativen Bearbeitung innerhalb der Mutter-Tochter-Beziehung entzogen. Damit erprobt sie ein neues Verarbeitungsmuster emotionaler Erfahrungen. Zugleich relativiert sie die Bedeutung der Mutter, die nun nicht mehr diejenige ist, der sich die Tochter mit ihrer emotionalen Bedürftigkeit anvertraut. Die Streitszene veranschaulicht aber auch, dass dieser Schritt Verunsicherung bedeutet und von Rory ambivalent erlebt wird. Nach King (2010) ist Ambivalenz für die Ablösung in Generationenbeziehungen konstitutiv, denn Adoleszenten lösen sich von denjenigen, mit denen sie trotzdem auch verbunden bleiben, weil Abhängigkeit und Autonomie neu ausgehandelt werden (vgl. ebd., S. 14). Im Zuge dessen kommt es vielfach zu einem (abrupten) Wechsel zwischen Verbundenheit und Abgrenzung. Der vorangestellte Dialog liefert auch dafür Anhaltspunkte, da Rory sehr s­prunghaft

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agiert: Nachdem sie die Gesprächseröffnung der Mutter zunächst mit einem metakommunikativen Kommentar („Sowas wie ‚Lass uns reden!‘ ist dir zu langweilig“) ‚beantwortet‘ und damit ihr Interesse an einem offenen und ernsthaften Gespräch bekundet hat, bringt sie im Weiteren mit sarkastischem Unterton Mr. Medina ins Spiel und wendet sich damit gegen ihre Mutter, obwohl diese auf ihren Einwand konstruktiv reagiert hatte („Hey, lass uns reden!“). Was bei oberflächlicher Betrachtung schlicht als streitlustiges Verhalten Rorys erscheinen mag, verweist somit auf das den Individuationsprozessen inhärente Ambivalenzerleben. Am vorliegenden Dialog wird aber auch deutlich, inwiefern die adoleszente Aneignung differenter Kommunikationsformen und -stile Einfluss auf die Gestaltung von Generationenbeziehungen nehmen kann. Rorys Reaktion darauf, dass Lorelai mit den Worten „Hey, lass uns reden!“ eine Aussprache herbeiführen will, verweist auf einen egalitären Kommunikationsstil. Rorys Entgegnung „Und worüber? Oh warte, genau, vielleicht über dich und Mr. Medina“ ist offensichtlich ironisch gemeint: Sie möchte Lorelai damit konfrontieren, dass diese sich einem Gespräch über ihr eigenes Beziehungsleben verweigert, zugleich aber von ihrer Tochter verlangt, über die eigene emotionale Befindlichkeit Auskunft zu geben. Rory gelingt es damit, die Kommunikation zwischen Mutter und Tochter als eine nicht-egalitäre zu rahmen. Nun sind aber gerade Freundschaften idealerweise egalitäre Beziehungen, die sich durch reziproke Selbstenthüllung und wechselseitige Preisgabe intimer Informationen auszeichnen (vgl. Schinkel 2007, S. 321 ff.).5 Vor dem Hintergrund der typischen Erwartungen an freundschaftliche Kommunikation, dass „Freunde keine Geheimnisse voreinander haben und sich vertrauensvoll gegenseitig offenbaren“ (ebd., S. 325), ist mit Rorys Hinweis auf die Missachtung der Reziprozitätsnorm durch Lorelai zugleich die Frage aufgeworfen, ob zwischen Mutter und Tochter eine Freundschaftsbeziehung bestehen kann. Interessant ist nun, wie Lorelai reagiert, als Rory fragt, weshalb ihr die neuesten Entwicklungen im Liebesleben der Mutter vorenthalten wurden („Wieso hast du nie was davon erzählt?“). Lorelai versucht nun, die töchterlichen Vorhaltungen zu entkräften, indem sie von ihrer eigenen Jugendzeit, einem schmerzhaften Beziehungsende und ihrer besten Freundin Nevina Cutler erzählt, die

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wird besonders deutlich, wenn Freundschaft als eine historische Semantik untersucht wird. Interessant ist, dass sich die Bedeutung von Freundschaft seit der Antike zwar in vielerlei Hinsicht geändert hat, das Gebot der wechselseitigen Selbstenthüllung aber seitdem im Nachdenken über Freundschaft fest verankert ist (vgl. Schinkel 2007, S. 315 ff.).

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sich angesichts ihres Liebeskummers als wenig einfühlsam erwiesen und den Trennungsschmerz Lorelais damit noch vergrößert hatte. Die ‚Moral‘ dieser kurzen Geschichte besteht darin, dass das Gebot der reziproken Selbstenthüllung in Freundschaften auch Leid verursachen kann. Somit kann die Geschichte auch als Begründung dafür dienen, dass es in Freundschaftsbeziehungen Ausnahmen vom Gebot der Reziprozität geben muss. Indem Lorelai diese Begebenheit als ‚Rechtfertigungsgeschichte‘ erzählt, rekurriert sie auf den Bezugsrahmen ‚Freundschaft‘ und verortet den aktuellen Streitanlass zwischen ihr und Rory in diesem Rahmen („Hör zu, ich wollte nicht sein wie Nevina Cutler, okay?“). Deutlich wird, dass das, was Rory als ‚Vertrauensbruch‘ markiert hatte, von Lorelai als rücksichtsvolle Geste, als Ausdruck freundschaftlicher Verbundenheit intendiert war. Rory will jedoch von alldem nichts wissen. Zunächst zieht sie ihren Wunsch, in das Beziehungsleben der Mutter eingeweiht zu werden, wieder zurück („Es ist vollkommen egal, ob du mir das mit Max verschweigst oder nicht …“) und leitet damit eine erneute Wendung im Mutter-Tochter-Gespräch ein. Dass sie nun doch lieber nicht ins Vertrauen der Mutter gezogen werden möchte, wird mit einem Vorwurf begründet, der den zukünftigen Ereignissen gewissermaßen vorauseilt: „…ihr trennt euch ja sowieso wieder“. Im Weiteren wird deutlich, dass Rory ihrer Mutter nicht zutraut, eine funktionierende Beziehung zu Max aufzubauen: „Du machst Schluss mit ihm, heulst, verträgst dich wieder, machst Schluss mit ihm. Eigentlich ist es völlig egal, ich will’s lieber nicht so genau wissen“. Diese Bemerkung weist diverse Bedeutungsebenen auf. Sie lässt sich etwa dahin gehend deuten, dass Rory von der aktuellen Situation abstrahieren möchte: Demnach sei Lorelai bei der Gestaltung ihrer Intimbeziehungen grundsätzlich sprunghaft und unberechenbar, sodass es gerechtfertigt ist, ein solches Verhalten auch im Hinblick auf Max zu erwarten. Dass Rory dieses Verhalten missbilligt, kann überdies als Hinweis darauf gelesen werden, dass eine implizite Erwartungshaltung der Tochter (wiederholt) enttäuscht wird – nämlich die Erwartung, Lorelai möge als Erwachsene endlich das Geschick aufbringen, eine verlässliche Beziehung aufzubauen. Während es im Rahmen von Peerbeziehungen üblich ist, einander in Beziehungskrisen beizustehen und diese Unterstützung auch in den Wechselfällen der noch fragilen Intimbeziehungen aufrechtzuerhalten, sind Erwachsene für ihre Beziehungsgestaltung in höherem Maße selbst verantwortlich. Letztlich fordert Rory in ihren Äußerungen die Selbstverantwortung ihrer Mutter ein. „Sag’s mir, wenn du dich endgültig entschieden hast“ hat insofern auch die Funktion des Selbstschutzes einer Tochter, die durch die Beziehungskrisen ihrer Mutter überfordert ist.

