Grenzüberschreitungen: Ein literatursoziologischer Blick auf die lange Geschichte von Literatur und Migration 9783205204664, 9783205203537

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Grenzüberschreitungen: Ein literatursoziologischer Blick auf die lange Geschichte von Literatur und Migration
 9783205204664, 9783205203537

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Wiebke Sievers (Hrsg.)

Grenzüberschreitungen Ein literatursoziologischer Blick auf die lange Geschichte von Literatur und Migration

2016 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Veröffentlicht mit Unterstützung durch: Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) Land Niederösterreich, Abteilung Wissenschaft und Forschung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

© 2016 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Rainer Landvogt, Hanau Satz: me-ti, Berlin Druck und Bindung: Prime Rate, Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20353-7

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Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wiebke Sievers

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TEIL 1: DIE SELBST VERSTÄNDLICHE AUFNAHME VON ZUWANDERERN IM LITERATURBETRIEB BIS IN DIE 1950ER JAHRE Wiebke Sievers

Beheimatung in der transnationalen deutschsprachigen Kulturnation und Analyse ihres Zerfalls: Elias Canettis Wiener Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Holger Englerth

Literatur als Medium des Widerstands: Milo Dor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Silke Schwaiger

„Ankunft eines Barbaren“: György Sebestyén . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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TEIL 2: GRENZZIEHUNGEN GEGENÜBER ZUGEWANDERTEN AUTORINNEN IN DER GEGENWART Holger Englerth

Vom Ausloten der Freiheit: Seher Çakır . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Holger Englerth

Erzählen zwischen Macht und Ohnmacht: Ilir Ferra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Silke Schwaiger

Eine Suche nach Heimat: Stanislav Struhar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Silke Schwaiger

„Ich bin irgendwo dazwischen“: Tanja Maljartschuk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung

Dieser Sammelband entstand in intensiver Zusammenarbeit zwischen den drei AutorInnen Holger Englerth, Silke Schwaiger und Wiebke Sievers im Projekt „Literature on the Move“, das sich seit Dezember 2012 mit der Literatur zugewanderter AutorInnen in Österreich beschäftigt.1 Er wäre jedoch ohne den theoretischen und methodischen Beitrag unserer Schweizer ProjektkollegInnen Martina Kamm und Bülent Kaya von Face Migration in Zürich undenkbar. Gemeinsam mit Wiebke Sievers erarbeiteten sie die theoretischen Grundlagen, auf die wir in unseren empirischen Untersuchungen aufbauen.2 Zudem erstellten sie eine erste Version des Leitfadens für die Interviews, die den Kapiteln zu den GegenwartsautorInnen im zweiten Teil dieses Bandes zugrunde liegen. Dieser wurde dann in einem Workshop finalisiert, an dem neben den schon genannten Personen auch unsere ProjektkollegInnen Christa Stippinger von der edition exil und Murray Hall von der Gesellschaft für Buchforschung in Österreich aktiv teilnahmen. Christa Stippinger fungierte zudem als Kontaktperson zu ausgewählten AutorInnen, die wir im Rahmen des Projekts interviewten, und gab uns wertvolle Einblicke in ihre verlegerische Arbeit und konkrete Informationen zum Preis „schreiben zwischen den kulturen“. Murray Hall wiederum stellte uns sein umfangreiches Wissen über das österreichische Verlagswesen zur Verfügung und verfasste zu allen Kapiteln in diesem Band hilfreiche Kommentare. Ihnen allen sei herzlich gedankt für ihre Bereitschaft zur konstruktiven Auseinandersetzung und die inhaltliche und persönliche Unterstützung. „Literature on the Move“ wurde vom Wiener Wissenschafts-, Forschungsund Technologiefonds (WWTF) im Rahmen des Wiener Impulsprogramms für Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften finanziert. Wir möchten uns bei allen Beteiligten dieser Institution für die unkomplizierte administrative Abwicklung dieser Förderung bedanken, die es uns ermöglichte, uns auf die wis1

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Weitere Informationen zum Projekt finden sich auf unserer Website unter www.litmove.oeaw.ac.at. Sandra Vlasta sei für die Unterstützung in der Antragsphase des Projekts und für eine erste Literaturrecherche zu unseren theoretischen Vorüberlegungen gedankt. Diese theoretischen Überlegungen werden in diesem Jahr unter dem Titel „Wie ImmigrantInnen und deren Nachfahren zu SchriftstellerInnen wurden. Zur Transnationalisierung nationalisierter literarischer Felder in Europa“ in dem von Michael Hofmann und Walter Schmitz herausgegebenen Sammelband Eine andere literarische Karte Europas. Das Mittelmeer, Deutschland und seine Nachbarn im Schreiben der Migranten bei Thelem in Dresden erscheinen.

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Danksagung

senschaftliche Arbeit zu konzentrieren. Unser besonderer Dank gilt Michaela Glanz, die uns in der Antragsphase und bei der Vertragsaufsetzung mit Rat und Tat zur Seite stand, Michael Strassnig, der auf jede unserer vielen Fragen zur korrekten vertraglichen Umsetzung stets freundlich, umgehend und kompetent antwortete, und Marita Benkwitz, die uns die jährlichen Berichte so unkompliziert wie möglich gestaltete. Sie alle haben uns das Gefühl vermittelt, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit wir unser Projekt ganz in unserem Sinne durchführen können. Für die zusätzliche Förderung dieser Publikation möchten wir uns beim Amt der Niederösterreichischen Landesregierung bedanken. Die Kapitel zu Seher Çakır, Ilir Ferra, Tanja Maljartschuk und Stanislav Struhar basieren auf umfassenden Interviews, in denen die genannten AutorInnen uns bereitwillig Informationen zu ihrer Migrationsgeschichte, ihren Netzwerken, ihrer Mehrsprachigkeit, ihren literarischen Vorbildern sowie ihren Werken zur Verfügung stellten.3 Ihnen allen gebührt unser herzlicher Dank für ihre Zeit und Offenheit. Für die Kapitel zu Elias Canetti, Milo Dor und György Sebestyén war der persönliche Einblick in verschiedene Nachlässe besonders aufschlussreich für unsere Arbeit. Genannt seien hier der Nachlass Elias Canettis in der Zentralbibliothek Zürich, die Nachlässe von Reinhard Federmann und György Sebestyén im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek und die Nachlässe von Hans Weigel und György Sebestyén in der Wienbibliothek. Wir möchten uns bei allen MitarbeiterInnen in diesen Archiven für die Unterstützung bei den Recherchen bedanken. Zu besonderem Dank verpflichtet sind wir zudem Anna Sebestyén, die Silke Schwaiger für ihr Kapitel zu György Sebestyén Zugang zum Nachlass ihres Vaters im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek gewährte, und Johanna Canetti, die Wiebke Sievers nicht nur die Briefe von Hermann Broch an ihren Vater, sondern auch die Umschriften mehrerer stenografischer Entwürfe für Briefe an Konrad Maril und Thomas Mann zur Verfügung stellte. Für die sprachliche Unterstützung danken wir Edit Rainsborough, die ausgewählte Dokumente aus dem Nachlass Sebestyéns aus dem Ungarischen ins Deutsche übersetzte, und Mykhaylo Palahitskyy, der Silke Schwaiger im Kapitel zu Tanja Maljartschuk mit Übersetzungen aus dem Ukrainischen und Hinweisen zum ukrainischen Kontext unterstützte. Ganz besonderer Dank gilt schließlich auch dem Böhlau Verlag und insbesondere Ursula Huber, die uns bei diesem Buchprojekt von Anfang an mit 3

Ausschnitte aus diesen und weiteren Interviews mit Anna Kim, Dimitré Dinev, Doron Rabinovici, Julya Rabinowich und Vladimir Vertlib werden in einer Publikation der edition exil unter dem Titel „Ich zeig dir, wo die Krebse überwintern“: Gespräche mit zugewanderten Schriftstellerinnen und Schriftstellern erscheinen.

Danksagung

großer Begeisterung unterstützte. Gedankt sei in diesem Zusammenhang auch dem Lektor Rainer Landvogt für seine genauen und einfühlsamen sprachlichen Korrekturen. Wien, im April 2016 Holger Englerth, Silke Schwaiger, Wiebke Sievers

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10 Wiebke Sievers

Grenzüberschreitungen:EinliteratursoziologischerBlick auf die lange Geschichte von Literatur und Migration SchriftstellerInnen, die im Verlauf ihres Lebens zumindest einmal migriert oder NachfahrInnen von MigrantInnen sind und nicht in ihrer Erstsprache schreiben, gelten in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Debatte auch als literarische GrenzüberschreiterInnen: „Viele AutorInnen mit Migrationshintergrund überschreiten mit und in ihren Texten Grenzen, sie verschieben Grenzen, heben sie auch auf und machen in jedem Fall deren Konstruiertheit deutlich“ (Schweiger, 2006, 45). Als Impetus für diese Grenzüberschreitung wird ihre „Position des Dazwischen“ gesehen, die Irmgard Ackermann schon 1983 als „kreative[n] Impuls“ beschrieb, „der Neues hervorbringt, eine Mischkultur, in der aus der Verschmelzung von Elementen verschiedener Kulturen etwas Eigenständiges, Neues wird“ (Ackermann, 1983, 62). Doch während Ackermann noch von der Existenz unveränderbarer Kulturen ausging, die höchstens eine dritte neue Kultur hervorbringen könnten, setzte sich im Gefolge von Homi Bhabhas Publikation The Location of Culture (1994) eine Vorstellung von Identitäten, Kulturen und Nationen durch, die diese als immer schon hybrid und ständig in Veränderung begriffen sah. Seitdem gilt das Dazwischen nicht mehr als eine feste Position, in der sich Zuwanderer befinden, sondern als ein Raum, in dem kulturelle Veränderungen ausgehandelt werden, ohne dass neue Hegemonien entstehen. Immigrierte AutorInnen avancierten damit zur Avantgarde, die in ihren Werken diese neue Welt imaginiert (Sievers, 2013). Dieses Bild hat sich inzwischen auch im deutschsprachigen Raum durchgesetzt. Umfassende Publikationen weisen zugewanderte SchriftstellerInnen als diejenigen aus, die die deutsche und die Schweizer Kultur kosmopolitisieren (Cheesman, 2007; Kamm, Spoerri, Rothenbühler und D’Amato, 2010). Und auch in Österreich werden immigrierte LiteratInnen in diesem Sinne gelesen (vgl. zum Folgenden Sievers und Vlasta, 2017a). Sie schaffen Figuren wie die serbische Muslimin Ena in Alma Hadzibeganovics zz00m: 24 Std. mix 1. of me oder Penthesilea in Sarajevo (1997), die ethnische und religiöse Fixierungen unterwandern (Schweiger, 2005). Sie erzählen Geschichten von Ausgrenzung und Diskriminierung, wie Vladimir Vertlib in Zwischenstationen (1999), die zur Infragestellung homogener Vorstellungen von Identität beitragen (Riegler, 2010). Sie hinterfragen österreichische Geschichte, wie Hamid Sadr in Der Ge-

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dächtnissekretär (2005), wo dem nationalsozialistischen Blick auf den Zweiten Weltkrieg die Perspektive eines Zuwanderers entgegengestellt wird (Klingenböck, 2005). Und sie beschreiben hybride Orte, wie den Wiener Naschmarkt in Doron Rabinovicis Ohnehin (2004), an denen das Zusammenleben über ethnische, kulturelle und sprachliche Grenzen hinweg immer schon möglich war (Beilein, 2008b). Der vorliegende Band will dieses Bild der Literatur von zugewanderten AutorInnen um einige Facetten erweitern, indem er konkreter nachfragt, wie es dazu kam, dass diese SchriftstellerInnen diese Rolle übernahmen, und wie weit der Prozess der nationalen Grenzüberschreitung im Literaturbetrieb fortgeschritten ist. Zu diesem Zweck überschreitet er die methodischen Grenzen bisheriger Forschung, die hauptsächlich textanalytisch arbeitet und sich auf einige wenige GegenwartsautorInnen konzentriert. Die Literatur immigrierter SchriftstellerInnen in Österreich dient dabei als Beispiel, doch der literatursoziologische und historisch-vergleichende Ansatz, mit dem wir arbeiten, sollte auch in anderen Kontexten neue Einblicke ermöglichen. Warum dieser Neuansatz? Weil wir damit nicht nur zeigen können, dass zugewanderte AutorInnen nicht immer grenzüberschreitende Texte im obigen Sinne geschrieben haben, sondern auch erklären können warum. Elias Canetti, Milo Dor und György Sebestyén konzentrierten sich in ihren Werken nicht auf die Infragestellung nationaler Identitäten und Kulturen, weil sie in den 1930ern, 1940ern und 1950ern völlig selbstverständlich in einen Literaturbetrieb aufgenommen wurden, der sich als transnational verstand. Allerdings erforderte diese Aufnahme, dass sie sich der kulturellen Hegemonie der deutschen Sprache und der deutschsprachigen literarischen Traditionen unterwarfen. Deswegen spielt Mehrsprachigkeit in ihren Texten eine vernachlässigbare Rolle und wird nie zur Infragestellung der deutschsprachigen Kultur eingesetzt. Und keiner dieser Autoren setzt sich mit Migration auseinander, denn Migration galt im österreichischen Literaturbetrieb noch bis in die 1960er Jahre weniger als die Ausnahme denn als die Norm und damit auch nicht als erzählenswert (vgl. Sievers zu Canetti, Englerth zu Dor und Schwaiger zu Sebestyén in diesem Band). Erst in den 1970er und 1980er Jahren nationalisierte sich das literarische Feld, was einen Ausschluss von zugewanderten AutorInnen zur Folge hatte, den verschiedene Akteure seit den 1990ern zu überwinden versuchen. Dabei handelt es sich um einen Aushandlungsprozess, in dem den AutorInnen zwar gewisse Grenzüberschreitungen zugestanden, aber auch weiterhin Grenzen gesetzt werden. Letzteres gilt insbesondere für die Anerkennung von Mehrsprachigkeit in der Literatur (vgl. Englerth zu Çakır und Schwaiger zu Struhar und Maljartschuk in diesem Band), aber auch für die Anerkennung der Texte zuge-

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wanderter AutorInnen als Literatur (vgl. Englerth zu Çakır und Ferra in diesem Band). Im Folgenden werde ich den literatursoziologischen Ansatz beschreiben, der in diesem Buch zur Anwendung kommt.1 Grundlage dieses Ansatzes sind Pierre Bourdieus Arbeiten, die für diesen Zweck ideal sind, weil sie soziologische Untersuchungen zum literarischen Feld mit der Analyse literarischer Texte verbinden, was auch uns ein Anliegen war. Allerdings dienten uns für die Textanalyse nicht Bourdieus Arbeiten, sondern die vielen existierenden Studien zu literarischen Werken zugewanderter AutorInnen als Vorbild (ein internationaler Überblick dazu findet sich in Sievers und Vlasta, 2017b). In Bezug auf Bourdieu war vor allem sein Fokus auf Ausgrenzung in der Literatur von Interesse, wobei er sich auf soziale Ausgrenzung konzentriert, während wir auf nationale Ausgrenzung fokussieren. Deswegen werden seine Ideen mit Ansätzen ergänzt, die die Mechanismen nationaler Ausgrenzung in literarischen Feldern erklären. Anschließend skizziere ich als Hintergrund zu den Analysen der einzelnen AutorInnen in diesem Band die Geschichte zugewanderter AutorInnen nach Österreich seit den 1930ern. Dabei fasse ich Erkenntnisse aus dem Projekt „Literature on the Move“ zusammen, das sich seit September 2012 mit der Selbst- und Fremdpositionierung zugewanderter AutorInnen in Österreich befasst.2 Einerseits ging es dabei um die Frage, warum Migration in den 1990ern in der österreichischen Literatur zu einer relevanten Kategorie wurde und wie sich inzwischen bekannte AutorInnen wie Vladimir Vertlib, Dimitré Dinev, Julya Rabinowich und Anna Kim etablierten.3 Andererseits wollte das Projekt die bisherige Begrenzung auf diese wenigen GegenwartsautorInnen in der wissenschaftlichen Diskussion überwinden. Die Ergebnisse dieses zweiten Ansatzes sind in diesem Band versammelt, der der selbstverständlichen Aufnahme zugewanderter AutorInnen in der Vergangenheit die immer noch existierenden Grenzen gegenüber zugewanderten AutorInnen in der Gegenwart gegenüberstellt. Beide Teilprojekte zusammen erlauben, ein neues Bild von der Geschichte der Migration in die österreichische Literatur zu zeichnen. 1

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Die Beschreibung dieses Ansatzes basiert zum Teil auf einem Aufsatz, der zum ersten Mal versucht, theoretische Grundlagen für eine literatursoziologische Betrachtung von Zuwanderung in Literaturen zu schaffen, und zwar aus einer vergleichenden europäischen Perspektive (vgl. Sievers, Kaya und Kamm, 2016). Mehr Informationen zum Projekt finden sich unter www.litmove.oeaw.ac.at. Diese Frage steht im Zentrum meines Habilitationsprojekts an der Europa-Universität Viadrina mit dem Arbeitstitel Wie die Migration in die Literatur einzog: Eine literatursoziologische Analyse von Literatur und Migration in Österreich.

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Theoretische Vorüberlegungen: Zur Ausgrenzung zugewanderter AutorInnen in nationalisierten literarischen Feldern Ausgangspunkt unserer literatursoziologischen Untersuchungen zu Literatur im Kontext von Migration waren die Fragen, wie es zugewanderten AutorInnen gelingt, sich im literarischen Feld anzusiedeln, und welche Rolle in diesem Prozess ihre Migrationsbiografie und ihre Mehrsprachigkeit spielen. Unter dem Begriff literarisches Feld verstehen wir dabei im Sinne Pierre Bourdieus die Gesamtheit aller Akteure, die im Prozess der Anerkennung von Texten als Literatur relevant sind.4 Zu diesen Akteuren zählen unter anderem Verlage und Zeitschriften, die Zugang zum Feld gewähren, KritikerInnen in relevanten Feuilletons, die zur Sichtbarkeit der Veröffentlichungen beitragen, literarische Jurys, die Preise vergeben, öffentliche und private Geldgeber, die Stipendien verwalten, WissenschaftlerInnen, die zur Kanonisierung ausgewählter AutorInnen und Werke beitragen, und Schulen, die diese kanonisierten Werke an die folgenden Generationen weitergeben. All diese Institutionen gemeinsam produzieren den Wert des literarischen Werks: „Produzent des Werts des Kunstwerks ist nicht der Künstler, sondern das Produktionsfeld als Glaubensuniversum, das mit dem Glauben an die schöpferische Macht des Künstlers den Wert des Kunstwerks als Fetisch schafft“ (Bourdieu, 1999, 362, Kursivierung im Original). Wer als SchriftstellerIn gilt, kann also nicht universell definiert werden. Vielmehr ergibt sich die Definition des Begriffs SchriftstellerIn aus der Gesamtheit der SchriftstellerInnen, die die Akteure zu einem bestimmten Zeitpunkt im jeweiligen literarischen Feld als solche bezeichnen. Dieser Akt der Bezeichnung selbst ist der Inbegriff eines Machtkampfes im literarischen Feld, in dem die Akteure dadurch Macht ausüben, dass sich ihr Begriff von Literatur durchsetzt (Bourdieu, 1999, 353–355). Doch dieser tieferen Logik sind sich die individuellen Akteure normalerweise nicht bewusst. Vielmehr handeln sie aus der Überzeugung heraus, Literatur zu fördern (Bourdieu, 1999, 360–365). Der Machtkampf im literarischen Feld funktioniert laut Bourdieu über Ausschlüsse. Die einzelnen Akteure agieren als Türhüter, indem sie jenen den Zutritt zum Feld verweigern, die ihrer Meinung nach die Kriterien für literarische Anerkennung nicht erfüllen. Bourdieu zeigt, wie die Strukturen des französischen 4

Die folgenden Ausführungen zum literarischen Feld beziehen sich hauptsächlich auf Bourdieus Buch Les Règles de l’art, das 1992 auf Französisch erschien, denn in diesem Werk trägt Bourdieu Erkenntnisse aus mehr als 25 Jahren konzeptueller und empirischer Arbeit zum literarischen Feld zusammen (Speller, 2011). Zitiert wird aus der deutschen Übersetzung Die Regeln der Kunst aus dem Jahr 1999.

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literarischen Feldes im 19. Jahrhundert die Reproduktion literarischer Eliten garantieren, die vom Tag ihrer Geburt an die Normen und Strukturen, die das literarische Feld beherrschen, absorbieren. Das heißt, die literarischen Eliten erben nicht nur das ökonomische Kapital, das notwendig ist, um in Zeiten geringer Einnahmen aus ihrer Literatur zu überleben, sondern auch das kulturelle Kapital (so zum Beispiel das Wissen über literarische Traditionen) und das soziale Kapital (also die persönlichen Kontakte mit vielen der relevanten Akteure), die für den Erfolg im literarischen Feld notwendig sind. Aus diesem Grund wissen die literarischen Eliten intuitiv, wo und wie sie sich im Raum der Möglichkeiten im jeweiligen literarischen Feld positionieren müssen, um Anerkennung zu finden: „Generell sind es die mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital am besten Ausgestatteten, die sich als erste neuen Positionen zuwenden“ (Bourdieu, 1999, 414). Diesen Habitus, wie Bourdieu diese inkorporierten Strukturen nennt, müssen sich jene, die aus niedrigeren sozialen Schichten oder aus einem anderen Land stammen, mit viel Mühe aneignen. Auch wenn Bourdieu Letztere nur am Rande erwähnt, lässt sich sein Ansatz auch auf die Ausgrenzung von ImmigrantInnen in nationalisierten literarischen Feldern übertragen, um die es im zweiten Teil dieses Bandes hauptsächlich gehen soll, wobei sich in unseren Analysen durchaus auch Anzeichen sozialer Ausgrenzung fanden (vgl. Englerth zu Çakır in diesem Band). Die Ausgrenzung zugewanderter AutorInnen findet in nationalisierten Literaturen hauptsächlich über die Sprache statt, wie Yasemin Yildiz in ihrer Studie Beyond the Mother Tongue (2012) anschaulich erläutert. Sie zeigt auf, wie die Entstehung moderner Nationalstaaten mit dem Paradigma der Einsprachigkeit einherging, das unterstellte, dass jedes Individuum nur eine Sprache wirklich beherrschen könne, nämlich seine Muttersprache. Diese wiederum wird im nationalen Denken als organische Verbindung des Individuums mit einer Ethnie, Kultur und Nation verstanden (Yildiz, 2012, 2). Die Konsequenz dieser Ideologie für die Literatur war, dass genuine literarische Kreativität nur noch in der Muttersprache als möglich galt. AutorInnen, die nicht in ihrer Muttersprache oder die in mehreren Sprachen schrieben, wurde in diesen nationalisierten Literaturen nur wenig Anerkennung zuteil (Yildiz, 2012, 9). Yildiz selbst untersucht zwar, wie SchriftstellerInnen von Franz Kafka bis Feridun Zaimoglu gegen dieses Muttersprachenparadigma anschreiben und dieses damit zu überwinden versuchen. Dennoch hält sie fest, dass dieses durchaus nicht als überwunden betrachtet werden kann, was ihrer Meinung nach mit der starken emotionalen Bindung zusammenhängt, die diese Sprache über die Mutter mit Herkunft, Identität und Nation verknüpft – eine Bindung, die in später erlernten Sprachen als ausgeschlossen angesehen wird (Yildiz, 2012, 13).

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Doch zugewanderte AutorInnen müssen nicht nur die Barriere der Muttersprache überwinden. Sie müssen auch um die Anerkennung ihres spezifischen literarischen Wissens kämpfen, das in den Zentren der Literatur oft unbekannt ist und von daher in intertextuellen Anspielungen nicht als kulturelles Kapital erkannt wird. Das gilt nicht nur für Literaturen aus Asien und Afrika, sondern auch für Literaturen, die uns weit näher scheinen. So verweist zum Beispiel Mark Terkessidis darauf, wie wenig selbst LiteraturkritikerInnen im deutschsprachigen Raum die moderne griechische Literatur bekannt war, als Griechenland im Oktober 2001 Gast auf der Frankfurter Buchmesse war (Terkessidis, 2010, 157). Dieses geringe Wissen über andere Literaturen in den literarischen Zentren hängt mit den internationalen literarischen Hierarchien zusammen, die Pascale Casanova in der „Weltrepublik der Literatur“ identifiziert (Casanova, 2008). Laut Casanova ist diese von einer Ungleichheit gekennzeichnet, die auf den Prozess der Internationalisierung in der Literatur zurückzuführen ist. Ausgangspunkt dieser Internationalisierung war ihrer Meinung nach die französische Literatur, deren Verbreitung weltweit nationalisierte Literaturen hervorbrachte, die sich am französischen Modell orientierten. Die AutorInnen, die bis heute aus diesen nationalisierten Literaturen hervorgehen, stehen auf dem internationalen Markt miteinander in Konkurrenz, denn alle versuchen auf diesem Markt, Sichtbarkeit für ihre Werke zu erlangen. Doch in diesem Konkurrenzkampf haben AutorInnen aus jenen literarischen Feldern, die auf eine lange nationale Tradition zurückblicken können, wie Frankreich und England, eine deutlich bessere Ausgangsposition als andere. Sie stützen sich auf lang bestehende Literaturgeschichten mit international anerkannten Autoren wie Molière und Shakespeare sowie auf etablierte literarische Strukturen, die kontinuierlich neue AutorInnen hervorbringen, die auch international reüssieren (Casanova, 2008, 75–126). Das hat zur Folge, dass AutorInnen aus den literarischen Zentren weltweit bekannt sind, während jene aus den Peripherien immer nur ein begrenztes Publikum finden. Dies illustrieren auch die Übersetzungsflüsse, die von Übersetzungen aus dem Englischen in alle Sprachen weltweit dominiert werden, während nur sehr wenig Literatur ins Englische übersetzt wird (Heilbron, 1999). Mit der Zuwanderung wurden diese internationalen zu innernationalen literarischen Hierarchien, das heißt, den zugewanderten AutorInnen wurde automatisch weniger literarisches Potenzial zugestanden als den einheimischen. Schließlich kann die Ausgrenzung auch die Themen betreffen, denen sich zugewanderte AutorInnen zuwenden. Denn in nationalisierten Literaturen stoßen Erzählungen aus ihren Herkunftsländern bzw. über ihre Migration nicht automatisch auf Interesse, sondern oft auf Unverständnis, weil sie nicht eingeordnet

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werden können, wie Vladimir Vertlib in Bezug auf seine Migrationsbiografie erklärt, die ihm in seinen ersten Veröffentlichungen als Ausgangspunkt dient: Als ganz junger Mensch habe ich über bestimmte Dinge nicht geredet oder sie verdrängt. [...] Gleichzeitig bin ich noch in den 1980er Jahren als junger Student einer der wenigen mit Migrationshintergrund auf der Uni gewesen. Und die Geschichten, die ich zu erzählen gehabt hätte, wollte entweder niemand hören oder hat niemand verstanden, weil die Leute ganz anders sozialisiert waren.5

Nun darf diese sprachliche, literarische und thematische Ausgrenzung nicht als ein unveränderlicher Ausschluss begriffen werden. Vielmehr betrifft sie einen Zeitraum, in dem die literarischen Felder stark nationalisiert sind bzw. waren. Doch, wie Bourdieu zeigt, befinden sich literarische Felder ständig in Veränderung. Sie sind gekennzeichnet durch einen kontinuierlichen Kampf, in dem sich jene, die zu einem gewissen Zeitpunkt eine bestimmte Vorstellung von Kunst durchsetzen können, mit jenen konfrontiert sehen, die diese Vorstellung infrage stellen und eine Gegenposition im Feld etablieren, die sich in Inhalt und Form der Werke deutlich von ihren VorgängerInnen unterscheidet. Diese versuchen ihre Position zu verteidigen, zunächst indem sie die HerausforderInnen ignorieren, dann indem sie deren Werke abwerten, wobei das schon einen ersten Schritt zur Anerkennung darstellt (Bourdieu, 1999, 357). Das heißt, die Zuerkennung bzw. Verweigerung des Labels „literarische Qualität“ ist Ausdruck eines Kampfes um Vormacht im literarischen Feld, der mit einer neuen Vorstellung von Literatur enden kann, von der nicht nur die AutorInnen selbst, sondern auch Verlage, KritikerInnen etc. profitieren, die diese Vorstellung unterstützen. Solche Veränderungsprozesse haben seit den 1970er Jahren in vielen nationalisierten literarischen Feldern zu einer allmählichen Anerkennung zugewanderter AutorInnen geführt (vgl. Sievers und Vlasta, 2017b). Dabei standen jedoch nicht zugewanderte AutorInnen einem ausgrenzenden literarischen Feld gegenüber. Vielmehr wurden und werden diese AutorInnen von ausgewählten Akteuren aus dem jeweiligen Feld in ihrem Kampf um Anerkennung unterstützt. Dieser Kampf ist deswegen immer auch ein Aushandlungsprozess mit diesen Akteuren, in dem die AutorInnen versuchen, für ihr mitgebrachtes und im Migrationsprozess erworbenes Kapital, also ihre Mehrsprachigkeit, ihr literarisches Wissen und ihre Migrationsbiografien, im neuen Kontext Anerkennung zu generieren. 5

Dieses Zitat stammt aus einem Interview, das die Verfasserin am 21. Mai 2015 mit Vladimir Vertlib in Wien führte. Im Folgenden verweise ich mit dem Kürzel „Interview Vertlib“ auf dieses Dokument.

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Dabei gehen sie kreativ vor, passen ihr Kapital an den neuen Kontext an, überschreiten aber auch sprachliche, literarische und thematische Grenzen, wobei die bisherigen Analysen der literarischen Texte sich vor allem auf diese Grenzüberschreitungen konzentrierten, wie oben erläutert wurde. Die Anpassungsprozesse, die sich in den literarischen Texten und den Aussagen der AutorInnen genauso abbilden, wurden dagegen bisher nur selten analysiert. So finden sich zum Beispiel Anpassungen an etablierte literarische Formen, in denen dann wiederum thematische und sprachliche Grenzüberschreitungen möglich werden. Auch dieser Aushandlungsprozess, der immer wieder auch mit Ausgrenzung einhergeht, ist bisher kaum untersucht. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang auch die vielen Versuche, durch Vermittlung bzw. Übersetzung AutorInnen aus dem Herkunftsland auch im neuen Kontext bekannter zu machen. Doch auch wenn bisher nur wenige Untersuchungen zu den Öffnungsprozessen nationalisierter Literaturen existieren (vgl. zum Beispiel Behschnitt, De Mul und Minnaard, 2013), lassen diese dennoch den Schluss zu, dass sich dieser Prozess keineswegs verallgemeinern lässt. Vielmehr unterscheidet er sich nicht nur von einem nationalisierten Kontext zum nächsten, sondern auch nach Gender, Herkunft und Alter der Zuwanderung und schließlich von AutorIn zu AutorIn. Zu den Konstanten gehört jedoch, dass Anerkennung und Ausgrenzung oft miteinander einhergehen. Das zeigt sich zum Beispiel in Begriffen wie „Migrationsliteratur“, die als erster Schritt auf dem Weg zur Anerkennung von zugewanderten AutorInnen gelten können, gleichzeitig jedoch auch Ausgrenzung ausdrücken, implizieren sie doch, dass diese AutorInnen nicht als Teil der jeweiligen Nationalliteratur anerkannt werden, die immer noch als Norm gilt. Erst wenn diese Norm generell hinterfragt ist, werden auch solche Begriffe an Bedeutung verlieren (Mitterer, 2009). Ähnlich verhält es sich mit der Anerkennung von Erzählungen aus dem Herkunftsland bzw. von Migrationserfahrungen. Diese beinhaltet in einem ersten Schritt oft, dass die Texte nicht als Literatur, sondern als Quelle der Information über fremde Welten wahrgenommen werden, ihnen also literarische Qualität abgesprochen wird. Kobena Mercer (1990) beschreibt dieses Phänomen als die „Last der Repräsentation“, die besonders dann zum Tragen kommt, wenn nur wenige zugewanderte AutorInnen aus einem bestimmten Herkunftskontext bzw. einer bestimmten Zuwanderungsgruppe Bekanntheit erlangen und diese deswegen als repräsentativ für diese Gruppe und damit alle ihre Texte als authentische Einblicke wahrgenommen werden. Die literarische Gestaltung bleibt dabei ausgeblendet. Im Folgenden soll auf Basis von und als Hintergrund zu den Analysen der einzelnen AutorInnen in diesem Band kurz die Geschichte der Ausgrenzung und Anerkennung zugewanderter AutorInnen in Österreich skizziert werden.

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Dabei zeige ich im ersten Teil, dass diese nicht immer ausgegrenzt waren, sondern bis in die späten 1950er Jahre völlig selbstverständlich im österreichischen Literaturbetrieb aufgenommen wurden. Erst in den 1970er und 1980er Jahren kam es zur Nationalisierung des österreichischen literarischen Feldes, die dann seit den frühen 1990er Jahren in einem langsamen Prozess, der immer noch andauert, wieder aufgebrochen wird.

Zur selbstverständlichen Aufnahme zugewanderter AutorInnen in Österreich vor der Nationalisierung des literarischen Felds Das Territorium, das heute als Österreich bekannt ist, kann auf eine lange Geschichte der Immigration zurückblicken (vgl. zum Folgenden Hahn, 2007). Fasst man nur die letzten 150 Jahre ins Auge, so war schon ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein deutlicher Anstieg der Zuwanderung von ArbeiterInnen, StudentInnen und KünstlerInnen aus allen Teilen der Monarchie und darüber hinaus insbesondere nach Wien zu verzeichnen. Schon um 1910 lag der Anteil der im Ausland geborenen Bevölkerung auf dem österreichischen Gebiet der Monarchie bei 15 Prozent (Weigl, 2009, 218). Und dieser stieg aufgrund der Fluchtbewegungen im Ersten Weltkrieg noch weiter an. Nach dem Zerfall der Monarchie und der Etablierung von Nationalstaaten verließen zwar viele der ImmigrantInnen das Land. Dennoch blieb insbesondere Wien noch bis in die späten 1930er Jahre von Migration geprägt. Im Zweiten Weltkrieg dominierten Zwangsmigrationen. Doch viele der ZwangsarbeiterInnen, Kriegsgefangenen und ehemaligen Insassen von Konzentrationslagern, die sich nach dem Krieg in Österreich aufhielten, verließen das Land in den darauffolgenden Jahren. Gleichzeitig setzte jedoch mit den Vertriebenen aus den ehemaligen Gebieten des Deutschen Reichs eine neue Zuwanderungswelle ein. In den 1960er Jahren begann Österreich dann gezielt ArbeiterInnen in Jugoslawien und der Türkei anzuwerben, ein Zustrom, der zwar offiziell 1973 gestoppt wurde, der jedoch über informelle Kanäle bis Anfang der 1990er Jahre weiter möglich war (Ataç, 2014). Seit dem EU-Beitritt Österreichs kamen dann vermehrt ArbeiterInnen zunächst aus Deutschland, später aus den osteuropäischen Nachbarstaaten Österreichs. Als neutrales Land nahm Österreich Flüchtlinge aus Ungarn nach 1956, aus der Tschechoslowakei nach 1968 und aus Polen nach 1981 auf, wobei viele das Land nur als Transitland nutzten. Das galt auch für jüdische Flüchtlinge aus Russland, die zwischen 1973 und 1990 über Österreich in den meisten Fällen nach Israel ausreisten – erst danach wurde die direkte Ausreise von Russland nach Israel möglich. Einen relativ hohen Anteil an Flüchtlingen nahm Österreich aus Jugoslawien während

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des Kriegs in den 1990ern auf. Schon seit den 1970ern stieg kontinuierlich auch der Anteil an Flüchtlingen aus Afrika und Asien, der 2015 mit der zunehmenden Flucht von Syrern vor dem Krieg nach Europa kulminierte. Schon dieser kurze Überblick zeigt, dass Österreich nicht erst seit den 1960er Jahren ein Zuwanderungsland ist, auch wenn es sich offiziell nicht als solches sieht. Mit all diesen Zuwanderungen kamen immer wieder auch Menschen, die schon SchriftstellerInnen waren bzw. es später werden sollten. Doch der Umgang mit diesen gestaltete sich vor den 1960er Jahren in Österreich deutlich anders als danach. Das hing damit zusammen, dass die deutsche Sprache und Literatur in Österreich zu dieser Zeit noch nicht nationalisiert waren. Vielmehr entwickelte sich in der Habsburgermonarchie eine transnationale deutschsprachige Kulturnation, die nicht nur alle deutschsprachigen Menschen und Länder einbezog, sondern auch für jene offenstand, deren Muttersprache nicht Deutsch war, solange sie sich der Hegemonie der deutschen Sprache und der deutschsprachigen literarischen Tradition unterordneten. Bis zum „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im Jahr 1938 wurde dieses transnationale Erbe hauptsächlich von jüdischen Zuwanderern und deren Nachfahren weitergetragen (vgl. Sievers zu Canetti in diesem Band). Nach 1945 setzten sich dann ausgewählte Akteure im literarischen Feld für dieses Erbe ein, die schon in der Zwischenkriegszeit zu schreiben begonnen hatten und dann nach 1945 bis in die 1960er Jahre zu den dominanten Figuren im Feld avancierten. Zu diesen gehörten Franz Theodor Csokor, Alexander Lernet-Holenia und Friedrich Torberg (vgl. Englerth zu Dor und Schwaiger zu Sebestyén in diesem Band). Dieses transnationale Verständnis der deutschen Sprache und Literatur erklärt, warum Elias Canetti von seinem Kollegen und Förderer Hermann Broch in den 1930ern völlig selbstverständlich als „deutscher Dichter“ (Broch, 1976, 59) aufgenommen wurde, obwohl er in Bulgarien geboren wurde, Ladino seine Muttersprache war und er erst mit acht Jahren Deutsch zu lernen begann. Ähnliche Erfahrungen mit dem Literaturbetrieb schildert Milo Dor, der im Zweiten Weltkrieg als Zwangsarbeiter nach Wien kam und nach Kriegsende in einem immer noch transnational ausgerichteten Literaturbetrieb in deutscher Sprache zu schreiben begann: Nach dem Krieg lernte ich in Wien eine Reihe österreichischer Autoren kennen, die in der Mehrsprachigkeit der k. u. k. Monarchie aufgewachsen waren und mit größter Selbstverständlichkeit Menschen begegneten, die aus dem einst großen Raum kamen. Franz Theodor Csokor, Alexander Lernet-Holenia, Heimito von Doderer und Alexander Sacher-Masoch gehörten zur Generation meines Vaters, oder waren, wie Friedrich Torberg und Hans Weigel, nur ein paar Jahre jünger. Für sie war es ganz natürlich, daß ich in Wien lebte. Das Zusam-

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mengehörigkeitsgefühl dauerte noch lange nach dem Zerfall der Monarchie, getragen von der Generation, deren Wurzeln noch weit zurück reichten. (Dor, 2004, 135, vgl. Englerth zu Dor in diesem Band)

Und auch Sebestyén, der nach der Niederschlagung des Ungarnaufstands Ende 1956 nach Wien flüchtete, beschreibt den Literaturbetrieb der späten 1950er immer noch als transnational: Über die ersten Jahre in Wien, über die geistigen Helfer des neuen Anfangs nur so viel: Die Generation der älteren Schriftsteller und Journalisten, die ich antraf, war mit der alten Monarchie Österreich-Ungarn durch eigene Erfahrungen verbunden. Für Autoren wie Franz Theodor Csokor, Heimito von Doderer, Alexander Lernet-Holenia, George Saiko, Friedrich Torberg, um nur einige zu nennen, war es noch selbstverständlich, daß jemand, der österreichischer Schriftsteller werden sollte, aus Prag, aus Budapest oder Agram nach Wien gekommen war. (Sebestyén, 1986, 64, vgl. Schwaiger zu Sebestyén in diesem Band)

Diese Idee einer transnationalen Kulturnation versuchten Dor und Sebestyén auch selbst weiterzutragen, und zwar in ihrem Engagement für ein transnationales Mitteleuropa. Bei Sebestyén findet sich dieser Gedanke schon in seinem ersten Roman Die Türen schließen sich (1957a), in dem der autobiografisch motivierte Protagonist seiner Hoffnung auf eine mitteleuropäische Zukunft für das kommunistische Ungarn Ausdruck verleiht. Von Beginn an versuchte Sebestyén diesen Gedanken durch seine Vermittlung ungarischer AutorInnen nach Österreich sowie als Übersetzer ungarischer Literatur ins Deutsche in die Praxis umzusetzen. 1972 gründete er dann die Zeitschrift Pannonia, die mit ihren vielen Beiträgen aus Osteuropa dem mitteleuropäischen Austausch gewidmet war (vgl. Schwaiger zu Sebestyén in diesem Band). Unter den Beiträgern dieser Zeitschrift war neben Sebestyén selbst auch Milo Dor, der wiederum aus dem Serbischen übersetzte und sich später auch in Publikationen mit Mythos und Wirklichkeit von Mitteleuropa auseinandersetzte (Dor, 1996), wobei dieses in seiner Vorstellung weit über das ehemalige Gebiet der Habsburgermonarchie hinausreichte (Lajarrige, 1999). Wie selbstverständlich sich die Aufnahme von Canetti, Dor und Sebestyén in das jeweilige literarische Feld gestaltete, zeigt sich auch daran, wie die drei Autoren sich selbst positionierten bzw. von anderen Akteuren im Feld positioniert wurden. Canetti veröffentlichte 1932 sein Theaterstück Hochzeit als Manuskript beim renommierten S. Fischer Verlag und hätte auch gern weitere Werke dort untergebracht, was jedoch durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten verhindert wurde. Er las 1935 im Salon Eugenie Schwarzwalds,

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der seit der Jahrhundertwende zu den drei bedeutenden Salons in Wien zählte und in dem viele bekannte KünstlerInnen und SchriftstellerInnen verkehrten. Und er schrieb sich mit seinen Werken, die in den 1930er Jahren in Wien entstanden, in eine Wiener Tradition ein, die seit Ferdinand Raimund die Wiener Sprache zur Grundlage ihrer literarischen Kreativität machte. Mehrsprachigkeit ist dabei eine hauptsächlich innersprachliche Dimension, mit der Canetti den Zerfall der Sprachgemeinschaft am Egozentrismus illustrierte. Dieser schlug sich seiner Meinung nach in individualisierten Sprachen nieder, die das Verständnis untereinander verhinderten. Migration spielt in Canettis Werken überhaupt keine Rolle, denn diese ist im literarischen Feld zu seiner Zeit eher die Norm als die Ausnahme und damit nicht erzählenswert (vgl. Sievers zu Canetti in diesem Band). Milo Dors Weg zum Autor führte über eine für die ersten Jahre nach 1945 zentrale Institution im österreichischen Literaturbetrieb, den sogenannten PLAN-Kreis, der sich um die gleichnamige Zeitschrift etablierte. Ihr Herausgeber Otto Basil versammelte eine Gruppe von jüngeren AutorInnen um sich, die sich der schon einsetzenden Verdrängung der nationalsozialistischen Verbrechen widersetzten. Diesem Ziel verschrieb sich auch Dor, dessen frühe Werke auf seine Erfahrungen im Widerstand nach der nationalsozialistischen Besetzung Belgrads und in nationalsozialistischen Gefängnissen in Belgrad und Wien referieren. Seine Herkunft und Migrationsbiografie sind nur in diesem Kontext für seine Literatur relevant, spielen aber ansonsten in seinen Texten genau wie seine Mehrsprachigkeit keine Rolle. Doch wie für viele seiner jungen österreichischen Kollegen gab es für Dor nach der Auflösung des PLANs im Jahr 1948 und mit der einsetzenden Restauration im Literaturbetrieb, die mit der Verdrängung der Vergangenheit einherging, in Österreich keine Veröffentlichungsmöglichkeiten mehr. Aus diesem Grund nahm er Kontakt zur Gruppe 47 in Deutschland auf, was zur Folge hatte, dass sein erster und immer noch bekanntester Roman Tote auf Urlaub (1952) in Stuttgart erschien (vgl. Englerth zu Dor in diesem Band). György Sebestyén wiederum gelang es, genau an jene restaurativen Kräfte anzuschließen, die schon in der Zwischenkriegszeit zu schreiben begonnen hatten und nach 1945 die wichtigsten Stellen im Literaturbetrieb besetzten. Das galt auch für den österreichischen P. E. N.-Club, der Sebestyén den Weg in die Literatur ebnete. Über diese Verbindungen veröffentlichte er bereits im Jänner 1957 einen ersten essayistischen Text mit dem Titel „Mit den Augen eines Barbaren“ in den Salzburger Nachrichten (Sebestyén, 1957b) und im Verlauf desselben Jahres seinen schon erwähnten ersten Roman Die Türen schließen sich im Münchner Kurt Desch Verlag, der auch andere österreichische AutorInnen aus der Umgebung des P. E. N.-Clubs unter Vertrag hatte. Dass beide Texte sich kritisch mit

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dem Kommunismus in Ungarn auseinandersetzten, gereichte ihm dabei in einem Literaturbetrieb, in dem zu dieser Zeit der Antikommunismus grassierte, nicht zum Nachteil. Doch aufgrund der sehr politischen Interpretationen seines ersten Romans in der Kritik, die ihn nicht als Literatur las, sondern als realistischen Einblick in die Geschehnisse um den Ungarnaufstand, nahm Sebestyén in seinen folgenden Texten Abstand von einer Auseinandersetzung mit Politik und seinem Herkunftsland und flüchtete sich in das unpolitische Ewig-Menschliche, das die Literatur in Österreich in dieser Zeit bestimmte. Seine Migration thematisiert Sebestyén in diesen Werken nicht, noch spielt seine Mehrsprachigkeit eine Rolle (vgl. Schwaiger zu Sebestyén in diesem Band). In den weiteren literarischen Lebensläufen Canettis, Dors und Sebestyéns jedoch wird eine Nationalisierung des literarischen Feldes sichtbar, die im folgenden Abschnitt noch genauer beschrieben werden soll. So wird Dors zweiter Roman, Nichts als Erinnerung (1959), in der Rezeption viel stärker mit Bezug auf seine Herkunft gelesen als seine bisherigen Werke. Sebestyén kommentierte diese Entwicklung später mit den folgenden Worten: „Österreichischer Schriftsteller serbischer Herkunft zu sein ist, und nicht nur für die germanophilen Rassenfanatiker, ein Kuriosum“ (Sebestyén, 1975, vgl. Englerth zu Dor in diesem Band). Und Canetti und Sebestyén stellten in autobiografischen Texten, die in den 1970er und 1980er Jahren entstanden und sich mit ihrer Migrationsbiografie und ihrer Mehrsprachigkeit auseinandersetzten, die deutsche Sprache als ihre Muttersprache bzw. Erstsprache dar und entsprachen damit den normativen Ansprüchen an literarische Kreativität in nationalisierten literarischen Feldern. So beschrieb Sebestyén in seiner „Skizze zu einem Selbstporträt“ das Deutsche als seine erste Sprache, die er noch vor dem Ungarischen lernte: Margot, Helene und die Tante – sie bestand darauf, weder mit Frau Hahn noch mit ihrem Vornamen angesprochen zu werden – waren deutscher Herkunft. Helene stammte aus dem Riesengebirge, die Tante aus Hamburg. Sie waren freundliche Frauen, denen ich vieles zu verdanken habe, vor allem meine Kenntnis der deutschen Sprache. Keine von ihnen sprach ungarisch. Da ich den größten Teil des Tages mit ihnen verbrachte, sprach ich bald deutsch. Das Ungarische kam später hinzu. (Sebestyén, 1986, 51–52, Kursivierung im Original, vgl. Schwaiger zu Sebestyén in diesem Band)

Canetti ging im ersten Teil seiner Autobiografie, Die gerettete Zunge, der im Jahr 1977 zum ersten Mal erschien, noch weiter und erklärte das Deutsche zu seiner eigentlichen Muttersprache. Das ganze Kapitel „Deutsch am Genfersee“ ist dem Erlernen der deutschen Sprache von seiner Mutter gewidmet. In seiner Erinnerung las sie ihm die deutschen Sätze und deren englische Übersetzungen vor, lies

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ihn die deutschen Sätze wiederholen, bis er sie richtig aussprach, und verlangte, dass er diese bis zum nächsten Tag lernte, ohne dass er sie irgendwo nachlesen konnte. Diese Szene fingiert das natürliche Erlernen einer Muttersprache, das allein dadurch geschieht, dass man diese von der Mutter hört. Und genauso bezeichnet Canetti sein Deutsch dann auch: „So zwang sie mich in kürzester Zeit zu einer Leistung, die über die Kräfte jedes Kindes ging, und daß es ihr gelang, hat die tiefere Natur meines Deutsch bestimmt, es war eine spät und unter wahrhaftigen Schmerzen eingepflanzte Muttersprache“ (Canetti, 1994, 90). Diese Aussagen, mit denen die beiden Autoren das Deutsche ganz im Sinne des Muttersprachenparadigmas zu ihrer Muttersprache erklären, lassen sich als Ausdruck der Nationalisierung der literarischen Felder lesen. Wie sich dieser Prozess in Österreich vollzog und welche Auswirkungen er hatte, soll im Folgenden kurz dargestellt werden.

Zur Nationalisierung des literarischen Feldes in Österreich in den 1970er und 1980er Jahren Die SchriftstellerInnen um den P. E. N.-Club, die im österreichischen Literaturbetrieb seit 1945 viele der entscheidenden Positionen innehatten und als traditionell galten, sahen sich von Anfang an von einer jüngeren Generation infrage gestellt, die erst nach 1945 zu schreiben begann. Zu dieser Generation zählten einerseits die formal avantgardistischen AutorInnen um die Wiener Gruppe wie H. C. Artmann, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker, andererseits politisch links orientierte AutorInnen wie Milo Dor und Ilse Aichinger, die sich kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzten. Doch diese jüngere Generation blieb in Österreich lange unsichtbar, weil es für sie kaum Veröffentlichungsmöglichkeiten gab und sie deswegen in Deutschland publizierte, wie das Beispiel Dor zeigt (vgl. Englerth zu Dor in diesem Band). In den 1960er Jahren begann sich jedoch Widerstand gegen diesen Ausschluss zu formieren, insbesondere mit dem Ziel, die AutorInnen um die Wiener Gruppe in Österreich sichtbarer zu machen. Mit der Etablierung des Forums Stadtpark im Jahr 1959 und der Zeitschrift manuskripte, die zur Eröffnung des Forums im November 1960 zum ersten Mal erschien, wurden Plattformen geschaffen, die die Sichtbarkeit dieser jüngeren AutorInnen in Österreich erhöhen sollten. Offener Widerstand gegen die ältere, um den österreichischen P. E. N.-Club versammelte Generation von AutorInnen drückte sich dann in der Gründung der Grazer Autorenversammlung im Jahr 1973 aus (Innerhofer, 1985; Schößler, 2006, 59–65). In diesem Zusammenhang wurde die ältere Generation offen für die Unsicht-

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barkeit ihrer jüngeren KollegInnen verantwortlich gemacht: „Jandls Erklärung brachte auch den jüngeren Autoren zu Bewußtsein, daß ihr Gastarbeiter-Dasein in Westdeutschland und ihre ökonomisch miese Existenz in Österreich ein von den heimischen Cliquen erzwungenes ist“ (Ernst und Zenker, 1974, 26). Dies war die Ausgangssituation für das, was ich die Nationalisierung des literarischen Feldes in Österreich nenne. In den 1970er und 1980er Jahren bildeten sich mit finanzieller Unterstützung der sozialdemokratischen Regierung, die seit 1970 im Amt war, umfassende literarische Strukturen in Österreich heraus. In dieser Zeit kam es zu einer Welle von Gründungen von Literaturzeitschriften und Verlagen, die jungen österreichischen AutorInnen Veröffentlichungsmöglichkeiten bieten wollten, und es entstand eine Fülle an Literaturpreisen, -stipendien und -förderungen, die den AutorInnen finanzielle Unabhängigkeit ermöglichen sollten (Kriegleder, 2011, 486–490). Damit einher ging eine „Tendenz zur Abschottung; die österreichische Literaturszene war und blieb ein allzu geschlossenes Feld, innerhalb dessen eine kleine Gruppe von Literaturproduzenten und Juroren, oft in Personalunion, agierte“ (Kriegleder, 2011, 490). Hinzu kam, dass sich auch die Literaturwissenschaft zunehmend auf Österreich konzentrierte, indem sie zum Beispiel die Geschichte der österreichischen Literatur zu schreiben begann, wobei die institutionellen Grundlagen für ein solches Projekt, wie regionale Literaturarchive und Schwerpunkt-Lehrstühle an österreichischen Universitäten, zum Teil schon in den 1950ern und 1960ern geschaffen worden waren (Fackelmann, 2011, XIV). Wie stark sich die literarischen Strukturen in Österreich in diesen Jahren nationalisierten, lässt sich an den Netzwerken ablesen, in denen zugewanderte AutorInnen zu unterschiedlichen Zeiten in Österreich agierten. Betrachtet man zum Beispiel das literarische Netzwerk Elias Canettis seit seiner ersten Veröffentlichung im Jahr 1928, so zeigt sich, dass dieses einen Raum von Graz bis Stockholm und von Rotterdam bis Budapest umfasste (vgl. Abbildung 1). Zentren dieses Netzwerks waren Wien, wo Canetti sich über Lesungen unter KollegInnen einen Namen machen konnte, und Berlin, wo unter anderem seine Übersetzungen des zeitgenössischen amerikanischen Autors Upton Sinclair erschienen. Doch auch als er nicht mehr in Berlin publizieren konnte, blieb sein Netzwerk weiterhin transnational, das zeigt die Veröffentlichung seines Romans Die Blendung (1936), der schließlich bei Herbert Reichner in Wien erschien. Diese kam nur zustande, weil Canetti in Zürich vor James Joyce gelesen hatte, was wiederum Stefan Zweig so beeindruckte, dass er ihn an Reichner vermittelte. Gleichzeitig fand Canetti in Straßburg einen Mäzen für diese Veröffentlichung, die aufgrund der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland ein großes Risiko für den kleinen Verlag darstellte und ohne zusätzliche Mittel des-

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Elias Canettis Netzwerk, 1928-1937 Veröffentlichungen Lesungen

Stockholm

Förderer Rezensionen

Rotterdam

Berlin

Frankfurt a.M.

Prag Brünn

Straßburg

Wien

Basel Zürich

0

100

300

Graz

Budapest

500 km

Kartographie: Florian Partl

Abbildung 1: Das literarische Netzwerk Elias Canettis, 1928–1937. Quelle: Daten aus dem Projekt Literature on the Move, http://www.litmove.oeaw.ac.at/

wegen nicht möglich gewesen wäre. Rezipiert wurde das Buch nicht nur in Prag, Brünn und Budapest, wo es zu dieser Zeit noch deutschsprachige Zeitungen gab, sondern auch über den deutschsprachigen Raum hinaus in Rotterdam und Stockholm (vgl. Sievers zu Canetti in diesem Band). In den 1990er Jahren dagegen, in denen zugewanderte AutorInnen in Österreich wieder an Bedeutung gewannen, worauf im folgenden Abschnitt noch genauer eingegangen wird, fokussierten sich die literarischen Netzwerke dieser AutorInnen viel stärker auf Österreich. Also gerade jene AutorInnen, die heute als GrenzüberschreiterInnen gelten, etablierten sich sehr stark in nationalen literarischen Strukturen. Das zeigt zum Beispiel das literarische Netzwerk Vladimir Vertlibs, der 1966 in Leningrad geboren wurde und 1972 zum ersten Mal nach Österreich kam, wo er dann nach einer langen Odyssee durch verschiedenste Länder ab 1981 kontinuierlich lebte. Er war einer der Ersten, der als zugewanderter Autor nach der langen Phase der Nationalisierung im österreichischen Literaturbetrieb wieder Anerkennung fand. Auch in diesem Fall betrachte ich wie bei Canetti nur die zehn Jahre nach Vertlibs erster Publikation im Jahr

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Vladimir Vertlibs Netzwerk, 1993-2002 Veröffentlichungen Förderer und Preise

Hamburg

Rezensionen

Bremen Berlin

Leipzig

Frankfurt a.M.

Stuttgart

Passau

München Zürich

0

100

200

Innsbruck

Linz

Wien

Salzburg Schwarzach Klagenfurt

300 km

Kartographie: Florian Partl

Abbildung 2: Das literarische Netzwerk Vladmir Vertlibs, 1993–2002. Quelle: Daten aus dem Projekt Literature on the Move, http://www.litmove.oeaw.ac.at/

1993 in Wien, das neben Salzburg Zentrum seiner Veröffentlichungen bleiben sollte (vgl. Abbildung 2). Erst später erschienen kleinere Texte in München, Stuttgart und Berlin. Auch die Rezeption seiner Werke war zunächst stark auf Österreich beschränkt, einzige Ausnahme ist Zürich. Nur sehr langsam wurden Vertlibs Texte in Deutschland wahrgenommen, wofür seiner Meinung nach die Verleihung des Förderpreises des Adelbert-von-Chamisso-Preises im Jahr 2001 verantwortlich war (Interview Vertlib). Damit schreibt Vertlib diesem Preis für zugewanderte AutorInnen in Österreich eine weitaus größere Bedeutung zu als für dieselbe Gruppe in Deutschland, auch wenn er sich der nicht nur anerkennenden, sondern auch ausgrenzenden Funktion dieses Preises, der Mitte der 1980er Jahre in München für deutsch schreibende AutorInnen nichtdeutscher Muttersprache ins Leben gerufen wurde, durchaus bewusst ist (Vertlib, 2007, 159–161). Abgesehen vom literarischen Feld nationalisierte sich auch die Vorstellung davon, was unter österreichischen AutorInnen zu verstehen ist. Förderungen

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und Preise, zum Beispiel, standen lange Zeit nur österreichischen StaatsbürgerInnen offen. Aber auch Zeitschriften und Verlage scheinen nicht mehr die gleiche transnationale Offenheit für ZuwanderInnen bewiesen zu haben, wie sie noch in den 1950ern herrschte. Eine Konsequenz dieser Abschottung war, dass aus einer der nachhaltigsten Zuwanderungsbewegungen der Nachkriegszeit, der Arbeiterzuwanderung aus der Türkei und Jugoslawien seit den späten 1960er Jahren, anders als in Deutschland keine sichtbare Literatur hervorging (Sievers, 2008). Zwar zeigt sich in einer Untersuchung, dass auch diese Zuwanderer schon in den 1970ern Literatur zu schreiben begannen und ihre Werke in Kulturvereinen vortrugen, doch nur wenige dieser Texte wurden in Österreich veröffentlicht und das auch erst seit Mitte der 1980er Jahre (Ivanković, 2009). Dieser Ausschluss könnte zum Teil soziale Gründe gehabt haben, aber er hing wahrscheinlich gleichzeitig mit der steigenden Bedeutung des Muttersprachenparadigmas zusammen, auch wenn das für die 1960er und 1970er Jahre schwer zu belegen ist. Doch viele der zugewanderten AutorInnen, die ab den 1990ern in Österreich zu schreiben begannen, berichten von Ausgrenzung aufgrund ihrer Herkunft. So erklärte Dimitré Dinev in einem Interview: „Eines macht mich aber wirklich traurig. Obwohl ich auch auf Deutsch schreibe, findet meine Arbeit in Österreich unter meinem eigenen Namen keine Beachtung – auf Grund meiner Herkunft!“ (Stippinger, 2000, 42). Und auch Vertlib beschreibt in einem essayistischen Text, der 2001 zum ersten Mal erschien, wie eine Lektorin einen seiner Texte vor allen Dingen aufgrund der sprachlichen Mängel ablehnte: Regina bemängelte nicht nur den Inhalt meiner Geschichte, sondern vor allem die zahlreichen „sprachlichen Freiheiten“, die ich mir bezüglich Rechtschreibung, Grammatik, Interpunktion und Idiomatik erlaubt hatte. Da Deutsch nicht meine Muttersprache ist, empfand ich gerade diesen Hinweis auf sprachliche Unzulänglichkeiten als ziemlich desillusionierend. War es vielleicht doch anmaßend, als Zuwanderer in diesem Land nicht etwa Hilfsarbeiter, Taxifahrer oder Straßenkehrer, sondern ausgerechnet Schriftsteller werden zu wollen, und das auch noch in der Sprache der Einheimischen? Ich beschloss zu warten und zu „reifen“. (Vertlib, 2012, 30)

Nun ließe sich natürlich behaupten, dass der Grund für diese Ablehnung die Tatsache war, dass Vertlib die deutsche Sprache tatsächlich nicht ausreichend beherrschte. Doch ein Vergleich mit dem Beispiel György Sebestyéns spricht gegen diese These. Sebestyén lernte schon als Kind Deutsch, wie oben erläutert, schrieb jedoch seine ersten Texte in ungarischer Sprache, um sie dann für die Veröffentlichung ins Deutsche zu übersetzen. Diese Übersetzung war für

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ihn eine genauso leidvolle Erfahrung wie anfänglich das Schreiben in deutscher Sprache, das zeigen viele Dokumente aus seinem Nachlass (vgl. Schwaiger zu Sebestyén in diesem Band). Zitiert sei hier nur ein Ausschnitt aus einem Brief aus dem Jahr 1965, der dokumentiert, wie schwer Sebestyén sich mit der deutschen Grammatik tat: „verflucht seien alle meine Ammen und Erzieherinnen aus dem Riesengebirge und aus der Lüneburger Heide, die mir zwar das Reden beigebracht haben, nicht aber die Syntax!“6 Dennoch stellte keine der Personen aus dem Literaturbetrieb, die Sebestyéns Autorwerdung förderten, jemals infrage, dass Sebestyén in deutscher Sprache schreiben kann. Vielmehr unterstützten sie ihn dabei, seine Texte in korrektes Deutsch zu bringen. Vertlibs Erlebnis dagegen zeigt, dass das in seinem Fall sehr wohl infrage gestellt wurde. Dabei besuchte er drei Jahre die Volksschule, lernte also früher Deutsch als zum Beispiel Elias Canetti, und absolvierte mit nur kleinen Unterbrechungen auch fast die gesamte gymnasiale Ausbildung in Wien, wo er anschließend auch studierte. Es ist also davon auszugehen, dass sein Deutsch bedeutend besser war als Sebestyéns, dass sich also in der Ablehnung seines Textes tatsächlich der Einzug des Muttersprachenparadigmas in den österreichischen Literaturbetrieb manifestierte. Den genannten Argumenten für eine Nationalisierung des österreichischen Literaturbetriebs, die in den 1970er und 1980er Jahren zum Ausschluss zugewanderter AutorInnen führte, ließe sich entgegenhalten, dass sich gerade in dieser Phase eine kritische Auseinandersetzung mit Österreich, insbesondere in Bezug auf seine nationalsozialistische Geschichte, im Literaturbetrieb durchzusetzen begann. Zwar hatten schon AutorInnen wie Milo Dor auf Österreichs nationalsozialistische Vergangenheit verwiesen. Doch diese frühe Kritik wurde zunächst abgewiesen (vgl. Englerth zu Dor in diesem Band) und fiel dann dem Vergessen anheim, das mit der zunehmenden Verbreitung des Mythos, Österreich sei das erste Opfer der Deutschen gewesen, einsetzte (Uhl, 2001). Im literarischen Feld wurde dieses Vergessen von Akteuren durchgesetzt, die schon in der Zwischenkriegszeit zu schreiben begonnen hatten und nahtlos an diese Tradition anschlossen, darunter auch AutorInnen, die im Austrofaschismus bzw. im Nationalsozialismus als MitläuferInnen galten (vgl. Schwaiger zu Sebestyén in diesem Band). Erst mit dem Wandel im literarischen Feld in den 1970ern gelang es AutorInnen wie Peter Turrini, Thomas Bernhard und Marie-Thérèse Kerschbaumer, die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Österreich auch nachhaltig in den Literaturbetrieb einzubringen. Doch auch diese Kritik an Österreich, die seit den 1970ern hörbar wird, bedeutet eine Fokussie6

Brief vom 9. Juni 1965 von G. Sebestyén an G. Groll, Nachlass Sebestyén, Literaturarchiv, Österreichische Nationalbibliothek (vgl. Schwaiger zu Sebestyén in diesem Band).

Grenzüberschreitungen

rung auf die Nation Österreich. Dieser Widerspruch drückt sich exemplarisch in einer Aussage Konstantin Kaisers aus dem Jahr 1991 aus. Kaiser kann mit seinem Einsatz für die Exilliteratur als Kritiker des Verdrängens der österreichischen Beteiligung am Nationalsozialismus gelten, sieht aber den Patriotismus in der österreichischen Literatur, wie er diesen nennt, durchaus positiv: Die österreichische Literatur hat sich in den letzten zwanzig Jahren gegenläufig zum jetzt vorherrschenden Geist der Selbstaufgabe entwickelt. Vielleicht hat sie, mit akademischer Verspätung, so nur nachvollzogen, was die Ära Kreisky an steigendem Selbstbewußtsein der Österreicher bewirkt hatte. Die österreichische Literatur, es klingt grauenhaft, ist patriotischer geworden, als sie es je war. Die Vereinigung Deutschlands wird sie sogar darin bestärken. (Kaiser, 1991)

Die Fokussierung auf Österreich in den 1970er und 1980er Jahren, mit denen sich die nationalen Grenzen auch literarisch determinierten, erklärt wiederum, warum die Verweise über die Grenzen Österreichs hinaus in den Texten zugewanderter AutorInnen seit den 1990ern als grenzüberschreitend wahrgenommen wurden. Denn eine Grenzüberschreitung bedarf immer einer vorherigen Konstituierung von Grenzen. Gleichzeitig führte die kritische Auseinandersetzung mit der österreichischen Geschichte zusammen mit der großzügigen Förderung vielfältiger Strukturen in der Literatur in den 1980ern zu einer erhöhten Wahrnehmung der ethnischen und sprachlichen Vielfalt innerhalb der österreichischen Literatur, wie sie auch für Deutschland ab den 1960ern beobachtet wurde (Tommek, 2015). Mit der Veröffentlichung des Romans Zmote dijaka Tjaža (1972) von Florjan Lipuš in der deutschen Übersetzung von Peter Handke und Helga Mračnikar im Jahr 1981 (Lipuš, 1981) begann ein „Goldenes Dezennium“ für die Literatur der Kärntner Slowenen in Österreich (Hafner, 2009, 140). Damit einher ging auch eine Öffnung zur Mehrsprachigkeit, wie eine erste mehrsprachige Anthologie der Lyrik autochthoner Minderheiten in Österreich zeigt (Nitsche, 1990). In den 1990ern machte dann eine neue Generation jüdischer Autoren wie Robert Schindel und Doron Rabinovici auf sich aufmerksam, die sich zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg mit dem latenten Antisemitismus in Österreich auseinandersetzte (Beilein, 2008a). Der Prozess der erneuten Anerkennung zugewanderter AutorInnen in der österreichischen Literatur, der in den frühen 1990er Jahren einsetzte, kann auf diese Diversifizierung aufbauen. So engagierten sich insbesondere Minderheitenverlage wie Drava für diese AutorInnen, und die junge Generation jüdischer AutorInnen bietet auch zugewanderten jüdischen Autoren wie Vladimir Vertlib Anknüpfungspunkte. Doch der Anlass für

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das erneute Engagement für zugewanderte AutorInnen im Literaturbetrieb ist politischer Natur, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

Zur Überwindung der Ausgrenzung zugewanderter AutorInnen in Österreich seit den 1990er Jahren und den weiterhin existierenden Grenzen Wie bereits angedeutet, beginnen sich die literarischen Strukturen in Österreich in den 1990er Jahren langsam wieder für zugewanderte AutorInnen zu öffnen (vgl. zu diesen Veränderungen Sievers, 2008; Sievers und Vlasta, 2017a). Ausschlaggebend für diese Entwicklung war die zunehmende Politisierung der Zuwanderung in dieser Zeit. Vor den 1990ern wurde Migration in Österreich nicht in der Öffentlichkeit debattiert. Die Flüchtlinge aus Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen waren mehr oder weniger willkommen, nicht nur weil sie die Überlegenheit des Kapitalismus gegenüber dem Kommunismus bestätigten, sondern auch weil die meisten von ihnen nicht in Österreich blieben. Die Regulierung der ArbeiterInnenzuwanderung dagegen wurde unter den Sozialpartnern ausgehandelt (Bauböck und Perchinig, 2006). Auch in den Medien wurde lange die Nützlichkeit der Zuwanderung betont und gleichzeitig in einem humanistischen Ton auf die migrantischen Wurzeln vieler ÖsterreicherInnen verwiesen. Bestes Beispiel dafür war das Kolarić-Plakat aus dem Jahr 1973, auf dem ein Kind in Lederhosen fragend zu einem Erwachsenen südländischen Aussehens aufschaut. Mit dem daneben stehenden Text wird auf die gemeinsamen Wurzeln und die doch unterschiedliche Behandlung dieser beiden Personen verwiesen: „I haaß Kolarić / du haaßt Kolarić / Warum sogns’ zu dir Tschusch?“ Erst seit 1989 setzte sich zunächst in der Kronen Zeitung ein rassistischer Diskurs durch, der Zuwanderung vor allem stark mit Kriminalität in Verbindung brachte (Fischer, 2009). Dieser zog mit der Übernahme der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) durch Jörg Haider im Jahr 1986 auch in die Politik ein. In Reaktion auf die steigende Zuwanderung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mobilisierte die FPÖ mit einem Volksbegehren unter dem Titel „Österreich zuerst“ für einen Einwanderungsstopp und die Beschränkung der Rechte in Österreich lebender Ausländer. Gegen diese Initiative formierte sich Widerstand, nicht nur parteipolitischer Natur, insbesondere vonseiten der Grünen, sondern auch aus der Zivilgesellschaft, die mit dem Lichtermeer im Jänner 1993 eine der größten Demonstrationen der Zweiten Republik organisierte. Auch SchriftstellerInnen engagierten sich in dieser Zeit auf unterschiedliche Weise gegen diese aufkommende Fremdenfeindlichkeit. So war einer der Vor-

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stände der Nichtregierungsorganisation SOS Mitmensch, die das Lichtermeer organisierte, der Autor Josef Haslinger. Andere AutorInnen, wie Ruth Beckermann, Barbara Frischmuth und Doron Rabinovici, traten in den Medien und in literarischen Texten gegen die wachsende Fremdenfeindlichkeit auf (Michaels, 2003). Gleichzeitig begannen verschiedenste Akteure im literarischen Feld vermehrt ZuwanderInnen zu publizieren. Die Zeitschrift Mit der Ziehharmonika, die sich für eine größere Sichtbarkeit der Exilliteratur in Österreich einsetzte, begann ab 1993 mit Vladimir Vertlibs „Das Bett“ (1993) erste Texte von zugewanderten AutorInnen zu veröffentlichen. Ein ähnlicher Trend lässt sich auch in der Zeitschrift Literatur und Kritik beobachten, die im Jahr 1995 zusätzlich einen Schwerpunkt mit dem Titel „Fluchtpunkt Österreich“ gestaltete (Gauß, 1995). Auch Verlage wie Drava und Kitab setzten sich vermehrt für zugewanderte AutorInnen ein und ermöglichten unter anderem einem Autor wie Stanislav Struhar, seine Werke zu veröffentlichen (vgl. Schwaiger zu Struhar in diesem Band). Zu den bekanntesten Aktivitäten zur Förderung von zugewanderten AutorInnen im österreichischen Literaturbetrieb ist jedoch der Literaturpreis „schreiben zwischen den kulturen“ avanciert, der seit 1997 ausgewählte Einreichungen von AutorInnen auszeichnet, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Dieser Preis diente vielen inzwischen sehr bekannten AutorInnen wie Dimitré Dinev und Julya Rabinowich als Sprungbrett (Schwaiger, 2016). Und er hatte auch für viele weniger bekannte AutorInnen wie zum Beispiel Seher Çakır und Ilir Ferra entscheidende Bedeutung für ihre literarische Laufbahn (vgl. Englerth zu Çakır und Ferra in diesem Band). Schließlich begann sich auch die Literaturwissenschaft in dieser Zeit für zugewanderte AutorInnen zu interessieren, wie eine Sondernummer der Informationen zur Deutschdidaktik dokumentiert (Griesmayer und Wintersteiner, 1996). Viele dieser Aktivitäten blieben jedoch zunächst weitgehend unsichtbar für die weitere Öffentlichkeit. Das änderte sich erst im neuen Jahrtausend. 2001 erhielten Vladimir Vertlib und Radek Knapp den Förderpreis des Adelbertvon-Chamisso-Preises. 2003 veröffentlichte der Deuticke Verlag Dimitré Dinevs Roman Engelszungen, der nicht nur in der österreichischen, sondern auch in der deutschen Literaturkritik sehr positiv aufgenommen wurde. 2009 wurde Julya Rabinowich für ihren Debütroman Spaltkopf (2008)der Rauriser Literaturpreis verliehen. Im selben Jahr wurde mit dem Hohenemser Literaturpreis auch in Österreich ein Preis für deutschsprachige AutorInnen nichtdeutscher Muttersprache eingerichtet. Zudem begann man sich ab der Jahrtausendwende im Theaterbereich für zugewanderte SchriftstellerInnen zu interessieren. Vermittelnd agieren in diesem Bereich die wiener wortstaetten, die Stipendien für das Schreiben von Theaterstücken vergeben, die daraus resultierenden Texte ver-

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öffentlichen und durch ihre enge Kooperation mit dem Volkstheater Wien und dem Theater Nestroyhof Hamakom teils auch Aufführungen dieser Stücke initiieren. Die wortstaetten arbeiten dabei eng mit dem verein exil zusammen und vergeben seit 2007 einen DramatikerInnenpreis im Rahmen des Wettbewerbs „schreiben zwischen den kulturen“. Wie bereits erwähnt, war der langsame Prozess der erneuten Anerkennung zugewanderter AutorInnen nicht nur von Grenzüberschreitungen gekennzeichnet, sondern auch von Anpassung. Das illustrieren auch die Kapitel zu den weniger bekannten zugewanderten GegenwartsautorInnen in diesem Band. Von besonderem Interesse ist dabei Ilir Ferra, der 1991 aus seinem Geburtsland Albanien nach Österreich flüchtete. Ferra passte sich bewusst den Anforderungen an zugewanderte AutorInnen an, um einen Preis im Wettbewerb „schreiben zwischen den kulturen“ zu gewinnen, was ihm 2008 auch gelang. Wie stark so ein Preis auch eigene Normen für diese Literatur setzt, hat schon Silke Schwaiger in ihrer Dissertation gezeigt (Schwaiger, 2016). Dass ein Autor sich solcher Normen bewusst bedient, um im Literaturbetrieb Fuß zu fassen, aber dann gegen diese Normen anzuschreiben, ist neu (vgl. Englerth zu Ferra in diesem Band). Doch besonders deutlich zeigen die Kapitel zu den GegenwartsautorInnen in diesem Band, dass auch heute noch viele Grenzen für zugewanderte AutorInnen im österreichischen Literaturbetrieb bestehen. Andauernde Grenzziehungen zeigen sich insbesondere im Bereich der Mehrsprachigkeit, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zum einen ist die Literatur bei Weitem nicht so mehrsprachig wie die Realität. So bestand die Schulklasse Seher Çakırs, die 1983 mit ihren arbeitssuchenden Eltern aus der Türkei nach Wien kam, mehrheitlich aus Zuwanderern. Diese stammten vor allem aus Jugoslawien, was zur Folge hatte, dass Grundkenntnisse des Serbokroatischen für den Austausch mit den MitschülerInnen wichtiger waren als die deutsche Sprache. In Seher Çakırs Texten spiegelt sich diese mehrsprachige Realität jedoch nicht wider. Ihre Texte sind fast durchgängig in deutscher Sprache geschrieben, nur selten finden sich Ausdrücke in einer anderen Sprache, die zudem immer übersetzt werden. Çakır ist es ein Anliegen, verstanden zu werden: „Wenn ich türkische Idiome in einer deutschsprachigen Geschichte für ein deutschsprachiges Publikum verwende, dann möchte ich, dass es alles versteht. Wenn ich türkische Wörter einfließen lasse, kann ich nicht davon ausgehen, dass jeder Leser Türkisch spricht.“7 Das heißt, die Autorin passt sich bewusst an den einsprachigen Literaturbetrieb an (vgl. Englerth zu Çakır in diesem Band). Diese Anpassung lässt sich auch bei Ilir Ferra beobachten. Er 7

Dieses Zitat stammt aus einem Interview, das Holger Englerth am 15. Februar 2015 in Wien mit Seher Cakır führte (vgl. Englerth zu Cakır in diesem Band).

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behauptet zwar, er würde versuchen, die Mehrsprachigkeit der Welt widerzuspiegeln, streut dann aber doch nur vereinzelt Worte ein, die er allerdings, anders als Çakır, unübersetzt stehen lässt, um auf die Grenzen der Sprache aufmerksam zu machen (vgl. Englerth zu Ferra in diesem Band). Seher Çakırs weniger bekannte Gedichte zeigen jedoch, welche neuen Möglichkeiten Mehrsprachigkeit in der Literatur eröffnet (vgl. Englerth zu Çakır in diesem Band). Doch bei der Anerkennung von Mehrsprachigkeit in der Literatur geht es nicht nur um die Frage, ob diese innerhalb literarischer Texte möglich ist und von den AutorInnen kreativ eingesetzt wird. Es geht noch weitergehend um die Frage, ob auch AutorInnen, die nicht in deutscher Sprache schreiben, in Österreich als AutorInnen Anerkennung finden können. Diese Frage mag aus der Sicht nationalisierter Literaturbetriebe, die per se monolingual ausgerichtet sind, überraschen. Doch es gibt sehr wohl Beispiele von literarischer Förderung in der jeweiligen Muttersprache der MigrantInnen, so zum Beispiel in Schweden, wo Mehmed Uzun in kurdischer Sprache zu einem Autor avancierte, der auch schwedische Preise erhielt (Sievers, 2016). In Österreich existieren solche Förderungen nicht. Und auch im Verlagswesen stoßen AutorInnen, die nicht in deutscher Sprache schreiben, immer noch auf deutlich höhere Hürden als ihre deutsch schreibenden KollegInnen, wie die schriftstellerische Laufbahn von Stanislav Struhar dokumentiert, der 1988 aus der Tschechoslowakei nach Österreich flüchtete. Struhar schrieb zunächst in tschechischer Sprache und versuchte seine Texte in deutscher Übersetzung in Österreich zu veröffentlichen. Nachdem er damit jedoch immer wieder scheiterte, wechselte er ins Deutsche, was ihm den Zugang zu Verlagen und Geldern erleichterte. In zwei Werken, Das Manuskript (2002) und Eine Suche nach Glück (2005), hält Struhar diese Erfahrungen auch literarisch fest. In wohl keinem anderen Werk findet sich eine so deutliche Auseinandersetzung mit Ausgrenzung im österreichischen Literaturbetrieb (vgl. Schwaiger zu Struhar in diesem Band). Tanja Maljartschuk, die 2011 aus der Ukraine zu ihrem Mann nach Österreich zog, hatte es insofern leichter, als sie schon in der Ukraine als Autorin bekannt und in deutscher Übersetzung bei einem österreichischen Verlag erschienen war, bevor sie nach Österreich kam. Gleichzeitig wird sie noch stärker als Struhar auf ihre Herkunft verwiesen, weil sie weiterhin in Ukrainisch schreibt und deswegen nicht einmal als „Migrationsliteratur“ wahrgenommen wird, geschweige denn als österreichische Autorin. Ihr Verlag und ihre Rezeption positionieren sie weiterhin als Repräsentantin der Ukraine. Und auch in der wissenschaftlichen Debatte zu Literatur und Migration kommt ihr Name nicht vor. Doch gerade ihr Beispiel erweitert unseren Blick auf diese Literatur um noch einen Aspekt, der bisher in der Forschung keine Beachtung findet. Es zeigt

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nämlich, dass das Dazwischen, das für diese Literatur immer wieder konstatiert wird, lange vor der Migration bzw. dem Sprachwechsel einsetzen kann. Das gilt insbesondere für kleine Literaturen, wie die ukrainische, die nur über wenige LeserInnen verfügt und kaum staatliche Förderungen für SchriftstellerInnen kennt. Deswegen sind literarische Laufbahnen wie jene Maljartschuks von Anfang an transnational ausgerichtet, indem diese AutorInnen zum Beispiel in Polen um Gelder ansuchen oder mit der Übersetzung ins Deutsche eine weitere LeserInnenschaft zu erschließen hoffen. Dieses Dazwischen findet sich auch in einem Text wie Maljartschuks Roman Biografie eines zufälligen Wunders (2013), dessen Protagonistin den Prozess des Wandels in der Ukraine seit 1990 aus der Position einer Außenseiterin, wenn auch nicht einer Zuwanderin, kritisch reflektiert. Am Ende entschwindet die Figur auf unerklärliche Weise, was als die Unterdrückung dieser Stimme gedeutet werden könnte, aber auch als die Auswanderung der Figur (vgl. Schwaiger zu Maljartschuk in diesem Band). Solche ausgrenzenden Zuschreibungen, wie sie Maljartschuk in ihrer Fremdpositionierung durch Verlage und Medien in Österreich erfährt, sind nicht auf AutorInnen beschränkt, die in deutscher Übersetzung erscheinen. Auch Seher Çakır und Ilir Ferra sehen sich in ihren schriftstellerischen Laufbahnen mit der „Last der Repräsentation“ konfrontiert. Gerade für Çakır scheint das überraschend, kommt sie doch aus einem Land, das mit Österreich durch eine lange Zuwanderungsgeschichte verbunden ist. Dennoch sind aus der Gruppe der türkischen ZuwanderInnen und ihrer Nachfahren bisher so wenige AutorInnen hervorgegangen, dass Çakır, die in den 1990ern zu veröffentlichen begann, als repräsentativ für diese Gruppe gelesen wird. Insbesondere in jenen Kreisen, die sich mit Migration beschäftigen, hat das zur Folge, dass in ihren Texten zum Teil eine Verunglimpfung dieser Gruppe vermutet wird, beschäftigt sie sich doch mit Themen wie patriarchale Gewalt, Zwangsehen oder Ehrenmord, die immer wieder auch als Stereotype in einem islamophoben Diskurs zitiert werden, der sich lange hauptsächlich gegen Zuwanderer aus der Türkei richtete (Strasser und Holzleithner, 2010, 10). Die literarische Gestaltung ihrer Texte rückt dabei völlig in den Hintergrund und wird deswegen in diesem Band auch bewusst ausführlich diskutiert (vgl. Englerth zu Çakır in diesem Band). Auch Ilir Ferras Werk wird als Einblick in fremde Welten gelesen, was in seinem Fall schon im Veröffentlichungsprozess dazu führt, dass die narrative Reflektiertheit seiner Werke übersehen wird. Mehrere LektorInnen versuchten diese Elemente aus seinen Texten zu streichen, damit diese den von ihm als Zuwanderer erwarteten Einblick in die albanische Realität unter Enver Hoxha oder in ein von Zuwanderern bevölkertes Wettlokal in Wien gewähren (vgl. Englerth zu Ferra in diesem Band). Zugewanderte AutorInnen werden also, auch zwei Jahrzehnte nachdem

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der Prozess ihrer erneuten Anerkennung im österreichischen Literaturbetrieb einsetzte, noch nicht mit derselben Selbstverständlichkeit aufgenommen wie in den 1950ern. Vielmehr befindet sich der Literaturbetrieb diesbezüglich noch immer in einem Lernprozess, in dem Anerkennung mit weiterer Ausgrenzung einhergeht.