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5 Zusammenfassung und Diskussion Bisher wurde auf die Serie „Gilmore Girls“ Bezug genommen, um theoretische Annahmen zu generationalen Ablösungsprozessen an diesem Erzählstoff zu illustrieren. Es konnte gezeigt werden, dass Ablösungsprozesse des Jugendalters, die in theoretischer Diktion abstrakt bleiben, an einem alltäglichen und situationsgebundenen Konflikt zwischen Mutter und Tochter anschaulich gemacht werden können. Der fiktionale Erzählraum eröffnet einen Zugang zur Innenperspektive der an Ablösungskonflikten Beteiligten, und dieser unverstellte Blick auf ihre Subjektivität wird dadurch ermöglicht, dass die Figuren mit einer reichhaltigen Lebens- und Beziehungsgeschichte ausgestattet werden, sodass ihre Handlungs- und Verhaltensweisen im Zusammenhang ihrer serienbiographischen Erfahrungen sinnhaft erscheinen. Es ist diese Perspektivität, die nicht nur in literarischen Erzählungen sichtbar wird, sondern eben auch in Qualitätsserien (vgl. ­Rieger-Ladich 2016, S. 94) und die den filigranen Nachvollzug von Erfahrungen jenseits einer rekonstruktiven Sozialforschung erlaubt – freilich ohne diese ersetzen zu können. Im Folgenden binden wir den Ertrag unserer Auseinandersetzung in eine aktuelle Diskussion ein. Jutta Ecarius hat den Wandel des familialen Interaktionsraums in etlichen Schriften analysiert und darin aufgezeigt, dass in der Moderne hierarchische Familienbeziehungen zugunsten einer zunehmenden Gleichstellung der Generationen in den Hintergrund getreten sind, und dass die Erziehungspraktiken im Zuge dessen einen Wandel vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt durchlaufen haben. Unter dem Einfluss dieser Entwicklungen bleibt Familie als eine Generationenordnung bestehen (vgl. Ecarius 1998, 2007, 2012). Gemeinsam mit Alena Berg, Katja Serry und Ronnie Oliveras wurde diese Thematisierungslinie auf einer aktuelleren empirischen Basis – den Daten des Jugendsurveys „Jugend.Leben“ (Maschke et al. 2013) – weitergeführt, wobei es auch zu einer Reformulierung zentraler Annahmen kam (vgl. Ecarius et al. 2017): Neben der fortschreitenden Nivellierung generationaler Machtverhältnisse und Informalisierung von Generationenbeziehungen unterliegt die Familienerziehung auch gesellschaftlichen Wandlungsprozessen (z. B. neoliberale Deregulierungsmaßnahmen, Beschleunigung des Sozialen, Optionssteigerung, Bildungszwang). Vor diesem Hintergrund werden Eltern zunehmend als Ratgeber bedeutsam (vgl. ebd., S. 18 ff.). In einer spätmodernen Erziehung geht es somit nicht mehr zentral um das Aushandeln von Grenzen und Regeln, sondern – so die Autor/innen – um eine Erziehung des Beratens, die auf die Entfaltung von Selbstbestimmung und Eigenverantwortung der Jugendlichen angesichts der

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Unwägbarkeiten ihrer Lebensplanung gerichtet ist. Dieses Erziehungsmodell zielt auf die psychische Stabilisierung der nachwachsenden Generation, die auf der Grundlage einer ausgeprägten familialen Intimität ermöglicht wird (vgl. ebd., S. 37 ff.). Für diese Erziehung des Beratens könnte der erzieherische Umgang Lorelais mit Rory als prototypisches Beispiel gelesen werden. Auch für Rory gilt, wie Ecarius et al. (2017) für die Erziehung des Beratens postulieren, dass sie von ihrer Mutter angehalten wird, „ihre Gefühle und Interessen wahrzunehmen und sie im Nachgang im intimen Gespräch mitzuteilen. Erfahrungen werden ­kommunikativ-diskursiv bearbeitet und durch diese Bearbeitung lassen sich Gefühle sowie Handlungsmuster wiederum modellieren“ (ebd., S. 41; Herv. i. O.). Letztlich ist diese sensible Hinwendung zu den Jugendlichen in eine familiale Lebensform eingebettet, die selbst im alltäglichen Miteinander immer wieder von Neuem errungen werden muss. Die Annahme eines partnerschaftlichen, auf Vertrauen und Anerkennung basierenden (Gesprächs-)Klimas in Familien erweist sich als kompatibel mit Diagnosen einer Annäherung der Generationen. So wird in der Jugendforschung seit Längerem betont, dass Eltern und Kinder in Wertfragen nicht mehr so weit auseinanderliegen, generationale Differenzen nivelliert und familial ausgetragene Generationskonflikte bedeutungslos geworden sind (vgl. Baacke 1999, S. 245 f.; Zinnecker 2005; Ecarius et al. 2011, S. 36; Ferchhoff 2011, S. 382 ff.). Eine verständigungsorientierte sowie intimisierte Kommunikation zwischen den Generationen lässt sich – wie bereits gesagt wurde – an den „Gilmore Girls“ ablesen: Die Serienfiguren Lorelai und Rory sind mit selbstreflexiven und sprachlichen Kompetenzen ausgestattet, sie reden offen miteinander und bringen ihre jeweiligen Bedürfnisse in Kompromisse ein, sodass ihnen ein harmonisches Zusammenleben gelingt. Dennoch wäre es verkürzt, diese Beziehung als beispielhaft für die Nivellierung generationaler Differenzen zu betrachten. Hier wird vielmehr der Blick dafür sensibilisiert, dass Ablösungsprozesse und -konflikte auch in harmonischen Generationenbeziehungen virulent bleiben. So steht die analysierte Streitszene exemplarisch dafür, dass dem Wunsch der Eltern, ihre heranwachsenden Kinder bei der Verarbeitung persönlicher Erfahrungen zu unterstützen, nicht immer ein Bedürfnis aufseiten der Jugendlichen entspricht, diese Erfahrungen auch mitzuteilen. Vielmehr können sich Jugendliche gegenüber Mutter und Vater verschließen und die kommunikative Bearbeitung ihrer Gefühle verweigern. Die kurze, hier vorgestellte Szene verweist darauf, dass – ganz ähnlich zu den Befunden von Ecarius et al. (2017) – nicht die Uneinigkeit in Fragen der Pflichterfüllung (Schule, Haushaltsmithilfe) oder die Ablehnung jugendlicher Geschmacksvorlieben (Kleidung, Medien, Musik) oder etwa die Vorbehalte der Eltern gegenüber den Peerkontakten ihrer Kinder Gegenstände

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der generationalen Auseinandersetzung sind. Diese nimmt möglicherweise darüber Gestalt an, dass Eltern im Modus des Freundschaftlichen versuchen, die Gefühls- und Erfahrungswelt ihrer Kinder zu ergründen, dabei aber an deren ‚Blockade-Haltung‘ scheitern und sich genau darüber enttäuscht zeigen. Die Grenzmarkierung von Jugendlichen, die hier sichtbar wird, erhält aber wiederum ihre Sinnhaftigkeit aus der Notwendigkeit adoleszenter Ablösungsprozesse. Mit Blick auf die Erziehung des Beratens wäre zu fragen, inwieweit in einer Erziehungshaltung des Beratens adoleszente Abgrenzung als Markierung von Eigenständigkeit bei der Bewältigung von Krisen zugelassen werden kann, ohne die abweisende Haltung der Jugendlichen in Bezug darauf, sich auf ein beratendes Gespräch einzulassen, als Vertrauensbruch zu bewerten – wie es Lorelai in der Filmsequenz tut. Jugendtheoretisch wäre also zu diskutieren, inwiefern durch eine Erziehung des Beratens der Balanceakt von Eltern als Vertreter der älteren Generation zwischen Begleitung und Unterstützung einerseits und Zurückhaltung und Abgrenzung gegenüber der jüngeren Generation andererseits (vgl. King 2006, S. 67) gewähreistet ist: Folgt man Ecarius et al. (2017), so wird die Fähigkeit von Heranwachsenden, mit Unsicherheiten umzugehen dann befördert, wenn Bedürfnisse, Gefühle und Wünsche im Rahmen einer empathischen bzw. intimen Kommunikation artikuliert werden können und auf die wertschätzende Anerkennung ihrer Eltern stoßen. Umgekehrt ist aber eben auch zu berücksichtigen, dass es für Jugendliche im Rahmen ihrer Ablösungsprozesse wichtig wird, sich den Erwartungen intimisierter Kommunikation seitens der Eltern zu entziehen, weil auch dies ein Schritt zu mehr Selbstbestimmung und Unabhängigkeit darstellt. Anders ausgedrückt: Auch wenn epochale Generationskonflikte der Vergangenheit angehören, bestehen Ablösungs- als Alltagskonflikte zwischen den Generationen fort. Sie scheinen aber unter den Bedingungen eines weitgehend harmonischen Miteinanders von Eltern und Kindern zunehmend aus dem empirischen Blick zu geraten. Befunde, die auf eine Nivellierung des generationalen Konflikts verweisen, wären – darauf macht die Analyse der Gesprächssequenz zwischen Lorelai und Rory nachdrücklich aufmerksam – insofern durchaus kritisch zu interpretieren, als zu fragen wäre, welche für die adoleszente Individuierung notwendigen Freiräume den Jugendlichen ‚unter dem Deckmantel‘ einer freundschaftlichen Eltern-Kind-Beziehung möglicherweise vorenthalten werden. Damit wird schlussendlich auch das Potenzial verdeutlicht, das darin liegt, dass Serien wie die „Gilmore Girls“ Fragen wie diese evozieren und empirische und theoretische Annahmen infrage stellen können, indem sie „die Verfeinerung unseres Artikulations- und Beobachtungsvermögens anregen“ (Rieger-Ladich 2014a, S. 19).

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Generationsspezifische Medienzugänge Medien – Biographie – Generation Bianca Burgfeld-Meise und Dorothee M. Meister

Zusammenfassung

Dem Generationenthema kommt in der Medienpädagogik eine ganz besondere Rolle zu. So erlangte die Medienpädagogik ihre gesellschaftliche Aufmerksamkeit, Bedeutung und Akzeptanz nicht zuletzt durch die Jugendkulturen der 50er, 60er und 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts, die zugleich auch Medienkulturen waren. Durch radikal andere, neue Musikrichtungen, die Lektüre bestimmter Bücher, das Bevorzugen spezieller Filmstile grenzten sich junge Menschen von den „Erwachsenen“ ab und prägten so „Subkulturen“, die heute „Jugendkulturen“ genannt werden. Beobachtet werden konnte seit den 50er Jahren, wie stark gesellschaftliche Veränderungen und Neuerungen begleitet waren von Trends, die die Medien mitgestalten, und die oftmals zunächst von der „jungen Generation“ initiiert, aufgegriffen und weitergetrieben wurden. Die Relevanz der Medien für Jugendliche und für verschiedene Generationen bildet den Schwerpunkt dieses Beitrags. Zuerst skizzieren wir dazu eine historische Perspektive auf Jugend und Medien, die besonders die Bedeutung der Medien akzentuiert. Im Anschluss daran gehen wir der Frage nach, wie Medien angeeignet werden, um zu einem medial geteilten Erfahrungsraum im Generationskontext zu gelangen. Abschließend werden wir aktuelle Themen der Digitalisierung aufgreifen, die zukünftige Forschungen zur medialen Prägung von Generationskonzepten thematisieren. B. Burgfeld-Meise (*)  Stiftung Universität Hildesheim, Hildesheim, Deutschland E-Mail: [email protected] D. M. Meister  Universität Paderborn, Paderborn, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Fuchs et al. (Hrsg.), Jugend, Familie und Generationen im Wandel, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24185-8_20

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Schlüsselwörter

Mediengenerationen · Generationszugehörigkeiten · Medienbiographien ·  Digitalisierung · Identität · Jugendkulturen · Aneignung