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Beheimatung in der transnationalen deutschsprachigen Kulturnation und Analyse ihres Zerfalls: Elias Canettis Wiener Zeit Elias Canetti wechselte zwischen seiner Geburt in Rustschuk in Bulgarien im Jahr 1905 und seiner Flucht vor den Nationalsozialisten aus Österreich im Jahr 1938 fünf Mal das Land und drei Mal die alltägliche Umgangssprache. Im multikulturellen Rustschuk lernte Canetti die Familiensprache Ladino, das Spanische der Sepharden sowie die Landessprache Bulgarisch. Mit sechs Jahren übersiedelte er mit seinen Eltern nach Manchester, wo sein Vater von einem Schwager eine Stelle angeboten bekommen hatte. Für zwei Jahre wurde Englisch nicht nur die Sprache seiner ersten Schul- und Leseerfahrungen, sondern auch Vatersprache, denn der Vater kommunizierte mit ihm auf Englisch, um ihm das Erlernen der Sprache zu erleichtern. Daneben lernte er auf Wunsch der Mutter Französisch. Nach dem plötzlichen Tod des Vaters im Jahr 1913 migrierte die Familie nach Wien. Von diesem Zeitpunkt an wurde Deutsch Canettis Alltagssprache, wobei in der Familie neben Deutsch weiterhin Ladino, Englisch und Französisch gesprochen bzw. gelesen wurden. Doch auch im Deutschen sah Canetti sich durch weitere Umzüge damit konfrontiert, die Sprache in ihren verschiedenen Variationen neu erlernen zu müssen. 1916 floh die Familie vor dem Krieg nach Zürich, 1921 zog sie auf Geheiß der Mutter nach Frankfurt am Main. 1924 schließlich kehrte Canetti zum Studium zurück nach Wien, wo er die nächsten 14 Jahre lebte (vgl. Ferguson, 1997; Hanuschek, 2005). Betrachtet man diese mehrsprachige Migrationsbiografie vor dem Stand der Forschung zu Migration und Literatur in der Gegenwart, so würde man erwarten, dass sich Migration und Mehrsprachigkeit in Canettis literarischem Werk niederschlagen (Schneider-Özbek, 2012; Sievers, 2009). Doch im Folgenden wird sich zeigen, dass diese gerade in den Wiener Werken, die am direktesten an seine frühen Migrationserfahrungen anschließen, kaum Spuren hinterlassen. Der Roman Die Blendung (1936) sowie die Dramen Hochzeit (1932) und Komödie der Eitelkeit (1964), die in dieser Reihenfolge in den frühen 1930er Jahren in Wien entstanden, sind in Wien angesiedelt und kaum von Migration geprägt. Einige der Figuren in diesen Werken sind zwar mehrsprachig, aber andere Sprachen als Deutsch kommen nur selten vor. Selbst Canettis Übersetzungen des zeitgenössischen US-amerikanischen Autors Upton Sinclair, die man grundsätzlich als Ausdruck seiner Mehrsprachigkeit interpretieren könnte,

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dokumentieren in ihrem spezifischen Zugang zum Übersetzen einen Hang zur Einsprachigkeit. Diese Unsichtbarkeit von Migration und Mehrsprachigkeit in Canettis frühen Werken überrascht umso mehr, als Canetti selbst diesen Erfahrungen in seiner Autobiografie viel Raum einräumte und sie damit als prägend für seine Laufbahn als Schriftsteller darstellte (Canetti, 1993b, 1994c). Zudem gelten diese Erfahrungen auch in seiner Rezeption schon in den späten 1940ern als Grundlage seiner kosmopolitischen Persönlichkeit: „Wer in drei Sprachen auf natürliche Weise, nämlich durch Herkunft und Werdegang, beheimatet ist, kommt von selbst zu einer Übernationalität, die jeden Weltbürgerpaß vorwegnimmt“ (mb., 1949).1 Diese Einschätzung teilen auch gegenwärtige Interpreten seiner Werke (vgl. zum Beispiel Durzak, 2013; Lorenz, 2004; Meyer, 2012). Doch die kosmopolitische Position Canettis begann sich erst nach seiner Flucht aus Wien nach London im Jahr 1938 zu entwickeln. So notierte er 1943: „Erst im Exil kommt man darauf, zu einem wie wichtigen Teil die Welt schon immer eine Welt von Verbannten war“ (Canetti, 1993a, 47). Im Exil wird Canetti das Deutsche als Schreibsprache weniger selbstverständlich (Canetti, 1993a, 59, 76, 90–91), mit Masse und Macht (1960) öffnete er sein Werk für andere Kulturen und Sprachen (Angelova, 2005, 114), in Die Stimmen von Marrakesch (1968) für Mehrsprachigkeit (Gellen, 2007) und in der Autobiografie schließlich für die eigene Migrationsgeschichte (Schneider-Özbek, 2012).2 Im Folgenden soll es um die Frage gehen, wie Canettis Wiener Zeit sich in dieses Selbst- und Fremdbild einfügt, das ihn als Menschen zeichnet, der nationale und kulturelle Identitäten von Kind an infrage gestellt sah. Dabei wird argumentiert, dass sich die Bedeutungslosigkeit von Mehrsprachigkeit und Migration in Canettis frühen Werken aus dem Erbe der Monarchie erklärt, das in Wien auch in der Zwischenkriegszeit noch nachwirkte. In dieser Zeit war Migration und Mehrsprachigkeit in Wien weiterhin Normalität, auch unter den Kulturschaffenden. Gleichzeitig war die Kultur selbst von einer Hegemonie des Deutschen geprägt. In diese transnationale deutschsprachige Kulturnation schrieb sich Canetti ein. Das spiegelt sich in seinem Netzwerk, das in Wien zentriert war, aber den gesamten deutschsprachigen Raum weit über die Grenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz hinaus umspannte. Canetti sah S. Fischer als idealen Verlag, um seine Werke in diesem transnationalen Raum zu positionieren, auch weil Fischer zu den ersten Verlegern im deutschsprachigen Raum zählte, die eine von wirtschaftlicher Rentabilität und politischer Einfluss1 2

Wer sich hinter dem Kürzel mb. verbirgt, konnte leider nicht eruiert werden. Diese neuen Ansätze wurden jedoch nicht immer als Öffnung verstanden, sondern teilweise auch als Orientalismus interpretiert (Ferguson, 1997).

Beheimatung in der transnationalen deutschsprachigen Kulturnation

nahme unabhängige Literatur zu etablieren versuchten, was auch Canetti sehr am Herzen lag, wie seine Autobiografie zeigt. Canettis Gedanken zu Heimat und Sprache in seinen frühen Aufzeichnungen wiederum illustrieren, dass er in dieser transnationalen deutschsprachigen Kulturnation Heimat als Möglichkeit und Einsprachigkeit als Chance sah – ganz anders als später im Exil. Das zeigt sich auch in seinen Werken, mit denen er sich in eine Tradition einschrieb, die seit Ferdinand Raimund die Wiener Sprache zur Grundlage ihrer literarischen Kreativität machte. Gleichzeitig sah er jedoch in diesen Werken auch das Ende dieser transnationalen Sprachgemeinschaft voraus, die seine Existenz als deutschsprachiger Schriftsteller erst ermöglichte. Er zeichnete in ihnen ein Bild von einer Gesellschaft, die am Egozentrismus und Unverständnis für andere zu zerbrechen drohte. Eine Überwindung dieser Bruchlinien sah er als nur in der Liebe möglich an, während er den Versuchen der zeitgenössischen Politik, diesen Brüchen mit einem neuen Menschenbild zu begegnen, äußerst kritisch gegenüberstand. Damit verlieh er schon in seinen Wiener Werken einer Distanz zur Politik Ausdruck, die er auch in seiner verlegerischen Positionierung für wichtig erachtete und die ihn später in seiner Autobiografie wichtige politische Kontakte in Wien aussparen ließ.

Multikulturalität und Mehrsprachigkeit vs. transnationale deutschsprachige Kulturnation: Die Zwischenkriegszeit in Wien Wien war in der Zwischenkriegszeit eine Stadt, die von Multikulturalität und Mehrsprachigkeit geprägt war. Diese Vielfalt ging auf den Anstieg der Migration in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Wien entwickelte sich in dieser Zeit zu einem Zentrum der Zuwanderung insbesondere aus anderen Teilen der Monarchie. Um 1900 war gut ein Drittel der 1,6 Millionen Einwohner Wiens in nicht primär deutschsprachigen Regionen der Monarchie geboren, darunter stammten 300.000 aus mehrheitlich tschechischsprachigen Gebieten der österreichischen Reichshälfte. Doch auch aus der ungarischen Reichshälfte lebten zu dieser Zeit gut 150.000 Personen in Wien, darunter 43.000 aus mehrheitlich slowakischsprachigen und 11.000 aus mehrheitlich kroatischsprachigen Gebieten. Dazu kamen noch Tausende aus kleineren Minderheiten, darunter Bulgaren, Italiener, Griechen und Türken, sowie die Nachfahren all dieser Zuwanderer, die in Wien geboren und deswegen statistisch nicht erfasst, aber oft mehrsprachig waren. Vonseiten der Politik allerdings stand diese kulturelle und sprachliche Vielfalt, auch aufgrund der nationalen Bewegungen in den Kronländern, unter großem Assimilationsdruck. So wurde den Tschechen in Wien

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sowohl der Minderheitenstatus als auch das Öffentlichkeitsrecht für ihre Schulen verweigert ( John, 1996, 137–140). Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Auflösung der Monarchie verlor Wien an Multikulturalität, weil viele Zuwanderer jetzt als Bürger anderer Staaten galten und aufgrund der katastrophalen Lebensmittelversorgung in Wien in diese zurückkehrten. Allein bei den Tschechen und Slowaken geht man von 140.000 bis 150.000 Repatriierungen aus (Bauböck, 1996, 4–5). Dennoch blieb das Erbe der Monarchie in Wien in der Zwischenkriegszeit erhalten. Auch 1924 waren noch gut 30 Prozent der Wiener Bevölkerung im Ausland geboren, und selbst 1934 lag dieser Anteil noch bei 23,9 Prozent ( John und Lichtblau, 1990, 15). Eine Gruppe zeigte dabei besonders geringes Interesse an der Rückkehr: die jüdischen Zuwanderer. Wien entwickelte sich aufgrund der Zuwanderung aus allen Teilen der Monarchie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Jahrhundertwende mit 146.926 Juden nach Warschau und Budapest zur drittgrößten jüdischen Stadt Europas ( John, 1996, 139). Im Ersten Weltkrieg nahm diese Zahl mit den Flüchtlingen aus Galizien weiter zu. Die neue österreichische Republik versuchte zwar, sich dieser zu entledigen. Dennoch wuchs die Wiener jüdische Bevölkerung bis 1923 auf 201.513 Personen (= 10,7 Prozent der Wiener Bevölkerung) an, wobei 57,7 Prozent von diesen im Ausland geboren waren – in der Gesamtbevölkerung Wiens war dieser Anteil zu diesem Zeitpunkt mit 29,9 Prozent nur ungefähr halb so hoch ( John und Lichtblau, 1990, 33–34, 15). Dass das Interesse an Rückkehr gerade unter der Wiener jüdischen Bevölkerung gering war, hing mit dem neuen Verständnis einer ethnisch, kulturell und sprachlich homogenen Abstammungsgemeinschaft in den Nachfolgestaaten der Monarchie zusammen: „Jews had not seen themselves – and had certainly not been seen by others – as part of the Volk, whether German, Czech or something else“ (Herzog, 2011, 99). Juden galten in vielen dieser Nachfolgestaaten schon allein deswegen als suspekt, weil sie sich in den Kämpfen um die nationale Anerkennung in der Monarchie zu Letzterer bekannt hatten. Doch auch in der neuen Republik Österreich waren Juden nicht im neuen Nationenverständnis inbegriffen. Das galt sowohl für die Deutschnationalisten, deren antisemitische Haltung sich schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts offenbarte und die sich 1918 für den Anschluss Österreichs an Deutschland aussprachen, als auch für jene, die die Herausbildung einer eigenen österreichischen Identität befürworteten (Herzog, 2011, 16; Silverman, 2012, 5). Eine der Reaktionen der Wiener jüdischen Bevölkerung auf diesen nationalen Ausschluss war der Rückzug in eine jüdische Nationalität, der besonders im zunehmenden Zionismus Ausdruck fand, aber auch in der wachsenden Anzahl

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von Publikationen und Theaterstücken in jiddischer Sprache insbesondere in der Zwischenkriegszeit. Eine weitere war die Unterstützung der Wiener Sozialdemokratie, die sich zumindest nominell für Gleichheit und Inklusion einsetzte, auch wenn sie selbst nicht frei von Antisemitismus war (Herzog, 2011, 100–101; Silverman, 2012, 16). Doch Wien bot noch eine dritte Möglichkeit, sich gerade im Bereich der Kultur den nationalistischen Diskursen zu entziehen, nämlich indem man sich weiter auf die Idee einer Kulturnation berief, wie sie in der Monarchie in vielen Sprachen existiert hatte. Diese Idee fand insbesondere im Denken und Schreiben jener Ausdruck, die aus den nationalen Abstammungsgemeinschaften ausgeschlossen waren, denn sie ermöglichte, Teil der deutschen, polnischen oder tschechischen Kultur zu sein, ohne der jeweiligen nationalen Gemeinschaft anzugehören (Rozenblit, 2001, 24). In Wien war diese Idee um die Jahrhundertwende zur dominanten Kulturvorstellung avanciert. Das hing einerseits damit zusammen, dass viele der Kulturschaffenden in Wien in dieser Zeit jüdisch waren (Herzog, 2011, 5) und dass viele dieser Juden, nicht zuletzt Karl Kraus, sich vehement gegen die Ethnifizierung der deutschen Sprache zur Wehr setzten (Braese, 2010, 224–241). Andererseits hatte der Nationalismus in diesem kosmopolitischen Zentrum der Habsburgermonarchie für die dominante deutsche Gruppe insgesamt weniger Bedeutung: „Vienna was secure in its role as the center of the Habsburg universe, and thus questions of national identity did not, at least for the dominant Germans, need to occupy center stage“ (Herzog, 2011, 95–96). So unterstützte dann auch ein Germanist wie Wilhelm Scherer in einem Feuilletonartikel aus dem Jahr 1872 die Idee einer deutschsprachigen Kulturnation: Der Retter Österreichs kann nur der deutsche Geist sein. Wohlgemerkt, ich sage nicht: die Deutschen. Ich sage: der deutsche Geist. […] Das Machtgebiet des deutschen Geistes ist weit größer als das Machtgebiet der Nation. […] Der deutsche Geist beherrscht seine Umgebung. Es gibt keine specifisch österreichische, es gibt keine tschechische, keine slovenische Cultur. Unsere Cultur ist die deutsche, aber auf einer niedrigen Stufe. […] Dieselben Wege, welche Deutschland auf die Höhe gewandelt ist, die es jetzt einnimmt, dieselben Wege müssen wir erst nachwandeln. Daran aber haben die mitten unter uns wohnenden Slavenstämme ein eben so starkes Interesse wie wir. Wer sich zum Diener des deutschen Geistes macht, der ist uns willkommen, der gilt uns als Deutscher, gleichviel ob seine Wiege in Czaslau oder in Wien, in Laibach oder in Graz gestanden hat. (Scherer, 1874, 320–321)

Scherer vertritt damit eine Vorstellung von einer deutschen Kulturnation, die weit über die Idee einer ethno-nationalen Kultur hinausgeht, und zwar auch in sprachlicher Hinsicht. Denn die Idee der ethno-kulturellen Nation wurde

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im Einzelnen über die Muttersprache verankert, die jedes Individuum über die Mutter an die Nation bindet. Damit einher ging die Vorstellung, dass jedes Individuum nur diese eine Sprache wirklich beherrschen könne und literarische Kreativität deswegen nur in dieser möglich sei. Wer also Deutsch nicht als Muttersprache gelernt hatte, konnte auch nicht in der deutschen Sprache literarisch kreativ sein (Yildiz, 2012, 1–29). Scherer dagegen sieht auch die Slawen als Teil der deutschen Kultur und macht damit literarische Kreativität in der deutschen Sprache keineswegs von der Muttersprache abhängig. Zu dieser Zeit konnte die deutsche Sprache also „nicht nur als ein transterritoriales, sondern auch als ein transnationales Medium begriffen werden“ (Braese, 2010, 20). Natürlich verlor Wien und damit auch die Idee der deutschen Kulturnation mit dem Ende der Monarchie an Strahlkraft. Doch in Wien erhielt sich durch die ungebrochene kulturelle Aktivität der Juden auch in der Zwischenkriegszeit dieses transnationale Erbe: „For better or worse, Vienna was the only place where elements of the former empire could continue to exist as such, a possible anchor for a multicultural Austrian identity cast adrift, with a marked identification of foreigners as Jews“ (Holmes & Silverman, 2009, 10). Deswegen fand auch Elias Canetti in den 1930er Jahren noch Aufnahme in diese transnationale deutschsprachige Kulturnation, wie ein Zitat von Hermann Broch aus einer Einleitung zu einer Lesung Canettis in der Volkshochschule der Leopoldstadt in Wien am 23. Jänner 1933 zeigt: „Elias Canetti wurde in Rustschuk in Bulgarien 1905 geboren, er ist Spaniole, seine Muttersprache ist Spanisch, was aber nicht hindert, daß er ein deutscher Dichter ist“ (Broch, 1976, 59). Canetti konnte ganz selbstverständlich an dieser deutschen Kulturnation partizipieren, obwohl er in Bulgarien geboren wurde, Jude war und Deutsch nicht seine Muttersprache war. Allerdings bedeutete dies eine Unterordnung unter das, was Scherer „den deutschen Geist“ nannte. Dieser verstand sich als anderen Sprachen und Völkern in der Monarchie überlegen. So entstanden die oben zitierten Aussagen Scherers nicht zufällig in Reaktion auf zurückgewiesene nationale Ansprüche der Tschechen, in seinen Worten eine „Vergewaltigung deutschen Geistes“ (Scherer, 1874, 316). Dieses hegemoniale Verständnis des „deutschen Geistes“ spiegelt sich auch in Canettis Hang zur Einsprachigkeit wider, der in den folgenden Abschnitten noch genauer untersucht werden soll. Dass er später dennoch nicht mehr als Vertreter dieses „deutschen Geistes“ verstanden wurde – so hieß es 1950 in einer Rezension zur Neuauflage des Romans Die Blendung: „auf der Hand liegt die Herkunft [Canettis] aus dem nichtdeutschen Geistesbereich“ (Rüdiger, 1950) –, hängt vor allem damit zusammen, dass sich mit dem Nationalsozialismus eine andere Vorstellung vom „deutschen Geist“ durchgesetzt hatte.

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Die Idee von Wien als Zentrum einer transnationalen deutschsprachigen Kulturnation, die allen unabhängig von Herkunft und Muttersprache offenstand, lernte Canetti schon in seiner Geburtsstadt kennen. Auch seine Eltern hatten in Wien an dieser Kulturnation partizipiert und erhielten sich die Verbindung zu dieser Stadt auch noch, als sie wieder nach Rustschuk zurückgekehrt waren. Wien hatte um die Jahrhundertwende eine Strahlkraft, die weit über die Monarchie hinausreichte. Auch in Bulgarien orientierte sich die junge Elite zu dieser Zeit an Wien (Hanuschek, 2005, 34). Canettis Eltern absolvierten in Wien Schule und Studium und lernten sich dort kennen und lieben. Deutsch blieb auch in Rustschuk ihre gemeinsame Sprache und die Wiener Kultur über die abonnierte Neue Freie Presse und in Gesprächen über das Burgtheater weiterhin präsent. Auch wenn Canetti zu diesem Zeitpunkt noch kein Deutsch verstand, so verankerte sich doch dieses transnationale Wien schon in dieser Zeit als Mythos in seinem Denken – „Wien“ war auch das einzige deutsche Wort, das die Eltern ihm erklärten (Sievers, 2009, 308). Dass Wien dann in der Zwischenkriegszeit zu einem der wenigen Orte wurde, an denen dieses transnationale Erbe noch gelebt wurde, führte dazu, dass sich viele Juden gerade in dieser Zeit nicht mehr als Teil der deutschsprachigen, sondern als Teil der Wiener Kultur verstanden (Silverman, 2012, 16). Das gilt auch für Canetti, wie sich in den folgenden Ausführungen zu seinem Netzwerk und zu seinen Werken zeigen wird.

Canettis Weg zum Schriftsteller in der transnationalen deutschsprachigen Kulturnation Elias Canettis Weg zum Schriftsteller verläuft über ein literarisches Feld, das in seiner räumlichen Ausdehnung der oben beschriebenen transnationalen deutschsprachigen Kulturnation entspricht. Seine persönlichen Kontakte und seine Rezeption reichen von Berlin bis Graz und von Budapest bis Straßburg. Zentrum dieses sehr weiträumigen literarischen Netzes war Wien. In Wien begann Canetti ernsthaft zu schreiben, hier siedelte er seine Werke an, wie später gezeigt werden soll, hier stellte er sie zum ersten Mal einer literarischen Öffentlichkeit vor und knüpfte Verbindungen, die ihm dann auch den größeren deutschsprachigen Raum eröffneten, wie das folgende Unterkapitel zeigen wird. Gleichzeitig hatte Canetti eine sehr klare Vorstellung davon, wie und wo er sein Werk in diesem weiträumigen literarischen Feld positionieren wollte, nämlich bei einem Verlag wie S. Fischer, der nicht nur im gesamten deutschsprachigen Raum und darüber hinaus bekannt war, sondern auch als allein der Kunst verpflichtet,

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also als politisch und wirtschaftlich unabhängig galt. Darauf soll im zweiten Unterkapitel dieses Abschnitts genauer eingegangen werden. Zum besseren Verständnis der folgenden Ausführungen sei hier nur angemerkt, dass Canettis Positionierung als politisch unabhängig auch die rückblickende Darstellung seiner Netzwerke in seiner Autobiografie beeinflusste, in der er seine Kontakte zur Wiener Sozialdemokratie und insbesondere zur Arbeiter-Zeitung ausblendete (Hanuschek, 2005, 193, 217; Holmes, 2007). Dass diese Abgrenzung auch mit direkter Kritik in seinem Werk einherging, wird die Interpretation der Komödie der Eitelkeit zeigen.

Ein weites Feld: Von Wien über Zürich und Straßburg nach Frankfurt und Budapest

Elias Canetti hatte schon in den 1920er Jahren schriftstellerische Ambitionen. Er schrieb Gedichte und auch eine Novelle, die jedoch nie veröffentlicht wurden, und bewarb sich 1928 mit einer Auswahl seiner Gedichte um ein Stipendium der Stadt Wien. In dem Schreiben betonte er besonders die Bedeutung Wiens für sein Leben, während er seinen Geburtsort nicht einmal erwähnte: „Ich bin, da 1905 geboren, 22 ½ Jahre alt und habe ein Drittel meines Lebens, darunter die vier letzten und für mich bedeutendsten Jahre, in Wien verbracht“.3 Die Bewerbung war erfolglos. Erst in den frühen 1930er Jahren schrieb Canetti jene Werke, die ihm in Wien Aufmerksamkeit bescheren sollten: Den Roman Die Blendung stellte er 1931 fertig, die Arbeit an den Dramen Hochzeit und Komödie der Eitelkeit schloss er 1932 bzw. 1934 ab. Erstes Interesse in der Wiener Literaturwelt erweckte er mit privaten Lesungen bei Freunden und Bekannten. 1932 las Canetti aus Hochzeit bei Hans Schlesinger, einem Freund aus dem Kreis der Arbeiter-Zeitung, und bei Maria Lazar, einer Schriftstellerin, die 1920 ihren ersten Roman veröffentlicht hatte. Im Frühjahr 1933 organisierte Bella Band (über deren Person und Beziehung zu Canetti sich bislang keine näheren Informationen finden lassen) eine Lesung aus Hochzeit für Canetti in ihrem Haus. In der zweiten Jahreshälfte 1934 veranstaltete Anna Mahler eine Lesung aus der Komödie der Eitelkeit in der Residenz des Verlegers Paul Zsolnay, der zu dieser Zeit noch ihr Ehemann war. Im April 1935 schließlich las Canetti im Salon von 3

Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Städtische Sammlungen R99/1928, Kunstpreis der Stadt Wien, Dichtkunst Z. 524/1928. Auf das Dokument wurde ich von Murray Hall hingewiesen, der mir dankenswerterweise eine Kopie zur Verfügung stellte (vgl. auch Hanuschek, 2005, 137).

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Eugenie Schwarzwald (Canetti, 1994a, 23–25, 48, 111–119, 177–178; Hanuschek, 2005, 203, 211, 257, 301).4 Der Salon von Schwarzwald, den sie selbst nur ungern so nannte, galt neben jenen von Bertha Zuckerkandl und Alma Mahler als einer der Treffpunkte von KünstlerInnen und SchriftstellerInnen in Wien von der Jahrhundertwende bis zur Zwischenkriegszeit, wobei Schwarzwald sich durch ihre einfache Herkunft und ihre reformpädagogischen Ansätze insbesondere in Bezug auf die Bildung von Frauen deutlich von den beiden anderen Frauen unterschied (Holmes, 2012; vgl. die politische Einordnung der Wiener Kultur bei Timms, 2009). Canetti lässt diese politische Positionierung des Salons in seiner Autobiografie unerwähnt. Er betont vielmehr, dass er sich mit dieser Lesung in eine Gruppe von bedeutenden Wiener Künstlern einreihte, die alle berühmt werden sollten: Hierher kamen die eigentlichen Größen Wiens und zwar lange bevor sie zu allgemein bekannten, öffentlichen Figuren geworden waren. Adolf Loos war dagewesen und hatte den jungen Kokoschka mitgebracht, Schönberg, Karl Kraus, Musil, man müßte viele nennen und es ist bemerkenswert, daß sich alle die hier einfanden, deren Werk später vor der Zeit bestanden hat. (Canetti, 1994a, 177–178; Kursivierung im Original)

Neben dieser Lesung bei Eugenie Schwarzwald waren zwei weitere der oben genannten Lesungen von besonderer Bedeutung für Canettis schriftstellerische Laufbahn: die Lesungen bei Maria Lazar und bei Bella Band. Bei Maria Lazar begegnete Canetti zum ersten Mal Hermann Broch, der sein Freund und Förderer wurde, auch wenn er später vor allem als Konkurrent in seine Autobiografie einging (Peiter, 2008). Dennoch kam dem älteren Schriftsteller, der damals schon für seine Romantrilogie Die Schlafwandler (1930/32) bekannt war, eine Schlüsselrolle für die weitere Verbreitung von Canettis Werk zu. Broch organisierte für Canetti in der Reihe Dichter werben für Dichter, in der namhafte Schriftsteller junge Kollegen vorstellten, die oben schon erwähnte erste öffentliche Lesung, die im Jänner 1933 an der Leopoldstädter Volkshochschule in Wien stattfand. In seiner Einleitung lobte er nicht nur die schon vorliegenden Werke, Die Blendung (die damals noch unter dem Titel „Kant fängt Feuer“ firmierte) und Hochzeit. Er verwies auch darauf, dass eine weitere Komödie und eine „Philosophie der Masse“ im Entstehen seien, stellte Canetti also als einen Schriftsteller mit einem 4

Die Lesung bei Eugenie Schwarzwald findet sich nur in Canettis Autobiografie, die Lesung bei Schlesinger nur bei Hanuschek. Dass Canetti die Lesung bei Schlesinger unerwähnt ließ, hängt mit seiner oben erwähnten Ausblendung des sozialdemokratischen Freundeskreises, zu dem Schlesinger zählte, in der Autobiografie zusammen.

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schon in naher Zukunft umfangreichen Werk dar. Gleichzeitig verwies er auf die Genialität dieses Werks und lobte insbesondere Canettis Figurengestaltung sowie „das Ethos der Canettischen Kunst“ (Broch, 1976, 60; vgl. Hanuschek, 2005, 204). Broch versuchte auch, Canetti an den Zsolnay Verlag zu vermitteln, und organisierte zu diesem Zweck mehrere Zusammentreffen im Februar 1933 und im Jänner 1934.5 Auch wenn dieser Vermittlungsversuch misslang, weil Canetti nicht interessiert war, so war es doch Broch, der letztendlich dafür verantwortlich war, dass Canetti einen Verlag für seinen Roman Die Blendung fand. Broch erzählte Stefan Zweig, mit dem er seit der Veröffentlichung des ersten Teils von Die Schlafwandler im Jahr 1930 befreundet war (Mondon, 2008), dass bei einer Lesung Canettis in Zürich auch James Joyce zu Gast war. Diese Verbindung wiederum beeindruckte nicht nur Broch selbst, sondern auch Zweig so sehr, dass dieser Canetti an den Verlag Herbert Reichner in Wien vermittelte, bei dem er selbst seit 1933 veröffentlichte, als der Insel Verlag seine Werke nicht mehr herausgeben konnte (Canetti, 1994a, 176; vgl. Hanuschek, 2005, 227). Doch die Veröffentlichung des Romans bei Reichner wäre nicht zustande gekommen, wenn Canetti nicht bei der zweiten der oben genannten wichtigen Lesungen bei Bella Band 1933 den Dirigenten Hermann Scherchen kennengelernt hätte. Scherchen brachte Canetti nicht nur die musikalische Avantgarde näher, sondern lud ihn auch im August 1933 zum ersten Mal nach Straßburg ein, wo er eine Tagung zu neuer Musik leitete (Canetti, 1994a, 56–66; vgl. Hanuschek, 2005, 211–215). Auf dieser Tagung begegnete Canetti dem Komponisten Wladimir Vogel, dem künstlerischen Assistenten Scherchens. Vogel wiederum lud Canetti ein, mit ihm eine Oper zu schreiben. Zu diesem Zweck trafen sie sich 1935 im Tessin im Haus von Aline Valangin und Wladimir Rosenbaum, die in Zürich einen Salon führten. Auch wenn die Zusammenarbeit an der Oper kein Ergebnis zeitigte, so brachte der Aufenthalt in Zürich doch einen Erfolg: Nach einer privaten Lesung aus der Komödie der Eitelkeit für das Hausbesitzerpaar luden ihn die beiden in ihren Salon nach Zürich zu einer Lesung ein, bei der, wie bereits erwähnt, James Joyce unter den ZuhörerInnen 5

Briefe vom 10. Februar 1933 und vom 23. Jänner 1934 von H. Broch an E. Canetti, Nachlass Canetti 64, Zentralbibliothek Zürich. Dieser Aufsatz basiert zum Teil auf Recherchen im Nachlass Elias Canettis in der Zentralbibliothek Zürich im Dezember 2013. Dokumente aus dem Nachlass zitiere ich im Folgenden mit NL Canetti und der Signatur, unter der sich das jeweilige Dokument findet. Ich möchte mich bei Gabriele Wohlgemuth für die Unterstützung meiner Recherchen in der Zentralbibliothek bedanken. Mein besonderer Dank gilt außerdem Johanna Canetti, die mir nicht nur die Briefe von Broch an Canetti, sondern auch die Umschriften mehrerer stenografischer Entwürfe von Briefen an Konrad Maril und Thomas Mann zur Verfügung stellte.

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war. Canetti schrieb später in seiner Autobiografie, dass Joyce auf die Lesung eher ablehnend reagierte, seiner Meinung nach unter anderem deswegen, weil er dem Wiener Dialekt kaum folgen konnte. Dennoch verschaffte Canetti dieser Gast das notwendige kulturelle Kapital, das Stefan Zweig von seinem Talent überzeugte (Canetti, 1994a, 164–170; Hanuschek, 2005, 224–225). Doch für die Veröffentlichung benötigte Canetti zudem finanzielle Unterstützung, denn mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland wurde jede Veröffentlichung eines jüdischen Autors im deutschsprachigen Raum zu einem großen Risiko. Das notwendige ökonomische Kapital fand sich auch über Canettis Verbindung nach Straßburg, wo er 1935 Jean Hoepffner kennenlernte, der als Verleger einer der meistgelesenen zweisprachigen Zeitungen im Elsass auch als Mäzen agierte und der Canetti seine finanzielle Unterstützung zusagte, sollte es ihm gelingen, einen Verlag für seinen Roman zu finden (Canetti, 1994a, 171–174; Hanuschek, 2005, 226–227). Canetti veröffentlichte seinen Roman Die Blendung schließlich Ende 1935 bei Reichner, auch wenn im Buch als Jahr der Veröffentlichung 1936 vermerkt ist. Bereits Mitte November erhielt er erste begeisterte Reaktionen von Alban Berg und Thomas Mann (Göpfert, 1975, 121–123). Am 1. Dezember 1935 erschien in der Neuen Freien Presse eine Rezension von Paul Frischauer (Frischauer, 1935), einem Freund Stefan Zweigs und Wiener Schriftsteller, den Canetti allerdings nicht sonderlich schätzte (Hanuschek, 2005, 305). Anschließend wurde der Roman in der gesamten deutschsprachigen Kulturnation und darüber hinaus wahrgenommen, wie ein Verlagsfolder im Nachlass Canettis zeigt: Rezensionen erschienen in der Frankfurter Zeitung, den Basler Nachrichten, dem Tagesboten in Brünn, der Prager Presse, der Tagespost in Graz, dem Pester Lloyd in Budapest und schließlich dem Nieuwe Rotterdamsche Courant.6 Und Hermann Hesse veröffentlichte seine Besprechung in der Neuen Zürcher Zeitung später in einer verkürzten Version auch im Bonniers Litterära Magasin in Stockholm (Hanuschek, 2005, 243).

Canettis Versuch einer Positionierung als Künstler in einem transnational bekannten Verlag

Canettis Roman wäre nicht bei Reichner erschienen, wenn er ihn in Deutschland hätte veröffentlichen können. Sein eigentliches Ziel war, den Roman beim S. Fischer Verlag in Berlin unterzubringen. Das hing einerseits mit der transnationalen Bekanntheit S. Fischers zusammen, die weit über jene der meisten 6

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Wiener Verlage hinausreichte. Andererseits lag ihm an einer Positionierung als Künstler, wie sie durch den S. Fischer Verlag mit seinem Kampf gegen politische Zensur und seiner Hintanstellung des kommerziellen Erfolgs im deutschsprachigen Raum in besonderer Weise möglich war (Magerski, 2004, 68–72). Genau diese Autonomie der Literatur von politischer Einflussnahme und wirtschaftlicher Rentabilität war auch Canetti wichtig. Aus diesem Grund wandte er sich mit seinem Werk an diesen Verlag, zu dem kein persönlicher Kontakt bestand, und ließ andere Veröffentlichungsmöglichkeiten bei Zsolnay in Wien und Malik in Berlin ungenutzt, wie im Folgenden genauer ausgeführt werden soll. Das war ihm jedoch nur möglich, weil er in schlechten Zeiten auf die Unterstützung seiner großbürgerlichen Familie vertrauen konnte. Seine Mutter hatte ihm in den frühen 1930ern ein kleines väterliches Erbe ausgezahlt (Hanuschek, 2005, 193), und auch seinen Bruder Georg bat er immer wieder um Geld. Beispielhaft sei hier ein Brief aus Straßburg vom 18. August 1934 zitiert: „Und weswegen schreibe ich? Natürlich, wie immer: wegen Geld. Ich glaube, wenn man meine Briefe an dich zusammenstellt, muss ich als der schmutzigste Räuber der Welt erscheinen“ (Canetti und Canetti, 2006, 22). Dazu kam aus seinen Übersetzungen Upton Sinclairs, die er selbst als „Brotarbeit“ sah, ein Einkommen, mit dem er sich seine finanzielle Unabhängigkeit erhalten konnte (Canetti, 1993b, 295). Diese Unabhängigkeit erlaubte Canetti, auch dann noch auf eine Zusage S. Fischers zu hoffen, als die nationalsozialistische Diktatur diese immer unwahrscheinlicher werden ließ. Dass Canetti seinen Roman nicht in Wien veröffentlichen wollte, hing mit der mangelnden Bekanntheit der Wiener Verlage zusammen. Bücher aus Österreich waren im gesamten 19. Jahrhundert in Deutschland erschienen, denn vor 1918, so Murray Hall, gab es in Österreich keinen einzigen namhaften belletristischen Verlag (Hall, 1985a, 23). Zwar folgte der Ausrufung der Republik eine Welle von Verlagsgründungen, „die programmatisch oft deckungsgleich und furchtlos der jungen österreichischen Literatur eine Heimstätte bieten wollten“ (Hall, 1985a, 92). Doch die meisten dieser Verlage waren innerhalb kürzester Zeit wieder Geschichte, hauptsächlich aufgrund der Wirtschaftskrise, aber auch weil es den Verlegern an einem langfristigen Konzept und an verlegerischer und kaufmännischer Erfahrung mangelte (Hall, 1985a, 92). Eine der großen Ausnahmen war der Zsolnay Verlag, den Paul Zsolnay, Kind einer wohlhabenden Zuwandererfamilie aus Budapest und Absolvent der Hochschule für Bodenkultur, ohne jegliche Erfahrung im Verlagswesen im Jahr 1923 gründete, weil sich Autoren aus seinem Freundeskreis bei ihm über die geringen Honorare der deutschen Verlage beschwerten, die zum Teil der Inflation geschuldet waren. Zsolnay, „ein politisch linksstehender Idealist“, wie sein Freund und Unterstützer Richard

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Coudenhove-Kalergi ihn gegenüber Heinrich Mann bezeichnete, verstand sich von Anfang an als ein Verleger, der seinen AutorInnen Kontrollrechte einräumte und sie angemessen am Gewinn beteiligte. Unter den Gründungsautoren war unter anderem Arthur Schnitzler, der einige Werke bei Fischer in Berlin veröffentlicht hatte, aber aufgrund der sinkenden Honorare zu Zsolnay wechselte (Hall, 1994, 23–38). Zsolnay hätte auch gern Canettis Roman Die Blendung veröffentlicht (Hall, 1994, 353), und Canetti verhandelte auch mit dem Verlag. Das zeigen nicht nur die erwähnten Briefe von Broch, sondern auch der Entwurf eines Briefes an Konrad Maril, einen Lektor bei Fischer, in dem er deutlich zu verstehen gab, dass er Fischer den Vorzug geben würde: „mein mündliches Versprechen, auf Ihre Entscheidung 10–14 Tage zu warten, bevor ich mit Zsolnay abschliesse, wiederhole ich hier schriftlich“.7 Doch selbst als die Verhandlungen mit Fischer ins Leere liefen, veröffentlichte er seinen Roman nicht bei Zsolnay, sondern bei Reichner. Über die Gründe kann nur spekuliert werden: Er selbst schrieb in seiner Autobiografie, dass er Paul Zsolnay „nicht für voll nahm“ (Canetti, 1993b, 113), außerdem unterhielt er zeitweilig ein Verhältnis mit dessen Frau Anna Mahler. Doch Canetti hatte nicht nur die Möglichkeit, bei Zsolnay zu veröffentlichen. Auch in Berlin hatte er Kontakte zu einem Verleger, der ihm seine ersten Veröffentlichungen ermöglichte, Wieland Herzfelde, dem Gründer des Malik-Verlags. Mit Herzfelde wurde Canetti durch Ibby Gordon in Kontakt gebracht, einer Schriftstellerin aus Ungarn, die er 1927 über einen Studienkollegen in Wien kennengelernt hatte und der er bei der Übersetzung ihrer Gedichte ins Deutsche behilflich gewesen war. Als Gordon nach Berlin ging, empfahl sie ihn Herzfelde, der eine Biografie Upton Sinclairs zu schreiben beabsichtigte und Unterstützung bei der Aufarbeitung der Materialien benötigte. Daraufhin verbrachte Canetti die Sommermonate 1928 und 1929 in Berlin (Canetti, 1993b, 251–252; Hanuschek, 2005, 118, 150–154, 171). Die Biografie ist nie erschienen, aber Canetti verdankte dieser Zusammenarbeit seine erste bekannte Veröffentlichung: einen 7

Entwurf eines Briefes von E. Canetti an K. Maril, Wien, Februar/März 1933, NL Canetti 3.13. Der Briefentwurf ist wie mehrere Dokumente in Canettis Nachlass in Stenogrammschrift verfasst (mehr dazu bei Hanuschek, 2005, 19). Leider scheint der Briefwechsel zwischen Canetti und Maril nicht erhalten geblieben zu sein. Zumindest findet er sich weder im Nachlass Canettis noch in den Briefbeständen des S. Fischer Verlags im Deutschen Literaturarchiv noch in der Lilly Library an der Indiana University (ich danke Murray Hall für die Recherchen zu den Briefbeständen des S. Fischer Verlags). Es kann also nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob dieser und weitere Briefe an Maril auch versendet wurden. Allerdings wurde das Drama Hochzeit 1932 in der Theaterabteilung des S. Fischer Verlags als Manuskript gedruckt (Hanuschek, 2005, 293). Canetti stand also mit dem Verlag in Kontakt.

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kurzen Text über Upton Sinclair aus Anlass seines 50. Geburtstags in der Zeitschrift Der Querschnitt, in der der Malik-Verlag auch inserierte – in dieser Ausgabe bewarb er passenderweise Upton Sinclairs Gesammelte Werke. Außerdem beauftragte Herzfelde Canetti mit der Übersetzung dreier Werke Sinclairs für den Malik-Verlag, die noch vor Canettis eigenen Werken erschienen: 1930 Leidweg der Liebe (Love’s Pilgrimage, 1911) sowie Das Geld schreibt (Money Writes!, 1927) und 1932 Alkohol (The Wet Parade, 1931) (Sinclair, 1930a, 1930b, 1932). Trotz dieser engen Beziehungen zum Malik-Verlag scheint Canetti nie versucht zu haben, seine literarischen Werke bei diesem zu publizieren. Das erklärt sich mit der politischen Positionierung des Verlags, den Herzfelde 1916 gründete und der spätestens seit 1919 eine eindeutig kommunistische Position bezog: „wir wollten dazu beitragen, dass die halbherzige, verspätete bürgerliche Revolution im besiegten Deutschland sich zur zeitgemäßen, zur proletarischen Revolution entfalte, wie es zwischen Februar und Oktober 1917 in Russland geschehen war“ (Wieland Herzfelde, zitiert nach Stucki-Volz, 1993, 21). Mit diesem Ziel vor Augen wählte Herzfelde auch seine Publikationen aus, darunter deutschsprachige kommunistische sowie parteilose linke Schriftsteller wie Georg Lukács, Johannes R. Becher, Leonhard Frank oder Erich Mühsam, aber auch viele russische Autoren wie Maxim Gorki und Isaak Babel. Herzfeldes auflagenstärkster Autor war jedoch der schon genannte Upton Sinclair, dessen erster bedeutender Roman Der Sumpf innerhalb weniger Wochen ein Welterfolg wurde (StuckiVolz, 1993, 61, 77–78). Sinclairs Werken wiederum schien Canetti wenig abgewinnen zu können. In seiner Autobiografie behauptete er zwar, dass man in den 1920er Jahren, „besonders in Europa, mit Respekt von Sinclair“ sprach, was er auch damit erklärte, dass kaum andere Autoren der jungen amerikanischen Literatur in Europa bekannt waren (Canetti, 1993b, 251–252). In seiner Würdigung aus dem Jahr 1928 klang das allerdings noch ganz anders: „Naivität, zu simple Darstellung längst als kompliziert erkannter Vorgänge, unbeirrbare Gleichgültigkeit den ‚Mysterien‘ des einzelnen gegenüber sind die Hauptvorwürfe, mit denen ein ästhetisiertes Europa Upton Sinclair abtut“ (Canetti, 1928). Er selbst lobte Sinclairs Naivität, nannte sie aber nichtsdestotrotz in derselben eingangs kritisierten europäischen Manier „Naivität“. Inzwischen wurde sogar argumentiert, dass es Sinclairs Art von sozial engagiertem Realismus war, von der Canetti sich in seinem Roman Die Blendung abzusetzen versuchte (Donahue, 2001, 41). Nun stand Canetti selbst in den frühen 1930er Jahren dem Kommunismus nicht ganz fern, wie sein damals noch sozialdemokratischer Freund Ernst Fischer, der in Canettis Autobiografie nicht einmal genannt wird, in seinen Erinnerungen schilderte (Fischer, 1969, 239). Doch in seiner Positionierung als Autor sah er sein Werk nicht in einem politischen Verlag, der die literarische Gestaltung

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der Werke vernachlässigte, sondern bei einem Verleger, der Verlagsarbeit in einem Aufsatz mit dem Titel „Der Verleger und der Büchermarkt“ aus dem Jahr 1911 als „Pflege der Dichtkunst“ beschrieb (zitiert nach Mendelssohn, 1970, 45–46). Diese Worte stammen von Samuel Fischer, der 1884 zunächst gemeinsam mit Hugo Steinitz in Berlin einen Verlag gründete, den er ab 1886 allein unter seinem Namen weiterführte. Fischer etablierte in den späten 1880er Jahren gemeinsam mit Schriftstellern und Kritikern die Freie Bühne Berlin, einen geschlossenen Aufführungsort, mit dem die politische Zensur naturalistischer Theaterstücke umgangen werden konnte. Gleichzeitig stellte sich diese Bewegung mit ihrer naturalistischen Ästhetik dem kommerziellen Theater entgegen. Eins der Theaterstücke, das Fischer 1889 veröffentlichte, Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, zählte zu den Eröffnungsstücken dieses Theatervereins (Magerski, 2004, 68–69), und Hauptmann avancierte zu Fischers wichtigstem Autor (Nawrocka, 2000, 3). Die besondere Bedeutung des ästhetischen Werts für seine Veröffentlichungspraxis betonte Fischer auch in dem schon genannten Aufsatz: Die Auswahl aus der literarischen Produktion kann […] nicht allein nach kaufmännischen Grundsätzen geschehen, sie ergibt sich aus dem ästhetischen Wert der Arbeit. Da aber ästhetische Werte Phantasiewerte sind, so ist die Auswahl an die persönliche Eindrucksfähigkeit des Verlegers gebunden. Das ästhetische und das praktische Verhältnis zum Werk: seine Orientierung, schöpft der Verleger aus der Fähigkeit abzumessen und abzuwägen, das Größte zu verstehen und zu empfinden und das Relative, am Großen gemessen, nicht gering zu nehmen. (Samuel Fischer, zitiert nach Mendelssohn, 1970, 45–46)

Genau diese Art von Verleger, jemanden, der den Marktwert seines Buches nicht in den Vordergrund stellen würde, suchte Canetti. In seiner Autobiografie äußert er sich sehr negativ über Autoren, die sich kaufen lassen, so im Falle von Bertolt Brecht, der erzählte, „[e]r habe ein Gedicht über Steyr-Autos geschrieben und dafür ein Auto bekommen. Das war für mich, als käme es aus dem Mund des Teufels“ (Canetti, 1993b, 259). Canetti hatte außerdem das zeitgenössische Theater in einem Interview, das am 18. April 1937 in der Sonntagsbeilage des Wiener Tags abgedruckt wurde, als zu kommerziell kritisiert (Canetti, 2005c, 135). Und er wehrte sich dagegen, seinen Roman von Verlegern auf seinen Marktwert prüfen lassen zu müssen. Das illustriert der Entwurf eines Briefes an Thomas Mann, den Canetti so oder in ähnlicher Form auch verschickte, um ihm sein Romanmanuskript zu senden, das er jedoch ungeöffnet zurückerhielt (Canetti, 1994a, 250): Der Gedanke, dass ein Buch, mit dem man sich lange und bitter getragen hat, von Verlegern auf seinen Marktwert hin geprüft werden wird, ist quälend und zerstörend, denn für mich

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kann es, einer innerlich armseligen Existenz zum Trotz, Marktwert nie haben, sondern nur einen künstlerischen oder gar keinen.8

Doch Canettis Interesse, beim S. Fischer Verlag zu veröffentlichen, lässt sich nicht nur mit dessen politisch und wirtschaftlich unabhängiger Positionierung erklären, sondern auch mit dessen transnationaler Bekanntheit, die auf Autoren wie Gerhart Hauptmann und Thomas Mann beruhte, in deren Tradition Canetti sich einreihen wollte. So schrieb er Maril 1933: „Ich brauche Ihnen kaum zu sagen, warum mir an einem Verlag eines Gerhart Hauptmanns und anderer, die ich liebe, so viel gelegen ist.“9 Genau dieses Anliegen, sich in das Pantheon bekannter deutschsprachiger Gegenwartsautoren einzuschreiben, lag auch dem oben erwähnten Brief Canettis an Thomas Mann im Jahr 1931 zugrunde, mit dem er ihm sein Romanmanuskript übersandte. Damit wandte sich ein angehender Autor, der damals „weder durch eine öffentliche Leistung noch persönlich bekannt“ war, an einen Schriftsteller, der zu diesem Zeitpunkt immerhin schon den Literaturnobelpreis erhalten hatte, um über dessen Lob Anerkennung für sein Werk zu generieren.10 Canetti wollte also weit über den lokalen Kontext hinaus bekannt werden, das hatte er sich schon in seiner Jugend mit einem Freund in der Schweiz geschworen, als die beiden anlässlich einer Jahrhundertfeier zu Ehren Gottfried Kellers zum ersten Mal auf den Namen dieses Schriftstellers stießen: „Wir müssen schwören, wir müssen beide schwören, daß wir nie Lokalberühmtheiten werden“ (Canetti, 1994c, 207). Doch die Machtergreifung der Nationalsozialisten machte diesen Plan zunichte. Canetti konnte nur eins seiner Werke, das Drama Hochzeit, im S. Fischer Verlag platzieren. Es wurde 1932 als Bühnenmanuskript gedruckt. Noch im Frühjahr 1933 stand er in Kontakt mit dem Lektor Konrad Maril über eine Veröffentlichung seines Romans bzw. einzelner Kapitel in der Zeitschrift Neue Rundschau, die beim S. Fischer Verlag erschien. Doch zu dieser Veröffentlichung kam es nicht mehr. Auch wenn der S. Fischer Verlag noch bis Ende 1935 in Deutschland blieb und 1933 und 1934 noch weitgehend unbehindert arbeiten konnte, so brachen die Umsätze des Verlags zwischen 1930 und 1934 doch um 80 Prozent ein (Nawrocka, 2000, 5, 22). Die Veröffentlichung von Canettis Roman war also für den S. Fischer Verlag wie für viele andere Verlage auch ein zu großes Risiko. 8 9 10

Entwurf eines Briefes von E. Canetti an Th. Mann, Notizblock Wien, Ende Oktober 1931, NL Canetti 3.3. Entwurf eines Briefes von E. Canetti an K. Maril, Notizblock Wien, Ende April/Mai 1933, NL Canetti 3.14. Vgl. auch Canetti, 1994a, 249. Entwurf eines Briefes von E. Canetti an Th. Mann, Notizblock Wien, Ende Oktober 1931, NL Canetti 3.3.

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Wie schon erwähnt, erschien Canettis Roman schließlich Ende 1935 beim Herbert Reichner Verlag in Wien. Reichner wurde zwar schon 1925 gegründet, verlegte aber erst seit 1933 auch Belletristik, darunter neben dem schon erwähnten Stefan Zweig, dem mit Abstand erfolgreichsten Autor des Verlags, Alexander Lernet-Holenia und Franz Molnár. Auch Reichner verstand sich wie Fischer als Verleger „literarisch hochwertiger“ Werke (Hall, 1985b, 297). Obwohl er als jüdischer Verlag galt, konnte er nach 1933 weiterhin in Deutschland verkaufen. Canettis Roman wurde 1936 noch in der Frankfurter Zeitung rezensiert. Im selben Jahr allerdings wurde Reichners Lager in Leipzig beschlagnahmt, 1938 floh er nach Zürich, 1939 weiter nach New York. Trotz dieser sehr ungünstigen Ausgangslage gewann Die Blendung nach einer Rezension in der Neuen Freien Presse an Publikum, so Hermann Broch an Canetti unter Berufung auf Reichner.11 Anschließend erschienen im gesamten deutschsprachigen Raum Rezensionen. Bekannte Autoren wie Thomas Mann und Hermann Hesse äußerten sich positiv über den Roman, was der Verlag für seine Bewerbung des Buches nutzte. So findet sich auf einem Werbefolder die folgende Aussage aus einem Brief Thomas Manns an Canetti: „Ich bin aufrichtig angetan von der krausen Fülle dieses Romans, dem Débordieren seiner Phantasie, der gewissen erbitterten Großartigkeit seines Wurfs, seiner dichterischen Unerschrockenheit, seiner Traurigkeit und seinem Übermut“.12 Noch im Mai 1937 fuhr Canetti zu einer Lesung aus seinem Roman nach Prag auf Einladung des später unter dem Namen H. G. Adler bekannt gewordenen Dichters, der von Walter Hollitscher auf Canetti aufmerksam gemacht worden war – einem weiteren Freund aus dem Umkreis der Arbeiter-Zeitung, der in Canettis Autobiografie fehlt. In Prag war Die Blendung schon 1936 auch in der tschechischen Übersetzung von Zdenka Münzrová erschienen (Hanuschek, 2005, 196, 261). Man könnte Canetti als einen Schriftsteller bezeichnen, der auf dem Weg zum Erfolg war, als der Nationalsozialismus die deutschsprachige Kulturnation, die seinen Weg zum Schriftsteller erst ermöglichte, ausmerzte. Canetti sah sich in der Wiener Zeit als Teil dieser Kulturnation, was sich auch in seinen Notizen zu Heimat und Sprache in dieser Zeit widerspiegelt, um die es im Folgenden gehen soll.

Canettis Einrichtung in der Einsprachigkeit in der Wiener Zeit Canettis Aufzeichnungen zu Heimat und Sprache in der Wiener Zeit unterscheiden sich deutlich von seinen Gedanken zu diesen Themen im Exil. Das 11 12

Brief vom 6. Dezember 1935 von H. Broch an E. Canetti, NL Canetti 64. NL Canetti 64. Vgl. Göpfert, 1975, 123.

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Wien der Zwischenkriegszeit, das noch vom transnationalen Erbe der Habsburgermonarchie geprägt ist, lässt ihn an ein Gefühl von Heimat glauben, wie er es später nicht mehr äußern sollte, wie der erste Teil dieses Abschnitts zeigt. Die Funktion des Deutschen in dieser Kulturnation als Lingua franca könnte ihn dazu inspiriert haben, Einsprachigkeit als eine Möglichkeit zu sehen, sprachliche Gräben zu überwinden, wie anschließend erläutert wird. Mehrsprachigkeit galt ihm in dieser Zeit in Anlehnung an einen Sprachnationalismus, dem er später sehr kritisch gegenüberstehen sollte, noch als Grundlage für Krieg, Einsprachigkeit als mögliche Lösung für solche Konflikte. Dieser feste Glaube an Einsprachigkeit manifestiert sich schließlich auch in seinen Übersetzungen, um die es am Ende dieses Abschnitts gehen soll. Anne Peiter hat gezeigt, dass Canetti in seinen Aufzeichnungen aus den 1920er und 1930er Jahren ein deutlich anderes Verständnis von Heimat vertrat als im Londoner Exil (Peiter, 2007). In dieser Zeit betrachtete er Migration noch nicht als Möglichkeit, nationales Denken zu überwinden. Vielmehr setzte er sich in einer Aufzeichnung aus dem Jahr 1929 damit auseinander, dass man ihm aufgrund seiner vielen Migrationen „Mangel an Heimatgefühl“ vorwerfen könnte. Diese Gedanken gehen auf das antisemitische Stereotyp des wandernden und heimatlosen Juden zurück (Peiter, 2007, 50). Doch Canetti nannte dieses nicht explizit und hinterfragte es auch nicht. Vielmehr wehrte er sich gegen den Vorwurf, indem er sein Heimatgefühl betonte und dabei sogar deutschnationales Gedankengut anklingen ließ: Vielleicht wird man mir Mangel an Heimatgefühl zum Vorwurf machen. Das verdien ich nicht. Ich gebe zu, dass ich kein Vaterland habe, mein Vater schon war entwurzelt und hatte nichts von einem Türken an sich. Aber jedes Land noch, in das ich kam, begann ich bald zu lieben, der starke Geschmack der Erde schlägt einem überall entgegen.13

Wenn Canetti sein Heimatgefühl in dieser Notiz im „starke[n] Geschmack der Erde“ begründet sah, dann klingt darin die Blut-und-Boden-Ideologie deutschnationaler Bewegungen seiner Zeit an (Peiter, 2007, 51). Solch ein Anklang findet sich auch noch in einer Notiz vom 15. August 1939, in der sich Ca13

NL Canetti 2, zitiert nach Peiter, 2007, 50–51. Dass die verschiedenen Orte, an denen er lebte, für ihn eine besondere Bedeutung hatten, davon rückte er auch später nicht ab. Allerdings formulierte er diesen Gedanken deutlich anders: „Die wechselnden Schauplätze meines frühen Lebens nahm ich ohne Widerstand auf. Ich habe es nie bedauert, daß ich als Kind so kräftigen und kontrastreichen Eindrücken ausgesetzt war. Jeder neue Ort, fremdartig wie er anfangs erschien, gewann mich durch das Besondere, das er hinterließ, und durch seine unabsehbaren Verzweigungen.“ (Canetti, 1993b, 9)

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netti rückblickend auf die Wiener Zeit als „Bauer“ bezeichnete: „Es ist ein außerordentliches Glück, aus einer langsam sich abzeichnenden Heimatbahn herausgeschleudert zu werden. Ich war fast ein Bauer, jetzt bin ich wieder ein Zigeuner“.14 Doch diese Notiz, die nicht einmal ein Jahr nach seiner Ankunft in London entstand, unterscheidet sich deutlich von seinen Gedanken aus dem Jahr 1929, denn jetzt ist die Wanderschaft und nicht das entstehende Heimatgefühl positiv konnotiert, wobei das Heimatgefühl in dieser Aufzeichnung deutlich mit seiner langen Zeit in Wien verbunden ist. In einer Aufzeichnung aus dem Jahr 1942 schließlich findet sich die Idee verankert, dass gerade die Emigration den Menschen zum Weltenbürger macht: „man sollte in mehreren sukzessiven Emigrationen leben; überall als Fremder angesehen, nicht sehr erwünscht, zum Lernen in jedem Lebensalter gezwungen; so könnte man allmählich wirklich zum Weltbürger werden.“15 Genauso lässt sich feststellen, dass sich Canettis Gedanken zu Mehrsprachigkeit, die er in der Wiener Zeit notierte, deutlich von jenen unterschieden, die er im Exil formulierte. In der Praxis war Canetti auch in der Wiener Zeit weiterhin daran interessiert, seine Mehrsprachigkeit noch zu erweitern. In seinen Notizblöcken aus den 1920er Jahren finden sich immer wieder Übungen zur türkischen Sprache in arabischer Schrift und lateinischer Umschrift.16 Und einer seiner zahlreichen Arbeitspläne aus den frühen 1930er Jahren beinhaltet eine lange Liste von Aufgaben, die die Perfektionierung schon bekannter und das Erlernen neuer Sprachen betreffen: Vertiefung der Kenntnisse des Englischen, Französischen, Spanischen und Italienischen […] / Holländische Leseversuche ohne eigenes Lernen / […] Neu zu lernen als nächste Sprache: das Russische (unter gleichzeitigem Überblick auf die übrigen slawischen Sprachen) / Fortzusetzen das Türkische, vielleicht später von da ausgehend Persisch und Arabisch, eventuell Hebräisch / […] Das alles hat akzentfrei zu geschehen.17

Theoretisch jedoch stand Canetti der mehrsprachigen Welt äußerst kritisch gegenüber. Das zeigt sich in einer Notiz aus dem Juli 1934, in der er die Sprachen dafür verantwortlich erklärte, dass es in der Welt internationalen Kapitalismus und Krieg gibt, und deswegen dazu aufrief, die Sprachen auszumerzen. Nur in 14 15 16 17

NL Canetti 2, zitiert nach Peiter, 2007, 51. Aufzeichnung vom 1. September 1942, NL Canetti 6, zitiert nach Hanuschek, 2005, 334. Vgl. zum Beispiel: Notizblock Wien, 1926, S. 1–30, NL Canetti 2. Frühe Manuskripte und einzelne Blätter aus Wien 1930–1933, NL Canetti 5.1, Hervorhebung im Original.

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einer einsprachigen Welt könne Frieden herrschen, so seine Auffassung zu dieser Zeit: Oh wie ich ihn erleben würde, der Tag, an dem in den Schulen, manchen Schulen bloss, wohl, verstanden als klassische tote verhasste Sprachen statt Griechisch und Latein unterrichtet werden: Deutsch, Französisch, Englisch, Spanisch, Italienisch. Der Teufel soll sie alle holen, diese mörderischen Sprachen; ein phantasieloser Wicht, wer die Strassburger Eide nicht mit abgrundtiefer Verzweiflung statt mit der Rührung der Philologen liest! Und die Sprachen, die du lernst, lerne mit der Liebe zum Sinnlosen, aber nie sag ihnen Ja, sonst sagst du den Kriegen Ja. Es wäre leichter, die Munitionsfabrikanten einer einsprachigen Erde hätten ihre eigenen Armeen, Landsknechte, Waffen – Schweizer sozusagen, die teuflisch für sie Krieg führen. Der internationale Kapitalismus, so gleich er im Wesen überall ist, zieht aus der Verschiedenheit der Sprachen seine Nahrung. Schlagt die Sprachen tot!18

Diese Ideen Canettis sind stark in einem Sprachnationalismus verankert, wie er zum Beispiel von Wilhelm von Humboldt in seinem Aufsatz „Ueber den Einfluss des verschiedenen Charakters der Sprachen auf Literatur und Geistesbildung“ Anfang des 19. Jahrhunderts formuliert wurde: „Im Grunde ist die Sprache […] in ihrem regen, lebendigen Daseyn, nicht auch die äussere bloss, sondern zugleich die innere, in ihrer Einerleiheit mit dem durch sie erst möglichen Denken, die Nation selbst und recht eigentlich die Nation“ (Wilhelm von Humboldt, zitiert nach Stukenbrock, 2005, 299). Auch Canetti sieht in dieser Notiz das Denken durch die Sprache determiniert und die Sprache wiederum untrennbar mit der Nation verbunden. Das zeigt seine Bezugnahme auf die Straßburger Eide. Mit diesen Eiden aus dem Jahr 842 verbündeten sich zwei Enkel Karls des Großen, Karl der Kahle und Ludwig der Deutsche, im Kampf um die Vorherrschaft im Heiligen Römischen Reich gegen den dritten, Lothar, der den Kaisertitel geerbt hatte. Beide besiegelten diesen Bund in der Sprache des jeweils anderen. In nationalhistorischen Auslegungen gelten die Straßburger Eide als erster Ausdruck der sprachlichen und politischen Trennung der Territorien, die später Frankreich und Deutschland werden sollten (Eloy, 1994, 405). Wenn Canetti diese Eide als Ursprung heutiger Kriege zitiert, bewegt er sich genau in dieser Interpretation von Sprachen und Nationen. Er ging sogar noch weiter, indem er den Schriftstellern eine Mitverantwortung am Krieg gab, weil sie die Nationalsprachen erhalten: „Zweifellos liegt das Unglück der Nationen in ihren Sprachen und nirgends sonst. Im Grunde ist heute jeder grosse Dichter ein Feind der Menschheit. Er verlängert den Bestand der Sprache, in der er dichtet, und damit, auch ohne 18

Notizblock Strassburg, 25. Juli 1934, S. 39–40, NL Canetti 3.23.

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es zu wollen, den Bestand der Nationen.“19 Erst im Exil überwand Canetti dieses nationalsprachliche Denken in einer Utopie eines Landes, in dem mehrere dieser kämpfenden Sprachen vereint sind. Er notierte am 22. März 1941: „Ein kleines Land, in dem die streitenden Sprachen der Welt schon immer zu Hause sind, also eine Schweiz mit noch englischen, spanischen und russischen Kantonen wäre das ideale Refugium des Geistes“.20 Im August 1942 schließlich werden ihm Migration und Mehrsprachigkeit zum Mittel, Feindschaft und Krieg zwischen den Nationen zu überwinden, indem die Nationen über die Menschen miteinander verbunden werden. Deswegen spielte er mit dem Gedanken, dass jeder Mensch dazu gezwungen werden sollte, in mehreren Nationen und Sprachen zu leben: Man stammt aus mindestens drei Ländern zugleich, die nicht benachbart sein dürfen. Verbundene Nationalitäten. „Woher sind Sie?“ „Aus Spanien, Japan und Litauen.“ Ihre Muttersprache?“ „Persisch.“ „Ihre Vatersprache?“ „Englisch.“ Die Heimaten sind Länder, in denen man zumindest fünf Jahre gelebt hat. Man ist verpflichtet, die Sprache eines solchen Landes zu beherrschen. Man ist verpflichtet, seinen Wohnsitz manchmal zu wechseln, darf aber, vom 50. Jahr ab, sich ganz dort niederlassen, wo es einem am besten gefällt.21

In dieser Utopie wird Migration und Mehrsprachigkeit zur Normalität, die in jedem einzelnen Menschen Verbindungen zwischen den Nationen schafft und damit Feindschaft und Krieg ausmerzt. Einsprachige dagegen, so Canetti in derselben Aufzeichnung weiter, gelten in dieser Welt als „Idioten“. Doch in seiner Aufzeichnung aus dem Juli 1934 sah Canetti noch die Ausmerzung aller Sprachen und damit die weltweite Einsprachigkeit als Lösung für den Konflikt zwischen Sprachen und Nationen. Damit verweist er auf einen Idealzustand vor der babylonischen Sprachenverwirrung, als alle Menschen nur eine Sprache sprachen. Auf diese biblische Geschichte nahmen auch andere zeitgenössische jüdische Denker Bezug, die allerdings die Sprachverwirrung und damit die Mehrsprachigkeit nicht als Problem, sondern als Bereicherung interpretierten. Karl Kraus, zum Beispiel, sah in seinem Essay „Schöne Aussichten“ aus dem Jahr 1929 den Sprachverfall im Österreichischen im engen Zusammenhang mit dem Verlust der Mehrsprachigkeit in Wien: 19

20 21

Die Aufzeichnung steht unter der Überschrift Pariser Tagebuch, September 1933, NL Canetti 5a. 1976 sollte sich Canetti in seiner Rede „Der Beruf des Dichters“, die er 1995 in der zweiten Ausgabe des Essaybandes Das Gewissen der Worte veröffentlichte, mit der Frage auseinandersetzen, ob ein Dichter nicht den Krieg verhindern können müsste, und formulierte darin für sich die Verantwortung, „sich dem Tod entgegenzustellen“ (Canetti, 1995b, 371). NL Canetti 5a, zitiert nach Peiter, 2007, 52. Aufzeichnung vom 2. August 1942, NL Canetti 6, zitiert nach Hanuschek, 2005, 334.

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Wien erleidet insoferne das Schicksal Babels, als der Herr daselbst verwirret hatte eines einzigen Volkes Sprache. Oft denke ich mir, wie eine Nation, die so auf die Fremden angewiesen ist, mit der Verpönung fremder Sprachen auskommen kann und ob es dem gebrochenen Deutsch allein auf die Dauer gelingen könnte, sich zu verständigen. […] man kann wohl sagen, daß seit der Lostrennung von den anderen Nationen in Österreich nicht mehr Deutsch gesprochen wird. (Kraus, 1954, 274–275)

Kraus deutete also den Verlust des Vielvölkerreichs und der damit einhergehenden Mehrsprachigkeit als Verlust für die deutsche Sprache, die zu einer nationalen Sprache reduziert wurde und damit „das Überleben eines sei es vor-, sei es übernationalen Deutsch, eines Deutsch jenseits seiner Ethnifizierung unmöglich“ machte (Braese, 2010, 239, Hervorhebung im Original). Anders als Canetti zur selben Zeit betrachtete Kraus damit die Mehrsprachigkeit als Mittel gegen die Nationalisierung der Sprachen. Ähnlich sah Walter Benjamin in seinem Aufsatz „Die Aufgabe des Übersetzers“ aus dem Jahr 1923 die Funktion des Übersetzens in der babylonischen Verwirrung der Sprachen. Seiner Meinung nach diente Übersetzen nicht dem Gedeihen der Nationalsprache, wie Schleiermacher behauptet hatte, sondern, ganz im Gegenteil, der Entnationalisierung der Einzelsprachen. Zu diesem Zweck sollte der Übersetzer „morsche Schranken der eigenen Sprache“ brechen (Benjamin, 1972, 19; vgl. dazu Sievers, 2007, 24–28). Canettis Übersetzungen von Upton Sinclair jedoch schienen genau das gegenteilige Ziel zu verfolgen. Er brach nicht die morschen Schranken des Deutschen, sondern passte den Text den Grenzen der deutschen Sprache an. Fremdworte verwendete er nur dann, wenn sie auch im Deutschen geläufig waren, in Ausdruck und Satzbau orientierte er sich an einem flüssigen und idiomatischen Deutsch, und auf Lokalkolorit verzichtete er, um die Fremdheit des Textes auch in dieser Hinsicht zu verringern (Wallinger, 1991). Seine Übersetzung machte also nicht die Vielsprachigkeit der Welt im deutschen Text sichtbar, sondern versuchte diese unsichtbar zu machen. Canetti zeigte sich damit auch in seiner Übersetzungspraxis als Verfechter von Einsprachigkeit. Dieser Hang zur Einsprachigkeit, wie er sich in seinen Aufzeichnungen und seiner Übersetzung manifestiert, findet sich dann auch in Canettis Wiener Werken.

Gesellschaftliche Bruchlinien und deren Abbildung in der Sprache: Die Blendung, Hochzeit und Komödie der Eitelkeit Canettis Wiener Werke werden in diesem Kapitel als Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bruchlinien gelesen, an denen die Welt, in der er zum

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Schriftsteller avancierte, zerbrechen sollte. Als grundlegendes Problem analysiert er dabei den Egozentrismus der Menschen, „die ungeheuerliche Ich-Katastrophe, als die man unsere bisherige Entwicklung anzusehen hat“, wie er es in einer Aufzeichnung im September 1931 formulierte.22 Dieser Egozentrismus lässt sich wiederum an der individuellen Sprache ablesen, so seine Theorie von der akustischen Maske, die im folgenden Abschnitt erläutert wird. Anschließend soll gezeigt werden, wie sich der Einsatz der akustischen Masken in Canettis Werken über die Zeit veränderte und sich dabei eine immer deutlichere politische Stellungnahme zu den Ereignissen seiner Zeit herauskristallisierte. In seinem Roman Die Blendung illustriert Canetti, wie die Gesellschaft zerfällt, indem er Figuren kreiert, die so unterschiedliche Sprachen sprechen, dass sie einander nicht mehr verstehen können. In seinem Drama Hochzeit geht er über diese individuellen Unterschiede hinaus und identifiziert den allen gemeinsamen Egoismus als Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenbruchs. In der Komödie der Eitelkeit schließlich zeigt er auf, wie auch staatliche Verbote den Egoismus des Menschen nicht einschränken können, sondern ihn ganz im Gegenteil noch verstärken.

Mehrsprachigkeit in der Einsprachigkeit: Canettis akustische Masken

„Es gibt wohl kein besseres künstlerisches Mittel, das Soziologische zu packen, als die Sprache, die ganz individuelle Sprache, die der Einzelne hat, getreu zu verdichten“, so Canetti in einer Aufzeichnung mit der Überschrift „Über das Sprechen“, die wahrscheinlich 1933 entstand.23 Genau das, den Zustand der Gesellschaft über die Sprache zu erfassen, versuchte Canetti in seinen Wiener Werken umzusetzen. Zu diesem Zweck arbeitete er mit der Theorie der akustischen Maske. Was genau er darunter versteht, beschrieb er zum ersten Mal im schon erwähnten Interview im Sonntag, der Beilage des Wiener Tags, am 18. April 1937. Seiner Meinung nach hat jeder Mensch „eine ganz eigentümliche Art des Sprechens“: „Es genügt nicht festzustellen: er spricht Deutsch oder er spricht im Dialekt […]. Nein, seine Sprechweise ist einmalig und unverwechselbar“ (Canetti, 2005c, 137–138). Diese Einmaligkeit setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen, darunter Tonhöhe, Geschwindigkeit, Rhythmus, aber auch Worte und Wendungen. In dieser ganz spezifischen Sprache des Men22 23

Notizblock Wien, September 1931, NL Canetti 3. Buch mit handschriftlichen Aufzeichnungen von E. Canetti angeschrieben mit: Alte Entwürfe von 1933 an, Pariser Tagebuch 1933, Strassburg 1934, S. 35, NL Canetti 5a.

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schen spiegelt sich wiederum sein Charakter, wie Canetti in einer weiteren Notiz aus dem Jahr 1933 festhält: „Wenn man die Sprache eines Menschen wenige Minuten lang wirklich gehört hat, müsste man imstande sein, alles zu erahnen, was er tut und tun könnte. Man ist das nicht imstande, weil man nicht zu hören versteht.“24 Doch es geht ihm nicht allein darum, den Charakter des Menschen zu erfassen, sondern seinen innersten Antrieb zu entlarven: „jeder Mensch [hat] einen Traum […], der immer wiederkehrt, der am wichtigsten wird, von dem er getrieben ist, der ihn von anderen Menschen unterscheidet – man könnte es seinen Privatmythus nennen“ (Canetti, 2005b, 235).25 In diesem umfassenden Sinne, also in Bezug auf sprachliche Charakteristika und damit zusammenhängende inhaltliche Ideen, gelten die akustischen Masken Canetti als unterschiedliche Sprachen, wie er es 1937 formulierte: „Das Drama lebt auf eine ganz eigene Art in der Sprache. Fast könnte man, wenn es nicht so mißverständlich wäre, sagen: es lebt in den Sprachen“ (Canetti, 2005c, 137). Auch wenn sich Canetti hier nur auf das Drama bezieht, weil das Interview vor einer Lesung seines Stücks Hochzeit im Festsaal des Architektenvereins erschien, gilt das genauso auch für seinen Roman Die Blendung, wie später gezeigt werden soll. Canettis akustische Masken sind fest in der Wiener Sprache verankert. Die poetische Qualität dieser Sprache entdeckte Canetti über die Lesungen von Karl Kraus, von denen er allein zwischen 1924 und 1926 63 besuchte (Hanuschek, 2005, 121). Kraus hat ihm „das Ohr aufgetan“, wie er es später in einem Aufsatz über den Autor formulierte (Canetti, 1995d, 136). Besonders seine Lesungen von Nestroys Werken hätten ihm „das Ohr für die Wiener Laute geöffnet“ (Canetti, 2005a, 300). Canetti beschreibt in verschiedenen Texten, wie er selbst begann, sich den Wiener Stimmen zu öffnen, die dann in seine Theorie der akustischen Masken und in seine Werke einflossen (vgl. Naab, 2003, 26–38; Scheichl, 1986, 71–72). Damit schrieb sich Canetti in eine Tradition ein, die seit Ferdinand Raimund die Wiener Sprache zur Grundlage ihrer literarischen Kreativität machte (Scheichl, 1986). Gleichzeitig setzte er sich deutlich von jenen Autoren ab, die seiner Meinung nach nicht genügend Gebrauch von dieser poetischen Qualität der Wiener Sprache machten. So schrieb er in einer Aufzeichnung vom 23. Juni 1942 über Richard Beer-Hofmann und Hugo von Hofmannsthal, „sie 24 25

Notizblock Wien, Juli 1933, NL Canetti 3.16. In diesem Gespräch aus den 1970er Jahren wird aufgrund der Tempora, die Canetti verwendet, deutlich, dass er von seiner Theorie aus den 1930er Jahren Abstand nimmt: So sagt er, dass ihn das „damals viel beschäftigte“ und dass er von diesen Thesen „eigentlich ausging“ (Canetti, 2005b, 235). Das bestätigt wiederum meine These, dass viele seiner Gedanken und Ideen aus den 1930ern zum Thema Sprache später revidiert wurden.

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hätten ihre sprachliche Nährmutter Wien und ihren kraftvollen Dialekt, der bei Nestroy und Kraus so wirkungsvoll gewesen war, vernachlässigt“ (Hanuschek, 2005, 256).26 Canettis Einschreiben in die Wiener Sprache ist dabei als ein Einschreiben in die deutschsprachige Kulturnation zu verstehen, die immer schon mit Wien verbunden war, in der Zwischenkriegszeit dann aber, wie bereits erwähnt, auf Wien begrenzt war. Das zeigt sich auch daran, dass Canetti bei einer Lesung in Zürich feststellen musste, dass seine Sprache schon hier nicht mehr verstanden wurde: Ich las den ersten Teil der „Komödie der Eitelkeit“, in unverfälschtem Wiener Dialekt, ohne jede erklärende Einleitung, in einem Saal mit vielen Menschen, und bedachte nicht, daß die meisten von ihnen den Wiener Dialekt, so bewußt angewandt und konsequent variiert, gar nicht verstanden. (Canetti, 1994a, 165)

Das hing nicht zuletzt auch damit zusammen, wie Canetti las, denn in den gedruckten Werken sind nur wenige seiner Figuren insbesondere in seinen Dramen deutlich im Wienerischen zu verankern, die meisten sprechen hochdeutsch mit wienerischer Färbung (Scheichl, 1986, 72). Dennoch illustriert dieses Nichtverstehen seiner Sprache die sinkende Bedeutung Wiens in der deutschsprachigen Literatur und damit auch die abnehmende Signifikanz des transnationalen Konstrukts einer deutschsprachigen Kulturnation, wie sie in Wien noch existierte. Oder anders ausgedrückt, diese Erfahrung veranschaulicht die steigende Nationalisierung der Literaturen in der Zwischenkriegszeit. Canettis Einschreiben in die deutsche Kulturnation beinhaltete auch, dass von der Mehrsprachigkeit Wiens, wie sie oben beschrieben wurde, in seinen Werken wenig zu spüren ist. Die verschiedenen Sprachen, die in Wien gesprochen wurden, kommen nicht vor. Seine Wiener Stimmen sind deutschsprachige Stimmen. Und nur zwei Figuren sprechen ein Deutsch, dem seine Herkunft aus einem anderen Sprachraum anzuhören ist: der Hausbesorger Franz Josef Kokosch im Drama Hochzeit und Marie, „das Mädchen für alles“, wie sie im Personenverzeichnis der Komödie der Eitelkeit genannt wird (Canetti, 1995e, 72). Diese Markierung hat hauptsächlich eine soziale Funktion, beschreibt sie 26

Auch Canettis Bezug zur Wiener Sprache sollte sich im Exil verändern. So schrieb er in unveröffentlichten Reisenotizen aus dem Jahr 1953 bei seiner ersten Rückkehr nach Wien nach dem Krieg: „Ich ertrage die Sprache nicht mehr, die Sprache der Wiener […] jetzt bin ich in Wien und es kostet mich große Überwindung zu hören.“ NL Canetti 57, zitiert nach Peiter, 2007, 56.

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doch eine Position am untersten Ende der gesellschaftlichen Skala. Auch an anderen Figuren lässt sich diese soziale Funktion von Mehrsprachigkeit in Canettis Wiener Werken demonstrieren. So illustriert in Die Blendung die Mehrsprachigkeit des Sinologen Peter Kien, der „über ein Dutzend östlicher Sprachen“ (Canetti, 1994b, 15) beherrscht, und seines Bruders, des Psychologen Georg Kien, der in Paris lebt und arbeitet, genauso wie ihre gewählte Ausdrucksweise im Deutschen ihre bürgerliche Herkunft. Nur einmal kommen die fremden Sprachen konkret im Text vor, und zwar nicht von ihnen selbst, sondern im Dialog zwischen den beiden, vom jeweiligen Gegenüber gesprochen, also wie in den Straßburger Eiden als Anerkennung der Sprache des jeweils anderen. So sagt Georg Kien zu seinem Bruder: „‚San‘ heißt drei und ‚wu‘ fünf, das ist alles, was ich weiß“ (Canetti, 1994b, 470), und Peter Kien wirft an einer Stelle ein lapidares: „Voilà un homme!“ ein (Canetti, 1994b, 475). Dennoch setzen sie sich durch ihre Mehrsprachigkeit deutlich von allen anderen Charakteren im Roman ab. In einer Szene spricht ein Polizist das Wort „Clown“ aufgrund des „gebildete[n] Eindruck[s], den er von [Peter] Kien erhalten hatte“, englisch aus. Daraufhin übersetzt ein zweiter Polizist das Wort „in die deutsche Aussprache“: „Von diesem Augenblick an stand er im Verdacht, heimlich Englisch zu können“ (Canetti, 1994b, 338). Die soziale Funktion von Mehrsprachigkeit zeigt sich schließlich auch an der Figur Fischerles, der sich für seine geplante Auswanderung nach Amerika innerhalb kürzester Zeit vom Dieb in einen angesehenen Bürger zu verwandeln versucht und dafür auch Englisch zu lernen beginnt, wobei hier tatsächlich einige einfache Wörter auch im Text vorkommen (Canetti, 1994b, 389–395). Dennoch kann man Canettis Wiener Werke keineswegs im üblichen Sinne als mehrsprachig bezeichnen. Andere Sprachen spielen nur am Rande eine Rolle und dienen nicht der Infragestellung von Einsprachigkeit, wie sie im Sprachnationalismus verankert ist, sondern markieren den sozialen Status einer Figur. Der Mehrsprachigkeit der Figuren in der deutschen Sprache, also ihren akustischen Masken, kommt dagegen eine ganz eigene Funktion zu. Sie illustriert soziale Dissonanzen, die jedoch in den einzelnen Werken unterschiedlich interpretiert werden.

Krieg zwischen den Sprachen: Die Blendung

Canettis Roman Die Blendung kann als eine der extremsten Umsetzungen der Theorie von den akustischen Masken gelesen werden, denn die einzelnen Figuren leben in diesem Roman in so unterschiedlichen Welten und Sprachen, dass sie füreinander kein Verständnis aufbringen können. Der Großteil des Romans

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wird aus den Perspektiven und in den Sprachen dieser Figuren erzählt, wobei die Perspektiven ständig wechseln (Darby, 1992, 27). Diese multiperspektivische Erzählhaltung ohne übergeordnete Erzählinstanz wurde von Canetti bewusst eingesetzt, um die Zerfallenheit der Welt zu illustrieren: Eines Tages kam mir der Gedanke, daß die Welt nicht mehr so darzustellen war wie in früheren Romanen, sozusagen vom Standpunkt eines Schriftstellers aus, die Welt war zerfallen, und nur wenn man den Mut hatte, sie in ihrer Zerfallenheit zu zeigen, war es noch möglich, eine wahrhafte Vorstellung von ihr zu geben. (Canetti, 1995a, 331)

Was den Roman zusammenhält, sind die bewusst stereotyp angelegten und satirisch überzeichneten Figuren – der realitätsferne Wissenschaftler, die Femme fatale und der hinterlistige Jude27 –, die dem Leser ermöglichen, trotz der ständig wechselnden Perspektiven fast jede Aussage einer Figur zuordnen zu können. Gleichzeitig führen sie ihm aber auch vor Augen, wie stark seine eigene Welt durch fixe Vorstellungen von anderen Menschen geprägt ist (Evers, 2013, 207). Canetti lässt diese verschiedenen Figuren in seinem Roman aufeinanderprallen. Ihre Missverständnisse führen zu kriegerischen Auseinandersetzungen, ganz im Sinne von Canettis Verständnis in dieser Zeit, dass die Vielsprachigkeit der Welt Ursache des Kriegs ist. Diese These soll im Folgenden anhand der Beziehung zwischen Professor Peter Kien und seiner Haushälterin Therese Krumbholz illustriert werden, gilt jedoch auch für andere Figuren in ihrer Auseinandersetzung mit Peter Kien. So heißt es an einer Stelle zur Beziehung zwischen ihm und Fischerle: „Seit diesem Tage führten die beiden einen Kampf auf Leben und Tod gegeneinander“ (Canetti, 1994b, 238). Die Hauptfigur des Romans, Peter Kien, ist ein „Büchermensch“, wie Canetti ihn zunächst nannte (Canetti, 1995a, 323): Seine Welt besteht aus Büchern (vgl. zur folgenden Darstellung Kiens Darby, 1992, 38–45; Djoufack, 2010, 260–266). Sie okkupieren sein Denken und seine Sprache, die von Zitaten aus seinen Büchern durchsetzt ist, wobei er diese zur Bestätigung seiner Theorien in seinem Sinne umformuliert (Zhang, 2007). Die Welt jenseits von Büchern versucht er von sich fernzuhalten. Er ist „Ein Kopf ohne Welt“, so die Überschrift des ersten der drei Teile des Buches. Einen seiner größten Träume hat Kien sich 27

In der kritischen Auseinandersetzung mit Canettis Roman erhalten diese überzeichneten Figuren viel Aufmerksamkeit. Im Zentrum steht die Frage, ob die Darstellung Thereses frauenfeindlich bzw. die Darstellung Fischerles ein Anzeichen für jüdischen Selbsthass ist (Herzog, 2011, 154). Inzwischen werden die Figuren jedoch meist als bewusst überzeichnet gelesen (Donahue, 2001; Evers, 2013).