1 Einleitung Generationsetiketten werden gern genutzt, um spezifische Umbrüche einer bestimmten Alterskohorte zu bezeichnen, wie etwa die 68er Generation, die Baby Boomer oder aber die Generation X. Häufig geht es bei diesen Bezeichnungen auch um Medienumbrüche, die von verschiedenen Teilen der Gesellschaft ganz unterschiedlich genutzt werden oder zu der eine Alterskohorte einen besonderen Zugang hat (vgl. Hepp et al. 2015). Hier ließen sich etwa die Hippies, die sogenannten Digital Natives (vgl. Prensky 2001) oder die Generation Facebook (vgl. Leistert und Röhle 2011) verorten. Doch halten diese Etiketten bei genauerer Betrachtung oftmals nicht stand (vgl. Schulmeister 2008), da die Durchsetzung einer Medientechnologie wie etwa der Sound der Hippies, Digitale Technologien oder die Nutzung von Facebook keinen homogenen Generationskontext schafft. Der Generationsbegriff bedarf daher einer differenzierten Betrachtung, wie das Beispiel der Digital Natives zeigt. Prensky (2001) geht von einem mediendeterminierten Umbruch im Zusammenleben zwischen jungen und älteren Generationen aus und bezeichnet die junge Generation als „Digital Natives“. Dies impliziert, dass das Aufwachsen mit dem Internet einen prinzipiell anderen Zugriff auf Welt bedeutet und die Perspektiven des Zusammenlebens und der Sozialität verändern. Mit seiner Differenzierung in „Digital Natives“ und „Digital Immigrants“ klassifiziert Marc Prensky nicht nur diese beiden Gruppierungen sondern entwickelt dabei eine These, in der sich ein historischer Bruch aufgrund der Digitalisierung vollzieht. Argumentativ bringt die Technik „Digital Natives“ hervor. Die „Digital Natives“ wiederum besitzen qua Geburt die Gabe, sich dieser Technik im Sinne einer selbstverständlichen, natürlichen Sprache zu bedienen (vgl. ebd.). Grundsätzlich besteht die Irritation in dieser Konzeption darin, dass der Technik, der eine grundlegend prägende Kraft zugeschrieben wird, kein prägender Einfluss auf die sogenannten „Digital Immigrants“ zukommt. Vorstellungen über Aneignungs- und Konventionalisierungsphasen durch die Nutzung neuer Medientechnologien, die sich gesamtgesellschaftlich vollziehen, werden bei Prensky nicht thematisiert. In dieser Logik gibt es keine Erklärung für die kompetente Aneignung neuer Technologien durch Ältere, die schon längst Wirklichkeit ist (vgl. Koch und Frees 2017). Auch Jutta Ecarius (2012), die sich schon sehr lange

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und fachkundig mit dem Thema befasst, plädiert für eine differenzierte Sicht auf das Generationsthema. So ist es nicht eine technische Entwicklung, sondern ein gemeinsamer Erfahrungsraum, der Bildung, Freizeit und Partizipation umfasst und durch Familie, Schule und Peers geprägt wird, der Generationskontexte gestaltet. In dieser Perspektive sind Medien gleichsam in allen Kontexten (Bildung, Freizeit, Partizipation) eingewoben. Auch die Beziehungskonstellationen in Familie, Schule und mit den Peers sind mediatisiert (vgl. Krotz 2007). Um diesem gemeinsamen Erfahrungsraum aufzuspüren, diskutieren wir im Folgenden die historische Relevanz der Medien für Jugendliche.

2 Perspektiven auf Jugend und Medien Jugend ist ein relativ junger Begriff, dessen Ursprünge im 19. Jahrhundert zu finden sind (vgl. Abels 2000; Savage 2008). Hier war vor allem Jean-Jaques Rousseau prägend, der mit seinem Emile eine erste Vorstellung von Jugend als eigenständiger Phase mit gesellschaftlichem Eigenwert erschuf. Jugend war für Rousseau eine Zeit des Moratoriums, in der der Heranwachsende unter pädagogischer Förderung zum mündigen Subjekt reifen sollte (vgl. Zinnecker 2004). Dabei hatte er mit der Beherrschung und Verantwortung hinsichtlich seiner Natur, der Leidenschaften und der Einbildungskraft viele Aufgaben zu bewältigen. Der Jugend kam, so Rousseau, die Rolle der gesellschaftlichen Erneuerung zu, weshalb für ihn Jugendliche abseits der gesellschaftlichen Verpflichtungen aufwachsen sollten, um nicht von ebendieser vereinnahmt zu werden. Hier klingen bereits einige Aufgaben und Verpflichtungen der Jugend an, die auch heute noch wirksam sind. Auf individueller Ebene sind mit der Jugendphase Aufgaben wie die Persönlichkeitsentwicklung, der Aufbau eines positiven Köperbildes, die Etablierung einer Geschlechtsrolle und eines eigenen Wertesystems, Stärkung der Gleichaltrigenbeziehungen und eine entsprechende Unabhängigkeit von den Eltern verbunden (vgl. Erikson 1971; Zinnecker 2004). Medien waren und sind seit jeher für Jugendliche ein wichtiges Distinktionsmittel, um die Herausforderungen dieser Lebensphase zu bewältigen. So findet sich mit den Tagebüchern von Marie Bashkirtseff ein erster historischer Verweis auf die enorme Relevanz medialer Ausdrucksformen Jugendlicher (vgl. Savage 2008). Marie Bashkirtseff, eine privilegierte russische Emigrantin im Paris des 19. Jahrhunderts, verarbeitet ihre jugendlichen Gemütszustände und Zukunftserwartungen, indem sie Tagebuch schreibt. Nach ihrem frühen Tod veröffentlicht Maries Mutter 1887 das Tagebuch. Damit wird es erstmals für Jugendliche und Erwachsene möglich, einen Einblick in die jugendliche Psyche zu erhalten (vgl. ebd.). Auch wenn Rousseaus Emile ebenfalls von einem Jugendlichen handelte,

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so war Emile eine Konstruktion Rousseaus, an dem er eine ideale jugendliche (und männliche) Entwicklung verdeutlichte. Dem entgegen gesetzt schreibt Marie Bashkirtseff aus jugendlicher und weiblicher Perspektive und verarbeitete mittels Schrift ihre jugendlichen Gefühle und gab ihnen einen Ausdruck (vgl. ebd.). Spätestens seit dem 20. Jahrhundert gehen Jugend und Medien eine ganz besondere Symbiose miteinander ein. Über Literatur, Radio, Musik, Mode und Tanz grenzen sich Jugendliche seit dieser Zeit gegenüber den Erwachsenen ab und bilden eigene Ausdrucksformen, Anerkennungs- und Zugehörigkeitsstrukturen aus (vgl. Ferchhoff 2007). Diese Jugendkulturen funktionieren vor allem durch die große Distanz zwischen den Generationen. In den 50er Jahren dominiert die Bedeutung audiovisueller Medien und Musik, was sich im Lebensgefühl des Rock'n'Rolls und der Identifikationsfiguren wie etwa Elvis Presley und James Dean manifestiert (vgl. Baacke 1999). Medien werden, so Baacke, in vielfältigen Abstufungen zur Selbstinszenierung, als ironisches Zitat und in zahlreichen Kombinationen und Dekontextualisierungen der Bricaloge genutzt: „Zum einen handelt es sich um Distanzierungstechniken (gegenüber Eltern; Kultur, Schulkulturen etc.); gleichzeitig geht es um Inszenierungs- und Selbstdarstellungstechniken; und schließlich geht es um Identifikationstechniken (etwa in den neuen Spielmöglichkeiten der Fankultur). Alle drei Techniken bauen Identität auf als Möglichkeit für Kinder und Jugendliche, die kulturellen Medien-Praxen über neue Wahrnehmungsformen als soziales Labor zu benutzen und so die eigene ­Ich-Findung auf den (heute sehr langen) Weg zu bringen.“ (Baacke 1999, S. 144; Herv. i. O.)

Obwohl dieses Zitat von Baacke aus dem Jahr 1999 stammt, scheint es doch sehr aktuell zu sein und prägende Medienentwicklungen und jugendliche Herausforderungen gleichsam vorwegzunehmen. Medien haben also in Jugendkulturen nach wie vor ihren unschätzbaren Eigenwert durch ihren Einsatz als Distanzierungstechnik, gleichzeitig als Möglichkeit der Selbstthematisierung und -inszenierung und somit letztlich als Identifikationsfolien. Die Ausdruckskanäle, die Medieninhalte und Identifikationsfolien, die angeeignet und (re-)kombiniert werden können sowie die Dynamik von Selbstinszenierung und Selbstdarstellung, haben sich freilich um ein Vielfaches potenziert. Baacke weist bereits darauf hin, dass sich die Medien, Musik- und Freizeitkulturen enorm ausdifferenziert haben. Zudem sind auch diese Zugehörigkeitsstrukturen einer größeren Dynamik und Konjunkturen unterworfen (vgl. ebd.). Und er konstatiert bereits 1999 den zunehmenden autonomen Medienbesitz der Jugendlichen. Dies hat im Zuge der Durchsetzung von Smartphones, Tablets und der ubiquitären Verfügbarkeit von Online-Services einen sowohl qualitativen als

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auch quantitativen Schub erfahren. Diese Technologien sind, wie Sherry Turkle (2008) es beschreibt, keine sperrigen Apparate mehr, sondern unauffällige Geräte, die sich an den Körper anschmiegen, tragbar und jederzeit verfügbar sind und den Alltag maßgeblich mitgestalten. Im Zuge dieser Entwicklungen lässt sich die prägende Kraft der Onlinemedien kulturell aber auch strukturell erfassen. Kulturell lässt sich dies an Konjunkturen von Social Network Sites wie etwa Facebook, Instagram, Twitter oder Snapchat ablesen. Konservieren und dokumentieren die erstgenannten die Onlineaktivitäten der Nutzenden, verfolgt Snapchat eine vollkommen andere Strategie. Auf Snapchat werden die Inhalte in kürzeren Intervallen wieder gelöscht. Dies erfordert eine gewisse Verbindlichkeit relativ synchron Beiträge zu rezipieren, um am Alltag der Anderen teilzunehmen und kontinuierlich Anschlusskommunikation (Döring 2006) zu betreiben. Dabei ist es nicht wichtig, was kommuniziert wird, sondern dass an diesen Alltäglichkeiten partizipiert wird, wie Döring bereits im Kontext der Handynutzung verdeutlicht (vgl. ebd.). Zugleich wird den Jugendlichen mit der Löschung auf Snapchat wieder mehr Freiraum für Experimente erlaubt, indem prekäre Inhalte nach kurzer Zeit nicht mehr verfügbar sind. In diesen Sphären werden wiederum andere Kulturen wie etwa derzeit ein ausgeprägter Fitnesskult zitiert, in Szene gesetzt und medial reproduziert. Die Jugendkulturen sind also nicht nur ausdifferenziert, sondern auch überlagernd. Es wird, um Baacke wieder aufzugreifen, bricolierend an Jugendkulturen partizipiert und miteinander verwoben (vgl. Baacke 1999). Zunehmend wandelt sich aber auch das Konzept von Jugend, von seiner Erfindung zur legitimen Phase dieses Lebensabschnitts bis letztlich Jugendlichkeit als gesamtgesellschaftliches Leitkonzept zur Norm wird (vgl. Gudjons 2012). So ist es für Jugendliche durchaus anspruchsvoll eigene jugendkulturelle Sphären zu erobern und sich gegen die massenindustrielle Vereinnahmung abzuschirmen. Dies hat sich in Zeiten von Smartphones, Computer und Notebooks noch verschärft (vgl. Turkle 2008).

3 Gruppenspezifik und Mediennutzung Im Bemühen, die soziale Realität jugendlicher Mediennutzung besser erfassen zu können, werden seit einiger Zeit verschiedene Anstrengungen unternommen, Gruppen sinnvoller einzuteilen und somit nicht nur eine isolierte Beachtung von Alter, Geschlecht und Bildung vorzunehmen. Ein erster Zugang in diese Richtung gelang Baacke et al. (1990) bereits Ende der 1980er Jahre, indem sie Lebenswelten von Jugendlichen als Medienwelten in einem sozialökologischen Kontext identifizierten. Es zeigte sich, dass die 1679 befragten Jugendlichen viele

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Medien besitzen, wobei die wichtigsten Jugendmedien Fernseher, Tonträger und Bücher waren, auch wenn sie die damals neuen Medienangebote schon gerne wahrnahmen. Die Faszination für Bildschirmmedien stellte gleichwohl eher eine Bereicherung der Medienrezeption dar als eine Verdrängung. Gleichzeitig zeigten sich auch Differenzen hinsichtlich des Alters und der außerhäuslichen Medienumgebung. Die sozialökologische Clusteranalyse lieferte bei der jungen Altersgruppe (12- bis 15-Jährige) drei Gruppen: die Angebotsorientierten, die Häuslichen und die Aktiven. Die älteren Jugendlichen (16- bis 20-Jährige) hingegen differenzierten sich in sechs Cluster: die Angebotsorientierten, die N ­ onprint-Nutzer, die Aktiven, die Kulturbeflissenen, die Passiven und die Allesnutzer. Diese Gruppen unterschieden sich nicht nur hinsichtlich des Alters und des Bildungshintergrunds, sondern auch in Bezug auf das räumliche und soziale Umfeld, die die Angebotswahrnehmung der außerhäuslichen Medienumgebungen mit beeinflussten. Seit Anfang der 1990er Jahre werden bei den Medienstudien zunehmend Milieuunterschiede in die Analysen einbezogen. Als theoretischer Hintergrund dient häufig Pierre Bourdieus Perspektive (1982, 1983), der mit seinem Kapitalsortenansatz (ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital) die Voraussetzung für sein Habituskonzept gelegt hat, das in der Medienforschung zur Erklärung verschiedener Nutzungspräferenzen herangezogen wird. Einen differenzierten Einblick in das komplexe Gefüge von Medienkompetenz (vgl. Baacke 1996), in Kombination mit Milieuunterschieden, medialen Nutzungspräferenzen und Rahmenbedingungen bietet die Studie Medienhandeln Jugendlicher (vgl. Treumann et al. 2007), die auf der Grundlage von über 3.000 befragten Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 20 Jahren sowie clusterbezogenen Interviews sieben verschiedene Medienhandlungstypen identifizierten. Anfang der 2000er Jahre umfasste die Mediennutzung Jugendlicher dabei bereits ein breites Spektrum, angefangen beim beliebtesten Medium Fernsehen bis hin zu Printmedien und digitalen Medien wie Computer, Internet und Handy. Die Bildungsorientierten (20,4 % Anteil der Befragten) nutzen danach überdurchschnittlich Belletristik, Sachliteratur und Zeitungen und zeichnen sich durch ein fundiertes literarisches Bildungswissen aus. Bei der PC- und Internetnutzung sind die überwiegend höher gebildeten älteren Gymnasiastinnen eher arbeits- und kommunikationsinteressiert. Im Gegensatz dazu nutzen die Positionslosen (20,3 %) Printmedien deutlich unterdurchschnittlich, den audiovisuellen Medien widmen sie sich hingegen in überdurchschnittlichem Maß. Auf dem Gebiet der informativen Medienkunde weisen sie sehr geringe Kenntnisse auf genauso wie bei medienkritischen Einstellungen, wobei dies auch ihrem eher jüngeren Alter zurechenbar ist. Diesen eher Suchenden fehlt noch der notwendige Deutungsrahmen, welches