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mit seiner Bibliothek erfüllt. Sie ist „seine Heimat. Hier kann ihm nichts geschehen“ (Canetti, 1994b, 57). Sie riegelt ihn von allen Störungen der Außenwelt und insbesondere von anderen Menschen ab: Täglich, bevor er sich an den Schreibtisch setzte, segnete er Einfall und Konsequenz, denen er die Erfüllung seines höchsten Wunsches dankte: den Besitz einer reichhaltigen, geordneten und nach allen Seiten hin abgeschlossenen Bibliothek, in der ihn kein überflüssiges Möbelstück, kein überflüssiger Mensch von ernsten Gedanken ablenkte. (Canetti, 1994b, 21)

Das Einzige, wovon er jetzt noch träumt, ist die Erweiterung dieser Bibliothek (Canetti, 1994b, 145). Sein größter Albtraum wiederum handelt davon, dass sie in Flammen aufgehen könnte (Canetti, 1994b, 38–41). Kien arbeitet nicht nur in seiner Bibliothek, er lebt in ihr. Seine Mahlzeiten nimmt er am Schreibtisch ein, ohne je wahrzunehmen, was er isst: „Das Bewußtsein bewahre man für wirkliche Gedanken“ (Canetti, 1994b, 27). Und er schläft in seiner Bibliothek, obwohl er auch diese Notwendigkeit des alltäglichen Lebens aus seinen Gedanken zu verdrängen versucht: „Außerdem machte sich da [in der Bibliothek] ein Diwan schmal, den Kien gern übersah, weil er auf ihm bloß schlief “ (Canetti, 1994b, 22). Wenn er seine Bibliothek am Morgen für einen kleinen Spaziergang verlässt, dann nicht ohne einige seiner Bücher mitzunehmen, um sich gegen die Verlockungen der Welt außerhalb seiner Bibliothek zur Wehr setzen zu können, wobei in seinem Fall die einzige Verlockung darin besteht, dass er noch mehr Bücher kaufen könnte: Einen winzigen Bruchteil [seiner Bibliothek] führte er immer mit sich. Seine Leidenschaft für sie, die einzige, die er sich in seinem strengen und arbeitsreichen Leben gestattete, zwang ihn zu Vorsichtsmaßregeln. Bücher, auch schlechte, verlockten ihn leicht zum Kauf. (Canetti, 1994b, 9)

Für Kien ist seine Bibliothek ein menschliches Wesen, er beschreibt sie an einer Stelle sogar als seine „Geliebte“ (Canetti, 1994b, 93). Seine Bücher behandelt er wie Menschen, verpasst ihnen einen Klaps, wenn sie nicht folgen (Canetti, 1994b, 33), bespricht mit ihnen wichtige Entscheidungen (Canetti, 1994b, 47), hält ihnen Reden (Canetti, 1994b, 93–97) und beklagt den unmenschlichen Umgang der Menschen mit Büchern im Theresianum, der staatlichen Pfandleihanstalt (Canetti, 1994b, 225). Menschen dagegen verachtet Kien: „Kein Mensch ist soviel wert wie seine Bücher“ (Canetti, 1994b, 234). Verspürt er Lust zu sozialem Austausch, dann wendet er sich an seine Bücher um Hilfe: „Er lief nicht auf die Straße und ließ sich mit keinem Narren in irgendwelche

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gleichgültigen Gespräche ein. Im Gegenteil, er belebte die Bibliothek mit erlesenen Freunden“ (Canetti, 1994b, 43). Nur über ihr Interesse für Bücher nimmt er Menschen wahr. So fragt er den Nachbarjungen, den er in der ersten Szene des Buches bei seinem Morgenspaziergang trifft: „Was hast du lieber: eine Schokolade oder ein Buch?“ (Canetti, 1994b, 7) Und seine Haushälterin, Therese Krumbholz, nimmt er nach acht Jahren zum ersten Mal als Menschen wahr, als er einer ihrer Reden zu entnehmen glaubt, dass sie sich für Bücher interessiert: „Diese ungebildete Person legte so viel Wert aufs Lernen. Sie hatte einen guten Kern in sich“ (Canetti, 1994b, 36). Mit diesem Satz beginnen die Missverständnisse zwischen den beiden Figuren, die schließlich zum Krieg führen. Grundlage dieser Missverständnisse ist, dass sie einander nicht zuhören, sondern immer nur jene Wörter aufschnappen, die sich in ihre Welt eingliedern lassen, oder mit den Worten Canettis: Die Dialoge zeigen, „wie man sich nicht versteht“ (vgl. Djoufack, 2010, 281–287).28 So verwendet Therese in der besagten Szene tatsächlich zwei Mal das Wort „lernen“, allerdings in einer Schmährede, in der es um die Verkommenheit der Jugend geht, der es an Zucht und Ordnung mangelt: „Wenn ein Kind nichts hat lernen wollen, haben’s die Eltern aus der Schule genommen und in die Lehre gegeben. […] Solang sie klein sind, lernen sie nichts, und wenn sie groß sind, arbeiten sie nichts“ (Canetti, 1994b, 36). Solche floskelhaften Klagelieder über den schlechten Zustand der Gesellschaft sind ein Markenzeichen von Thereses Sprache, deren Sprachschatz nach Aussage von Kien „aus fünfzig Worten“ besteht (Canetti, 1994b, 332). Genauso klein ist auch Thereses Welt, wie ein Einblick in diese aus ihrer Perspektive zeigt: Sie sieht wenig in ihrem Leben. Sie ist nie über die Stadtgrenzen hinausgekommen. Ausflüge macht sie nicht, weil es schade ums Geld ist. Baden geht sie nicht, weil es unanständig ist. Reisen mag sie nicht, weil man sich nirgends auskennt. Wenn sie nicht einkaufen müßte, würde sie am liebsten immer zu Hause bleiben. Man wird sowieso von allen Menschen angeschwindelt. Die Preise steigen von Jahr zu Jahr, und früher war alles anders (Canetti, 1994b, 34).

In diesen wenigen Sätzen finden sich alle Elemente von Thereses Sprache und Welt, die genauso klein ist wie jene Kiens, wenn auch aus diametral entgegen28

Das Zitat stammt aus Canettis Aufzeichnungen zu einem dramentheoretischen Vortrag mit dem Titel „Über das Drama“, den er 1938 im Neuen Werkbund Österreichs hätte halten sollen, der jedoch aufgrund des „Anschlusses“ Österreichs an Nazideutschland nicht mehr stattfand. NL Canetti 4.3.

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gesetzten Gründen. Sie beklagt gebetsmühlenartig den Untergang des Abendlandes und betont gleichzeitig ihre eigene Anständigkeit. Anderen Menschen gegenüber ist sie genauso misstrauisch wie Kien. Genau wie er würde sie am liebsten ihr ganzes Leben zu Hause, also in ihrem eigenen kleinen Reich, verbringen, allerdings nicht um sich der Wissenschaft zu widmen, sondern um nicht von anderen Menschen betrogen zu werden und kein Geld ausgeben zu müssen. Und darin liegt der zentrale Unterschied zwischen Therese und Kien: Ihm ist Geld gleichgültig, weil er über ein großes Erbe verfügt. Ihr ganzes Streben dagegen gilt dem Geld. So bewirbt sie sich um die Stelle bei Kien, weil ihr bei seiner Annonce die Worte „Gehalt Nebensache“ ins Auge stechen (Canetti, 1994b, 25). Vor Kiens Arbeit hat Therese allein deswegen Respekt, „weil er ihr das hohe Gehalt regelmäßig ausbezahlte“ (Canetti, 1994b, 27). Doch als sie entdeckt, dass er morgens eine Dreiviertelstunde darauf verwendet, sich in seiner Bibliothek Bücher für seinen Spaziergang zusammenzusuchen, beginnt sie an seinem Verstand zu zweifeln. Für seine Welt hegt sie genauso wenig Verständnis wie er für ihre: „Was macht er mit den vielen Büchern? Er kann sie doch nicht alle auf einmal lesen. Bei ihr nennt man so einen Menschen einen Narren, nimmt ihm das Geld weg, damit er das Geld nicht vertut, und läßt ihn laufen“ (Canetti, 1994b, 34). Diese beiden Welten prallen im Roman aufeinander, weil jede der beiden Figuren sich von der anderen die Erfüllung bzw. Erhaltung des eigenen Traumes erhofft. Therese erwartet sich von einer Anstellung bei einem Junggesellen einen gesellschaftlichen Aufstieg durch die Ehe: „Sie war noch eine junge Person, keine 48 Jahre alt, und wollte am liebsten zu einem alleinstehenden Herrn“ (Canetti, 1994b, 25). Kien beginnt in ihr nach seinem Albtraum vom Brand seiner Bibliothek immer mehr eine Geistesverwandte zu sehen, die die Bücher im Falle eines Brandes retten würde (Canetti, 1994b, 42–43). Aus diesem Grund beschließt Kien, seine Haushälterin zu heiraten. Damit beginnt der Krieg, den Therese mit Taten und körperlicher Gewalt und Kien mit Worten führt. Therese okkupiert die Bibliothek (Canetti, 1994b, 61), prügelt Kien fast zu Tode (Canetti, 1994b, 162–163) und vertreibt ihn schließlich aus seiner Bibliothek und damit aus seiner Heimat (Canetti, 1994b, 176–177; vgl. Djoufack, 2010, 267–271). Kien dagegen versucht zunächst, sie dadurch auszublenden, dass er sie vertraglich zum Schweigen verpflichtet (Canetti, 1994b, 62). Dann ruft er seine Bibliothek zum „Heiligen Krieg“ gegen Therese auf (Canetti, 1994b, 97). Als auch diese Strategie scheitert, deutet er die Realität so um, dass er Therese für tot erklären kann, weil er sie allein in der Wohnung eingesperrt hat und sie deswegen verhungert ist. An diesem Wahn hält er fest, obwohl er ihr mehrmals begegnet, und an ihm geht er zusammen mit seiner Welt zugrunde. Nach der

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Rückkehr in seine Bibliothek, zu der ihm sein Bruder Georg verhilft, macht er sich mit Streichhölzern auf dem Teppich seiner Bibliothek auf die Suche nach den Spuren ihres Todes und beginnt dabei, seine Bibliothek in Brand zu setzen. Aus Angst, aufgrund des Mords an Therese von seiner Bibliothek getrennt zu werden, verbrennt er sich schließlich selbst auf einem Scheiterhaufen aus Büchern: „vereint bis in den Tod FEUERTOD“ (Canetti, 1994b, 509, Hervorhebung im Original). Canetti zeigt also in diesem Roman auf, wie die Welt am gegenseitigen Unverständnis zerfällt. Am Rande jedoch deutet sich eine zweite These an, die dann im Drama Hochzeit herausgearbeitet wird, nämlich dass diese Welten sich nur oberflächlich unterscheiden, die Menschen sich aber in ihrem tiefsten Innersten gleichen. So erwacht auch in Kien die Geldgier, als er glaubt, Therese würde ihm ein Millionenerbe vermachen, und die Maske des Wissenschaftlers, den Geld nicht kümmert, fällt: „Das Erbteil des Kapitalismus, in seiner Familie jahrhundertelang beliebt und geübt, erwachte mit ungeheurer Kraft, als hätte es in einem Kampf von fünfundzwanzig Jahren nicht längst den kürzeren gezogen“ (Canetti, 1994b, 146). Diese Ähnlichkeit der Figuren in ihrem letztendlichen Streben wird im Drama Hochzeit zentral und führt über die reine Analyse des gesellschaftlichen Zerfalls hinaus, wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden soll.

Zusammenbruch der Gesellschaft: Hochzeit

Im Drama Hochzeit sind die einzelnen akustischen Masken viel weniger differenziert dargestellt als im Roman Die Blendung. Viel deutlicher wird in dem Theaterstück dagegen, dass es sich um Masken handelt, die die wahren Ziele der Figuren verbergen. Im Verlauf des Theaterstücks werden die Figuren mehrmals demaskiert, bis unter den vielen Masken schließlich der ihnen allen gemeinsame pure Egoismus zum Vorschein kommt. Canetti beschreibt diese Technik als Maskensprung, wie er sie schon im primitiven Drama mit den tatsächlich verschiedenen Masken der Figuren angelegt sieht: „Da ist es so, daß eine Figur auftritt […] mit einer Maske, irgendein gefährlicher Geist; plötzlich geht die Maske auf, und dann erscheint dahinter als Gesicht eine andere Maske“ (Canetti, 2005a, 316). Die Figuren entwickeln sich also nicht, sondern entblättern sich Schicht um Schicht. Ganz im Sinne dieser Theorie gibt es im Drama Hochzeit keine Handlung im klassischen Sinne. Das Stück spielt in einem Wiener Mietshaus, das als Abbild der österreichischen Gesellschaft gelesen werden kann, denn in ihm wohnen vom proletarischen Hausbesorger Kokosch im Souterrain bis zur

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großbürgerlichen Familie Segenreich in der Beletage alle unter einem Dach (vgl. Antonic, 2012, 43). Der Zuschauer wird in einem Vorspiel in fünf Bildern durch die verschiedenen Etagen geführt und lernt deren Bewohner kennen, bevor er zum Hochzeitsfest der Familie Segenreich in der Beletage gelangt. Das Stück endet mit dem Einsturz des Hauses und dem Tod fast aller Bewohner. Hochzeit dokumentiert also nicht wie Die Blendung den Zerfall der Gesellschaft in Einzelne, die an ihrem Wahn zerbrechen. Vielmehr zeigt es in einer Art Dystopie, wie die ganze Gesellschaft durch den Egozentrismus, der sich durch alle Schichten zieht, zerstört wird. Damit rücken die Geschichten einzelner Figuren zugunsten einer umfassenderen Darstellung der gesellschaftlichen Zusammenhänge in den Hintergrund. Ganz in diesem Sinne notierte Canetti in einer Aufzeichnung, die sich auf die Zeit zwischen April und Mai 1933 datieren lässt: „Ich schäme mich jetzt Geschichten von Einzelnen zu schreiben. Nicht weil es Einzelne sind, sondern weil es keinen gibt, an dem die volle Größe und Kleinheit des Weltgeschehens ganz aufzuzeigen wäre.“29 Dieses Anliegen manifestiert sich auch schon in dem Drama Hochzeit, das er 1932 abschloss. Kommen wir zunächst zur Demaskierung der einzelnen Figuren. Als Beispiel sollen hier Professor Thut und seine Frau Leni dienen, die im zweiten Bild des Vorspiels vorgestellt werden (vgl. zum Folgenden Przybecki, 2006, 168–170). Wie viele andere Figuren im Stück interessieren auch sie sich dafür, das Haus der schon alten Hausbesitzerin, die immer nur „die Gilz“ genannt wird, zu übernehmen. Zu Beginn des Gesprächs zwischen den beiden trägt Professor Thut die Maske des gelehrten und vernünftigen Professors und Leni die seiner naiven Frau, der er die Welt erklären muss: „Thut: Soll ich dir das erklären, Magdalena? / Leni: Bitte, bitte“ (Canetti, 1995c, 12). Er erläutert ihr, dass sie das Haus der Gilz zum Wohl des Kindes erwerben müssen: „Das Kind darf nicht mit leeren Händen dastehen“ (Canetti, 1995c, 14). Zu diesem Zweck habe er, Thut, den Plan entwickelt, der Gilz noch am selben Abend einen Leibrentenvertrag vorzuschlagen, denn dies würde ihnen aufgrund des Alters der Hausbesitzerin große Geldausgaben ersparen und ihr ermöglichen, das Haus nicht an ihre verhassten Verwandten vererben zu müssen. An dieser Stelle kommt es zum ersten Maskensprung, denn Leni legt ihre Maske der naiven Ehefrau, die ihrem Mann an den Lippen hängt, ab und wirft ihm vor, dass er von diesem Plan schon lange redet, aber nicht handelt – ganz im Widerspruch zu seinem Namen: „Seit einem Monat versprichst du mir jeden Abend, daß du mit ihr über das Haus sprechen wirst. Aber du gehst ja nie! Du gehst ja nie!“ (Canetti, 1995c, 16) Auch sie behauptet dann, dass ihr nur am Wohl des Kindes gelegen sei: „Du hast kein Herz. 29

Notizblock Wien, Ende April/Mai 1933, S. 22, NL Canetti 3.14.

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Dein Kind soll wohl ein schäbiger Beamter werden wie du“ (Canetti, 1995c, 16). Doch am Ende des Stücks kommt es zu einem weiteren Maskensprung, der offenbart, dass es beiden immer nur um sich selbst ging. Als das Haus in sich zusammenfällt und sie fliehen wollen, denken beide nur noch an ihr eigenes Überleben und schieben sich gegenseitig die Verantwortung für das Kind zu: „Thut: Nimm dus! / Leni: Du bist der Vater. / Thut: Du bist die Mutter. / Leni: Du bist gescheit. / Thut: Du verstehst dich drauf “ (Canetti, 1995c, 64). Nachdem das Haus einzustürzen droht, hat das Kind keine Bedeutung mehr für die beiden Figuren. Haus und Kind sterben deswegen gemeinsam, wie sich an der ambivalenten Formulierung Lenis zeigt: „Jetzt ist es tot!“ (Canetti, 1995c, 64) Auch die anderen Figuren des Stücks werden über mehrere Maskensprünge auf ihren puren Egoismus reduziert. Dabei setzt Canetti auf der Hochzeit selbst das Mittel des Spiels im Spiel ein. Eine Figur, die bezeichnenderweise Horch heißt, kreiert das Szenario, dass in 14 Minuten die Welt untergeht, und bittet alle Anwesenden zu beschreiben, was sie in diesem Moment der Bedrohung für „ihr Liebstes“ tun würden: „Wer hat da viel Zeit für sich, wer denkt lang an sich, wer weiß noch was von sich, wenn sein Liebstes dem Tod schon im Maule hängt?“ (Canetti, 1995c, 55) Alle Anwesenden sollen nun unter den Hochzeitsgästen die ihnen liebste Person nennen. Dass dies entgegen dem Mythos der bürgerlichen Ehe, um die es gleich noch gehen soll, nicht die Ehefrauen bzw. -männer sein würden, zeichnet sich schon vorher ab. An dieser Stelle kommt es jedoch zu einem weiteren Maskensprung, denn keine der Figuren nennt die Person, die vorher noch als die liebste galt. Dann wird das Szenario Realität, die Erde fängt an zu beben, das Haus droht einzustürzen, und die Stimmen überschlagen sich. Der Erbauer des Hauses, mit dem sprechenden Namen Segenreich, zwingt alle dazu, in der Wohnung zu bleiben, um seine Ehre und damit sein Ego zu retten: „Ich lasse mich nicht beleidigen […]. Ein Haus, was ich gebaut habe, stürzt nicht ein“ (Canetti, 1995c, 59). Die meisten anderen versuchen, ihn mit neuen Masken dazu zu bewegen, dass er sie gehen lässt. Rosig, zum Beispiel, gibt vor, er müsse seine Frau retten, die er über alles liebt, von der er allerdings vorher noch behauptet hat, er hätte sie zur Strafe zu Hause eingesperrt (Canetti, 1995c, 39, 60). Christa wiederum, die frisch verheiratete Tochter von Segenreich, versucht ihren Ehemann mit verschiedenen Masken dazu zu bringen, ihren Vater zu töten. Zunächst versucht sie es mit den Pflichten des Ehemannes: „Du bist mein Mann. Du mußt mir helfen.“ Dann mimt sie ihre Mutter, die den jungen Ehemann unter Kontrolle hat, indem sie einen Satz ausspricht, den sonst immer die Mutter verwendet: „Ganz wuschelige Augen hat er und das treuherzige Haar.“ Anschließend malt sie ihm aus, der Vater könnte ihn töten. Schließlich

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gibt sie ihm zu verstehen, sie sei schwanger und er müsse sein Kind retten: „Ich bin Mutter. Michel. Du liebst dein Kind.“ (Canetti, 1995c, 65–66, vgl. zum Satz der Mutter 29) Die Maskensprünge häufen sich also am Ende des Stücks und entblößen den puren Egoismus aller Figuren. Wie bereits erwähnt, endet das Stück mit dem Einsturz des Hauses, der aufgrund der repräsentativen Zusammensetzung der Bewohner als Zusammenbruch der Gesellschaft interpretiert werden kann. Doch die Verantwortung für diese Katastrophe wird nicht allen Bewohnern zu gleichen Teilen auferlegt. Auch wenn fast alle sich letztendlich als egozentrisch entpuppen, so konzentriert sich das Stück doch auf die Verlogenheit des Bürgertums, das die dominanten gesellschaftlichen Positionen besetzt. Das zeigt die Zusammensetzung der Hochzeitsgesellschaft, in der ein Architekt, ein Direktor, ein Arzt, ein Apotheker und ein Sargfabrikant vertreten sind. Die Hochzeit dient in diesem Stück als Institution, an der sich die Verlogenheit des Bürgertums besonders deutlich illustrieren lässt, gilt sie doch als Moment der Selbstdarstellung eines bestimmten Milieus und seiner Werte (vgl. Iehl, 2010, 19, 23). Doch das Ideal der bürgerlichen Liebesehe wird von der sexuellen Habgier fast aller Figuren ad absurdum geführt. Damit wird insbesondere eine Schicht demaskiert, die sich als Träger der Gesellschaft geriert. Besonders deutlich wird das an der Figur des Brautvaters Segenreich, der ununterbrochen seine schöpferischen Kräfte als Vater und Architekt preist: „Ich bin der Vater […]. Ich sag, das ist mein Fleisch und Blut. Ich hab auch das Haus gebaut“ (Canetti, 1995c, 26). In dieser Figur verbinden sich damit die beiden Grundpfeiler des Nationalstaats: die Reproduktion der Nation in der Familie und ihre Konstruktion als Gemeinschaft. Allerdings erweisen sich beide im Verlauf des Stücks als brüchig, denn die vielen Affären von Frau Segenreich deuten an, dass er nicht der Vater seiner Kinder ist, und das Haus fällt bei der kleinsten Erschütterung in sich zusammen. Eine Kritik am Konstrukt des Nationalstaats an sich und an seinem Ausschluss von Minderheiten, wie zum Beispiel von Juden, geht damit jedoch nicht einher. Diese sollte sich in Canettis Werk erst im Exil herausbilden. Canetti deutet im letzten Satz des Stücks an, wie sich der gesellschaftliche Zusammenbruch verhindern ließe. Diesen Satz spricht die im Sterben liegende Frau des Hausbesorgers Kokosch. Im fünften Bild des Vorspiels lässt ihr hysterisch betender Mann sie nicht zu Wort kommen, weil er hofft, ihr damit das Leben zu retten, allerdings aus dem einzigen Grund, dass er den Sarg für sie nicht finanzieren kann. Doch in der letzten Szene, in der ihr Mann tot ist, spricht sie einen Satz, der im Gegensatz zu allen anderen Aussagen im Stück steht: „Und da hat er mich auf den Altar gezogen und hat mich küßt und so lieb war er“ (Canetti, 1995c, 70; vgl. Przybecki, 2006, 172). Canetti beschreibt

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diesen Satz als „das einzig Erlösende an dem ganzen schrecklichen Stück“, denn „er ist nämlich der einzige Satz wirklicher Liebe, der in diesem ganzen furchtbaren Geschehnis […] vorkommt“ (Canetti, 2005b, 238). Damit deutet sich an, dass Liebe das einzige Gegenmittel zum Egoismus ist. Ein staatlicher Eingriff dagegen kommt diesem nicht bei, wie Canetti in der Komödie der Eitelkeit illustriert.

Die Utopie der Überwindung des Egoismus in der Politik: Komödie der Eitelkeit

Die Komödie der Eitelkeit ist eine weitere Auseinandersetzung mit dem Egoismus der Menschen. Doch in diesem Drama geht es um die Frage, ob die Politik diesen zügeln kann. Ausgangspunkt ist ein Verbot von Spiegeln, Fotografien und anderen Bildnissen, um die Eitelkeit der Menschen, also ihre Fokussierung auf sich selbst, auszumerzen (Canetti, 1995c, 85–86). Die Kundmachung des Verbots wird mit einem großen Fest verbunden, bei dem alle Spiegel, Fotografien und Bilder öffentlich verbrannt werden. Ziel ist es, in der Bevölkerung ein neues Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen. Das zeigt die endlose Wiederholung des Wortes „wir“ durch den Ausrufer, der das Stück eröffnet: „Und wir, meine Herrschaften, und wir, und wir, und wir, meine Herrschaften, und wir, und wir, wir haben etwas vor“ (Canetti, 1995e, 73). Grundlage dieses neuen Gemeinschaftsgefühls ist die Utopie vom guten Menschen: „der Mensch ist nicht immer ein Schwein, der Mensch kann auch ein Engerl, ein seliges Engerl sein“ (Canetti, 1995e, 74). Doch das Experiment misslingt. Die Menschen ordnen sich dem Verbot zwar vorgeblich unter, finden jedoch anschließend die unterschiedlichsten Wege, es zu umgehen. Einige verdienen ihr Geld damit, anderen zu schmeicheln, andere stellen ihre Augen als Spiegel zur Verfügung, und das ehemalige Bordell mutiert zum Sanatorium, das stundenweise Kammern mit Spiegeln anbietet. Das Drama endet mit der Wiederentdeckung der Individualität, wie die letzten Worte zeigen: „Ich! Ich! Ich! Ich! Ich! Ich! Ich! Ich!“ (Canetti, 1995e, 178) Das Scheitern des Experiments kann als Kritik an den unterschiedlichen gesellschaftlichen Aufbrüchen des frühen 20. Jahrhunderts gelesen werden, mit denen versucht wurde, dem Individualismus mit staatlich diktierten Konstruktionen eines neuen „wir“ zu begegnen. Die Kritik gilt dabei sowohl dem Sozialismus als auch dem Nationalsozialismus, wie sich in verschiedenen Anspielungen zeigt, auf die im Folgenden genauer eingegangen werden soll. Anschließend wird die spezifische Verwendung der akustischen Masken in diesem Stück analysiert, die im Prozess der Vergemeinschaftung an Bedeutung

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verlieren, mit denen jedoch am Ende die Individuen wieder zum Leben erweckt werden. Die Verbrennung der Spiegel und Bilder zu Beginn des Dramas spielt auf die Bücherverbrennung im Mai 1933 an und damit auf die Nationalsozialisten als Zielscheibe der Kritik. Auch die Figur François Fant, die sehr viele Spiegel von einem Dienstmann zum Feuer tragen lässt, verweist mit ihrer Aussage, dass „nicht jeder so große Opfer bringen“ kann (Canetti, 1995e, 80), auf die Nationalsozialisten. Denn auch Hitler und Göring betonten, dass man für die Durchsetzung der neuen Ideologie Opfer bringen müsse (Becker und Becker, 1983, 85–86). Doch das Stück enthält auch eindeutige Anspielungen auf den Sozialismus und sein Bild des neuen Menschen. Teilweise werden die beiden sogar in einem Atemzug genannt. Das zeigt eine Rede der Figur Heinrich Föhn, der mit seiner Verlobten Leda Frisch (später Föhn-Frisch) zu den Verteidigern des Spiegelverbots zählt. Ihre sprechenden Namen können einerseits als frischer Wind gelesen werden, den die neue Ideologie den Menschen einhauchen will, andererseits versinnbildlicht der Name Föhn die heiße Luft, die diese Figur in ihren ideologischen Reden produziert. Zunächst stellt er sein Talent als Ideologe in den Dienst des Spiegelverbots, das seiner Meinung nach der Verweiblichung des Mannes entgegenwirken soll: Wir sind verweiblicht. Das ist unser Unglück. Der Spiegel, ein Apparat aus dem Berufsleben der Frau, hat von uns allen, auch von uns Männern, im eigentlichen Sinne des Wortes Besitz ergriffen. Wir stürmen nicht mehr vorwärts wie ehedem; einen guten Teil unserer Zeit besehen wir uns selbst, so eingehend, als hätten wir uns zu malen, und so liebevoll, als hätten wir vor, mit uns selber eine Ehe zu schließen. (Canetti, 1995e, 87–88)

In dieser Erklärung wird mit dem Satz „Wir stürmen nicht mehr vorwärts“ gleich auf zwei Parteiorgane verwiesen, auf die mit dieser Rede angespielt wird: Der Stürmer, eine nationalsozialistische Wochenzeitung, und Vorwärts, die Zeitung der deutschen Sozialdemokratie, wobei der Begriff sich auch im „VorwärtsHaus“ der österreichischen Sozialdemokratie niederschlug, dem Verlagssitz der Arbeiter-Zeitung (vgl. Holmes, 2007, 97–98). Auch die Ideen, die Föhn hier bezüglich der Bilder von Männern und Frauen formuliert, finden sich in beiden Ideologien wieder. Beide propagieren ein Bild des Mannes als Kämpfer, wobei sich die Frau im Sozialismus dieser männlichen Norm des neuen Menschen anzupassen hat (Hanisch, 2005, 71; Prinz, 2009). Föhns Verlobte Leda übernimmt seinen Diskurs, aber nicht um der Ideologie willen, sondern um ihm in seinen Worten zu schmeicheln: „Ich höre Ihnen gern zu, wenn Sie so reden. Sie haben dann eigentlich etwas Männliches […]. Ja, eigentlich kriegerisch. Sieger“ (Canet-

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ti, 1995e, 88). Doch nur einige Sätze später fallen beide zurück aus der Ideologie des neuen Menschen in eine Vergangenheit mit Kinderbildern von Föhn, der in Ledas Augen dann auch konsequent zum Kind mutiert: „Entzückend! […] So ein süßer kleiner Feuerkopf !“ (Canetti, 1995e, 89) Anders als dem Mann zwängt sie sich dem Kind verliebt in die Arme. Doch das Bild des Mannes als Kämpfer nimmt im Verlauf des Stücks immer mehr Form an. Viele der männlichen Figuren verwandeln sich in Gewalttäter: Der Packer Barloch entwickelt schon am Feuer so eine Wut, dass er fast ein Kind ins Feuer wirft (Canetti, 1995e, 99), dann beginnt er, auf Wände einzuschlagen (Canetti, 1995e, 103). Der Ausrufer Wondrak bedroht seine Frau mit dem Tod: „Das Essen ist ganz kalt. Und dich mach ich kalt“ (Canetti, 1995e, 113), und Direktor Garaus erschlägt seine Frau (Canetti, 1995e, 158). Heinrich Föhn sieht sich im neuen System als eine Art Sonnengott, der den ärmeren Menschen, die nicht über die finanziellen Mittel verfügen, um sich schmeicheln zu lassen oder in Augen zu spiegeln, die Ideologie vermittelt, die es ihnen erleichtern soll, sich seit Jahren nicht im Spiegel gesehen zu haben: „Dazu ist ja die Politik da“ (Canetti, 1995e, 135). Er lebt in einem der ärmeren Viertel, in dem diese Menschen nachts auf der Straße liegen und vorgeben, sie seien krank, um die Vorübergehenden dazu zu verführen, sie anzuschauen und ihnen ihr gesundes Aussehen zu bestätigen. Doch Föhn glaubt, diese Menschen kämen einzig und allein, um ihn zu sehen und zu hören: Diese Menschen wissen zwar nicht, wer hier wohnt. Aber sie ahnen es. Ich bin ihre Sonne. Ich leuchte. Ein Leuchten geht von mir aus. Täglich arbeite ich an mir. Ich habe mich gefunden. Ich lasse die Fenster offen nachts und spüre, wie sie auf jedes meiner Worte lauschen. (Canetti, 1995e, 156)

Föhns Spiegel ist das Leid der Menschen, das ihn, den Politiker, zum einzigen Wesen werden lässt, das diesen Menschen allein durch sein Dasein und seine Reden helfen kann. Sein Interesse gilt dabei jedoch nur sich selbst, denn er hat sich gefunden, bleibt also in der neuen Ideologie der Gemeinschaft weiterhin ein Individuum. Das Spiegelverbot hat zur Folge, dass die akustischen Masken sich einander anpassen, denn die meisten verfolgen nur noch das Ziel, einen Spiegel zu finden. Um diese Entindividualisierung zu überwinden, beginnen die Menschen sich persönliche Lieder zuzulegen: „Jeder Mensch hat heut sein Lied, das ihm allein gehört und das ihm niemand wegnehmen kann. Ich begreife das. Man will sich wenigstens hören, auf eine ganz bestimmte Weise hören, wenn man sich nicht sehen kann“ (Canetti, 1995e, 136). Die Stadt ist deswegen auch nicht mehr von

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Stimmen, sondern von „einem Wirrwarr von tausend Liedern“ durchdrungen, wie es zu Beginn des zweiten Teils des Theaterstücks heißt (Canetti, 1995e, 102). Dabei entpuppen sich aber die einzelnen Lieder keineswegs als individuell, sondern als bekannte Gassenhauer. So singt Marie das Lied „In der Nacht, in der Nacht, wenn die Liebe erwacht“ aus Jean Gilberts Operette Die Kinokönigin aus dem Jahr 1913, um ihrem Bedürfnis nach Liebe Ausdruck zu geben. Franzi Nada dagegen singt „Du, du, nur du allein“ – eine Abwandlung von „Wien, Wien, nur du allein“, das Rudolf Sieczyński 1912 komponierte – und gibt damit ihrem Wunsch Ausdruck, ihren Bruder wiederzufinden, den sie verloren glaubt, aber nur nicht wiedererkennt, denn sie begegnet ihm im Stück mehrmals. Doch am Ende des Stücks wird den Figuren wieder Individualität eingehaucht, und zwar indem sie akustische Masken erhalten. Erneut kommt der Anstoß zu dieser Veränderung vom Ideologen Föhn, der damit einmal mehr verrät, dass es ihm nicht um die Ideologie an sich geht, sondern um die Anerkennung seiner eigenen Person. Föhn hält eine Rede, in der er die Phrasen, die einzelne Figuren charakterisieren, nacheinander aufsagt. Die Figur, die sich angesprochen fühlt, zuckt daraufhin zusammen, als würde sie aus einem bösen Traum erwachen. „Jeder soll nach seiner Fasson selig werden! Sind wir nicht mündig und erwachsen? / Der junge Kaldaun zuckt. / Ja, Leichtsinn, dein Name heißt Weib! Du bringst uns um die herrlichen Früchte. Du raubst uns der sauren Mühe Schweiß! / Barloch zuckt“ (Canetti, 1995e, 176). Diese Wiedererweckung der Figuren zum Individualismus bringt dem Politiker Föhn schließlich den lange erhofften Ruhm. Das Stück endet mit den Worten: „Auf einer Insel im Hintergrund erhebt sich langsam das Denkmal von Heinrich Föhn“ (Canetti, 1995e, 178).

Zusammenfassung Die obigen Ausführungen zeigen, dass Migration nicht automatisch ein Denken und eine Literatur hervorbringt, die fixe Vorstellungen von Nationen und Identitäten infrage stellen, wie für den gegenwärtigen Kontext gern konstatiert wird. Elias Canetti ist für eine Auseinandersetzung mit dieser These gerade deswegen besonders interessant, weil er im Londoner Exil Migration als Infragestellung von nationalem Denken zu begreifen begann und diese Überzeugung dann auch in seine Werke einfließen ließ. In seiner Wiener Zeit dagegen hinterlassen die vielen Migrationen, die der Ansiedlung in Wien von 1924 bis 1938 vorausgingen, keine Spuren dieser Art in seinem Denken und seinen Werken.

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Vielmehr betrachtete er Wien in dieser Zeit als seine Heimat und zeigte in seinem Denken, seinen Übersetzungen und seinen Werken einen Hang zur Einsprachigkeit. Das erklärt sich mit dem Kontext, in dem Canetti migrierte, zu schreiben begann und zum Schriftsteller wurde. Migration und Mehrsprachigkeit waren in der Wiener Kultur der Zwischenkriegszeit noch eher die Norm als die Ausnahme. Insbesondere Juden, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Wien zuwanderten, erhielten in dieser Stadt das transnationale Erbe der deutschsprachigen Kulturnation, die sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte. Sie ermöglichte Schriftstellern wie Canetti, auch noch in den 1930er Jahren als deutscher Dichter anerkannt zu werden, was aufgrund seiner Muttersprache, seines Geburtsorts und der Tatsache, dass er Jude war, nur einige Jahre später schon unmöglich wurde. In diesen wenigen Jahren avancierte Canetti von einem Wiener Geheimtipp zu einem Autor, der sich im gesamten deutschsprachigen Raum von Straßburg bis Budapest und von Berlin bis Graz einen Namen gemacht hatte. Canetti war jedoch bewusst, dass die Gesellschaft, in der er zum Schriftsteller avancierte, von tiefen Bruchlinien durchzogen war, die zum gesellschaftlichen Zusammenbruch führen könnten. Als grundlegendes Problem identifizierte er dabei den Egozentrismus, der mit einem geringen Verständnis für andere Menschen einhergeht. Dies manifestiert sich in seinen Werken in den akustischen Masken, die eine Vielsprachigkeit in der Einsprachigkeit erzeugen. Die Figuren sprechen ein so individuelles Deutsch, das ihr Denken sprachlich wiedergibt, dass sie nicht mehr miteinander kommunizieren können. Während diese Situation im Roman Die Blendung nur die Hauptperson in den Wahnsinn treibt, inszeniert Canetti mit Hochzeit den Zusammenbruch der gesamten Gesellschaft am Egozentrismus. In Komödie der Eitelkeit äußerte er schließlich Kritik an den sozialistischen und nationalsozialistischen Versuchen, den Egozentrismus durch die Konstruktion eines neuen Menschen in einer neuen Gemeinschaft zu überwinden. In diesem Kontext zeigt er die Politiker, die diese Ideologien entwerfen und verbreiten, als allein an sich und ihrem Ruhm interessiert. Damit macht er in seinem Werk eine Kritik an der Politik explizit, die sich auch schon in seiner gewünschten schriftstellerischen Positionierung bei einem Verlag andeutet, der sich gegen politische Einflussnahme auf die Literatur eingesetzt hat, und die später auch die autobiografische Darstellung seiner Schriftstellerwerdung kennzeichnen sollte. Was Canetti in dieser Zeit jedoch noch nicht bewusst sah – das zeigen vor allen Dingen seine Aufzeichnungen, aber auch die Dramen –, das war die zerstörende Kraft des Nationalismus, der die Welt, in der er zum Schriftsteller wurde, dem Untergang weihte. Erst im Exil sollte er sich mit dieser intensiver auseinanderzusetzen beginnen, wie das Kapi-

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tel zu den Massensymbolen der Nationen in Masse und Macht zeigt (Canetti, 2011, 197–209).

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Literatur als Medium des Widerstands: Milo Dor Nur eine Handvoll junger AutorInnen konnte in den ersten Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs ihre literarischen Arbeiten in österreichischen Verlagen veröffentlichen.1 Einer von ihnen war der 23-jährige Serbe Milutin Doroslovac, dessen Prosaband Unterwegs 1947 unter dem Namen „Milo Dor“ im Erwin Müller Verlag erschien, nur zwei Jahre nachdem er in den letzten Kriegstagen aus der Schutzhaft ins umkämpfte Wien entlassen wurde und aus politischen Gründen nicht mehr in seine Heimatstadt Belgrad zurückreisen konnte. Dor wurde also genau wie vor ihm Canetti und später Sebestyén völlig selbstverständlich in den Literaturbetrieb aufgenommen, weil in diesem das transnationale Erbe der österreichisch-ungarischen Monarchie weiterwirkte, das auch Zuwanderern mit nichtdeutscher Muttersprache ermöglichte, in deutscher Sprache zu schreiben, solange sie sich der Hegemonie der deutschen Sprache unterwarfen (vgl. Sievers, Grenzüberschreitungen sowie Sievers zu Canetti und Schwaiger zu Sebestyén in diesem Band). Doch folgte auf diesen frühen Erfolg eine keineswegs glatte Autorenkarriere, was weniger mit Dors Herkunft als mit seiner Positionierung als Autor zusammenhing, die sich kontinuierlich änderte, aber konsequent von Widerstand gegen den gängigen Literaturbetrieb gekennzeichnet war und fast durchwegs auf Ablehnung stieß. Er erinnerte in seiner Literatur im Rahmen einer umfassenden Kritik an der totalitären Gewalt auch an die Gräuel des Nationalsozialismus, als das nicht mehr genehm war. Er schrieb mit seiner Orientierung an französischen literarischen Traditionen gegen einen Literaturbetrieb an, der sich seit den 1930ern von der internationalen Literatur abgekoppelt hatte und sich auch nach dem Krieg nur mit großer Verzögerung wieder öffnete. Und er verfasste in Zusammenarbeit mit Reinhard Federmann Populärliteratur, als die Literaturkritik noch scharf zwischen hoher Literatur und Unterhaltung trennte. Diese keineswegs glatte Autorenkarriere erklärt Dors geringe Sichtbarkeit. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung beschränkte sich bis auf einzelne Ausnahmen auf Symposien und Würdigungsbände anlässlich runder Geburtstage (Grünauer, 1983; Niederle, 1988; Lajarrige, 2004b), die von unkritischer oder oberflächlicher Adoration nicht ganz frei waren. Dors Werke wurden kaum 1

1947 waren es neben Dor als ProsautorInnen nur Vera Ferra mit dem Roman Die Sackgasse im Festungsverlag und Johannes Mario Simmel mit Begegnung im Nebel bei Zsolnay.

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gelesen, trotz Neuauflagen und vereinzelten Hinweisen von Autorenkollegen (Gauß, 1993; Guttenbrunner, 1992; Scharang, 1988) und LiteraturhistorikerInnen (Amann, 2004; Hussong, 2000; Stocker, 2010). Sie sind nur noch teilweise erhältlich, die Autobiografie Auf dem falschen Dampfer (1988) sowie der historische Roman über die Ermordung des Kronprinzen in Sarajevo 1914, Der letzte Sonntag (1982), nicht lieferbar. Aus dem Fehlen von Taschenbuchausgaben muss auf eine eher spärliche Nachfrage und Verbreitung seiner Bücher geschlossen werden. Der vorliegende Aufsatz wird Dors widerständige Wege in die Literatur von der unmittelbaren Nachkriegszeit, in der Dor in deutscher Sprache zu veröffentlichen begann, bis zu seinem zweitem Roman Nichts als Erinnerung (1959) nachzeichnen.2 Zunächst werden die für Dor relevanten Netzwerke geschildert, die meist über ein zeitliches Ablaufdatum verfügten und dadurch den Autor zwangen, sich mehrmals neu zu orientieren. Dor selbst setzte sich jedoch aktiv gegen das Verschwinden literarischer Strukturen für junge kritische AutorInnen in Österreich ein, das vor allem der Restauration im Literaturbetrieb nach 1945 geschuldet war. Gleichzeitig sorgte diese Restauration für seinen Anschluss an den Literaturbetrieb, denn es waren die AutorInnen, die schon in der Zwischenkriegszeit zu schreiben begonnen hatten, die ihn völlig selbstverständlich in die deutsche Sprache und Literatur aufnahmen. Dafür ordnete er sich der Hegemonie der deutschen Sprache unter, trotz seiner ambivalenten Gefühle ihr gegenüber. Später leistete er mit der Übersetzung jugoslawischer Literatur ins Deutsche auch eine Art Widerstand gegen solche Hierarchien. Den nationalistischen Tendenzen der deutschsprachigen Literatur in der direkten Nachkriegszeit widersetzte sich Dor jedoch hauptsächlich mit Ausrichtung an der französischen Literatur, wobei der anfangs bestimmende Surrealismus bald dem Existenzialismus wich. Sein Anschluss an die französische Avantgarde stieß jedoch bei der Rezeption seiner Werke nur auf geringes Verständnis. Noch weniger wollte man 2

Leider war es mir nicht möglich, für dieses Kapitel Einsicht in Dors Nachlass zu erlangen, der noch in privater Hand ist. Der Aufsatz kann deswegen nur auf veröffentlichte Texte Dors Bezug nehmen und von daher unter anderem zu seinen Kontakten zu deutschen Verlagen nur wenig sagen. Vereinzelt verweise ich jedoch auf Nachlässe von SchriftstellerkollegInnen, mit denen Dor in Kontakt stand, etwa auf den Nachlass Reinhard Federmanns im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (im Folgenden zitiert als NL Federmann, LIT ÖNB) und den Nachlass Hans Weigels in der Wienbibliothek (im Folgenden zitiert als NL Weigel, Wienbibliothek). Viele der zitierten Zeitungsartikel stammen aus dem Tagblattarchiv der Wienbibliothek oder dem Literaturhausarchiv. Aus diesem Grund fehlen in den Literaturangaben in vielen Fällen die Seitenangaben. Auch welche AutorInnen sich hinter den vielen Abkürzungen der AutorInnennamen verbergen, konnte leider nicht eruiert werden.

Literatur als Medium des Widerstands: Milo Dor

ihm bei seiner autobiografisch motivierten Auseinandersetzung mit der totalitären Gewalt in seinem ersten Roman Tote auf Urlaub (1952) folgen, umfasste sie doch nicht nur Kritik am Kommunismus, die durchaus der Zeit entsprach, sondern thematisierte auch den Nationalsozialismus. Dor blieb zwar ein politischer, engagierter Autor, versuchte aber nach 1950 zunehmend, auf dem Wege einer ‚Doppelexistenz‘ mittels des Schreibens von auf finanziellen Erfolg ausgerichteten Werken seine Position als freier Schriftsteller und Autor von literarischen Werken abzusichern. Dies führte jedoch zu neuen Ausschlussmechanismen im literarischen Feld. Erst mit seinem zweiten Roman Nichts als Erinnerung (1959) ging wieder eine Anerkennung als Schriftsteller einher, allerdings trat nun die Bindung seiner Position an seine Herkunft, die bereits bei Tote auf Urlaub eine Rolle spielte, zunehmend in den Vordergrund.

Kein Platz für kritische Literatur: Dors flüchtige Netzwerke Für Milo Dor war Schreiben stets sozialer Austausch. Bereits seine Mitarbeit in serbischen Schüler- und Literaturzeitschriften war von der Unmittelbarkeit der Wirkung geprägt, wenn er seinen LeserInnen beim Lesen selbst zusehen konnte und die Zeitschrift „von Hand zu Hand ging und zuletzt nur noch aus Papierfetzen bestand“ (Dor, 1988, 288). In Wien bot ihm sein Studium der Theaterwissenschaften, das er bereits während des Krieges als Zwangsarbeiter mit falschen Papieren und der Duldung des prominenten nationalsozialistischen Professors Heinz Kindermann aufgenommen hatte (Fritsch, 1966, 8), die ersten Anknüpfungspunkte und – nach dem Krieg – die ersten Veröffentlichungsmöglichkeiten in Publikationen der Hochschülerschaft.3 Die wichtigsten Kontakte brachte ihm jedoch sein Anschluss an den PLANKreis. Der PLAN, dessen erste Hefte bereits knapp vor dem „Anschluss“ an Deutschland 1938 erschienen, war nach dem Krieg unter dem Herausgeber Otto Basil die Zeitschrift der Avantgarde und des konsequentesten Widerstandes gegen das rasch einsetzende Vergessen. Im ersten Heft nach dem Krieg von Oktober 1945 wurde „Zum Wiederbeginn“ unmissverständlich klargestellt: „Die Pest ist vorbei, doch die Wiederansteckungsgefahr ist groß!“ (PLAN, 1945, 1). Die offenen Redaktionssitzungen waren ein Sammelbecken für Schriftsteller 3

„Später, durch einen glücklichen Zufall davongekommen und nach Wien vertrieben, blieb ich noch eine Zeitlang dem Theater treu. Ich studierte Theaterwissenschaft, sah mir jede Generalprobe in den ersten Nachkriegsjahren an und schrieb auch ein Stück, doch bald darauf gab ich die Schauspielerei auf “ (Dor, 1988, 17).

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der tatsächlichen „Inneren Emigration“, weit mehr noch aber für Remigranten wie Hugo Huppert oder Hans Weigel. Dor hob besonders Franz Theodor Csokor und Alexander Sacher-Masoch hervor, hatten diese doch 1941 als Exilanten ebenso wie er selbst die Bombardierung Belgrads durch die deutsche Luftwaffe miterlebt. In der ersten Nummer des Nachkrieg-PLANs wurde nach der „Dichtung der Jüngsten“ gefragt: „Wir rufen diese unbekannte geistige Jugend!“ (PLAN, 1945, 2). In dieser Deutlichkeit sprach keine andere Zeitschrift nach dem Krieg eine solche Einladung aus. Für Milo Dor hatte jene Gruppe von SchriftstellerInnen, die in einer Sondernummer des PLANs mit dem Namen „Stimme der Jugend“ im Juli 1946 an die Öffentlichkeit trat, größte Bedeutung: Hermann Schreiber, einer der produktivsten jungen Publizisten und Kritiker der ersten Nachkriegsjahre, und Ilse Aichinger, deren Text „Aufruf zum Mißtrauen“ von Herbert Eisenreich als „Ausgangspunkt einer ganzen Schriftstellergeneration“ bezeichnet wurde (Breicha und Fritsch, 1967, 8), sollten später in Deutschland für Dor Ansprechpersonen werden. Die Beziehungen zu den jüngeren AutorInnen baute Dor zu einem echten Netzwerk aus, in dem er selbst über Einfluss verfügte. Hans Heinz Hahnl wurde von seinem Mitstudenten Dor zum PLAN eingeladen. Für die konzipierte, aber nicht realisierte Buchreihe „Wie wir werden“ von Peter Müller, „die den literarischen Nachwuchs unseres Landes zu Worte kommen läßt“, waren Dor und Hahnl als Redakteure vorgesehen (Rubel, 1946). Der PLAN-Kreis löste sich nach dem Ende der Zeitschrift auf – das vorerst einzige Labor für eine sowohl avantgardistische als auch engagierte Literatur der ersten Nachkriegsjahre ging damit verloren. Unterwegs war der letzte Band, der im literarischen Verlag des PLANs von Erwin Müller erschien. Dor erhielt statt eines Honorars eine Schielezeichnung, die er weit unter Wert verkaufen musste.4 Die losere Runde, die sich danach um Hans Weigel an seinem Tisch im Café Raimund bildete, ließ sich mit dem PLAN-Kreis nur bedingt vergleichen: Weigel lag weniger an neuen Schreibverfahren und Experimenten als am Handwerk des Schreibens. Seine gute Vernetzung in der österreichischen und auch deutschen Medienszene ermöglichte es ihm zwar, eine richtiggehende Kampagne für die junge Generation zu starten (Hubmann, 2013, 205), dennoch blieb den meisten AutorInnen eine eigenständige Publikation versagt, stattdessen waren sie auf Zeitschriften oder Anthologien angewiesen. Ihre Veröffentlichungen erschienen dadurch jedoch zu verstreut (Lunzer, 1984, 34), um tatsächlich als jene „Stimme der Jugend“ wahrgenommen zu werden, auf die der PLAN mit allem Nachdruck und in einer bemerkenswerten Geschlossenheit hingewiesen 4

Leicht verfremdet schilderte Milo Dor die Szene in Die weiße Stadt (Dor, 1969, 227–228).

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hat.5 Unter den vielen LiteratInnen, die mit Weigel in Verbindung gebracht werden konnten, standen vor allem Gerhard Fritsch, Bertrand Alfred Egger und Jörg Mauthe mit Dor in einem engeren Verhältnis (Dor, 1988, 169–170; Dor, 1989, 33). Auch Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann gehörten zum Umfeld Dors, gerade in ihrem Fall aber wird deutlich, dass sein Netz – und auch seine Einstellung – zutiefst männerbündlerisch war. In seiner Autobiografie erinnerte er sich an ihre Erfolge in der Gruppe 47: „[I]ch liebe und schätze diese beiden Mädchen, die für mich bis zu ihrem Lebensende oder gar nach ihrem Tod noch Mädchen bleiben werden [...], doch Pauls [Paul Celans] ‚Todesfuge‘ wiegt meiner Ansicht nach ganze Bände guter oder sehr guter Literatur auf “ (Dor, 1988, 213). Mit Reinhard Federmann, den er bereits beim PLAN kennengelernt hatte, ergab sich ab Mitte 1949 eine immer intensiver werdende Zusammenarbeit, die in die Gründung der Firma Fedor mündete: Zusammen schrieben sie Gebrauchsliteratur wie Essays, Radiofeatures, Hörspiele, Übersetzungen, Anthologien, Unterhaltungsromane und Thriller nach amerikanischem Vorbild. Was an Zeit noch übrig blieb, verwendeten beide für ihre jeweils eigenen literarischen Werke. Zu Beginn profitierten sie vor allem von Dors und Weigels Beziehungen. Dor war um 1950 fest ins Netzwerk der österreichischen Nachkriegsliteratur eingebunden, doch das reichte weder für ihn noch für seine GenerationsgenossInnen aus, um nicht als freie SchriftstellerInnen zu verhungern. Verlage und Zeitschriften hatten als Folge der Währungsreform mit gravierenden Problemen zu kämpfen oder stellten ihre Tätigkeit überhaupt ein (Fritz, 1989, 112–114). Die Positionen im literarischen Betrieb wurden von der älteren Generation eingenommen, wobei nun auch wieder belastete Autoren zum Zug kamen.6 Mit einem Brief und Fahrgeld von Csokor, der seit 1947 Präsident des österreichischen P. E. N.-Clubs war, fuhr Dor 1951 nach München, wo er Erich Kästner in einem Caféhaus ansprach und von diesem 100 DM erhielt (Dor, 1988, 124–127). Diese erste Tour von Dor durch Deutschland brachte nicht unbedingt viele Aufträge, aber die Bekanntschaft mit Hans Werner Richter und dessen Einladung zur Gruppe 47. Richter war zu dieser Zeit auf der Suche nach 5

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Weigel unternahm zwar in einer Vielzahl von Artikeln einen regelrechten Werbefeldzug für die junge Generation, doch erst mit dem Jahrbuch Stimmen der Gegenwart, das ab 1951 erschien, gab es eine Plattform, die dem PLAN und dessen Nummer „Stimme der Jugend“ zumindest ähnelte. Selbst Autoren, die sich eindeutig für den Nationalsozialismus ausgesprochen hatten und mit einigen oder allen Werken auf der Verbotsliste von 1946 standen, profitierten von den Lockerungen des Verbotsgesetzes 1948/49 (Lunzer, 1984, 33).

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deutschsprachigen AutorInnen aus dem Ausland, mit Ilse Aichinger und Milo Dor lasen nun erstmals österreichische AutorInnen beim Treffen in Bad Dürkheim 1951. Dor unterlag zwar knapp in einer Abstimmung um den Preis der Gruppe 47 gegen Heinrich Böll (Leonhardt, 1977), baute aber sein Netzwerk in Deutschland massiv aus, sodass er schließlich bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart 1952 seinen ersten Roman Tote auf Urlaub veröffentlichen konnte. Allerdings, angekommen war Milo Dor damit nicht, fast jedes seiner Bücher in Deutschland erschien in einem anderen Verlag. Auch die Deutsche Verlags-Anstalt lehnte Dors zweiten Roman ab; Dor schrieb dazu an Federmann: „Dass ich von der DVA weg bin, wirst Du schon erfahren haben. Der Roman war für sie kein richtiger Roman, er ist für ihren momentanen Geschmack zu wenig ‚naiv‘ erzählt und dazu viel zu kompliziert aufgebaut – eigentlich ein hohes Lob.“7 Die Kontakte nach Deutschland, anfangs auch im Dienste der gemeinsamen Arbeit mit Federmann, die vor allem auf den deutschen Markt ausgerichtet war, dominierten die folgenden zwei Jahrzehnte. Neben Hans Werner Richter war es vor allem der Schriftsteller Janheinz Jahn in Frankfurt, der Dor immer wieder Aufträge vermittelte (Dor, 1988, 130, 134). Mit der Veröffentlichung seines zweiten Romans Nichts als Erinnerung (immer noch in einem deutschen Verlag) setzte jedoch die Verschiebung von Dors Schwerpunkt wieder zurück nach Österreich ein, zumal sich auch die Zusammenarbeit mit Reinhard Federmann seit 1961/62 verringerte. Dors Beziehungen zum österreichischen Literaturbetrieb verstärkten sich nun wieder, allerdings weniger in seiner Funktion als Schriftsteller, vielmehr durch sein Engagement für die Berufsrechte von AutorInnen, das 1971 in die Gründung der IG Autorinnen Autoren mündete. Als Präsident der Organisation konnte Dor in den folgenden Jahrzehnten nicht nur viele einzelne AutorInnen in Notlagen unterstützen, sondern auch insgesamt die soziale Absicherung des SchriftstellerInnenberufes deutlich verbessern. Allerdings verdeckte die durch die öffentliche Funktion herbeigeführte Bekanntheit sein eigenes schriftstellerisches Werk. Dors ausgeprägtes Bewusstsein für Schieflagen und Ungerechtigkeiten im literarischen Betrieb und der Wille, dem etwas entgegenzusetzen, waren jedoch seit Beginn seiner schriftstellerischen Karriere eine begleitende Konstante – seine Netzwerke dienten nicht nur der eigenen Profilierung, sondern standen meist auch im Dienste seines Engagements für eine auch praktisch lebbare Existenz als SchriftstellerIn. Dabei setzte er sich insbesondere für eine kritische Literatur ein, wie im folgenden Abschnitt beschrieben wird. 7

Brief von M. Dor an R. Federmann, undatiert („Datum weiss ich nicht, es ist aber heute.“), NL Federmann, LIT ÖNB.

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Engagement für eine kritische Literatur in Österreich Weigel notierte um 1950 zu Dor: „Geeignet als Redakteur, Herausgeber, Organisator.“8 Dor unternahm seit seinen ersten Veröffentlichungen immer wieder Versuche, das literarische Feld in Österreich zu öffnen, bzw. forderte auf einer sehr praktischen Ebene Maßnahmen ein, die seiner Generation den Schritt an die Öffentlichkeit erleichtern sollten. Ob er die Produktion von günstigen Taschenbüchern und damit einen günstigeren Zugang zur Literatur forderte, um damit vielleicht selbst an zusätzliche Veröffentlichungsmöglichkeiten und größere Verbreitung zu gelangen (Dor, 1945a), oder Drehbuchaufträge für Schriftsteller verlangte (Dor und Federmann, 1952) bzw. in einer Diktion, die seine politische Vorgeschichte verriet, von der Notwendigkeit einer „Umerziehung der Massen“ und der Presse schrieb (Dor, 1949b), im Mittelpunkt stand die Überzeugung, in einer Gesellschaft leben zu wollen, die ihren kritischen SchriftstellerInnen einerseits ein Überleben ermöglichen und ihnen andererseits Gehör schenken würde. Das politische Engagement Dors als Schüler und im kommunistischen Widerstand setzte sich hier auf der pragmatischeren Ebene des Kampfes um Öffentlichkeit und eine angemessene Existenz als SchriftstellerIn fort. In Reinhard Federmann fand er dafür seinen engsten Verbündeten. Am Beginn standen Pläne für eine eigene Literaturzeitschrift. Dor schrieb im Jänner 1948 an Federmann: Ich habe mich über Ihren Vorschlag sehr gefreut und mir alles langsam durch den Kopf gehen lassen. Ich stimme Ihnen vollkommen zu. Die Notwendigkeit, dass unsere Generation ein eigenes Organ schafft, ist unermesslich, wenn man bedenkt, dass uns die Älteren nicht allzu gerne in ihrer Mitte sehen.9

Die Zeitschriftenpläne scheiterten an der Finanzierung, doch als der Maler Karl Wiener aus materieller Not Selbstmord beging, veröffentlichten Dor und Federmann ihren ersten gemeinsamen Text „Statt eines Nachrufes“: Es ist nichts Neues, daß man in Österreich die Künstler verhungern läßt. [...] Hunderte mehr oder minder begabter und bekannter Künstler darben allein in Wien gleich Karl Wiener. [...] Besteht in unserem Land wirklich kein Bedarf nach Kultur? [...] Die Ursache der katastrophalen Mißstände [...] liegt in der Niveaulosigkeit der Kunstkritik aller Sparten in der österreichischen Presse, die in ganz Europa einzig dasteht. (Dor und Federmann, 1949, 9) 8 9

Hans Weigel, Kommentar zu Lebensläufen, NL Weigel, Wienbibliothek. Brief vom 20. Jänner 1948 von M. Dor an R. Federmann, NL Federmann, LIT ÖNB.

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Auffällig war, dass Dor zu diesem Zeitpunkt offenbar noch annahm, dass die breite Bevölkerung sehr wohl für seine Literatur und die seiner GenerationskollegInnen zu gewinnen sein müsste, allein der Zugang zu ihr wäre durch den Literaturbetrieb und die an maßgeblichen Stellen positionierten Personen blockiert. Zu den Verbündeten gehörte neben Weigel und Federmann auch Peter Strasser, ehemaliger Widerstandskämpfer, Exilant, Remigrant und nun Vorsitzender der Sozialistischen Jugend Wien. Auf seinen Vorschlag ging die Gründung der „Gesellschaft für die Freiheit der Kultur“ zurück, die es Federmann und Dor ermöglichte, Artikel für die Literatur (und gegen den Kommunismus) zu verfassen (Dor, 1989, 32). Auch das Jahrbuch Stimmen der Gegenwart gehörte zu Dors Versuchen, seiner Generation Gehör zu verschaffen.10 Unter der Herausgeberschaft von Hans Weigel und der Redaktion von Dor und Federmann erschien 1951 der erste Band, in dem die Nachkriegsgeneration erstmals konzentriert zum literarischen Ausdruck kam (Weigel, 1951b). Ab dem zweiten Band lag die Redaktion in der Hand Jeannie Ebners; Dor und Federmann hatten sich aus dem Unternehmen zurückgezogen. Aus der Außenperspektive des amerikanischen Literaturkritikers und Germanisten George C. Schoolfield führte Dors Engagement für die Literatur der Gegenwart zwar zur Einschätzung, „[he] has acquired a reputation as the spokesman of the young intellectual in Central Europe“ (Schoolfield, 1953, 231). Tatsächlich jedoch fanden Dors Apelle nur wenig Resonanz. 1954 probte er mit einem wütenden Rundumschlag unter dem Titel „Revolte der Mittelmäßigkeit“ im FORVM den Aufstand: „Es ist schon lange her, daß es in Österreich eine Literatur gegeben hatte“, stellte Dor fest und nannte dann nahezu alle Namen des österreichischen literarischen Betriebes als Schuldige, inklusive Weigel und Basil (Dor, 1954). Nicht einmal sich selbst nahm er von seiner Attacke aus, denn Simmel, Federmann und Dor „machen die Literatur zum Warenhaus, wo sie ihre Stoffe von der Stange weg an Film, Funk und Fortsetzungsroman verkaufen“ (Dor, 1954). Die Repliken von Oskar Maurus Fontana, Basil und Weigel ließen Dors Kritik ins Nichts laufen, am elegantesten tat dies Weigel: 10

Von wem die Idee zum Jahrbuch tatsächlich stammte, ist rätselhaft; in Weigels Nachlass findet sich eine Erklärung, in Dors Handschrift verfasst: „Wir bestätigen, dass der Titel ‚Stimmen der Gegenwart‘ das ausschliessliche geistige Eigentum Hans Weigels ist“, gezeichnet von Dor und Federmann, NL Weigel, Wienbibliothek. Später behauptete Dor: „Aber wir haben diese Anthologie erfunden, Federmann und ich, und wir haben auch den Verlag dafür gefunden und haben nur den Weigel vorgeschoben – er soll zeichnen, weil wir beide auch schon drinnen waren. Aber wir haben das Ganze zusammengestellt und redigiert“ (Weber, 1998, 130).

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Auch bemängle ich die Tonart seiner Polemik gegen [...] Hans Weigel; da wäre ich an seiner Stelle bedeutend massiver vorgegangen. In einem Punkt aber muß man Dor energisch und entschieden widersprechen: was er gegen Milo Dor vorbringt, ist unsachlich, voreingenommen und unzutreffend, und beweist nur, daß er diesen Autor von Grund auf mißversteht. (Weigel, 1954)

Die Position der Revolte konnte Dor dennoch nicht aufgeben: Seine 1962 erschienene Anthologie über die AutorInnen der Nachkriegszeit, Die Verbannten, eröffnete er mit einer „Kriegserklärung“: Dieses Buch ist eine Kriegserklärung an den schlechten Geschmack eines Publikums, das noch immer an den Autoren des ruhmlos untergegangenen „tausendjährigen Reichs“ mit rührender Liebe hängt und sich in Zweifelsfällen mit schlafwandlerischer Sicherheit für den Kitsch entscheidet. (Dor, 1962a, 6)

Der Kriegserklärung folgte die resignierende Einsicht: Eine Kriegserklärung setzt voraus, daß zwischen dem, der sie abgibt, und dem, an den sie gerichtet ist, irgendeine Art Beziehung besteht. Zwischen der österreichischen Literatur und ihrem vermeintlichen Publikum besteht überhaupt keine Beziehung. (Dor, 1962a, 6)

Dor griff mit seinem Engagement für die kritische Literatur der Nachkriegszeit in Österreich insbesondere die restaurativen Tendenzen im Literaturbetrieb an, mit denen AutorInnen, die in der Zwischenkriegszeit zu schreiben begonnen hatten, nach dem Krieg wieder an diese Zeit anschlossen, die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus unterdrückten und die jungen linken und avantgardistischen AutorInnen unsichtbar machten (vgl. Schwaiger zu Sebestyén in diesem Band). Doch genau diese Restauration war es, die ihm als Zuwanderer nichtdeutscher Muttersprache den Zugang zum österreichischen Literaturbetrieb in deutscher Sprache ermöglichen sollte, wie im Folgenden erläutert wird.

Einschreiben in die deutsche Sprache – mit Abstrichen Die obigen Ausführungen zum PLAN-Kreis haben gezeigt, dass Dor mit einer gewissen Selbstverständlichkeit in den österreichischen Literaturbetrieb aufgenommen wurde. Dies hing mit dem transnationalen Erbe der Habsburgermonarchie zusammen, das Zuwanderern nichtdeutscher Muttersprache ermöglichte,

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in deutscher Sprache zu schreiben (vgl. Sievers, Grenzüberschreitungen und Sievers zu Canetti in diesem Band). Dieses Erbe wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in restaurativer Absicht auch von Remigranten wieder aufgenommen, von denen viele zum Umfeld des PLAN-Kreises gehörten, wie Dor in einer Erinnerung erläutert, in der allerdings auch sein erst später konkretisierter Mitteleuropagedanke mitschwingt: Nach dem Krieg lernte ich in Wien eine Reihe österreichischer Autoren kennen, die in der Mehrsprachigkeit der k. u. k. Monarchie aufgewachsen waren und mit größter Selbstverständlichkeit Menschen begegneten, die aus dem einst großen Raum kamen. Franz Theodor Csokor, Alexander Lernet-Holenia, Heimito von Doderer und Alexander Sacher-Masoch gehörten zur Generation meines Vaters, oder waren, wie Friedrich Torberg und Hans Weigel, nur ein paar Jahre jünger. Für sie war es ganz natürlich, daß ich in Wien lebte. Das Zusammengehörigkeitsgefühl dauerte noch lange nach dem Zerfall der Monarchie, getragen von der Generation, deren Wurzeln noch weit zurück reichten. (Dor, 2004, 135)

Doch die Anbindung an diese Tradition erforderte eine Unterordnung unter die hegemoniale deutsche Sprache, die für Dor in der Nachkriegszeit nicht selbstverständlich war und die er auch immer wieder durch seine Übersetzungen aus dem Serbischen infrage stellte. Deutsch hatte Dor von seiner Großmutter gelernt, die, selbst griechischer Herkunft, in Wien in einem Konvikt ihre Jugend verbracht hatte. In seiner Jugend war die Sprache für ihn jedoch politisch attribuiert: „Obwohl ich Deutsch konnte, weigerte ich mich in den dreißiger Jahren, diese Sprache zu benützen, die Hitler und Konsorten meiner Meinung nach besudelt hatten“ (Dor, 1988, 209). Dass Dor nach Kriegsende wie selbstverständlich in deutscher Sprache schrieb, war ein unerwarteter Schritt: Er begann in dem Moment Deutsch zu schreiben, als die anderen Völker die deutsche Sprache als barbarisch einstuften, weil sie die inhumane und anti-humane Sprach- und Welthaltung der Nazis für das Wesen eben dieser Sprache hielten. Dor begann also zu einer Zeit auf Deutsch zu schreiben, als dessen Haus in Trümmern lag. (Puff-Trojan, 2004, 138)

Im Rückblick beschrieb Dor seine Beziehung zur deutschen Sprache durchaus ambivalent: Ich bildete mir sogar mit der Zeit ein, aus der Not eine Tugend gemacht zu haben und mich mit ihrer Hilfe besser und präziser ausdrücken zu können als in irgendeiner anderen Sprache. Ich muß pervers gewesen sein, denn die Sprache ist nichts anderes als eine Konvention,

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die das Verständnis oder die Verwirrung unter den Menschen ermöglichen soll. (Dor, 1988, 209)

Dor verwarf in der Nachbetrachtung den Gedanken der Spezifizität einzelner Sprachen und reduzierte Sprache auf die Grundfunktion der Kommunikation, die letztlich in jeder Sprache ge- oder misslingen könne. Die Aneignung der Sprache schien jedoch nicht so problemlos vonstattengegangen zu sein, wie Dor es im Nachhinein häufig darstellte. Federmann schrieb überhaupt Otto Basil das Verdienst zu, den Schriftsteller Milo Dor wortwörtlich erfunden zu haben: „Der Aufgabe, Dors Konflikt mit der deutschen Sprache in Harmonie aufzulösen, unterzog sich 1946 Otto Basil. Er war es, der Dors erste deutsch konzipierte Prosastücke in imposante deutsche Form gebracht hat“ (Federmann, 1967, 466). Basil selbst kam auf seinen Beitrag zu Dors Deutschkenntnissen 1954 zu sprechen, allerdings in einer Antwort auf kritische Anmerkungen, die Dor zuvor über ihn hatte fallen lassen: Milo Dor, der Jüngsten einer, wird sich noch erinnern, daß er durch mich deutsch schreiben und wienerisch reden lernte. Es war damals, als ich sein Erstlingsbuch korrigierte und redigierte, das in einer serbischen Abart des Schlawinerischen – in diesem Idiom verständigten sich bekanntlich die Literaten des Resselparks – verfaßt war. (Basil, 1954)11

Hans Weigel und Reinhard Federmann korrigierten ebenfalls Dors Texte. Federmann berichtete noch 1962 ironisch an Hermann Schreiber, dass er „4–5“ Anrufe täglich von Dor erhalte, in denen dieser ihn frage, „ob man Ezes mit ‚tz‘ schreibt, und ähnliches“.12 Ein Jahr später riet Federmann Dor: „Dein Deutsch finde ich übrigens nicht hervorragend. Lies ein bißchen Tolstoi oder Shakespeare.“13 Dors Einschreiben in das Deutsche ging jedoch mit einem gewissen Widerstand gegen die Dominanz des Deutschen einher, die andere Sprachen und Literaturen unsichtbar machte. Um dieser Hierarchisierung von Sprachen und Literaturen zu begegnen, sollte Dor später einer der wichtigsten Vermittler für jugoslawische Literatur in Österreich werden. Schon direkt nach dem Krieg erschien im Mai 1946 als eine seiner ersten Veröffentlichungen eine kurze Kriegserzählung von Ivo Andrić in der Übersetzung von Dor, doch erst An11 12 13

Der Wiener Resselpark war eine zentrale Adresse für den Schwarzmarkt in der Nachkriegszeit. Brief vom 13. Februar 1962 von R. Federmann an H. Schreiber, NL Federmann, LIT ÖNB. Brief vom 13. Juli 1963 von R. Federmann an M. Dor, NL Federmann, LIT ÖNB.

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fang der 1950er Jahre nahm er seine Übersetzer- und Vermittlertätigkeit wieder auf; und 1957 erschien mit Der verdammte Hof von Andrić die erste eigenständige Publikation. In der Folge setzte sich Dor für unter anderem Miroslav Krleža, Vasko Popa und Bogdan Bogdanović ein. Viele der Übersetzungen entstanden in Gemeinschaftsarbeit mit anderen, vor allem mit Federmann. Dass Dors Vermittlertätigkeit erst nach einer gewissen Etablierung der eigenen Person einsetzen konnte, verriet viel über die herrschenden Sprachhierarchien – schon Dor selbst hätte nach dem Krieg als serbisch schreibender Autor in Österreich wohl keinesfalls Veröffentlichungsmöglichkeiten gefunden. 1967 meinte er, Deutsch wäre ihm „vertrauter als Serbokroatisch“ (Berger, 1967).14 Das Übersetzen galt gleichzeitig auch einer Überwindung des Nationalismus im Literaturbetrieb. In diesem Licht ist auch Dors expliziter Anschluss an französische literarische Traditionen zu sehen, die auch von Autoren wie James Joyce und Samuel Beckett in diesem Sinne eingesetzt wurden (Casanova, 2004, 315–320).

Anschluss an Paris zur Überwindung nationaler Zuordnungen Während die österreichische Jugend seit 1934 – spätestens aber seit 1938 – in ihrer Bildung zum größten Teil von der Moderne oder der zeitgenössischen Weltliteratur abgeschnitten war, hatte Dor bis 1941 Zugang zu ihr, zu Beginn vor allem über seinen Großvater, „der Abonnent der Literaturzeitschrift ‚Letopis matice sprske‘ (‚Annalen des serbischen Bienenkorbs‘) war, die von der ältesten serbischen Kulturvereinigung (gegründet 1827, also zur Zeit der österreichischen Monarchie) herausgegeben wurde“ (Dor in Scherr, 2003, 2): In jeder der Nummern wurden auch Übersetzungen der Gegenwartslyrik aus anderen Ländern – Italien, Frankreich, England usw. – veröffentlicht, so daß ich laufend über die modernen Strömungen in der europäischen Literatur informiert war. (Dor in Scherr, 2003, 2)

Dor hob hervor, dass er „bald nach den Klassikern, also mit vierzehn oder fünfzehn, die Lyriker der serbischen Moderne, aber auch deutsche Expressionis14

Dor meinte weiter: „Das geht so weit, daß ich ‚Nichts als Erinnerung‘ nicht mehr selbst in meine Muttersprache übertragen konnte [...] es klang entsetzlich steif und fast altmodisch. Denn Sprache ist lebendig und seit mehr als zwanzig Jahren stehe ich nun außerhalb ihrer Entwicklung. Das Buch mußte von einem andern übersetzt werden, bevor es in Belgrad erschien.“

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ten und französische Surrealisten [las], so daß die ersten Gedichte, die ich mit vierzehn, fünfzehn zu schreiben begann, surrealistisch waren“ (Dor in Scherr, 2003, 2). Nach dem Krieg fand sich Dor in einer literarisch isolierten Situation wieder, wie sie seinen etwa gleichaltrigen österreichischen KollegInnen schon länger vertraut war (Wischenbart, 1984, 352–353). Der Zugang zur modernen Weltliteratur besserte sich durch die schlechte wirtschaftliche Lage und eine risikoscheue Verlagslandschaft nur langsam. Dor schrieb 1945, seine Generation würde gern mehr wissen „über Thomas Mann, Stefan Zweig und Franz Werfel, wir möchten mehr wissen über Sinclair Lewis, John dos Passos und John Steinbeck“ (Dor, 1945a). Der hier aufscheinende Schwerpunkt auf amerikanischen, deutschen und österreichischen Autoren war insofern untypisch, als Dors Hauptinteresse eigentlich woanders lag: Er positionierte sich weniger als serbischer oder jugoslawischer Literat, auch die österreichische Literatur spielte für ihn kaum eine Rolle, vielmehr nahm er die Literatur Frankreichs als Hauptbezugspunkt für sich in Anspruch. Wie Pascale Casanova herausgearbeitet hat, stand Frankreich als dominanter Pol an der Spitze der nationalen Literaturen, nach der sich die anderen ausrichteten. In Paris hatte die Moderne ihren Ursprung (Casanova, 2004, 87–91). Dor, der selbst von der Peripherie kam, suchte mit seiner Betonung des Einflusses von französischer Literatur (insbesondere des Surrealismus) seinen Anspruch auf Zugehörigkeit zur Literatur zu unterstreichen. Gleichzeitig widersetzte er sich damit jedoch auch dem starken Nationalismus im österreichischen Literaturbetrieb. In Österreich hatten die dominierenden Teile des literarischen Feldes spätestens seit dem „Ständestaat“ ab 1934 die Verbindung zum traditionellen Zentrum Frankreich abgebrochen: Heimatliteratur, Berufung auf die deutsche Klassik und deutschnationale Positionierung beherrschten die Literatur des Austrofaschismus (McVeigh, 1988, 16–18; Zeyringer und Gollner, 2012, 586–588). Zu den Ausnahmen gehörten Otto Basil und Paul Celan. Basil war bereits in der Zwischenkriegszeit ein Verfechter des Surrealismus gewesen. Mit Celan verband Dor eine Freundschaft, die viel stärker als bei seinen österreichischen KollegInnen auf gemeinsamen literarischen und politischen Erfahrungen beruhte. Celan war in Czernowitz in der Bukowina in Rumänien aufgewachsen und hatte Romanistik studiert: Man kann sich schwer vorstellen, wie Paul und ich in der großen Leere, die uns umgab, über André Breton und sein surrealistisches Manifest, über Louis Arragon [richtig: Aragon], Paul Elouard [richtig: Éluard] und René Char miteinander sprachen. [...] Wir hatten eine kaputte Vergangenheit hinter und eine fragwürdige Zukunft vor uns. Aber wir konnten lachen und absurde, surrealistische Spiele erfinden. Und die „Internationale“, „Avanti Popolo“ und ande-

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re revolutionäre Lieder singen, die schon längst ihren Sinn verloren hatten, uns jedoch noch immer einen gewissen, wenn auch brüchigen Halt gaben. (Dor, 2003b, 27–28)

Dass im Zitat zwei der Namen nicht ganz korrekt wiedergegeben werden und der Surrealismus im Zusammenhang mit den kommunistischen Liedern aufscheint, weist darauf hin, dass es Dor weniger um den Surrealismus als literarisches Programm, sondern mehr um den Positionierungseffekt ging. Er stellte sich in der Surrealismusdebatte der Nachkriegszeit (vgl. Ivanović, 2001) zwar hinter Künstler wie Salvador Dalí und Edgar Jené, der Mitarbeiter des PLANs war, ging aber auf kritische Distanz zu Ernst Fuchs, Fritz Janschka und Rudolf Hauser, denen er vorhielt, Jünger einer Ideologie zu sein, statt aus ihrem eigenen Leben zu schöpfen: „Ihr Surrealismus ist nicht immer erlebt. [...] In der Kunst kommt es auf die Aussage dieses Menschen an und nicht auf ästhetisierende oder soziologisierende Dogmen und Theorien“ (Dor, 1947b, 12). Der Einfluss der Jugendlektüre und -dichtung war den frühen Texten Dors zumindest noch anzumerken. In Dors erster literarischer Veröffentlichung, der Kerkerballade (Dor, 1945c), die 1945 in der Akademischen Rundschau, dem Organ der Österreichischen Hochschülerschaft, erschien, finden sich jene lyrische Bildhaftigkeit und Verrätselung des Textes sowie der erhabene Stil, die sich aus den surrealistischen Vorbildern speisten. Aus der Perspektive eines eingekerkerten Wir vermengen sich im Text Erinnerungen an Gewalt, gegenwärtige Qual und Zukunftshoffnungen. Das Traumhafte, das Absurde und Fantastische des Surrealismus dienten bei Dor aber nicht dem Ausdruck von Unbewusstem. Sein Erlebnis von Haft, Mord und Folter war der Realität gewordene Alptraum des 20. Jahrhunderts, dem er mit den Stilmitteln des Surrealismus Ausdruck verlieh. Haben sie die zertretenen Blumen im Staube gesehen? Was war die Musik dieser unglücklichen toten Blumen? Die blutbespritzten Stiefeln erstickten die duftende Musik der Blumen, sie zertraten die Erde, daß sie die Saat nicht mehr befruchten konnte, die Henkershände stachen die Augen aus, daß sie die Sonne nicht mehr sehen konnten, sie durchschossen das Herz, daß es nicht mehr lieben konnte. (Dor, 1945c, 8)

Dors Bezug auf die französische Literatur spielte für die rasche Integration in den PLAN-Kreis um Basil eine gewisse Rolle, in den Rezensionen zu den frühen Texten im PLAN selbst und im Prosaband Unterwegs wurde er jedoch kaum wahrgenommen. Nur Hermann Schreiber vermerkte: Das Buch [...] ist in seiner Welt, seiner geistigen Situation für Österreich ein Novum und – wir freuen uns, es sagen zu können – der einzigen verwandten Neuerscheinung dieses Herbstes,

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Louis Aragons Novellenband „Das Römische Recht gilt nicht mehr“ [...] in allem Wesentlichen ebenbürtig. (Schreiber, 1947, 17)

Bei Dors Theaterstück Der vergessene Bahnhof15 meinte Basil 1948, dass der Autor „Eindrücke aus Pirandello, Priestley, Horvath und Sartre verarbeitet“ habe (Basil, 1981, 30). Das Stück forderte auch die Arbeiter-Zeitung zum Vergleich mit Sartres Huis clos heraus, „dem der ‚Vergessene Bahnhof ‘ nicht standhalten kann“ (H. S., 1948). Während also Schreiber Dor die Nähe zum literarischen Zentrum Frankreich zugestand, stufte ihn die Arbeiter-Zeitung als Nachahmer ein, wobei sie über die sehr wohl vorhandene Eigenständigkeit und den unterschiedlichen politischen Gehalt des Stückes hinwegsah: Darin warteten im Kriege getötete Widerstandskämpfer auf ihren Weitertransport, der allerdings nur stattfinden konnte, wenn ihr Opfer zu einer wirklichen Veränderung der Welt führen würde. Der Schwerpunkt des Frankreichbezuges hatte sich verschoben. In der Rezeption des ausschließlich von jungen Autoren gestalteten siebten Heftes des PLANs wurde beim Beitrag von Milo Dor, der Erzählung „Wege“ (Dor, 1946b), noch von „erkünstelter Phantastik“ gesprochen (E. M., 1946); Dor versuche, die „seelische Not und Erschütterung der heutigen Jugend [...] in Abendstimmungen zu verklären und aufzulösen“ (W. S., 1946). Auch bei Erscheinen von Unterwegs zielte die Kritik der Wiener Zeitung von Franz Glück auf die ihrer Ansicht nach nicht vollendete Form der Texte: Es sind drei Versuchungen, mit denen dieser junge Autor kämpfen sollte: mit dem Trieb, durch Erfindung oder Symbolik abrunden zu wollen [...], dann mit dem Überwuchern sentimentaler Züge [...] und schließlich mit jener Anlage in ihm, die ihn [sic] das Unsinnliche oft als „poetischer“ erscheinen läßt als das Sinnlich-Reale (Glück, 1948, 8).

Dem Schriftsteller wurde derart die ‚Überliterarisierung‘ seiner Texte und damit die Entfernung von der Realität vorgeworfen. Dies wurde der Verschiedenartigkeit der Texte nicht gerecht. Tatsächlich bot Unterwegs unterschiedliche Zugangsweisen an, mit denen Dor über sein Erleben von Folter und Haft und seine Zeugenschaft des Todes, darunter auch vieler seiner FreundInnen, in lyrischer Form oder mit den Mitteln von Metaphern und Bildern schrieb, wie etwa im Kurztext „Wachtraum“: 15

Von dem Theaterstück liegt in gedruckter Form nur ein Ausschnitt in Stimmen der Gegenwart (Dor, 1953) vor. Im Nachlass von Hans Weigel in der Wienbibliothek findet sich ein Typoskript des Stückes, dem jene Seiten fehlen, die in Stimmen der Gegenwart aufgenommen wurden.

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Und jemand hatte noch die Kraft zu lachen. Man sagt, er vergaß wie er hieß, er vergaß den Bach seiner Heimat und das Pferd des Glücks. Es brachte ihn statt auf ein Rosenfeld auf ein ganz anderes, auf eines, wo die Leichen blühten. Der tote Mund schweigt, aber die Blumen sprachen blutig, die Blumen am Fenster des Traums. (Dor, 1947c, 66)

Diese Stilmittel der literarischen Verfremdung einzusetzen wurde ihm aber vom größeren Teil der Rezensenten in den ersten Nachkriegsjahren nicht zugestanden. Die letzten drei Erzählungen in Unterwegs, „Der Gehetzte“, „Die Flucht“ und „Das Buch ohne Ende“, zeigten aber schon, dass Dor bereits dabei war, seine literarische Schreibweise neu zu definieren: Auf sie trafen Glücks Kritikpunkte nicht zu, stellten sie doch die ersten Zeugnisse für eine neue literarische Herangehensweise dar und waren erste Beispiele von Dors charakteristischem Realismus16, der, trotz späteren Einschüben von komplexeren Erzähltechniken, die Grundlage seines Schreibens darstellen sollte. Alle drei Erzählungen fanden Eingang in Tote auf Urlaub. „Der Gehetzte“ bildete das Anfangskapitel. Auch wenn sich demnach Dor von seinen vom Surrealismus und Expressionismus beeinflussten Anfängen abwendete, blieb seine literarische Vorbildung für ihn ein Vorteil. Hans Weigel vermerkte in Notizen, die er sich zu seinen ‚Schützlingen‘ machte, zu Dor: „Kennt die Weltliteratur, insbesondere die junge Literatur. Fachmann für Kunstgeschichte.“17 Diese Kompetenz schrieb er sonst keinem von Dors GenerationskollegInnen zu. Seine Expertise war in den Zeitschriften und Zeitungen durchaus gefragt: Dor schrieb nun über André Gide (Dor, 1949a) und Honoré de Balzac (Dor, 1950), Schriftsteller, die seiner neuen, realistischen Erzählweise näherstanden. Ein weiterer konkreter Bezugspunkt war Albert Camus, der insbesondere seinen Roman Tote auf Urlaub stark beeinflusst hat, wie im Folgenden noch gezeigt werden wird.

Erinnerung an den Nationalsozialismus im Roman Tote auf Urlaub im anwachsenden Verschweigen Mit seinem ersten Roman Tote auf Urlaub wendet sich Dor vom Surrealismus ab und dem Realismus zu. Doch thematisch schließt Dor weiterhin an seine Auto16

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Zu Dors spezifischem Realismus vgl. den Aufsatz des Verfassers „Realistisches Erzählen als ‚Diagnose‘ von Gesellschaft und Erfolgsrezept in Vergangenheit und Gegenwart“ in Carsten Gansel (Hrsg.), Realistisches Erzählen und Gegenwartsliteratur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (in Vorbereitung). Hans Weigel, Kommentar zu Lebensläufen, NL Weigel, Wienbibliothek.

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biografie an, die den überwiegenden Teil seiner Werke prägt, seien es die frühen Texte, deren größter Teil in Unterwegs (1947) herauskam, sei es die RaikowTrilogie, die aus den Romanen Tote auf Urlaub (1952), Nichts als Erinnerung (1959) und Die weiße Stadt (1969) bestand und deren Hauptfigur Mladen Raikow Dors Alter Ego war, oder sei es Auf dem falschen Dampfer (1988), seine nun auch so genannte Autobiografie. Im Mittelpunkt stand dabei jedoch nicht seine Migration, sondern sein Leben unter der Herrschaft der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts bzw. deren Nachwirkungen. Insbesondere seine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in einer Zeit, in der dieser verdrängt wurde, stieß dabei auf Widerstand im Literaturbetrieb. Doch zunächst zu dem autobiografischen Hintergrund, der dieses Schreiben auslöste. Dor war schon als Schüler Mitglied des „Ortskomitees des Bundes der kommunistischen Jugend Jugoslawiens“ (Mesni komitet SKOJ-a) geworden. Nach der Organisation eines Streiks gegen den faschistischen Unterrichtsminister Anton Korošec wurde er 1940 von der Schule verwiesen und schloss seine Matura ein Jahr später als Externist ab (Amann, 2004, 29). Nach der Besetzung Belgrads durch die deutsche Wehrmacht ging Milo Dor in den – unbewaffneten – Widerstand; im März 1942 wurde er verhaftet. Er überlebte Haft und Folter durch die mit der deutschen Besatzung kollaborierende serbische Spezialpolizei und wurde im September desselben Jahres in das Jugendlager in Smederevska Palanka überstellt. Im Juli 1943 wurde er nach Wien zur Zwangsarbeit in einem Rüstungsbetrieb verschickt, im September 1944 im Zuge der Verhaftungswelle nach dem Stauffenberg-Attentat neuerlich eingekerkert und von der Gestapo gefoltert. Dor bestand darauf, vom eigenen Widerstand und Leid und dem seiner Freunde zu erzählen, wobei er diesem Grundimpuls über die Jahre auf durchaus verschiedene Weisen literarischen Ausdruck gab. Seine Zeugenschaft verband ihn mit österreichischen AutorInnen wie Csokor, Aichinger oder Federmann, die ebenfalls nicht über das von ihnen Erlittene schweigen wollten.18 Sie erschloss ihm auch den Zugang zu den gleichgesinnten KollegInnen des PLANKreises, der Runde um Hans Weigel und auch der Gruppe 47. Dor stellte bei diesen Kontakten das Verbindende über das Trennende und war bereit, unter Beibehaltung eines antifaschistischen Grundkonsenses auch ehemalige Soldaten 18

Csokor berichtet über sein Exilantenleben und seine Zeugenschaft beim Kampf um Warschau und der Bombardierung Warschaus in Als Zivilist im polnischen Krieg 1940 und in Als Zivilist im Balkankrieg 1947, Aichingers Roman Die größere Hoffnung erschien 1948, Federmanns Roman Die Chronik einer Nacht 1950 vorerst nur als Fortsetzungsabdruck in der Arbeiter-Zeitung (Federmann, 2005).

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der deutschen Wehrmacht wie Gerhard Fritsch und Bertrand Alfred Egger als Opfer diktatorischer Gewalt zu verstehen.19 Durch Zufall dem Tod entronnen, scharten wir uns zusammen, wie es bei den wenigen Überlebenden einer allumfassenden Katastrophe üblich ist. Der Drang, die Nähe des anderen zu suchen, war bei uns verständlicher, weil wir als Gegner der Nationalsozialisten noch immer in der Minderheit waren. (Dor, 1989, 32)

Dieser Gegnerschaft verlieh Dor auf Basis seiner Erfahrungen in vielen Texten Ausdruck. Der bekannteste ist dabei sicher sein erster großer Roman, Tote auf Urlaub, der 1952 erschien. Er bestand aus einer Abfolge von episodenhaften Erzählungen, die mit dem zentralen Handlungsstrang, der Geschichte von Mladen Raikow, mehr oder weniger verbunden waren. Raikow war das Alter Ego Dors,20 die Stationen seines Leidensweges glichen – mit einigen nicht unwesentlichen Abweichungen (Ivanji, 2004, 96–98) – Dors Biografie. Im ersten Kapitel begegnet Raikow bereits als Gehetzter, der, um seiner Verhaftung zu entgehen, durch Belgrad streift und sich versteckt. Durch Verrat bei einem Treffpunkt auf offener Straße schließlich doch verhaftet, erleidet er die Folter der serbischen Spezialpolizei, ohne selbst Verrat an seinen Kameraden zu üben. Kritische Aussagen zum Hitler-Stalin-Pakt in der Haftzelle ziehen seinen Parteiausschluss nach sich und machen ihn für die kommunistische Partei, in deren Reihen er gekämpft hatte, zum Verfemten. Jede weitere Station seines Weges (Krankenhaus, Jugendlager, die Verschickung nach Österreich als Zwangsarbeiter, neuerliche Haft und Folter) ist begleitet vom Tod vieler seiner LeidensgenossInnen und KameradInnen. Nach seiner Haftentlassung am 12. April wird Raikow Zeuge von Exekutionen und Vergewaltigungen durch russische Soldaten. Am Ende des Romans landet Raikow im Bett einer Naziwitwe: „Er lag auf dem Rücken und schaute in den fahlen Aprilmorgen, der kalt in das Zimmer hereinkroch und einen trüben, regnerischen Tag ankündigte“ (Dor, 1992, 483). Mittels eines 40-köpfigen Figurenensembles entwarf Dor ein Panorama der totalitären Gewalt, wobei die Geschichte von Anissie Aksentievich neben der von Raikow am stärksten heraussticht: Aksentievich entgeht durch eine Verwechslung seiner Exekution und setzt sein Leben in der Folge unter dem Namen des an 19

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Milo Dor im Gespräch mit Andreas Weber: „Unsere Generation [...] hat irgendwie zusammengehalten nach dem Krieg, das heißt die Überlebenden, ob sie jetzt von der Front nach Hause gekommen sind oder eingesperrt waren, so wie ich, oder irgendwo in der Emigration gewesen sind.“ (Weber, 1998, 123) Raikow trat auch in Nichts als Erinnerung, Die weiße Stadt und Dors letztem literarischen Werk, Wien, Juli 1999 (Dor, 1997), auf.

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seiner statt Hingerichteten fort. In den letzten Kriegstagen wird er – wieder aufgrund einer Verwechslung – von russischen Soldaten zusammen mit jener Magd, die er am Abend zuvor, nach deutschen Soldaten, vergewaltigt hatte, erschossen. Tote auf Urlaub zeichnet sich durch seine vorandrängende Erzählung aus, die Narration und die vielen, im raschen Wechsel von kurzen Sätzen verfassten Dialoge halten nur in wenigen Fällen für kurze und knappe Beschreibungen ein. Dass der Verlauf durch Reflexion unterbrochen wird, geschieht nur in seltenen Ausnahmen, etwa wenn sich für Lepa, Raikows Freundin, die Geschichte als Lokomotive verbildlicht: Bei jeder Kurve fielen einige mit ängstlichen Schreien und weitaufgerissenen Augen heraus. Sie fielen eigentlich nicht, sondern wurden von den Schaffnern hinuntergestoßen, und die schweren Räder zermalmten sie. [...] Eine Gruppe von Passagieren ging mit Messern auf die Schaffner los. In dem Handgemenge wurden einige Frauen zu Boden gestoßen und zertrampelt. Als die Schaffner erledigt und die Frauenleichen ins Freie geworfen waren, stiegen die Aufständischen auf die Lokomotive und töteten den Lokführer und den Heizer. [...] Ihr Führer konnte die Richtung nicht ändern, und die Schaffner mußten fortfahren, die Passagiere hinauszuwerfen, damit sie nicht selbst hinausgeworfen wurden. Die Maschine zwang jedem neuen Maschinisten dieselben Bewegungen auf, die sie auch seinem Vorgänger aufgezwungen hatte. Die Maschine war die Macht, und wer sie hatte, war ihr Sklave. (Dor, 1992, 429)

Das Bild stammt dabei eigentlich von Karl Marx – „Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte“ (Marx, 1960, 85) –, wird im Buch aber Lenin zugeschrieben und verwandelt. Dass für Lepa die Lokomotive nicht nur für die Revolutionen steht, sondern das Bild auf die ganze Geschichte ausgeweitet wird, war eine philologische Unschärfe, zugleich aber auch Abbild einer Zeit, die von Unterdrückung und unbeschränkter Gewalt geprägt war. Dors Fokus lag auf der Darstellung des nationalsozialistischen Terrors, seien es Geiselerschießungen durch die Wehrmacht oder Folterungen durch die Gestapo und die mit den Nationalsozialisten kollaborierende serbische Spezialpolizei. Gruitschich21 und das Bärengesicht packten Mladen unter den Achseln und lehnten ihn an die Wand, damit ihm Schterich besser seine Ohrfeigen verabreichen konnte. [...] Mladen spürte die Schläge bis in die wunden Füße. Unwillkürlich begannen seine Knie zu zittern;

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Im Unterschied zu den Erzählungen in Unterwegs verwendete Dor in Tote auf Urlaub die echten Namen seiner Folterer. Grujičić wurde aufgrund des Romans in Kanada verhaftet und vor Gericht gestellt. (Friedl, Peseckas, Bauer, Jelinek, Mayröcker, Artmann, Dor, Jonke, Frischmuth und Jandl, 1990, 95; Ivanji, 2004, 99).

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sie gaben nach, und er sackte zu Boden. Aber Gruitschich und das Bärengesicht hoben ihn immer wieder einem neuen Schlag entgegen. Schterich taten die Handflächen anscheinend weh; er ballte die Hände zu Fäusten und schlug weiter auf Mladens Gesicht. Der erste Faustschlag seiner Rechten schloß Mladens linkes Auge. Dann kam die Nase und der Kiefer an die Reihe. Mladen spürte, daß er kein Gesicht mehr hatte. „Ich werde dich verunstalten. Ich werde dir dein zynisches Lächeln abgewöhnen.“ Schterich schlug so stark auf Mladens Mund, daß er sich dabei den Handrücken an den zerbrochenen Zähnen verletzte. Die kurze Pause, in der Schterich wütend und nervös nach dem Taschentuch griff, um sich die Hand zu verbinden, nützte Mladen dazu aus, einige Zahnteile auszuspucken. Er mußte sie mit der Hand von den zerrissenen Lippen abwischen. „Du machst den ganzen Boden dreckig! Wisch das Blut ab!“ [...] Diese Arbeit, die Mladen gewissenhaft zu erledigen suchte, als wäre er selbst an dem Blutvergießen schuld gewesen, war vergebens: während er an der einen Stelle einige Blutstropfen abwischte, floß auf eine andere ein kleines Bächlein aus seinem Mund, seiner Nase und seinen Ohren. (Dor, 1992, 135–136)

Dor problematisierte ebenso den kommunistischen Widerstand und die russischen Befreier und machte kenntlich, dass nach dem Sieg über die Wehrmacht auch die nunmehrigen Sieger totalitäre Gewalt anwendeten. Er stellte in aller Deutlichkeit und Unerbittlichkeit dar, dass die Gewalt jeden Lebensbereich durchdrang und sparte dabei die Sexualität nicht aus, sondern schilderte Sadismus und Vergewaltigungen ungeschönt und direkt. Ideologien boten bei ihm keine Lösungen, sondern sie waren die Ursache des Problems. Dor erzählte davon in einem am Realismus orientierten Erzählstil, dessen Härte und Sachlichkeit sich für ihn aus einer psychologischen Notwendigkeit ergab, stand er doch noch unter dem Eindruck der überlebten Folter und Haft. 1990 erinnerte sich Dor an seine Arbeit am Roman: Ich habe es nur schreiben können, wenn ich mich distanziere, distanziere von mir selbst, aber im großen und ganzen ist es doch sehr autobiographisch. Mit diesen Folterungen kann man nur mit Distanziertheit fertig werden, sonst würde man irre werden. Es ist einfach unglaublich, was der Mensch dem Menschen antun kann. (Friedl, Peseckas, Bauer, Jelinek, Mayröcker, Artmann, Dor, Jonke, Frischmuth und Jandl, 1990, 95)

Dor stellte der erfahrenen Gewalt den Akt des Widerstandes gegenüber, der für ihn sowohl im konkreten Handeln gegen die Tyrannei als auch in der aufgeschriebenen Erinnerung an den Kampf und dessen Opfer bestand, ein Programm, das er bereits 1946 im Strom, dem Zentralorgan des Verbandes Sozialistischer Studenten Österreichs, formuliert hatte und bei dem er sich – was

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er sonst selten tat – unmissverständlich einem ‚Wir‘, und zwar den KameradInnen aus dem Widerstand, zuordnete: [W]ir können nicht, nein, wir dürfen nicht in die Vergeßlichkeit des Lebens versinken, damit uns die Nacht des Todes nicht verschlingt. [...] Wir werden es nie vergessen, was geschehen ist, wir werden kämpfen, daß es nie mehr zurückkommt, wir alle, die wir Sonne und Leben über alles lieben. (Dor, 1946a, 9)

Was Jacques Lajarrige, der Veranstalter des Dor-Symposions von 2003, über Dors späte Autobiografie Auf dem falschen Dampfer schrieb, galt für nahezu das gesamte Werk Dors: „Die Autobiographie schlägt [...] die Brücke zwischen individuellem und kollektivem Schicksal“ (Lajarrige, 2004a, 129). In diesem Sinne schrieb Dor 1947 in einem autobiografischen Text: In der gespannten und widerspruchsvollen Vorkriegsatmosphäre, die auch unser Innenleben nicht unbeeinflußt ließ, kannte ich eine herrliche Generation junger Menschen, die nicht nur an sich und ihr eigenes Leben dachten, sondern vor allem an andere Menschen, an die gesamte Menschheit. (Dor, 1947a, 217)

Nach dem Krieg war Dor von diesem ‚Wir‘ jedoch real abgeschnitten: Unsere Generation zerfiel vollständig. Soweit sie nicht ausgerottet wurde, wurde sie nationalistisch oder kommunistisch, abgesehen von einigen echolosen Einzelgängern, zu denen ich mich seit dem Augenblick zähle, in dem ich mein Land freiwillig verließ. Ich habe das Schreiben nicht aufgegeben, aber so oft ich mich zur Arbeit setze, ertappe ich mich bei dem Gedanken, daß ich eigentlich für meine ehemaligen Kameraden schreibe, die für mich mit der Zeit gesichtslos geworden sind. So halte ich stumme Zwiesprache mit den Toten und mit den Überlebenden, die – selbst wenn sie mich hören könnten – die Sprache, in der ich schreibe, nicht verstehen. (Dor, 1963, 2)

Im Bestehen darauf, die Vergangenheit nicht mit einem Mantel des Schweigens zu bedecken, fand er durchwegs Anklang im PLAN-Kreis, der Runde um Hans Weigel und der Gruppe 47. Zugleich schien Dor dadurch das verlorene ‚Wir‘ durch ein neues zu ersetzen. Seine literarische Verfahrensweise unterschied sich jedoch teils deutlich von den SchriftstellerInnen, denen er sich zugehörig fühlte. Dor mied in diesem Roman, so Klaus Amann, konsequent die in der Literatur der fünfziger Jahre häufig anzutreffenden Deutungsmuster, die den Krieg als etwas Schicksalhaftes und somit letztlich Unvermeidliches darstellen. Kein

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allegorischer Symbolismus, keine existenzielle Metaphorik, kein moralischer Kommentar, kein Selbstmitleid, kein Sentiment schiebt sich über die Erzählung des Geschehens. (Amann, 2004, 30–31)

Die zentrale Referenz für Dor in Tote auf Urlaub war Albert Camus, dessen Der Mythos von Sisyphos (1950) nach dem Krieg zu „eine[r] Art Bibel“ für ihn geworden war (Dor, 1988, 205). Hans Heinz Hahnl beschrieb die Wirkung des Existenzialismus auf seine Generation: „Die jungen Österreicher [...] fanden sich, wenn sie die Existentialisten lasen, nur in ihren Lebenserfahrungen und dem von ihren Lebenserfahrungen aufgedrängtem Rückweg ins Ich bestätigt“ (Hahnl, 1985, 157). Bei Dor ist jedoch von diesem „Rückweg ins Ich“ nichts zu finden. Tote auf Urlaub kann geradezu als Werk gelesen werden, das die Möglichkeiten sozialen Handelns unter totalitärer Herrschaft mit äußerster Dringlichkeit und Illusionslosigkeit befragt. Wenn Mladen Raikow am Ende des Romans sagt: „Ich habe für niemanden meinen Schädel hingehalten, sondern nur gegen jemanden – einen ganz bestimmten Jemand, und da habe ich recht gehabt“ (Dor, 1992, 478), dann bestand Dor auf der Sinnhaftigkeit von Revolte in einer ansonsten als sinnlos erkannten Welt. Damit rückte er Raikow in die Nähe des Sisyphos von Camus, der handelt, obwohl er um die Sinnlosigkeit seines Tuns weiß – eine Revolte im Anschluss an die Erkenntnis des Absurden. Wenn Raikow am Ende des Romans allerdings im Bett der Naziwitwe landet, scheint sich das Absurde durchzusetzen – im Hinblick auf die konkreten Widerstandshandlungen Raikows. Dor selbst aber hatte mit seinem Roman einen Akt des Widerstandes gesetzt, mit dem er weit mehr Hoffnungen verband, als sie der Sisyphos von Camus hegen konnte. Nicht der Roman sollte den LeserInnen Antworten geben, sondern Dor wollte, wie er es bereits in einem kurzen Text im PLAN 1947 formuliert hatte, „richtige Fragen stellen und zusammen mit den Menschen nach einer Antwort suchen“ (Dor, 1947a, 218). Mit seinem Thema stieß Tote auf Urlaub jedoch auf ein Umfeld, das sich nach einer kurzen Phase der Offenheit sehr rasch unter der Devise, über den Krieg wäre nun wirklich genug geredet worden, der Verdrängung des Geschehenen widmete.22 22

Mit der Gründung des Verbandes der Unabhängigen (VdU) und dessen Antreten bei der zweiten Nationalratswahl 1949 rückten die ehemaligen Nationalsozialisten als potenzielle Wähler in den Fokus der großen Parteien. Ebenso galt es, gegenüber den Alliierten im Zuge der Staatsvertragsverhandlungen auf Österreichs Status als erstes Opfer bzw. befreites Land zu insistieren.

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Abwehr der Kritik: Tote auf Urlaub in der Rezeption Tote auf Urlaub gehörte zu den meistbeachteten österreichischen Romanen seiner Zeit; „nicht einmal mit DODERER beschäftigten sich so viele deutsche Kritiker“ (Kruntorad, 1976, 194). Doch trotz des Aufsehens, das der Roman hervorrief, schränkte schon ein anonymer Rezensent in der Süddeutschen Zeitung ein, der Roman sei „eine Anklage, welche die Menschheit erschüttern müßte, wenn sie überhaupt zu erschüttern wäre“ ( Junius, 1952). In Österreich hatte Dor keinen Verlag für sein Buch gefunden – trotz der Unterstützung von Hans Weigel, der mehrmals in Zeitungen und Zeitschriften auf Tote auf Urlaub hingewiesen hatte: „Sein autobiographischer Roman ‚Tote auf Urlaub‘ ist nicht nur thematisch hochinteressant, sondern auch großartig erzählt“ (Weigel, 1951a; siehe auch Weigel, 1950). In Auf dem falschen Dampfer erinnerte sich Dor: Nachdem die beiden großen Verlage in Wien – Danubia und Zsolnay – es abgelehnt hatten, [Dors] zur Hälfte geschriebenen Roman Tote auf Urlaub nach der Vollendung herauszubringen, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich nach einem deutschen Verlag umzusehen. Daß der Zsolnay-Verlag, der im vierten Bezirk, also in der russischen Zone, seinen Sitz hatte, wenig Lust zeigte, diese Auseinandersetzung mit den Kriegsgreueln, bei der auch die Sowjets nicht gut davonkamen, zu drucken, war noch verständlich; daß aber auch der sozialdemokratische Danubia-Verlag, dem der ehemalige General der Internationalen Brigaden in Spanien, Julius Deutsch, vorstand, seine Schilderungen zu kraß fand, war ärgerlich. (Dor, 1988, 121)

In einem Umfeld des Wiedererstarkens der Ideologien im Kalten Krieg sowie der auf konservativen Topoi aufbauenden Errichtung eines österreichischen Nationalbewusstseins und der damit einhergehenden konservativen Dominanz auch in der Literatur (Amann, 1984, 57; Pfoser, 2010, 237; Rathkolb, 2010, 20–22) musste Tote auf Urlaub wie ein Fremdkörper wirken. Nur über den Umweg von Dors Einladung zur Gruppe 47 und der darauffolgenden Annahme seines Manuskriptes durch die Deutsche Verlags-Anstalt konnte das Buch schließlich 1952 erscheinen. Doch die Rezensionen waren, so positiv sie auf den ersten Blick erscheinen, bei genauerer Betrachtung von Abwehr gekennzeichnet, die sich in verschiedenen Strategien der Exklusion (Marginalisierung des Themas, Zweifel am Wahrheitsgehalt, Ausblendung von Romanteilen) äußerte und Dor die volle Anerkennung vorenthielt. Die durch den Kalten Krieg verstellte Sicht in der Rezeption von Tote auf Urlaub ließ besonders die umfangreichste Rezension des Buches durch Weigel

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deutlich werden: Weigel instrumentalisierte den Roman am deutlichsten für seine antikommunistischen Zwecke, indem er meinte, er sei „eine wichtige Abrechnung mit dem Kommunismus“ (Weigel, 1952, 91). Der Angelpunkt der Tragödie Mladen Raikows, die eine europäische Tragödie ist, liegt außerhalb der erzählten Ereignisse in der Vorgeschichte; in Mladens Entschluß, Kommunist zu werden. Was wir in der Folgezeit bis heute erlebten und erleben, sind nur die katastrophalen Nachwirkungen jahrzehntelanger Unterlassungen. Wir konstatieren insbesondere seit der Wendung des Bolschewismus zu Imperialismus und Reaktion (oder seit ihrer Demaskierung als Imperialisten und Reaktionäre) das Fehlen einer echten Auffangstellung für alle echten Fortschrittlichen. Wir haben die Abwertung der „Widerstandsbewegungen“ und damit die Kompromittierung des echten Antifaschismus erlebt, weil eine bestimmte Partei sie zu ihrem Monopol zu machen und sich durch geschickte und rücksichtslose Aufopferung von Menschen den Hauptanteil an Prestige zu sichern wußte, gefördert durch die kriegsbedingte Unterstützung der demokratischen Mächte. (Weigel, 1952, 90)

Aus der umfassenden Totalitarismuskritik Dors einzig und allein die Kritik am Kommunismus, die keinesfalls den Schwerpunkt des Romans ausmachte, herauszulösen war perfide. Mit dieser Konzentration auf den Kommunismus ging zudem eine Ausblendung der auf Österreich bezogenen Teile des Romans einher. Ab dem zweiten Drittel spielte ein Hauptteil der Handlung des Romans in Wien und Österreich – gerade diese Teile des Romans fanden jedoch keine Beachtung. Erst der Schluss des Romans, in dem Raikow Zeuge der Verbrechen der Roten Armee wird, wurde wieder in der Rezension erwähnt. Diese Ausblendung der auf Österreich bezogenen Teile zog sich durch nahezu alle Rezensionen. Auch in Deutschland wurde der umfassende Anspruch der Totalitarismuskritik Dors nicht wahrgenommen, auch hier standen jene Teile des Buches im Vordergrund, die in Belgrad spielten. Aus deutscher Sicht wurde Jugoslawien zum Nebenschauplatz, zum bedauernswerten Sonderfall erklärt, wenn zum Beispiel der Rezensent des Spiegels schrieb: Nirgendwo in Europa wurden durch Hitlers Manipulationen mehr innerstaatliche Ressentiments freigesetzt, nirgendwo wurden uralte Zwietrachten geschürt und seit langem klaffende Risse im Staatsgebäude erfolgreicher verbreitert, als in jenem kleinen Lande an der Schwelle zum asiatischen Kontinent. (Anonym, 1952, 30–31)

Das Buch sei eine „Darstellung der dämonischen Automatik, mit der diese Dezimierung einer vielfältig zusammengewürfelten, vielfach mißbrauchten Nation

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funktionierte“ (Anonym, 1952, 31). Mit dem Roman hatte das nicht mehr viel zu tun, denn ethnische Auseinandersetzungen spielen in diesem keine Rolle. Durch die Brille eines Südosteuropabildes, das nur Bruderkrieg und Zivilisationsferne wahrzunehmen fähig war, geriet der Roman hier zu nichts anderem als einer „Vorgeschichte des Titoismus“. Und auch für Junius von der Süddeutschen Zeitung lebten die jungen KameradInnen in Belgrad inmitten einer Welt, in der gesunde Bauern mit barbarischem Gesang noch im sechszehnten Jahrhundert verharren, während kranke Intelektuelle [sic] mit fremden, neuen Ideologien und Philosophien spielen, tödlich gelangweilt von der nationalen Vergangenheit. ( Junius, 1952)

Hier schoben sich ‚Balkanklischees‘ über die Wahrnehmung der Realitäten eines urbanen Widerstandes, in dem nicht primitive ‚Barbaren‘ Stammesfehden austrugen, sondern die Folterer dieselben Schriftsteller wie ihre Opfer gelesen hatten und derselben sozialen – bürgerlichen – Schicht angehörten (Dor, 1992, 40–41). Erstmals war es die durch Dors Herkunft bestimmte Stoffwahl, die auf Ressentiments und Vorurteile stieß. Die ungemilderten und realistischen Schilderungen von Gewalttaten und Folter in Tote auf Urlaub überschritten das im Klima der konservativen Restauration der 1950er Jahre Sagbare auf jeden Fall deutlich. Wenn der Rezensent des Spiegels schrieb: „In jedem der vielen Kapitel des Buches wird unmäßig viel geprügelt und geschunden, gefoltert und auf alle nur erdenklichen Arten gequält“ (Anonym, 1952, 30), dann wird deutlich, dass über die Gewalttätigkeit im Zweiten Weltkrieg so nicht mehr gesprochen werden durfte. Dies ging so weit, dass Melchinger in Wort und Wahrheit den Wahrheitsgehalt des Romans infrage stellte: Was an Selbsterlebtem in dem Buch steckt, konnte nur einmal beschrieben werden. Stammt das andere aus Berichten [...] oder aus einer gefolterten Phantasie? [...] Dies alles mag objektiv wahr sein (und es ist wohl wahr), aber die Anhäufung erregt den Verdacht, daß es dem AutorIch auch um sie ging oder gerade um sie. Arrangement? In diesem Fall also eine Art von Sadismus? Die Folterkammer-Literatur breitet sich nicht zufällig aus. [...] Greuelliteratur wird suspekt durch die Spekulation auf den massenpsychologischen Nerven-Effekt. (Melchinger, 1952, 946)

Während also in den Stimmen zu den ersten Texten Dors im PLAN oder in Unterwegs vom Autor Konkretheit und Realismus gefordert wurde, hatten sich nun offenbar die Potenziale des Sagbaren verschoben. Wer in den ersten drei

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Jahren nach Kriegsende Zeitungsberichte über die österreichischen Volksgerichte bzw. die Nürnberger Prozesse las, wurde dort mit detaillierten Schilderungen von Gewalttaten aus den Kriegszeiten konfrontiert, die noch weit grausamer waren als Dors Darstellung in literarischer Form. Gerade ihr Aufscheinen in einem Roman nur ein halbes Jahrzehnt später rief jedoch Reaktionen hervor, die mit dem Vorwurf, es handelte sich dabei lediglich um Reportage, dem Buch die Zugehörigkeit zur Literatur absprachen. So schrieb etwa Schroers in der Frankfurter Allgemeinen: „Der Stil des Buches ist [...] durchwegs reine Mitteilung des bösen Tatbestandes, manchmal häßliche Reportage, reine Inhaltsvermittlung ohne dichterische Brechung und also ohne Rudimente von Geistigkeit“ (Schroers, 1952). Insbesondere, dass Dor deutlich machte, dass die alles durchdringende Gewalt des Krieges auch vor der Sexualität keinen Halt machte, stieß nur teilweise auf Zustimmung: „Wieder muß man darauf hinweisen, daß Pubertätsphänomene in Dors Buch wirksam sind; das erklärt die fleischliche Schwüle, die immer wieder auftaucht: sie ist nicht geschmackvoll, aber auch keine Frage des Geschmacks, sondern der Wahrheit“ (H. L. B., 1952). Skalnik unterstellte in Die österreichische Furche dem Autor überhaupt, „die breit ausgebauten Szenen rund um das ‚Thema Eins‘ der Militärbaracken und Kantinen seien mit einem sehr guten, einem zu guten Sinn für Publikumseffekte gleichmäßig ungefähr alle hundert Seiten eingestreut“ (Skalnik, 1952). Der Vorwurf, aus Kalkül Sex und Gräuel einzusetzen, war die Kehrseite des Lobes, ein guter Erzähler zu sein, das Dor in fast jeder Rezension erhielt. Wenn Amann 2004 in einer späten Würdigung die distanzierte Präzision, mit der Dor die Geschehnisse in Tote auf Urlaub darstellte, und den Verzicht auf Ideologie, Metaphysik und Deutung als Qualität und Wert des Werkes benannte, so hatte er damit auch die Einzigartigkeit des Romans im literarischen Umfeld der 1950er Jahre festgemacht. Doch gerade diese Eigenschaften wurden dem Roman bei Erscheinen 1952 als Fehler oder Mangel angelastet. Skalnik fragte: Wird er [Dor] verharren in der Erinnerung an die Lagerfeuer der Partisanen, an die Keller der Henker, an hochgespannte Erwartungen und ihre grausame Enttäuschung? Wird er aus diesen Erfahrungen heraus weiter eiskalt konzipierte Bücher schreiben [...] – oder aber ... (Skalnik, 1952)

Die Forderung nach Transzendenz, das heißt die Überführung des Konkreten in einen höheren Sinnzusammenhang, die hier mitschwang, war aber keineswegs auf die Literatur Dors beschränkt, sondern stand als Generalvorwurf im Zentrum der Diskussion über die literarischen Werke der jungen Generation in

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der Nachkriegszeit. Rudolf Brunngraber, der erfolgreichste sozialdemokratische Schriftsteller der Nachkriegszeit, sprach der Jugend ganz generell ab, Romane schreiben zu können, mangle es ihr doch an Erfahrung, sodass ihr nur die Wahl zwischen „Anarchie und Epigonentum“ offenstehe (Brunngraber, 1949, 4). Stellvertretend für eine ganze Reihe von Äußerungen sei hier aus Csokors Aufsatz „Ist diese Jugend jung?“ von 1950 zitiert: Erfasst die Gnade des Leides, das euch aufriß in seinem doppelten Ergebnis – in dem der Verletzung, aber auch in dem der Verwandlung! [...] Zu diesem Ziele dürft ihr euch aber nicht in einem Narzißmus abschließen, darin ihr euere Wunden verliebt besingt [...]. (Csokor, 1950, 4)

Die Jugend solle sich nicht „in die durch Franz Kafka gebaute Büßerzelle zurück[ziehen]“ (Csokor, 1950, 4). Dementsprechend war es ausgesprochen negativ konnotiert, wenn Siegfried Melchinger in Wort und Wahrheit über Dors literarisches Verfahren schrieb: ein fast artistisch durchsichtiger, an Kafka gemahnender Stil, der sich keinerlei impressionistischer Mittel, auch nicht des handfesten Zupackens [...], bedient. Die Facts sind tiefgekühlt. Die Kältemaschinerie hat Entrüstung wie Erbarmen abgetötet. (Melchinger, 1952, 946)

Dass Dor den Schritt zur Transzendenz verweigerte und stattdessen beschrieb, was war, blieb das größte Hindernis für den Erfolg seines Romans in den 1950ern – und mag bis heute seiner breiten Rezeption oder Wiederentdeckung im Wege stehen. Doch es war weniger die Kritik an seinem Werk, die dazu führte, dass Dor nach Tote auf Urlaub neue Wege in der Literatur beschritt. Vielmehr war es der ausbleibende finanzielle Erfolg, der ihn zu diesem Schritt bewog. Mit seinem Neuanfang in der Populärliteratur, um den es im Folgenden gehen soll, machte sich Dor jedoch noch mehr Feinde im klassischen Literaturbetrieb.

Versuch einer Doppelexistenz – Geschäft und Literatur Dors finanzielle Lage blieb auch nach Tote auf Urlaub prekär. Eine Aufstellung, die Dor 1951 an Weigel sandte, illustrierte seine Situation: „1945–1947 nicht nennenswert. 1948 für 23 Beiträge ...... S. 1400.–“23 Das durchschnittliche Ein23

Kurzbiografie und -bibliografie von Milo Dor, NL Weigel, Wienbibliothek.

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kommen eines Arbeitnehmers betrug 1948 6860 Schilling (Otruba, 1968, 83); Dor verdiente demnach nicht einmal ein Viertel dieser Summe. Von finanzieller Sicherheit kann bei ihm also keine Rede sein, auch wenn berücksichtigt wird, dass er „als ein durch das Naziregime geschädigter Student UNRA-Pakete“ (Dor, 2003a, 51) beziehen konnte und von seinem Vater mit unterhalten wurde, der, wie schon zu Dors Zeit als Zwangsarbeiter und in Haft, auch nach dem Krieg zur Unterstützung des Sohnes nach Wien gereist war (Dor, 1988, 104–109). Eine gewisse Besserung der Situation trat erst 1949 ein, als Dor über Vermittlung von Peter Strasser für den Französischen Informationsdienst als Redakteur mit einem monatlichen Gehalt von 1100 Schilling tätig wurde.24 Doch bereits Mitte desselben Jahres entschied sich Dor, die Anstellung zu verlassen, „um an dem Roman weiterarbeiten zu können.“ Zumindest zeitweise konnte er in Salzburg wohnen und dort am Manuskript von Tote auf Urlaub arbeiten (Dor, 1999, 133). Der ausbleibende Erfolg des Romans ließ Dors Versuch, sich als freier und unabhängiger Schriftsteller zu positionieren, immer unmöglicher erscheinen. Die Zusammenarbeit mit Federmann, bis dahin eher sporadisch für das Feuilleton, verdichtete sich seit 1951 zur Gründung der Firma Fedor, die das ausdrückliche Ziel hatte, am Geschriebenen auch zu verdienen. Dahinter stand der Versuch, eine Doppelexistenz sowohl als anerkannter, freier Schriftsteller und als auch Autor, der durch das Schreiben leben konnte, zu führen. Dor und Federmann zogen für sich eine Trennlinie zwischen ihrem persönlichen literarischen Schreiben, das ihnen allein und ohne Austausch untereinander vorbehalten war, und der Auftrags- oder Populärliteratur, die sie gemeinsam auf dem literarischen Markt anboten. Allein in den Jahren 1953 und 1954 erschienen vier Bücher, die mit beider Namen versehen waren: die beiden Thriller Internationale Zone (1953b) und Und einer folgt dem andern (1953c), der Roman Romeo und Julia in Wien (1954) und der Band der unterirdische strom. träume in der mitte des jahrhunderts (1953a). Doch alle dieser Bücher stießen auf ein literarisches Feld, in das sie nicht ohne Weiteres eingepasst werden konnten. Für die zwei Kriminalromane war schlicht keine Schublade vorhanden, denn amerikanische Thriller wie die von Raymond Chandler und Dashiell Hammett waren auf Deutsch gerade erst erschienen. Günther Stocker beschrieb Inhalt und Stil der Romane im ersten überhaupt dazu erschienenen Aufsatz 2010: Actionreiche Handlung, hartgesottene, zynische Protagonisten, lässiger Slang, die Kombination von sexuellem Interesse und Frauenverachtung, zwielichtige Bars und Cafés sowie 24

Ebd.

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reichlich Zigaretten und Alkohol bilden die Grundbestandteile dieser österreichischen Version der hard-boiled-Literatur. (Stocker, 2010, 109)

Zigarettenschmuggel, Wien als Knotenpunkt internationaler Spionage und Menschenverschleppungen durch die sowjetische Besatzung bildeten den zeitgeschichtlichen Stoff – die Thriller gehörten zu den seltenen Beispielen politisch-engagierter Literatur der 1950er Jahre (Stocker, 2010, 121). Dor berichtete, dass sie sich vor allem auf die Recherchen von Franz Kreuzer von der Arbeiter-Zeitung und auf eigene Erfahrungen stützten (Dor, 1994, 239). Dass das Themen waren, die zwar zum Alltag jedes in Österreich lebenden Menschen gehörten, die aber in einem Land nicht opportun waren, das sich mitten in den Verhandlungen zum lang ersehnten Staatsvertrag befand und Kritik an den Alliierten und den mit ihnen kollaborierenden Österreichern nicht gebrauchen konnte, erschwerte ihre Wahrnehmung.25 Zumal dem Genre in Österreich kein literarischer Wert zugesprochen wurde, es allenfalls als der Unterhaltungsliteratur, wenn nicht überhaupt der damals gängigen Kategorie „Schmutz und Schund“, zugehörig empfunden wurde (Lunzer, 1984, 44). Im Liebesroman Romeo und Julia in Wien (1954) versetzten Dor und Federmann die Tragödie Shakespeares in die von den Alliierten kontrollierte Hauptstadt: Julia stirbt hier nicht durch Selbstmord mit einem Dolch, sondern geht am Ende des Romans ihrer sicheren Verschickung in ein sowjetisches Straflager entgegen. Wieder zeigten die Autoren auf, wie Menschen zu Opfern des Kalten Krieges werden konnten. Der Roman wurde zwar ein gewisser finanzieller Erfolg, literarische Anerkennung war dafür jedoch in einem Umfeld der konservativen Restauration, das auf klaren Grenzen zwischen Hoch- und Populärliteratur insistierte, nicht zu gewinnen. Die zeitgenössische Kritik ignorierte das politische Engagement der beiden jedenfalls völlig. Die Bücher wurden als reine Unterhaltungsliteratur rezipiert: „Wohlfeiler Zynismus, als Witz kostümiert“ (Anonym, 1954) attestierte der Rezensent im Spiegel der Internationalen Zone. Über Romeo und Julia in Wien schrieb der Kritiker der Österreichischen Furche: Ein Thriller, mit dem man wohl eine Stange Geld verdienen, nicht aber literarische Lorbeeren ernten kann. Eigentlich ein typischer Fortsetzungsroman für eine der zahllosen deutschen Il-

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Federmann schrieb Dor 1955 zum Versuch, die Internationale Zone auch bei Kindler unterzubringen: „Ihm einzureden, gerade jetzt wäre I. Z. als Rückblick aktuell, halte ich für ungünstig. Wir würden in der öffentlichen Meinung, besonders in der hiesigen, ziemlich blöd dastehen, wenn wir gerade jetzt damit herausrücken würden.“ Brief vom 19. April 1955 von R. Federmann an M. Dor, NL Federmann, LIT ÖNB.

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lustrierten. Halt, da steht es ja: „Dieser Roman erschien zuerst in der illustrierten Zeitschrift ‚Revue‘.“ (Skalnik, 1955)

Auch das kommunistische Tagebuch, dem die beiden Autoren schon politisch nicht nahestanden, nützte die Gelegenheit zur Abkanzelung: Dor und Federmann „boten keine schriftstellerische oder gar dichterische Leistung, sie erbrachten bloß den Beweis großer Geschmackslosigkeit, und ihre gescheit, weil arbeitsparend, sein sollende ‚Idee‘ wäre selbst im Kabarett fehl am Platze“ (Tepser, 1955). Etwas freundlicher schrieb Die Presse, die zwar meinte, „so ernst zu nehmen“ sei der Roman „nicht“, doch: „Wer sich aber an den Künsten und Tricks der Autoren erfreuen kann, der wird das Buch mit Vergnügen zu Ende lesen“ (K. F., 1954). Anlässlich der Verfilmung des Romans unter dem Titel Nina 1956 erschien ein längerer Artikel zu den Dreharbeiten in der Wochenpresse, in dem Dor („österreichischer Autor mit dem slawischen Tonfall“) in fast schon gehässiger Weise porträtiert wurde: „Der dunkle Milo, 33 Jahre alt, einst eine Hoffnung der österreichischen Literatur, heute in deutschen Illustrierten fast so erfolgreich wie Hans Habe, hat sich längst zu Dostojewskis Wort bekannt, Geld sei geprägte Willensfreiheit“ (Anonym, 1956).26 Die ästhetische Diskriminierung war damit vollzogen. Dor und Federmann hatten Genres gewählt, die noch vor ihrer Legitimierung standen ( Jarchow und Winter, 1993, 99–100). Zur Legitimierung eines dieser Genres versuchte Dor dann 1958 in einem Artikel beizutragen, indem er den Kriminalroman an die Seite der Tragödie stellte (Dor, 1958). Der Briefverkehr zwischen Federmann und Dor in diesen Jahren gibt Zeugnis von den Unbilden, die die zwei Schriftsteller auf sich zu nehmen hatten: Reisen, mühsame Honorarverhandlungen, verzögerte Abgabetermine. Dor schrieb 1952 an Federmann: München ist eine lausige Stadt, trotz Fasching. Ich möchte am liebsten nach Hause fahren, trotz Ruhm, aber ich muss noch Geld verdienen, was im Augenblick nicht leicht ist, weil die Leute Konkurrenz fürchten. [Hans Werner] Richter ist noch der netteste. [...] Alles geht mir auf die Nerven, vorgestern bin ich böse gestürzt. Sehne mich nach Ruhe und Arbeit.27

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Der Artikel endete mit den Sätzen: „Milo Dor [...] hätte furchtbar gern einen der Vier im Jeep gespielt. Alle waren begeistert. Aber es ging nicht. Milo paßte nicht in die Uniform. Der Dichter war zu dick.“ Brief vom 23. Februar 1952 von M. Dor an R. Federmann, NL Federmann, LIT ÖNB.

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Doch es war nicht nur die offensichtliche ökonomische Ausrichtung (und Abhängigkeit!) der beiden Autoren, die ihnen den Zugang zur vollen Anerkennung im literarischen Feld verwehrte, auch ihr Arbeitsmodus entsprach nicht dem Idealbild des Dichters, wie es damals vorherrschte. Rudolf Brunngraber, einer der damals erfolgreichsten Schriftsteller Österreichs, schrieb 1950 an Federmann: Was das Projekt mit den Romanen über die Verstaatlichung anlangt, so befremdet mich an Ihrem Vorschlag und dem des Genossen Milo Dor, dass Sie gemeinsam das Buch schreiben wollen. Sie regen damit etwas an, was in der ganzen Weltliteratur noch nicht da war, nämlich dass zwei Leute einen Roman schreiben wollen. Dergleichen ist in Wirklichkeit nämlich gar nicht möglich.28

Trotz aller Zwänge und dem Gegenwind hielten Dor und Federmann an ihrem Selbstbild als freie Schriftsteller fest. Dass sie damit einer seltenen Gattung angehörten, stellte Federmann 1969 in einem Brief an Weigel fest: Beim Tod von Fritsch fiel mir ein, daß von den österreichischen Hoffnungen, die Sie 51 [in den Stimmen der Gegenwart] präsentierten, nur noch 5 zu Hause [in Österreich] tätig sind; davon 3 Frauen, bei denen das Finanzielle nicht so wichtig ist, weil sie entweder verheiratet oder nebenberuflich tätig sind. Von den 2 Männern ist einer kränklich und relativ untätig [Federmann], der andere Serbe.29

Doch der Anspruch an sich selbst, durch auf den Gewinn hin orientiertes Schreiben so viel finanzielle Sicherheit zu gewinnen, um auch noch ein literarisches Werk schaffen zu können, das ihnen als Autoren von literarischen Werken Anerkennung schaffen würde, war kaum zu erfüllen – diese ‚Doppelexistenz‘, die in vielem die Arbeitsumstände heutiger SchriftstellerInnen vorwegnahm, war in ihrer Zeit ein Ausschlusskriterium. Dor gelang es, mit seinem Roman Nichts als Erinnerung, der 1959 erschien, wieder als Literat wahrgenommen zu werden, wenn auch unter ganz neuen Vorzeichen. Sein Schreiben schien jetzt angepasst. Zudem trat seine Herkunft in der Rezeption in dieser Zeit immer mehr in den Vordergrund. 28 29

Brief vom 25. Februar 1950 von R. Brunngraber an R. Federmann, NL Federmann, LIT ÖNB. Brief vom 14. Juni 1969 von R. Federmann an H. Weigel, NL Federmann, LIT ÖNB. Einige AutorInnen hatten Österreich aufgrund fehlender Perspektiven verlassen, Herbert Eisenreich und Ilse Aichinger arbeiteten zum Beispiel in Deutschland.

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Die ‚Re-Serbisierung‘ des Milo Dor 1962 zierte Milo Dor, im Frack und mit Zylinder und Spazierstock ausgestattet, das Titelbild der offiziösen Literaturzeitschrift Wort in der Zeit. In einem Artikel gleich zu Beginn des Heftes stellte er fest, dass die Moderne mittlerweile zum Kitsch geraten sei, Hausfrauen Picassobilder zur Zierde aufhängen, Ulysses von Joyce lesen und „sehr amüsant“ finden würden. Wer in seiner Brust noch ein revolutionäres Herz schlagen hört, müßte sich sofort der Gegenreformation anschließen. Wer den für „alles Moderne aufgeschlossenen Kleinbürger“ unserer Tage schockieren will, müßte nur mehr die Bücher von Hedwig Courths-Mahler lesen und sie seinen besten Freunden schenken; er müßte in seiner Wohnung nur mehr Drucke von Böcklin und Makart aufhängen und im Theater nur mehr rührselige Volksstücke ansehen. (Dor, 1962b, 3)

Nun war das ironisch zu verstehen, und im Hinblick auf Österreich schloss der Artikel auch mit einer handfesten Philippika („Wir sind um mehr als fünfzig Jahre zurückgeblieben.“); dennoch machte es sich bemerkbar, dass Dor zur Avantgarde seiner Zeit zunehmend in Distanz geraten war. Durch sein Engagement in Deutschland hatte er weder an den Entwicklungen der neuen SchriftstellerInnen um die Zeitschrift Neue Wege (Andreas Okopenko, Ernst Kein) noch an denen der Wiener Gruppe (H. C. Artmann, Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Gerhard Rühm, Oswald Wiener) Anteil genommen. Das bedeutete auch, dass er jenen dort vollzogenen Schritt zum sprachlichen Experiment und zur Sprachkritik nicht vollzog. Mit dem drei Jahre zuvor im deutschen Henry Goverts Verlag erschienenen zweiten Roman Nichts als Erinnerung war Dor zumindest teilweise eine Wiederherstellung seiner Reputation gelungen. Der Roman war in gewisser Weise die Vorgeschichte zu Tote auf Urlaub: In sieben Kapiteln, die jeweils einem Wochentag entsprachen, schilderte Dor – wiederum mit autobiografischem Hintergrund – die letzten Tage des Großvaters von Mladen, Slobodan Raikow, den schließlich unausgeführten Plan des Onkels Sascha, nach Spanien kämpfen zu gehen, und die ersten Lieben und Jugenderlebnisse von Mladen Raikow selbst. Die Geschichten stehen unter dem zentralen Thema des Verlustes – auf individueller Ebene werden derart die Verluste des Zweiten Weltkrieges vorweggenommen und angekündigt. Slobodan, dessen Firma ruiniert ist, verliert das Leben, Sascha wird bereits im Eröffnungskapitel zur Leiche eines Freundes geholt, der sich aufgehängt hat, und verkauft seine Rennpferde. Was allen Figuren bleibt, ist tatsächlich „nichts als Erinnerung“.

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Das Buch wurde in Österreich vor allem als Rückkehr Dors zur Literatur verstanden. Skalnik schrieb in Die Furche: „Es ist die Heimkehr des (beinahe schon) verlorenen Sohnes in das Vaterhaus der Literatur. Laßt uns fröhlich sein und das berühmte Kalb schlachten“ (Skalnik, 1959). Ähnliche Erleichterung schienen auch Wolfgang Kraus und Gerhard Fritsch, die mit Dor befreundet waren, zu verspüren. Kraus schrieb: Er zählte [...] zu jenen, die in das Geschäft mit Illustrierten einstiegen, und so fand man seinen Namen, meist zusammen mit dem eines geschickten Kompagnons, unter allerlei konfektionellen Erzeugnissen, die schließlich auch in Funk und Fernsehen Absatz fanden. Die Befürchtung, daß es aus dieser Region kaum eine Wiederkehr gäbe, war nicht unbegründet. Der nun 35jährige Milo Dor beweist aber nun mit seinem neuen Roman, daß eine solche Rückkehr durchaus möglich ist. (Kraus, 1959)

Mit der Wiederaufnahme Dors ins (hoch)literarische Feld war aber zugleich eine Marginalisierung verbunden, die in dieser Art besonders bei den – nun im Vergleich zu den deutschen viel zahlreicheren – Rezensionen in österreichischen Zeitungen und Zeitschriften feststellbar war. Nichts als Erinnerung war zwar klar in den Kleinstädten Kerek und Jablonow lokalisiert, im Gegensatz zu Tote auf Urlaub war die Verortung hier aber eigentlich unwesentlich. Die geschilderten Schicksale hätten sich in jedem europäischen Land der Zwischenkriegszeit in dieser Art abspielen können. Dor war auch nicht besonders um Lokalkolorit oder die Zeichnung von regionalen Spezifika bemüht. Die RezensentInnen schienen jedoch entweder eine ‚Balkan-‘ oder eine ‚Altösterreich-Brille‘ bei ihrer Lektüre getragen zu haben. Die „Schönheiten des Romans“ lägen „im Wesen seiner Menschen“, aus denen sich auch der „Schauplatz“ ergebe: „altes Gebiet der Donaumonarchie, auf dem Durchzugsweg der Türkei nach Wien“ (Kraus, 1959); ein Buch, „in dem der kräftige Geruch der südöstlichen Lebensart und der wehmütige Duft der Erinnerung sich mischen und Sehnsucht nach der Welt von gestern wecken“ (Anonym, 1959); es seien „Menschen, die ohne den Hintergrund des Landes, das sie hervorbrachte, undenkbar wären“ (Skalnik, 1959): „Milo Dor hat, nach der Enttäuschung mancher geistigen und anderen Abenteuerfahrt, Zuflucht in der erprobten uralten Bindung seines Volkes gefunden: in der Familie“ (Skalnik, 1959). Damit war nun der Autor, seit September 1952 im Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft,30 wieder zum Serben gemacht worden. Oder zu einem eigenartigen Mischwesen, wie bei Peter Stadelmayer in den Frankfurter Heften, wenn er Dor als „vitale[n] Jugoslawe[n]“, zugleich 30

Meldeunterlagen, Wiener Stadt- und Landesarchiv.

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„Wahlösterreicher“ und schließlich auch noch als „jugoslawische[n], deutsche[n] Schriftsteller“ bezeichnete (Stadelmayer, 1952). Selbst Gerhard Fritsch konnte sich in der Zeitschrift Wort in der Zeit von diesen Referenzen nicht lösen, wenn bei ihm die Ausprägung auch wesentlich dezenter war und er auf die allgemeine Gültigkeit des Textes hinwies: Stolz und voll Saft sind diese Menschen, in ihrer Sturheit und ihrem Irrtum aber auch weise – ihr Haus verfällt, ihr Lebenswerk ist Donquixoterie: das ist mehr als Lokalkolorit aus dem halben Balkan, das ist ein Gleichnis des Lebens, das ohne bemühte Symbole auskommt. Ein schönes Buch, in Heiterkeit und Melancholie erfüllt vom Wissen ums Schicksal. (Fritsch, 1959)

In derselben Zeitschrift attestierte Hanns Winter den Figuren – aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen –, sie ständen „in einer Reihe mit den Sagengestalten des südslawischen Volkes“ (Winter, 1959). Für Milo Dor war seine Herkunft lange Zeit keine Kategorie, nichts, mit dem er sich in seinen Arbeiten beschäftigte. Aus dem Untersuchungszeitraum, von seinen Anfängen 1945 bis zum Erscheinen von Nichts als Erinnerung 1959, ist mir kein Text von ihm bekannt, der sich mit seiner serbischen Herkunft explizit auseinandersetzt. Erst um 1968 streifte Dor in einem raffinierten und ironischen Selbstporträt, „Ich bin ein anderer“, dessen Titel wieder auf ein französisches Vorbild anspielte – auf Rimbauds „Ich ist ein anderer“ –, das Thema: Enttäuscht müssen [...] die Serben sein, weil ihr Landsmann, der nach dem mittelalterlichen König Milutin genannt wurde, sich ausgerechnet der Sprache ihrer, nach den Türken, größten Erzfeinde bedient, um seine verworrenen Gedanken zum Ausdruck zu bringen; das hätte er bei Gott auch in serbischer Sprache tun können. (Dor, 1968)

Wenn hier vor allem die Distanz zu ‚den‘ Serben herausklingt, so ist man dem Zentrum von Dors Identität schon sehr nahe. In seiner Autobiografie Auf dem falschen Dampfer ist die Selbstbezeichnung als Fremder häufig zu finden – doch die Fremdheit bezieht sich bei Dor nicht auf die Nation – sondern auf eine politisch-widerständige Differenz zur Mehrheitsgesellschaft, sei es in Wien, in Deutschland oder in Jugoslawien. Die SchriftstellerInnen seiner Generation waren für Dor ebenso Fremde wie er selbst: Letztlich war die Gefahr, in der soeben restaurierten bürgerlichen Welt aufzugehen, für mich nicht sehr groß, weil ich in den Augen der anderen ein exotischer Fremder war, der nie so richtig dazugehört. Ähnlich erging es mir in meiner früheren jugoslawischen Heimat, wo nach

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dem Bruch mit Moskau ein unendlich langer Prozeß der Loslösung vom orthodoxen Kommunismus im Gange war, ein Prozeß mit vielen erfreulichen, aber ebenso vielen hemmenden Begleiterscheinungen, den ich zuweilen mit dem Staunen eines Fremden beobachtete. Auch in Wien erging es mir nicht anders, obwohl ich inzwischen ja in Österreich zu Hause war. Auch dort spielte ich die Rolle des intellektuellen Stücklohnarbeiters, den man nicht unbedingt an den Tisch einladen muß, an dem wichtige Entscheidungen getroffen werden. Aber in dieser Hinsicht stand ich nicht allein da. Ich teilte nur das Schicksal meiner Generation, die in allen drei Ländern zuerst von den älteren und dann auch von den jüngeren Angepaßten nur zu Handlangerdiensten herangezogen wurde, ohne daß man sie, dezimiert wie sie war, je an die Futterkrippen der Macht heranließ. (Dor, 1988, 149–150)

Dor übersah dabei allerdings, dass er zunehmend unter ebenjenen nationalen Blickwinkel geriet, den er für sich selbst negierte. Selbst für langjährige Weggefährten war es offenbar notwendig, Dors Status als Österreicher zu unterstreichen, nicht ohne auf seine Herkunft zu verweisen. Wolfgang Kraus meinte: „Der Charmeur, der gute Geselle vom Balkan ist zwar in vielem ein Österreicher, aber in der Sache doch recht untypisch: er ist absolut verläßlich.“ (Kraus, 1983, 111) Und auch Weigels vehemente Eingemeindung kommt nicht ohne Herkunftsverweis aus: Er gehört unbedingt in die imaginäre Arche Noah, Sektion Österreich, Abteilung Literatur. Er ist charakteristisch für Österreich und charakteristisch für dessen Literatur. […] Warum er in die Arche gehört: Er ist in Ungarn geboren, er ist ein Jugoslawe und ist ein Wiener geworden, er verleugnet das Gewesene nicht, aber er gehört zu uns. Er ist einer der rar gewordenen Tropfen, aus welchen wir uns zusammensetzen, daher besonders wichtig, und daß wir ihn als Unsrigen selbstverständlich anerkennen, spricht ebenso für ihn wie für uns. […] Ich will mich, ganz persönlich, heute besonders freuen, daß es ihn gibt, ihn und sein vorbildlich gemeistertes Deutsch. Und daß einer hierzulande Präsident der Autoren-Interessen-Gemeinschaft und kein „Bodenständiger“, sondern ein „Zuagraster“ ist, das soll uns eine andere Literatur nachmachen. (Weigel, 1983, 230–231)

Wie schon in seiner Rezension zu Tote auf Urlaub instrumentalisierte Weigel Dor neuerlich für seine eigenen Zwecke, als Beispiel seiner eigenen Offenheit und seines mitteleuropäischen Horizontes, mit dem er selbst einen Serben als zugehörig empfinden konnte. Für Hans Werner Richter war Dor dagegen „gar kein österreichischer Autor, sondern ein Serbe, ein Jugoslawe, aber er schrieb deutsch und fühlte sich der großen österreichischen Literatur aufs engste verbunden“ (Richter, 1986, 85). Ein Wechsel der Nationalität war für Richter schlicht nicht vorstellbar. Dors Status als Österreicher war also mit der Zeit immer unsicherer

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geworden; Sebestyén, der in einer ähnlichen Lage war, schrieb: „Österreichischer Schriftsteller serbischer Herkunft zu sein ist, und nicht nur für die germanophilen Rassenfanatiker, ein Kuriosum“ (Sebestyén, 1975).31 Dor schien alle Exklusionsversuche ignoriert zu haben und bestand auf seiner Zugehörigkeit zu Österreich und zum europäischen Kulturkreis – so auch 2003: Unlängst hat mich eine junge ORF-Reporterin gefragt, was ich zu diesem und jenem sage, da ich doch aus einer anderen Kultur komme ... Ich habe geglaubt, ich falle vom Sessel! Wieso kommt sie im Jahre 2002 dazu, mich zu einer anderen Kultur zu zählen?! Da habe ich ihr langsam erklärt, daß ich in der Schule über Aristoteles unterrichtet wurde, daß ich Französisch gelernt habe und Victor Hugo und Charles Dickens und auch russische Dichter und so weiter, daß ich in der europäischen Kultur aufgewachsen bin. Sie hat sich dann entschuldigt. (Scherr, 2003, 11)

Zusammenfassung Der Zuwanderer Dor wurde völlig selbstverständlich in den österreichischen Literaturbetrieb aufgenommen. Auch wenn sein Anschluss an den PLAN-Kreis in einem Umfeld stattfand, das mehr Trümmerfeld als literarisches Feld war, traf er dort zugleich auf eine Generation, für die noch galt, was auch Canettis Eintritt als Autor bestimmte: Deutsch musste nicht Muttersprache sein, um als österreichischer oder deutschsprachiger Schriftsteller anerkannt zu werden. Gleichzeitig wurde gerade in diesen Kreisen Dors Anschluss an französische Traditionen noch positiv gesehen. Doch mit dem Ende des PLANs, der seinem widerständigen Zugang zur Literatur ideal entsprochen hatte, begann Dors Weg in die Literatur steiniger zu werden. Er konnte sich zwar dem von konservativ-restaurativen Akteuren dominierten Literaturbetrieb entziehen, indem er sich der Gruppe 47 anschloss und in Deutschland publizierte. Doch seine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus stieß sowohl in Österreich als auch in Deutschland auf Ablehnung. Es ging ihm stets um eine politische Identität, die sich über ihren Widerstand gegen totalitäre Gewalt – sei es des 31

Eine mögliche Reaktion darauf war Ironie. Dor schrieb im Nachruf auf Sebestyén: „Den Ausdruck ‚die Tschuschen-Brothers‘ hat er für uns beide geprägt. Wir wurden tatsächlich oft miteinander verwechselt, weil für die Österreicher oder die Deutschen ein Tschusch so gut aussah wie der andere. Das machte uns nichts aus – wir waren nicht eitel und hatten zudem ein echtes verwandtschaftliches Gefühl füreinander“ (Dor, 1990, 12).

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Nationalsozialismus, sei es der kommunistischen Staaten – definierte. Damit bezog Dor jedoch eine Position, die man in Zeiten des Kalten Krieges und des sich verfestigenden konservativen Paradigmas zwar als Antikommunismus gut gebrauchen konnte, deren Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus aber als störend empfunden wurde. So fand Dor kaum Anerkennung, seine Bücher stießen teils auf Ablehnung, teils wurden sie durch Herauslösung der auf den Nationalsozialismus bezogenen Anteile politisch instrumentalisiert. Die ab der Rezeption von Tote auf Urlaub einsetzenden und auf seine Herkunft bezogenen Zuschreibungen dienten der Neutralisierung des widerständigen Gehalts von Dors Literatur. Auch der Versuch von Dor und Federmann, durch auf finanziellen Erfolg ausgerichtetes Schreiben die ökonomischen Voraussetzungen für literarisches Schreiben zu schaffen, führte zu einer Marginalisierung der Autoren, die für Dor erst mit Erscheinen von Nichts als Erinnerung zumindest teilweise abgemildert wurde. Die Bekanntheit seines Namens aber blieb bis heute mehr mit seinem kulturpolitischen Engagement für SchriftstellerInnenrechte verbunden als mit seinem literarischen Werk. Milo Dor war mit seinem politisch engagierten Schreiben in einer Zeit, die dafür nur wenig Verwendung hatte – und es doch dringend benötigt hätte –, eine Stimme, die jedes Recht für sich in Anspruch nehmen kann, deutlich mehr Beachtung im Narrativ der österreichischen Literaturgeschichte zu finden, als ihr bisher zuteilwurde. Das Potenzial seiner Literatur als Akt des Widerstandes hat sich jedenfalls noch nicht erschöpft.

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„Ankunft eines Barbaren“: György Sebestyén [Interviewfrage:] Wie wird ein Ungar zum österreichischen Schriftsteller? […] Nachdem ich Ungarn im Dezember 1956 verließ, wurde ich in Österreich liebevoll aufgenommen. Für das Bewusstsein der österreichischen Literatur war es damals selbstverständlich, dass Autoren der Nachbarländer nach Wien kamen und auf Deutsch schrieben […]. Ungarn ist mein Vaterland, Österreich meine Heimat; ich fühle mich als Mitteleuropäer.1

In der Aussage wird bereits einiges vorweggenommen, was im Laufe dieses Kapitels Thema sein wird. Wie auch bei den Autoren Elias Canetti und Milo Dor spielen Migration und Mehrsprachigkeit in György Sebestyéns (1930–1990) Werk keine Rolle (vgl. Sievers, Grenzüberschreitungen sowie Sievers zu Canetti und Englerth zu Dor in diesem Band). Er selbst wird als Autor in Österreich mit großer Selbstverständlichkeit aufgenommen – und ohne dass er ständig auf seine ungarische Herkunft verwiesen wird. Diese Selbstverständlichkeit der „liebevollen“ literarischen Aufnahme in Österreich ergibt sich aus der spezifischen Situation des literarischen Feldes, in dem das Erbe der Monarchie fortwirkt. Es ist eine ältere Generation von SchriftstellerInnen, an die Sebestyén Anschluss findet. Wie bei Canetti und Dor geht jedoch auch bei Sebestyén mit dem Anknüpfen an einen altösterreichischen Kultur- und Denkraum eine Unterordnung und Anpassung an die Hegemonie der deutschen Sprache einher. Sebestyén, wie Briefkorrespondenzen aus dem Nachlass zeigen werden, ist in seiner Anfangszeit sichtlich bemüht, korrektes, fehlerfreies Deutsch zu erlernen. Sein breites Netz1

Durchschlag ohne Jahresangabe, Nachlass Sebestyén, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Dieses Kapitel basiert unter anderem auf Recherchen im Zeitraum 2013 bis 2015 im Literaturhaus Wien sowie in den Nachlässen von György Sebestyén im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek und in der Wienbibliothek (Teilnachlass). Aus dem Nachlass im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek und dem Tagblattarchiv in der Wienbibliothek stammen auch einige der zitierten Zeitungsartikel, bei denen deswegen die Seitenangaben fehlen. Im Folgenden führe ich die Nachlässe mit folgenden Abkürzungen an: NL Sebestyén, LIT ÖNB und NL Sebestyén, Wienbibliothek. In diesem Zusammenhang bedanke ich mich vielmals bei Anna Sebestyén, die mir einen freien Zugang zum NL Sebestyén, LIT ÖNB gewährte, sowie bei den MitarbeiterInnen des Literaturarchivs, die mich bei meinen Recherchen unterstützten. Meinen Dank aussprechen möchte ich auch Edit Rainsborough, die für mich eine deutsche Übersetzung von ausgewählten Archivbeständen in ungarischer Sprache anfertigte. Im Folgenden verweise ich mit dem Kürzel E. R. auf diese Übersetzungen.

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werk aus FreundInnen und KollegInnen steht ihm dabei zur Seite. Dennoch stellt Sebestyén diese Hierarchien bis zu einem gewissen Grad infrage; und zwar mit seinem Engagement für eine „ungarische Literatur“ und seinen kulturvermittelnden Tätigkeiten. Früh verfasst er etwa Gutachten für Verlage, die sich für die Übersetzung ungarischer Werke interessieren, und übersetzt in den 1960er Jahren selbst ausgewählte ungarische Autoren ins Deutsche. Im akademischen und literaturwissenschaftlichen Betrieb scheint Sebestyén, der ein sehr umfangreiches literarisches und journalistisches Werk hinterlassen hat, beinahe in Vergessenheit geraten zu sein. Nur sein Roman Thennberg oder Versuch einer Heimkehr aus dem Jahr 1969 wurde 2010 von Braumüller wieder aufgelegt. Weitere Neuauflagen anderer Sebestyén-Bücher sind nach Auskunft des Verlages nicht geplant. Überschaubar sind auch die Publikationen, die sich mit Person und Werk auseinandersetzen (Abu-Hattab und Huber, 1983; Ackermann, 1999; Blaschek-Hahn, 1990; Kampits und Breuer, 2000; Mitterlehner, 2005; Schramm und Sebestyén, 2000; Weigel, 1994). Zentral für die Forschung ist das umfangreiche Buch von Helga Blaschek-Hahn (1990), das, wie aus Nachlass-Korrespondenzen ersichtlich, in enger Zusammenarbeit mit Sebestyén entstand und sowohl Autor-Biografie als auch Werk ins Zentrum rückt. Die geringe Wahrnehmung Sebestyéns lässt sich jedoch nicht damit erklären, dass er Zuwanderer war, sondern unter anderen damit, dass sein Verlag sich zu wenig für seine Sichtbarkeit einsetzte und insbesondere seine politischen Werke in der als unpolitisch geltenden Zeit in der Literaturgeschichtsschreibung übersehen wurden, wie im Verlauf des Kapitels erläutert werden soll. Der vorliegende Aufsatz beschäftigt sich mit den literarischen Anfängen des Autors, die bislang in der Forschungsliteratur kaum Berücksichtigung fanden. Sebestyén, und daraus ergibt sich eine der Leitthesen dieses Kapitels, setzte sich in seinen ersten Texten nicht mit Migration, sondern kritisch mit dem Kommunismus bzw. mit dem Ungarnaufstand auseinander. Das heißt, nicht nur durch sein Anknüpfen an einen altösterreichischen Kultur- und Denkraum und eine Unterordnung unter die Hegemonie des Deutschen, sondern auch durch seine zunehmend antikommunistische Haltung fand er Anschluss an Netzwerke (P. E. N.-Club, Desch Verlag), die ebenfalls dem Kommunismus ablehnend gegenüberstanden und sein literarisches Schaffen förderten bzw. Publikationsmöglichkeiten für den jungen Autor boten. Zunächst werde ich auf den historischen und sozialpolitischen Kontext der 1950er Jahre in Ungarn und Österreich eingehen. Darauf folgt eine Auseinandersetzung mit dem literarischen Netzwerk, an das Sebestyén als Autor Anschluss fand. Dabei fokussiere ich mich auf den P. E. N.-Club, der dem Autor über Jahre hinweg eine „gute, wärmende Heimat“ (Sebestyén, 1975b) bot, und

„Ankunft eines Barbaren“: György Sebestyén

den Kurt Desch Verlag, der Sebestyéns Debütroman verlegte und ihn bis Ende der 1960er Jahre als Autor repräsentierte. Sebestyéns Eintritt in das literarische Feld war jedoch auch mit Anpassung verbunden – daher soll auch Sebestyéns „Sprachwerdung“ im Deutschen thematisiert werden. Dabei wird sich deutlich eine Hegemonie des Deutschen abzeichnen, die Sebestyén jedoch zum Teil durch seine kulturvermittelnden Tätigkeiten in Bezug auf die ungarische Literatur unterläuft. Der nächste größere Kapitelabschnitt widmet sich Sebestyéns literarischem Schreiben. Sein Frühwerk ist geprägt von einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, die von seinem literarischen Netzwerk sowie von der Rezeption (im deutschsprachigen wie auch im englischsprachigen Raum) sehr wohlwollend und positiv aufgenommen wurde. Doch in der damit verbundenen Positionierung als „politischer“ (und antikommunistischer) Autor konnte sich Sebestyén nur wenig wiederfinden. Vielleicht auch als Reaktion darauf setzte er sich in nachfolgenden Romanen verstärkt mit „allgemein menschlichen“ Themen (Liebe, Eros, Tod) auseinander und ließ Politisches vorerst beiseite. Der ausbleibende große literarische Durchbruch wie auch die „barbarische“ geistige Lage in Deutschland,2 geprägt von linken, kommunistischen und sozialistischen Idealen der 1968er StudentInnenbewegung, bewogen ihn in den 1970er Jahren verstärkt zum Rückzug in seine „Welt“ Mitteleuropa.

Flucht und Ankunft: Historischer und kulturpolitischer Kontext der 1950er Jahre György Sebestyén, der 1930 in eine jüdische Familie geboren wurde, flüchtete am 5. Dezember 1956 im Zuge des Ungarnaufstandes3 aus Budapest nach Österreich und kam über die Gemeinde Nickelsdorf im Burgenland nach Wien. Seine damalige Frau Berta (geborene Gaudy), seine beiden Töchter Julia (geboren 1951) und Piroska (geboren 1954) sowie seine Eltern blieben vorerst in Ungarn zurück, wobei die gesamte Familie einige Monate nach Sebestyéns Flucht Ungarn verließ. In seinem autobiografischen Text „Skizze zu einem Selbstporträt“ reflektiert Sebestyén über das Motiv für seine Auswanderung in den Westen: 2 3

Brief vom 31. Juli 1973 von G. Sebestyén an H. J. Mundt, NL Sebestyén, LIT ÖNB. Für eine umfassende Beschreibung und Zusammenfassung der Ereignisse um den Ungarnaufstand vgl. die Sammelbände Die ungarische Revolution und Österreich 1956 (Murber und Fónagy, 2006), Revolution – Flucht – Integration (Deák und Fónagy, 2006) sowie Die Ungarnkrise 1956 und Österreich (Schmidl, 2003). Im Folgenden verweise ich nur auf die für die Auseinandersetzung mit der Sebestyén-Biografie relevanten Ereignisse.

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Die Beweggründe? Unter ihnen war Angst die schwächste der Ursachen. Stärker wirkten Verbitterung und Empörung. Als dumpfes Grübeln meldete sich die Resignation angesichts des Eindrucks, ich wäre nicht länger imstande, die Dialektik von politischer Aktion und Reaktion zu begreifen. Die heftigste Regung aber war: Ekel, Abscheu, Entsetzen. (Sebestyén, 1986b, 63)

Der Volksaufstand in Ungarn brach am 23./24. Oktober 1956 aus und richtete sich gegen die sowjetische Besatzung. Die Aufständischen forderten den Abzug der Truppen sowie die nationale Unabhängigkeit Ungarns. Wegbereiter der Revolution waren vor allem Intellektuelle, SchriftstellerInnen und StudentInnen (Lendvai, 2003, 10; Varga, 2003, 55 f.). Der damals 26-jährige Sebestyén arbeitete zu dieser Zeit als Kulturredakteur bei der ungarischen Tageszeitung Magyar Nemzet und nahm, wie viele seiner Freunde desillusioniert von kommunistischen Idealen, aktiv am Aufstand teil. Doch zunächst zur Vorgeschichte: Sebestyén trat im Alter von 16 Jahren der kommunistischen Partei bei und war Mitglied des kommunistischen Jugendverbandes Madisz: Ich gehörte nun, wie ich glaubte, zur schwachen, aber fröhlichen, redlichen und tatendurstigen politischen Minderheit der Bevölkerung, zu einem Kreis, der den Arbeitern Brot, den Bauern Werkzeug, der Jugend humanistische Bildung und dem Wiederaufbau weiteren Schwung geben wollte. Ob unsere berühmtesten Männer Stalin oder Tito, Togliatto oder Mao, Rákosi oder Rajk hießen: mir gefielen alle. (Sebestyén, 1986b, 58)

Mit der Zeit zweifelte er jedoch immer mehr an der kommunistischen Ideologie der Partei. Deportationen vieler Schuldloser und die Politik des stalinistischen ungarischen Politikers Mátyás Rákosi führten bei Sebestyén zum Umdenken (Sebestyén, 1986b, 62 f.), und so schloss er sich, nach Stalins Tod, Imre Nagys „Politik des ‚Neuen Kurses‘“ an. Imre Nagy, den 1953 das kommunistische Zentralkomitee als Ministerpräsidenten einsetzte, wurde mit seiner Reformpolitik für Sebestyén, aber auch für viele andere mit dem politischen System Unzufriedene, zur „Symbolfigur“ der Erneuerung (Blaschek-Hahn, 1990, 62). Im Herbst 1953 war Sebestyén, gemeinsam mit Freunden, an der Gründung des sogenannten „Petőfi-Kreises“, eines „Diskussionskreis[es] für junge Intellektuelle“ (Sebestyén, 1986b, 62), beteiligt. Benannt wurde dieser nach Sándor Petőfi (1823–1849), Dichter und Freiheitskämpfer während der Revolution 1848. Als Diskussionsleiter und Vortragende im Petőfi-Kreis traten prominente Personen auf, so der Philosoph und Literaturwissenschaftler György Lukács. Sebestyén selbst engagierte sich nicht organisatorisch für den Kreis, „aber er berichtete jeweils ausführlich über dessen Aktivitäten im Feuilleton seiner Zei-

„Ankunft eines Barbaren“: György Sebestyén

tung“ (Blaschek-Hahn, 1990, 66). Dies, so die Sebestyén-Biografin BlaschekHahn, „entsprach seiner Vorstellung von der ihm gemäßen Möglichkeit, kulturpolitisch zu wirken und für seine Ideale einzutreten. Er war ja nicht Politiker, sondern Schriftsteller“ (Blaschek-Hahn, 1990, 66). Am 4. November 1956 kam es zur russischen Intervention, und der Aufstand wurde von der sowjetischen Armee blutig niedergeschlagen. Es begann eine Massenflucht vieler Ungarn in den Westen. So verließ schließlich auch Sebestyén am 5. Dezember das Land und kam, „in Begleitung zweier Gefährten und unter freundlicher Leitung zweier Soldaten der Grenzwache, die uns den Weg nach Österreich wiesen“, in den Westen (Sebestyén, 1986b, 62 f.). In diversen autobiografischen Texten und Reflexionen, die er rückblickend meist in den 1970er bzw. 1980er Jahren verfasste, schilderte er seine Ankunft in Österreich durchwegs positiv. Seine erste Nacht im neuen Land beschrieb er ausführlich in seinem „Nachruf zu Lebzeiten“. Der mit ironischem Unterton verfasste Text, in dem Sebestyén über sich selbst aus der personalen Erzählperspektive spricht und seine Anfänge resümiert, entstand um 1970: [E]in noch ziemlich junger, jedoch ganz und gar mittelloser Ungar […] ward in der Dorfschenke gastlich bewirtet und auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, in einem Raum der benachbarten Schule zu übernachten. Die Witterung war mild, der Saal zudem mit Schlafenden gefüllt, die den Gefährten mit herzhaftem Schnarchen begrüßten und ihn in den Dunst ihrer Körperwärme freundlich aufnahmen; so ward dem jungen Mann ein erquickender Schlaf zuteil, aus dem er dann mit doppelter Kraft erwachte. Ohne Zögern konnte er am nächsten Morgen auf den Vorschlag eines Müllers eingehen und diesem beim Beladen seines Lastwagens behilflich sein. Auf den mit Weizenmehl gefüllten Säcken sitzend, die er selbst herbeigeschleppt, fuhr nun unser Jüngling bis Bruck an der Leitha, wo der Müller seinen Gast mit der Bemerkung entliess, von hier aus sei die österreichische Hauptstadt, bei hurtigem Ausschreiten, binnen weniger Stunden4 zu erreichen. (Sebestyén, 2000b, 14)5

Sebestyéns positive Erinnerungen decken sich mit dem offiziellen österreichischen Diskurs. 1956 (und auch in der späteren Geschichtsschreibung) stand in der öffentlichen Wahrnehmung die Hilfeleistung der ÖsterreicherInnen für 4 5

Bruck an der Leitha in Niederösterreich liegt rund 30 Kilometer von Wien entfernt. Es dürfte daher ein doch eher längerer Fußmarsch gewesen sein. Ich zitiere den Text aus dem Sammelband Vorläufige Behausungen (2000c), herausgegeben von Anna Sebestyén. Das literarische Selbstporträt, das auf Anregung des Österreichischen Rundfunks für eine Sendereihe entstand, wurde darüber hinaus als Beitrag unter dem Titel „Metamorphose eines Zugereisten“ (Sebestyén, 1970) in der Zeitschrift Bücherschau abgedruckt.

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Ungarnflüchtlinge im Zentrum. Grund für die aktive Unterstützung waren die jüngsten innenpolitischen Ereignisse: Am 15. Mai 1955 wurde der Österreichische Staatsvertrag unterzeichnet, die Alliierten zogen ab und Österreich erlangte seine volle staatliche Souveränität wieder. Zudem wurde am 26. Oktober Österreichs „immerwährende Neutralität“ ausgerufen. Historiker (Schmidl, 2003) bewerten den Ungarnaufstand als erste große (und bestandene) „Bewährungsprobe“ der Zweiten Republik. Österreich sorgte sich um seine Unabhängigkeit und fürchtete eine Rückkehr der sowjetischen Truppen. „Das eben erst in Bildung befindliche Bundesheer – die ersten Rekruten waren gerade zehn Tage in den Kasernen – musste zusammen mit der Gendarmerie die Grenze zu Ungarn überwachen und den Flüchtlingen auf ihrem Weg nach Westen beistehen“ (Schmidl, 2003, 15). Auch seitens der Zivilbevölkerung bot man Hilfe für die Flüchtlinge an. Erwin A. Schmidl betont mit Verweis auf Erinnerungsberichte der damaligen Zeit: „Die Grenzbevölkerung half nach Kräften – hier bestanden ja oft verwandtschaftliche oder nachbarliche Beziehungen seit Generationen hinweg – aber auch aus Wien und anderen Städten kamen Menschen zur Grenze, um zu helfen“ (Schmidl, 2003, 269). Mit Blick auf diese historischen Darstellungen und Erinnerungen wird deutlich, dass die „Solidaritätswelle“ und die humanitäre Hilfe des österreichischen Staates gegenüber Ungarnflüchtlingen (Eppel, 2006; Pammer, 2006) Teile des Selbstverständnisses der neu gegründeten Zweiten Republik waren. Britta Zierer stellt jedoch kritisch fest, dass zwar anfänglich Österreichs Haltung gegenüber den Ungarnflüchtlingen von Hilfsbereitschaft geprägt war, es jedoch Ende 1956 bzw. Anfang 1957 zu einem Umschwung kam: Ein deutlicher Diskursbruch und der Beginn einer Missbrauchsdebatte erfolgte mit 9. Jänner 1957, als Innenminister Helmer erklärte: „Flüchtlinge haben auch Pflichten“. Die bis dahin lediglich latenten Vorurteile gegenüber Ungarnflüchtlingen wurden ab diesem Zeitpunkt offen ausgesprochen. (Britta Zierer 1995 zit.n. Eppel, 2006, 451)

Diese Ressentiments gegenüber den Ungarnflüchtlingen verarbeitet Vladimir Vertlib literarisch in seinem Erzählband Mein erster Mörder (2006).6 Er beschreibt in diesem die Atmosphäre im Wien der 1950er Jahre, die von Rassismus und Antisemitismus geprägt ist, und kontrastiert damit Sebestyéns autobiografische Erinnerungsfragmente. 6

Sandra Vlasta analysiert in ihrer Dissertation Vertlibs Erzählband vor dem Hintergrund der 1950er Jahre und verweist auf den grassierenden Rassismus gegen Ungarnflüchtlinge (Vlasta, 2008, 235–238).

„Ankunft eines Barbaren“: György Sebestyén

Dennoch spielte die Solidarität mit den Flüchtlingen eine große Rolle. Auch der literarische Betrieb stellte damals Hilfeleistungen für Ungarnflüchtlinge bereit. In den Jahren zwischen 1956 und 1960 „hat der P. E. N. […] etwa fünfhundert aus Ungarn emigrierten Künstlern geholfen, sie mit dem Nötigsten versorgt und schließlich an Kontaktadressen im Ausland weitergeleitet“ (Roček, 1999, 372–373, Kursivierung im Original). Sebestyén war einer dieser Emigranten, für die der P. E. N.-Club zur ersten Anlaufstelle wurde. Der Schriftstellerclub prägte Sebestyéns schriftstellerischen (Neu-)Anfang in Wien und hatte großen Einfluss auf seine Positionierung als Autor im literarischen Feld. Wie lässt sich aber zunächst das literarische Feld der 1950er Jahre, zu dem Sebestyén Anschluss fand, charakterisieren? Der Literaturbetrieb der Nachkriegszeit und der 1950er Jahre hatte eine konservative Ausrichtung (Amann, 1984; Hackl, 1988; Stocker, 2010), wobei es kurz nach dem Krieg auch Gegenstimmen zum etablierten Diskurs gab. Beispielhaft ist etwa die Zeitschrift PLAN, die von Otto Basil herausgegeben wurde und die durchaus junge AutorInnen und avantgardistische künstlerische und literarische Produktionen förderte. Die Zeitschrift, für die AutorInnen wir Milo Dor, Paul Celan oder Ilse Aichinger schrieben, hatte jedoch nur kurz Bestand und wurde 1948 bereits wieder eingestellt. Präsent in der literarischen Öffentlichkeit waren in dieser Zeit vor allem AutorInnen, die bereits in der Ersten Republik literarisch tätig waren; darunter waren AutorInnen, die während des Krieges emigrierten und nach 1945 wieder nach Österreich zurückkamen, AutorInnen der sogenannten ‚inneren Emigration‘, wie auch AutorInnen, die politisch vorbelastet waren und im Austrofaschismus bzw. im Nationalsozialismus als MitläuferInnen galten. Zudem besetzte diese ältere Generation, repräsentiert von Autoren wie etwa Alexander Lernet-Holenia, Franz Theodor Csokor oder Rudolf Henz, die sich um den P. E. N.-Club gruppierten, wichtige kulturpolitische Ämter und bestimmte so den literarischen und kulturellen Diskurs der 1950er Jahre (Innerhofer, 1995, 227; Stocker, 2010, 61). Henz7 beispielsweise war von 1945 bis 1957 Programmdirektor des Österreichischen Rundfunks und Csokor bzw. Lernet-Holenia waren Präsidenten 7

Henz ist ein typisches Beispiel für einen Autor, dem es gelang, trotz belasteter Vergangenheit auch nach 1945 wieder im Kulturbetrieb Fuß zu fassen, wie Evelyne Polt-Heinzl erläutert: „Als Repräsentant des austrofaschistischen Kulturbetriebs hatte Henz 1938 einige Schwierigkeiten, in die Reichsschrifttumskammer aufgenommen zu werden, weshalb er in einer achtseitigen Stellungnahme als besonderes Verdienst hervorhob, dass er als Leiter der wissenschaftlichen Abteilung der RAVAG (1931 bis 1938) ‚die wenigsten Juden unter allen Abteilungen‘ beschäftigt habe und ‚Emigranten grundsätzlich ausgeschaltet‘ waren. Nach 1945 wurde Henz sofort wieder, was er vor 1938 war: ein Gatekeeper des öffentlichen Kulturbetriebs“ (Polt-Heinzl, 2013, 19).