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Medium für welchen Zweck das angemessene ist. Ihre Mediennutzung folgt einem situativen Bedürfnis nach Ablenkung, Unterhaltung oder Kompensation. Den Kommunikationsorientierten (19,1 %) gehören vor allem weibliche, ältere und höher gebildete Jugendliche an. Sie besitzen ein stark überdurchschnittliches Nutzungsinteresse an Musik, Infotainment und Unterhaltung, verbunden mit einer stark ausgeprägten kommunikativen Orientierung. Sowohl auf dem Gebiet des literarischen Bildungswissens als auch beim Wissen über das Mediensystem weisen sie unterdurchschnittliche Kenntnisse auf. Die Konsumorientierten (17,4 %) sind tendenziell ältere, männliche Jugendliche. Online-Medien nutzen sie überdurchschnittlich und in erster Linie zur Unterhaltung. Die spielorientierte Nutzung ist deutlich häufiger vertreten als die Nutzung zu Informationszwecken. Der Computer erhält besonders bei diesen Jugendlichen den Stellenwert eines ‚multifunktionalen Unterhaltungsmediums‘. Die Allrounder (12 %) sind überwiegend höher gebildete männliche Jugendliche, die überdurchschnittlich häufig alle Medien gebrauchen. Bei den digitalen Medien sind es Spiele, aber auch Chats, denen sie viel Zeit widmen. Darüber hinaus betätigen sie sich auch gestalterisch und tüfteln gerne am Computer. Die Deprivierten (7,8 %) weisen in allen Bereichen der rezeptiven und interaktiven Mediennutzung und bei der kreativen Mediengestaltung stark bis extrem unterdurchschnittliche Kennwerte auf. Lediglich den audiovisuellen Medien widmen sie sich leicht überdurchschnittlich, wobei das Fernsehen entertainmentorientiert genutzt wird. Bei Problemen zeigen sie ein extremes Desinteresse an einer informationsorientierten Lösungsstrategie und verfügen über geringes Wissen über Gegebenheiten des Mediensystems und literarisches Bildungswissen. Bei ihren medienbezogenen Einstellungen zeigen sie sich tendenziell unkritisch und beinahe naiv, auch haben sie ein relativ hohes Vertrauen in den Realitätsgehalt medialer Wirklichkeitsdarstellungen. Die eher jüngeren Gestalter (3,1 %) zeigen in besonderer Weise Ambitionen im kreativen Umgang mit audiovisuellen Medien. Auch im Bereich der literarischen Produktion zeigen sie sich aktiv, indem sie eigene Texte verfassen und gestalten. Ähnlich differenzierte Ergebnisse lieferte die Untersuchung von Schmidt et al. (2009). Hier wurde der Schwerpunkt auf die inzwischen äußerst beliebte Nutzung und den Stellenwert des Social Web erforscht. Auf der Grundlage qualitativer Interviews und einer repräsentativen quantitativen Befragung von 14- bis 24-Jährigen wurde eine Perspektive auf das Social Web im Alltag Heranwachsender erarbeitet. Gerade die vielfältigen Potenziale des Social Web, selbst Inhalte und Meinungen zu veröffentlichen, nutzen nur die aktiven Informationsmanager (14 %). Hierzu zählen überdurchschnittlich häufig die 15- bis 17-Jährigen männlichen Jugendlichen. Viele Jugendliche nutzen das

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Social Web aber nur geringfügig, um über Suchmaschinen Informationen zu recherchieren oder über das Internet einzukaufen (43 %). In dieser Gruppe der Wenignutzer findet sich sowohl die jüngste Altersgruppe der 12- bis 14-Jährigen sowie die älteste Gruppe der 21- bis 24-Jährigen. Weitere 38 % weisen eine sehr kommunikationsorientierte Nutzung auf, weshalb sie zum ­community-orientierten Cluster gehören. Neben der Informationsrecherche für Schule, Studium und Beruf nutzen sie vor allem die Angebote von Social Network Sites. In diesem Cluster finden sich vor allem die 15- bis 17-Jährigen. Die Spielorientierten (8 %) haben sowohl on- als auch offline ein starkes Interesse an Computerspielen und präferieren die Videoplattformen im Internet (vgl. ebd.). Insgesamt gesehen gibt es „die Internet-Nutzung“ (ebd., S. 96) nicht. Alter und Geschlecht führen zu einer differenzierten Mediennutzung, jedoch nicht in dem Maße, dass andere Altersgruppen nicht ebenso in den einzelnen Clustern vorhanden sind, sodass Einstellungen zum Internet sowie die hier gesammelten Erfahrungen ebenso Einfluss auf die Cluster besitzen (vgl. ebd.). Im Kontext der Milieustudien bieten die Sinus Milieu-Studien inzwischen eine wichtige Differenzierung für die unterschiedliche gruppenspezifische Mediennutzung, die auch 12- bis 29-Jährige untersuchen (vgl. Behrens et al. 2014, S. 207 ff.). Im Kontext der Mediennutzung Jugendlicher wurden sieben Milieus identifiziert. Bei der Typologie zeigt sich, dass die konservativ bürgerlichen Milieus die klassischen Medien wie Fernsehen und Radio bevorzugen, Tageszeitung häufig als glaubwürdig einschätzen und das Internet eher zurückhaltend nutzen. Die Adaptiv-Pragmatischen weisen eine, nach eigenen Angaben, hohe Medienund IT-Kompetenz auf und nutzen eine große Bandbreite von Medien, wobei sie die Onlinedienste mit 90 % am häufigsten von allen Milieus täglich nutzen. Sie schätzen ihre Medienkenntnisse am häufigsten als sehr gut ein. Die Prekären nutzen Medien unterhaltungsorientiert, weshalb das Fernsehen das bevorzugte Medium darstellt. Das Internet ist in diesem Milieu noch nicht im Alltag integriert, was sich daran zeigt, dass nur 65 % dieser Gruppe täglich online geht und wenig auf Sicherheit im Internet bedacht ist. Für die materialistischen Hedonisten ist das Handy gleichwohl zentrales Kommunikationsmedium und Statussymbol. Sie kennen sich, nach eigenen Angaben, mit Neuen Medien aus und weisen ausgeprägte Konsuminteressen auf. Daher informieren sie sich durch Medien über Stars, Kinofilme und Musik. Die eigenen Kenntnisse über Bücher oder gezielte Informationsrecherchen im Internet schätzen sie als wenig kompetent ein. Die experimentellen Hedonisten hingegen zeichnen sich durch ihren Nonkonformismus aus. Sie vertrauen den klassischen massenmedialen Angeboten wenig, informieren sich über subkulturelle mediale Angebote und verbringen viel Zeit im Internet. Dem sozialökologischen Milieu gehören Jugendliche an, denen umweltbezogene und sozialkritische