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des P. E. N.-Clubs von 1947 bis 1969 bzw. 1969 bis 1972. Staatliche Unterstützung, etwa in Form von Literaturpreisen, ging vor allem an bereits etablierte Autoren, denn „[p]reiswürdig war nicht die literarische Qualität oder der Erfolg […], sondern die ideologische Verwertbarkeit im Sinne des neuen ÖsterreichBewußtseins“ (Hackl, 1988, 21). Sebestyén wurde nun, wie es in dem diesem Aufsatz vorangestellten Zitat heißt, genau von dieser Autorengeneration in Österreich „liebevoll“ aufgenommen. Über die ersten Jahre in Wien, über die geistigen Helfer des neuen Anfangs nur so viel: Die Generation der älteren Schriftsteller und Journalisten, die ich antraf, war mit der alten Monarchie Österreich-Ungarn durch eigene Erfahrungen verbunden. Für Autoren wie Franz Theodor Csokor, Heimito von Doderer, Alexander Lernet-Holenia, George Saiko, Friedrich Torberg, um nur einige zu nennen, war es noch selbstverständlich, daß jemand, der österreichischer Schriftsteller werden sollte, aus Prag, aus Budapest oder Agram nach Wien gekommen war. (Sebestyén, 1986b, 64)

Das Verbindende zwischen Sebestyén und der älteren Generation der Literaten war ihr Anknüpfen – geistig wie literarisch – an einen altösterreichischen Kultur- und Denkraum. Sebestyéns ungarische Herkunft war für diese Autoren eine Reminiszenz an die untergegangene Habsburgermonarchie, an die sich viele nach 1945 lieber zurückerinnerten, als sich mit der jüngsten Vergangenheit bzw. der Gegenwart auseinanderzusetzen. Darüber hinaus sei, in Anlehnung an Heimito von Doderer, die ‚österreichische Literatur‘ ohnehin von einer „übernationalen Struktur“ geprägt (Ivask, 1962); diese schließe AutorInnen aus der ehemaligen Habsburgermonarchie ein. Sebestyéns ungarische Herkunft spielte also eine nicht unwesentliche Rolle bei seiner „literarischen Integration“ in die österreichische Literaturszene. Sebestyén knüpfte literarisch weitgehend an das vorherrschende ästhetische Programm der 1950er Jahre, bestimmt von konservativen Autoren wie Heimito von Doderer oder Alexander Lernet-Holenia, an. Günther Stocker konstatiert allgemein für die Zeit nach 1945 bis Mitte der 1960er Jahre im literarischen Feld eine „Abwendung von der Zeitgeschichte“ sowie eine „Dominanz apolitischer Literaturkonzepte“: „Da die Verbrechen der Vergangenheit noch zu brisant waren, widmete man sich lieber dem Ewig-Menschlichen, dem Ahistorischen oder dem längst Vergangenen“ (Stocker, 2010, 61). Dieses Festhalten an der Vergangenheit artikuliert sich wohl am deutlichsten in Alexander Lernet-Holenias viel zitiertem und programmatischem „Gruß eines Dichters“: „In der Tat brauchen wir nur dort fortzusetzen, wo uns die Träume eines Irren unterbrochen haben, in der Tat brauchen wir nicht voraus-, sondern zurückzu-

„Ankunft eines Barbaren“: György Sebestyén

blicken“ (Lernet-Holenia, 1945). Symptomatisch für die Nachkriegszeit war, dass sich nicht nur die ältere Generation, sondern vermehrt auch jüngere AutorInnen – mit einigen Ausnahmen wie Ilse Aichinger oder Milo Dor – von zeitkritischen Themen und der jüngsten Vergangenheit abwendeten (Hackl, 1988, 21; Stocker, 2010, 62). Das Schreiben vieler österreichischer AutorInnen blieb von „Epigonalität“, vom Schreiben im Kontext einer „großen österreichischen Tradition“, geprägt (Hackl, 1988, 21).8 Sebestyéns Werk knüpft durchaus an diese „österreichische Tradition“ an. Elisabeth Schawerda stellt in ihrem Lexikonbeitrag in Bezug auf Sebestyéns Hauptwerk Die Werke der Einsamkeit (1986a) fest, dass sein Schreiben um „Eros und Tod, Macht u. Moral, um die Problematik der Einsamkeit u. die Mobilisierung der Vitalität gegen das Morbide“ kreise (Schawerda, 2011, 715). Das „Ewig-Menschliche“, das Zeitlose und der Blick in eine verloren gegangene Gegenwart sind durchaus in seinem Werk spürbar.9 Eine Reduzierung auf diese Momente wäre jedoch verkürzt. Vor allem in seinen frühen literarischen Arbeiten nimmt Sebestyén Bezug auf einen konkreten historischen und politischen Kontext – nämlich auf den Ungarnaufstand 1956. Doch, wie Günter Stocker bemerkt, bleiben gerade diese politischen Werke der 1950er Jahre in der österreichischen Literaturgeschichtsschreibung oft unberücksichtigt, weil man diese Zeit als eine der Polarisierung zwischen einer traditionellen apolitischen und eine neueren sprachexperimentellen Literatur begreift. Dabei geht verloren, wie stark die Literatur dieser Zeit vom Kalten Krieg geprägt war, insbesondere in Österreich, das an mehrere kommunistische Länder angrenzte. Staatliche Einrichtungen von Ministerien bis zu Bundestheatern förderten oder behinderten Literatur aus politischen Motiven, die politischen Parteien versuchten Autoren wie Texte für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, Schriftstellerinnen und Schriftsteller standen unter dem 8

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Gerhard Fritsch kritisiert diese „Epigonalität“ der jungen Generation in seinem Vorwort zum Sammelband Aufforderung zum Mißtrauen. Literatur, bildende Kunst, Musik in Österreich seit 1945, herausgegeben von ihm und Otta Breicha (1967). Während Autoren wie Milo Dor oder Herbert Eisenreich in Fritschs/Breichas Sammelband mit Texten vertreten sind, verzichteten die Herausgeber auf einen Beitrag von Sebestyén. Positiv und als progressiv hervorgehoben in Bezug auf die Förderung „junger Literatur“ wird von Fritsch in seinem Vorwort Otto Basils Literaturzeitschrift PLAN. Das spiegelt sich auch in der Sebestyén-Monografie von Helga Blaschek-Hahn wider. Die thematische Fokussierung des Buches wird bereits in den beiden Zitaten angedeutet, die Helga Blaschek-Hahn der Monografie voranstellt. Ihr Vorwort (bzw. die „Einleitende[n] Gedanken anstelle eines Vorwortes“) leitet sie mit einer mystisch anmutenden Passage aus Friedrich Hölderlins Hymne Patmos sowie mit einem Zitat aus Martin Heideggers Nachwort zu Was ist Metaphysik? ein (Blaschek-Hahn, 1990, 9 f.).

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Druck, sich zu einer der beiden Seiten zu bekennen, manche agierten als deren Propagandisten in journalistischen wie literarischen Texten, in öffentlichen Debatten und in geheimen Intrigen gegen die vermeintlichen Feinde. (Stocker, 2010, 59–60)

Auch diese politische Stimmung erklärt, warum Sebestyén, der sich in seinem ersten Roman kritisch mit dem Ungarnaufstand beschäftigte, im Literaturbetrieb so willkommen war, auch wenn er sich gegen eine solche Vereinnahmung wehrte, wie im Folgenden noch ausgeführt werden soll. Doch auch spätere Texte Sebestyéns können als durchaus politisch gelesen werden, so sein 1969 erschienener Roman Thennberg oder Versuch einer Heimkehr, der sich mit dem Antisemitismus in Österreich auseinandersetzt und damit seiner Zeit weit voraus war (Schwaiger, 2016). Darüber hinaus widmete sich Sebestyén in seinen journalistischen Arbeiten aktuellen Themen; er setzte sich für ungarische Literatur und Kunst ein und engagierte sich später, ab den 1970er Jahren, verstärkt kulturpolitisch für ein übernationales „Mitteleuropa“.

Eintritt in das literarische Feld und Repräsentation als Autor Sebestyéns Eintritt in das literarische Feld fand über soziale Netzwerke und Schlüsselfiguren statt, wobei der P. E. N.-Club und AkteurInnen um diesen von maßgeblicher Bedeutung für seine Autor-Werdung und seine Etablierung im literarischen Betrieb waren. Charakteristisch für seine Netzwerke und sozialen Beziehungen ist ihre Beständigkeit. Der Schriftstellerclub etwa war Sebestyéns erste Anlaufstelle, und er fühlte sich zeit seines Lebens mit ihm eng verbunden. Schließlich wurde er 1988 zum Präsidenten des P. E. N. gewählt und blieb dessen Vorsitzender bis zu seinem Tod 1990. Im folgenden Kapitelabschnitt werde ich näher auf die Strukturen und Netzwerke eingehen, über die Sebestyén das literarische Feld betrat bzw. die ihn vor allem in seiner schriftstellerischen Anfangszeit begleiteten und sein Autor-Bild in der Öffentlichkeit mitprägten. Dabei werde ich auf verschiedene TürhüterInnen im literarischen Feld verweisen, die Einfluss auf Sebestyéns schriftstellerische Entwicklung hatten: Erika Hanel und Herbert Eisenreich um den P. E. N.-Club, Hans Weigel, der ihm seinen ersten deutschsprachigen Feuilletonbeitrag vermittelte, sowie der Münchner Kurt Desch Verlag, der Sebestyéns Debütroman publizierte und ihn bis in die 1970er Jahre als Autor repräsentierte. Deutlich soll in diesem Kapitelabschnitt auch die enge personelle wie ideologische Verflechtung des P. E. N.-Clubs mit dem Kurt Desch Verlag werden. Einzelne AkteurInnen um den P. E. N.-Club etwa publizierten bei Desch.

„Ankunft eines Barbaren“: György Sebestyén

Der österreichische P. E. N.-Club

Welche zentrale Bedeutung der Schriftstellerverband für Sebestyén hatte, erschließt sich wohl am besten aus seinem 1975 verfassten Manifest mit dem Titel „Warum ich für den PEN-Club bin. Ein Weltverband der Einsamkeiten …“ (Sebestyén, 1975b). In diesem heißt es programmatisch: „Im PEN findet, wer will, eine Chance, durch Freundschaften geschützt, geistig zu überleben“ (Sebestyén, 1975b). Der P. E. N.-Club bot ihm „für einige wichtige Jahre gute, wärmende Heimat“ (Sebestyén, 1975b). Sebestyén betont eine ‚Wir‘-Gemeinschaft, die sozialen, freundschaftlichen Beziehungen der Mitglieder untereinander, die durch geistige Verbundenheit zusammengehalten werden. Anschluss an den P. E. N.Club findet Sebestyén bereits sehr früh. In autobiografischen Aufzeichnungen erinnert er sich, dass er im Dezember 1956 „mit den ersten neunzehn Seiten eines geplanten Romanmanuskriptes“ nach Wien, zum Amt des Kanzlers, eilte, um ihn um Unterstützung zu bitten, damit er sein literarisches Werk vollenden konnte (Sebestyén, 1970, 2). Doch die über sein Anliegen verwunderten Beamten verwiesen ihn an eine andere Stelle: Nachdem sich endlich herausgestellt, daß der Kanzler sich für diese Art des Mäzenatentums unzuständig hielt, ward dem Besucher [György Sebestyén] nahegelegt, die Gunst hiesiger literarischer Kreise zu suchen, was der junge Mensch […] ohne Zögern auch tat. Ein letzter Wink des gutmütigen Beamten – der, wie es sich später herausstellen sollte, selbst ebenfalls literarische Texte verfaßte – zeigte den Weg zum Empfangszimmer einer Dame. Diese feierte beim Eintreffen des zu allem entschlossenen Romanschreibers gerade ihren Geburtstag, nahm den ebenso höflichen wie verwegenen jungen Menschen auf die freundschaftlichste Weise auf, ließ ihm unverzüglich Schnaps einschenken, zeigte sich sogar bereit, die neunzehn Manuskriptseiten zu lesen, ja sie bemühte sich sogleich um ein geeignetes Nachtquartier im bescheidenen, aber gastfreundlichen Heim eines damals noch jungen Schriftstellers. (Sebestyén, 1970, 2)

Die freundliche „Dame“, an die er sich so positiv zurückerinnerte, war Erika Hanel, Generalsekretärin des österreichischen P. E. N.-Clubs, und hinter dem „damals noch jungen Schriftsteller“ verbarg sich Herbert Eisenreich, der Sebestyén in seiner Anfangszeit in Wien Unterkunft bot. Eisenreich wurde zu einem engen Freund und Mentor, mit dem Sebestyén zeitlebens verbunden blieb. Über ihn bzw. den P. E. N.-Club lernte Sebestyén prominente Vertreter des Wiener Kulturlebens wie Franz Theodor Csokor (damals Vorsitzender des P. E. N.Clubs), Robert Neumann, George Saiko, Alexander Lernet-Holenia, Heimito von Doderer und Hans Weigel kennen. Hans Weigel war es, der Sebestyén seine erste deutschsprachige Feuilleton-Veröffentlichung in der Tageszeitung Salzbur-

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ger Nachrichten vermittelte. Nach der Fertigstellung seines Feuilletonbeitrags, so erinnert sich Sebestyén, führte [Herbert Eisenreich] mich am nächsten Tag in ein Kaffeehaus. Er reichte das Manuskript einem freundlichen untersetzten Mann, der die paar Seiten überflog, ans Telefon eilte und nach einem kurzen Gespräch mitteilte, wir mögen den Artikel an die „Salzburger Nachrichten“ schicken, […]. So lernte ich Hans Weigel kennen. (Sebestyén, 1987)

Erika Hanel, eigentlich promovierte Juristin, arbeitete neben ihrer Tätigkeit beim P. E. N.-Club als Journalistin und veröffentlichte Kulturbeiträge, Theaterkritiken oder Feuilletons meist unter dem Synonym „Lena Dur“. Wie aus Nachlass-Korrespondenzen ersichtlich, war sie damals eine zentrale Figur für den P. E. N.-Club und fungierte gemeinsam mit Herbert Eisenreich als bedeutendste Förderin von Sebestyéns literarischem und journalistischem Schaffen. Die Entdeckung und Förderung junger AutorInnen nach 1945 wurde vor allem männlichen Literaturförderern wie etwa Hans Weigel, Hermann Hakel oder Otto Basil zugeschrieben (Hubmann, 2013, 199). Diesen „Blick der durchwegs männlichen Akteure“ kritisiert Evelyne Polt-Heinzl und stellt korrigierend fest: Doch Weigels Stammtisch im Café Raimund war nur ein Begegnungsort; häufiger traf man sich – schon aus ökonomischen Gründen – in privaten Wohnungen. Und diese Form der Geselligkeit haben zu einem großen Teil Autorinnen organisiert. Man traf sich bei Vera FerraMikura oder bei Jeannie Ebner, es ist allerdings keiner der beiden Autorinnen je in den Sinn gekommen, sich selbst als Mentorinnen zu definieren und zu präsentieren. Und so sind die Spuren dieser Ebene des literarischen Lebens nur sehr mühsam aus privaten Aufzeichnungen und Erzählungen zu rekonstruieren. (Polt-Heinzl, 2013, 21–22)

Erika Hanels private Wohnung diente dem P. E. N.-Club lange Zeit als Büro. In Roman Ročeks Erinnerungen war Hanels „Wohnbüro“ in der Sigmundsgasse 16 der zentrale Treffpunkt, in dem das Professionelle mit dem Privaten einherging (Roček, 1999, 407–417). Arbeitstreffen und Sitzungen fanden hier ebenso statt wie AutorInnenlesungen und private Zusammenkünfte. „Noch tönt mir Franz Theodor Csokors vom Alter nachgedunkelter Bariton in Erinnerung, mit dem er hier [...] Szenen aus seinem Schauspiel über die letzten Dinge vorlas“ (Roček, 1999, 411). Erika Hanel führte neben dem Präsidenten Csokor nicht nur die Geschäfte, sie war darüber hinaus an der Organisation des sozialen Lebens des Clubs beteiligt und schuf so wichtige Netzwerke für die AutorInnen. Für Sebestyén war sie dennoch mehr – sie wurde später nicht nur seine Lebenspartnerin (und blieb es bis zu ihrem Tod 1965), sondern fungierte vor allem in der Anfangszeit als ei-

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ne Art Mentorin. Hanel übersetzte bzw. korrigierte seine literarischen Arbeiten und vermittelte seine Texte gezielt an Verlage und Zeitschriften. Sie führte etwa mit dem Desch Verlag Korrespondenz über Sebestyéns Debütroman Die Türen schließen sich. Erika Hanel schickte das Manuskript an Robert Neumann, der im Londoner Exil den Austrian P. E. N.-Club gründete und bis November 1947 geschäftsführender Präsident des österreichischen P. E. N.-Clubs blieb (Roček, 1999). Neumann, der ebenfalls bei Desch publizierte,10 setzte sich für Sebestyén ein und leitete dessen Buch an den Verlag weiter. Erika Hanel blieb als Vermittlerin aktiv. In einem Brief vom 17. Mai 1957 schrieb sie mit Nachdruck: Da ich heute auf Urlaub fahre, darf ich Ihnen nochmals mein ungarisches Buch ans Herz legen und besonders um eine baldige Entscheidung bitten. Zu Ihrer persönlichen Information möchte ich noch einen Lebenslauf des Autors beilegen, der vielleicht für Sie von Interesse ist.11

Sebestyéns Manuskript überzeugte den Verlag, und so stand der Veröffentlichung des Debütromans nichts mehr im Weg. Nach der Verlagszusage zeigte sich Hanel sichtlich erfreut: [V]ielen Dank für Ihren [Hans Josef Mundts] freundlichen Brief. Ich freue mich sehr, dass Sie meine Ansicht über György Sebestyén teilen. Ich bin überzeugt, dass er ganz besonders begabt ist und auch über die nötige Arbeitslust und Energie verfügt, um sich als Schriftsteller durchzusetzen. Dass Sie sich entschlossen haben, ihn unter die Fittiche Ihres Verlages zu nehmen, ist mir eine Genugtuung und aufrichtige Freude.12

Die berufliche Zusammenarbeit zwischen Sebestyén und dem Kurt Desch Verlag sollte lange dauern und war, wenn sie auch nicht immer problemlos verlief, fast durchwegs von Freundschaft geprägt.

Kurt Desch Verlag

Sebestyén publizierte seinen Debütroman 1957 im Münchner Kurt Desch Verlag und blieb ihm bis um 1970, als der Verlag zunehmend in finanzielle 10

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Robert Neumann veröffentlichte zwischen 1950 und 1955 rund neun Titel im Desch Verlag (Verlag Kurt Desch, 1955). Auch der damalige P. E. N.-Vorsitzende Franz Theodor Csokor publizierte seine Autobiografie Auf fremden Straßen (1955) bei Desch. Brief vom 17. Mai 1957 von E. Hanel an den Verlag Kurt Desch, NL Sebestyén, LIT ÖNB. Brief vom 9. Juli 1957 von E. Hanel an H. J. Mundt, NL Sebestyén, LIT ÖNB.

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Schwierigkeiten geriet,13 eng verbunden. Der Roman Thennberg oder Versuch einer Heimkehr (1969) erschien noch im Desch Verlag; seine darauffolgenden Romane Albino (1984) sowie Die Werke der Einsamkeit (1986a) publizierte der österreichische Verlag Styria. Kurt Desch gründete den Verlag mit Sitz in München im November 1945. Er erhielt von der amerikanischen Besatzung „die erste unbefristete Verlagslizenz im Eastern District, der Bayern umfaßte“ (Gruschka, 1995, 86). Dass gerade Kurt Desch als Verleger in der Nachkriegszeit so erfolgreich den Buchmarkt bestimmte, liegt, laut Bernd Gruschka, der sich kritisch mit dem Aufstieg des Verlages auseinandersetze (Gruschka, 1995, 85–174),14 darin begründet, wie Desch seine Vergangenheit inszenierte. Über Kurt Deschs berufliche Biografie heißt es zusammenfassend: Kurt Desch hatte während des Dritten Reiches im Gauverlag bayrische Ostmark, im StufenVerlag und im Zinnen-Verlag die nationalsozialistische Buchpolitik aktiv unterstützt. Er war zeitweise Mitglied der NSDAP und stand bis kurz vor Kriegsende unter der Protektion der nationalsozialistischen Führung des Gaues Bayrische Ostmark. Seine politischen Schwierigkeiten im Dritten Reich beruhten auf seinen Beziehungen zur KPD während der Weimarer Republik oder gingen auf parteiinterne Rivalitäten zurück, die Kurt Desch 1944 noch bewußt schürte. Nach dem Einmarsch der Amerikaner übernahm er den „arisierten“ Zinnen-Verlag, dessen Teilhaber er bereits gewesen war. Es gelang ihm, sich unter Bezug auf seine politischen Schwierigkeiten als aktiven Gegner des Nationalsozialismus darzustellen. (Gruschka, 1995, 175)

Den Großteil der Verleger, die während des Nationalsozialismus tätig und vorbelastet waren, schlossen die Besatzer nach 1945 vom Verlagsgeschäft aus. Umso erstaunlicher ist es daher, dass es Kurt Desch gelang, sich mit seiner Vorgeschichte als Verleger zu etablieren und eine Verlagslizenz zu bekommen. Die Information Control Division (ICD) kontrollierte und steuerte den Buchmarkt in der amerikanischen Zone. Kurt Desch stand in guter Beziehung zur bayrischen ICD (Gruschka, 1995, 135); er genoss deren Protektion und profitierte von der amerikanischen Förderung. Als Gegenleistung „realisierte der Verlag 13

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Vgl. Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit: Der Verlag zahlte viele AutorInnenhonorare nicht aus und hatte Unregelmäßigkeiten bei den Honorarabrechnungen. Daher geriet er zusehends in Verruf. Kurt Desch verkaufte seinen Verlag 1973 (Anonym, 1974). Bernd R. Gruschka legt mit Der gelenkte Buchmarkt. Die amerikanische Kommunikationspolitik in Bayern und der Aufstieg des Verlages Kurt Desch 1945 bis 1950 eine äußerst lesenswerte und kritische Auseinandersetzung mit den Anfängen des Verlages vor. Neben Sekundärliteratur, Archivrecherchen und Korrespondenzen zog er Interviews mit dem Verlag nahestehenden Personen für seine umfangreiche Studie heran.

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in großem Umfang die buchmedialen Zielvorstellungen der amerikanischen Kommunikationskontrolle“ (Gruschka, 1995, 175). Die Besatzer strebten nach einer politischen Einflussnahme und forcierten die „Umerziehung der deutschen Bevölkerung“ (Gruschka, 1995, 114). Der Verlag wollte mit seiner Buchproduktion „an der Erneuerung des zerstörten Menschenbildes“ mitarbeiten (Lektorat des Verlags Kurt Desch, 1950, 7). Doch die Verlage wurden von den Besatzern durchaus auch im Sinne des Kalten Krieges eingesetzt, so Stocker (2010, 60), von den Amerikanern also gegen den Kommunismus. Ziele des Desch-Verlagsprogramms waren die Förderung junger deutscher AutorInnen sowie das Verlegen bedeutender Autoren aus anderen Ländern und von Klassikern der Weltliteratur (Verlag Kurt Desch, 1955, 12–13). Der bekannteste und erfolgreichste Autor der Anfangsjahre, dessen Werk den moralischen Forderungen nachkam, war Ernst Wiechert. „Er wurde [in der Nachkriegszeit] als jemand begriffen, der das Schöne und Edle, das Immerwährende hochhielt und zu bewahren sich aufgegeben hatte. Zu allem Modernen, Fortschrittlichen, Experimentellen und zur Technik hielt er Abstand“ (Franke, 2003, 7). Wiechert war ein konservativer Autor der „inneren Emigration“, dessen Name das Programm des Desch Verlages nach 1945 bestimmte. Vor 1948 hatte der Desch Verlag eine zentrale Position am deutschen Buchmarkt inne, doch nach der Währungsreform wurde die Konkurrenz stärker. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, so bemerkt Gruschka, war nach 1948 bei Desch eine „gesteigerte betriebswirtschaftliche Erfolgsorientierung“ zu verzeichnen (Gruschka, 1995, 173): [Es] war eine größere Anpassung an die Bedürfnisse der Leser nötig, um sie zum Kauf der Bücher und damit zur Annahme der Sonderanfertigung einer Mitteilung zu bewegen. Diese Anpassung bestand jedoch nicht in der Abkehr von der Thematisierung der jüngeren Zeitgeschichte, sondern in der Erleichterung ihrer Konsumierbarkeit durch verstärkte Realisation unterhaltender Texteigenschaften. (Gruschka, 1995, 174)

György Sebestyén erinnerte mit seinem Werk nicht an die jüngere deutsche Zeitgeschichte, geprägt von Krieg und Nationalsozialismus, sondern er kam 1957 mit einem Roman über den Ungarnaufstand, der für deutschsprachige LeserInnen weniger unmittelbare, eigene Geschichte darstellte und daher leichter ‚konsumierbar‘ war, auf Vermittlung von Robert Neumann und Erika Hanel zum Kurt Desch Verlag und schrieb später Beiträge für die von Desch herausgegebene Zeitschrift Die Kultur. In der Zusammenarbeit zwischen dem Autor und dem Verlag zeigten sich Spannungen, die sich aus der marktwirtschaftlichen Orientierung des Verlages ergaben. Trotz hoher Erwartungen verkaufte sich Sebestyéns

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Debütroman bei Desch nur mäßig. „Das hängt einfach damit zusammen: 6 oder 7 Bücher, die die ungarische Revolution zum Inhalt haben, werden z.Zt. in Deutschland angeboten. Ihr Name ist dem Buchhandel und dem Buchleser noch völlig unbekannt“, schrieb der Verleger an den Autor Sebestyén.15 Für das nachfolgende im Desch Verlag erscheinende Buch Der Mann im Sattel oder Ein langer Sonntag (1961) erwartete der Verlag jedoch den (verspäteten) Erfolg. Wir wollen hoffen, daß das Buch in der Presse und beim Leser mehr Beachtung findet als Ihr erstes Werk, zumal sich hier literarisch unverkennbar ein Fortschritt abzeichnet. Dem Buch ist anzuspüren, welch enorme Mühe Sie sich gegeben haben und mit wieviel Ehrgeiz Sie am Werk waren.16

Gleichzeitig jedoch legte ihm Hans J. Mundt, Verlagsleiter bei Desch, nahe, sich im literarischen Schreiben stärker an den Bedürfnissen der LeserInnen zu orientieren: Trotzdem sollten Sie erwägen, wieder eine handfestere, konkretere, weniger reflektierte und vielleicht schlichtere Geschichte Ihrem nächsten Buch zugrunde zu legen. Ihre formale Begabung ist groß; aber Sie neigen zum bizarren Übersteigern, zur gedanklich konstruktiven Paradoxie und dazu, Ihrer starken Fabulierkraft durch Abstraktion das lebendige Element zu nehmen.17

Der Verkauf des zweiten Buches stockte aber ebenso. Aus der Finanzabteilung schrieb man an den Autor, die Honorarabrechnung für das erste Halbjahr 1961 sei „recht deprimierend. Wir finden keine rechte Erklärung, warum wir bei Ihren Werken, die wir sehr schätzen, nicht zu einem höheren Absatz kommen“.18 Auch beim dritten Buch Die Schule der Verführung (1964) sprach Sebestyén von einem „sang- und klanglosen Untergang“ seines Romans.19 Warum gelang es Autor und Werk nicht, sich am Markt durchzusetzen, höhere Verkaufszahlen zu erzielen bzw. eine höhere Aufmerksamkeit von Literaturkritik und RezensentInnen zu bekommen? Ein Verlagshaus bestimmt im Wesentlichen, in welchem Rezeptionsumfeld der Autor und sein Werk wahrgenommen werden. Dabei spielen das Verlagsmarketing bzw. die Werbung für einen Autor und insbesondere für sein Buch eine entscheidende Rolle. Doch genau in Bezug auf diese schien 15 16 17 18 19

Brief vom 19. September 1957 von K. Desch an G. Sebestyén, NL Sebestyén, LIT ÖNB. Brief vom 9. November 1960 von H. J. Mundt an G. Sebestyén, NL Sebestyén, LIT ÖNB. Ebd. Brief vom 25. September 1961 von Kurt Desch Verlag (Abrechnung, Finanz) an G. Sebestyén, NL Sebestyén, LIT ÖNB. Brief vom 19. November 1964 von G. Sebestyén an H. J. Mundt, NL Sebestyén, LIT ÖNB.

„Ankunft eines Barbaren“: György Sebestyén

es, wie anschaulich die oben zitierten Ausschnitte aus den Verlagskorrespondenzen zeigen, als hätte es Schwierigkeiten seitens der Verlagsvertretung gegeben. In dem genannten Brief vom 19. November 1964 an Mundt listete Sebestyén verschiedene Punkte auf, die der Verlag in seiner Autorenförderung verabsäumt hätte. Er beklagte, dass der Verlag seine Bücher nicht ausreichend bewerbe, obwohl es Deschs Aufgabe sei, ihn als Autor stärker zu vermarkten: Inmitten der heutigen unglückseligen Flut von Publikationen erscheint mir ein würdiges und vernünftiges Mass an Werbung unerlässlich. Aus dem „Börsenblatt“ habe ich erfahren, dass solche Werbung zwar tatsächlich auch seitens des Desch-Verlages stattfindet, bloss hat sie nicht meinen Roman zum Gegenstand – kein einziges Mal. Es ist überflüssig zu sagen, dass ich mir über die Werbung des Verlages kein Urteil erlaube und dass ich auf gewiss ausgezeichnete Kollegen keineswegs eifersüchtig bin. Ich möchte bloss festhalten, dass der Verlag (etwa auf der Titelseite des „Börsenblattes“ vom 10. November) andere Autoren der Reklame würdig fand, mich hingegen einfach vergass.20

Vonseiten des Verlages hieß es, man tue alles, um seine Bücher zu bewerben – er als Autor müsse aber, so der Vorwurf von Hans J. Mundt, sich viel stärker für diese einsetzen.21 Sebestyén selbst unterlag, wie die meisten AutorInnen, ökonomischen Zwängen: „Ich muss beinahe pausenlos schreiben, um leben zu können“.22 Zeit seines Lebens war er, neben der literarischen Arbeit, journalistisch tätig, um so seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie bestreiten zu können. Für eine intensive Bemühung um die Vermarktung seiner Bücher fehlten ihm ökonomische Ressourcen und Zeit. Neben der ausbleibenden wirksamen Vermarktung von Autor und Werk könnte darüber hinaus Sebestyéns Herkunft die recht schmale Rezeption seiner Bücher bewirkt haben – darauf deutet zumindest eine Bemerkung des Verlagsleiters Mundt hin. Er merkte in einem Brief an, dass Sebestyéns Name ein Hindernis für eine erfolgreiche schriftstellerische Karriere im deutschsprachigen Raum darstelle: Für den Autor wäre der Name Georg Sebastian zweifelsohne viel förderlicher gewesen als György Sebestyén – eine Schreibweise, der die hiesigen Leser etwas ratlos gegenüberstehen und bei der sie wahrscheinlich heute noch in der Buchhandlung Hemmung haben, den Namen auszusprechen.23

20 21 22 23

Ebd. Brief vom 23. November 1964 von H. J. Mundt an G. Sebestyén, NL Sebestyén, LIT ÖNB. Brief vom 10. Oktober 1965 von G. Sebestyén an H. J. Mundt, NL Sebestyén, LIT ÖNB. Brief vom 15. November 1966 von H. J. Mundt an G. Sebestyén, NL Sebestyén, LIT ÖNB.

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Für den Debütroman Die Türen schließen sich, der den Ungarnaufstand thematisierte, war vielleicht Sebestyéns Name förderlich bei der Bewerbung des Buches – wie ich später noch zeigen werde, rezipierten die KritikerInnen den Roman vor allem über Sebestyéns Biografie. Bei späteren Romanen, die sich nicht mehr mit dem Thema Ungarn auseinandersetzten, stellt sich die Frage, inwieweit der Name Einfluss auf den Verkauf, die Rezeption und die literarische Anerkennung der Bücher hatte. Ein weiterer Grund für den ausbleibenden literarischen Durchbruch bzw. für die fehlende Anerkennung im Literaturbetrieb könnten die veränderten literarischen Schreibweisen im Feld als solche sein, an die Sebestyén nicht anknüpfte. Viele seiner kürzeren Erzählungen sowie die frühen Romane nach Die Türen schließen sich, also Der Mann im Sattel oder Ein langer Sonntag (1961) oder Die Schule der Verführung (1964), sind Texte, die entweder von Raum und Zeit losgelöst sind oder an die altösterreichische k. u. k. Monarchie erinnern und, im Gegensatz zu seinem Debütroman, kein politisches Moment artikulieren. Die Texte nehmen auf überzeitliche und transzendente Inhalte Bezug – Real-Konkretes wird in etwas Abstraktes und Allgemeingültiges überführt. Ein konkretes Beispiel zur Verdeutlichung: Sebestyén schickte einige seiner Erzählungen an die Presseagentur Carl Duncker.24 Er bekam eine Absage, man könne seine Geschichten nicht abdrucken oder weitervermitteln, und zwar mit folgender Begründung: „Sie pflegen einen Stil, der heute nur noch selten zu lesen ist. Die Vergewaltigung der deutschen Sprache hat überhand genommen, und die Themen müssen möglichst oberflächlich sein.“ Geschichten, die sich gut verkaufen, „müssen eine realistische, handlungsstarke, pointierte story aufweisen. Es dürfen keine Betrachtungen, die die Phantasie des Lesers herausfordern, eingeflochten sein“.25 Die Kritik ist eine ähnliche wie jene im bereits zitierten Brief von Hans J. Mundt vom 9. November 1960. Sebestyéns Schreibstil wird als nicht zeitgemäß angesehen; knüpft er doch literarisch an eine ältere Generation von SchriftstellerInnen an. Mit Blick auf Sebestyéns Sprachwerdung war es aber nicht ausschließlich ein Anknüpfen, sondern vielmehr eine Unterordnung und Anpassung an die deutsche Sprache und Kultur dieser älteren AutorInnengeneration. 24

25

Die Carl Duncker Presseagentur mit Sitz in Berlin vermittelte Texte, vor allem unterhaltsamer Natur, zum Abdruck in Zeitungen und Zeitschriften. Ein Roman von Harald Baumgarten unter dem Titel „Beinahe zu spät …“ erschien etwa als Fortsetzungsabdruck in der regionalen Tageszeitung Reutlinger General-Anzeiger (4. März 1966). Abgedruckt wurde der Text mit dem Zusatz „Copyright by Carl Duncker Presseagentur“. Brief vom 16. Mai 1961 von H.-J. Pollandt (Carl Duncker) an G. Sebestyén, NL Sebestyén, LIT ÖNB.

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Von der Hegemonie des Deutschen und ihrer sanften Hinterfragung Sebestyén wuchs in einem bürgerlichen, jüdischen Elternhaus in Budapest auf, in dem die deutsche Sprache und Kultur bereits von Kindheitstagen an präsent waren. Deutschsprachige Erzieherinnen begleiteten seine ersten Lebensjahre: Margot, Helene und die Tante – sie bestand darauf, weder mit Frau Hahn noch mit ihrem Vornamen angesprochen zu werden – waren deutscher Herkunft. Helene stammte aus dem Riesengebirge, die Tante aus Hamburg. Sie waren freundliche Frauen, denen ich vieles zu verdanken habe, vor allem meine Kenntnis der deutschen Sprache. Keine von ihnen sprach ungarisch. Da ich den größten Teil des Tages mit ihnen verbrachte, sprach ich bald deutsch. Das Ungarische kam später hinzu. (Sebestyén, 1986b, 51–52)

In seinen autobiografischen Erinnerungen der späteren Jahre betont Sebestyén sein „Beheimatetsein im Deutschen“ und verweist auf Autoren wie Erich Kästner, Rainer Maria Rilke und Georg Trakl, die er früh für sich entdeckte (Sebestyén, 1986b, 52). Interessant ist in dem oben angeführten Zitat auch, dass in seiner Erinnerung Deutsch zu seiner Erstsprache wurde und dabei die ungarische „Muttersprache“ in den Hintergrund rückte. Helga BlaschekHahn skizziert in ihrer Monografie Sebestyéns Lektüreerfahrungen und Leseprägung, die sich vor allem auf Autoren des deutschsprachigen, französischen und englischsprachigen Kulturraums bezogen (Blaschek-Hahn, 1990, 24–41): Die Märchen von Wilhelm Hauff, Ludwig Bechstein, der Gebrüder Grimm und die deutschsprachige Übersetzung der Erzählungen von Hans Christian Andersen lernte er durch die Erzieherinnen kennen. „Ungarische Märchen waren ihm weniger vertraut“ (Blaschek-Hahn, 1990, 25). Karl May, Rainer Maria Rilke, Georg Trakl, Goethe, Hölderlin oder Stefan George sind weitere deutschsprachige Autoren, die Sebestyéns Lektüre prägten. Aus dem französischen Kulturraum kamen Autoren wie François Villon, Paul Verlaine oder Guillaume Apollinaire hinzu, und aus dem englischsprachigen Raum sind es Namen wie Edgar Allan Poe, John Keats und William Blake, deren Texte einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterließen.26 Dass ihn diese Vorbilder in seinen eigenen literarischen Arbeiten beeinflussten, zeigt sich deutlich an zwei Erzählungen. Sebestyéns „Der Tiger“ (1963) zeigt Anklänge an die Gedichte 26

Sebestyén lernte wahrscheinlich viele dieser Autoren und ihre Texte durch die Lyrik-Anthologie Száz vers (dt. Hundert Gedichte) kennen. Herausgegeben wurde dieser Band (1944) vom ungarischen Literaturhistoriker und Schriftsteller Antal Szerb, der die Gedichte sowohl in Originalsprache als auch in ungarischer Übersetzung abdruckte.

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„The Tyger“ von William Blake bzw. „Der Panther“ von Rainer Maria Rilke, und seine Erzählung „Lady Annabel Lee“ (1971) verweist auf Edgar Allan Poes Gedicht „Annabel Lee“ (Sebestyén, 1989, 394 f.). Bei der Auflistung von Sebestyéns Lektüreprägung werden literarische Hierarchien deutlich: Es dominieren Autoren aus den literarischen Zentren Frankreich, Großbritannien und Deutschland (Casanova, 2007); eine Referenz auf ungarische AutorInnen und Vorbilder fehlt in seinen Erinnerungen. Obwohl die ungarische Literatur und literarische Prägung in Sebestyéns eigener literarischer Verortung in späteren Schriften stark in den Hintergrund tritt, spielte sie dennoch, für seine literarische Gegenwart, eine Rolle. Sebestyén als „Ungarndeutscher“ verstand sich zeit seines Lebens als Mittler zwischen den Kulturen (Sebestyén, 1988). Bereits einige Monate nach seiner Ankunft in Österreich redigierte und prüfte er ungarische Manuskripte für deutschsprachige Verlage, er versuchte, ungarische AutorInnen im deutschsprachigen Raum zu vermitteln und sie so einem größeren LeserInnenkreis zugänglich zu machen, und war selbst als literarischer Übersetzer tätig. Er übertrug etwa Gyula Krúdys Die rote Postkutsche (Paul Zsolnay Verlag 1969) sowie Miklós Domahidys Die Tasse mit dem Sprung (Paul Zsolnay Verlag 1962) ins Deutsche. Darüber hinaus widmete er sein zweites Buch Der Mann im Sattel oder Ein langer Sonntag (1961) dem ungarischen Schriftsteller Milán Füst. Im Deutschen, der „zweiten Muttersprache“ (Sebestyén, 2000a, 38), war Sebestyén jedoch nicht immer „beheimatet“ – obwohl dieser Eindruck beim Lesen seiner autobiografischen Reflexionen vermittelt wird. Mit Blick auf die Nachlass-Korrespondenzen zeigt sich, dass sich Sebestyén diese „Heimat“ in der deutschen Sprache viel mehr erarbeitete, als dass er sie bereits von Kindheit an bewohnte. Sein Romanmanuskript, mit dessen „ersten 19 Seiten“ er 1956 nach Österreich flüchtete, verfasste er noch auf Ungarisch. Das Buch trug ursprünglich den Titel Kilinćs nelküli ajtόk (dt. Türen ohne Klinken); der Desch Verlag publizierte seinen Debütroman 1957 unter dem Namen Die Türen schließen sich. Anfänglich arbeitete Lajos von Horváth, der Bruder des Schriftstellers Ödön von Horváth, an der deutschen Übersetzung des Buches. Sebestyén war jedoch mit der Übertragung nicht zufrieden, und so übersetzte er schließlich gemeinsam mit Erika Hanel den Großteil des Textes. In Die Türen schließen sich wurde schließlich „Lena Dur“ als Übersetzerin des Buches angeführt. Sein zweiter Roman Der Mann im Sattel oder Ein langer Sonntag erschien 1961 ebenfalls bei Desch. Sebestyén begann diesen Roman auf Ungarisch zu schreiben; hier übernahmen wieder er und Erika Hanel die Übersetzung. Doch während des Schreibprozesses wechselte er vom Ungarischen ins Deutsche und ersparte sich so den mühseligen und kostbare Zeit beanspruchenden Übersetzungsprozess.

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[S]olange ich ungarisch dachte und bestrebt war, gewisse Gedanken dann deutsch zu formulieren, also ständig zu übersetzen, blieb die Prosa leblos, blieben auch manche gar nicht so üble Gedanken unausgedrückt, in der Gehirnsubstanz isoliert, literarisch und soziologisch nicht vorhanden. (Sebestyén, 2000a, 42)

In der Aussage spiegelt sich ein Paradigma der Einsprachigkeit wider. Für Sebestyén ist das Übersetzen kein sprachspielerischer Prozess, in dem etwas Neues entstehen kann. Im Prozess der Übersetzung geht für ihn vielmehr etwas unwiederbringlich verloren. Sebestyén arbeitete daher sehr intensiv, mit Unterstützung von FreundInnen und KollegInnen, an der deutschen Sprache. Das Korrektorat und Lektorat seines Romans übernahm neben Gunter Groll (Cheflektor bei Desch) und Herbert Eisenreich, „dessen Rat in stilistischen Fragen mir jetzt, da ich einen längeren Text in deutscher Sprache verfasst habe, besonders wichtig erscheint“,27 wiederum Erika Hanel. Als er den Roman beendete, schrieb Sebestyén an Hans J. Mundt: „Nach mehr als zweijähriger Arbeit ist nun die dritte und endgültige Fassung in deutscher Sprache fertig. [...] Erika Hanel hat meine grammatikalischen Fehler verbessert, jetzt wird die Geschichte ins Reine geschrieben“.28 Sebestyén arbeitete an seinem Deutsch, an Ausdruck und Grammatik, und nahm Korrekturen und Änderungen dankbar an. Die Auseinandersetzung mit der Sprache schien für ihn weniger ein kreativer, experimenteller Prozess zu sein; es ging ihm vielmehr um das Perfektionieren, um das sprachlich korrekte, normierte Sprechen und Schreiben. In einem Brief an Gunter Groll erinnert er sich an seine sprachliche „Verwandlung“ und verweist dabei metaphorisch auf die Figur des Golems, der der jüdischen Legende nach durch Magie zum Leben erweckt wurde: Sie haben mich gesehen in meinem mangelhaften und gewiss eigentümlichen Deutsch, voll Fehler in der Beschreibung meiner Abenteuer, voll menschlicher und scheußlicher Makel, in einem erbärmlichen Zustand, und Sie haben mir geholfen, auch diesen Höhepunkt eines literarischen Gebrechens zu überwinden. Herzlichen Dank! Ich komme mir manchmal vor mit meiner Deutschschreiberei wie ein Golem, den Eisenreich, Mundt, Groll und Erika Hanel zum Leben erweckt haben und der sich nun einbildet, wüten zu dürfen. Seit vierunddreißig Jahren spreche ich deutsch und verflucht seien alle meine Ammen und Erzieherinnen aus dem Riesengebirge und aus der Lüneburger Heide, die mir zwar das Reden beigebracht haben, nicht aber die Syntax!29

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Brief vom 14. Februar 1960 von G. Sebestyén an H. J. Mundt, NL Sebestyén, LIT ÖNB. Brief vom 17. März 1960 von G. Sebestyén an H. J. Mundt, NL Sebestyén, LIT ÖNB. Brief vom 9. Juni 1965 von G. Sebestyén an G. Groll, NL Sebestyén, LIT ÖNB.

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In dieser Aussage, mit seiner Selbstidentifizierung mit dem Golem, erkennt Sebestyén, wenn auch im Moment des Sprechens vermutlich nicht bewusst intendiert, sprachliche Hierarchien an. Er, der Golem (es ist eine ähnliche Figur wie der „Barbar“ in seinem ersten Feuilletonbeitrag, um den es später noch gehen wird), verortet sich selbst als gesellschaftlicher Außenseiter, der nicht der deutschen Sprache mächtig ist. Die Interpretation dieser Passage könnte vor dem Hintergrund von Sebestyéns jüdischer Identität, die er zeit seines Lebens zu verschleiern suchte (Mitterlehner, 2005; Weigel, 1994), noch vertieft werden.30 Um es zugespitzt zu formulieren: Sebestyén imaginiert sich in der jüdischen Golemsfigur und betont damit seine Andersartigkeit. Er äußert Unsicherheiten in Bezug auf seine sprachliche Identität – spreche er doch nur ein mangelhaftes und „eigentümliches“ Deutsch. Das „eigentümliche“ Sprechen der jüdischen Figur erinnert an „Mauscheln“, das eigentlich eine Erfindung der Deutschen in ihrer Wahrnehmung einer „jüdischen“ Sprechweise ist. „And yet Jews do not speak German; they have a ‚hidden‘ mauscheln which is the reflex of their being Jews“ (Gilman, 1986, 144). „Mauscheln“, so Sander Gilman weiter, „was a quality of language and discourse that Jews perceived as a major problem in their true and total acceptance within the German community“ (Gilman, 1986, 141). Der Golem ist nicht Teil der deutschen Gemeinschaft, der Eisenreich, Groll, Hanel und Mundt angehören – erst durch ihr Zutun wird er zum Leben erweckt; das heißt mit (deutschem) Geist beseelt.

Sebestyén als Kulturvermittler und das Ablegen der ungarischen Sprache mit dem Emigrantenstatus Obwohl die deutsche Sprache zu Sebestyéns Literatursprache wurde und er ‚österreichischer Schriftsteller‘ werden sollte (Sebestyén, 1986b, 64), spielten seine ungarischen Sprachkenntnisse vor allem in seiner Anfangszeit in Wien 30

Im Sebestyén-Teilnachlass in der Wienbibliothek finden sich zahlreiche Dokumente und Ansuchen der Eltern um NS-Entschädigung, die diese Zeit sehr gut dokumentieren und ein krasses Gegenbild zu Sebestyéns öffentlicher Darstellung und autobiografischen Reflexionen zeichnen (Sebestyén, 1986b). Auch wenn er in seinen autobiografischen Texten und Selbstzeugnissen zu seiner jüdischen Herkunft bzw. zu seinen Kindheitserfahrungen während der NS-Zeit in Ungarn keine Stellung bezog, so verarbeitete er doch Aspekte seiner Biografie literarisch in späteren Werken. Die Figur des ‚Außenseiters‘ kennzeichnet viele seiner Protagonisten der späteren Texte wie etwa Thennberg oder Versuch einer Heimkehr (1969), Albino (1984) oder Die Werke der Einsamkeit (1986). Es wäre für die SebestyénForschung noch ein reiches Feld, dieses Motiv vor dem Hintergrund des Jüdischen zu erschließen (Schwaiger, 2016; Weigel, 1994).

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eine wichtige Rolle, da sie ihm ein finanzielles Auskommen sicherten. ‚Das Ungarische‘ – damit gemeint sind unter anderem Sebestyéns journalistische und kulturvermittelnde Arbeiten – spielte vor allem in jenen Zeiten eine große Rolle, in denen er ausschließlich von seiner Literatur nicht leben konnte. Sebestyén kam als 26-Jähriger nach Wien, hatte also bereits einen wichtigen Lebensabschnitt in Ungarn verbracht. Er begann an der Universität in Budapest zuerst ein Studium der Literatur, Philosophie und Soziologie; brach dieses jedoch nach „Meinungsverschiedenheiten mit [s]einem Literaturprofessor“ ab und wechselte an die Museologische Fakultät, um dort Ethnografie zu studieren. „[H]ier hab ich die vorgeschriebenen vier Jahre absolviert, doch die Schlussprüfung wegen Zeitmangel nicht gemacht. Denn da war ich journalistisch schon sehr beschäftigt“.31 In Budapest arbeitete er als Journalist und war als Literatur- und Theaterkritiker tätig. Von 1952 bis zur Revolution 1956 und seiner Flucht engagierte er sich als Kulturredakteur bei der Tageszeitung Magyar Nemzet. Diese Kontakte und Erfahrungen im journalistischen Bereich verhalfen Sebestyén in Österreich zu Tätigkeiten und Anstellungen, die ihm ein finanzielles Auskommen sicherten. Bereits sehr früh arbeitete Sebestyén als Journalist, später dann als Chefredakteur bei der österreichischen Wochenzeitung in ungarischer Sprache Magyar Hίradó, „ein gediegenes, durchschnittliches Blatt“,32 bzw. der Tageszeitung Bécsi Hίrlap, die während des Weltjugendtreffens 195933 anstelle der Magyar Hίradó erschien. In einem Brief an seine frühere Frau Berta Gaudy, die mit ihrer gemeinsamen Tochter Piroska nach Buenos Aires ausgewandert war, sinniert er: „[E]igentlich ist es eine sonderbare Sache, in Wien ungarischer Chefredakteur zu sein, und ein vernünftiges Blatt zu machen. Die Zeitung ist nicht schlecht, aber auch nicht wirklich gut.“34 Das Nachrichtenblatt Magyar Hίradó, das sich vorrangig an ungarische Flüchtlinge richtete, wurde vom Österreichi31 32

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Biografische Notizen zu seiner Zeit in Ungarn und zu den frühen Jahren in Wien entnehme ich einem Lebenslauf Sebestyéns vom 13. Mai 1957, NL Sebestyén, LIT ÖNB. Brief vom 6. Juli 1959 von G. Sebestyén an B. Gaudy [seine frühere Ehefrau], übersetzt von E. R., NL Sebestyén, Wienbibliothek. Ungarisches Originalzitat: „A Magyar Hίradό amolyam derék, közepes újság, mint látod“. Sebestyén und Gaudy waren auch nach ihrer Scheidung, wie zahlreiche Korrespondenzen belegen, freundschaftlich miteinander verbunden. Die „Weltfestspiele der Jugend und Studenten“ fanden vom 26. Juli bis 4. August 1959 in Wien statt (Hautmann, 1999). Die dort teilnehmenden Jugend- und Studierendenverbände waren vorwiegend links-kommunistisch. Brief vom 14. Mai 1959 von G. Sebestyén an B. Gaudy, übersetzt von E. R., NL Sebestyén, Wienbibliothek. Das Originalzitat lautet: „és tulajdonképpen különös dolog ez, Bécsben magyar főszerkesztőnek lenni és megpróbálni józan lapot csinálni. Az újság nem rossz, de nem is igazán jó“.

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schen Nationalkomitee für Ungarn herausgegeben. Die Zeitung wurde bis 1980 verlegt; die erste Ausgabe erschien im Jänner 1957. Wie lange Sebestyén als Redakteur der Zeitung tätig war, lässt sich nicht sagen. Fest steht, dass Sebestyén in der Anfangszeit stärker als Journalist denn als Schriftsteller wahrgenommen wurde. In seinem ersten Feuilleton in den Salzburger Nachrichten heißt es etwa im Untertitel: „Ein Budapester Journalist schreibt über die Begegnung mit dem freien Wien“ (Sebestyén, 1957b). Dies resultiert aus der Tatsache, dass Sebestyén zuvor in Ungarn nur kürzere Texte, keinen Roman, veröffentlicht hatte und er sich in Wien daher erst einen Namen als Autor machen musste. Sebestyén bewegte sich in seiner Anfangszeit in Österreich, da er für eine Zeitung ungarischer Sprache arbeitete, die ungarische Flüchtlinge und MigrantInnen erreichen wollte, durchaus in einer Gemeinschaft von Zugewanderten. Gleichzeitig versuchte er, über den P. E. N.-Club an den österreichischen Literaturbetrieb anzuknüpfen. In einer autobiografischen Erinnerung aus dem Jahr 1986 reflektierte er über seine Ankunft in Wien und grenzte sich deutlich von der Wahrnehmung als Migrant ab: Ich beschloß in Wien, die Kategorien, in die man Menschengruppen einteilte, nicht zur Kenntnis zu nehmen. „Emigrant“, „Dissident“, „Flüchtling“ waren Worte, die man auf sich beziehen oder für sich selbst außer Kraft setzen konnte. Ich entzog mich innerlich der Kategorisierung und betrachtete mich als einen Sechsundzwanzigjährigen, der, allerdings unter ziemlich außergewöhnlichen Umständen, aus einer Stadt in eine andere gezogen war. (Sebestyén, 1986b, 64)

Sebestyén lehnte diese Kategorisierungen ab und distanzierte sich damit von einem Teil seiner eigenen Biografie. Die politischen Gründe seiner Flucht, also die „außergewöhnlichen Umstände“, fanden keine nähere Erläuterung. Auch in seinem ersten deutschsprachigen Feuilletonbeitrag, in dem er seine Eindrücke von der neuen Stadt Wien schilderte, blieb das Politische unberücksichtigt. Mit der Ablehnung der Kategorie „Flüchtling“ trennte sich Sebestyén von seiner Vergangenheit und gleichzeitig von seinem politischen Engagement. Und hier zeigt sich ein Widerspruch, der seine Anfänge in Wien begleitet: Sebestyén schrieb in ungarischer Sprache journalistische Texte für vorrangig ungarische Flüchtlinge. Das ‚Ungarische‘ bot ihm anfänglich finanzielles Auskommen. Doch um als Autor in Österreich Fuß zu fassen und Anschluss an bestehende Netzwerke zu erlangen, fühlte er die Notwendigkeit – so vor allem in späteren autobiografischen Reflexionen ersichtlich –, sich davon zu distanzieren. Die (politischen) Kategorien von Emigrant, Dissident und Flüchtling legten ihn zu sehr auf einen Außenseiter-Status fest, den er nicht einnehmen wollte. Nicht nur durch die

„Ankunft eines Barbaren“: György Sebestyén

Ablehnung von Kategorisierungen, sondern auch durch seinen Sprachwechsel, sein Schreiben auf Deutsch, setzte er sich noch deutlicher vom Status „Ungarnflüchtling“, vom Anderssein und von einer Nichtzugehörigkeit, ab. Sebestyén kam zum Schluss: „Da ich nun einmal kein Emigrant war, hatte es keinen Sinn, in den Zeitungen und Zeitschriften der Emigranten zu publizieren […]. Ich mußte versuchen, mich deutsch auszudrücken“ (Sebestyén, 1986b). Bereits 1957 schrieb er journalistische und feuilletonistische Beiträge für Zeitungen wie die Salzburger Nachrichten oder das Wochenblatt Heute und verfasste gleichzeitig Gutachten für Verlage. In diesen wirkte er als Kulturvermittler und gab Einschätzungen über ungarische AutorInnen und Romanmanuskripte ab, ob sie sich für eine mögliche Übersetzung für den deutschsprachigen Buchmarkt eigneten. „Vor 1956“, so schreibt Sebestyén, „verlangten deutschsprachige Verleger kaum nach ungarischen Autoren“ (Sebestyén, 1963, 788). Doch nach dem Ungarnaufstand bestand bei den LeserInnen vermehrtes Interesse an osteuropäischer Literatur. Gründe für diese Aufmerksamkeit seien aber nicht in der Ästhetik zu suchen, sondern in der spezifisch politischen Situation, die nach Information verlangte: „Die Legende über das Schicksal eines geschmuggelten Manuskriptes zählt mehr als der ästhetische Rang“ (Sebestyén, 1966). Interesse an politischer (antikommunistischer) Literatur sowie die Lust am Abenteuer und der Begegnung mit dem „Fremden“ seien Gründe für die Begeisterung der LeserInnen für Werke aus Osteuropa (Sebestyén, 1966). Genau das galt auch für seine ersten Werke.

Kritik am Kommunismus und Abwendung von der Politik In seiner ersten Schaffensphase als Schriftsteller in Österreich (1956 bis in die frühen 1960er Jahre) schrieb Sebestyén viele kürzere Erzählungen (Sebestyén, 1989) sowie die Romane Die Türen schließen sich (1957), Der Mann im Sattel oder Ein langer Sonntag (1961) und Die Schule der Verführung (1964). Der Blick auf Sebestyéns literarisches Werk zeigt, dass einige seiner frühen Texte eine autobiografische Prägung aufweisen. Seine eigene Biografie und der Ungarnaufstand dienten ihm als Inspiration für das literarische Schreiben35 – exemplarisch ver35

Dies zeigt sich auch in seinen kürzeren Erzählungen: Sebestyéns „Rauch und Regen“ (entstanden 1957) etwa nimmt Bezug auf die stalinistischen „Säuberungsaktionen“ in Ungarn, die mit der Hinrichtung László Rajks 1949 ihren Ausgang nahmen. Die Kurzgeschichte „Der Mann auf dem Dach“ (entstanden 1966) knüpft wiederum an seinen Debütroman und das Thema Ungarnaufstand an.

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weise ich im Folgenden auf Sebestyéns ersten Feuilletonbeitrag „Mit den Augen eines Barbaren“ und den Debütroman Die Türen schließen sich. In den beiden frühen Publikationen – dies gilt auch für spätere Werke – sind Flucht und Migration keine Themen; denn wie bereits erwähnt sah sich Sebestyén selbst nicht als „Flüchtling“ bzw. lehnte eine Wahrnehmung als „Migrant“ ab. Sebestyén äußert in Die Türen schließen sich und „Mit den Augen eines Barbaren“ Kritik am Kommunismus, wobei er diese im Debütroman stärker artikulierte als in seinem ersten Feuilletonbeitrag. Der politische Hintergrund des Romans und seine Kritik am Kommunismus werden dann später auch in der Rezeption und in der Positionierung des Autors Sebestyén wieder aufgegriffen.

„Mit den Augen eines Barbaren“

Sebestyéns erste Veröffentlichung in Österreich erschien bereits sehr früh, rund einen Monat nach seiner Ankunft in Wien, und zwar am 3. Jänner 1957 in den Salzburger Nachrichten unter dem Titel „Mit den Augen eines Barbaren“.36 In dieser schildert der „Budapester Journalist“ aus der Ich-Perspektive eines „Barbaren“ seine ersten Eindrücke in Wien. Der Anfang lautet: HIER STEHE ICH, im Lichtergefunkel des Grabens in Wien, und muß an jene Ungarn denken, die vor tausend Jahren aus der Dunkelheit Asiens hierher ritten und mit Bewunderung, aber auch mit etwas Mißtrauen im europäischen Licht sich umschauten. Die Stadt, aus der ich komme, ähnelt jetzt einem vom Sturm gerüttelten Schiff. (Sebestyén, 1957b)

Versteckt nimmt Sebestyén in seinem Feuilleton Bezug auf den Kommunismus, auf Budapest, jene Stadt, die „jetzt einem vom Sturm gerüttelten Schiff “ ähnelt. Das „Ich“ tritt als Barbar in den Westen; er ist „Barbar“, nicht primär weil er ein Zuwanderer ist, sondern vielmehr weil er aus dem kommunistischen Osten in das „freie[] Wien“ kommt. Als Schauplatz seiner Reflexionen wählte Sebestyén den Graben im ersten Bezirk37 – dieser ist zentral gelegen, nimmt am Stephansplatz seinen Ausgang und lädt mit seinen luxuriösen Einkaufsstraßen zum Konsumieren und Flanieren ein. In den 1950er Jahren gehörte der Graben bereits zu den wichtigsten Geschäftsstraßen, doch war er keine Fußgängerzone wie heute, sondern noch 36 37

Der Texte wurde später nochmals unter dem geänderten Titel „Ankunft eines Barbaren“ in der Wochenzeitung Die Furche (16. Jänner 1987) abgedruckt. Zur Geschichte des Grabens vgl. Czeike, 2004.

„Ankunft eines Barbaren“: György Sebestyén

stark mit Autos befahren. Sebestyén beschreibt zuerst das „Lichtergefunkel des Grabens“ – die Stadt setzte hier im Dezember 1950 die erste Neonbeleuchtung Wiens in Betrieb. Wien, der europäische „Westen“, ist durchflutet von Licht, während er, der Barbar, aus dem dunklen und chaotischen „Osten“ kommt. Der Barbar hebt in Bezug auf die österreichische Hauptstadt lobend hervor, „daß sie so zauberhafte Gegensätze vereinigt, daß Altes und Neues in ihr zusammenklingt, übereinstimmt“ (Sebestyén, 1957b). Diese Beobachtung wird jedoch kontrastiert. Denn ironisch merkt der Schreiber an: DA BLEIBE ICH, der hierher verschlagene Barbar, zum Beispiel vor einem Haus in der Innenstadt stehen und will meinen Augen nicht trauen: Eine, nein sogar zwei Steintafeln verkünden, daß hier Mozart gestorben ist. Mir (dem Barbaren) kommt vor, als könne ich mich jenes regnerischen Tages und des einsamen Sarges entsinnen, und da fällt mein Blick auf eine andere Tafel „Striptease“. Wo Mozart starb. (Sebestyén, 1957b)

Staunend entdeckt er die neue Stadt, ihre sinnliche und kulinarische Seite. Es sind Konsum und Überfluss, die das Wiener Stadtbild prägen: „[N]un steht er vor den Auslagen der Fleischhauer und ist wie verzaubert: welche Farbenpracht, vom duftigsten Rosa bis zum grausamsten Rot“ (Sebestyén, 1957b). Die Kontraste und die Hierarchien zwischen Wien und der Heimat des Barbaren bzw. zwischen den WienerInnen und dem Barbaren kommen im Text deutlich zum Vorschein. Es ist ein orientalistischer und exotischer Blick, des „Westens“ auf den „Osten“, den der Barbar übernimmt und zum Teil überzeichnet und ironisiert. Er offenbart ein Machtgefälle zwischen dem zivilisierten, kapitalistischen „Westen“ und dem dunklen, unzivilisierten (kommunistischen) „Osten“. Der Barbar projiziert diesen orientalistischen und exotischen Blick sogar auf sich selbst – wie in der bereits erwähnten Golem-Figur, kategorisiert sich der Erzähler in diesem Text, in negativer Konnotation, als Fremder und gesellschaftlicher Außenseiter. Damit nimmt er kulturelle Hierarchien hin, ohne sie infrage zu stellen. Viele der Eindrücke und Schilderungen wirken jedoch überspitzt und ironisiert – so wird das Rot des Fleisches als „grausam“ charakterisiert und verweist damit auf den Akt des Tötens. Das leuchtende Bild des Westens, das im Text so schillernd überzeichnet wird, beinhaltet vor allem eine Kritik am „Osten“, aber zugleich scheint damit auch – wie etwa im „grausamsten Rot“ – eine unterschwellige Kritik am Kapitalismus mitzuschwingen. Sebestyén spielt im Text bewusst mit der Ambivalenz der Barbaren-Figur. Die Mehrdeutigkeit zeigt sich bereits in der unterschiedlichen Bedeutung und Verwendung des Wortes: Das Wort geht auf das griechische bárbaros bzw. das lateinische barbarus zurück und meint „fremd“, „ausländisch“, „nichtgriechisch“

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bzw. „roh“ und „ungebildet“. Zuerst wurde damit ein Fremder (im Gegensatz zum Griechen oder Römer) bezeichnet, der die heimische Sprache nicht beherrschte; später dann, im 16. und 17. Jahrhundert, wurde die Verwendung des Wortes erweitert, und es bezeichnete einen ungebildeten oder grausamen Menschen.38 Bei Sebestyén ist der „Barbar“ einerseits ein Fremder, der von außen kommt.39 Er ist, als Alter Ego des Autors, jemand, der die „heimische“ Sprache noch nicht beherrscht. Andererseits verweist „Barbar“ auf ein „unkultiviertes“ (natürliches, rohes) Verhalten, das sich etwa in seinem Blick auf Frauen zeigt: ABER WEIL ER EIN BARBAR IST, darf er, wenn er sich nun die Frauen anschaut, ein bißchen wilder und wirklich ganz aufrichtig sein. O ja, die Wienerinnen sind schön, sind sogar noch schöner, als man überall sagen hört, weil sie gut gebaut und blumenhaft sind; aus manchen blitzt sogar [sic!] Geist – und das ist doch wirklich etwas! (Sebestyén, 1957b)

Der Blick auf Wien „mit den Augen eines Barbaren“ ist ein ambivalenter – naiv und gleichzeitig ironisch gebrochen. Die Hierarchisierung zwischen „West“ und „Ost“ und der orientalische Blick werden dadurch teilweise, wenn auch sehr zurückhaltend, infrage gestellt. Jedoch, wie Sebestyén nach Niederschrift dieser ersten Eindrücke anmerkte, „[d]ie Politik blieb ausgeklammert. Zu frisch waren die Wunden, zudem hatte ich die Absicht, das böse Spiel für meinen Teil zu beenden“ (Sebestyén, 1987).

Sebestyéns Debütroman Die Türen schließen sich

In seinem Debütroman setzte er sich aber durchaus, beeinflusst von seinen eigenen Erfahrungen während des Ungarnaufstandes, bewusst mit Politischem 38 39

Zur Bedeutung und Verwendung des Wortes „Barbar“ vgl. etymologische Wörterbücher (Kluge und Seebold, 2011; Pfeifer, 2005). In Sebestyéns Aufsatz „Anton Wildgans und der österreichische Mensch“ (1978) nimmt er wiederholt Bezug auf das Wort „Barbar“. Sebestyén verweist auf Wildgans’ „Rede über Österreich“ (1929), in der dieser von einer „Barbarenfreude“ spricht, die der (konservative) „österreichische Mensch“ nicht kennt: „[W]er alte Kultur besitzt [der österreichische Mensch], der ruht zu sehr in sich und ist seines Geschmackes viel zu sicher, um in jedem Neuen allsogleich ein Evangelium zu vermuten. Ihm fehlt jene Barbarenfreude am WertlosGlitzernden, das sich für kostbarecht ausschreit, die protzige Lust des Kulturparvenüs an den sogenannten Errungenschaften, die zumeist höchstens solche der Zivilisation sind, und er durchschaut so manchen Pofel und Schwindel, auf den die ewig Heutigen, die nur wenig oder keinerlei Tradition über Bord zu werfen haben, pünktlich und reklamegläubig hineinfallen.“ (Wildgans, 1929)

„Ankunft eines Barbaren“: György Sebestyén

auseinander. Die Türen schließen sich verschränkt eine Liebesgeschichte mit dem politischen Hintergrund der Revolution von 1956. Hauptfigur des Romans ist der junge Budapester Student Zoltán, der sich in Anna, die Frau des Literaturprofessors Elemér Bogády, verliebt. Anna und Zoltán schließen sich dem Ungarnaufstand an, wobei Anna schließlich in den Wirren der Revolution ihr Leben lässt. In Sebestyéns Hauptfigur zeigen sich autobiografische Züge – sie verließ, wie Sebestyén, aufgrund einer Meinungsverschiedenheit mit einem Professor die Universität, arbeitete bei einer Zeitung und nahm aktiv am Aufstand teil. Macht und Ohnmacht, in politischer Hinsicht, aber auch in Bezug auf die Liebe von Zoltán zu Anna, ziehen sich leitmotivisch durch die Erzählung. Diese Grundthemen drücken sich wohl am besten im ursprünglichen Romantitel Türen ohne Klinken aus. Im Roman erklärt sich diese Metapher in einem Gespräch zwischen Zoltán und Anna folgendermaßen: „Es gibt Türen, die man nicht öffnen kann“, sagte er. „Denn sie haben keine Klinken. Solche Türen gibt es in jenen Häusern, in denen umnachtete Menschen unter Bewachung leben, Verrückte und Phantasten; und vielleicht sind die Türen in ganz Ungarn so oder vielleicht überall, ich weiß es nicht, aber bei uns bestimmt. […] Die Ungarn sind so allein und immer wieder so unglücklich, daß die Kraft des Lebens sich von Zeit zu Zeit in ihnen sammelt; und da sie vergeblich nach der Klinke tasten, treten sie die Tür ein … Diese Nation ist so allein, was soll ich sagen. […] [S]o allein wie du oder ich; und siehst du, jetzt habe ich versucht auszubrechen, jetzt versuche ich es; ich will die Tür ohne Klinke eintreten und herauskommen …“ „Wohin?“ „Ja, wohin? Ich weiß es nicht. Zu dir, in deinen Mund, in dein Fleisch, in das Geheimnis deiner Gedanken und Gefühle, in die freie Luft, die es geben muß. Wenn es geht … Vielleicht kehrt auch Ungarn wieder heim nach Europa.“ (Sebestyén, 1957a, 300–301)

„Türen ohne Klinken“ stehen als Metapher für Ohnmacht und Ausweglosigkeit. Die „Häuser“ (das heißt das „Heim“), von denen Zoltán hier spricht, sind gleichzusetzen mit der ungarischen Nation. Zoltán betont die Einsamkeit der ungarischen Nation („Die Nation ist so allein“). Diese steht im Widerspruch zur (imaginären) Gemeinschaft bzw. zum Zusammenhalt, den der Kommunismus propagiert. Die Nation sondere „das Andere“, symbolisiert durch Verrückte und Fantasten, die gesellschaftliche Veränderung anstreben und zu denen sich Zoltán zählt, aus – sie werden ausgesperrt und unterliegen staatlicher Überwachung. Durch das Eintreten der Türen, das heißt durch aktives Handeln (etwa in Form einer Revolution), kann das Eingeschlossen-Sein überwunden werden. Bei Zoltán und Anna geht es dabei einerseits um das Sich-Befreien aus ihren un-

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glücklichen Beziehungen, andererseits, auf politischer Ebene, um die Befreiung Ungarns von der sowjetischen Besatzung. Die realen politischen Verhältnisse in Ungarn, vor allem die Proteste der StudentInnen, bilden im Roman eine Art Kulisse, vor deren Hintergrund sich die Erzählung, die Liebesbeziehung zwischen Zoltán und Anna, entwickelt. [Károly zu Zoltán:] Hast du schon gehört? Die Studenten von Szeged fordern, daß die Russen sofort nach Hause gehen! Und sonst noch eine Menge, ich weiß gar nicht, was alles. Gestern in der Nacht waren Hörer von der Technischen in der Konditorei bei der Sári – das wird ein Wirbel werden, warte nur! Und dann …, denk dir, in Pest war auch schon eine Versammlung. Sári sagt, sie werden bald die Torten aus dem Schaufenster räumen müssen, sicher ist sicher … (Sebestyén, 1957a, 29–30)

Zoltán, der als Redakteur bei einer Zeitung arbeitet, unterstützt die Proteste und hofft auf den Abzug der Truppen. Für ihn ist der Kommunismus „eine grausame Sackgasse“ (Sebestyén, 1957a, 64), und er träumt von einer übernationalen „Donau-Föderation“: „Ein großes osteuropäisches Reich, ohne Habsburger und ohne Stalins. Schon in einem Jahr würde Ungarn eine Blüte erleben – unvorstellbar“ (Sebestyén, 1957a, 49). Zoltán artikuliert den Wunsch, dass die ungarische Nation nicht mehr „einsam“ existiere, sondern „heim nach Europa“ (Sebestyén, 1957a, 301) geholt werde. Diese politische Forderung Zoltáns klingt an die des Autors an. Sebestyén deutet in Die Türen schließen sich bereits an, wofür er sich später verstärkt engagieren sollte – den kulturellen und politischen Raum des übernationalen „Mitteleuropas“. Der positiven Zuversicht und dem Wunsch nach politischer Veränderung, mit denen sich Sebestyéns ProtagonistInnen Zoltán und Anna in die Revolution stürzen, wird jedoch ein jähes Ende gesetzt. Die Türen zur Freiheit schließen sich. Wie im realhistorischen Kontext scheitert der Ausbruchsversuch. Zoltán, sein Freund Károly und Anna verstecken sich in einer Kirche. Als Anna bei einem Schusswechsel verletzten Sanitätern zu Hilfe eilt, wird sie vor Zoltáns Augen getötet. Das Romanende ist, wenn auch mehrdeutig, eher resignierend. So heißt es im letzten Absatz: „Es war sinnlos“, sagte Károly hinter ihm. „War es sinnlos?“ fragte Zoltán. (Sebestyén, 1957a, 338)

Durch die offene Frage Zoltáns bleibt die Hoffnung bestehen, dass Annas Tod, das heißt ihr Einsatz, und der Aufstand als solcher nicht sinnlos waren, sondern dass die ungarische Nation mit ihrem Wunsch nach Veränderung und ihrem Aufbegehren zumindest einen kleinen Schritt näher an Europa heranrückte.

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Rezeption als „authentischer Antikommunist“ und Abwendung von der Politik

Die Rezensionen zu Die Türen schließen sich fokussieren das politische Moment des Romans; der Liebesgeschichte selbst wird wenig Aufmerksamkeit geschenkt.40 Das Herbstprogramm des Desch Verlages stand 1957 unter dem Motto: „Deutschland und die Welt in Werken von internationalem Rang“. Desch versuchte, Sebestyén als Autor durchaus in einen internationalen Kontext zu stellen; sein Debütroman wurde als gleichzeitig „ungarisch und europäisch“ bezeichnet. Das Buch, so das Verlagsprogramm, sei „ein erschütterndes Dokument der ungarischen Revolution“.41 Wie dann später in den Zeitungsrezensionen ersichtlich, betonte Desch den „authentischen“ Charakter des Buches (der Autor selbst habe ja aktiv am Ungarnaufstand teilgenommen) und verwies gleichzeitig auf Objektivität und Distanziertheit des Autors zum Erlebten. So hob Desch positiv hervor: „Obwohl dieses Buch unter dem unmittelbaren Eindruck der ungarischen Tragödie geschrieben wurde, hält es eine erstaunliche Distanz zu den Ereignissen“.42 Die Zeitungsrezensionen griffen auf den Diskurs der „Authentizität“ zurück und betonten den politischen Aspekt des Textes. Nur der Rezensent in Die Welt erwähnte die Liebesgeschichte, die eigentlich zentral für die Erzählung ist (Trugly, 1958). In allen anderen Rezensionen ging es ausschließlich um Politik und um die Biografie des Autors, die dem Text einen „authentischen“ Charakter gebe. Der umfangreichste Beitrag erschien in der Wochenpresse (Anonym, 1957b). Doch diskutierte dieser nicht den Inhalt des Buches, sondern stellte ausschließlich den Autor, seine Biografie und Fluchtgeschichte ins Zentrum. Der Artikel erweckte den Eindruck, als sei das Buch nur vor dem Hintergrund der Biografie seines Autors lesbar. Im Text hieß es, Die Türen schließen sich sei „[d]as erste Ungarn-Buch, das sich belletristisch mit der Revolution auseinandersetzt und von einem Teilnehmer der Oktoberrevolution 1956 geschrieben wurde“, „soweit es historische Ereignisse und Tatsachen betrifft, hat er nichts erfunden, sondern alles 40

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Da nicht alle Rezensionen greifbar waren bzw. ausfindig gemacht werden konnten, verweise ich exemplarisch auf folgende Blätter: Arbeiter-Zeitung, Abendzeitung, Wochenpresse, Die Welt, Volkszeitung, Stuttgarter Nachrichten und FORVM. Genaue Literaturangaben zu den Romanrezensionen finden sich im Literaturverzeichnis (Anonym, 1957a, 1957b, 1957c; Hubalek, 1957; Rode, 1958; Trugly, 1958; Vázsonyi, 1957). Einige der Rezensionen sind aus dem NL Sebestyén, LIT ÖNB, daher fehlen teilweise die Seitenangaben. Die Broschüre des Desch-Herbstprogramms Neuerscheinungen 1957 ist aus dem NL Sebestyén, LIT ÖNB. Ebd.

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war tatsächlich so“, und der Roman sei „der Wirklichkeit nacherzählt“ (Anonym, 1957b). Sebestyén selbst, so zeigen Kommentare des Autors, distanzierte sich vom politischen Gehalt, der so zentral für die Rezeption des Buches ist. In der Abendzeitung relativierte er: „Es ist kein ausgesprochen politischer Roman, sondern eine Liebesgeschichte mit leicht politisch gefärbtem Hintergrund“ (Sebestyén in Anonym, 1957a). Auch in einer Aussage in der Wochenpresse betonte er das Literarische: „Ich wollte erst etwas Distanz erwerben [den Großteil des Romans schrieb und vollendete er in Österreich], die meiner Meinung nach zum richtigen Erzählen gehört“ (Sebestyén in Anonym, 1957b). Sebestyén versuchte sich einem ausschließlich politischen Interesse, das seiner Literatur entgegengebracht wurde, zu entziehen. Das Politische und Ästhetische scheinen einander auszuschließen. „Authentizität“ ist jedoch für die LeserInnen ein wesentlicher Anreiz für die Lektüre des Textes. Erika Hanel selbst vermittelte das Buch lobend mit dem Befund, es habe „das Gewicht der Authentizität“, denn es sei „von der anspruchsvollen Reportage nicht ganz entfernt“;43 das heißt, authentisch meint immer die Nähe des Autors zum Erlebten. Doch genau dies könnte als negativ, zuungunsten des Textes, ausgelegt werden. Als etwa der Desch Verlag die Lizenzen für eine Taschenbuchausgabe von Die Türen schließen sich 1965 an den Wilhelm Goldmann Verlag vermitteln wollte, kam es zur Absage mit folgender Begründung: Wir haben das Buch inzwischen geprüft. Wir haben den Eindruck gewonnen, daß die geringe Distanz des Autors zum Geschehen in Ungarn dem Buch nicht eben zum Vorteil gereicht. Deshalb möchten wir von einer Taschenbuchausgabe, deren Erfolg uns auch etwas zweifelhaft erscheint, absehen.44

Eine ähnliche Rückmeldung auf das Manuskript kam von einem Londoner Verlagshaus: I fear that just because the book is so documentary and so full of fascinating fact it may miss as a novel. In other words, had you been able to write a true non-fictional autobiographical book, which would have been reviewed by serious critics and students of politics, it would have been an undoubted success as a piece of documentary non-fiction of zeitgeschichte. As it is, it would have to be sold as a novel and judged as a novel, and there I feel, first, that what I

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Brief vom 17. Mai 1957 von E. Hanel an H. Kindler, NL Sebestyén, LIT ÖNB. Brief von Wilhelm Goldmann Verlag in München an H. J. Mundt (Bezug nehmend auf eine Korrespondenz vom 8. November 1965), NL Sebestyén, LIT ÖNB.

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have read so far is inconclusive, and, second, that it is too much in the nature of documentary reportage.45

Wie etwa Wiebke Sievers anschaulich anhand der Autorinnen Herta Müller und Monika Maron zeigt (Sievers, 2007a, 299–316; 2007b), hängt die Rezeption eines Buches auch immer vom kulturellen Kontext ab. Was als „authentisch“ gehandelt wird, bestimmen die jeweiligen KritikerInnen und die unterschiedlichen Veröffentlichungsstrategien der Verlagshäuser. Sebestyéns Debütroman erschien nicht nur auf dem deutschsprachigen Markt; er wurde darüber hinaus ins Englische für den amerikanischen und britischen Buchmarkt übersetzt.46 Beide Ausgaben betonen – nicht nur in Bezug auf ihre Covergestaltung – das politische Moment des Romans (Sebestyén, 1958a, 1958b). Auf dem englischen Cover prangt in blutroter Schrift „The Doors are Closing“. Für die New Yorker Ausgabe wählte der Verlag den geänderten Titel „Moment of Triumph“ und fügte hinzu: „A Novel of Love Amid Sudden Death During Hungary’s Battle for Freedom“. Kam im März 1957 die Absage des Londoner Verlagshauses George Weidenfeld & Nicolson mit der Begründung, Die Türen schließen sich lese sich mehr wie eine dokumentarische Reportage denn wie ein Roman, so positionierten und vermarkteten die beiden anderen Verlage Angus and Robertson (London) und Harcourt, Brace & World (New York) ihre englischsprachigen Übersetzungen genau unter diesem Gesichtspunkt. Der politische Hintergrund des Ungarnaufstandes war wesentlich für Verlagsmarketing und Rezeption der beiden englischsprachigen Ausgaben. Deutlich wird mit Blick auf die Rezeption des Debütromans, dass Sebestyéns durchaus kritische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus auf Wohlwollen stößt – sowohl im antikommunistischen Umfeld, in dem sich Sebestyén in Wien bewegte und das die deutschsprachige Rezeption bestimmte, als auch im englischsprachigen Raum, der den Ereignissen um den Ungarnaufstand großes Interesse entgegenbrachte. Die Türen schließen sich ist meiner Ansicht nach, gemeinsam mit Thennberg oder Versuch einer Heimkehr (1969), Sebestyéns politischster Roman, bzw. in ihm nimmt er wohl am offenkundigsten Stellung zu einem zeitpolitischen Thema. Auch sein späteres kulturpolitisches Engagement für ein übernationa45 46

Brief vom 28. März 1957 von G. Weidenfeld (George Weidenfeld & Nicolson limited, Publishers, London) an G. Sebestyén, NL Sebestyén, LIT ÖNB. Auch andere Bücher von Sebestyén fanden zu einem englischsprachigen Publikum: Thennberg or Seeking to Go Home Again (Sebestyén, 1995), A Man Too White (Sebestyén, 1993) und The Works of Solitude (Sebestyén, 1991).

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les „Mitteleuropa“ wird in diesem Roman bereits angedeutet. In nachfolgenden Romanen spielt der Ungarnaufstand keine Rolle mehr. Sebestyéns Abwendung von politischen Themen bzw. der aktuellen Zeitgeschichte könnte mit der Aufnahme seines Romans und der Reaktion auf diesen zusammenhängen; wie sich zeigte, nahm die Rezeption den Roman mehr als „zeitgeschichtliches Dokument“ denn als literarischen Text wahr. Sebestyén wendet sich zunehmend „menschlichen“, überhistorischen Themen zu und engagiert sich verstärkt für „Mitteleuropa“.

Rückkehr in die „Heimat Mitteleuropa“ In einem Brief vom 31. Juli 1973 an Hans J. Mundt schreibt Sebestyén resignierend und anklagend, damit aber gleichzeitig eine neue Periode seines kulturpolitischen Schaffens einleitend: [D]ie allgemeine geistige Atmosphäre in Deutschland [ist] schuld daran, dass meine Bücher nicht verkauft wurden, dass mein Stück vorläufig kein breites Echo gefunden hat. […] Die geistige Lage in Deutschland ist barbarisch, ist im höchsten Masse inhuman, ist die düstere Lage des geistigen Verzichtes, des siegreichen Untergangs, ist ein Triumph des Masochismus durch Unterordnung des Menschen unter die Ideologie, kurzum: Der mörderische Kategorische Imperativ der deutschen idealistischen Philosophie ist zur Ware geworden. Zum Modeartikel. Und das grosse Geschäft tarnt sich auf diese Weise gut, hüllt sich in den Schafspelz der Ideale. Ich kann an dieser Allianz zwischen Geschäft und Ideologie nur krepieren. Und deshalb musste ich nach einer Lösung schauen, die mich unabhängig machte von der geistigen Lage in Deutschland. Diese Lösung ergab sich sowohl geistig wie (möglicherweise) auch finanziell in einer bewussten Rückkehr nach Mitteleuropa. In meine Welt. Hier bin ich zu Hause, hier will man mich, versteht man mich, hier denkt man noch konkret. Hier bleibe ich. Die Arbeit der nächsten vierzig Jahre kann hier fruchtbarer werden.47

Die „geistige Lage in Deutschland“ wurde politisch von linken, sozialistischen Idealen der 68er StudentInnenbewegung getragen. Für Sebestyén hatten die Protestbewegungen einen „reaktionären Charakter“, und so schrieb er 1968 aus seiner mittlerweile wertkonservativen Haltung heraus: Ich habe den Eindruck, ein Teil der deutschen Intellektuellen ist dabei, verrückt zu werden. Ich war lange genug Kommunist, um zu wissen, worum es hier geht – es ist höchste Zeit, eine 47

Brief vom 31. Juli 1973 von G. Sebestyén an H. J. Mundt, NL Sebestyén, LIT ÖNB.

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ohnehin schwache Demokratie, einen ohnehin gefährdeten Fortschritt gegen die Ausbrüche eines zutiefst regressiven romantischen Antikapitalismus zu verteidigen.48

Neben den studentischen Protestbewegungen war dies jedoch auch die Zeit der Rote Armee Fraktion, die linksterroristische Anschläge in Deutschland verübte und so die „geistige Lage“ des Landes mitbestimmte. Linken Bewegungen konnte Sebestyén, obwohl in seiner Jugend selbst von kommunistischen Idealen geprägt, nichts mehr abgewinnen. In seinen journalistischen Beiträgen äußerte er sich wiederholt kritisch gegenüber diesen (Sebestyén, 1975a). 1973, als Sebestyén seine „Rückkehr nach Mitteleuropa“ ankündigte, war auch jene Zeit, als Kurt Desch seinen Verlag, der in finanzielle Schwierigkeiten war, verkaufen musste und es für Sebestyén daher keine Publikationsmöglichkeit mehr in Deutschland gab. Sich einen neuen Verlag in Deutschland zu suchen schien keine Option, denn Sebestyén spürte den starken Konkurrenzdruck am deutschen Buchmarkt, in dem er sich als Autor nicht behaupten konnte. Wie ich bereits an anderer Stelle feststellte, knüpfte Sebestyén in seinem literarischen Schreiben nicht an die („moderne“) Gegenwart an. Doch genau dies ist für junge, noch unbekannte AutorInnen, die im literarischen Feld Fuß fassen möchten, wichtig. „The success of newcomers to literary space and time in breaking into the ranks of the established moderns […] therefore depends to some extent on their familiarity with the most recent innovations in form and technique“ (Casanova, 2007, 91). Pascale Casanova spricht von „[t]he necessity of being up-to-date in order to obtain recognition“. Literarisch-thematisch und formal ist Sebestyén kein „moderner“ Autor. Octavio Paz erzählte in seiner Literaturnobelpreisrede mit dem Titel „In Search of the Present“ (1990) von einer Zeit-Raum-Verschiebung, die er als Schriftsteller erfuhr: „I did not inhabit the present […] real time was somewhere else“. Sebestyén knüpfte literarisch eher an die Tradition des alten Habsburgerreiches denn an die Moden der Gegenwart an.49 Als Konsequenz des Nicht-beheimatet-Seins im Jetzt und des steigenden finanziellen Drucks (so musste er einen neuen Verlag finden) zog er sich vom bundesdeutschen in den österreichischen regionalen Raum zurück. Sebestyén engagierte 48 49

Brief vom 27. September 1968 von G. Sebestyén an Dr. Zehm (Tageszeitung Die Welt), NL Sebestyén, LIT ÖNB. Eine Ausnahme bildet der, meiner Meinung nach unterschätzte, Roman Thennberg oder Versuch einer Heimkehr (1969). Die zeitgenössische Rezeption Ende der 1960er Jahre vermochte den gesellschaftskritischen Ton der Erzählung und Sebestyéns feinfühlige Schilderung der österreichischen Nachkriegsatmosphäre nicht wahrzunehmen. Diese wurden erst bei der Neuauflage 2010 Teil der Rezeption(vgl. Schwaiger 2016).

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sich seit Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre verstärkt für den kulturellen Raum „Mitteleuropa“. Er gründete etwa 1972 die Zeitschrift Pannonia, ein Magazin für europäische Zusammenarbeit mit Redaktionssitz im burgenländischen Eisenstadt, und 1976 die niederösterreichische Kulturzeitschrift morgen. Sebestyén war also nicht nur als Autor, sondern auch als Journalist, Übersetzer, Kulturvermittler und -förderer tätig. Für ihn war der mitteleuropäische Raum kein abstrakter Gedanke, sondern, wie für Milo Dor (1996), Wirklichkeit.

Zusammenfassung Als Autor, der mit seiner ungarischen Herkunft an das kulturelle Erbe der Monarchie anzuknüpfen vermochte und der sich in seinem Debütroman kritisch mit dem Kommunismus auseinandersetzte, fand Sebestyén rasch Anschluss an literarische Netzwerke – wie den P. E. N.-Club und den Kurt Desch Verlag. Sebestyéns Migrationsbiografie stellte in den 1950er Jahren kein Hindernis für seine „literarische Integration“ im deutschsprachigen Raum dar. Teil der „literarischen Integration“ war jedoch auch eine Anpassung an bzw. Unterordnung unter das sprachliche Paradigma des Deutschen. Briefwechsel aus der Zeit zeigen, wie sich Sebestyén, mithilfe von FreundInnen und KollegInnen, um ein korrektes Deutsch bemühte. Dabei spiegelte sich kein kreativer, sprachspielerischer Umgang mit der deutschen Sprache wider, sondern vielmehr ein sprachlich normiertes Sprechen und Schreiben. Als Titel dieses Aufsatzes wurde „Ankunft eines Barbaren“ gewählt, da meiner Ansicht nach die Vieldeutigkeit der Metapher des „Barbaren“, die unter anderem für einen Außenseiter, einen Fremden und einen Sonderling steht, Sebestyéns Werk und auch seine Autor-Positionierung bzw. -Werdung begleitet – auch in der Hinsicht, dass er sich vom Status eines Außenseiters (eines „Flüchtlings“ und „Emigranten“) abzugrenzen versuchte. Aus der Perspektive eines Außenseiters schilderte er in seinem ersten Feuilletonbeitrag seine Eindrücke in Wien. Trotz seiner selbstverständlichen Aufnahme in den Literaturbetrieb fühlte sich Sebestyén auch als Schreibender zunehmend als „Außenseiter“, nicht weil er Zuwanderer war, sondern weil die Anerkennung und der ökonomische Erfolg ausblieben. Zusätzlich befremdeten ihn die Veränderungen in Deutschland, sodass er sich ab den 1970er Jahren aus dem bundesdeutschen in den österreichischen Raum, so auch zu österreichischen Verlagen, zurückzog und sich verstärkt für ein vereintes „Mitteleuropa“ starkmachte.

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Vom Ausloten der Freiheit: Seher Çakır Die türkische Immigration nach Österreich reicht bis in die 1960er Jahre zurück, und die Gruppe der türkischen ZuwanderInnen stellt heute die zweitgrößte in Österreich dar (Sievers, Ataç und Schnell, 2014, 265). Dennoch sind aus ihr kaum AutorInnen hervorgegangen bzw. bekannt geworden (Sievers und Vlasta, 2017). Neben Kundeyt Şurdum und Şerafettin Yıldız, die in den späten 1980ern mit Gedichtbänden an die Öffentlichkeit traten, zählt Seher Çakır zu den präsentesten AutorInnen unter den aus der Türkei zugewanderten SchriftstellerInnen Österreichs. Çakır veröffentlichte 1999 eine Kurzgeschichte in der ersten Anthologie, die auf die Existenz von zugewanderten AutorInnen nichtdeutscher Erstsprache in Österreich aufmerksam machen wollte (Çakır, 1999). 2005 gewann sie den zweiten Preis „schreiben zwischen den kulturen“ für ihre Erzählung „Hannas Briefe“ (Çakır, 2005a). Neben weiteren Texten in Anthologien und Zeitschriften sind ein Gedichtband (Mittwochgedichte, 2005) und zwei Erzählbände (zitronenkuchen für die sechsundfünfzigste frau, 2009, und ich bin das festland, 2012) erschienen. Die Autorin tritt mit einer gewissen Regelmäßigkeit bei Lesungen und Veranstaltungen auf. Ihr Werk und ihre Person werden durchaus wahrgenommen, allerdings nicht unbedingt durch den ‚klassischen‘ österreichischen Literaturbetrieb im engeren Sinne. Ihre Literatur wird fast ausschließlich im Rahmen von Publikationen zur Thematik Migration/Integration veröffentlicht und rezipiert. Die Literaturwissenschaft, deren Fokus seit der Jahrtausendwende zunehmend auf das Thema Migration fällt, hat sich ihrer Werke kaum angenommen. Die wenigen Arbeiten widmen sich der Autorin vor allem im Kontext ihres Verlages, der edition exil (Schwaiger, 2016; Strasser, 2011), bzw. fokussieren mehr auf mögliche theoretische Zugänge zu ihren Werken, wie postkoloniale Literaturtheorie und Intersektionalität, als auf die Texte selbst (Grubich, 2013). Detaillierte Analysen zu ihren Werken finden sich nur wenige (Schörkhuber, ohne Jahr; Schwaiger, 2016, 150–153). An ihrer Literatur und deren Wahrnehmung lassen sich deswegen Grenzen aufzeigen. Es sind Grenzen, die ihre Literatur betreffen, die etwa trotz der mehrsprachigen Existenz der Autorin zu überwiegenden Teilen einsprachig bleibt. Aber auch Grenzen des österreichischen Literaturbetriebs, dessen fast ausschließliche (und ausschließende) Deutschsprachigkeit auf das Werk zurückwirkt. Zugleich ist es der Betrieb, in dessen elitären, ‚literarischen‘ Teil die Autorin und ihr Werk keine Aufnahme finden.

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Im Folgenden werden zunächst die Hierarchisierungen und Grenzen beschrieben, unter denen sich die Mehrsprachigkeit der Autorin vor allem in ihrem Schulbesuch herausbildete. Die Priorisierung des Deutschen und die Missachtung der Muttersprache schränkte Çakırs Mehrsprachigkeit ein, die zwar Teil ihres alltäglichen Lebens, aber kaum ihrer Literatur ist. Das selektive Bildungswesen führte zudem dazu, dass die Autorin nicht über jene Bildung verfügt, die für den Zugang zum ‚klassischen‘ Literaturbetrieb vorausgesetzt wird. Zumindest haben alle zugewanderten AutorInnen, die in Österreich einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht haben, studiert (Sievers, 2014), Çakır dagegen machte nach dem Hauptschulabschluss und einem Jahr Handelsschule eine Lehre. Çakırs Weg in die Literatur führte dann auch nicht über die klassischen Zeitschriften und Verlage, wie ich im anschließenden Abschnitt zeigen werde, sondern basiert auf einem Netzwerk von Personen und Institutionen, die eher durch politisches Engagement gegen Rassismus und für Teilhabe und Mitbestimmung geprägt sind, als dass sie dem ‚klassischen‘ Literaturbetrieb zugeordnet werden können. Der Zugang zu diesem scheint ihr verwehrt zu bleiben, was das Überleben als Autorin erschwert. Anschließend geht es um Çakırs Wahrnehmung durch Verlage und ihre Rezeption, die beide stark auf ihre türkische Herkunft begrenzt sind. Gleichzeitig wird ihre Auseinandersetzung mit Tabuthemen wie patriarchale Gewalt, Zwangsheirat oder Ehrenmord von RezensentInnen kritisch gesehen, stellt sie doch damit die türkischen ZuwanderInnen in ein negatives Licht. In der Interpretation ihrer Werke im folgenden Abschnitt wird Çakır dagegen als engagierte Autorin gelesen, die Ungerechtigkeit und Gewalt nicht nur darstellt, sondern auf Veränderung der Zustände abzielt. Abschließend soll es um die Mehrsprachigkeit ihrer Werke gehen, wobei sowohl deren Grenzen als auch deren Potenziale angesprochen werden.

Eine mehrsprachige Biografie Wer mit Seher Çakır spricht, gerät in den Bann einer wohldosierten Mehrsprachigkeit.1 Die Autorin liebt ihre vier Sprachen (Türkisch, Deutsch, Englisch, BKS) und scheut nicht davor zurück, sie anzuwenden, ohne dabei ihr Gegenüber aus den Augen zu verlieren. Unvermittelt flicht sie englische Sätze oder Ausrufe ein, mit Hingabe verliert sie sich in die Erklärung von Übersetzungs1

Diese Aussage basiert auf einem Interview, das der Verfasser am 15. Februar 2015 in Wien mit der Autorin führte. Passagen aus diesem Gespräch werden im Folgenden unter dem Kürzel Interview zitiert.

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und Sprachdetails des Türkischen. Ein Gespräch mit ihr gleicht einer Einladung zur Mehrsprachigkeit, führt einem Zuhörer wie mir, der weder Türkisch noch BKS versteht und spricht, jedoch auch die Begrenztheit der eigenen Sprachwelt aus Deutsch und Englisch vor Augen. Wie wäre das Gespräch verlaufen, hätten Interviewte und Interviewer alle vier Sprachen geteilt? Der mehrsprachigen Lebenspraxis der Autorin steht ein Werk gegenüber, für das Mehrsprachigkeit allenfalls eine marginale Rolle spielt und das nahezu ausschließlich in deutscher Sprache verfasst ist. In dieser Tatsache spiegelt sich die monolinguale Ausrichtung des österreichischen Literaturbetriebes wider, die auf ein ebenso monolinguales nationalstaatliches Denken zurückgeht, das wiederum in der schulischen Bildung Niederschlag findet. In der folgenden Darstellung des Weges der Autorin zur Mehrsprachigkeit steht deshalb ihr Schulbesuch im Mittelpunkt. Als öffentliche Institution vermittelte die Schule Çakır eine Hierarchisierung von Sprachen, bei der einige (Deutsch, Englisch) deutlich über andere (Türkisch/BKS) gestellt wurden. Bei Eintritt in die österreichische Hauptschule 1983 sprach Çakır noch kein Wort Deutsch und weigerte sich zunächst zehn Monate lang, dies zu tun, weil sie die Sprache „richtig sprechen“ wollte (Stippinger, 2005, 40). Für die Verständigung mit ihren KlassenkameradInnen war Deutsch ohnehin nicht so relevant: Infolge der starken Selektion, die Kinder mit Migrationshintergrund in weniger angesehene Schultypen drängte (Wintersteiner, 2006, 69–70), schien unter den SchülerInnen Jugoslawisch die größere Rolle zu spielen: „In meiner Klasse waren wir drei, vier Türken, drei Österreicher, ein Ungar, und der Rest war aus Jugoslawien. Da musste man, wenn man nicht ganz beiseitestehen wollte, Jugoslawisch lernen. [...] Ich habe in Österreich als Allererstes das Schimpfen auf Jugoslawisch gelernt“ (Interview). Dies entsprach nicht unbedingt dem Hauptziel des österreichischen Schulsystems der 1980er Jahre, Deutsch als Staatssprache zu vermitteln. Seher Çakır wurde neben dem normalen Unterricht zusammen mit anderen Kindern ohne Deutschkenntnisse zeitweise aus dem Klassenverband separiert und extra unterrichtet – „in einer Art Besenkammerl“, wie die Autorin im Interview sagte. „Es war eine total gemischte Gruppe, Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien, ein Ungar, ein Inder, eine Armenierin aus der Türkei. Wir haben alle Deutsch gelernt und uns auf Deutsch unterhalten“ (Interview). Die internationale Zusammensetzung dieser Gruppe und der Klasse der Autorin spiegelt die multikulturelle Realität wider, die kaum etwas mit der Selbstdefinition des Staates zu tun hatte, der sich bis heute nicht als Einwanderungsland bezeichnen will. Im informellen Umgang der SchülerInnen unterschiedlichster Herkunft entschied schlicht die Mehrheit die Sprachwahl.

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Dass der Deutschunterricht „in einer Art Besenkammerl“ stattfand, illustriert deutlich die Prioritätensetzung des Schulwesens, das von seinen ZuwanderInnen zwar Deutsch forderte, bei der Hilfe zum Erwerb der Sprache aber eher knauserte. Dennoch: Der Bildungshunger der Schülerin traf auf offenbar engagierte Lehrerinnen, an die sich Çakır liebevoll und dankbar erinnert. So schwärmt sie in einem Gespräch von ihrer Deutschlehrerin: „Die Lehrerin werde ich nie vergessen – ein richtiges Engelchen, blonde Locken, jung, frisch aus der Pädak und mit vollem Engagement“ (Stippinger, 2005, 40). Mit der Schulbibliothek und der städtischen Bücherei wurden ihr weitere Möglichkeiten des Deutscherwerbs geboten, die sie intensiv nutzte (Stippinger, 2005, 41). Doch diese Institutionen waren genauso wie der Unterricht nicht darauf ausgelegt, auch den Kompetenzerwerb in ihrer Erstsprache, dem Türkischen, zu steigern. Türkische Bücher waren dort nicht zu bekommen (und machen auch heute noch meist nur einen fast vernachlässigbaren Teil des Bestandes der öffentlichen Bibliotheken aus). Türkisch war auch in ihrer Schule als Fach nicht vorgesehen. Zwar gab es seit den 1970er Jahren muttersprachlichen Unterricht als Schulversuch (de Cillia, 2003, 30). Çakır erreichte dieses Angebot jedoch nicht. Ihr stand lediglich der Religionsunterricht in türkischer Sprache offen, den sie jedoch nicht besuchen wollte, sodass ihre (ohnehin eher säkularen) Eltern sie abmeldeten. Türkisch hatte als Sprache der ArbeitsmigrantInnen nicht genügend Prestige, sprach- und kulturpolitisch wird es, wie auch andere Sprachen von ZuwanderInnengruppen, ignoriert (Kremnitz, 2004, 128). Ihr Türkisch, meint die Autorin im Gespräch, habe sich „nicht weiterentwickelt, ganz im Gegenteil, es wird immer weniger und weniger“ (Interview). Mit „Türkisch“ ist hier die literarische Hochsprache gemeint, zu der Çakır aufgrund ihres durch die Übersiedlung nach Österreich abgebrochenen türkischen Unterrichts nie Zugang gewann. In ihrem Berufs- und Privatleben spielt zwar gesprochenes Türkisch durchaus eine große Rolle; Bücher, die ein älteres Türkisch mit arabischen und persischen Lehnwörtern enthalten, wie sie ihr von ihrem Vater empfohlen wurden, sind ihr jedoch kaum zugänglich (Interview). Neben Deutsch gehört auch Englisch zu den offiziell geförderten und erwünschten Sprachen im österreichischen Schulsystem. Auch für Seher Çakır hat die Sprache ein hohes Prestige: „Wobei ich Englisch liebe, liebe, liebe. Da habe ich mich auch weitergebildet“ (Interview). Englisch ist für sie in seiner Rolle als ‚Lingua franca‘ attraktiv, auch wenn sie feststellen muss, dass selbst diese Sprache nicht universell verständlich ist: Wenn Leute sagen, sie sprechen Schulenglisch, dann denke ich mir: Ah, du kannst genauso gut Englisch wie ich, aber die können nichts, gar nichts. Das wundert mich, weil Englisch so

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eine leichte Sprache ist. Ich finde für jeden, der in Europa lebt, sollte es selbstverständlich sein, dass er in einem englischsprachigen Land zurechtkommt. Das ist aber nicht so. I’m shocked! (Interview)

Die Entscheidung Çakırs für Deutsch als (Haupt-)Sprache ihrer Literatur ist damit eine Anpassung an die monolingualen Gegebenheiten, die ihren Bildungsgang beherrschten und Deutsch zu jener Sprache werden ließen, in der sie sich die meisten Kompetenzen aneignen konnte – und mit der sie in Österreich oder dem deutschsprachigen Raum auf das größere Publikum hoffen durfte. Am Ende der vierten Klasse erwies sich ihre Schule aber auch als Ort der sozialen Selektion: Obwohl Seher Çakır offenbar eine neugierige Schülerin gewesen sein muss, die von Beginn an hohen Wert darauf legte, zum Beispiel Deutsch „richtig“ zu sprechen, meinte eine Lehrerin, „das Gymnasium würde zu schwer für mich werden“ (Stippinger, 2005, 41), sodass sie für kurze Zeit eine Hauswirtschaftsschule besuchte. Infolge des Verkehrstodes ihres Bruders und der darauffolgenden schwierigen und belastenden Familiensituation brach sie den Schulbesuch ab und begann eine Lehre als Einzelhandelskauffrau (Stippinger, 2005, 41). Im Berufsleben waren ihre Türkischkenntnisse durchaus gefragt, bis vor Kurzem arbeitete sie als Beraterin im arbeitsmarktpolitischen Kontext für Frauen mit Migrationshintergrund. Während sich also die Wirtschaftswelt durchaus der sprachlichen Ressourcen von ZuwanderInnen zu bedienen weiß, ist das Bildungssystem weiterhin monolingual ausgerichtet. Eine weiterführende oder universitäre Bildung blieb der Autorin versagt – was sie nicht daran hinderte, sich autodidaktisch weiterzubilden. Den Zugang zum klassischen Literaturbetrieb erleichterte ihr das jedoch nicht.

Ein anderes Netzwerk Das Seher Çakırs Schriftstellerinnenlaufbahn begleitende Netzwerk besteht fast ausschließlich aus Personen und Institutionen, die im Zusammenhang mit Migration oder Integration stehen und durch das Engagement für den Austausch zwischen Kulturen bzw. gegen Rassismus gekennzeichnet sind. Mit dem traditionellen literarischen Verlagswesen gibt es dagegen nur wenige Berührungspunkte. Ihre Texte wurden mit kaum einer Ausnahme in Publikationen veröffentlicht, die auf die eine oder andere Weise eine Verbindung mit ihrer Biografie als zugewanderte Autorin bedingten. Wenn der Verlag edition exil, der sich der Förderung von zugewanderten AutorInnen verschrieben hat, heute als Seher Çakırs Stammverlag bezeichnet werden kann, dann schließt sich damit auf eine gewisse

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Weise auch ein Kreis für die Autorin, denn das Amerlinghaus im Wiener Bezirk Neubau, in dem der Verlag angesiedelt ist, war bereits für die junge Schülerin eine fixe Adresse: Das Amerlinghaus war mein erstes Zuhause, ohne dass die edition exil schon existiert hat. Als ich 1983 nach Österreich gekommen bin, war es ein besetztes Haus, in dem es verschiedenste Vereine gab, türkische, kurdische, türkisch-kurdische, Arbeiter und alle möglichen LinksTypen, wie mein Vater. Er hat uns dort jedes Wochenende hingeschleppt. Ich kenne das Amerlinghaus wie meine Westentasche. Es gab auch Deutschkurse, die wir gemeinsam besucht haben. Ich war immer connected zum Amerlinghaus, und irgendwann habe ich gesehen, dass es den Literaturwettbewerb, „schreiben zwischen den kulturen“ vom verein exil gab. Ich habe immer wieder etwas eingeschickt. (Interview)

Nach der Besetzung des Hauses 1975 wurde 1978 ein Kultur- und Kommunikationszentrum eröffnet. Besonders im Gefolge des Skandals um Kurt Waldheim und des Aufstiegs der FPÖ unter Jörg Haider formierte sich eine kritische Gegenöffentlichkeit, für die das Amerlinghaus eine wichtige Adresse war. Neben den von Çakır beschriebenen und besuchten Initiativen von politisch linken Zuwanderungsgruppen entstand ab Mitte der 1990er Jahre auch eine Schreibwerkstatt des Kulturvereins exil im Amerlinghaus. Mit der Gründung des Preises „schreiben zwischen den kulturen“ ging auch die Gründung des Verlags edition exil durch Christa Stippinger einher (Schwaiger, 2016, 23–27). Nicht nur die räumliche Nähe, sondern auch die politische Positionierung des Verlags erleichterte den Anschluss für Seher Çakır, die 2005 einen Preis der edition exil gewann. Doch auch in der Zeit zwischen ihren ersten Besuchen im Amerlinghaus als Schülerin und ihrer Wiederkehr als Autorin sollte die Sozialisierung in politisch eher linke Kreise, in denen sich neben ihr auch weitere ZuwanderInnen fanden, das Netzwerk bestimmen, das ihre schriftstellerische Laufbahn begleiten sollte. Ihre erste, leider nicht mehr greifbare Veröffentlichung eines literarischen Textes2 ergab sich aus dem Besuch einer „Babykrabbelwindelstillgruppe“, wie 2

Çakırs erste Veröffentlichung im weiteren Sinne war ein Bild in der Jugendzeitschrift My Way, gegründet von Peter Michael Lingens und gefördert von der Bank Austria. Die Zeitschrift bot in den Jahren 1989–1993 eine sehr niederschwellige Chance für junge AutorInnen und KünstlerInnen erste Werke zu veröffentlichen. Die Rolle von Jugendzeitschriften für die ersten Schritte von LiteratInnen ist bisher noch kaum erforscht, die zwei großen Projekte zu Literaturzeitschriften – Handbuch österreichischer und Südtiroler Literaturzeitschriften 1970–2004 (Esterhammer, Gaigg, Köhle und Abfalterer, 2008) und Literaturzeitschriften in Österreich 1945–1990 (Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, 2007–2010) – klammern diese Publikationen leider aus.

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es die Schriftstellerin formulierte, deren Leiterin eine Zeitschrift zum Themenkreis „Multikultibauchtanzorientsomethinglikethat“ (Interview) herausgab. Çakır gab ihr eine frühe Version ihrer Erzählung „Hannas Briefe“, die später mit einem Preis im Schreibwettbewerb „schreiben zwischen den kulturen“ gewürdigt werden sollte: „Es hat ihr wahnsinnig gut gefallen, und sie fand das superkritisch, und das muss einfach publiziert werden“ (Interview). Wichtiger war jedoch ihre Freundschaft mit Nael Balaawi, einem palästinensischen Autor, über den sie 1998 auf dem Symposion „Wir und die Anderen“3 Helmuth Niederle kennenlernte. Niederle war gerade auf der Suche nach AutorInnen für Die Fremde in mir (Niederle, 1999), eine der ersten Anthologien, die SchriftstellerInnen nichtdeutscher Erstsprache in Österreich versammelten, um diese ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken – auch dies eine Initiative, die durchaus als Zeichen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gedacht war, wobei mit der Aufnahme von österreichischen autochthonen Minderheiten auf die bereits historische Diversität Österreichs aufmerksam gemacht wurde.4 Çakır bezeichnet dieses Treffen als ihre „erste Begegnung mit der professionellen Veröffentlichungsszene“ (Interview); im sehr umfassenden Band erschien ihre Erzählung „Sechsundfünfzigste Frau“ neben Beiträgen von genau 100 anderen AutorInnen. Für Çakır bedeutet diese Veröffentlichung eine Art Initiation in den Literaturbetrieb: Nachdem er das veröffentlicht hat, habe ich mir gedacht: Cool ey, das heißt, ich kanns. Es ist nicht nur mein damaliger Mann, der sagt: Du bist gut, und meine Schwester und meine Mutter, sondern das ist ein professionelles Buch, und der hat meine Geschichte genommen. Jede Veröffentlichung war eine Bestätigung und eine Motivation. (Interview)

Auch die Veröffentlichung von zwei Erzählungen, „Das Weggehen“ und „Ein anderer Tag“, in Eure Sprache ist nicht meine Sprache im Milena Verlag (Cakır, 2002) verdankt sich deutlich dem neu erwachten Interesse an Beiträgen von zugewanderten AutorInnen. Der Verlag schaltete dazu im Vorfeld einen Aufruf, der auch die politische Seite des Engagements deutlich hervortreten lässt: 3 4

Das Symposion war den Themen Islam, Literatur und Migration gewidmet (Dostal, Niederle und Wernhart, 1999). Die Fremde in mir sollte im österreichischen Parlament vorgestellt werden. Als einer der Autoren im Gefolge der sogenannten „Operation Spring“ als Drogenboss inhaftiert und angeklagt wurde, wobei sich die Vorwürfe nicht erhärten ließen, wurde die Präsentation des Bandes im Parlament abgesagt (Sievers und Vlasta, 2017).

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Der Milena Verlag plant die Herausgabe eines Sammelbandes unter dem oben stehenden Arbeitstitel, in dem Migrantinnen, Frauen/Lesben der zweiten Generation, Angehörige unterschiedlicher nationaler/ethnischer Herkunft, Projektmitarbeiterinnen, Aktivistinnen und andere Raum finden, über ihr Leben hier in Österreich, von ihrer politischen Arbeit, ihren Forderungen an die Gesellschaft, ihren Zielen und Utopien zu erzählen. Mit dieser Publikation wollen die Milena-Frauen dazu beitragen, dem Wirken dieser Frauen ein Stück mehr Öffentlichkeit zu schaffen. (Anonym, 2001)

Zunächst folgten jedoch nur vereinzelt weitere Veröffentlichungen in literarischen Anthologien. 2003 erschien ein Gedicht in Nationalbibliothek des deutschsprachigen Gedichtes – Ausgewählte Werke, Band VI (Çakır, 2003), einem Band einer gewinnorientierten Reihe, deren Ziel vor allem eine möglichst große Anzahl von BeiträgerInnen war.5 Weitere Gedichte wurden 2004 in „heim.at“ (Burgaz Projekt, Burgas Projesi und Dağdevir, 2004) publiziert (Çakır, 2004b), einem Sammelband mit Gedichten von MigrantInnen aus der Türkei in Österreich. Diese Publikation erschien beim EYE Verlag, der mit seinem Schwerpunkt auf der Literatur der von ihm so bezeichneten „Kleinen Völker“ ( Juden, Jenische, Roma und Sinti, „Gastarbeiter“ usw.) wieder dem allgemeinen Charakter von Çakırs Netzwerk entspricht. Der Verlagsleiter Gerald Kurdoğlu Nitsche nahm seinen türkischen Zweitnahmen 1993 aus Protest gegen Fremdenfeindlichkeit an (Literaturhaus Wien, 2000). Çakırs Hauptprojekt in jenen Jahren war aber die Zeitschrift Öneri, die sie 2000 nach einer durch ihre Schwester vermittelten Bekanntschaft mit dem Schriftsteller und Journalisten Hüseyin Şimşek mit diesem zusammen gegründet hatte. Anfangs noch als Kopie verteilt, erreichte die Zeitschrift mit der Leitlinie „antidiskriminierend, antisexistisch und antirassistisch“ 2004 eine Auflage von 3500 Stück (Maurnböck-Mosser, ohne Jahr). Damit stand ihr eine Plattform zur Verfügung, auf der sie allerdings weniger literarische als vielmehr journalistische Texte veröffentlichen konnte. Sie führte Interviews mit SchriftstellerInnen wie Kıymet Aslan (Çakır, 2005b) oder Tarek Eltayeb (Çakır, 2000a) und stellte AutorInnen wie Feridun Zaimoglu (Çakır, 2005d) oder Elfriede Jelinek (Çakır, 2004c) vor. In unregelmäßig erscheinenden Kolumnen äußerte sie sich zu politischen Themen, wie zum Beispiel der Wahl Obamas zum Präsidenten (Çakır, 2009b), und zu gesellschaftspolitischen Angelegenheiten wie der ‚Kopftuchfrage‘ (Çakır, 2004a) oder dem Feminismus (Çakır, 2009a). 5

Das mittlerweile seine 17. Buchpublikation vorbereitende Projekt des Realis Verlages verfolgt vor allem finanzielle Ziele: Den AutorInnen werden gegen Bezahlung (mehr oder weniger wertlose) Gutachten zu ihren Texten angeboten (Moritz, 2005).

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Ihre vereinzelten literarischen Beiträge, wie zum Beispiel eine frühe Fassung der Erzählung „Sechsundfünfzigste Frau“ (Çakır, 2000b), präsentierten sie dem Publikum der Zeitschrift als Autorin, ebenso wird in mehreren Artikeln auf Veröffentlichungen von ihr hingewiesen. In Öneri waren die Beiträge im Allgemeinen in Türkisch oder Deutsch abgedruckt, die Artikel von Çakır erschienen jedoch vorwiegend auf Deutsch. Der organisatorische und redaktionelle Aufwand dürfte nicht unbeträchtlich gewesen sein, und als auch noch Differenzen über die politische Ausrichtung der Zeitschrift entstanden, beendete die Autorin ihre Mitarbeit. Ihre erste eigenständige Buchpublikation verdankte Seher Çakır einem Treffen mit Hans Schiler, Eigner eines Verlages unter seinem Namen, auf der Frankfurter Buchmesse, bei dem sie ihm ihre Gedichte anbot. Schiler griff jedoch erst nach der Neugründung des Verlages nach vorangegangenem Konkurs auf ihre Texte zurück. 2005 erschienen die Mittwochgedichte in dem auf Literatur aus dem arabischen bzw. islamischen Raum spezialisierten Kleinverlag, den Schiler bereits 1977 gegründet hatte: „Die Konzeption bestand darin, einen kulturellen Raum zu schaffen, in dem eine Begegnung, ein Austausch zwischen Europa und dem Orient, der arabischen, persischen, türkischen und indischen Welt möglich werden sollte“ (Burgmer, 2002). Der seit der Verlagsgründung vor allem wissenschaftliche Dialog sollte nach der Neugründung durch Beiträge von MigrationsautorInnen erweitert werden. Auch wenn dieses Engagement nur eine Nebenschiene im Verlagsprogramm blieb, passt der Verlag damit sehr gut in das literarische Netzwerk Çakırs. Im selben Jahr, in dem ihre Mittwochgedichte erschienen, erhielt Çakır, wie schon erwähnt, auch den zweiten Preis des Literaturpreises „schreiben zwischen den kulturen“. Der Preis war Çakırs Eintrittskarte in den Kreis der von Christa Stippinger geförderten AutorInnen: Sie nahm an deren Schreibwerkstatt teil, veröffentlichte in den folgenden Jahren die zwei Erzählbände zitronenkuchen für die sechsundfünfzigste frau (Çakır, 2009c) und ich bin das festland (Çakır, 2012) in der edition exil sowie über Vermittlung Stippingers literarische oder essayistische Beiträge in Zeitschriften und Anthologien. Eine weitere Folge war die Beteiligung von Çakır an den wiener wortstaetten, einer Theaterinitiative, in deren Rahmen Stücke von zugewanderten AutorInnen aufgeführt und in Sammelbänden publiziert wurden. 2008 erschien in einem davon ihr Stück „Sevim und Savaş oder Liebe und Kampf “ (Çakır, 2008). Stippinger ermöglichte ihr auch die Teilnahme an einer Reihe von Lesungen. Seher Çakır war 2007 schließlich selbst in der Jury für den Preis „schreiben zwischen den kulturen“ und verfasste das Vorwort der Anthologie der PreisträgerInnen (Çakır, 2007). Für die Schriftstellerin ist die edition exil, die für AutorInnen wie Dimitré Dinev oder

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Julya Rabinowich eine Art „Sprungbrett“ war (Schwaiger, 2016), der Stammverlag geworden. Auch ihr nächster Erzählband soll in diesem Verlag erscheinen.

Zur Wahrnehmung der Autorin Seher Çakır wird vom klassischen österreichischen Literaturbetrieb kaum wahrgenommen. Ihre Texte werden nicht in den ‚großen‘ österreichischen Literaturzeitschriften veröffentlicht, ihre Werke erscheinen nicht bei bekannten österreichischen Verlagen und werden nicht im Feuilleton besprochen. Rezensionen zu ihren Werken stehen fast ausnahmslos im Kontext von Migration/Integration, also in Abschnitten von Zeitungen oder in Publikationen, die explizit dieser Thematik gewidmet sind. Innerhalb dieses im literarischen Betrieb marginalisierten Bereichs des Feldes wird Çakır vor allem eine im positiven Sinne repräsentative Rolle zugesprochen. So beschrieb Christa Stippinger von der edition exil ihre Autorin als Identifikationsfigur: Seher Çakir [sic] könnte auf jeden Fall für junge Türk(inn)en eine wichtige Identifikationsfigur werden – vor allem ein weibliches, emanzipiertes Vorbild für türkische Frauen. Und es ist auch nicht unwichtig, dass türkische Männer sehen, da gibt es eine junge, tüchtige Frau, die etwas erreicht – eine Frau, die sich als Intellektuelle profiliert. (keine ! delikatessen, 2009, 34)

Genau diese Rolle scheint sie zum Teil für ihre LeserInnen auch zu übernehmen, wie Äußerungen von SchülerInnen einer Handelsschule, die die Autorin für eine Lesung mit anschließender Diskussion besuchte, belegen: Der Besuch von Seher Cakir [sic] hat mir gut gefallen, Sie glaubt nur an sich selbst, sie macht ihre Regeln. Ich finde, dass sie Recht hat, man muss auch selber entscheiden können. Hilal [...] Seher Cakir [sic] ist eine freie Frau. Döndü (Schulen des bfi Wien, ohne Jahr)

Doch diese repräsentative Rolle kann auch zur Last werden, wie Kobena Mercer erläuterte, denn sie kann dazu führen, dass zugewanderte AutorInnen auf ihre Herkunft reduziert werden, insbesondere dann, wenn nur wenigen von ihnen der Durchbruch gelingt, wie es für die türkischen ZuwanderInnen in Österreich der Fall ist (Mercer, 1990, vgl. auch Sievers, Grenzüberschreitungen und

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Englerth zu Ferra in diesem Band). Unter diesen Umständen werden von zugewanderten AutorInnen authentische Einblicke in das Leben der jeweiligen Minderheit erwartet, was wiederum dazu führt, dass ihre Werke nicht als Kunst, sondern als soziologische Dokumente gelesen werden. Gleichzeitig werden negative Aussagen über die Minderheit oft kritisch gesehen, weil sie der Gruppe als Ganzem schaden könnten. Genau das zeigt sich auch an Çakırs Wahrnehmung im literarischen Feld im engeren Sinne, wie im Folgenden erläutert werden soll. Çakır sieht sich aufgrund ihrer türkischen Herkunft in der österreichischen Öffentlichkeit immer wieder mit stereotypen Vorstellungen von Türken konfrontiert. So wurde die Autorin, die sich selbst als säkulare, eher linke Atheistin beschreiben würde (und auch aus einem solchen Elternhause kommt), schon wiederholt zu Symposien mit religiöser Thematik eingeladen, offenbar aus dem Glauben heraus, alle ‚TürkInnen‘ müssten auch etwas zum ‚Islam‘ zu sagen haben. Am auffälligsten wurde dies beim Symposium „Der Islam in der zeitgenössischen Literatur muslimischer Schriftstellerinnen“ 2015 in Hittisau, als sich die Moderatorin nicht davon abbringen ließ, die Autorin als „muslimische Schriftstellerin“ vorzustellen. Im Extremfall scheint Çakırs Herkunft immer noch unvorstellbar zu machen, dass sie eine deutschsprachige Autorin sein könnte: Was aber in die meisten Köpfe noch immer nicht hineingeht, weil alle wollen, dass ich auf Türkisch schreibe. Wer sind alle? Die Menschen, die mir begegnen, seien es Journalisten oder Leser, sagen: Ja, aber Sie schreiben Türkisch und übersetzen das ins Deutsche, oder wer übersetzt es ins Deutsche? (Interview)

Obwohl also mittlerweile viele SchriftstellerInnen nichtdeutscher Erstsprache reüssieren können, scheint im Falle von Seher Çakır ihre Wahrnehmung noch immer vom problematischen Begriff der Muttersprache beeinflusst, den Yasemin Yildiz in seiner historischen Dimension definierte: It [the mother tongue] stands for a unique, irreplaceable, unchangeable biological origin that situates the individual automatically in a kinship network and by extension in the nation. [...] In this view, a writer can become the origin of creative works only with an origin in a mother tongue, itself imagined to originate in a mother. (Yildiz, 2012, 9)

Ein Sprachwechsel ist in dieser Vorstellung nicht vorgesehen und auch nicht möglich. Trotz der Arbeit von LiteraturwissenschaftlerInnen, Verlagen und Zeitschriften, die auf die Existenz und Relevanz von Mehrsprachigkeit bzw.

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Sprachwechsel hinweisen, ist die Autorin weiterhin damit konfrontiert, dass ihr ein Sprachwechsel nicht zugestanden wird. Für die Wahrnehmung in den Medien, die sich zu Çakırs Werken geäußert haben, spielt der Gedanke der fixen Verbindung von ‚Muttersprache‘ und literarischem Können zwar keine Rolle, doch wird auch hier ihre Literatur untrennbar mit ihrer Herkunft verbunden.6 Eine einzige und auch nur kurze Vorstellung im WeiberDiwan verzichtet auf die Herkunftsangabe (mel, 2012). Da es sich vorwiegend um Rezensionen handelt, die nicht im Literaturteil der Zeitungen, sondern auf Seiten stehen, die sich explizit – und meist mit politischer Ausrichtung – den Themen Migration oder ‚Integration‘ widmen, liegt das Hauptaugenmerk auf dem vermittelten Inhalt und weniger bis gar nicht auf den literarischen Qualitäten der Texte. Die Herkunft der Autorin dient dabei der Beglaubigung des Erzählten. So steht in einer Rezension des Literaturhauses Wien zwar: „Seher Cakir [sic] erzählt von jenen Aspekten der türkischen Kultur, die nicht stereotyp verbreitet sind“ (Slunsky, 2012), das angeführte Beispiel von ‚agda‘, einer Mischung aus Zucker und Zitrone zur Ganzkörperenthaarung, bestätigt aber eher Klischees, als sie zu unterlaufen. Auch in einer kurzen Besprechung des Buches in der Presse wird die hauptsächliche Rolle der Autorin als ‚Vermittlerin‘ evident: „Das Herz [von Çakır] fühlt beides: türkisch und deutsch“ (a. h., 2009). Davon abgesehen, dass solche nationalen Fixierungen generell fragwürdig sind (Bhabha, 1994, vgl. dazu auch Sievers, Grenzüberschreitungen in diesem Band), stellt sich hier zusätzlich die Frage, ob die Autorin die Unterstellung, „deutsch“ zu fühlen, nicht grundsätzlich ablehnen würde. Wie schwer die Kategorisierung der Autorin fällt, wird besonders in der Besprechung in Buchkultur offensichtlich: „die Autorin Seher Çakir [sic] ist Türkin. Eine österreichische Türkin oder türkische Österreicherin oder eine junge Frau mit Migrationshintergrund, wie man es bezeichnen will“ (Messner, 2009). Die Möglichkeit, die Autorin, die im Alter von zwölf Jahren nach Wien gekommen und im Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft ist, als ‚österreichische Schriftstellerin‘ zu bezeichnen bzw. überhaupt darauf zu verzichten, weil dies eine für Literatur nicht relevante Kategorie sein könnte, war offenbar für niemanden eine Option. Paradoxerweise war die Autorin für den deutschen Schiler Verlag wiederum zu ‚österreichisch‘. Nach der Publikation der Mittwochgedichte bei Hans Schiler hätte auch Çakırs erster Erzählband in diesem Berliner Verlag erscheinen sol6

Diese Aussage stützt sich auf die folgenden Rezensionen: a. h., 2009; Beig, 2010, 2012; Fasthuber, 2009; mel, 2012; Messner, 2009; Slunsky, 2012; Wagner, 2005. Wer sich hinter den Kürzeln a. h. und mel verbirgt, konnte leider nicht eruiert werden.

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len. Das Vorhaben scheiterte am Bestehen der Autorin auf der österreichischen Sprache, die sie gegen die Eingriffe der LektorInnen verteidigte. Die Schriftstellerin schildert den Konflikt mit ihrer Lektorin: „Was heißt, ich kann nicht herbstelt sagen?“ „Das ist nicht Deutsch.“ „Das ist möglich, dass es nicht Deutschdeutsch ist, aber das ist Österreichischdeutsch, bei uns herbstelts sehr wohl!“ (Interview)

Die Unterscheidung zwischen Deutsch und Österreichisch war Bestandteil ihres Deutscherwerbs in der Schule: Die Bücher kamen aus Deutschland, und die Lehrerin hat immer wieder gesagt: Das ist das, was man in Deutschland sagt. Kartoffel und Erdäpfel und Stuhl und Sessel. Wir sagen hier nicht Stuhl, Stuhl ist was anderes. (Interview)

Der Einfluss der Schule, die über die Hierarchisierung von Sprachen auch an der nationalen Identitätsbildung Anteil hat, ist hier augenfällig. Die daraus resultierende Identifikation mit dem Österreichischen führte bei der Autorin zur Kompromisslosigkeit gegenüber dem deutschen Verlag, die in dieser Weise nicht unbedingt auch von allen AutorInnen mit österreichischer Erstsprache gepflegt wird, bei denen es durchaus Fälle von „vorauseilender Selbstzensur“ gibt (Muhr, 1995, 84–85). Çakır positioniert sich mit ihrer Verweigerungshaltung jedoch klar als österreichische Autorin und wird aus deutscher Sicht, im Gegensatz zu ihrem österreichischen Umfeld, auch so wahrgenommen, allerdings nicht zu ihrem Vorteil. Für die österreichischen Rezensionen war es nicht nur ein Problem, die Autorin ‚einzuordnen‘, auch die Darstellung von patriarchalen Strukturen in ZuwanderInnenkreisen irritierte: Kopftuchträgerinnen, die Unterdrückten ihrer patriarchalen Kultur, werden für die Unterdrückung der Frauen verantwortlich gemacht? Die türkische Frau und Mutter, dargestellt als Zentrum der Familie und Trägerin der – auch allerschrecklichsten und brutalsten – Entscheidungen? Ist das nun Seher Çakirs [sic] Meinung oder die der Protagonistin ihrer Erzählung und gibt es da einen Unterschied? (Messner, 2009)

Dass Çakır in der Erzählung „Hannas Briefe“ Ehrenmord im Milieu von türkischen ZuwanderInnenkreisen thematisiert, überschreitet offenbar für die Rezensentin ein Tabu, wobei sie nicht so weit geht, Çakır explizit zu kritisieren, sondern

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mit den vielen Fragen eher ihrer Verwirrung ob eines solchen Tabubruchs Ausdruck verleiht. Auch Die Presse empfindet das Buch als „schockierend“ (a. h., 2009), begründet das aber kaum und setzt sich überhaupt nur in äußerster Kürze damit auseinander. Çakırs Texte scheinen auf der einen Seite die Erwartungen an die Literatur von ZuwanderInnen zu erfüllen, indem sie von „[t]ürkisch-österreichischen Beziehungsgeflechte[n]“ erzählt, wie Stefan Beig (2012) auf einer Integrationsseite in der Wiener Zeitung schreibt. Dabei liegt die Aufmerksamkeit in allen Rezensionen jedoch auf jenen Geschichten, die eine ‚rein‘ türkische Angelegenheit zu sein scheinen. Auf der anderen Seite erweist sich Çakırs offene Thematisierung von Gewalt in der Türkei oder in ZuwanderInnenkreisen in einigen ihrer Erzählungen als Tabubruch gegenüber einer Erwartungshaltung, die der Literatur von ZuwanderInnen vor allem die Aufgaben zuschreibt, Stereotypen zu durchbrechen bzw. den Dialog zwischen den Kulturen zu fördern. Çakır überschreitet mit ihrer Themenwahl damit offenbar eine Grenze jenes Rahmens, der im österreichischen literarischen Feld für die Darstellung des Lebens von ZuwanderInnen vorgesehen ist (Schwaiger, 2016). Darüber hinaus erweist sich auch ihre Schreibweise als wenig kompatibel mit den Kriterien, die für Literatur der elitären Hochkultur obligatorisch sind. Messner bezeichnet ihre Erzählungen als „leicht lesbar“ und „schnelle, aber nicht ungenaue Skizzen“ (Messner, 2009), für Die Presse kommt „an wenigen Stellen die Erzählkunst ins Stottern“ (a. h., 2009), und auch für Slunsky, deren Rezension auf der Website des Literaturhauses Wien erschien, sind die Texte „in einer modernen, saloppen Sprache, die zuweilen mit türkischen Sprichwörtern, dem Wiener Dialekt oder amerikanischem Slang versetzt ist“ (Slunsky, 2012) gehalten – dies alles Hinweise darauf, dass die Schreibweise der Autorin nicht unbedingt als besonders ‚literarisch‘ oder ‚avanciert‘ eingeschätzt wird und ihre Zugänglichkeit sie von der Zuordnung zur ‚anspruchsvollen‘ Literatur eher ausschließt.

Erzählen von den Möglichkeiten der Freiheit im alltäglichen Leben Wenn es der Rezeption schwer fällt, ein literarisches Werk auch als Literatur wahrzunehmen, kann das natürlich an der mangelnden Qualität der Texte liegen. Eine weitere Möglichkeit ist aber, dass sie sehr wohl über Qualitäten verfügen, die aber von den Kriterien einer ‚klassischen‘ Literaturkritik nicht erfasst werden, auch weil die Texte, wie oben mit Mercer festgestellt, zu wenig als Literatur gelesen werden. Dies trifft auf das Schreiben von Seher Çakır zu. Am Beispiel

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von Texten aus ihren Erzählbänden möchte ich deshalb im Folgenden die speziellen Qualitäten der Literatur der Autorin herausarbeiten. Dabei ist augenscheinlich, dass sich das Erzählen von Çakır weniger an ‚Kunst‘ orientiert, sondern vielmehr aus der Praxis des alltäglichen Lebens kommt. So kann sie im Interview zu nahezu jeder Geschichte eine Art ‚Anlass‘ angeben, eine Begebenheit, einen Auslöser, etwas, das es für sie notwendig machte, zu schreiben. Wenn es um den Beginn ihres Weges zur Schriftstellerin geht, dann ist dieser auch nicht bei der tagebuchschreibenden 13-Jährigen zu setzen, sondern an einem Lebensabschnitt festzumachen, von dem sie wiederholt in Interviews berichtete (Ritzlmayr und Graf, ohne Jahr; Rudle, 2012): Als die Eltern von Seher Çakır das erste Mal ihre Heimat verließen, um in Australien zu arbeiten, ließen sie ihre beiden Töchter bei den Großmüttern in einem Dorf in der Provinz Samsun zurück. Jeden Abend und jeden Morgen erzählte die fünfjährige Seher ihrer jüngeren Schwester Trostgeschichten, „das hat sie gebraucht, sonst hab ich sie nicht aus dem Bett gekriegt“ (Interview). Dem Geschichtenerzählen liegt ein Defizit, das Fehlen der Eltern, zugrunde. Doch das Erzählen selbst erweist sich als eine konkrete Handlungsmöglichkeit, auf dieses Defizit zu reagieren, sich mit der Trauer oder dem Schmerz auseinanderzusetzen und Erklärungen und Antworten zu finden. Nicht nur für die Erzählerin selbst, denn das Erzählen richtet sich bei Çakır immer auch an einen anderen, in diesem Fall an ihre des Trostes bedürftige kleinere Schwester. Erzählen ist hier nicht Kunstform, sondern eine menschliche Reaktion im Alltag. Es ist zugleich ein Ausloten der Möglichkeiten der Freiheit angesichts eines bedrückenden Zustandes, in diesem Fall der Abwesenheit der Eltern. Diese Grunderfahrung des Erzählens als alltägliche Handlung und Möglichkeit der Freiheit findet ihre Fortsetzung im literarischen Werk Seher Çakırs.

„Die Frau meines Vaters“ als Fallstudie

Die hier gezeichneten Grundtendenzen von Çakırs Erzählungen möchte ich anhand der Geschichte „Die Frau meines Vaters“ aus dem Erzählband ich bin das festland exemplarisch herausarbeiten und vertiefen, das heißt, ihr Schreiben als dem Alltäglichen nahestehend, in dem die Möglichkeiten von Freiheit verhandelt werden, nachzeichnen. Dabei steht in dieser Erzählung vor allem der Umgang von Frauen mit dem patriarchalen System im Zentrum und der Versuch, über solidarisches Handeln in diesem System einen eigenen Raum und damit auch ein Stück Freiheit zu gewinnen – eine Dimension von Çakırs Schreiben, auf die auch schon Grubich (2013) hingewiesen hat, allerdings nicht in

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einer detaillierten Analyse einer Erzählung, wie sie hier vorgenommen wird. In dieser Erzählung werden sprachliche und kulturelle Grenzen zwischen den handelnden Personen problemlos überwunden. Auf knappen sieben Seiten wird die Heimkehr eines Gastarbeiters zu seiner Familie in die Türkei aus der Perspektive seiner sechsjährigen Tochter geschildert, die den Vater zuvor nie kennengelernt hat. Dass diese Familie durch die Arbeitsmigration auseinandergerissen wurde bzw. nie im eigentlichen Sinne bestehen konnte, ist aber nur am Rande Thema der Geschichte. Den Angelpunkt liefert eine deutsche Frau, die Geliebte, die der Vater unangekündigt mitgebracht hat. „Niemand wusste, wie sie hieß, weil niemand sie fragen konnte“ (Çakır, 2012, 33), lautet der erste Satz, mit dem die Autorin das Nicht-miteinandersprechen-Können, das dann im Verlauf der Erzählung durch Frauensolidarität überwunden wird, als Thema ihrer Erzählung etabliert. Der Vater klärt seine Familie weder darüber auf, um wen es sich bei der Frau handelt, noch begründet er, warum er diese mitgebracht hat – er neigt generell nicht dazu, seine Handlungen zu erklären, wie die Erzählerin mehrmals hervorhebt. Die Heimkehr mit einer neuen Freundin ist ein patriarchaler Akt, für den die Großmutter seine Frau bedauert: „Oh mein Mädchen, was hat er dir nur angetan? Hätte ich das nur geahnt, hätte ich nie um deine Hand angehalten! Ich hätte lieber Schlangen in die Welt gesetzt als diesen Ungläubigen“ (Çakır, 2012, 38). Durch die Abwesenheit ihres Mannes war seine Frau allein für die Feldarbeit zuständig und zudem bereits Ziel von neuen Bewerbern geworden, hätte aber bei einer Zusage ihr Kind bei der Großmutter lassen müssen: „Aber meine Mutter hatte es sich nicht einreden lassen. Sie hatte mich nicht verlassen. Jetzt hörte sie als letzte, dass ihr Mann zurückgekommen war. Und zwar mit einer zweiten Frau“ (Çakır, 2012, 36). Die Figuren im Buch erwarten vom ersten Zusammentreffen der beiden Frauen des Zurückgekehrten einen Konflikt oder eine Auseinandersetzung. Und auch für die LeserInnen wird von der Erzählung eine solche Spannung aufgebaut. Doch nichts davon geschieht. Stattdessen nahm sie Helga bei der Hand und brachte sie in ihr Ehezimmer. Als sie nach zehn Minuten zusammen wieder in die Wohnküche kamen, war aus Helga eine Kopie meiner Mutter geworden. [...] Meine Mutter hatte ihr einen bodenlagen Rock mit Gummizug und eine lockere Bluse übergezogen und ihre wunderschönen Honighaare unter einem Kopftuch versteckt. (Çakır, 2012, 38)

Wenn die Mutter die Deutsche „bei der Hand“ nimmt, dann handelt es sich um ein für die Erzählungen Çakırs wichtiges Detail. Kommunikation ist bei ihr nie

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auf das Sprechen beschränkt, sondern findet ihren Ausdruck auch in Bewegungen und Gesten – besonders wenn das Sprechen aufgrund einer Sprachbarriere zwischen den Beteiligten nicht möglich ist. Die beiden, die Mutter und ihre „Kopie“, bereiten in der Folge ein Mahl miteinander vor – und auch hier beschreibt die Erzählerin vor allem die nonverbale Kommunikation: Meine Mutter rief sie, wie sie selbst von der Großmutter gerufen wird, „Gelin, Braut“, und gab ihr die Gurken und das Messer in die Hand. Zuerst schnitt sie die Gurken in große Würfel und hielt sie meiner Mutter hin. Die schüttelte den Kopf. [...] Helga schnitt weiter an der Gurke und hielt meiner Mutter ein [...] kleineres Stück unter die Nase, und meine Mutter nickte wohlwollend. Sie hatten angefangen, miteinander zu sprechen. (Çakır, 2012, 38)

Die Kontaktaufnahme beginnt im Rahmen alltäglicher Handlungen, wie des Ankleidens oder des Kochens, und mit der Küche in einem Raum, der zumindest in diesem Zusammenhang als ein ‚Frauen‘-Raum beschrieben werden kann. Beim Eintritt des Vaters, der inzwischen das Café des Dorfes besucht hatte, begrüßt ihn seine Frau, „als ob er nie weggegangen wäre“, und serviert der Familie das Essen. Helga, die den ganzen Abend meine Mutter beobachtet hatte und vermutlich nicht einmal wusste, dass der Mann mit dem sie gekommen war, der Mann dieser Frau war, stand von ihrem Platz auf, ging zu meiner Mutter, [...] nahm sie an der Hand und setzte sie auf den Stuhl, den ich vorhin ihr zugewiesen hatte. Für sich selbst nahm sie einen anderen Stuhl. Das war der Abend, an dem Helga und meine Mutter ihr Schicksal zu teilen begannen. (Çakır, 2012, 39)

Seher Çakır bildet in „Die Frau meines Vaters“ eine patriarchale Realität ab, in der einem Mann der Besitz zweier Frauen erlaubt ist. Frauen erweisen sich als Stützen des Systems, wie die Großmutter, die ihren zurückgekehrten Sohn trotz ihrer Missbilligung seines Verhaltens zuallererst verhätschelt. Und auch die Mutter rebelliert nicht gegen ihren ‚untreuen‘ und ziemlich achtlosen Mann. Zugleich lässt die Autorin die Mutter aber auch nicht in eine vielleicht von westlichen LeserInnen erwartete ‚Opferrolle‘ geraten, noch kommt es zu einer – sogar von den weiteren Figuren der Erzählung offensichtlich befürchteten – Konfrontation. Die Mutter scheint ausschließlich pragmatisch zu handeln, auch indem sie ankündigt: „Morgen nehme ich sie mit aufs Feld [...]. Mir ist jede Hilfe recht“ (Çakır, 2012, 38). Sie lässt eine Bedrohung ihrer Position durch die neue Frau nicht zu, sondern gliedert sie in ihren (Frauen-)Alltag ein. Die patriarchale Verfasstheit des Systems wird dadurch nicht infrage gestellt, ihr Handeln

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ist aber Ausdruck der Solidarität unter Frauen und illustriert die Möglichkeiten einer Selbstbestimmung innerhalb der bestehenden Grenzen. Das Ausloten der Freiheit geschieht hier nicht im offenen Konflikt, sondern erweist sich in einer Symbolik der Aufnahme in die täglichen Handlungen. Die sprachliche Grenze, die der Anfang der Erzählung mit den Worten „Niemand wusste, wie sie hieß, weil niemand sie fragen konnte.“ (Çakır, 2012, 33) so betont, erweist sich als unproblematisch, sie wird von der Mutter wie selbstverständlich überwunden. Doch während die Großmutter die fremde Frau als Hure wahrnimmt und die kindliche Erzählerin von der ‚exotischen‘ Frau aus dem Westen hingerissen ist (Çakır, 2012, 34), nimmt nur die Mutter sie als gleichberechtigte Person wahr und in den Familienkreis auf. Diese Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem Anderen wird von Çakır als eine Option des menschlichen Handelns beschrieben, die Zeichnung dieser Art von Menschlichkeit lässt sie als engagierte Autorin erkennbar werden.

Literatur als Engagement

Engagiertes Schreiben ist auf die Änderung von als unbefriedigend oder schlicht falsch erkannten Zuständen gerichtet. Seher Çakır greift in ihren Erzählungen eine ganze Reihe von schmerzhaften oder tabuisierten Themen auf, wie Zwangsheirat in „Die mit Rosen“ (Çakır, 2009c, 17–30), „Sevim & Savaş“ (Çakır, 2009c, 55–66) und „Hannas Briefe“ (Çakır, 2009c, 91–99), Ehrenmord in „Hannas Briefe“ (Çakır, 2009c, 91–99), patriarchale Gewalt in „Die mit Rosen“ (Çakır, 2009c, 17–30), Selbstmord in „Frühstücksbuffet“ (Çakır, 2012, 109–120), Abtreibung in „Ein anderer Tag“ (Çakır, 2012, 55–59), Kindstötung in „Der Nussbaum“ (Çakır, 2009c, 89), lesbische Beziehungen in „Die mit Rosen“ (Çakır, 2009c, 17–30) und „Donnerstag bis Freitag“ (Çakır, 2009c, 69–75), Masturbation in „Helen und ihre Haut“ (Çakır, 2009c, 77–87), Polygynie in „Die sechsundfünfzigste Frau“ (Çakır, 2009c, 9–15) und „Die Frau meines Vaters“ (Çakır, 2012, 33–39), Rassismus in „Der Tipp des Arztes“ (Çakır, 2012, 23–32) und „Das Weggehen“ (Çakır, 2009c, 33–39), religiösen Fanatismus in „Sevim & Savaş“ (Çakır, 2009c, 55–66) oder tödlichen Aberglauben in „Hatice“ (Çakır, 2012, 7–12). Wenn diese Aufzählung fast ‚trostlos‘ erscheinen mag, so trifft das auf die Lektüre der einzelnen Geschichten dennoch nicht in allen Fällen zu: Çakırs Erzählungen können selbst bei der Thematisierung ernster Sujets ironische oder komische Elemente enthalten, die den Schrecken mildern und als Strategien zur Erlangung von Freiheit kenntlich werden. In anderen Erzählungen werden Al-

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ternativen der Freiheit gezeichnet oder zumindest angedeutet, die fast immer in den Beziehungen der Protagonistinnen untereinander liegen. Selbst bei der Darstellung einer Selbstmörderin kann deren wohlgeplante Tat durchaus auch als Zeichen der Selbstermächtigung als Antwort auf die Schicksalsschläge ihres Lebens gelesen werden. Selbstmord, ob versucht oder vollzogen, ist ein wiederkehrendes Thema in den Erzählungen der Autorin. In den meisten Fällen wird er als ein Akt des Widerstandes oder der Rebellion gegen die Zustände gesetzt, in dem auf radikale Weise die Macht über das eigene Leben demonstriert oder zurückerobert wird (zum Beispiel „Die mit Rosen“ und „Sevim & Savaş“ in zitronenkuchen für die sechsundfünfzigste frau sowie „Der Tipp des Arztes“ in ich bin das festland). In der Erzählung „Frühstücksbuffet“ etwa schildert Çakır die letzten Stunden einer Frau vor ihrem Selbstmord, in denen sie sich skrupulös dafür vorbereitet und zurechtmacht und sich an ihre Traumen (Beziehungsverlust und Tod ihre Kindes) erinnert. Ihre Handlung wird dabei nicht als Verzweiflungstat, sondern als rationaler, völlig in der Kontrolle der Frau stehender Schritt dargestellt (Çakır, 2012, 109–120). In diesem Sinne ist Çakır auch als engagierte Autorin zu verstehen, die in ihrem Schreiben nicht nur Ungerechtigkeit oder Gewalt darstellt, sondern auf Veränderung der Zustände abzielt. In der Benennung von Missständen liegt in diesem Literaturverständnis das Potenzial, diese aufzuheben. Ihre feministische Position ist dabei nicht zu übersehen. Nahezu alle Erzählungen stellen Frauen oder Mädchen in den Mittelpunkt, viele nehmen dabei eine klar erkennbare weibliche Perspektive ein. Männer kommen kaum zu Wort, und wenn, dann nicht unbedingt zu ihrem Vorteil, sprechen sie doch oft eine Sprache der Gewalt. Sie sind in keinem Fall die Hauptprotagonisten der Erzählungen.7 Die Wirksamkeit von Literatur wird von der Autorin jedoch nicht überschätzt. Am Ende der tragisch verlaufenden Geschichte von „Sevim & Savaş“, die durch die Intrigen ihrer Eltern in den Selbstmord getrieben werden, da eine Verbindung zwischen einem Aleviten und einer Sunnitin unmöglich scheint, äußert sich die Erzählerin der Geschichte, die sie soeben von einer Freundin der beiden jungen Menschen erfahren hat: „‚Ich werde Sevims Geschichte schreiben, ich werde sie der Öffentlichkeit zugänglich machen‘, sagte ich und merkte, wie hilflos ich war“ (Çakır, 2009c, 66). Die Passage steht in einem scheinbaren Widerspruch zu den Hoffnungen, die ein engagiertes Schreiben antreibt. Dennoch, der Fokus liegt auf der Äußerung der Erzählerin, die als Schriftstellerin erkennbar ist und damit über den Zugang zur „Öffentlichkeit“ verfügt. 7

Selbst in der Erzählung „Vertraut nie einer Frau“ erweist sich der scheinbare Traum eines Mannes in der Schlusspointe als Traum einer Frau.

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Umso mehr, als die Erfahrung zeigt, dass Literatur durchaus Wirkung haben kann. Insbesondere die ‚starken‘ Frauenfiguren können eine solche erzielen. Es ist in diesem Fall vor allem ihre Sprache, die ihnen von der Autorin verliehen wird und die dafür verantwortlich ist, dass sie zu echten Protagonistinnen des ‚Empowerment‘ werden, was zum Beispiel in der Erzählung von einer etwas unglücklich verlaufenden Liebesnacht in „One-Night-Stand“ deutlich wird: „Ich bin verrückt vor Verlangen nach meinem Orgasmus. ‚Mir ist egal wie. Ich will endlich kommen‘, sage ich zu ihm. ‚Mach was. Befriedige mich!‘ Ich weiß, es ist noch schwieriger für einen Mann, wenn man so direkt ist, aber ich kann es nicht ändern. Ich will, jetzt sofort!“ (Çakır, 2012, 86) Die Autorin durchbricht hier mit der Deutlichkeit ihrer Sprache bewusst Tabus und registriert indignierte oder empörte Reaktionen im Publikum mit einer gewissen Befriedigung.8 Die weit häufigere Reaktion aber scheint ein Gekichere im Publikum zu sein, das auch in befreiendes Lachen umschlagen kann, wie der Verfasser beim Besuch einer Lesung der Autorin am 14. Mai 2015 im Café Museum in Wien feststellen konnte. Zu den Möglichkeiten der Freiheit, denen die Autorin in ihren Texten nachspürt, gehören auch der Humor und die Komik, die viele der Geschichten auszeichnen. Eine Komik, die sich vor allem in den der gesprochenen Sprache angenäherten Dialogen erweist. So gelingt es der Erzählerin in der Geschichte „Der Ruf des Muezzin“, die mühevolle Diskussion mit der Mutter über die Herkunft ihres neuen Schwarms mit der wohl kürzesten möglichen Definition zu beenden: „Und? Woher kommt er?“ „Er ist Amerikaner, also, ein Türke aus Amerika.“ „Was jetzt? Amerikaner oder Türke?“ „Ja, so wie wir halt. [...]“ (Çakır, 2012, 47)

Seher Çakır verwendet in ihren Erzählungen eine einfache, dem Alltag nahestehende Sprache. Sie errichtet keine Barrieren für ihre LeserInnen, sondern ist auf Verständlichkeit des von ihr Erzählten aus. Wenn sie zu avancierteren literarischen Verfahren greift, stehen diese im Dienst der Story. Wenn sie zum Beispiel in der Geschichte „Sevim & Savaş“ (Çakır, 2009c, 55–66) die Chronologie der Geschichte durchbricht, dann handelt es sich weniger um ein Verfahren, das die 8

Auf die Frage nach Reaktionen bei ihren Lesungen erzählt Çakır im Interview: „Es ist auch superspannend, wenn jemand aufsteht und schnaubt und geht. [...] das find ich dann supermotivierend, weil da habe ich irgendjemandem einen Nagel in den Schuh gelegt, you know.“

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Komplexität der literarischen Erzählweise steigern soll, sondern mehr um den Versuch, die ‚Spannung‘ der Story zu erhöhen. Die Autorin verweist kaum explizit auf andere literarische Texte9 und verzichtet auch sonst auf intertextuelle Elemente. Der Referenzrahmen ihrer Literatur lässt sich an Bestandteilen der Populärkultur festmachen. Sie zitiert einen Song von Tracy Chapman (Çakır, 2009c, 33) oder verweist auf ikonische Bilder wie das von James Dean am Times Square (Çakır, 2009c, 52) oder Audrey Hepburn vor Tiffany’s (Çakır, 2012, 64). Diese Elemente einer globalisierten Kultur garantieren die Anschlussfähigkeit für nahezu alle LeserInnen. Auch darin erweist sich, dass Çakırs Literatur in gewisser Hinsicht nicht ‚anspruchsvoll‘ ist: Sie setzt keine ‚klassische‘ oder ‚höhere‘ Bildung voraus, keine Kenntnis eines wie auch immer zusammengesetzten literarischen Kanons. Die möglichst breite Zugänglichkeit ist dabei ebenso Teil ihres ‚engagierten‘ Schreibens wie die Wahl ihrer Themen. Wenn die Autorin problematische Themen oder Tabus anspricht, dann hat sie dabei nicht unbedingt LiteraturkritikerInnen und deren Maßstäbe für Literatur im Auge, sondern ein Publikum, das mitteloder vielleicht sogar unmittelbar betroffen ist, wie zum Beispiel Frauen und Mädchen mit türkischer Herkunft, oder ein österreichisches, deutschsprachiges Publikum, bei dem sie – möglicherweise nicht zu Unrecht – Unwissen oder das Vorherrschen von stereotypen Wahrnehmungen voraussetzt.

Mehrsprachigkeit in Seher Çakırs Texten Die Zugänglichkeit, die Seher Çakır in ihren Erzählungen anstrebt, ist zugleich einer der Gründe dafür, dass der mehrsprachigen Existenz der Autorin ein zu größten Teilen in deutscher Sprache verfasstes Werk gegenübersteht. Obwohl die Autorin in ihrem Vorwort zum Band der exil-PreisträgerInnen von 2007 feststellt: „Mehrsprachigkeit ist ein unermesslicher Reichtum!“ (Çakır, 2007, 9), spielt Mehrsprachigkeit in ihrer Literatur nur eine marginale Rolle, auch wenn sie im tagtäglichen Leben für sie eine große Bedeutung hat, wie schon erläutert. Wenn in der Folge einige Stellen, an denen ihre Mehrsprachigkeit doch zum Durchbruch kommt, betrachtet werden, dann geschieht dies unter zwei Aspek9

Eine der wenigen Ausnahmen findet sich in der Erzählung „Frühstück mit einem Unbekannten“, in der ebenjener Unbekannte der Erzählerin von Prag vorschwärmt: „Die Leichtigkeit des Seins, wie es Kundera beschreibt“ (Çakır, 2009c, 42). Hier steht erkennbar die Popularisierung von Kunderas Romantitel „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ im Vordergrund und weniger ein echter intertextueller Bezug auf den literarischen Text des tschechisch-französischen Autors.

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ten: Zum einen lassen sich an diesen Stellen die Einschränkungen erkennen, denen die Verwendung einer nichtdeutschen Sprache in einem deutschsprachigen Text unterworfen ist, zum anderen deuten sich in ihnen aber auch die Potenziale einer mehrsprachigen Literatur an.

Die Grenzen der Mehrsprachigkeit

Wie schon erwähnt, thematisiert Seher Çakır oft eher die Sprachlosigkeit als die Mehrsprachigkeit ihrer Figuren, zeigt dabei aber auch auf, wie diese mit nichtsprachlichen Mitteln überwunden werden kann. Ein besonders wichtiger Moment ist dabei der Eintritt in eine neue Sprache, den die Autorin in der autobiografisch gefärbten Erzählung „Die Schatzkiste“ geschildert hat. Der erste Schultag von Selda ist zunächst von durchaus ambivalenten Gefühlen begleitet: Die Lehrerin, die Selda mit einem Händedruck begrüßte – Inge war ihr Name – fragte sie, wo sie sich hinsetzen wollte. Selda hatte sie nicht verstanden und sah fragend ihren Vater an. Als er den Übersetzer spielen wollte, unterbrach ihn die Lehrerin, worauf der Vater nichts sagte. Er lächelte nur wissend. Inge nahm Selda an der Hand, zeigte ihr die noch freien Plätze und fragte sie noch einmal. Selda hatte begriffen, niemand musste für sie übersetzen. (Çakır, 2012, 20)

Bereits beim ersten Kontakt erweist sich hier Deutsch als die dominante Sprache. Ein Übersetzen durch den Vater kommt nicht infrage. Seldas Existenz in der Klasse ist nur möglich, wenn sie begreift, was ihre Lehrerin ihr zeigen will. Der Verlust der Anwendbarkeit der eigenen Sprache könnte durchaus als traumatisch geschildert werden; sogar der Vater beugt sich der Dominanz der neuen deutschen Sprache, „lächelte nur wissend“ und erweist sich damit als Komplize der Institution Schule statt als helfender Übersetzer. Obwohl die Unsicherheit und teilweise auch Verstörung von Selda in „Die Schatzkiste“ an anderer Stelle durchaus thematisiert wird, ist der Moment, in dem die Lehrerin ein körperliches Zeichen, eine Geste der Nähe („Inge nahm Selda an der Hand“) mit der Frage in der neuen Sprache verknüpft, als erster Moment des Verstehens positiv aufgeladen. Selda wird von der Lehrerin im wahrsten Sinne des Wortes ‚abgeholt‘ und in die neue Sprache ‚mitgenommen‘. Dieser menschliche Akt, der nicht nur Worte, sondern auch Berührung und körperliche Führung umfasst, zeigt Wirkung: Selda „hatte begriffen“, eine Übersetzung in ihre Sprache ist nicht mehr notwendig. „Sie durfte sich den Platz selbst aussuchen, auf dem sie sitzen wollte, und damit gewann Inge Seldas Herz. Denn in der Türkei ent-

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schied immer der Lehrer, wo jemand saß“ (Çakır, 2012, 20). Der Schritt in die neue Sprache bedeutet einen Zugewinn an Freiheit, nicht nur ein neues Verstehen wird möglich, sondern es eröffnen sich auch neue Wahlmöglichkeiten, neue Optionen der Selbstbestimmung, hier in Bezug darauf, dass sie ihren Sitzplatz, anders als in der Türkei, frei wählen darf. Gleichzeitig bedeutet die neue Sprache keinen Schritt in die Mehrsprachigkeit, ist mit ihm doch ein Verzicht auf die Anwendung der bisherigen Sprache verbunden. Besonders die Weigerung des Vaters, die Missverständnisse von Selda bei deutschen Ausdrücken aufzuklären, verunsichert sie: „Denn seit sie ihr Dorf verlassen hatte, ließ er sie immer öfter alleine mit ihren Fragen“ (Çakır, 2012, 21). Andere Sprachen kommen in Çakırs Texten nur spärlich vor, und wenn sie verwendet werden, dann immer im Verbund mit einer Art Übersetzung, sei es in Fußnoten, sei es in direkt angeschlossenen Erklärungen. Mehrsprachigkeit ist zudem in Çakırs Texten stets eine Eigenschaft der MigrantInnen; es tauchen keine Figuren mit deutscher Herkunftssprache auf, die Türkisch oder BKS sprechen oder zumindest verstehen. Die Übersetzungsbewegung ihres Schreibens erfolgt dementsprechend wie in einer Einbahnstraße, es werden türkische Wörter für deutschsprachige LeserInnen verständlich gemacht und nicht umgekehrt. „Wenn ich türkische Idiome in einer deutschsprachigen Geschichte für ein deutschsprachiges Publikum verwende, dann möchte ich, dass es alles versteht. Wenn ich türkische Wörter einfließen lasse, kann ich nicht davon ausgehen, dass jeder Leser Türkisch spricht“ (Interview). Wenn aber, wie im auf Deutsch entstandenen Gedicht „Zwischen den Stühlen“, die titelgebende Metapher im Türkischen nicht existiert, verzichtet die Autorin zuweilen auf eine Verständlichmachung: Türkisch macht es gar nicht so viel Sinn. Die Türkisch sprechenden Leute fragen mich: Was meinst du damit, was bedeutet das, was heißt das? Dieses Zwischen den Stühlen sitzen gibt es gar nicht im Türkischen. (Interview)

Die Mittwochgedichte sind in gewisser Hinsicht ein Sonderfall, war die zweisprachige Ausgabe doch ein Wunsch des Schiler Verlages. Die Autorin musste dafür ihre zu großen Teilen auf Deutsch verfassten Gedichte erst ins Türkische übertragen, um der Erwartung an eine bilinguale Autorin zu entsprechen. Mit der Priorisierung des Deutschen befindet sich die Autorin in einer gewissen Übereinstimmung mit dem monolingualen Paradigma, das in Österreich vorherrscht. „Ich lebe in Österreich, also ist das einfach ganz logisch, dass ich auf Deutsch schreibe“ (Interview). Der Wille, verständlich und zugänglich zu sein, steht bei der Wahl der Sprache für ihre Literatur im Vordergrund, ästhetische oder politische Motive spielen kaum eine Rolle.

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Zugleich beschränkt das monolinguale Paradigma die Möglichkeiten: Seher Çakır hat mehrsprachige Gedichte geschrieben, die teils in Türkisch, teils in Deutsch verfasst sind, ohne dass eine Übersetzung der einzelnen Teile stattfindet. Diese Gedichte wurden bisher nicht veröffentlicht. Dafür mag der stark persönliche Charakter dieser Texte eine Rolle gespielt haben, die zumeist eng mit privaten Erlebnissen verknüpft sind und durchaus auch eine selbsttherapeutische Aufgabe für die Autorin erfüllten (Interview). Zugleich jedoch steht dahinter die – wohl zutreffende – Einschätzung, dass für Texte dieser Art von Zweisprachigkeit in einem monolingualen Umfeld wie Österreich keine Veröffentlichungschancen bestehen.

Potenziale einer mehrsprachigen Literatur

Die nicht sehr zahlreichen Stellen in ihren Erzählungen, in denen trotz der eben beschriebenen Grenzen türkische oder kroatische Wörter oder Wendungen aufscheinen, liefern dennoch Hinweise, welche Potenziale in einer mehrsprachigen Literatur liegen. Die meisten dieser Beispiele betreffen die Begegnung von Protagonistinnen mit einer neuen Sprache – die Erzählerin schaltet sich dabei als Vermittlerin für ihre LeserInnen ein. In der Erzählung „Die Plakate“ erzählt sie vom Ankommen des Mädchens Selda in Wien. Auf ihrer ersten Fahrt durch Wien verwirrt Selda die Aufschrift „Tabaktrafik“, bedeutet doch tabak im Türkischen ‚Teller‘ und trafik ‚Verkehr‘. „Aber was hatte ein Teller mit dem Straßenverkehr zu tun? Und warum war da eine Zigarette in dem roten Teller?“ (Çakır, 2012, 15) Die Begegnung mit der neuen Sprache beginnt mit einem Missverständnis, dessen Komik den LeserInnen nicht entgeht. Selda aber erhält von ihrem Vater keine Erklärung, ganz im Gegensatz zu den LeserInnen, die die Übersetzung durch die (deutschsprachige) Erzählung bekommen. Auf diese Weise können sie das Nichtverstehen verstehend erfahren. In der Geschichte „Zekiyes Ankunft“ resultiert aus dem Austausch von Begriffen dann sehr wohl Verständnis und sogar ein Zugewinn an Selbstbestimmung. Als Feldarbeiterin nach Österreich gekommen, sagt ihr die österreichische Kost nicht zu: „Ein paar Scheiben Käse, ein paar Scheiben Salami und an manchen Tagen etwas, das sie Marmelade nannten, aber nichts mit ihren selbstgemachten Marmeladen zu tun hatte“ (Çakır, 2012, 73). Eines Tages nimmt sie in der Küche den Dialog mit ihrer Chefin auf: „‚Yag‘, sagte Zekiye und tat so, als ob sie Öl in die Pfanne goss. ‚Ja‘, sagte die Chefin, ‚Öl.‘ Eine komische Sprache war dieses Deutsch. Sie sagten ‚Stirb‘ und meinten Öl. Sie

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sagten Öl und meinten Ja“ (Çakır, 2012, 74). Trotz der für Zekiye absurden Differenz von lautlicher Ähnlichkeit und divergentem Inhalt ist Kommunikation möglich; durch sie gewinnt Zekiye an Einfluss auf die Zusammenstellung des täglichen Essens für die Arbeiterinnen und kann Gerichte nach eigenen Wünschen zubereiten. Die zitierte Passage verlangt den LeserInnen eine ähnliche Verständnisleistung ab, wie sie Zekiye selbst zu leisten hat, ist doch zum Beispiel die Entschlüsselung, dass das deutsche ‚Ja‘ und das türkische ‚Yag‘ gesprochen gleich klingen, nicht in aller Deutlichkeit vorgegeben, sondern muss erst erarbeitet werden. Nur in einem einzigen Text verzichtet die Autorin vollständig auf eine Übersetzung, nämlich im Theaterstück „Sevim und Savaş oder Liebe und Kampf “ (Çakır, 2008).10 In diesem Stück verwendet Milena, die Freundin von Sevim, jugoslawische Ausdrücke wie „draga moja“, also „Mein Schatz“ (Çakır, 2008, 25), und „Svinja“, also „Schwein“ (Çakır, 2008, 26), ohne dass diese erklärt werden.11 Das fällt umso mehr auf, als bei allen anderen Figuren vorausgesetzt werden kann, dass ihre Dialoge in der Realität auf Türkisch geführt, im Stück aber deutsch gesprochen werden: Kosenamen wie „mein Honig“, „mein Honigmund“, „Zuckerstück“ (Çakır, 2008, 14–15) oder Wendungen wie „Es wären zwei Vögel mit einem Stein geschlagen“ (Çakır, 2008, 73) lassen durch wörtliche Übersetzung ihre Herkunft zwar erkennen, türkische Wörter kommen jedoch einfach nicht vor. Setzt die Autorin im Falle Milenas das Verständnis der jugoslawischen Ausdrücke beim Publikum voraus, vielleicht weil sie selbst in der Schule die Sprache als Lingua franca erfahren hat, wie oben erläutert, oder dienen die Wörter der Kennzeichnung der nationalen Herkunft der Figur? Sevim jedenfalls versteht ihre Freundin, wodurch die Mehrsprachigkeit des jugendlichen MigrantInnenmilieus illustriert wird. Es ist neben der Liebe zu Savaş, also der Liebe zwischen einer Sunnitin und einem Aleviten, auch diese Freundschaft zu Milena, die zeigt, dass für die Jugendlichen die Grenzziehungen ihrer Eltern nicht mehr gültig sind, weder politisch-religiöse noch die der nationalen Herkunft. Die Freundschaft zu Milena schließt für Sevim das Verstehen ihrer Sprache mit ein. Deutlicher zeigt sich das Potenzial der Mehrsprachigkeit in Çakırs Gedichten. Ein faszinierendes Beispiel dafür ist das Gedicht „Al/Nimm“. 10

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Der Titel des Stücks selbst allerdings illustriert Çakırs Neigung zum erklärenden Übersetzen, denn Liebe und Kampf sind die wörtlichen Übersetzungen der türkischen Namen Sevim und Savaş. Die Erzählung, in der derselbe Stoff verarbeitet wird, verzichtet auf diese Erklärung (Çakır, 2009c, 55–66). In der Erzählung „Sevim & Savaş“ (Çakır, 2009c, 55–66) fehlt die Figur von Milena.

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Al

Nimm

Al yanağımdan ilk ay‘ın

Von meinen rötlichen Wangen

gölgesini

Den Schatten des ersten Mondes

Ve git

Und geh

Al dudaklarım sensiz kalmasın

Geh!

Sar

Nimm meine Lippen

Al bir yazmaya

Sollen nicht bleiben ohne dich

Belki bir gün açar öpersin

Wickle sie ein

Ve al

In ein rotgelbes Tuch

Ki

Vielleicht

Zamen ölçen her şeyi

Vielleicht machst du es auf

Sensizliği kalbim ölçemesin

Und wirst sie küssen Und nimm bitte Alles Zeit messende Ding Das Unendliche soll mein Herz nicht messen!

(Çakır, 2005c, 56–57)

Der Effekt der Mehrsprachigkeit richtet sich hier weniger an die deutschsprachigen LeserInnen als an jene, die sowohl Türkisch als auch Kurdisch verstehen. In der türkischen Fassung können einzelne Wörter auch kurdisch gelesen werden, wodurch sich zwar differente Inhalte ergeben, jedoch durch die doppelte Lesbarkeit der Wörter auch ein Verhältnis zwischen den Lesarten aufgebaut wird. „Sar“ etwa bedeutet im Türkischen ‚wickeln‘ oder ‚einwickeln‘, im Kurdischen aber ‚kalt‘ (in der deutschen Fassung ist der Text auf die Bedeutung ‚einwickeln‘ festgelegt). Wenn sich zum Beispiel das Gedicht auf eine türkisch-kurdische Liebesbeziehung beziehen würde, dann ergäbe sich ein fast flehender Ton für eine türkische Lektüre, die zugleich durch eine kurdische Lesart desselben Wortes kühle Zurückweisung erfahren würde. Im Kontext des Liebesgedichtes entstehen so Bedeutungsspielräume, die nur einer bilingualen Lektüre im Türkischen und Kurdischen zugänglich sind. Noch weitere Interpretationsmöglichkeiten bietet die deutsche Version, denn für die Autorin steht nicht die wortgetreue Übertragung im Vordergrund, sondern das Übersetzen wird ihr zum Anlass, aus den jeweiligen Sprachen Neues zu den Texten hinzuzufügen – dieser Zugang mag erklären, warum es ihr schwerfällt, eine der beiden Versionen zum Original zu erklären (Interview). „Ve git“ ist in der deutschen Fassung „Und geh / Geh!“,

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das heißt, Çakır greift zum Mittel der Doppelung in leichter Varianz, wodurch die Emphase des Ausdrucks auf eine gewisse Weise noch gesteigert wird, das Gedicht dramatischer aufgeladen wird. Auch das nur in der deutschen Fassung auftauchende Ausrufezeichen trägt dazu bei.

Zusammenfassung Es lässt sich nicht behaupten, dass Seher Çakırs Werk nicht wahrgenommen wird. Ihre Literatur und ihre Person sind durchaus präsent – zwar kaum im ‚klassischen‘ Literaturbetrieb, sehr wohl aber dort, wo es um ‚Integration‘ oder ‚Migration‘ geht. Ihre ‚Öffentlichkeit‘, in der sie nicht nur durch eine Reihe von unselbstständigen Publikationen in Anthologien zum erwähnten Thema sowie ihren Gedichtband und ihre beiden Erzählbände, sondern auch durch ihre häufigen Lesungen und Auftritte gegenwärtig ist, misst dabei nicht unbedingt mit herkömmlichen ‚literarischen‘ Maßstäben, sondern ist für jene Möglichkeiten der Freiheit des alltäglichen Handelns zugänglich, der sich Çakırs Literatur verschreibt. Die Repräsentanz, die der Schriftstellerin dabei aufgrund ihrer türkischen Herkunft zugeschrieben wird, erweist sich jedoch auch als Last. Die beschriebenen Unsicherheiten in den Rezensionen sowie die ebenfalls erwähnte geäußerte Erwartung, sie schreibe wohl auf Türkisch, scheinen eine prinzipielle Differenzierungsschwäche im österreichischen literarischen Betrieb zu belegen. Mit der Wahl ihrer Themen stößt die Autorin auf weitere Grenzen, die Darstellung von Gewalt in ZuwanderInnenkreisen oder in der Türkei scheint bei der Literaturkritik das Sagbare teilweise zu überschreiten. Der ‚engagierten‘ Literatur bleibt hier die Resonanz verwehrt. Die Gründe dafür, warum ihre Erzählungen nicht auch zum Beispiel in einem größeren österreichischen oder deutschen Verlag, der entsprechend höhere Auflagen produzieren würde, erschienen sind, liegen in den dargestellten Grenzen des Literaturbetriebs. Ihre Texte erfüllen zwar durchaus Ansprüche an Unterhaltung, Witz und Spannung und bedienen sich dabei unterschiedlicher erzählerischer Verfahren, ohne Barrieren für die LeserInnen aufzurichten. Dazu gehört auch, dass die Mehrsprachigkeit der Autorin nur geringen Widerhall in ihren Texten findet. Wobei, wie gezeigt wurde, ihre Lyrik davon ausgenommen werden muss. Ihre Prosawerke sind jedoch eindeutig nicht an den Kriterien von LiteraturkritikerInnen ausgerichtet, betreiben kein intertextuelles Spiel und versuchen nicht, sich in eine österreichische oder deutschsprachige literarische Tradition einzuschreiben, sondern haben als ‚engagierte‘ Literatur Verständlich-

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keit und den Anschluss an ein breites Publikum im Auge. Es ist keine Literatur für die literarischen Eliten.