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Themen wichtig sind. Sie nutzen vor allem gedruckte Bücher und kennen sich nach eigenen Angaben damit auch sehr gut aus. Den bevorzugten Medien und Medienthemen anderer Jugendlicher stehen sie aufgrund ihrer konsumkritischen Haltung distanziert gegenüber. Die Expeditiven haben eine starke Orientierung an Karriere und Lifestyle. Sie nutzen viele verschiedene Medien, vor allem sowohl online als auch in gedruckter Form wie Bücher, Zeitschriften und Tageszeitungen. Dem Fernsehen stehen sie skeptisch gegenüber (vgl. ebd.). Wie die Abb. 1 zeigt, finden sich die Milieus in unterschiedlichen Altersgruppen und zeigen schon hier die verschiedene Nutzung an. In der jüngsten Altersgruppe der 14- bis 19-Jährigen sind, gemessen an der Gesamtaltersverteilung, am häufigsten das adaptiv-pragmatische Milieu und die materialistischen Hedonisten vertreten.

15

15

9

8

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24

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14

8

22

15

11

18

19 21

Konservativ-Bürgerliche

Sozialökologische

Adaptiv-Pragmatische

Expeditive

26 Experimentalistische Hedonisten 21

15

12

13

15

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11

5

5

5

5

20-24 J.

25-29 J.

Stichprobe

14-19 J.

12

Materialistische Hedonisten

Prekäre

Basis: n= 2 001.

Abb. 1   Altersverteilung der Sinus-Milieus in Prozent (Sinus/MPFS/SWR zit. n. Behrens et al. 2014, S. 210)

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Es zeigt sich über die verschiedenen Medien-Jugendstudien hinweg, dass sich das Medienspektrum im Laufe der Jahre extrem ausgeweitet hat und sich dabei auch die Mediennutzung und die Ausdifferenzierung im medialen Gebrauch verändert haben. Gleichwohl lässt sich aber über die Zeit auch erkennen, dass sich Differenzen hinsichtlich des Milieus, des Alters, des Bildungshintergrunds und damit verbunden auch von Medienkompetenzen ausmachen lassen, die relativ stabil bleiben. Inwiefern sich dabei auch Generationsspezifika herauslesen lassen, gilt es im Folgenden zu betrachten.

4 Generationsspezifische Aspekte Der Begriff der Generation ist für Karl Mannheim sowohl zeit- als auch erfahrungstheoretisch gerahmt (vgl. Mannheim 1964). So können bestimmte Erlebnisse zu einem konkreten Zeitpunkt von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen durchaus divergierend erlebt werden. Damit diese Ereignisse aber einen Einfluss auf diese gesellschaftlichen Gruppen ausüben können, müssen diese Erfahrungen prägend sein und sich auf späteres Denken und Handeln auswirken (vgl. ebd.). Schäffer weist darauf hin, dass der Generationsbegriff häufig eher unspezifisch gebraucht und damit vielmehr eine relative Gleichheit von Gleichaltrigen, oder aber Altersgruppen und Alterskohorten beschrieben wird (vgl. Schäffer 2005; vgl. ebenso Ferchhoff 2011). Er gibt zu bedenken, dass das Alter einen Hinweis auf eine bestimmte Generationszugehörigkeit anbietet, jedoch mit dem Alter keine persönlichen Erfahrungs-, Erlebnis- und Handlungszusammenhänge erschlossen werden können. Ob sich also Erfahrungen als lebensgeschichtlich prägend erweisen, kann erst eruiert werden, wenn Alterskohorten über längere Zeit und über technologische Innovationszyklen hinweg erforscht wurden. Erst dann kann auf Basis der gewonnen Daten von einer Generation gesprochen werden. Andernfalls können lediglich für Altersgruppen entsprechende Nutzungsweisen erhoben werden (vgl. Schäffer 2005). Aktuelle Kohortenforschungen belegen, dass auch ältere Menschen das Internet nutzen. Die Nutzungszahlen sind in der Altersgruppe der Senioren bei weitem nicht so ausgeprägt wie unter jugendlichen Nutzern, jedoch steigen auch hier die Zahlen an. 1997 waren es bspw. lediglich 0,2 % der über 60-Jährigen, die das Internet nutzten. Diese Zahl stieg über die Jahre hinweg sukzessiv an, sodass es 2017 bereits 44 % Online-Nutzer über 60 Jahre sind, die das Internet täglich nutzen. Dabei nutzen die Älteren im Jahr 2013 wesentlich mehr den Computer und etwas geringer ein Laptop als das Smartphone, welches bei den 14- bis 29-Jährigen genauso häufig für mobile Internetanwendungen genutzt wird (vgl. van Eimeren

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und Frees 2013). Mit Nutzungsstatistiken kann also erschlossen werden, ob bestimmte Medien genutzt werden, welche Angebote und Geräte dabei präferiert werden und wie lang die Verweildauern sind. Diese Ergebnisse bieten eine erste Orientierung, Aussagen über Generationen können damit aber nicht getroffen werden. Dies bedarf einer eingehenderen Analyse der Nutzung und Handhabung von Medien im Alltag der Menschen und muss mit qualitativen Erhebungsverfahren wie beispielsweise bei Burkhardt Schäffer untersucht werden. So sind mit bestimmten Jugendkulturen entsprechende Medienereignisse oder medientechnologische Innovationen verbunden. Unklar bleibt hingegen ob sich diese Ereignisse oder Innovationen nachhaltig und prägend für das gesamte Medienhandeln auswirken. Ob also die „Digital Natives“ tatsächlich als solche einzustufen sind, zeigt sich erst im weiteren Verlauf der Medienbiographien dieser Altersgruppe (vgl. Schäffer 2005).