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Erzählen zwischen Macht und Ohnmacht: Ilir Ferra In seinen zwei Romanen scheint der Autor Ilir Ferra jene Themenfehler abzudecken, die seit dem Beginn des erhöhten Interesses an der Literatur von zugewanderten AutorInnen als deren Alleinstellungsmerkmal gelten: In Rauchschatten (2010) erzählt Ferra, der selbst mit 15 Jahren aus Albanien nach Österreich kam, von einer Familie im Land seiner Herkunft in den 1980er Jahren. In Minus (2014b) treffen die LeserInnen auf ein Wettlokal in Wien und sein ‚multikulturelles‘ Publikum. Ein zugewanderter Autor liefert ‚authentische‘ Bilder aus seinem Herkunftsland und seinem gegenwärtigen Milieu in Wien – so könnte man meinen. Im Zentrum beider Werke steht jedoch die Auseinandersetzung mit dem Erzählen selbst. Beide Romane liefern keine ‚realistischen‘ Abbilder des von ihnen Dargestellten, sondern entziehen sich durch ihre reflektierten Erzählverfahren einer wie auch immer gearteten ‚Eindeutigkeit‘. In beiden Texten steht dabei die ‚Macht des Erzählens‘ in der Kritik. Rauchschatten illustriert die Brüche, die Macht und Machtverlust in den Erinnerungen der Betroffenen hinterlassen. Minus reflektiert die Unmöglichkeit des objektiven Erzählens über ‚fremde‘ Welten, in diesem Fall den abgeschlossenen Raum eines Wettlokals. Doch diese komplexen Erzählverfahren wurden im Literaturbetrieb missverstanden oder schlicht nicht wahrgenommen. Die Konflikte Ferras mit seinen Lektoren, aber auch die Rezeption seiner Romane verdeutlichen die weiterhin ungebrochen bestehenden Erwartungen an zugewanderte AutorInnen: Rauchschatten wird als ‚Autobiografie‘, Minus als ‚Reportage‘ gelesen, und beide Bücher werden derart mit dem Siegel der ‚Authentizität‘ belegt. Dennoch bzw. vielleicht gerade aus diesem Grund konnte der Autor schon einige Erfolge im literarischen Feld für sich verbuchen. Seine Texte wurden mit Preisen gewürdigt und erhielten teils ungewöhnlich große Beachtung, allerdings fast ausschließlich seitens der österreichischen Presse. Um die Positionierung Ferras im literarischen Feld zu bestimmen, werden zunächst die Voraussetzungen und Bedingungen des Weges geschildert, die aus dem albanischen Jugendlichen einen Schriftsteller in Österreich werden ließen. Ferras Weg in die Literatur scheint dabei auf den ersten Blick relativ gradlinig verlaufen zu sein. Doch, wie schon angedeutet, sah er sich mit großen Widerständen seiner Literatur gegenüber konfrontiert. Um diese genauer beschreiben zu können, müssen zunächst die komplexen Erzählverfahren Ferras in seinen

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Romanen Rauchschatten und Minus sowie seine explizite Reflexion über das literarische Schreiben in einem Nebenstrang des Romans Minus analysiert werden. Diese Erzählverfahren widersprachen jedoch den Erwartungen an sein Schreiben im Literaturbetrieb. Ferra setzte sich auf zwei unterschiedliche Arten mit diesen Erwartungshaltungen auseinander: Er versuchte einerseits, mit ihnen zu spielen. Das illustriert eine Auseinandersetzung mit seiner Einreichung für den Preis „schreiben zwischen den kulturen“ im Jahr 2008 im folgenden Abschnitt. Andererseits setzte er sich jedoch wiederholt gegen Eingriffe in sein Werk, die dieses an Erwartungen anpassen wollten, zur Wehr. Aus diesem Grund geriet Ferra in Konflikt mit seinen Lektoren und trennte sich schließlich von seinem ersten Verlag, der Edition Atelier. Abschließend geht es um Ferras Rezeption, in der seine Werke immer wieder darauf reduziert wurden, authentische Einblicke in fremde Welten zu bieten.

Vom Mundtoten zum Schriftsteller Im Gefolge des politischen Wandels in mehreren Staaten Osteuropas unterlag auch Albanien einem konfliktreichen und jahrelangen politischen Transformationsprozess. Massendemonstrationen in Tirana und Shkodra leiteten Ende 1990 den Fall des kommunistischen Regimes ein. Die wirtschaftliche Not und politische Unsicherheit blieben jedoch bestehen und führten ab dem Frühjahr 1991 zu einer Massenflucht, die mit den ikonischen Bildern überfüllter Schiffe mit dem Ziel Italien im Gedächtnis geblieben ist. Italien und Griechenland waren die Hauptziele dieser Fluchtbewegung, die darin resultierte, dass ein Fünftel der albanischen Bevölkerung nicht mehr in Albanien lebt (Mai und SchwandnerSievers, 2003, 941). Ilir Ferra war 15 Jahre alt, als seine Eltern Anfang 1991, also noch vor dem ersten Höhepunkt der Massenauswanderung, beschlossen, ihre Heimatstadt Durrës in Albanien zu verlassen und im Westen ihr Glück zu versuchen. Die Ferras verfügten über verwandtschaftliche und freundschaftliche Kontakte in Österreich. Ilir und sein Vater reisten über Ungarn, bekamen in der österreichischen Botschaft über Vermittlung von Wiener Bekannten ein Visum und fuhren nach Österreich weiter. Seine Schwester und seine Mutter kamen nach (Stippinger, 2008a, 95, 97). Ferra stand den Plänen seiner Eltern anfangs kritisch gegenüber, verdankte er sein Wissen über den Westen doch vor allem der kommunistischen Propaganda, und meinte zu ihnen: „Ich weiß nicht, was uns dort erwartet, ich habe gehört, dass es dort Drogen und AIDS gibt. Es ist ja alles nicht so einfach, wie ihr sagt“,

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um die Antwort zu erhalten: „Du bist ja kein Trottel, dass du dich damit in Kontakt bringst, das ist eine unbegründete Sorge“.1 Trotz der Skepsis stellte sich der Jugendliche vor, „dass ich nach fünf Jahren mit einer Harley-Davidson nach Durrës zurückfahre und jeder weiß, dass ich der große Held bin. Der Reifeprozess war nicht so vorangeschritten“ (Interview). In Österreich verliert der Jugendliche zunächst diese Illusionen und gerät in eine ihm bisher unbekannte Lage der Isolation: Ich war in Albanien ein anderes Leben gewohnt, wo man das, was man zu sagen hatte, seinem Freundeskreis gleich erzählen konnte. Ich habe nicht damit gerechnet, dass man in Österreich ankommt und plötzlich alle sozialen Bindungen abhandenkommen, sondern habe gedacht, dass ein soziales Netz sehr schnell wieder entstehen würde. Doch ich habe gesehen, dass ich nur einer von vielen war. In Albanien war ein Tourist oder ein Fremder damals eine Seltenheit, und jeder war auf ihn neugierig. Diese Neugierde war in Österreich nicht vorhanden. (Interview)

Nach einem zweiwöchigen Aufenthalt im Erstaufnahmezentrum für Flüchtlinge in Traiskirchen wohnte die Familie für zwei Jahre in einer Flüchtlingspension in Wien (Stippinger, 2008a, 97). Der Vater bekam nach einiger Wartezeit eine seiner Ausbildung und seiner Erfahrung als Ingenieur der Elektrotechnik entsprechende Stelle. Ferra besuchte das Gymnasium Diefenbachgasse, fühlte sich aber auch dort aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse isoliert. Als „mich, den Mundtoten“ wird sich später der Erzähler von Minus bezeichnen, dem der Autor einiges von sich selbst beigegeben hat. Ferra meint im Gespräch: „Trotzdem hatte ich das Gefühl, ich muss mit den Leuten reden. Das war wahrscheinlich der einzige Grund, warum ich gleich – am Anfang sogar auf Englisch und dann auf Deutsch – zu schreiben begonnen habe“ (Interview). Das Schreiben ist Ferras Reaktion auf die Erfahrung der unerwarteten Isolation in Österreich. Die deutsche Sprache schien das geeignetste Mittel zu sein, ihr zu entgehen. Sein Vater, der als beruflich höher stehender Ingenieur seine Bildung förderte, verschaffte ihm mit der Unterstützung des Arbeitsmarktservice neben dem Deutschunterricht in der Schule Zugang zu einem speziellen Deutschkurs, der den Prinzipien der Goethe-Institute folgte. Dort machte Ferra die positive Erfahrung, seinen KollegInnen aus Botschafter- und UNO-Kreisen durch den ständigen Kontakt mit Deutsch in der Schule deutlich überlegen zu sein. Zudem wurden dort – im Unterschied zur Schule – seine Leistungen 1

Diese Aussage stammt aus einem Interview, das der Verfasser am 16. Juli 2015 in Wien mit dem Autor führte. Passagen aus diesem Gespräch werden im Folgenden unter dem Kürzel Interview zitiert.

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gewürdigt (Interview). Doch auch sein Deutschlehrer im Gymnasium beeindruckte ihn durch seine Sprache und vermittelte ihm einen ersten literarischen Kanon (Dostojewski, Hesse, Thomas Mann), dessen Lektüre den Schüler für Literatur begeisterte (Interview). Aus intensiver Dostojewski-Lektüre nach der Matura entstand der Wunsch, Psychologie zu studieren. Das Studium litt jedoch unter Ferras Beschäftigung in einem Würstelstand, eine Überprüfung durch das Arbeitsinspektorat führte zum Verlust seines Visums wegen Schwarzarbeit. Auf Empfehlung eines Anwalts, den der Vater bezahlte, konzentrierte sich Ferra nun auf sein inzwischen begonnenes Übersetzungsstudium in Deutsch, Italienisch und Englisch, das er 2004 abschloss (Kurz, 2012, 15). Bereits während des Studiums veröffentlichte Ferra erste Gedichte in der Zeitschrift STOFF, die von einer Gruppe aus dem Lokal Nachtasyl herausgegeben wurde. Das Nachtasyl wurde 1987 als Treffpunkt für tschechische DissidentInnen gegründet und ist auch heute noch ein wichtiger Ort für den österreichischen Underground (Freihsl und Schulz, 2002; Vasari, 2013). Ferra traf dort auf den Schriftsteller Alexander Schießling2, dessen Einstellung zum Schreiben ihn beeindruckte: „Ich hab ihn gefragt, was wärest du bereit für das Schreiben zu tun, und er hat gesagt: Ich wäre bereit für das Schreiben zu sterben, aber wenn es nicht notwendig ist, dann lebe ich.“ (Interview) Im Editorial der Zeitschrift, von der nur eine Nummer erschien, fand sich eine Art Programmatik: „Um Rettung des Blutleer [sic] gewordenen Formalen geht es, indem Inhalte in den Vordergrund rücken, und die Diktatur zeitgenössischer Form-Mode(n) gebrochen werden soll“ (Schießling, 1998, 1). Hier kommen die Opposition zum literarischen Markt und das Bestehen auf künstlerischer Autonomie bei gleichzeitiger Betonung der ‚Inhalte‘ zum Ausdruck. Es sind die Positionen eines literarischen Undergrounds, die Ferras weitere Schriftstellerkarriere begleiten werden. Allerdings lässt sich die zitierte Programmatik bereits in ihrer Hervorhebung des ‚Inhaltlichen‘ bei gleichzeitiger Ablehnung des sprachlichen Experimentes durchaus in die schon vor der Jahrtausendwende (wieder einmal) ausbrechende Diskussion um die Berechtigung des realistischen Erzählens in Abgrenzung zur Sprachkritik der Avantgardetradition einfügen (Gollner, 2005, 10–13; Kriegleder, 2011, 549; Zeyringer, 2001, 602). Der rebellische Gestus der STOFF-Gruppe verriet damit zugleich deren Abgeschnittenheit vom aktuellen Diskurs im Literaturbetrieb. Eine Festlegung auf den 2

Schießling lebt als freier Schriftsteller in Wien. Neben der Veröffentlichung von Beiträgen und Gedichten in Zeitschriften sind zwei Bücher von ihm in digitaler Form bei amazon.de erhältlich.

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Beruf des Schriftstellers ging mit der Publizierung von zwei Gedichten („Sphinx“ und „Übergang“) 1998 in STOFF jedoch noch nicht einher (Ferra 1998a, b). Die Veröffentlichung eines weiteren Gedichtes auf der Internetseite literaturcafe.de3 sechs Jahre später bedeutete für Ferra insofern Bestätigung, als diese Seite als kostenloses Service auch Rezensionen zu den veröffentlichten Texten bot. Die Besprechung von „Entlang“ (Ferra, 2004) durch Malte Bremer, den Rezensenten der Literaturplattform, fiel positiv aus (Bremer, 2004); die Auseinandersetzung mit dem Gedicht war zwar merklich schnell geschrieben, aber trotzdem hatte sich da einer mit einigem Gefühl auf den Text eines unbekannten Autors eingelassen. Ferra erinnert sich: Das war die erste gedruckte Reaktion auf mein Schreiben von jemandem, bei dem ich das Gefühl hatte, der hat Ahnung, wovon er spricht. Für mich war das der Beweis, dass ich weitermachen muss. Ich war nah am Aufhören. Ich hatte diesen Gedanken: Ich bin verrückt und denke, dass ich schreiben muss. Aber eigentlich bin ich nur verrückt. (Interview)

Der Autor ‚in spe‘ fing an, in der Hauptbücherei der Wiener Büchereien in die ausgelegten Literaturzeitschriften, wie zum Beispiel manuskripte, hineinzulesen. In der Zeitschrift Autorensolidarität der IG Autorinnen Autoren stieß er auf den Literaturpreis „schreiben zwischen den kulturen“ der edition exil. Seine ersten eingesandten Texte brachten zwar noch keinen Preis, aber eine Einladung zur Schreibwerkstatt von Eva Schmidt von den Volkshochschulen Wiens im Amerlinghaus.4 Mit der Erzählung „Halber Atem“ gewann er 2008 den vierten Prosapreis von „schreiben zwischen den kulturen“, der in diesem Jahr anstelle des Lyrikpreises vergeben wurde. Die Veröffentlichung der Erzählung in gedruckter Form in preistexte 08. anthologie. das buch zu den exil-literaturpreisen schreiben zwischen den kulturen 2008 (Ferra, 2008) wird von Ilir Ferra als wichtiger Schritt der Autorwerdung beschrieben: „Ich hatte etwas in der Hand, das ich jemandem geben und sagen konnte, ab Seite 77 ist meine Erzählung. Da war eine ISBN drauf und der und der hat darin veröffentlicht, Namen, die sehr wohlklingend sind. Das war für mich ein Türöffner“ (Interview). Mit dem Hinweis auf die Veröffentlichung trat Ferra bei den „Albanischen Tagen“ 2008 im Literaturhaus an die österreichische Schriftstellerin Andrea Grill heran, die schon länger die Rolle einer Art ‚Botschafterin‘ der albanischen 3

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Die Internetseite literaturcafe.de besteht seit 1996 und veröffentlicht literarische Texte, Rezensionen und Nachrichten aus dem Literaturbetrieb. 2004 gewann sie den Alternativen Medienpreis. E-Mail Ferra vom 1. Oktober 2015.

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Literatur in Österreich eingenommen hatte.5 Als sie für Literatur und Kritik einen Albanienschwerpunkt gestaltete, lud sie Ferra zur Teilnahme ein. 2009 erschien der erste Teil von „Halber Atem“ in einer umgearbeiteten Version, aber unter gleichem Titel in der Zeitschrift (Ferra, 2009). Grill machte die Literaturkritikerin und -historikerin Daniela Strigl auf den neuen Autor aufmerksam; diese vermittelte den Roman Rauchschatten, an dem Ferra schon seit Jahren arbeitete, an den Verlag Edition Atelier weiter. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Verlag in einer Phase der Neuorientierung und wurde von Julia Kaldori und Angela Heide geführt. 1980 war die Edition Atelier von Jörg Mauthe zusammen mit der bürgerlichen Kulturzeitschrift Wiener Journal gegründet worden, beide folgten einem konservativ-liberalen Programm. Unter der langjährigen Leitung von Reiner Lendl und Mitarbeit von David Axmann wurden im Verlag neben Büchern zur österreichischen Kunst und Politik auch literarische Werke herausgegeben, die sich in bürgerliche Traditionslinien einordnen ließen (Edition Atelier, ohne Jahr). Im Sinne eines von der ehemaligen Donaumonarchie abgeleiteten Konzeptes von ‚Mitteleuropa‘ wurden auch AutorInnen aus Osteuropa aufgenommen. Nach der Übernahme des Journals durch die Wiener Zeitung wurde auch der Verlag mit der Zeitung verbunden. Ferra war damit mit seiner ersten eigenständigen Publikation Rauchschatten im Jahr 2010 in einem Verlag angekommen, der zwar über ein der Tradition verschriebenes Erbe verfügte, dessen Positionierung zu diesem Zeitpunkt aber eher unklar bzw. dessen zukünftige Ausrichtung noch nicht absehbar war. Doch schon im Jahr 2011 trennte sich die Edition Atelier von der Wiener Zeitung und wurde als eigenständiger Verlag unter Jorghi Poll und Sarah Legler neu aufgestellt (Fasthuber, 2013). Neben ‚Wiederentdeckungen‘ österreichischer SchriftstellerInnen sollte besonders die Förderung junger österreichischer bzw. deutschsprachiger AutorInnen im Vordergrund stehen. Ferra veröffentlichte 2014 auch den Prosaband Aus dem Fluss und den Roman Minus in der Edition Atelier. Doch die fortgesetzten Konflikte mit dem Lektorat führten schließlich dazu, dass er sich von der Edition Atelier trennte und inzwischen vom Hollitzer Verlag vertreten wird – diese Konflikte sowie der Verlagswechsel werden später ausführlicher dargestellt. 2012 erfuhr Ferras Werk dann auch öffentliche Aufmerksamkeit. Sein erster Roman wurde mit dem Förderpreis des Adelbert-von-Chamisso-Preises gewürdigt, der jährlich von der Robert Bosch Stiftung verliehen wird und neben dem 5

Andrea Grill lernte mit 16 Jahren Albanisch, nachdem sie sich mit albanischen Flüchtlingen angefreundet hatte. Eine Reise in das Land und die Bekanntschaft mit albanischen SchriftstellerInnen vertieften die Beziehungen. Grill übersetzte Texte von Luljeta Lleshanaku, Mimoza Ahmeti und Albana Shala (Preiner, 2014).

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Preisgeld auch Einladungen zu Lesungen und anderen Veranstaltungen beinhaltet. Dazu erklärte der Autor: „Dieser Preis ist eigentlich der bedeutendste für Schriftsteller, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Er bedeutet mir wirklich sehr, sehr viel und gibt mir das Gefühl, dass ich angekommen bin – nach einer sehr langen Reise“ (Ferra in Kurz, 2012, 16). Nun wird der Preis durchaus oft auch kritisch gesehen und seine Beschränkung auf einen bestimmten AutorInnenkreis problematisiert, da die SchriftstellerInnen dadurch in eine Art Nische gedrängt werden (Vertlib, 2008, 160). Für Ilir Ferra bedeutete er jedoch einen wichtigen Schritt in seiner Laufbahn und die dringend benötigte Bestätigung seines eingeschlagenen Weges: „Das war für mich ein Höhepunkt: Da wurde mir klar, dass das, was ich sagen will, endlich ankommt. Jemand versteht, was ich meine. Für mich ist es ein Erfolg, wenn ich sagen kann, ich bin nicht verrückt, ich bin Schriftsteller“ (Interview). Und dies umso mehr, als mit dem Preis auch gesteigerte Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit für sein Werk einhergingen, allerdings fast ausschließlich in Österreich. So wurde Ferras erster Roman Rauchschatten in nahezu allen relevanten österreichischen Zeitungen rezensiert, wobei die Besprechungen von Daniela Strigl und Andrea Grill dem kleinen Netzwerk von Ferra zugeordnet werden können. Ilir Ferra ist zum Schriftsteller geworden, ohne – bis auf die oben beschriebenen wenigen, aber umso wichtigeren Ausnahmen – viel Kontakt mit dem klassischen literarischen Betrieb zu pflegen. Von einem ‚Einschreiben‘ in eine österreichische Tradition kann bei ihm auch deswegen nicht die Rede sein. Vielmehr wirkt in seinem Werk der Gestus der ‚Außenseiter‘ der Gruppe STOFF nach: Rebellion gegen das Marktgängige, Lust an der Provokation und Unwillen, sich festlegen zu lassen oder falsche Sicherheiten zu bieten. Mit diesem Gestus ging allerdings gleichzeitig eine Orientierung gegen die sprachliche Avantgarde einher, die im Literaturbetrieb seit den 1990er Jahren generell zu beobachten ist. Die Rebellion war damit also auch ein unbewusstes Einschreiben in eine neue Generation von AutorInnen in der österreichischen Literatur. Dennoch täuscht dieser erste Einblick in Ferras Positionierung im Literaturbetrieb. Der Autor Ferra hatte zwar mit der Publizierung seines Werkes im Verlag Edition Atelier und der Würdigung durch den Chamisso-Förderpreis eine Position im literarischen Betrieb eingenommen und eine gewisse Sichtbarkeit erlangt. Doch er musste sehr darum kämpfen, in dieser Positionierung nicht auf die Rolle des zugewanderten Autors festgeschrieben zu werden, der Einblicke in neue Welten gewährt, wobei sein schon immer rebellischer Zugang zur Literatur ihm sicherlich half. Um diese Auseinandersetzungen Ferras mit dem literarischen Betrieb analysieren zu können, ist es jedoch notwendig, zunächst seine spezifischen Erzählstrategien anhand seiner zwei Romane herauszuarbeiten.

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Rauchschatten (2010): Von der Unsicherheit des Erzählens im Umkreis der Macht In seinem Debütroman Rauchschatten schildert Ilir Ferra das Schicksal einer albanischen Familie über wenige Wochen im Jahr 1981, in denen sich ihre durch die Verflechtungen mit den Machteliten privilegierte Position zerschlägt und einer der existenziellen Unsicherheit bzw. Bedrohung weicht. Der Roman hat autobiografische Bezüge: In Albanien gehörte die Familie des Autors zunächst zu privilegierten, machtnahen Kreisen, zum einen durch Ferras Großvater, der als ehemaliger Partisan und Parteifunktionär der ersten Stunde lange Zeit über Einfluss verfügte, zum anderen durch die Freundschaft des Vaters mit einem der Söhne Mehmet Shehus, des nach Enver Hoxha, Diktator Albaniens von 1944 bis 1985, zweitmächtigsten Mannes des Landes. Nach dem Sturz und (fraglichen) Selbstmord von Mehmet Shehu 1981 und der darauffolgenden Verhaftung seiner Familie sowie dem Freitod des Freundes von Ferras Vater in der Haft (Kohl, 2003, 99) geriet Ferras eigene Familie in eine neue Position der latenten Bedrohung und Unsicherheit. Doch für die Interpretation des Romans sind diese Bezüge sekundär. Im Zentrum steht eine Analyse der Macht. Die Macht des Staates erweist sich als unkontrollierbar, zerstörerisch und zugleich ungreifbar. Die männlichen Lebensentwürfe der Protagonisten stellen sich als unhaltbar bzw. untauglich heraus. Die daraus resultierende Existenz des Einzelnen in Unsicherheit und Ohnmacht spiegelt sich in der multifokalen Erzählweise des Romans wider, der auch als literarische Versuchsanordnung über die Narration von Erinnerung und (Familien-)Geschichte zu lesen ist. Im Roman wechselt die Erzählperspektive immer wieder zwischen auktorialem, personalem und Ich-Erzähler. Die Ich-Perspektive ist dabei dem jüngsten Mitglied der drei darin geschilderten Generationen, dem jungen Erlind, vorbehalten. Die Unsicherheit durchzieht den Roman auf mehrfache Weise, zum einen durch die präsente Macht des diktatorischen Staates von Enver Hoxha, zum anderen aber auch auf formaler Ebene durch den wechselnden Fokus der Erzählperspektive für die LeserInnen. Die dadurch bei der Lektüre erzeugte Unsicherheit verstärkt sich noch, indem Ferra die Chronologie der Erzählung an manchen Stellen durchbricht, Szenen nicht zu Ende erzählt sowie Leer- und Bruchstellen entstehen lässt. Bereits die ersten Sätze des Prologs erzeugen beim Lesen Verunsicherung und verweigern eindeutige Orientierung. Das ‚Ich‘, das spricht, ist mit keiner der im Roman auftretenden Figuren zur Deckung zu bringen und steht auch nicht in jener Nähe zu ihnen, die die folgenden Perspektiven auszeichnet. Sogar der zeitliche Abstand, den der Prolog zu den geschilderten Ereignissen hat, unter-

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scheidet sich von der Unmittelbarkeit, die den restlichen Roman charakterisiert. Vielleicht spricht hier eine der Figuren, die Rückschau auf das Geschehene hält:6 Die Plattform ist ein gähnendes Nichts ohne Boden. Und wenn doch einer da ist, dann ist er nicht wirklich. Dem, das hier ist, heißt es, sei nicht zu trauen. Es täusche, heißt es. Genau hier bin ich. (Ferra, 2010, 5)

Der Roman wird durch diesen vom folgenden Text abgehobenen Prolog mit einem Erzähler, dessen Standpunkt täuscht und dem nicht zu trauen ist, mit einem Vorbehalt ausgestattet. Im Vordergrund steht hier die Reflexion der Brüchigkeit des Erinnerns in der literarischen Form, in der gerade die Leerstellen der verschwiegenen Geschichten der Mitglieder der Familie umso deutlicher hervortreten. Den Figuren selbst ist es nicht möglich, ihre Situation und ihre Geschichte zu einer konsistenten Erzählung zu verdichten. Kooperieren sie anfangs noch mit dem autoritären Staat, ist der Preis für die Privilegien doch mit einem Verlust von Freiheit und Selbstbestimmung verbunden. Und als sich – auf völlig unberechenbare und willkürlich erscheinende Weise – der Staat dann gegen sie wendet, werden sie nicht nur in ihren Handlungsmöglichkeiten weiter eingeschränkt, sondern ihnen wird auch die Sicherheit ihrer Existenz entzogen. Am Erzähler des Prologs macht Ferra deutlich, was diese Verluste und diese existenzielle Unsicherheit für das Erzählen selbst bedeuten: Es gibt keinen sicheren Standpunkt, dem Erzählen selbst ist, wenn es aus den im Roman geschilderten Umständen kommt, nicht zu trauen. Ferras Erzählweise konfrontiert die LeserInnen konsequent im ganzen Roman mit Situationen, die sie ebensowenig überblicken, durchschauen und verstehen können wie die Personen, die darin auftreten. Die Verluste betreffen alle männlichen Angehörigen der drei Generationen, die Ferra in Rauchschatten darstellt: Der Großvater, der namenlos bleibt und meist mit „Herr Oberst“ angesprochen wird, vertritt als ehemaliger Partisan und Gefängnisdirektor trotz zunehmender innerer Zweifel nach außen die Positionen der Arbeiterpartei und Enver Hoxhas, sieht seinen Einfluss aber immer mehr im Schwinden und muss zuletzt erkennen, dass selbst er bespitzelt wird. Von dieser Einsicht gebrochen, stirbt er gegen Ende des Romans. Der Vater, Lundrim, ein Fernsehtechniker, dessen Freundschaft mit Nikola, dem Sohn des Ministerpräsidenten, ihm eine „Carte blanche“ (Ferra, 2010, 9) zu 6

Ilir Ferra betrachtet Rauchschatten als den ersten Teil einer Trilogie, die durch die Figur Erlinds verbunden sein soll. Im zweiten Teil werden die LeserInnen ihm als Migrant, im dritten als Rückkehrer nach Albanien begegnen (Interview). Es ist denkbar, dass der Erzähler des Prologs der erwachsene Erlind ist, der seine Geburtsstadt Durrës besucht.

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verleihen scheint, gerät mehrmals in Konflikt mit dem Staat. Anfangs kann Nikola die Lundrim drohenden Folgen abwenden oder mildern. Als Nikola nach dem (fraglichen) Selbstmord seines Vaters aber selbst zum Opfer der in Albanien ausgeübten Sippenhaft wird, gerät auch Lundrim in eine Situation der ständigen existenziellen Bedrohung. Seine Grenzüberschreitungen, wie eine rasante Rettungsfahrt mit dem Motorrad, bei der die Glastür einer Klinik zu Bruch geht, oder eigenständige Reformversuche in seinem Betrieb, erweisen sich als hohle und ziellose Gesten, die sich in ihrer Gewagtheit letztlich nur seinen Beziehungen zur Macht verdanken, nach dem Wegfall seiner Verbindung zur Macht aber bedeutungslos und sogar gefährlich werden. Bei Erlind, dem Sohn, auf dem der Hauptfokus des Romans liegt, steht der Verlust der Kindheit im Zentrum. Er beginnt wahrzunehmen, wie die Macht sein Leben beschränkt, ohne sie vollständig zu durchschauen oder klar benennen zu können. Italien, dessen Fernsehsender in Albanien empfangen werden konnten und die einzige Möglichkeit boten, der Isolation des Staates zu entgehen (Mai und Schwandner-Sievers, 2003, 942), wird ihm zum Sehnsuchtsland: Irgendwo gibt es ein Leben ohne Scherben. [...] Dort, auf dem anderen Ufer, wo alles so bunt und schillernd verpackt ist, dass es ebensolche Träume erweckt, selbst wenn ich es nur auf dem schwarzweißen Bildschirm unseres Fernsehers sehe; dort wo die Limonaden nicht gelblich schal sind und nur eine einfallslose Mischung von Wasser und Brausepulver, sondern aus tausend verschiedenen Farben bestehen; dort also, wo die Farben zuhause sein müssen, bekommt dieser Junge seine Nahrung durch phosphoreszierende Schläuche zugeführt, damit er in der Dunkelheit danach schnappen kann. (Ferra, 2010, 37–38)

Das Bild der Farbigkeit und des Lichtes des Sehnsuchtsortes schlägt bei Ferra jedoch schnell um: Der Bub, der mit den „phosphoreszierende[n] Schläuche[n]“ ernährt wird, war der sechsjährige Alfredo Rampi, der 1981 in einen Brunnenschacht gestürzt war und noch mehrere Tage überlebte, doch schließlich nur noch tot geborgen werden konnte. Dort unten hockt er, in der Tiefe zusammengekauert, sieht nichts, völlig abgeschieden von der Welt, und hat doch überlebt und lebt weiter, von einem Tag auf den nächsten, und liefert in jenem Sommer das Hauptthema für die italienischen Nachrichten. [...] Ob sie den Jungen doch noch herausholen werden, denke ich. Was ist das überhaupt für ein Loch? (Ferra, 2010, 38)

Dass Erlind im Schicksal des verunglückten Jungen ein Bild für seine eigene Existenz erkennt, ist unübersehbar. Die klaustrophobische Erfahrung des Jun-

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gen im Schacht wird parallelisiert mit dem Leben im Albanien Enver Hoxhas. „Was ist das überhaupt für ein Loch?“ Wenig später erleidet Erlind einen Anfall von Atemnot mit ungeklärter Ursache, der eine Reaktion auf die Lebensverhältnisse zu sein scheint. Danach reagiert er mit Aggression, verprügelt scheinbar grundlos einen siechen alten Esel und schlägt einen Mitschüler. Erlind ist am Ende zwar kein Kind mehr, doch eine Entwicklung, die zum Beispiel mit Einsichten oder neuen Beziehungen verbunden wäre, findet nicht statt. Der Roman richtet den Blick vor allem auf die männlichen Mitglieder der Familie und ihr Scheitern. Die weiblichen Figuren sind positiver besetzt, treten aber vor allem in klassischen Rollenbildern als Sorgende bzw. Versorgende auf, wie zum Beispiel die Großmutter, die ihren Enkel mit „yshten“, einem Räucherritual, zu heilen versucht (Ferra, 2010, 96). Zugleich urteilen sie aber auch über die Männer, wie die Geliebte von Lundrim, die von ihm enttäuscht ist, weil er sich doch als jemand erweist, der sich der Macht beugt: „Ich habe von dir gedacht: Den haben sie nicht. [...] Der, habe ich gedacht, ist zu klug für sie. Er stellt alles in Frage, was ihnen heilig ist, und tut dann so, als ob ihm das unabsichtlich passiert wäre. So warst du doch am Anfang. Was ist nur geschehen?“ (Ferra, 2010, 126) Und als Lundrim sich nach dem Fall des Ministerpräsidenten daranmacht, alle Fotos von möglicherweise verdächtigen Familienmitgliedern zu säubern, bezeichnet ihn seine Frau mehrmals als „Feigling“ (Ferra, 2010, 147), hilft ihm aber dann doch dabei. Auch Erlind wird für seine Attacke auf den Schulkollegen von einer Mitschülerin verurteilt: „Wie ein Tier, murmelt sie. Du bist brutal wie ein herzloses Tier“ (Ferra, 2010, 141). Die weiblichen Figuren werden damit zu Botinnen des Scheiterns. Der Roman widmet ihnen aber zu wenig Aufmerksamkeit, um an ihnen zum Beispiel eine Alternative zum Leben unter der Macht zu entwickeln. Der Macht selbst nähert sich Ferra mittels dreier literarischer Verfahren. Am seltensten nimmt er dazu einen die Politik Albaniens direkt beschreibenden, der Historiografie entsprechenden Standpunkt ein. Nur an einer Stelle stellt er die Zunahme der Paranoia und der Absurdität, die das langjährige Regime von Hoxha auszeichneten, als historischen Wandel dar: Doch mit der Zeit übertrug sich das Misstrauen, das Enver Hoxha auf dem Gipfel seiner Macht überkam, auf das ganze Land. […] Gehorsamkeit reichte bei Weitem nicht mehr aus. Taten, die einen früher als treuen Kommunisten ausgezeichnet hatten, wurden jetzt für alle zur Pflicht. [...] Was im politischen Kontext gerade erlaubt war, konnte keiner mehr einschätzen. [...] Der Kreis der Wachsamkeit wurde immer enger gezogen. Ein Klassenfeind konnte jeder sein, ein Freund, der Bruder oder die Schwester, selbst die Eltern, wenn sie rück-

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ständig waren und nicht einsahen, dass nur die Diktatur des Proletariats zum Ziel führte. [...] Je näher man mit dem verwandt war, den man angezeigt hatte, desto deutlicher bewies man seine Loyalität Enver gegenüber. [...] Unter zwei Leuten findest du drei Spione. (Ferra, 2010, 89)

Dies ist zugleich eine der wenigen Stellen, an denen Ferra Erfahrungen in Albanien generalisiert. Sonst bleibt die Erzählung dicht an den Protagonisten Großvater, Lundrim und Erlind, deren Erlebnisse und Gedanken konkret und individuell geschildert werden. Diese Erlebnisse wiederum sind keinesfalls als exemplarisch für das Leben in Albanien zu lesen, hatten die Protagonisten doch zunächst eine privilegierte Stellung inne. Etwas häufiger gibt der Autor die Sprache der Macht direkt wieder, wobei er sie meist auch ironisiert. Als Lundrim vor versammelter Belegschaft für die selbstständige Einführung von Gleitzeiten gerügt wird, kann er die Tirade nur bruchstückhaft wahrnehmen: „hohe internationalistische Pflicht ... kommunistische Bewegung ... nachdrücklicher Kampf ... China ... Volksintelligenz ... die breiten Massen ...“ (Ferra, 2010, 20) Die Sprache der Macht wird dadurch in ihrer sinnentleerten Formelhaftigkeit und Lächerlichkeit vorgeführt. Ähnliches geschieht auch, als ein Polizeidirektor während eines Verhörs von Lundrim Schwierigkeiten hat, den Firmennamen IBM korrekt wiederzugeben (Ferra, 2010, 148). Die bedrohliche Szenerie, in der Lundrim zunächst um sein Leben fürchtet, gerät dadurch in die Nähe der Farce. Im Mittelpunkt steht aber weniger, wie sich Macht direkt äußert, als wie Menschen ihr Verhalten an die Macht anpassen. So sind viele Dialoge begleitet vom Gedanken an mögliche Spitzel oder von Aufforderungen, Dinge deswegen nicht zu sagen, sogar im engsten Familienkreis. Die Macht unterbricht die Kommunikation zwischen den Menschen. Genau das erschwert es Erlind letztlich, seine Erinnerungen in eine übergeordnete Erzählung einzufügen: Die offizielle Geschichte des diktatorischen Albaniens ist als Referenzrahmen offensichtlich unbrauchbar, doch auch eine ‚Familiengeschichte‘ existiert nicht. Auf die Frage Erlinds, wie viele Deutsche der Großvater als Partisan im Zweiten Weltkrieg getötet hat, antwortet der lediglich: „Bin ich etwa den Kugeln hinterhergelaufen?“ (Ferra, 2010, 77) Das Schweigen des Großvaters erstreckt sich auf seine gesamte Karriere, auch seine Rolle als Gefängnisdirektor wird im Text nicht weiter ausgeführt oder hinterfragt. Die ungeheuren Verbrechen, die die Geschichte des Regimes in Albanien begleiteten, werden in diesem Roman, der sich auf eine Familie in der Nähe der Macht beschränkt, so kaum sichtbar. Es ist bezeichnenderweise wieder die Großmutter, die das Tabu, das auf der Geschichte Albaniens liegt, auf ihre Weise durchbricht. Sie erzählt Erlind von ihren Erinnerungen an

Erzählen zwischen Macht und Ohnmacht: Ilir Ferra

die italienischen und deutschen Besatzer, die mit dem offiziellen Heldenepos vom Partisanenkampf nicht vereinbar sind. Die Deutschen hingegen waren mutig und korrekt. […] Wenn sie in die Dörfer kamen, erzählt Großmutter, haben alle wie Espenlaub gezittert, und eigentlich am meisten jene, die sich heute als Helden feiern lassen. […] Was für eine Ordnung die hatten! Kamen, steckten die Häuser in Brand, und während keiner von uns etwas anderes im Sinn hatte, als den eigenen Kopf zu retten, standen sie schon wieder in Reih und Glied und zogen weiter. (Ferra, 2010, 76–77)

Diese individuelle Deutung der Großmutter, die ein verstörend idealisierendes Bild von den Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht zeichnet, ist – trotz ihrer Kritik am Partisanenmythos – ungeeignet für Erlind, wenn es ihm darum geht, die Geschichte seiner Familie zu verstehen. Es ist eine der wenigen Stellen im Roman, an denen zwischen den Generationen geredet wird, doch auch sie verläuft ins Leere und Ungesagte. Die männlichen Generationen im Roman stehen ohne Austausch und ohne miteinander in Beziehung zu treten nebeneinander. Jede Generation scheitert für sich: Weder die Linientreue des Großvaters noch der Versuch des Vaters, aus privilegierter Position heraus die Grenzen des Regimes auszutesten, noch die ziellose Aggression von Erlind erweisen sich als Möglichkeiten für eine Existenz im Albanien Enver Hoxhas. Mit Rauchschatten versucht Ferra, diese Geschichte zu erzählen; das Fragmentarische, das Andeutende, das Unerzählte, das den Roman auszeichnet, macht jedoch deutlich, dass unter den Bedingungen der Macht selbst von jenen, die ihr nahestehen oder nahegestanden haben, kein Erzählen mehr zu erwarten ist und selbst das spätere Erinnern unter dem Zeichen der Unsicherheit geschieht. Ähnlich reflektiert ist das Erzählen auch in Ferras zweitem Roman, allerdings auf eine ganze andere Weise.

Minus (2014): Macht und Ohnmacht des Erzählers Im Gegensatz zu den ständig wechselnden Perspektiven in Rauchschatten gibt es in Minus, dem zweiten Roman von Ilir Ferra, nur die eine des Ich-Erzählers, der glaubt, objektiv und distanziert über eine fremde Welt schreiben zu können, daran jedoch scheitert. Der angehende, aber bislang erfolglose Schriftsteller beschließt, in einem Wettbüro der fiktiven Kette „BettOn“ im Wiener Bezirk Meidling zu arbeiten, einerseits aus akuter Geldnot, andererseits um dort den Stoff für einen geplanten Roman zu finden. In der Folge schildert er seine Arbeit

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als „Einschreiber“7, das heißt eigentlich Buchmachergehilfe, und die Begegnungen mit Kunden minutiös. Die Rolle des unbeteiligten Beobachters lässt sich dabei nicht lange aufrechterhalten. Am Ende steht er selbst ohne Job, Geld und Freundin da. Das eigentlich in einem Roman mit der Thematik ‚Glücksspiel‘ zu erwartende Abstiegsschicksal eines Spielers trifft in der Handlung von Minus nur den Ich-Erzähler, und dies obwohl er sich selbst gar nicht am Wetten beteiligt. Der geplante Roman über das Wettbüro ist am Schluss nur eine Sammlung von Notizen. Schon die Konstruktion eines Romans, in dem ein Autor davon erzählt, wie er an seinem Roman scheitert, hebt Minus von der Festlegung auf die bloße Reportage ab. Sozialkritische Analyse wollte Ferra mit seinem Roman ebenso wenig liefern wie einen Beitrag zur Diskussion um das ‚Kleine Glücksspiel‘ in Wien, die bereits seit Jahren um das Verbot von Wettautomaten geführt wird (Weber, 2015). Die Schilderung des Zusammenlebens mit den Kunden und Mitarbeitern, der Arbeit und der Weise, wie der Erzähler sich selbst in seiner Arbeit wahrnimmt, steht zwar im Mittelpunkt, alles erreicht die LeserInnen aber durch den Filter des keineswegs objektiven Ich-Erzählers. Und dieser Erzähler befindet sich noch dazu in einem ständigen Reflexionsprozess, der ihn das Erfahrene immer wieder neu deuten lässt. Seine Gedanken werden dabei in ihrer Unvollständigkeit und teilweise auch Widersprüchlichkeit wiedergegeben, sodass aus der Lektüre des Romans kein geschlossenes Bild eines ‚typischen‘ Wettlokals entsteht. Der Ich-Erzähler, der als außenstehender Beobachter eine ihm fremde Welt beschreiben wollte, macht sich diese im Laufe des Romans immer mehr zu eigen und formt sie durch sein Erzählen zu etwas, dem er sich zugehörig fühlen kann. Er ist dabei gezwungen, seine Position ständig neu zu definieren, fallweise sogar zu erkämpfen. Zu Beginn nimmt der Erzähler an, dass seine Rolle als Schriftsteller, die er seinem Filialleiter Georg gegenüber offenbart, seinen Status heben müsste: Er sah mich an, als würde er sich fragen, was ich eigentlich in diesem Lokal noch suchte, wenn ich so nahe daran war, ein Schriftsteller zu sein. [...] [Ich] wollte [...] mich auf keinen Fall in 7

Der „Einschreiber“ nimmt im Wettlokal die Wetten an und gibt sie in den Computer ein. Der Begriff wird im Roman aber zugleich als lediglich informell ersichtlich: „Georg bestand auf dieser Bezeichnung, weil sie sich auf die Tatsache bezog, dass wir vor einigen Jahren die Aufzeichnungen der Buchmacher noch auf Blöcken mit Durchschlagpapier eingetragen hätten. Die Computer hätten lediglich die Blöcke und das Blaupapier ersetzt, das Wesentliche sei jedoch unverändert geblieben“ (Ferra, 2014b, 32–33). Im Begriff spiegelt sich jedoch auch die komplexe Erzählsituation des Romans wider, ist es doch der Erzähler, der sich selbst in gewisser Weise sowohl ins Wettbüro als auch in seinen Roman ‚einschreibt‘.

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einen Elfenbeinturm zurückziehen, sondern das Leben ergründen, von dem in diesem Wettbüro reichlich geboten werde. Nicht ohne Rührung über meine Antwort ließ Georg seinen Blick langsam über die Tische vor der Kasse schweifen [...]. (Ferra, 2014b, 21)

Ferra reproduziert ein ironisches Bild vom Schriftsteller als Sozialromantiker, der sich in eine Welt begibt, die für ihn eigentlich ‚unter‘ ihm steht, wofür ihm deren Angehörige, auch der Filialleiter, gerührte Dankbarkeit schuldig wären. Georgs Reaktion erfahren die LeserInnen nur durch die Interpretation des Erzählers. Dass der seinen Blick kurz darauf schon wieder auf das Geschäft richtet, ist jedenfalls ein recht deutlicher Hinweis darauf, dass der Ich-Erzähler sich hier selbst bedeutender vorkommt, als er seinem Filialleiter erscheint. Als der Erzähler sich gegen Ende des Romans auch den Kunden gegenüber als Schriftsteller vorstellt, der über sie erzählen will, hat sich seine Position allerdings bereits geändert: Viel zu lange hatte ich darüber geschwiegen. Vielleicht aus Sorge, dass mich die Gäste dann mit anderen Augen sehen würden. Das war aber keineswegs der Fall. Sie sahen mich an, als wüssten sie, dass man sich unter gewissen Umständen an solche Wünsche klammern muss, um nicht verrückt zu werden. „Ja“, antwortete ich, „ich möchte das.“ Sonst hatte ich immer den Eindruck gehabt, dass dieses Bekenntnis eine gewisse Ratlosigkeit in die Gesichter der Umstehenden zauberte. Selbst in der Autorenwerkstatt hätten sie alle eigenartig reagiert, wenn ich das so kühn ausgedrückt hätte. Vielleicht, weil die Leute in der Werkstatt schon Schriftsteller waren. Hier war es etwas anderes. Nur ich wollte nicht mehr rätseln, warum. Es war einfach so und ich wollte es genießen, wie nach einer langen Reise das Gefühl, angekommen zu sein. (Ferra, 2014b, 320)

Die Akzeptanz, die er von den Kunden erfährt, wird von ihm deutlich überbewertet, wenn sie nicht überhaupt durch ihn konstruiert wird. Er mag schon „angekommen“ sein, doch macht ihn das noch nicht zum Schriftsteller. In seinem Bekenntnis zum Schriftsteller-Sein ist keine Spur der Distanz zu seinem Stoff ‚Wettlokal‘ mehr zu finden, stattdessen vergleicht er sich mit den Spielern, deren Wunsch nach dem Gewinn er seinem nach einer Existenz als Schriftsteller gleichsetzt. Und dieser Wunsch lässt sich auch nur im Wettlokal äußern, in der Schreibwerkstatt zum Beispiel schon so einfach nicht mehr, wie ich im folgenden Abschnitt zeigen werde. Die (Selbst-)Erklärung zum Schriftsteller ist an dieser Stelle im Roman noch dazu ein leerer Akt: Weder schreibt er an seinem Roman, noch hat er irgendwelche Veröffentlichungsaussichten oder tritt in anderer Form an eine literarische Öffentlichkeit. Für die Mitarbeiter und Kun-

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den ist sein Anspruch auf die Schriftstellerrolle letztlich nachrangig, vielleicht sogar irrelevant. Für sie ist er zuallererst der Einschreiber. Wieder stehen die Überlegungen des Ich-Erzählers kaum in einem Verhältnis zu den spärlichen Reaktionen seiner Zuhörer, wieder versinkt sein ‚Coming-out‘ resonanzlos im alltäglichen Geschäft des Wettbewerbs, dessen Schilderung der Text dann auch gleich wieder aufnimmt. Sucht der Erzähler nach ständiger Bestätigung für seine Rolle als Schriftsteller, macht ihm seine Herkunft aus Albanien eher das umgekehrte Problem: Wenn Kunden und Mitarbeiter ihn vor allem als ‚Albaner‘ wahrzunehmen scheinen, dann sieht er sich dadurch abgewertet und in seiner Machtposition als Einschreiber gefährdet. Er nimmt das Wettbüro als einen Ort wahr, in dem Beziehungen und Konflikte vor allem entlang nationaler Zuschreibungen und Hierarchien ausgehandelt werden. Dass in diesen Hierarchien ‚Österreicher‘ an der Spitze stehen, macht ihm seine eigene Position nicht leichter: Man könnte sogar die wiederholten Versuche der Gäste, mir Serbokroatisch aufzuzwingen, in gewisser Weise als ein Angebot auffassen, mich in diese Welt, die sie außerhalb der wirklichen erschaffen hatten, einzuordnen. Sie konnten mich nicht wie Georg einfach akzeptieren. Ihrer Ansicht nach musste ich Stellung beziehen. Die Beziehung Kunde-Einschreiber war dort für einen Albaner nicht vorgesehen. Georg hingegen war Österreicher. Mit ihm lebten sie nebeneinander her, ohne dass zwischen ihnen irgendeine Beziehung entstand. (Ferra, 2014b, 73)

Der österreichische Filialleiter Georg ist für ihn in seiner Position nicht infrage gestellt, obwohl er an anderer Stelle durchaus von Konflikten zwischen Georg und Kunden zu berichten weiß. Er selbst aber, der als Jugendlicher aus Albanien gekommen ist, sieht sich gezwungen, Stellung zu beziehen, und gerät gerade dadurch in Zugzwang, indem er ständig neue Interpretationen seiner selbst liefern muss, was zu einer Kette von Reflexionen über Rassismus führt, die stets ihn selbst zum Ausgangspunkt nehmen. Als sein Mitarbeiter Babel ihn mit dem türkischen Schimpfwort für Albaner, „Çoban“, also ‚Hirte‘, belegt, distanziert er sich durch den Verweis auf die Unstimmigkeit der Beschimpfung: Offenbar bezeichnete er mich als „Çoban“. Als er meinen Namen das erste Mal hörte, habe sich Babel darüber Sorgen gemacht, dass er mit jemandem arbeiten müsse, der wie alle anderen Albaner zu nichts anderem tauge, als Schafe zu hüten. Ich fand das irgendwie merkwürdig, denn ich war in einer Stadt geboren und hatte dort keinerlei Erfahrung als Hirte sammeln können, während er selbst, soweit ich wusste, aus einem Dorf stammte. Aber solche Aussagen überraschten mich kaum, denn ich wusste, dass [...] auch Babel mit seinen Verleumdungen einen Brauch befolgte, der stärker als er war. (Ferra, 2014b, 80)

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Funktionalisierung und Verschiebung von Stereotypen erweist sich für ihn als Waffe in der Aushandlung seiner Machtposition. Auch im Konflikt des Ich-Erzählers mit Desmond, einem Kunden aus Nigeria, greift der Erzähler auf die Verschiebung von Stereotypen zurück: Zwischen der Feindseligkeit und dem abgehackten Finger [von Desmond] gab es einen sonderbaren Zusammenhang. Es wirkte, als würde dieses fehlende Glied für Ereignisse stehen, die jahrhundertealt waren [...]. Indes vermeinte Desmond in mich hineinzusehen und dort wie in einem offenen Buch zu lesen. Und es waren gleichzeitig mit ihm seine Urahnen, die nicht nur mich, sondern auch meine Urahnen ansahen und mit zeitloser Erschöpfung fragen: „Wann hört das auf ?“ [...] Nur lag da eine Verwechslung vor. In der fraglichen Zeit hatten meine Urahnen alle Hände voll damit zu tun gehabt, nicht völlig ausgelöscht zu werden. So wie er mich ansah, müsste er doch erkennen, dass meine Geschichte seiner eigenen allzu ähnlich war, und ich hätte Desmond auch einiges über verstümmelte Glieder und blutrünstige Diskriminierung, die bis zum Äußersten geht und Leben forderte, erzählen können. (Ferra, 2014b, 195)

In dieser Konstellation bringt sich der Erzähler zuerst selbst in die Täterposition, um dann zu einer Gegenpositionierung als Angehöriger einer ‚historischen Opfergruppe‘ zu schwenken. Sein Denken ist von Kategorisierungen bestimmt, die aber in der Begegnung mit den Kunden und MitarbeiterInnen durch den Erzähler unausgesetzt neu perspektiviert werden und sich als unstabil erweisen. Doch letztendlich ist es immer seine Perspektive, die unsere Wahrnehmung bestimmt. Dies äußert sich auch dadurch, dass im Roman keine ‚authentische‘ Wiedergabe des Gesprochenen praktiziert wird. Ferra beschreibt das Wettlokal zwar als einen multilingualen Raum: „Die Mehrzahl der Kunden waren Serben, Kroaten, Bosnier, Mazedonier und zwei, drei aus der Türkei. Waren Österreicher anwesend, was kaum vorkam, wurde für die losen Gespräche oft ein Gemisch aus Deutsch, Serbokroatisch und Türkisch benutzt“ (Ferra, 2014b, 13). Doch dieses „Gemisch“ gibt der Erzähler nicht direkt wieder, auch wenn einige Dialoge auf Englisch und Italienisch geführt werden oder fallweise Sätze und Ausdrücke in BKS, Türkisch und Albanisch im Text zu aufscheinen. Der überwiegende Teil der Gespräche aber wird in deutscher Sprache wiedergegeben. Die Verwendung von nichtdeutschen Elementen fungiert als Illustration der Mehrsprachigkeit und zugleich als Irritation bei der Lektüre, ganz nach Absicht des Autors, der im Interview meint: [D]ie Welt und die Leserschaft sind mehrsprachig. Die Literatur sollte das widerspiegeln. Ich baue hin und wieder ein albanisches Wort ein, weil ich davon ausgehe, dass die meisten deut-

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schen Leser es nicht kennen. Ich liebe es, diesen Zustand zu erzeugen, wenn man ein Wort liest und denkt: Das kenne ich nicht. Das erlebe ich im Deutschen immer noch. Das ist ein Zustand, der die Neugierde weckt, und deswegen verwende ich sehr gerne – nicht oft, aber schon hin und wieder – ein fremdes Wort. (Interview)

Auch gebrochenes ‚Gastarbeiterdeutsch‘ kommt kaum vor, wenn, dann am deutlichsten in einer Szene, in der der Erzähler einen Kunden in der U-Bahn trifft. „Du kommst von Arbeit, ich gehe in Arbeit“, stellte ich fest. [...] „Geh’ ma“, sprach Jovica, als die U6 in die Station einfuhr. „Geh’ ma nächste“, erwiderte ich. „Geh’ ma hier“, beharrte er. (Ferra, 2014b, 262)

Die verkürzte Sprache dient dem schnellen Informationsaustausch außerhalb des Wettbüros. Sie wird auch vom Erzähler selbst verwendet, von dem die LeserInnen durchaus annehmen können, dass er nicht darauf beschränkt ist. Zumindest bei ihm, vielleicht aber auch für den Kunden ist diese Ausdrucksweise also eine Option unter anderen und nicht Zeichen ‚mangelnder‘ Sprachbeherrschung. Zwischen dem Wettlokal und der Außenwelt zieht der Erzähler eine klare Linie, gibt er doch im Wettbüro das Sprechen auf ganz andere Weise wider: Er verleiht den Protagonisten – unter Ausschaltung von ‚Fehlern‘ – eine gehobene, teilweise auch bildhafte und poetische Sprache, insbesondere wenn sie zu längeren Betrachtungen und Erzählungen aus ihrem Leben ansetzen. Die Literarisierung der Figurenreden verdankt sich zudem der intensivierten Aufmerksamkeit, die der Erzähler dem Sprechen im geschlossenen System Wettlokal schenkt. In die Wiedergabe ihrer Reden fließt ein, was der Ich-Erzähler davon hört, er macht aus ihren Erzählungen Literatur, wobei seine Vermittlerrolle mitgedacht werden muss. Dies gilt auch für die – nur anscheinend – direkte Wiedergabe von Gesprochenem, die Produkt der ‚Bearbeitung‘ des Erzählers ist, wie besonders gut im Lebensbericht von Bekim, der mehrere Seiten umfasst, zu erkennen ist (Ferra, 2014b, 348–352). Dem Erzähler ist an einer deutlichen Aufwertung des Redens der Kunden und Mitarbeiter gelegen. Diese Aufwertung steht jedoch in einem gewissen Widerspruch zu seiner Funktion im Wettbüro: Dass der Erzähler mit seiner Position als Einschreiber der Macht des Wettkonzerns zuarbeitet und er damit aufseiten der Macht steht, ist ihm durchaus bewusst: Letztendlich ging es bei diesem Job vor allem darum, Spieler nicht als Menschen zu betrachten. Sie waren Bauarbeiter, Dealer, Pfuscher, Betrüger, Schmuggler und Räuber, die sich in die

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Schattenwirtschaft verstrickten, um alles, was sie kriegten, an die Automaten zu verfüttern, als gäbe es in ihnen ein unstillbares Bedürfnis, alles zu zerstören und zu vernichten, was sie besaßen. (Ferra, 2014b, 236)

Dieses ihm von der Macht vorgegebene Bild von den Kunden beeinflusst durchaus seine Wahrnehmung, erweist es sich doch auch als brauchbar, um das Gewissen zu beruhigen. Schließlich weiß der Erzähler, dass er als Mithelfer der Macht seinen Teil zur Ausbeutung der Kunden beiträgt. Das hindert ihn jedoch nicht daran, sich mit Kunden anzufreunden und einigen Wert darauf zu legen, von ihnen akzeptiert und aufgenommen zu werden, sodass auch er, obwohl er selbst nicht spielt, in den Sog der Verführungskraft des Spiels gerät. In einer zentralen Szene in der Mitte des Romans, in der alle im Lokal während einer intensiven und hektischen Wettsession in eine Art Rauschzustand verfallen zu scheinen, führt der Arbeitsrausch des Erzählers in einen Zustand, in dem er wie aus großer Höhe auf das Geschehen blickt: „Der Zauber des Spiels verwandelte sich in einen Makel, der als körperlich empfunden wurde. Was als Spaß begonnen hatte, endete als Qual. Plus wurde Minus, die Illusion zerstört“ (Ferra, 2014b, 188). Damit beschreibt Ferra einerseits in konzentrierter Form den Verlauf des Spiels, deutet aber andererseits zugleich den Weg seines Ich-Erzählers in der Romanhandlung an. Je mehr die LeserInnen über den Erzähler im Fortschreiten des Romans erfahren, desto mehr müssten sie ihm misstrauen: Er offenbart ziemlich machohafte, manchmal fast infantile Züge. Dies äußert sich sowohl in seinen Begegnungen mit Frauen – „Die Mädchen des Autoverleihers rissen ihre Puppenaugen auf “ (Ferra, 2014b, 434, siehe auch 419) – als auch in den Szenen, die ihn beim Zusammentreffen mit seinem Freundeskreis zeigen (Ferra, 2014b, 127–128, 200–212). Dass er zuweilen seine Machtstellung genüsslich den Kunden gegenüber ausspielt, wird ebenfalls deutlich, genauso wie er sich seitenlang mit der Aufklärung von Fehlbuchungen auseinandersetzt, die ihm passiert sein könnten, oder wie er beinah zwanghaft versucht, einen Kollegen der Unredlichkeit zu überführen. Die Arbeit im Wettlokal ersetzt ihm sein Leben außerhalb, sie verändert seine Persönlichkeit so sehr, dass er Freundschaften und die Beziehung zu seiner Freundin in die Brüche gehen lässt – ohne dass dafür ein echter Anlass erkennbar wäre. Das „Minus“ betrifft ihn nicht nur in ideeller Sicht, sondern auch in konkreter: Die Begleichung des Schadens einer seiner Buchungsfehler lässt ihn am Ende mit einem Minus aussteigen. Nach seinem letzten Nachtdienst tritt der Ich-Erzähler aus dem Lokal – und zugleich aus dem Raum seines Erzählens. Die letzten Sätze des Romans sind sein Abschied vom Wettlokal. Sie zeigen ihn als einen Menschen, der verloren hat – sogar die Sicherheit beim Gehen.

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„Das war’s“, flüsterte ich und wusste nicht, was es war, das ich damit meinte. Genauso wenig wusste ich, wohin ich jetzt gehen sollte, aber trotzdem setzte ich einen Schritt nach dem anderen, als wäre Gehen das einzige, was mir geblieben war. (Ferra, 2014b, 447)

Der Erzähler verliert mit dem Verlassen des Lokals einen Raum, den er sich zur Heimat gemacht hat und damit auch sein ihm vertraut gewordenes Referenzsystem, sodass er – fast als wäre er auf der Flucht – nur noch gehen kann. Genau wie dem Ich-Erzähler die Macht über seinen Stoff abhandenkommt, so verlieren auch die LeserInnen, die nur seine Stimme vernehmen können, die Sicherheit der Deutung des Gelesenen. Mit der Ich-Perspektive des Erzählers, der sich als Schriftsteller zu Beginn im Besitz der Macht über seinen ‚Stoff ‘ wähnt und den Weg des Verlustes dieser Illusion nehmen muss, zugleich aber als Einschreiber Zuarbeiter der Macht ist, ist eine Relativierung verbunden, in der das Konstruierte und die Eigeninteressen des Erzählers zutage treten. Der Roman spielt mit der Fragestellung, wie sich über eine ‚fremde‘ Welt wie das Wettlokal und seine ‚fremden‘ Menschen erzählen lässt, und problematisiert die Positionierungen eines Erzählers, dessen Zugänge sich allesamt als aussagekräftiger in Bezug auf ihn selbst als in Bezug auf seinen Gegenstand erweisen. Dem Erzähler bleibt am Ende nur noch das Gehen, den LeserInnen aber eine Literatur, die das Erzählen selbst zum Gegenstand der Reflexion macht, und zwar auch in einer expliziten Reflexion des Schreibens im Rahmen einer Schreibwerkstatt, um die es im Folgenden gehen soll.

Der Erzähler in der Schreibwerkstatt Während der Hauptstrang von Minus, dem der vorige Abschnitt gewidmet war, den Erzähler im Wettlokal zeigt, wird die Rolle des Ich-Erzählers als Schriftsteller in einem Nebenstrang, in dem er zwei Mal eine Autorenwerkstatt besucht, vertieft. Die Machtstrukturen des Wettbüros und der Werkstatt unterscheiden sich dabei deutlich, auch dadurch, dass der Erzähler sich selbst in ihnen in unterschiedlichen Positionen wahrnimmt. Während er sich im Wettbüro anfangs in darüberstehender, beobachtender Position sieht, ist ihm in der Werkstatt sein Status als Neuling und Hilfsbedürftiger wohl bewusst. Insbesondere die „Werkstattleiterin“ (Ferra, 2014b, 401) nimmt er als Türhüterin zum ökonomischen und symbolischen Kapital wahr, verfüge sie doch über das ‚Wissen‘, wie man zu Stipendien, Preisen und Veröffentlichungen und damit zu einem Einkommen und Anerkennung als Schriftsteller kommt (vgl. Sievers, Grenzüberschreitungen in diesem Band). Ein weiterer Unterschied der zwei Felder liegt darin, dass

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er im Wettbüro im Laufe des Romans die Regeln der Macht übernimmt, etwa indem er das vorgeschriebene Bild von den Kunden zumindest teilweise internalisiert. In der Autorenwerkstatt jedoch entwickelt er in Rebellion gegen die an ihn gestellten Erwartungen und im Streit mit der „Werkstattleiterin“ eine eigene Programmatik für sein Schreiben. Beim ersten Besuch blamiert sich der Erzähler mit einem Gedicht, das aus Blödeleien in seinem Freundeskreis entstanden ist, beim zweiten Mal verabschieden sich die anderen Teilnehmer, als die Reihe an ihn kommt, einen Text vorzulesen. Der Ich-Erzähler wird als schriftstellerischer Dilettant erkennbar, dessen Bewunderung für die Professionalität anderer Teilnehmer nach der eigenen Niederlage schnell in Aggressivität umschlägt – sind sie doch für ihn dann einfach „Arschkriecher“ (Ferra, 2014b, 404). Seine Vorstellungen vom Schriftstellerberuf sind mit den Realitäten des Literaturbetriebs kaum vereinbar, ist ihm doch bereits das Ansuchen um eine Literaturförderung ein nicht zu bewältigendes Hindernis.8 Dass es sich um eine Schreibwerkstatt speziell für zugewanderte AutorInnen handelt, wird im Roman nicht betont, ist aber erkennbar. Ein namenlos bleibender Autor „Soundso“, der dem Erzähler von der „Werkstattleiterin“ als Vorbild empfohlen wird, stößt bei ihm auf Ablehnung: Auf einmal wurde mir klar, worum es bei dieser Sache überhaupt ging. Sie wollte mich kultivieren. In Soundso hatte sie einen mustergültigen Ausländer gefunden, dem der Erfolg recht gab, und dem sollten wir in der Werkstatt alle nacheifern. [...] Das war ein abgekartetes Spiel, und diese Werkstatt diente bloß dazu, einen, der nicht das lieferte, was sie brauchten, hinzuhalten, bis er gar nichts mehr zu liefern hatte. (Ferra, 2014b, 406)

Der Erzähler sieht sich beinahe in die Rolle des ‚Wilden‘ gedrängt, den man „kultivieren“ muss, aber nicht, um ihn zu einem Zugehörigen zu machen, sondern zu einem „mustergültigen Ausländer“. Dass der Erzähler hier auf Erwartungen stößt, die an zugewanderte AutorInnen gestellt werden, wird im folgenden Abschnitt noch ausgeführt werden. Die Werkstattleiterin hält den Text des Erzählers für nicht veröffentlichungswürdig und begründet ihre Kritik: 8

Obwohl er es sich vornimmt, gelingt es dem Erzähler nicht, einen Kollegen, der das österreichische Staatsstipendium erhalten hat, zu fragen, wie man dafür einen Antrag stellt. „Überhaupt hatte ich den Eindruck, dass der Typ seiner Zeit um Lichtjahre voraus war“ (Ferra, 2014b, 127). Ilir Ferra war übrigens 2013 einer der Träger des Österreichischen Staatsstipendiums für Literatur des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur.

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Literatur muss doch eine neue Realität schaffen, du bleibst aber an der bestehenden haften. Du schaffst es nicht, sie auf eine metaphorische Ebene zu heben, obschon du das in deinem Text dauernd ankündigst. Umso größer ist dann die Enttäuschung. Da fehlt mir die Verdichtung, die aus einem Protokoll des Alltags Literatur entstehen lässt. Ich könnte mir vorstellen, dass dein Text als Enthüllungsreportage interessant wäre, aber das möchte er ja nicht sein. Selbst wenn man ihn gründlich lektorieren würde, könnte man diese Schwächen nicht beheben. (Ferra, 2014b, 408)

Gefordert wird hier eine Abkopplung von Alltag/Realität und Literatur, Literatur wird als etwas ‚Höheres‘ begriffen, das sich zum Beispiel durch Stilmittel wie die Metapher von der ‚normalen‘ Alltagssprache oder der ebenfalls niedriger eingestuften dokumentarischen Schreibweise der Reportage absetzt. Die „Verdichtung“ impliziert literarisches Schreiben als Handwerk; unterbleibt sie, ist dem Text auch nicht mehr mit dem Lektorat der „Werkstattleiterin“ beizukommen. Dass an Minus von der Rezeption tatsächlich häufig mit der Erwartung einer „Enthüllungsreportage“ herangegangen wurde, wird im abschließenden Abschnitt dieses Kapitels dargestellt. Die Anforderungen der „Werkstattleiterin“ an sein Schreiben rufen den Widerspruch des Ich-Erzählers hervor: „Für mich hat Literatur nichts mit Einfällen zu tun, sondern mit Erfahrung und Erinnerung. [...] Es geht nur darum, das Leben so zu zeigen, wie es ist“ (Ferra, 2014b, 409). Der Erzähler ist selbst an dieser späten Stelle im Roman immer noch überzeugt davon, dass eine Beschreibung von „Leben“, das heißt wohl der Realität, mit den Mitteln der Literatur möglich ist. Im Unterschied zum Beginn ist jedoch sein Anspruch auf die Draufsicht, auf die objektive Darstellung verloren gegangen. Nun zählen für ihn nur noch eigene „Erfahrung und Erinnerung“ – und im Unterschied zur „Werkstattleiterin“ kann er auf diese durch seine Arbeit im Wettlokal verweisen. Zugleich muss er zugeben, wie sehr er Teil seines ‚Stoffes‘ geworden ist: Denn ich beschäftige mich seit drei Jahren nur noch mit dieser Welt, dieser Text ist zu meiner Vorstellung, meiner Wirklichkeit, meiner Arbeit, meinem Traum geworden, und ich bin nur noch von ihm umgeben und beherrscht, innerlich wie äußerlich. Vielleicht mag das nicht so rüberkommen. (Ferra, 2014b, 409)

Es ist ein Rückzugsgefecht, das der Erzähler hier leistet, wenn er gegen die Forderungen, die von der „Werkstattleiterin“ erhoben werden, seine „Erfahrungen“ hält, die das Einzige sind, was ihm an dieser Stelle, an der er seine Kündigung im Wettbüro bereits eingereicht hat, noch bleibt. Doch seine „Erfahrungen“ sind, so wird erkennbar, schon längst zur Obsession geworden.

Erzählen zwischen Macht und Ohnmacht: Ilir Ferra

Auf dem Nachhauseweg, als er zwischen Bedauern über den Streit, neuen Selbstzweifeln und Stolz auf seine Widerrede hin und her schwankt, hat er das erste Mal eine Idee, wie sich sein Schreiben in Zukunft gestalten könnte: „Ich wollte erzählen, ohne zu verknappen, ohne anzupassen, ohne zu verniedlichen, sondern brüchig, staubtrocken, undurchschaubar, voller Leerläufe und Geschichten, die im Nichts verliefen“ (Ferra, 2014b, 412). Nur wird der IchErzähler bis zum Ende des Buches nichts mehr schreiben. Und doch liefert er an dieser Stelle eine Charakterisierung jenes Buches, das Ilir Ferra unter dem Namen Minus veröffentlicht hat. Die komplexen Erzählverfahren, die anhand von Rauchschatten und Minus herausgearbeitet wurden, zeigen, dass Ferra das Schreiben auf sehr hohem Niveau reflektiert. Damit geriet er jedoch in Konflikt mit den Erwartungshaltungen an die Literatur zugewanderter AutorInnen, wie später noch gezeigt werden soll. Dass Ferra diese Anforderungen bewusst waren, lässt sich insbesondere an jenem Text nachweisen, der zu Beginn seiner Autorenkarriere eine wichtige Rolle spielte.

„Halber Atem“: Ein Preistext erfüllt Kriterien Ferra schildert in Minus einen Erzähler, der an den Regeln des literarischen Betriebes scheitert. Darin steckt auch eine Auseinandersetzung mit den Erwartungen und Konventionen, die seine eigene Autorenbiografie begleiten und deren Erfüllung bzw. Negierung von größtem Einfluss darauf war. Mit seinem Text „Halber Atem“ gewann Ilir Ferra 2008 den vierten Prosapreis beim Wettbewerb „schreiben zwischen den kulturen“ der edition exil, der anstelle des Lyrikpreises vergeben wurde. Es war nicht seine erste Einreichung, hatte er doch schon in den Jahren zuvor andere Texte eingesandt. Mit „Halber Atem“ jedoch hatte er einen Text gewählt, der ihm den Kriterien, die er als Erfolg versprechend erkannt hatte, am ehesten zu entsprechen schien. Diese ‚Anpassung‘ lässt den Autor aber mittlerweile eher auf Distanz zu seinem eigenen Text gehen,9 wie er im Gespräch verrät: „Es ist eine sehr eigenartige Erzählung, [...] dieses Explizite ist nicht meine Art zu schreiben. Ich habe mir aber gedacht, ich 9

In Minus liest ein Kollege, den der Erzähler in der Schreibwerkstatt trifft, eine Geschichte vor, die unschwer als „Halber Atem“ zu identifizieren ist. Der Ich-Erzähler reagiert erst mit Bewunderung, ja sogar Neid. „Doch sehr bald stellte sich heraus, dass er den Bogen ziemlich überspannt hatte. [...] ‚Das ist einfach nur krank‘, dachte ich. Dass sich manche von uns solche Sachen einfallen lassen mussten, um überhaupt etwas aufs Blatt zu bringen, fand ich beunruhigend, abartig, eklig“ (Ferra, 2014b, 403).

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möchte einmal zeigen, dass ich da bin. Und dann, wenn man das gemerkt hat, muss ich das nicht mehr machen“ (Interview). „Explizit“ ist in der Erzählung vor allem eine recht detailliert ausgeführte Sexszene zwischen dem Erzähler und einer Katze, die sich für ihn in jede von ihm gewünschte Frau verwandelt. Welche Kriterien erfüllt werden, zeigt die Preisbegründung durch den Journalisten Peter Zimmermann, der durch Ex libris, die Büchersendung des Radiosenders Ö1 bekannt ist: eine geschichte mit einer interessanten wendung. zuerst erzählt der autor aus dem alltag eines jungen mannes mit vielen biografischen bruchstellen: als emigrant in wien scheint er sich kaum außerhalb klar abgegrenzter familiärer und ethnischer räume zu bewegen, die freundin kommt ihm abhanden, das visum ist abgelaufen. das leben als provisiorium zwischen langeweile, behördenwillkür und sehnsucht wird hier recht eindrücklich geschildert. wobei die nächtliche einsamkeit zwischen schlaf und wachzustand den erzähler wundersames erleben lässt. den dialog mit einer katze etwa, die sich als äußerst menschlich entpuppt und, anders als die abhanden gekommene freundin, ausgeprägte sexuelle bedürfnisse hat. der text bezaubert durch diesen kippeffekt, indem vom realistischen erzählen ins traumhafte geschwenkt wird, ohne – ein bisschen wie bei kafka – eine klare grenze kenntlich zu machen. (Peter Zimmermann in Stippinger, 2008c, 223–224)

Von der Preisbegründung Zimmermanns ist es nicht weit zu den Kriterien, die in der edition exil an Literatur angelegt werden. Die Leiterin des Verlags (und einer Schreibwerkstatt, die Ilir Ferra besucht hat), Christa Stippinger, legte diese in einem Text von 2008 offen: Sie [das sind die zugewanderten AutorInnen] haben viel erlebt, sie verfügen oft über eine „aufregende“ (oder uns aufregend erscheinende) Biografie, d. h. über Stoff, über den sie schreiben können oder schreiben müssen. Flucht-, Leid- und Verlusterfahrungen erzeugen Reife – und sie spiegelt sich in den Texten der AutorInnen. Manchmal haben sie auch Zugang zu archaischen Quellen und Ritualen und zu Welten, die uns ohne sie verborgen bleiben würden. (Stippinger, 2008b, 125)

Die unausweichliche Rückbindung der Literatur der AutorInnen an ihre Biografie, die zudem mit Exotismen verbunden wird, konstruiert zugewanderte AutorInnen als „aufregende“ Alternative zu den ‚eingesessenen‘ SchriftstellerInnen. Dass es Stippinger als eine Aufgabe der edition exil sieht, bei der Umsetzung dieser ‚anderen‘ Erfahrungen in Literatur den AutorInnen zur Seite zu stehen, hat Silke Schwaiger (2016) belegt, unter anderem am Beispiel der Zusammenarbeit von Stippinger und Julya Rabinowich, in der es laut Stippinger darum gegangen

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sei, „in eine immer literarischere Sprache, immer weiter weg von ihrer Person, weg vom Tagebuchartigen“ (Stippinger in keine ! delikatessen, 2009, 32) zu gelangen. All das lässt sich auch in der Preisbegründung wiederfinden: Der realistische erste Teil scheint das Leben eines Migranten in Österreich zu thematisieren, auch die Realität unangenehmer Begegnungen mit der Polizei findet sich wieder, wobei die Beurteilung von Zimmermann kaum auf die absurde Dynamik und Widerständigkeit eingeht, die der Szene im Text zu eigen ist. Der surreal anmutende zweite Teil der Erzählung ist letztlich entscheidend für die Preiswürdigkeit des Textes. Erst der Anschluss an Kafka sowie der „kippeffekt“ markieren „Halber Atem“ als Literatur, „wundersames“ und „bezaubert“ sind hier die Signalwörter. Der erste Teil, der – wie die spätere Veröffentlichung in Literatur und Kritik zeigt – durchaus als eigenständige Erzählung bestehen kann, ist dagegen nur „recht eindrücklich“. Mit der Preisverleihung wurde das Kalkül des Autors belohnt, der wusste: „Das ist ein Text, den sie nicht so leicht ignorieren können wie die anderen. Vor allem auch mit dem Untertitel als Einstiegshilfe.“ (Interview) Denn schon dieser Untertitel trägt alle Zeichen der bewussten und zugleich ironischen Provokation in sich und hat etwas Marktschreierisches oder Grelles an sich, das den sonstigen Texten des Autors fehlt: „Versuch über das Sexuelle in der Integration aus der Sicht eines ausgeprägt triebhaften Illegalen, der weder zur Gänze ein Jammerlappen, noch ein Klugscheißer ist“ (Ferra, 2008, 77). Der Text von „Halber Atem“ löst diese wilde Ankündigung jedenfalls kaum ein. Die edition exil erfüllte für den Autor mit der Verleihung des Preises sowie der Veröffentlichung der Geschichte in der Anthologie der PreisträgerInnen ihre ‚Sprungbrett‘-Funktion, der bereits in Entstehung befindliche Roman Rauchschatten stieß jedoch auf Ablehnung bei der Verlagsleiterin Christa Stippinger (Interview). Tatsächlich erfüllt dieser die Kriterien, die Ferra im Falle von „Halber Atem“ noch berücksichtigte, kaum mehr. Vielmehr verwendet Ferra in seinen Romanen, wie schon erläutert, komplexe Erzählverfahren, mit denen die Möglichkeit des Erzählens infrage gestellt wird. Dass er damit nicht den Erwartungshaltungen an seine Literatur entsprach, soll in den folgenden Abschnitten zunächst anhand der Konflikte mit seinem Verlag und abschließend anhand der Rezensionen zu seinen Werken gezeigt werden.

Erzählen gegen ‚Authentizität‘: Der Konflikt mit dem Verlag Der Verlag Edition Atelier, in dem der Autor zwei Romane und den Prosaband Aus dem Fluss (Ferra 2014a) veröffentlichte, erwies sich als Ort, in den Ferras

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Literatur nicht ohne Weiteres einzupassen war. Schon das erste Lektorat von David Axmann, dem mittlerweile verstorbenen Literaturkritiker, das noch für die Edition Atelier vor dem Wechsel zur Leitung von Jorghi Polli und Sarah Legler geleistet wurde, schien die komplexe Perspektivenstruktur von Rauchschatten nicht wahrzunehmen: [David Axmann] hat gesagt, der Prolog ist viel zu kompliziert, den müsste man umschreiben. Dann hat er den Prolog neu geschrieben. Ich habe die ersten drei, vier Zeilen abgeschrieben und gedacht: Das erste Buch, das ich veröffentliche, fängt nicht mit diesem Satz an. Und es fängt nicht mit dieser Sprache an. Es ist nicht meine Sprache, es hat mit mir nichts zu tun. (Interview)

Wie im Abschnitt zu Rauchschatten ausgeführt, ist es gerade dieser Prolog, der mit seiner im ganzen Buch alleinstehenden Erzählperspektive ein deutliches Zeichen für das literarische Verfahren in den nachfolgenden Kapiteln des Romans setzt, denn er zeigt auf, wie brüchig das Erinnern ist. Dass Axmann ihn einfach gestrichen bzw. umgeschrieben hat, lässt vermuten, dass er den Roman vor allem als authentische Erzählung eines albanischstämmigen Autors verstand und der künstlerischen Gestaltung des Erzählens zu wenig Beachtung schenkte. Ferra vertraute auch seine zwei nächsten Veröffentlichungen, den Prosaband Aus dem Fluss und den Roman Minus, der Edition Atelier an. Mit ähnlichen Resultaten: Wieder kam es zu Konflikten über das Lektorat, das zum Beispiel im Falle des Romans für die zugeschickten Teile von verschiedenen Personen besorgt worden sein dürfte und sich neuerlich durch eine gewisse Verständnislosigkeit gegenüber dem literarischen Zugang des Autors auszeichnete. So bemängelte das Lektorat insbesondere, dass der Ich-Erzähler keine sympathische Figur ist, sondern dass er machohafte und rassistische Züge aufweist. Auch die im Abschnitt über Minus beschriebene Aufwertung der Rede der Kunden durch eine gehobene Sprache wurde kritisiert.10 Der Verlag schien den Roman vor allem als Reportage zu verstehen, die den LeserInnen Einblicke in die ‚fremde‘ Welt des Wettbüros liefern sollte, und übersah dabei wieder die künstlerische Gestaltung. Die Lektorate zu Rauchschatten und Minus lassen Erwartungen erkennen, die häufig an die Literatur von zugewanderten AutorInnen gerichtet werden (vgl. Sievers, Grenzüberschreitungen und Englerth zu Çakır in diesem Band). Man erwartet von ihnen authentische Einblicke in das Leben und die Proble10

Ich danke Ilir Ferra für die Zurverfügungstellung des lektorierten Exemplars von Minus (EMail Ferra vom 10. September 2015).

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me der jeweiligen Minderheit. Was als authentisch gelten kann, wird dabei von der jeweiligen Mehrheit bestimmt. Die künstlerischen Elemente der literarischen Werke werden dabei vernachlässigt (vgl. Mercer, 1990, 228–230). Dass Rauchschatten vom Verlag als ‚Autobiografie‘ und Minus als ‚Reportage‘ wahrgenommen wurde, rückte die Texte unter den Blickwinkel des ‚Authentischen‘ und stand ihrer Wahrnehmung als eigenständige literarische Werke im Wege. Im Falle Ferras wird dies bereits im Entstehungsprozess der Werke sichtbar, bei dem der Autor diese gegen die Interpretation seines Verlages zu verteidigen hatte. Aufgrund des geringen Verständnisses für sein Werk entschloss sich Ferra, dem Verlag den Rücken zu kehren: [Wir] haben vereinbart, dass das Buch veröffentlicht wird. Ich denke, auch wegen der Förderungen, ich weiß nicht, wie das Verlagssystem hier genau funktioniert. Das Buch sollte zwei Monate am Markt bleiben. Danach konnte ich die Restauflage von Rauchschatten und Minus zu Herstellungskosten aufkaufen. (Interview)

Diese Investition des Autors in die Freiheit seines literarischen Werkes bedeutete aber nicht nur eine finanzielle Belastung: Es ist demütigend, wenn du plötzlich dreihundert von deinen Büchern zu Hause hast. Die kannst du nicht irgendwo verstecken. Deine Eltern kommen und fragen: Was ist da passiert? Man hat diesen Versagensnachweis physisch vor sich. (Interview)

Ein Ausweg bot sich im September 2014, als Andrea Grill und Ilir Ferra im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Kleine Länderkunde“ in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur in Wien auftraten. Grill wies den anwesenden Leiter des Hollitzer Verlages, Michael Hüttler, auf die frei gewordenen Werke Ferras hin. Der Hollitzer Verlag, ein Bestandteil der Hollitzer Baufstoffwerke Graz GmbH, eines Baustoffunternehmens, dessen Geschäftsbasis in Steinbrüchen liegt (Don Juan Archiv, 2015), war zunächst mit Publikationen zur Archäologie bzw. zur Firmengeschichte in Erscheinung getreten, denen im Gefolge der Kooperation mit dem Don Juan Archiv eine ausgedehnte Liste von Veröffentlichungen im Bereich Theater- und Musikwissenschaften zur Seite gestellt wurde (Hollitzer Verlag, ohne Jahr). Als Grill den Verlagsleiter Hüttler auf Ferra hinwies, war jener gerade dabei, diesen wissenschaftlichen Publikationen eine Belletristikschiene an die Seite zu stellen. In dieser ist unter anderem Robert Schindel mit einem Dramolett vertreten. Dennoch lassen sich, ausgehend von den bisher wenigen Veröffentlichungen und dem Fehlen von programmatischen

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Selbstaussagen, kaum Schlüsse über die literarische Positionierung der neuen Unternehmung und damit auch Ferras ziehen. Hüttler publizierte im Sommer 2015 die beiden Romane Rauchschatten und Minus als Taschenbücher. Das – erstmals konfliktlose – Lektorat besorgte Elvira M. Gross, die neue Leiterin der Belletristik des Hollitzer Verlags.11 Wie sich die Beziehungen Ferras zu seinem neuen Verlag entwickeln, bleibt abzuwarten. Dass aber der Verlagswechsel allein nicht ausreicht, um den Erwartungen an zugewanderte AutorInnen zu entkommen, zeigt der folgende Abschnitt über die Rezeption seiner Werke.