5 Medienbiographien und Mediengenerationen Medienbiographische Ansätze ermöglichen eine etwas anders gewichtete Perspektive. So setzt das Konzept von Hepp et al. (2015) ebenso an Mannheims Vorstellung eines gemeinsamen Erfahrungsraums an. Sie interpretieren Mediengenerationen jedoch als Prozess. In dieser Perspektive besitzen Erfahrungen mit Medien und Medientechnologien besonders in frühen Jahren eine prägende Kraft. Sie verweisen darüber hinausgehend darauf hin, dass Medien auch im späteren Lebensverlauf eine große Relevanz besitzen, insbesondere dann wenn diese Medienerfahrungen mit der Biographie verknüpft werden (vgl. ebd.). Die biographische Bedeutung von, hier medialen, Erfahrungen im Lebensverlauf lässt sich mit Rekurs auf Alois Hahn (1987) verdeutlichen. Dieser hebt die Differenz zwischen Lebenslauf und Biographie hervor. Lebensläufe stellen die „Gesamtheit von Ereignissen, Erfahrungen, Empfindungen usw. mit unendlicher Zahl von Elementen“ (ebd., S. 12) dar. Diese können, wie bei ­Erwerbstätigkeits-Lebensläufen, einer konventionalisierten Darstellungsform unterliegen. Die Biographie ist insofern vom Lebenslauf zu unterscheiden, als dass diese einen sinnstiftenden Auseinandersetzungsprozess des Individuums mit seinem Lebenslauf evoziert. Aufgrund der Vielzahl an Erfahrungen und Informationen, die die Biographie bedingen können, reduziert das Individuum den Komplexitätsüberschuss auf die Erlebnisse, denen Bedeutung zugemessen wurde. Diese Selektion ist nicht nur individuell, sondern auch sozial gerahmt, da die Bezugsgruppe ebenfalls bedeutungsstiftend an den Erfahrungen partizipiert. Diese Perspektiven beziehen auch die gestiegene

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Dynamik aktueller Medienentwicklungen mit ein und verweisen auf die Möglichkeiten mittlerweile in relativ kurzen Intervallen prägende Erfahrungen mit unterschiedlichen medialen Angeboten und Technologien zu durchlaufen. Entscheidend ist dabei, welchen medialen Erfahrungen das Individuum, in Abhängigkeit mit den damit verbundenen sozialen Bezügen, Bedeutung zuschreibt. In diesem Sinne sind mediengenerationelle Zugehörigkeiten nun nicht mehr auf homogene Alterskohorten beschränkt, sondern können sich zwischen verschiedenen Altersgruppierungen vollziehen. Die Erfahrungen sind in diesem Argumentationskontext relevanter als Altersklassen. Zudem öffnet sich dadurch der Blick auf die Medienbiographie als individuelles und sozial motiviertes Konstrukt, welches sowohl latente als auch manifeste Inhalte umfassen kann. Hier lagern sich sozusagen Aufschichtungen von medialen Erlebnissen an. Eine weitere Dimension wie latente zu manifesten und bedeutsamen Medienerlebnissen werden ist die von Hepp et al. (2015) empirisch herausgearbeitete Abgrenzung gegen andere mediengenerationelle Sinnkonstruktionen. Bohn und Hahn (1999) argumentieren soziologisch mit Inklusions- und Exklusionsidentitäten, die sich sehr gut übertragen lassen. Indem das Individuum sich zu bestimmten (medialen) Sinnkonstruktionshorizonten zugehörig fühlt, grenzt es sich wiederum von gegenläufigen Konstruktionen ab und gewinnt so seine (medien-)biographische Kontur. Dieses Konzept muss übergreifend durch Konjunkturen der Mediatisierung (vgl. Krotz 2007) gerahmt werden (vgl. Hepp et al. 2015). Die Digitalisierung hat als gesellschaftsübergreifende Mediatisierungsentwicklung große Auswirkungen auf bspw. technologische Innovationszyklen, Erreichbarkeits- und Verfügbarkeitsdynamiken, die nicht unbedingt vom einzelnen Individuum gewollt ist, jedoch als struktureller Rahmen existiert. Diese Bedeutung der Digitalisierung kann sehr gut mit de Saussures (1967) Überlegungen zur Sprache und zum Sprachsystem erklärt werden. De Saussure kategorisiert Sprache zunächst in Parole, das heißt die gesprochene Sprache, und in Langue, das Gesamtsystem Sprache. Indem die Parole demnach mit dem Sprechakt und somit mit dem Sprecher verbunden ist, stellt sie die individuelle und situative Komponente von Sprache dar. Die Langue ist das übergeordnete System der Sprache, die für den Einzelnen nicht zugänglich ist, sondern sich über gesamtgesellschaftliche sprachliche Artikulation entwickelt und tradiert. Ähnlich kann auch Digitalisierung als gesamtgesellschaftlicher Prozess interpretiert werden, auf den Individuen bspw. durch die Nutzung von Social Media oder Suchmaschinen ganz unterschiedlichen Zugriff haben. Wenn die Medienbiographie also als Prozess betrachtet wird, sind damit die individuellen und sozial gerahmten bedeutungsrelevanten Medienerfahrungen angesprochen, die zudem durch gesamtgesellschaftlich wirksame Mediatisierungen geprägt werden.

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6 Fazit Mediale Zugehörigkeitsstrukturen sind ein vielschichtiges Thema, welches unterschiedlich akzentuiert werden kann. Wie der Exkurs auf die historischen Jugendkulturen belegte, sind Medien konstituierender Bestandteil dieses Konzepts. Insgesamt lässt sich über die Argumentation unseres Beitrags nachvollziehen, dass nicht nur Generationsspezifika auf das Medienhandeln einwirken, sondern ebenso das Bildungsmilieu, Geschlechterunterschiede und Technikentwicklungen große Relevanz besitzen. Neben der Mediennutzung sind zudem die Motive, die hinter dieser Nutzung stehen wichtig, um ein besseres Verständnis für mögliche Orientierungen des Medienhandelns bestimmen zu können. Dazu reicht es nicht aus, sich nur den Prozess der Digitalisierung anzuschauen und daraus Rückschlüsse auf die Nutzung zu ziehen. Vielmehr müssen die vielfältigen Medien, Formate und Kommunikationsangebote, die auf Digitalisierung basieren, und die durchaus vielschichtigen Motivationen und Nutzungsweisen in den Blick genommen werden. Jedes der digitalen Medien und der darin enthalten Formate hat je spezifische Eigenlogiken und wird von den Nutzern aufgrund unterschiedlicher Bedürfnisse und Motivationen genutzt, die zudem wiederum familiär, sozial, medial, bildungsspezifisch oder geschlechtsspezifisch gerahmt werden. Zudem differenzieren sich Medienkulturen immer weiter aus und ermöglichen so die Teilhabe an unterschiedlichen sich gegenseitig nicht ausschließenden Kulturen. Das Individuum leistet also auch medial bricolierende Identitätsarbeit. Wie sich diese medialen Erfahrungen zu bedeutungsstiftenden Biographien zusammensetzen, dafür sensibilisiert die Perspektive der mediengenerationellen Zugehörigkeiten als Prozess, die sich an die vorangegangene Argumentation anschließen lässt und eine dynamischere und subjektorientiertere Sichtweise auf Mediengenerationen zulässt.

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