Einblick statt Erzählen: Die Rezeption der Romane Wenn in den Abschnitten zu Rauchschatten und Minus besonders auf die komplexe Erzählanlage der beiden Romane eingegangen wurde, so muss dabei festgehalten werden, dass diese in der Rezeption der beiden Romane nur wenig Beachtung fand. Das Unvermögen des Verlags Edition Atelier, in den Büchern seines Autors mehr als ‚Autobiografie‘ bzw. ‚Reportage‘ wahrzunehmen, wiederholt sich also auch in der Rezeption. Die Rezensionen widmen sich weniger den literarischen Verfahren als, zum Beispiel im Falle von Rauchschatten, vor allem der Frage, inwieweit hier typische albanische ‚Realität‘ dargestellt oder Allgemeingültiges, über die Schilderung von Konkretem Hinausgehendes enthalten ist.12 Dabei scheint es so, dass ein Roman, der in Österreich geschrieben und veröffentlicht wurde, jedoch im Albanien der 1980er Jahre angesiedelt ist, die Frage nach seiner Berechtigung zu beantworten hat, um ihn auch in der österreichischen Literatur verorten zu können. Daniela Strigl schlägt dabei – im Bewusstsein der Problematik der Begrifflichkeiten – eine interessante Volte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Auf der Landkarte der Immigrantenliteratur, die in Österreich ohnehin nicht gerade üppig gedeiht, ist Albanien ein weißer Fleck. Mit Ilir Ferra schreibt sich dort einer ein, der das Zeug hat, diesem Begriffsgärtlein auch wieder rasch zu entwachsen“ (Strigl, 2011). Das Buch wird dabei zu einer Art Zwischenstation erklärt, als Eintrittskarte in eine undefiniert bleibende ‚höhere Sphäre‘ der Literatur. ‚Albanien‘ ist dabei die ‚Marktlücke‘, die der albanischstämmige Autor bediene. Derart kategorisiert, gerät aus dem 11 12

E-Mail Ferra vom 24. September 2015. Ich stütze mich dabei auf folgende Rezensionen: Fasthuber, 2012; Fasthuber, 2014; Florescu, 2011; Grill, 2010; Neidel, 2015; Pisa, 2015; Schandor, 2015; Strigl, 2011; Weber, 2015.

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Blickfeld, auf welche Weise Rauchschatten erzählt wird, wie das literarische Verfahren Distanzierungen herstellt, nicht nur zur Zuschreibung als ‚Autobiografie‘, sondern auch zum Anspruch, den Autor zum Sprecher oder Vermittler seines Herkunftslandes zu machen. Als eines der Hauptprobleme erweist sich in den Rezensionen die Frage nach der Gültigkeit des Romans: Ist er Beschreibung albanischer Realität oder weist er darüber hinaus? Bereits die Laudatio zum Adelbert-von-Chamisso-Preis, gehalten von der deutschen Autorin und Literaturkritikerin Ina Hartwig, stellt sich diese Frage: Fast ist man versucht zu sagen, das ganze albanische Lebensgefühl jener bleiernen, scheinbar stillstehenden Zeit ist, kondensiert, auf den 160 Seiten enthalten. Doch entscheidend ist etwas anderes, nämlich Ilir Ferras universelle, eben poetische Sprache, die uns weit über den Gültigkeitsbereich Albanien [sic] hinausträgt. (Hartwig, 2008)

Strigl in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sieht in Rauchschatten „eine balkanische Welt, wie deutschsprachige Leser sie sich erwarten – getränkt mit Raki, Rauch und pittoresken Flüchen“, wenn der Roman sich auch nicht in „literarischer Folklore“ erschöpfe (Strigl, 2011). Für Sebastian Fasthuber vom Falter ist er jedoch „erfreulich frei von verklärenden Balkanklischees, die sich am deutschsprachigen Buchmarkt gut verkaufen lassen“ (Fasthuber, 2012). Beide gehen demnach von einem deutschsprachigen Publikum aus, das mit Klischees ausgestattet an die Lektüre geht – was dem Roman selbst die Aufgabe überträgt, diese durch die Schilderung von ‚Realität‘ auszuhebeln. Andrea Grill betont in ihrer Rezension in der Wiener Zeitung, wie auch im Nachwort zu Rauchschatten, die Allgemeingültigkeit des Buches: „Der Roman spielt zwar in Albanien, abgesehen von ein paar albanischen Halbsätzen und den Namen der Protagonisten, könnte er jedoch auch anderswo situiert sein; in einem fiktiven Überwachungsstaat zum Beispiel, der Albanien genannt wird“ (Grill, 2010). Aber Rauchschatten meint ganz eindeutig Albanien, und zwar das Albanien der 1980er Jahre, wie es sich für eine bestimmte Familie in Durrës darstellte. Die geschilderten Konkreta gehen dabei weit über die von Andrea Grill genannten hinaus. Doch auch der Schweizer Schriftsteller Catalin Dorian Florescu, der im selben Alter wie Ferra mit seiner Familie von Rumänien in die Schweiz floh, sieht den Verweis auf das „ewige menschliche Drama [...], das hier in einer albanischen Variation aufgefächert wird“ (Florescu, 2011). Und dies, obwohl gerade seine Rezension wie keine andere auf die spezielle Situation der geschilderten Figuren nahe dem Zentrum der Macht hinweist und den Roman geradezu ein „Handbuch des Lebens und Überlebens in der Diktatur“ nennt:

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„Man konnte, so sieht man hier, in der Diktatur auch als besserer TV-Techniker gut überleben, wenn man Beziehungen hatte. [...] Eine archaische, dörfliche Form der Vergesellschaftung, in der eine Hand die andere wäscht“ (Florescu, 2011). Dass selbstverständlich nicht die ganze Bevölkerung Albaniens über diese Beziehungen verfügte, gerät dabei jedoch ein wenig aus dem Blickfeld. Wenn Ferra einmal meinte, bei Rauchschatten „wollte ich die Rolle des Einwanderers ganz gefiltert von allem, was diese Rolle sonst mitträgt, beschreiben – das Leben des Einwanderers in der Zeit davor“ (Ferra in Kurz, 2012, 17), dann geben die Rezensionen ein gutes Beispiel dafür ab, dass die Rezeption Schwierigkeiten damit hat, ein individuelles, spezifisches Bild, wie es der Autor mit seinem Buch geliefert hat, wahrzunehmen – und auch jene Erzählverfahren zu registrieren, die das Geschilderte als unsicher und hinterfragenswert erscheinen lassen, wie anhand der beiden Romane nachgewiesen wurde. Doch das Bewusstsein, einen zugewanderten Autor vor sich zu haben, scheint dazu zu führen, ihn in die Rolle eines Repräsentanten geraten zu lassen, sei es für das Land seiner Herkunft, sei es für seine Existenz als Zuwanderer. Dem zweiten Roman Ferras, Minus, wurde in der Presse deutlich weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Die schwierige Beziehung des Autors zu seinem Verlag mag dabei eine Rolle gespielt haben. Die einzige längere Rezension in einer Tageszeitung erschien in der Wiener Zeitung. Wie in den meisten anderen, kürzeren Texten zum Roman versteht auch Werner Schandor das Werk zunächst als „Roman zum Glücksspiel in Wien“: „vermutlich gibt kein anderes Buch einen besseren Einblick in den Kosmos Wettlokal als dieses“, erkennt aber, dass es dem Autor nicht „um die Kritik am System, sondern vielmehr um die Menschen, die das Wettlokal der fiktiven Kette ‚BettOn‘ bevölkern“ (Schandor, 2015), geht. Die Rolle des Erzählers interessiert Schandor dabei nur wenig, und so kritisiert er gerade eine Stelle, mit der schon das Lektorat des Verlages seine Schwierigkeiten hatte: Auch wenn die mit Reflexionen unterfütterten Beschreibungen in „Minus“ manchmal ins Leere laufen und Ferra sich die aus dem Rahmen fallenden Schilderungen der Kiffergelage in seinem Freundeskreis überhaupt hätte sparen können, zieht einen der Roman doch weitgehend in seinen Bann, denn der Autor lässt selbst in den kleinsten Details immer auch das große Ganze durchschimmern. Dadurch nehmen viele Passagen poetisch ordentlich Fahrt auf. (Schandor, 2015)

Dass sich der Erzähler in der angesprochenen Szene als lächerliche und schon etwas heruntergekommene Figur erweist, fungiert im Roman jedoch als deutliches Zeichen dafür, dass ihm nicht unbedingt zu trauen ist und es vielleicht

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auch mit dem „große[n] Ganzen“, das Schandor erkennen will, nicht so weit her ist. Die in den meisten Rezensionen deutliche Tendenz, Erzähler und Autor gleichzusetzen, ist mit der Vorstellung verbunden, dass der Autor den LeserInnen eine – ihnen fremde – Welt ‚präsentiert‘ –, seine Befähigung dazu wird aus seinem Status als Autor mit ‚albanischer Herkunft‘ abgeleitet. Hinweise auf seine Herkunft fehlen dementsprechend in keiner Rezension. Im Falter ist das Buch „ein Blick hinter die Kulissen der Glücksspielindustrie und gleichzeitig ein Panorama der Randbezirke13 europäischer Großstädte“, das ein „Milieu“ darstelle, „das die meisten nur vom Dran-Vorbeigehen kennen“ (Fasthuber, 2014). Und im Kurier stellt sich das Buch gleich überhaupt dem „Unfassbaren, dass es eine Hintertür geben könnte, durch die nach dem Verbot wieder einarmige Banditen in Spielhallen gebracht werden können“ (Pisa, 2015), entgegen – und damit wird der Roman in unmittelbaren Zusammenhang mit der Diskussion um das Verbot von Wettautomaten in Wien gebracht. Wenn der Roman auf diese Weise politisch instrumentalisiert wird, dann erstaunt auch der abschließende schnoddrige Satz weniger: „Bissl zu lang ist der Text“. Für eine Kampfschrift sicher, für Literatur jedenfalls nicht. Dass eine Lektüre des Romans als sozialkritische Reportage mit politischem Auftrag auf jeden Fall in die Irre gehen muss, beweisen die kuriosen Äußerungen zum Roman, die sich auf (meist von Wettkonzernen gesponserten) Internetseiten zum Thema Glücksspiel finden lassen. Für einen Karl Neidel von der Seite spieler-info.at, hinter der der Glücksspielkonzern Novomatic steht (Sektion 8 der SPÖ Alsergrund, 2011), war die Rezension im Kurier Anlass, sich ebenfalls zum Buch zu äußern: Ich habe die ersten 50 Seiten des 453 Seiten langen Elaborats gelesen, mehr ist nicht zuzumuten. Insgesamt eine Sammlung aller negativen Klischees über Wettbüros, sämtliche Kunden sind entweder rauschgiftsüchtig oder Trinker, jedenfalls überwiegend Ausländer und unterstes Milieu. [...] Das ist ein bösartiges und unqualifiziert wertendes Heruntermachen einer Branche und der unteren Milieuschichten Wiens, das nahezu unerträglich ist. Durch die penible Beschreibung von Abläufen in einem Wettbüro inklusive Automatenkammerln, mit all den Problemen und Reibereien, die zwangsläufig vorkommen, weil es eben ein Vorstadt-Wettbüro in einem Arbeiterbezirk ist, und nicht die Aida am Stephansplatz, versucht der Autor dazustellen, so wäre es in der gesamten Branche. Damit stigmatisiert der selbsternannte Wallraff aber auch Menschen, die einem harmlosen Vergnügen nachgehen. (Neidel, 2015) 13

Meidling ist vielleicht aus der Sicht eines Redaktionsgebäudes im ersten Bezirk ein ‚Randbezirk‘, gehört aber schon unzweideutig zum städtischen Zentralraum Wiens.

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Hinter der nur schlecht verhüllten Perspektive des Lobbyisten ragen hier genau jene Stereotypen und Klischees hervor, gegen die Ilir Ferra auf komplexe literarische Weise angeschrieben hat.

Zusammenfassung Ilir Ferras Weg zum Schriftsteller führt über erstaunlich wenige Stationen und kam mit der Hilfe eines zwar kleinen, aber umso wirksameren Netzwerks zustande. Mit der Würdigung seiner Werke durch „schreiben zwischen den kulturen“ und den Chamisso-Preis sowie der Veröffentlichung seiner Werke in der Edition Atelier, die zunächst durch ihre Nähe zur Wiener Zeitung, dann als selbstständiger und ‚neuer‘ Verlag keineswegs fernab der Wahrnehmung lag, schien Ferras literarischer Erfolg auf einer sicheren Bahn. Doch die Wahrnehmung seiner Texte, sowohl durch die Rezeption als auch durch seinen Verlag, war Beschränkungen unterworfen. Wurde Rauchschatten vor allem als autobiografisches Zeugnis, das Auskunft über ‚das Leben‘ in Albanien geben sollte, gelesen, so dominierte bei der Rezeption von Minus die Erwartung, eine Art literarische Reportage vor sich zu haben, in der die ‚fremde Welt‘ des Glücksspiels jenen LeserInnen begreiflich gemacht würde, von denen stillschweigend vorausgesetzt wurde, dass sie niemals selbst ein Wettlokal betreten hätten. Dass der Verlag „[a]uthentische Einblicke in die nervenaufreibende Welt des Wettens“ (Edition Atelier, 2014) versprach und auch der Autor nicht verschwieg, einige Zeit in einem Wettbüro gearbeitet zu haben, mag Fehleinschätzungen begünstigt haben. Dennoch würden eigentlich beide Romane genügend textinterne Hinweise auf ihre jeweils unterschiedlichen, aber immer komplexen Erzählverfahren liefern, um sie vor den genannten Simplifizierungen zu bewahren. Die hochreflexive Literatur von Ferra, in der nicht nur dem Standpunkt des Erzählers, wie im Prolog von Rauchschatten, nicht zu trauen ist, sondern, wie in Minus, durchaus auch dem Erzähler selbst, geht sogar so weit, die Machtstrukturen des literarischen Feldes, also die Verhältnisse, unter denen geschrieben wird, – wiederum in Minus – darzustellen.

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Eine Suche nach Heimat: Stanislav Struhar Leben und Schreiben in einer anderen Sprache als der Landessprache bzw. Sprachwechsel und Leben und Schreiben in einer ‚fremden‘ Kultur und Sprache sind wiederkehrende Motive in Stanislav Struhars Werk. Wie kein anderer zugewanderter Autor in Österreich thematisiert Struhar dabei Themen wie Ausgrenzung und Diskriminierung – auch im literarischen Betrieb. Die Grenze bzw. der Ausschluss, mit denen seine Protagonisten, aber auch er selbst als Autor, konfrontiert sind, zeigen sich in der Sprache. In seinen ersten beiden Romanen erfahren seine Protagonisten Ausgrenzung im österreichischen Literaturbetrieb, da sie entweder in einer anderen, ‚fremden‘ Sprache schreiben oder gerade dabei sind, den Sprachwechsel ins Deutsche zu vollziehen. Sie sind gezwungen, ihre Sprache zu wechseln, denn ‚Integration‘ in den österreichischen Literaturbetrieb findet über die deutsche Sprache statt. Auch wenn das als natürlich erscheinen mag, weil Nation und Sprache weiterhin als eng miteinander verbunden gelten und die mehrsprachigen Realitäten in vielen europäischen Nationen ignoriert werden (Yildiz, 2012, 13), so gibt es dennoch auch Gegenbeispiele wie in Schweden, wo das literarische Schreiben von Zuwanderern und deren Nachfahren in ihrer jeweiligen Muttersprache mit staatlichen Mitteln gefördert wird (Sievers, 2016, vgl. auch Sievers, Grenzüberschreitungen in diesem Band). Struhar widersetzt sich mit seinen Werken der einsprachigen Vorstellung von Literatur und Nation, wie sie in Österreich weiterhin vorherrscht, so die These dieses Kapitels. Doch seine Werke sind nicht als „hybrid“ im Sinne Homi Bhabhas (1994) zu beschreiben, denn sie machen nicht Ambivalenzen sichtbar, um Grenzen aufzulösen, sondern zeigen kulturelle Grenzziehungen und Rassismus explizit auf. Nachdem aber Konzepte wie Hybridität die Auseinandersetzung über Literatur und Migration seit Mitte der 1990er bestimmen, findet Struhars Werk in dieser kaum Berücksichtigung.1 Im Vergleich zu seiner doch sehr umfangreichen literarischen Produktion wird das Werk von Struhar nur marginal wahrgenommen. Dabei widmet ihm die germanistische Forschung in der Tschechischen Republik noch die meiste Aufmerksamkeit. An der Univerzita Jana Evangelisty Purkynĕ in Ústí nad Labem entstanden erste Überblicke über 1

Das Konzept der Hybridität erweist sich auch bei Autoren wie Dimtré Dinev, die sich mit Machtstrukturen auseinandersetzen, als problematisch, wie Hannes Schweiger (2005) gezeigt hat.

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Leben und Werk Struhars (Cornejo, 2008; Hartmanová, 2015) sowie detaillierte Auseinandersetzungen mit seiner Sprach- und Migrationsbiografie (Cornejo, 2009a) und seinem Erzählband Fremde Frauen (Hartmanová, 2015). Abgesehen von diesen umfangreicheren Arbeiten, die vor allem von einer autobiografischen Rezeption geleitet werden, findet Struhars Werk in Aufsätzen, die sich allgemein mit der Literatur zugewanderter AutorInnen beschäftigen, meist nur am Rande Erwähnung (Fiddler, 2006; Grabovszki, 2009; Sievers, 2008). Im vorliegenden Aufsatz soll es um die Selbst- und Fremdpositionierung Stanislav Struhars und seines Werks im literarischen Feld der Gegenwart gehen. Geprägt ist diese von der Erfahrung der Fremdheit, die an ihn herangetragen wird, von kultureller Differenz, vom Bestehen auf nationalstaatlichen Konzepten, die sich etwa in Vorstellungen von ‚Heimat‘ und ‚Muttersprache‘ widerspiegeln. In all seinen Texten verhandelt Struhar die Frage der kulturellen und sprachlichen Zugehörigkeit bzw. Ausgrenzung. Doch in seinem Umgang mit Sprache und Literatur eröffnet sich weniger ein Raum des Möglichen, es ist vielmehr ein Grenzraum, der sichtbar wird. In den ersten zwei Abschnitten dieses Kapitels wird Struhars (Migrations-)Biografie in den Fokus gerückt. Thematisiert werden seine Flucht und seine Ankunft in Österreich sowie der Sprachwechsel vom Tschechischen ins Deutsche, den er weniger als kreative Auseinandersetzung denn als Zwang und Kampf mit der Grammatik erlebte. Im dritten Abschnitt soll Struhars Positionierung als Autor im literarischen Feld näher erörtert werden. Dabei werden vor allem die ‚Spielregeln‘ des literarischen Feldes sichtbar, seine Grenzen und Beschränkungen aufgezeigt. Der letzte Abschnitt widmet sich dem literarischen Schreiben, wobei ich vor allem auf seine ersten beiden Romane Das Manuskript und Eine Suche nach Glück eingehen werde, in denen er die Ausgrenzung im Literaturbetrieb zum Thema seiner Literatur macht.

Ein Stück Leben: Flucht und Ankunft Stanislav Struhar flüchtete 1988 im Alter von 24 Jahren mit seiner Frau von Tschechien nach Österreich. Flucht und Ankunft im neuen Land waren nicht einfach, da die Familie vorerst den kleinen Sohn in Tschechien zurücklassen musste. Darüber hinaus war es für den Autor, wie er im Gespräch erzählte,2 ein steiniger Weg, Deutsch zu seiner Literatursprache zu machen. Er schrieb zunächst in seiner Muttersprache Tschechisch, doch da es sich als schwierig her2

Dieses Gespräch führe die Verfasserin mit Stanislav Struhar am 25. Februar 2015 in Wien. Im Folgenden kennzeichne ich Passagen aus diesem Gespräch mit dem Kürzel Interview.

Eine Suche nach Heimat: Stanislav Struhar

ausstellte, tschechische Literatur in deutscher Übersetzung zu veröffentlichen, entschloss er sich zum Sprachwechsel. In seiner Publikationsliste lässt sich dieser deutlich ablesen. Zuerst veröffentlichte er in deutscher Übersetzung, bevor er, erst rund 15 Jahre nach seiner Ankunft in Österreich, die deutsche Sprache zu seiner Literatursprache machte: Sein erstes veröffentlichtes Buch war der Gedichtband Der alte Garten, der 1999 im Resistenz Verlag erschien.3 Es folgte 2002 im Drava Verlag der Roman mit dem Titel Das Manuskript. Der erste auf Deutsch geschriebene und veröffentlichte Roman Eine Suche nach Glück erschien schließlich 2005 im Kitab-Verlag. Seine ‚literarische Heimat‘ scheint der Autor im Klagenfurter Wieser Verlag gefunden zu haben. Dieser publizierte mittlerweile drei Bücher des Autors: 2013 den Erzählband Fremde Frauen sowie 2014 und zuletzt 2015 die Romane Das Gewicht des Lichts und Die vertrauten Sterne der Heimat.4 Auch in seiner „alte[n] Heimat“ Tschechien (Interview) ist er als Autor präsent. Fast alle seiner Bücher erschienen ebenfalls in tschechischer Sprache: 2004 Rukopis (dt. Das Manuskript), 2007 Hledání štěstí (dt. Eine Suche nach Glück), 2013 Cizinky (dt. Fremde Frauen),5 2014 Váha světla (dt. Das Gewicht des Lichts) sowie 2015 Stará zahrada (dt. Der alte Garten). Eine Ausnahme bildet Opuštěná zahrada (2004, dt. Übersetzung „Ein verlassener Garten“), das bislang ausschließlich in tschechischer Fassung vorliegt. Stanislav Struhars erste Veröffentlichung Der alte Garten (1999)6 verrät wahrscheinlich mehr über sein Leben in der Tschechoslowakei, seine Flucht und seine Ankunft in Österreich als eine schlichte biografische Schilderung. Der Gedichtband beinhalte für ihn „die persönlichsten Texte, die ich jemals geschrieben habe. Es sind wirklich autobiografische Texte, die direkt etwas mit meinem Leben zu tun haben. Es hat mich gefreut, dass es ausgerechnet diese Texte waren, 3

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Einzelne Gedichte aus diesem Band wurden später in Sammelbänden bzw. Zeitschriften wiederholt abgedruckt (Bagheri-Goldschmied, 2014; Struhar, 2003, 2010, 2014b). Interessant ist die Anthologie österreichischer Lyrik, die 2014 von Nahid Bagheri-Goldschmied herausgegeben wurde. Die Gedichte wurden in Deutsch und in persischer Übersetzung von BagheriGoldschmied veröffentlicht. Im Frühjahr 2016 erschien ein neuer Erzählband von Stanislav Struhar im Wieser Verlag – Farben der Vergangenheit (Struhar, 2016). Dieser enthält Struhars erste deutschsprachige Prosaerzählung „Die Diebin“. Für diesen Hinweis danke ich dem Autor (E-Mail-Korrespondenz vom 23. November 2015). Mit Ausnahme des Titels Cizinky konnten alle Titel wörtlich ins Tschechische übertragen werden. „Cizinky“ hat mehr die Bedeutung von „Ausländerinnen“ (vgl. Hartmanová, 2015, 59). Der Gedichtband wurde 2001 in einer zweisprachig deutsch-tschechischen Ausgabe in der Edition Doppelpunkt neu aufgelegt (Struhar, 2001). Darüber hinaus veröffentlichte der Verlag Kniha Zlín unlängst die tschechische Ausgabe des Gedichtbandes (Struhar, 2015b).

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die zuerst erschienen sind“ (Interview). Der Gedichtband besteht aus drei Zyklen bzw. ist in drei Abschnitte unterteilt, die verschiedenen Lebensstationen des Autors zugeordnet sind. Der erste trägt den Titel „Ein Stück Tod“. Diese Gedichte, „ich weiß nicht mehr auswendig, wie viele es sind, zehn oder zwölf vielleicht, habe ich im Rucksack bei meiner Flucht über die Berge getragen“ (Interview). Diese ersten Gedichte entstanden in seiner Jugendzeit, in den Jahren 1982 bis 1989, und sind eher düster gefärbt.7 Der zweite Zyklus des Bandes, „Ein Stück Leben“, handelt von der Migration nach Österreich und verarbeitet die ersten Eindrücke im neuen Land. Er schrieb diese Gedichte zwischen 1990 und 1995. „Ein Stück Wien“, der letzte Abschnitt, entstand nach dem Umzug in die Hauptstadt zwischen 1995 und 1998. Die Gedichte spiegeln Erlebtes des Autors wider. In ihnen geht es unter anderem darum, eine dunkle Vergangenheit in Tschechien hinter sich zu lassen und ein neues Leben, mit Hoffnungen und Perspektiven – die jedoch zum Teil enttäuscht werden –, in Österreich zu beginnen. „Umwickelt von welken Blumen / Kullerte ich über den sommerlichen Abhang / In ein neues Leben“ (Struhar, 2001, 78). Die Vergangenheit, symbolisiert durch die welken Blumen, lässt sich jedoch nicht so leicht abschütteln und wird als Last in die Zukunft mitgenommen. Wie sieht nun diese Vergangenheit aus, die Struhar dunkel in den Gedichten andeutet? Der Autor, 1964 in Gottwaldov, dem heutigen Zlίn, geboren, beendete nach der Pflichtschule eine dreijährige Schlosserlehre. Den Beruf sollte (und wollte) er jedoch nie ausüben. Bereits während der Lehre „besuchte ich ambulant eine psychiatrische Abteilung und am Ende der Lehre wurde ich schließlich mit Schnittwunden am linken Arm in die geschlossene Abteilung des psychiatrischen Krankenhauses in Kromĕřίž eingeliefert“ (Cornejo, 2009b, 541). Diese Erfahrungen und auch das schwierige Verhältnis zu seinen Eltern verarbeitete er zum Teil im literarischen Schreiben. „Ich wohnte damals bei den Großeltern und träumte davon, wie ich eines Tages im Ausland ein anderes Leben beginnen werde“ (Cornejo, 2009b, 541). Den Entschluss auszuwandern fasste er bereits in Jugendjahren, denn eine Zukunftsperspektive hatte er in der kommunistischen Tschechoslowakei nicht. In unserem Gespräch meinte er dazu entschieden: „Es war von Anfang an klar, ich wollte weg“ (Interview). Die Flucht, die mit seiner Frau und ihrem gemeinsamen kleinen Sohn stattfinden sollte, plante er lange im Voraus. Die einzige Möglichkeit, das Land zu verlassen, war über Jugoslawien. Es dauerte zwei Jahre, bis die Familie überhaupt eine Genehmigung für 7

Die genauen Entstehungsdaten der einzelnen Zyklen entnehme ich dem Auszug eines Briefes von Stanislav Struhar an den Leiter des Resistenz Verlags, Dietmar Ehrenreich, der dem Gedichtband vorangestellt wurde (Struhar, 1999).

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eine Urlaubsreise nach Jugoslawien bekam. Diese durfte jedoch nur unter der Bedingung angetreten werden, dass das Kind bei den Eltern bzw. Großeltern zurückblieb: Wir ließen uns darauf ein, da wir schon Informationen von Personen hatten, die geflohen sind, dass man über das Rote Kreuz das Kind innerhalb von bzw. spätestens nach drei Monaten bekommen kann. […]. Erst im Flüchtlingslager Traiskirchen haben wir dann aber von der Caritas erfahren, dass damals 1988 die Tschechoslowakei [im Fall einer Familienzusammenführung] nicht mit dem Roten Kreuz zusammenarbeitete. […]. Das war ein großer Schock, denn wir konnten nichts mehr machen. (Interview)

Damit nahm „[d]ie schlimmste Zeit unseres Lebens […] ihren Anfang“ (Cornejo, 2009b, 542). Die Eltern setzten sich zwei Jahre für die Ausreise ihres Kindes ein, mussten jedoch bis zur politischen Wende 1989 warten, bis schließlich ihr Sohn im Jänner 1990 nach Wien kommen konnte. Der Plan der Familie Struhar war ursprünglich, nicht in Österreich zu bleiben, sondern nach Kalifornien auszuwandern. Die Familie wollte einfach „weg von Europa“ (Interview). Doch da der Sohn keine Ausreiseerlaubnis erhielt und es für die Eltern leichter war, sich von Österreich aus für ihn einzusetzen, beschloss man, im Nachbarland zu bleiben. Österreich war für Struhar von Anfang an Tschechien kulturell sehr ähnlich. „Nur die Sprache war anders“ (Interview). Zu Beginn lernte er in Österreich, da er die deutsche Sprache noch nicht beherrschte, viele Tschechen kennen. Doch nach der Flucht wollte er „mit dem Land [und seiner Bevölkerung] nichts mehr zu tun haben. […] Der Großteil der Bevölkerung hat diese Totalität des Kommunismus unterstützt“ (Interview). Enttäuschung und Verletzung gingen so weit, dass er sich bewusst abgrenzte: Zu Beginn bewegten wir uns vor allem im Kreis von tschechischen Zuwanderern. Aber ich habe mich dann Anfang der 1990er Jahre von ihnen getrennt, weil ich wusste, wir haben in Österreich ein neues Zuhause gefunden und ein neues Leben begonnen. […] Ich habe mir gedacht, ich habe hier neu angefangen, eine neue Heimat gefunden, ich kann doch nicht immer irgendwo am Rande der Gesellschaft, in einer Gruppe von Tschechen leben. Dann kann ich gleich zurück. (Interview) 8

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Selbst Struhars literarische Protagonisten und seine Schauplätze (vgl. Das Manuskript, Eine Suche nach Glück) sind nicht ‚am Rand‘ angesiedelt, sondern im Zentrum. Viele der Orte finden sich in der Wiener Innenstadt, im ersten Bezirk, wie in der Analyse seiner literarischen Werke noch detaillierter herausgearbeitet wird.

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‚Heimat‘ spiegelt dabei etwas Absolutes wider, das keine Ambivalenz zulässt. Um eine neue zu bekommen, musste er die alte vollständig hinter sich lassen. 1994 erhielt er die österreichische Staatsbürgerschaft und ließ dabei auch den Familiennamen „aus pragmatischen Gründen“ ändern (Interview). Bei der Namensänderung – ein sichtbares Zeichen des Bekenntnisses zur „neuen Heimat“ – wurde das Háček aus dem Nachnamen entfernt und dieser somit ans Deutsche angepasst – aus Struhař wurde damit Struhar; auch seine Frau legte das -ová in ihrem Namen ab.9 In Tschechien jedoch stößt seine Namensänderung vielerorts auf Unverständnis. „Es gibt Menschen, die mich ständig [danach] fragen, [...]. Diese Fragen werden oft mit so einem Ton gestellt, als wäre ich ein Verräter“ (Interview). Nicht selten kündigen ihn Veranstalter bei Lesereisen in Tschechien mit einem Háček im Familiennamen an. Struhar beschreibt seine Erfahrungen in Österreich durchwegs positiv, vor allem Wien hatte für ihn eine große Anziehung, denn hier spürte er ein starkes Gefühl von „Freiheit“ (Interview). Seine Erfahrungen widersprachen zum Teil jenem Bild, mit dem er in der Tschechoslowakei aufwuchs. Als er neun Jahre nach seiner Flucht 1997 zum Begräbnis seines Vaters nach Tschechien reiste, stritt er mit seinen alten Freunden, die diese positiven Erfahrungen nicht akzeptieren konnten und meinten: „bei denen wirst du nie zu Hause sein“: Ich habe zu jener Generation gezählt, die in der Schule oft gehört hat, dass die Deutschen, aber auch die Österreicher sich immer für etwas Besseres gehalten haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg, auch zu meiner Zeit, war diese Meinung, dieser Rassismus, noch sehr präsent, dass die Deutschen oder die Österreicher die „reine Rasse“ sind. […] Wir Slawen werden da nie aufgenommen. Ich habe noch zu dieser Generation gezählt, die das in der Schule wirklich gehört haben. Ich habe das nicht geglaubt, aber trotzdem war ich in meinem Inneren […] doch vorsichtig. (Interview)

Deutlich sichtbar werden in diesem Diskurs kulturelle, historisch geprägte Hierarchien zwischen „West“ und „Ost“. Auch die Vorstellung von Heimat und Zugehörigkeit zu dieser (man könne nur „eine Heimat“ besitzen) ist eine absolute. Struhars eigene Erfahrungen decken sich jedoch nicht mit dem hegemonialen Diskurs. „Ich wurde in Österreich gut aufgenommen. Vielleicht habe ich Glück gehabt, aber ich habe nie zu spüren bekommen, dass ich Ausländer bin“ (Interview). Stanislav Struhars Frau machte jedoch ganz andere Erfahrungen. In der Tschechoslowakei studierte sie Chemie, in Österreich wurde ihr Studium nicht 9

Wenn eine Frau den tschechischen Familiennamen ihres Mannes annimmt, dann erhält sie den Suffix -ová, zum Beispiel: Struhařová.

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anerkannt. Daher musste sie Stellen annehmen, für die sie eigentlich überqualifiziert war. Sie arbeitete zuerst als Fotolaborantin und später als Laborassistentin an der Universität. Sie kam oft weinend nach Hause und hörte Sätze wie Klassen soll man nicht vermischen, das bekam sie von Professoren gesagt. Sie hat im Vergleich zu mir Pech gehabt. Vielleicht lag es auch daran, dass sie eine Frau ist, und man hat sich getraut – vor allem die männliche Seite –, ihr gegenüber etwas zu sagen. Etwa die Frage: Warum gehst du nicht auf dem Gürtel, da verdienst du mehr. Da sind eh viele Polinnen und Tschechinnen. (Interview)

Struhar selbst spürte Ausgrenzung und Rassismus erst, als er versuchte, als Autor im literarischen Betrieb Fuß zu fassen. „Die größte Enttäuschung war die, unter Anführungszeichen, Aufnahme in die Literaturszene in Österreich. Ich sage Anführungszeichen, weil es eigentlich keine gegeben hat“ (Interview). Seine Erfahrungen mit dem und Eindrücke vom österreichischen Literaturbetrieb verarbeitete er in den beiden Romanen Das Manuskript und Eine Suche nach Glück. Im Fokus steht vor allem die sprachliche Grenze, die für die Protagonisten zum Ausschlusskriterium wird. Die Grenze zeigt sich im Schreiben in der ‚fremden‘ Sprache bzw. im Sprachwechsel ins Deutsche, der nötig zu sein scheint, um Anerkennung zu finden.

Erzwungener Sprachwechsel „Ich habe nichts Fremdartiges nach Österreich gebracht, außer meiner Muttersprache“ (Interview). Kultur und Mentalität in Österreich waren Struhar vertraut, da sie für ihn den tschechischen sehr ähnlich waren. „Ich habe hier Menschen getroffen, die mich sehr an meine Freunde in Tschechien, die ich verlassen habe, erinnerten. Die Sprache war anders, ja, aber ihr Äußeres, ihr Humor, ihr Lachen hat mich sehr an sie erinnert“ (Interview). „Das Fremde“ offenbarte sich erst in der Sprache. Die deutsche Sprache gefiel ihm anfänglich nicht, nahm er sie doch als „sehr hart, sehr kühl“ wahr (Interview). Der Sprachwechsel vom Tschechischen ins Deutsche war für Struhar schwierig. Es vergingen 17 Jahre von der Ankunft bis zur ersten deutschsprachigen Romanveröffentlichung. In Tschechien lernte Stanislav Struhar als Vorbereitung auf die Flucht Englisch – wollte er doch mit seiner Familie ursprünglich nach Kalifornien. Deutsch kam erst später hinzu. Angekommen in Österreich, besuchte er gemeinsam mit seiner Frau einen Sprachkurs am Goethe-Institut. Den für ihn besten Unterricht genoss er jedoch in Gegenwart seiner deutschsprachigen Freunde (Interview).

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Der Weg zur Beherrschung der deutschen Sprache war ein langer und steiniger: „[F]ür mich war es eigentlich unvorstellbar am Anfang, dass ich die deutsche Sprache jemals sprechen, geschweige denn, dass ich in dieser Sprache schreiben werde. Ich habe die deutsche Sprache damals nicht gemocht, muss ich ehrlich sagen“ (Interview). Seine literarischen Texte schrieb er zu dieser Zeit noch auf Tschechisch, und er versuchte, eine deutschsprachige Übersetzung anfertigen zu lassen, die er an österreichische Verlage verschicken konnte. Doch dieses Unternehmen erwies sich als beinahe aussichtslos. Denn einerseits war es schwierig, überhaupt eine(n) Übersetzer(in) für eine bezahlte Probeübersetzung bzw. für eine inhaltliche Zusammenfassung des Textes zu finden. Andererseits waren die meisten Verlage nicht daran interessiert, für ein Buch eine deutschsprachige Übersetzung anfertigen zu lassen. Einzig der Drava Verlag, dessen Schwerpunkte vor allem auf slowenischsprachiger Literatur in Kärnten, auf Literatur aus Südosteuropa und auf Themen wie Mehrsprachigkeit oder Migration liegen, fertigte eine solche Übersetzung an und publiziert schließlich 2002 Struhars ersten Roman Das Manuskript. Aufgrund der Erfahrung der Zurückweisung durch die Verlage, auf die ich im nachfolgenden Kapitel näher eingehen werde, war für Struhar klar, dass eine Existenz als tschechisch schreibender Autor in Österreich „chancenlos“ sei. Ablehnung und die ausbleibenden Publikationsmöglichkeiten festigten in ihm die Gewissheit: „Ich war gezwungen, die literarische Sprache zu wechseln“ (Interview). Der Sprachwechsel entsprang bei Struhar aus der dringlichen Notwendigkeit, als Autor überhaupt wahrgenommen zu werden. Im Gedichtband Der alte Garten, der von Jan Peter Abraham ins Deutsche übertragen wurde, finden sich bereits einige Gedichte, die der Autor in deutscher Sprache verfasste – im Band sind diese mit einem Stern gekennzeichnet. Eine Suche nach Glück war schließlich der erste auf Deutsch verfasste Roman. „Das war eine Zeit, als ich dringend einen Lektor gebraucht habe […], weil ich damals viele grammatikalische und stilistische Fehler gemacht habe. Ich habe jemanden gebraucht, der die deutsche Sprache als Muttersprache hat“ (Interview). Der Kitab-Verlag, in dem Eine Suche nach Glück erscheinen sollte, ließ den Text – wenn auch sehr mangelhaft – lektorieren. Struhar arbeitete sehr intensiv an seiner deutschen Sprache, um diese so korrekt wie möglich zu beherrschen. Eine Person, die ihm beim Erlernen der Sprache zur Seite stand, war Traude Veran. Sie selbst ist als Autorin, vor allem von Lyrik, tätig und arbeitete damals für die Edition Doppelpunkt als Lektorin. Dort erschien dann auch eine Neuauflage von Struhars Gedichtband Der alte Garten (2001); dieses Mal in einer zweisprachig tschechisch-deutschen Ausgabe. Traude Veran las seine Texte Korrektur: „Das war eine große Unterstützung.

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Ich habe die Texte dann noch überarbeiten müssen, aber sie hat mir geholfen, diese Grundfassung zu schaffen“ (Interview).10 Zwischen Struhars erster in deutscher Sprache verfasster Publikation, Eine Suche nach Glück, im Jahr 2005 und dem darauffolgenden Erzählband Fremde Frauen (2013) lag eine lange Pause von acht Jahren. In dieser Zeit habe er sich „wirklich sehr, sehr intensiv mit der deutschen Sprache beschäftigt“ (Interview). Der Rückzug kann durchaus als Reaktion auf die fehlende Resonanz der Verlage und RezensentInnen gelesen werden. Manche glaubten, so Struhar, „den Ausländer“ in den Texten zu „spüren“ (Interview). Eine Suche nach Glück etwa wurde nur peripher rezipiert (Anonym, 2006; Kauder, 2005; Pittler, 2005). Bis zu Struhars nächster Publikation sollte eine lange Zeit des Sprachenlernens vergehen. In unserem Gespräch beschreibt Struhar diesen Prozess nicht als etwas Kreatives – es ist kein Spielen mit Sprache, sondern vielmehr eine normative Entwicklung zum grammatikalisch und stilistisch korrekten Schreiben. Viel stärker als andere AutorInnen thematisiert Struhar jene Probleme und Schwierigkeiten, die mit dem Erlernen einer Sprache einhergehen.11 Dieser Prozess bietet für ihn keinen Raum des Möglichen, der kreative Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet, in dem etwa sprachliche Grenzüberschreitungen oder Neuschöpfungen entstehen können. Sprachgrenzen und Limitierungen, statt Möglichkeiten und Perspektiven, dominieren das Sprachenlernen. Zu Beginn habe er noch versucht, direkt aus dem Tschechischen ins Deutsche zu übersetzen. Jeder Satz, sogar jedes Wort wurde von ihm einer genauen Prüfung unterzogen, ob es wohl auch seine Richtigkeit habe: „Irgendwann habe ich gespürt, dass die deutsche Sprache schon in meinem Kopf ist. Ich sage sogar in meinem Herzen, weil ich immer weniger nach meinem Wörterbuch greifen musste. Am Anfang habe ich immer übersetzt. Ich habe tschechisch gedacht und das Tschechische ins Deutsche übersetzt“ (Interview). Die „Fremdheit“ der deutschen Sprache wich mit fortschreitendem Erlernen. Das Deutsche wurde von ihm nicht mehr, wie anfänglich erwähnt, als „sehr hart, sehr kühl“ wahrgenommen. Er empfand es nunmehr als „irrsinnig reich, interessant und schön“ (Interview). 10

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Stanislav Struhar übersetzte zudem Gedichte von Traude Veran ins Tschechische. Der Band erschien 2009 im Dauphin Verlag unter dem Titel Někteří chtějí vždy znovu přijít (Veran, 2009). Es macht durchaus einen Unterschied, ob man die Sprache als Kind im (österreichischen) Schulsystem erlernt oder zu einem späteren Zeitpunkt. Die AutorInnen kamen in unterschiedlichen Lebensabschnitten nach Österreich, bzw. der Zeitpunkt des Erlernens der deutschen Sprache war ein anderer: Anna Kim kam im Alter von zwei Jahren nach Deutschland, später nach Österreich; Julya Rabinowich und Michael Stavarič waren sieben Jahre alt, als sie nach Österreich kamen, Radek Knapp zwölf und Dimitré Dinev 22 (vgl. Schwens-Harrant, 2014).

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Mittlerweile, nach seiner vierten in deutscher Sprache verfassten Buchveröffentlichung, habe er die Sprache „schon sehr gut im Griff “ (Interview). „Gut im Griff “ haben bezieht sich dabei auf die korrekte Sprachverwendung, vor allem auf Stilistik und Grammatik. Über die Korrekturen an seinen Manuskripten beim Wieser Verlag, wo seine letzten drei Bücher erschienen, erzählt er: „Sie machen […] nicht mehr so viele Korrekturen. Meistens habe ich etwas vergessen wie zum Beispiel Beistriche. Schade, dass ich es Ihnen nicht zeigen kann. Ich könnte es Ihnen zur Ansicht bringen, aber es gibt Seiten, wo nur zweimal etwas angemerkt wurde, sonst nichts“ (Interview). In unserem Gespräch schwingt bei dieser Aussage ein Gefühl von Stolz mit, weil er nun seinen Büchern jene Form geben kann, die er sich wünscht. Gleichzeitig spiegelt sich darin auch eine allgemeine Tendenz in Verlagen wider, dem Lektorat weniger Bedeutung beizumessen.

Grenzen und Spielregeln des literarischen Feldes Stanislav Struhars Autorenexistenz führt weniger die Möglichkeiten des Schreibens im literarischen Feld als seine Grenzen und Beschränkungen vor Augen. Diese Grenzen zeigen sich im Schreiben in der ‚fremden‘ Sprache. Struhar versuchte, Anfang der 1990er Jahre als Autor Fuß zu fassen. Zu dieser Zeit waren zugewanderte AutorInnen in der literarischen Öffentlichkeit noch nahezu unsichtbar. Erst strukturelle, gesellschaftliche Entwicklungen im Laufe der 1990er Jahre führten zu Veränderungen (Kucher, 2001; Sievers, 2008; Vlasta, 2011). Engagierte Einzelpersonen und Verlage wie die edition exil in Wien mit ihrem seit 1997 bestehenden Literaturpreis „schreiben zwischen den kulturen“ trugen zur Sichtbarkeit dieser AutorInnen bei, und auch Dimitré Dinevs Erfolgsbuch Engelszungen, erschienen 2003 im Deuticke Verlag, rückte das Schreiben Zugewanderter zunehmend ins Zentrum der Aufmerksamkeit (Schwaiger, 2016). Stanislav Struhar kam nicht nur gewissermaßen ‚zu früh‘ ins literarische Feld, sondern im Gegensatz zu anderen zugewanderten AutorInnen wie Julya Rabinowich oder Anna Kim, die als Kinder nach Österreich kamen und die deutsche Sprache daher sehr früh erlernten, schrieb er seine ersten literarischen Texte noch in seiner Muttersprache Tschechisch. Mehr als schwierig war es für ihn, diese Texte in deutschsprachiger Übersetzung in Österreich zu publizieren. Eine Autorin wie Tanja Maljartschuk, die nach wie vor in ihrer Muttersprache Ukrainisch schreibt, war bereits vor ihrer Migration nach Österreich eine etablierte Schriftstellerin in der Ukraine (vgl. Schwaiger zu Maljartschuk in diesem Band). Dank dieser bestehenden Kontakte publiziert sie ihre Literatur nach wie vor zuerst bei einem ukrainischen Verlag, bis diese dann in deutscher Übersetzung

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erscheinen. Struhar hatte diese Möglichkeit, in Tschechien zu veröffentlichen, nicht. Zum einen nahm er seine schriftstellerische Tätigkeit erst in Österreich auf, wobei er bereits erste literarische Texte und Gedichte in der Tschechoslowakei verfasste. Und zum anderen bestand nach seiner Flucht nach Österreich vorerst keine Möglichkeit (mehr), in der „alten Heimat“ zu publizieren. Erst 16 Jahre nach seiner Ankunft in Österreich erschienen seine Werke auch in der Tschechischen Republik (Rukopis und Opuštĕná zahrada, 2004). In Österreich versandte Struhar ein erstes Buchmanuskript mit einem Begleitbrief an Verlage, in der Hoffnung auf eine Publikationsmöglichkeit. In den Verlags-Rückmeldungen wies man ihm jedoch einen Platz ‚außerhalb‘ zu. Im Gespräch erinnert er sich: Ich habe [im Brief ] darauf hingewiesen, dass ich österreichischer Staatsbürger bin, dass alles, was ich schreibe, mit Österreich zu tun hat und dass ich mit Tschechien weder literarische noch persönliche Kontakte habe. Zurück kam dann die Antwort: Sie, als tschechischer Staatsbürger, sollten sich an die tschechische Botschaft wenden. Das war eine Anspielung, weil ich meinen Brief eröffnet habe mit den Worten: Ich bin ein österreichischer Staatsbürger, und sie schreibt zurück: Sie, als tschechischer Staatsbürger, … Also, das hab ich schon sehr merkwürdig gefunden. (Interview)

Obwohl hier explizit Staatsbürgerschaft als Ausschlusskriterium genannt wird, illustriert das nur, wie sehr Sprache und Nation noch als eine Einheit gedacht werden. Denn das eigentlich – zumindest aus Perspektive des Literaturbetriebs – Problematische ist Struhars Missachtung der ‚Spielregeln‘ des literarischen Feldes, da er Texte in tschechischer Sprache im ‚deutschsprachigen‘ Österreich veröffentlichen wollte. Nur sehr wenige Verlage in Österreich publizieren auch Werke in nichtdeutscher Sprache. Und wenn, dann sind es vor allem jene, die sich auf die Förderung der Literatur von Minderheiten und Volksgruppen in Österreich spezialisiert haben, wie etwa die Verlage Drava und Wieser in Kärnten. Selbst für die edition exil in Wien, deren Verlagsschwerpunkt auf der Förderung der Literatur und Kultur von Minderheiten und MigrantInnen liegt, scheint (gelebte) Mehrsprachigkeit nur Randthema zu sein. Die bisher erschienenen Publikationen sind größtenteils deutschsprachig, fremdsprachige Veröffentlichungen bzw. zweisprachige Ausgaben bilden eher die Ausnahme.12 12

Exil-Veröffentlichungen der Autorin und Künstlerin Ruth Weiss sowie der von Lisa Grösel herausgegebene Lyrikband Otito Aye – Universal Truth (2004) sind zweisprachig deutschenglisch erschienen. Darüber hinaus publizierte exil unlängst einen zweisprachigen Lyrikband von Antina Zlatkova in einer deutsch-bulgarischen Ausgabe (verein exil, ohne Jahr).

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‚Integration‘ in den österreichischen Literaturbetrieb findet also immer noch über die deutsche Sprache statt. Schreibt man in einer anderen Sprache, hat man „keine Chancen an Literaturwettbewerben teilzunehmen. Man kriegt keine Stipendien, keine Veranstaltungsmöglichkeit, keine Lesungs- und Publikationsmöglichkeiten. Man wird wirklich zu einem Außenseiter“ (Interview). Struhar ließ seine ersten auf Tschechisch verfassten Texte ins Deutsche übertragen, um überhaupt eine Möglichkeit der Veröffentlichung zu haben. Da er in Österreich niemanden für eine Übersetzung seiner Werke finden konnte, schrieb er ÜbersetzerInnen aus dem Ausland an. Die 1997 verstorbene Übersetzerin Susanna Roth, die unter anderem Milan Kundera und Bohumil Hrabal ins Deutsche übertrug, vermittelte ihm Kontakte zu zwei Bohemisten in Deutschland, die bereit waren, Übersetzungen seiner Texte anzufertigen. Wirft man einen Blick auf Struhars literarische Laufbahn, so zeigt sich deutlich, dass er zunächst in Kleinverlagen eine Veröffentlichungsmöglichkeit bekam. Später dann, um das Jahr 2000, als zugewanderte AutorInnen zunehmend an Sichtbarkeit gewannen und Verlage auf sie verstärkt aufmerksam wurden, war er als Autor über Verlage, die sich für Minderheiten und zugewanderte AutorInnen starkmachen, repräsentiert.13 Seine erste Buchveröffentlichung war der Gedichtband Der alte Garten, der 1999 im Kleinverlag Resistenz in der Übersetzung von Jan-Peter Abraham erschien. Der Verlag konnte bereits auf die von Struhar bezahlte deutschsprachige Übertragung zurückgreifen, was eine Veröffentlichung vereinfachte. Auf der Verlagswebsite des Resistenz Verlages sowie im Impressum des Gedichtbandes findet sich der programmatische Satz, der die Philosophie des Verlegers Dietmar Ehrenreich widerspiegelt: „Resistenz bedeutet Widerstandsfähigkeit, und Literatur hat einen so geringen Stellenwert in unserer Gesellschaft, daß es starker Resistenz bedarf, Schriftstellern ein gutes Publikationsforum bieten zu können“ (Struhar, 1999). Der Verleger scheint die Veröffentlichung von Struhars Werk also ganz im Sinne des Autors als eine Art Widerstand gegen gängige Verlagspraktiken in Österreich verstanden zu haben. Nur kurze Zeit später, 2001, ging 13

Die Definition und Größenordnung von Kleinverlagen kann sehr unterschiedlich ausfallen, das zeigen die Diplomarbeit von Alexandra Monz zur Situation von Kleinverlagen in Österreich 1975 bis 1995 sowie die Masterarbeit von Emily Walton, die Entwicklungen ab 1995 abdeckt (Monz, 1996; Walton, 2013). Resistenz, die Edition Doppelpunkt und der KitabVerlag sind von ihrer Größenordnung her klassische Kleinverlage. Drava und Wieser hingegen sind größer und breiter aufgestellt. An lieferbaren Titeln verzeichnet Wieser etwa 300 und Drava 450; im Vergleich dazu hat der Kitab-Verlag 100 lieferbare Titel im Programm und der große Residenz Verlag 500. Die Zahlen stammen aus dem von Michael Schnepf herausgegebenen Verlagsführer Österreich 2008 (Schnepf, 2008).

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die Edition Doppelpunkt noch einen Schritt weiter, indem sie eine zweisprachige Ausgabe des Gedichtbandes herausgab. Über die Edition Doppelpunkt ließ sich kaum mehr herausfinden, als dass sie 1993 gegründet und 2007 von der Erika Mitterer Gesellschaft übernommen wurde (Walton, 2013), aber Struhar betonte, dass sie für zugewanderte AutorInnen eine besondere Bedeutung hat: Sie „hat aus den zugewanderten Kreisen Autoren verlegt, und da wusste ich, mit denen konnte man sich vielleicht unterhalten“ (Interview). Struhars erster, auf Tschechisch verfasster und ins Deutsche übersetzter Roman Das Manuskript erschien 2002 beim Drava Verlag, der 1953 gegründet wurde und sich zunächst auf die Veröffentlichung literarischer Werke von kärntner-slowenischen AutorInnen in slowenischer Sprache bzw. in deutschsprachiger Übersetzung konzentrierte (zur Geschichte und Entwicklung des Drava Verlags, vgl. Drava Verlag, ohne Jahr; Slovenska prosvetna zveza. Slowenischer Kulturverband, ohne Jahr). Das Programm des Verlages erweiterte sich jedoch zusehends: „Angefangen hat Drava vor 50 Jahren als kleiner, regionaler Minderheitenverlag. Heute werfen wir unsere Netze über ganz Europa aus“, heißt es im Verlagsporträt (Drava Verlag, ohne Jahr). Im Verlagsprogramm finden sich, neben kärntner-slowenischer Literatur, unter anderem Bücher in Übersetzung aus dem südosteuropäischen Raum, zeitgenössische Literatur sowie literarische Werke von anderen Minderheiten und zugewanderten AutorInnen. Bekannte AutorInnen des Verlages sind unter anderem Maja Haderlap, Florjan Lipuš und der 2016 verstorbene Fabjan Hafner. Der Schwerpunkt liegt auf Belletristik, wobei aber auch wissenschaftliche Arbeiten und Sachbücher im Programm vertreten sind. Struhars Das Manuskript ist Teil der „Edition Niemandsland“, die von der Grünen Bildungswerkstatt Minderheiten herausgegeben wurde. Eines der ersten in dieser Edition verlegten Bücher war Dragoslav Dedovićs 1997 erschienener deutsch-serbokroatischer Gedichtzyklus Von edlen Mördern und gedungenen Humanisten. „Niemandsland“ wird auf der Website des Drava Verlags folgendermaßen beschrieben: Einwanderer, Flüchtlinge, Angehörige von Minderheiten oder der zweiten Generation ... Immer mehr Menschen leben in mehr als einer Kultur. Im Niemandsland dazwischen entsteht eine Literatur, die neue Blickwinkel und Sichtweisen öffnet. Drava gibt ihr eine Stimme. (Drava Verlag, ohne Jahr)

Seinen ersten auf Deutsch verfassten Roman Eine Suche nach Glück publizierte Struhar 2005 im Kitab-Verlag, einem Kleinverlag mit Sitz in Klagenfurt, der 1998 von Wilhelm Baum gegründet wurde (Kitab-Verlag, ohne Jahr). 2013 wechselte er dann mit seinem Erzählband Fremde Frauen zu Wieser.

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Das war eigentlich immer mein Wunsch, bei denen zu publizieren. Auch im Fall des Drava Verlags wusste ich, dass er ideal wäre für die Art von Literatur, die ich schreibe. Ich habe lange gewartet, bis Lojze Wieser Platz im Programm hatte. Ich habe die Zeit genutzt, um am Text zu arbeiten. (Interview)

Der Wieser Verlag wurde 1987 von Lojze Wieser gegründet.14 Dass Struhar tatsächlich ideal in Wiesers Programm passt, zeigt sich in einem Interview, in dem Wieser erläutert, er sei Verleger geworden, um einer Literatur Sprache zu geben, die in dem bisherigen Raum wenig Gehör gefunden hat, einer Literatur, die Grenzen überschritten hat, die grenzgängerisch ist; eine Literatur, die auf Konventionen in dem Sinne keine Rücksicht genommen hat und vor allem aus einem Teil Europas kommt, aus dem südosteuropäischen Teil, der in der Rezeption der letzten Jahrhunderte – oder der letzten Jahrzehnte vor allem – wenig Anklang gefunden hat. (Scheffler und Wieser, 2004, 67)

Lojze Wieser sieht sich als „Grenzverleger“ (Wieser, 2004b). Mit der Verlagsgründung wolle er aber „[k]eine Minderheiteninstitution“ ins Leben rufen, „sondern einen Verlag, der gute Bücher verlegt. Bei der Auswahl sollte die Herkunft der Texte kein Kriterium sein, nur ihre Qualität“ (Wieser, 2004a, 53). Verlage wie Wieser tragen zur Vielfalt von AutorInnenstimmen im literarischen Feld bei, da sie Diversität fördern. Der Wieser Verlag könnte jedoch, wie viele andere Verlage in Österreich, nicht ohne Subventionen und Förderungen überleben (Rudorfer, 2002). Das heißt, was verlegt wird, hängt zum Teil auch davon ab, was gefördert wird.15 Bei Wieser gibt es darüber hinaus auch die Möglichkeit, eine „Patenschaft“ für ein Buch zu übernehmen. Der Buchpate oder die Buchpatin beteiligen sich mit einer finanziellen Unterstützung an der Buchproduktion. Das Erscheinen von Struhars Erzählband 14

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Lojze Wieser war von 1981 bis 1986 Leiter des Drava Verlags. Von 2012 bis 2015 hatte die Leitung sein Bruder Peter Wieser inne; das heißt, nicht nur inhaltlich, sondern auch personell finden sich Überschneidungen zwischen den beiden Verlagen. Der Wieser Verlag hat bereits turbulente Zeiten hinter sich: 2012 musste Lojze Wieser Insolvenz anmelden. Es gelang ihm jedoch eine Sanierung und Weiterführung seines Verlages (Fischer, 2012; zur Geschichte des Wieser Verlags vgl. Schnepf, 2008; Wieser, 2004b; Wieser Verlag, ohne Jahr). Schließlich wurde Anfang 2016 Drava von Wieser übernommen. „Drava“, so heißt es in Medienberichten, soll aber als Marke bestehen bleiben. Seit der Übernahme ist Erika Hornbogner, die früher bei Wieser beschäftigt war, bei Drava als Verlagsleiterin tätig (Anonym, 2016). Vgl. die jährlich erscheinenden Kunstberichte auf der Website des Bundeskanzleramtes (Bundeskanzleramt Österreich).

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Fremde Frauen (2013b) etwa wurde durch die Patenschaft von Valentin Inzko16 ermöglicht. Mittlerweile hat Struhar drei Bücher im Wieser Verlag publiziert. Der Wechsel zu Wieser habe für ihn „viele Türen geöffnet, die noch vor ein, zwei Jahren verschlossen waren“ (Interview). In welchem Verlag eine Autorin, ein Autor veröffentlicht, ist entscheidend, weil er das Sprachrohr nach außen darstellt und weil der Verlag bestimmt (durch Covergestaltung, Buchpräsentationen, Auflage, Werbung, seine Buchhandelsvertreter und seinen Vertrieb), in welchem Rezeptionsumfeld der Autor und sein Werk vorerst einmal wahrgenommen werden. (Landerl, 2005, 17)

Dadurch, dass Struhar als Autor über den Wieser Verlag vertreten ist, bekommt er eine größere Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit als etwa bei Kleinverlagen wie Kitab und Resistenz. Das spiegelt sich auch in der Rezeption wider. Zu Struhars literarischem Werk finden sich nur vereinzelt Rezensionen im Feuilleton. Im Vergleich zu vorangegangenen Publikationen genoss aber der Erzählband Fremde Frauen (2013)17 mehr Beachtung, was unter anderem mit Struhars Wechsel zu Wieser und mit dessen Positionierung im Feld zusammenhängt (Anonym, 2013a, 2013b, 2013c; Eichhorn, 2013; Hazod, 2013; Kraus, 2014; Schönauer, 2013).18 Lesungen und Buchpräsentationen, etwa bei der Wiener und der Leipziger Buchmesse, sowie die Vorstellung seines 2015 erschienenen Romans Die vertrauten Sterne der Heimat in der Büchersendung Ex libris im Kulturradio Ö119 sind wichtige Plattformen, die Werk und Autor stärker ins Zentrum rücken und vor einigen Jahren für ihn noch nicht erreichbar waren. Struhar ist als Autor nicht nur in Österreich präsent, sein Werk wird auch ins Tschechische übersetzt. Interessant ist im Ländervergleich die unterschiedli16 17 18

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Valentin Inzko ist österreichischer Diplomat und Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina. Ein Ausschnitt aus der Erzählung „Bernadette“ erschien zudem in einem Sammelband mit dem Titel Ich träume von Prag. Deutsch-tschechische literarische Grenzgänge (Struhar, 2012). Ich beziehe mich auf jene Rezensionen, die für mich greifbar waren. In der Pressedokumentation zum Autor Stanislav Struhar findet sich im Literaturhaus Wien eine Zusammenstellung einzelner Pressestimmen (Zitate aus ausgewählten Rezensionen) zu einigen Buchveröffentlichungen. Da nicht alle ausfindig gemacht werden konnten bzw. einzelne Quellen unklar sind, beziehe ich mich nur auf jene, die für mich zugänglich waren (Einsicht in die Pressedokumentation des Literaturhauses Anfang 2015). In einem E-Mail vom 28. Jänner 2015 verwies der Autor auf den Beitrag von Claudia Gschweitl in Ex libris auf Ö1 am 19. April 2015 sowie auf seine Termine 2014/2015 für Lesereisen, Buchpräsentationen und Veranstaltungen.

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che Positionierung von Autor und Werk: Fünf seiner Bücher fanden im Verlag Volvox Globator Veröffentlichung (Volvox Globator, ohne Jahr).20 Der Verlag hat eine sehr umfangreiche Produktion – verschiedene Editionen erstrecken sich über Weltliteratur, Belletristik und einschlägige Sachbücher. Struhars erste tschechische Buchveröffentlichung Opuštěná zahrada (Struhar, 2004a)21 etwa erschien im Rahmen Edition FAUST „Deutsche Literatur“, sein Buch Váha světla (Struhar, 2014c), die tschechische Fassung von Das Gewicht des Lichts, in der Edition MEDUSA „Zeitgenössische europäische Prosa“ und sein Roman Hledání štěstí (Struhar, 2007b) in einer bibliophilen Ausgabe mit grafischer Gestaltung von Alena Antonová.22 Die Positionierung im Vergleich zu Österreich könnte nicht unterschiedlicher sein. Im „Kitab-Verlag [Eine Suche nach Glück, 2005] als Migrantenliteratur, in Tschechien [Hledání štěstí, 2007] als Weltliteratur“ (Interview). Struhars tschechische Ausgabe erschien in einer Reihe, in der auch Bücher von Autoren wie Ian McEwan, Thomas Pynchon, Saul Bellow oder Vladimir Nabokov verlegt werden. „Im Verlagskatalog präsentieren sie mich nicht als einen Autor aus den Migrantenkreisen“, so Struhar im Interview mit der Verfasserin.

Literarisches Schreiben Lojze Wieser meinte im bereits zitierten Interview, er wolle als Verleger eine Literatur fördern, „die Grenzen überschritten hat, die grenzgängerisch ist“ (Scheffler und Wieser, 2004, 64). Diese Metaphorik des ‚Dazwischen‘ wird meist einer Literatur im Migrationskontext bzw. AutorInnen zugeschrieben, bei denen sich die literarische Sprache und die Muttersprache nicht decken (Weigel, 1992, 216–219).23 Struhars Werk verhandelt durchaus Themen wie Fremdheit 20

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Ausnahmen bilden Rukopis (2004) im Prager Verlag Signeta und Stará zahrada (2015) im Verlag Kniha Zlín. Über die Veröffentlichung des Gedichtbandes 2015 meinte Struhar im Interview: „Das war für mich eine super Nachricht, dass die Gedichte rund 30 Jahre nach meiner Flucht aus Tschechien erscheinen. Und ausgerechnet bei einem Verlag in Zlín, in der Stadt, wo ich geboren und aufgewachsen bin und auch der erste Teil der Trilogie entstand. Das ist sehr schön für mich“. Das Buch erschien bislang nur auf Tschechisch. Eine deutsche Übersetzung liegt noch nicht vor. Diese Angaben über die Editionen entnehme ich der Verlagswebsite von Volvox Globator (Volvox Globator, ohne Jahr). Dieses Dazwischen wird in der Forschung inzwischen teilweise sehr kritisch gesehen, weil es den Blick für den Beitrag der AutorInnen zu der Literatur verstellt, in der sie hauptsächlich verankert sind (Adelson, 2006). Doch selbst solche kritischen Positionen gehen weiterhin davon aus, dass diese AutorInnen aufgrund ihres spezifischen Hintergrunds bisherige Vorstellungen von nationaler Geschichte und Kultur infrage stellen.

Eine Suche nach Heimat: Stanislav Struhar

und (sprachliche) Zugehörigkeit bzw. Ausgrenzung; eine Grenzüberschreitung in dem Sinn, dass Ambivalenzen, ein hybrides ‚Dazwischen‘ entstehen, findet aber nicht statt. Struhars Literatur zeigt viel stärker (nationale) Grenzen auf, als dass sie diese überschreitet oder auflöst. Er macht nationale Beschränkungen, etwa im literarischen Betrieb, sichtbar und stellt Rassismus und Diskriminierung dar. Darüber hinaus schreibt er seine Figuren, die oft zu (sprachlichen, kulturellen) Außenseitern gemacht werden, in den hegemonialen nationalen Raum ein. Im Folgenden möchte ich auf Struhars literarisches Werk eingehen; vor allem auf seine ersten beiden Romanveröffentlichungen, Das Manuskript und Eine Suche nach Glück. Beide Romane sind autobiografisch geprägt, wie in den wenigen existierenden Analysen gezeigt wurde (Cornejo, 2009a; Holubcová, 2009), wenn auch der Autor selbst nur seine Gedichte als „autobiografisch“ gelten lässt (Interview). Bei ihrem Erscheinen schenkte die Literaturkritik den beiden Romanen eher wenig Aufmerksamkeit, das belegt die Pressedokumentation zu Struhar im Literaturhaus Wien. Doch Das Manuskript wurde etwa im Parlament in Wien präsentiert (Interview) und vom Kritiker Anton Thuswaldner in der Tageszeitung Salzburger Nachrichten zu den „Büchern der Woche“ gewählt (Thuswaldner, 2003).

Grenzen des Literaturbetriebs

Das Manuskript und Eine Suche nach Glück sind sich thematisch sehr ähnlich. „Da wollte ich auf die Lage eines Autors aufmerksam machen, der entweder in einer anderen Sprache schreibt und in Österreich lebt oder der versucht, deutsch zu schreiben, diesen Sprachwechsel ins Deutsche zu unternehmen“ (Interview). Im Mittelpunkt der Romane stehen zwei Außenseiter bzw. Protagonisten, die vom Literaturbetrieb eine Positionierung ‚außerhalb‘ zugewiesen bekommen. Hauptfigur in Das Manuskript ist Benjamin Marchera. Das Buch ist eine Art fiktives Tagebuch Benjamins. Mit 13 Jahren verließ er seine Heimatstadt Abidjan (Côte d’Ivoire) und zog gemeinsam mit seinen Eltern nach Wien, da sein Vater, Professor für Geschichte, vom Wiener Institut für Afrikanistik eine Einladung für einen Forschungsaufenthalt erhielt. Aus Perspektive des Ich-Erzählers wird die Hauptfigur folgendermaßen beschrieben: „Mittelgroß und schlank. Hautfarbe schwarz. Schwarz wie der Teufel, sagt man. Augen dunkelbraun“ (Struhar, 2002, 9). Benjamins Selbstbeschreibung enthält damit bereits eine Fremdzuschreibung. Diese Zuweisungen von außen sind von Anfang an in die Erzählung eingeschrieben und charakterisieren die Hauptfigur. Weiter erfahren

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die LeserInnen, dass Französisch Benjamins Muttersprache ist. Er ist arbeitslos, bezieht Notstandshilfe und versucht, als Schriftsteller in Österreich Fuß zu fassen. Der österreichische Literaturbetrieb begegnet ihm jedoch durchwegs mit Ablehnung. Das zeigt sich etwa an einem Schreiben Benjamins an einen Verleger: In Ihrem Brief raten Sie mir, jene Adressen zu bevorzugen, die etwas für afrikanisch-österreichischen Kulturaustausch übrig haben. Ich verstehe Ihre gute Absicht. Dennoch vermag ich nicht nachzuvollziehen, warum meine Texte, die meine Heimat Wien betreffen, einer Sonderbehandlung bedürfen. Aber leider haben Sie Recht, ich muss aus eigener Erfahrung zugeben, dass man mich, wenn ich mich als österreichischer Autor vorgestellt habe, schon mehrfach ausgebessert und zu einem „afrikanischen Autor in Österreich“ gemacht hat. (Struhar, 2002, 138, Kursivierung der Briefkorrespondenz im Original)

Aber auch im Alltag sind Benjamin und seine Familie Diskriminierung und rassistischen Angriffen ausgesetzt, die Struhar in aller Deutlichkeit beschreibt. Sie werden im Roman in Form von Benjamins Tagebucheintragungen wiedergegeben. Zu Romanbeginn beispielsweise wird Benjamins Vater von Skinheads niedergeschlagen und ermordet, obwohl es danach offiziell heißt, er sei nicht an den Verletzungen, sondern an einer Herzschwäche gestorben (Struhar, 2002, 56). Mit Benjamin Marchera stellt Struhar einen Protagonisten ins Zentrum der Erzählung – einen Zuwanderer mit dunkler Hautfarbe –, der in der österreichischen Literatur kaum anzutreffen ist. Eine der wenigen Ausnahmen bilden etwa Peter Henischs Roman Schwarzer Peter (2000) oder Grace Latigos Texte und Gedichte.24 Latigo ist auch eine der wenigen AutorInnen mit dunkler Hautfarbe im österreichischen Literaturbetrieb. Die (kanonisierte) deutschsprachige Literatur scheint den weißen, männlichen Protagonisten und Autor zu präferieren. Im englischsprachigen Raum ist die Literatur hinsichtlich der Diversität der literarischen ProtagonistInnen deutlich vielfältiger. In einem Interview erzählt Sharon Otoo vom Berliner Verlagskollektiv w_orten & meer:25 24

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Grace Latigo, die sich selbst als „afro-slowakische Wienerin“ bezeichnet, gewann 2002 den exil-Literaturpreis mit ihrer Erzählung „Aminata White“. Darüber hinaus veröffentlichte sie 2009 einen Gedichtband mit dem Titel Meine Worte, herausgegeben vom Afro-Asiatischen Institut in Wien (Schwaiger, 2016, 123–129, 144–149). w_orten & meer ist ein „unabhängiger politischer verlag“, der 2014 in Berlin gegründet wurde. Er setzt sich gegen alle Formen von Diskriminierung ein. „die publikationen sollen jene empowern, die gegen interdependente strukturelle diskriminierungen leben_handeln_arbeiten_denken“ (w_orten & meer, ohne Jahr).

Eine Suche nach Heimat: Stanislav Struhar

Ich bin in London geboren und aufgewachsen und habe für eine längere Zeit in Brighton gelebt. Da ist der Kontext einfach anders als in Deutschland. In meiner Erinnerung war es keine Sensation, zum Beispiel schwarze Personen als handelnde Personen in der Literatur zu finden. (Otoo zitiert in Paar, 2015)

Eine Perspektive eines Zuwanderers auf den literarischen Betrieb gibt auch Struhars zweiter Roman Eine Suche nach Glück (2005). Ich-Erzähler und Protagonist ist David Kostka, arbeitsloser Buchhändler und Autor. Er verließ gemeinsam mit seiner mittlerweile verstorbenen Mutter 1984 das tschechische Olmütz und kam nach Wien. Anders als Benjamin schreibt David seine literarischen Texte bereits auf Deutsch. Er ist jedoch noch auf Hilfe von Kollegen angewiesen, die seine Romane lektorieren, da er, wie er reflektiert, „nach wie vor außerstande war, einen deutschsprachigen Text in seine korrekte Schreibweise“ zu bringen (Struhar, 2005, 15). Ähnlich erfolglos wie Benjamin versucht er, im österreichischen Literaturbetrieb Fuß zu fassen: Meine deutschsprachigen Romane spalteten die Verlage: Das eine Mal „funktionierte“ die neue Sprache nicht, weil sie entweder ungewöhnlich klang oder man darin einen Ausländer entdeckte; dann wieder merkte man keinen Unterschied zu Autoren mit deutscher Muttersprache oder lobte sogar die neue Sprache, machte dann aber den Einwand, ein unbekannter Name ließe sich kaum verkaufen. (Struhar, 2005, 15 f.)

Benjamin und David bekommen die Beschränkungen des Literaturbetriebs zu spüren. Sie werden als Autoren ausgegrenzt, da sie dessen ‚Spielregeln‘ herausfordern. Benjamin schreibt in seiner französischen Muttersprache und versucht, im deutsch- bzw. einsprachigen Literaturbetrieb Fuß zu fassen. Die Verleger verweisen ihm wiederholt einen Platz (außerhalb) zu. In einer Rückmeldung eines Verlags heißt es: Ich solle mich im französischen Sprachraum, am besten in Afrika umsehen, einen Lektor meiner Muttersprache kontaktieren und den Roman zunächst in meinem Heimatland publizieren, wo es mit der Herausgabe bestimmt keine Schwierigkeiten geben dürfte. (Struhar, 2002, 14–15).

In der Vorstellung des literarischen Betriebs müssen sich Nation und Sprache decken; eine Positionierung und Existenz als österreichischer Autor mit französischer Sprache scheint im Feld nicht möglich zu sein. David hingegen schreibt zwar auf Deutsch; seine Texte werden jedoch von Verlagen abgelehnt – nicht aus vorgeblich ästhetischen Kriterien, sondern aufgrund der nichtdeutschen Mut-

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tersprache des Autors. Auch ihm wird nahegelegt, „Tschechisch zu schreiben und mit Verlagen in meinem Herkunftsland Kontakt aufzunehmen“ (Struhar, 2005, 8). Anhand seiner beiden Protagonisten zeigt Struhar deutlich die Grenzen des (österreichischen) literarischen Betriebes auf, in den sie sich als Autoren einzuschreiben versuchen. Allyson Fiddler stellt, wenn auch mit Vorbehalten gegenüber Struhars gekünsteltem Stil, anerkennend in Bezug auf Struhars ersten Roman fest: „The novel is […] important in bringing to the fore an immigrant’s perspective on the literary business, with all its constraints and expectations“ (Fiddler, 2006, 271).

Einschreiben in den nationalen Raum

In der Erzählung sind aus der Perspektive des literarischen Betriebs Benjamin und David die ‚Außenseiter‘, die ‚Fremden‘. Aber auch von ihrer Umwelt werden sie, besonders Benjamin aufgrund seiner dunklen Hautfarbe, als gesellschaftliche Außenseiter wahrgenommen. In Das Manuskript bemerkt der Protagonist: „In einer Gasse im Nachbarbezirk grüßte ich einen Mann, der sich nach mir umwandte. Ein Stück weiter wirbelte ich um einen Kinderwagen, in dem ein kleines, blondes Mädchen saß. Es zeigte mit dem Finger auf mich und lachte” (Struhar, 2002, 17). Das „Fremde“ spiegelt sich aber nicht nur im Blick der Außenwelt auf die Protagonisten wider. Die Ich-Erzähler setzen die Außenwelt in Differenz zum eigenen Selbst. Benjamin etwa nimmt nicht ein kleines Mädchen, sondern „ein kleines, blondes Mädchen“ wahr. Und aus Davids Ich-Perspektive, bei einem Spaziergang durch die Wiener Innenstadt, heißt es etwa: Am Graben versammelten junge, dunkelhäutige Tänzer Menschen um sich. Ihre entblößten Oberkörper glänzten wie die schaulustigen Augen, die ihren geschmeidigen Bewegungen folgten. Hinter dem Stephansplatz nahmen meine Aufmerksamkeit zwei schwarze Kutschen in Anspruch, die mit Gepolter und Getöse an mir vorüberfuhren. Zwei junge asiatische Paare saßen drinnen, die mit gierigen Blicken aufnahmen, was es zu sehen gab. (Struhar, 2005, 32)

Durch den Fokus auf Differenz wird ‚das Andere‘ betont. Die Hervorhebung funktioniert meist über (nationale) Stereotypen und auch Exotismus, was meiner Ansicht nach nicht unproblematisch ist. Struhars Werke – sowohl die ersten beiden Romane als auch spätere Veröffentlichungen, die Italien als Schauplatz haben – sind durchzogen von Stereotypen und Vorstellungsbildern (Beller und

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Leerssen, 2007), die entweder aus der Perspektive von Ich-Erzählern oder von einer personalen Erzählinstanz wiedergegeben werden. Einerseits wird dadurch ‚das Andere‘ sichtbar gemacht und der (nationale) Ort erscheint damit heterogener. Im oben angeführten Zitat etwa wird der Ort (die Wiener Innenstadt) markiert mit „dunkelhäutige[n] Tänzer[n]“ und einem „asiatische[m] Paar“. Andererseits erlaubt die Betonung von Differenz die Sichtbarmachung von Ausgrenzung und Rassismus, mit denen die Protagonisten in ihrem Alltag konfrontiert sind. Struhar scheint mit seinem Werk eine Einschreibung in den nationalen Raum vorzunehmen. Seine beiden Protagonisten Benjamin und David fühlen sich als Österreicher und wollen als solche wahrgenommen werden – von ihrer Umwelt jedoch wird ihnen immer wieder ein Platz ‚außerhalb‘ zugewiesen. Benjamin etwa stellt in einem Brief fest: „Ich bin Österreicher, ein Wiener Autor, der nicht deutsch [sic!] schreibt“ (Struhar, 2002, 153). Da ihm aber eine nationale Zugehörigkeit, Österreicher zu sein, abgesprochen wird, zeigen sich Ambivalenzen. Er schreibt: „Mein Herz schlägt hier, und trotzdem gehöre ich weder hierher noch dorthin …“ (Struhar, 2002, 153). Auch David wird in der Diskussion mit der Lektorin Astrid eine österreichische Zugehörigkeit verwehrt. Ihm wird das FremdSein, die Rolle des Außenseiters, aufgedrückt: [Lektorin zu David] „Haben Sie wirklich niemals Heimweh? Sehnen Sie sich denn nicht nach all den Orten Ihrer Kindheit, nach Ihren Freunden, nach Ihrer Muttersprache?“ „Nein.“ „Sie lügen.“ „Sie haben keine Ahnung.“ „Kommen Sie, seien Sie doch erwachsen“, sagte sie vergnügt. „Ich bin Österreicher.“ „Nein, sind Sie nicht.“ „Wie bitte? Mag sein, dass Sie von der Literatur etwas verstehen, aber hier sind Sie überfordert.“ „Sie wissen doch nicht, wo Sie wirklich hingehören. Wie viele Migranten.“ (Struhar, 2005, 17)

David und Benjamin betonen ihre Zugehörigkeit und versuchen sich damit in den nationalen Diskurs, aus dem sie ausgeschlossen werden, einzuschreiben. Diese Einschreibung findet auch über die realen Orte im Roman statt. Die Schauplätze der Romane, in denen sich die beiden Protagonisten bewegen, sind meist im kulturellen Zentrum angesiedelt. Besonders augenscheinlich ist dies im Roman Eine Suche nach Glück. Die Schauplätze des Romans sind zentrale,

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kulturell und historisch gewachsene Orte in Wien – wie etwa der Burggarten oder der Stephansplatz.26 Sie erfüllen in den Romanen eine wichtige Funktion: Struhar schreibt seine Protagonisten in zentrale Orte in Wien ein und macht damit Diskurse einer österreichischen Kultur und Geschichte, die sich in den (nationalen) Erinnerungsorten widerspiegeln, zur Kultur und Geschichte von Benjamin und David. Diese kulturellen Orte werden damit Teil ihrer eigenen Geschichte. Dies gilt nicht nur für kulturelle Orte, sondern auch für kulturell geprägte Produkte wie etwa Essen oder Musik. Benjamins Vater beispielsweise hört gerne klassische Musik (Tschaikowski) und erinnert seinen Sohn, der die Musik anfänglich als „fremd“ empfindet: „Diese Musik gehört auch uns“ (Struhar, 2002, 62). Später dann, nach dem Tod seines Vaters, hört Benjamin diese Musik, die ihn mit dem Verstorbenen verbindet.

Versuch der Aufhebung und Umkehrung von Differenz: Liebe über Grenzen hinweg

In Struhars Texten werden Themen wie Leben in der Fremde, Sprachwechsel, Ausgrenzung und Rassismus verhandelt; im Vordergrund stehen aber immer alltägliche Geschichten, meist Liebesgeschichten zwischen Mann und Frau. Wiebke Sievers bemerkt in Bezug auf das Schreiben zugewanderter AutorInnen: „[M]any texts use a similar motif as a signifier of integration in its manifold senses: love“ (Sievers, 2008, 1229). Sie verweist beispielhaft auf Vladimir Vertlibs Zwischenstationen (1999) und Dimitré Dinevs Engelszungen (2003). Auch in Struhars Romanen und Erzählungen kommt der Liebe eine ähnliche integrative Bedeutung, über Grenzen und kulturelle Differenzen hinweg, zu. In Das Manuskript etwa heißt es: Sie [Benjamins Mutter] wartete auf Hans, meinen weißen Stiefvater. […] Er vergöttert meine Mutter. Seine Liebe zu ihr ist schon am Timbre seiner Stimme zu erkennen, wenn er ihren Namen Mariama ausspricht. Auch ich habe einen Platz in seinem weichen Herzen; er behandelt mich wie seinen eigenen Sohn. (Struhar, 2002, 12–13) 26

Ich habe versucht, die Orte mit entsprechender Seitenangabe im Buch aufzulisten, wobei keine Gewähr der Vollständigkeit besteht: Burggarten (12, 21–22, 34, 39, 76, 98, 117, 127), Stephansplatz (19, 23, 32, 78, 101, 123, 124, 127), Stadtpark (7, 27, 111, 121), Landstraße (8, 123), Schwarzenbergplatz (8), Schottentor (12), Akademietheater (16, 29), Burgtheater (23, 94), Freyung (24, 43), Rathaus (24, 71), Ringstraße (30, 97), Kunsthistorisches Museum (30), Heldenplatz (118), Graben (32, 124), Kärntner Straße (49), Karlskirche (53).

Eine Suche nach Heimat: Stanislav Struhar

Das Motiv der Liebe prägt vor allem die Haupterzählstränge um die beiden Protagonisten in Das Manuskript und Eine Suche nach Glück. Benjamin befindet sich in einer Liebesbeziehung mit Ulrike, die, so erfahren die LeserInnen gegen Ende des Romans, ein Kind von ihm bekommt. David verliebt sich in die Lektorin „Dr. Astrid Krauss“, die auch ein Kind von ihm erwartet. Die weiblichen Protagonistinnen Astrid und Ulrike sind sich sehr ähnlich – sie sind „Österreicherinnen“ (Astrid scheint aus Wien zu kommen, Ulrike aus Vorarlberg) mit deutscher Muttersprache. In Bezug auf ihre Sprache scheinen die Frauen den Protagonisten überlegen. In Eine Suche nach Glück etwa lehnte Astrid als Lektorin ein von David eingesandtes Manuskript ab, ohne zu wissen, dass es von ihm stammt. Erst gegen Ende des Romans erfährt sie von seinem gescheiterten Versuch bei ihrem Verlag. David blickt zu ihr auf und bewundert ihre Arbeit: „Ihr Gefühl für literarische Sprache verblüffte mich; ihren Augen entkam kein Detail; auch die scheinbar makellosen Stellen polierte sie beharrlich“ (Struhar, 2005, 54). Ulrike und besonders Astrid fehlt oft das Verständnis für die Schwierigkeiten (Sprache, Anerkennung als Schriftsteller), mit denen Benjamin und David zu kämpfen haben. In Das Manuskript dreht Struhar jedoch im letzten Abschnitt des Romans die Perspektive um. Nicht mehr Benjamin ist ‚der Fremde‘, sondern Ulrike nimmt die Position der ‚Außenseiterin‘ ein. Als Benjamin unerwartet stirbt, enden seine tagebuchartigen Aufzeichnungen. Ulrike führt diese weiter. Der letzte Abschnitt des Romans ist aus Ulrikes Ich-Perspektive geschrieben und übertitelt mit „Abidjan, im Jänner 1999“ (Struhar, 2002, 142). Ulrike ist mit ihrem gemeinsamen kleinen Sohn in Benjamins Heimatstadt gezogen, die für sie zur „neue[n] Heimat“ werden soll (Struhar, 2002, 144). „Mein Sohn soll in einer Umgebung aufwachsen, die ihm eine wirkliche Heimat sein wird“ (Struhar, 2002, 158). Sie selbst nimmt sich in ihrer vermeintlich „neuen Heimat“ als „fremd“ wahr und versteht das erste Mal Benjamins Position: „Erst hier ist mir bewusst geworden, was es bedeutet, in Sprachen zu leben, die nicht die eigenen sind“ (Struhar, 2002, 145). Ulrike engagiert sich nun für Benjamins Literatur und übernimmt die Übersetzung seiner Werke vom Französischen ins Deutsche. Der Roman endet hoffnungsvoll. Sie erhält einen Brief, der ursprünglich an Benjamin adressiert war. Darin schreibt ein Verleger, der Benjamins Werke veröffentlichen möchte: „Es handelte sich um einen Verlag mit eher unbekannten, ‚außerhalb der Szene stehenden‘ und durchwegs heimischen Autoren, in dem bislang keine übersetzen Texte erschienen waren. Ben war endlich als heimischer Autor akzeptiert worden“ (Struhar, 2002, 172). Der Verlag publiziert „österreichische“ Autoren – als ein solcher wurde schließlich auch Benjamin angenommen. Er schreibt sich – ähnlich wie Struhar mit sei-

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ner Veröffentlichung des Romans Ein Manuskript im Drava Verlag – als Autor im österreichischen literarischen Feld ein. Die Grenze scheint sich verschoben zu haben: Er findet endlich als „heimischer Autor“ mit nichtdeutscher Muttersprache Anerkennung.

Ort(e) der Heimat

Ein wiederkehrendes Motiv in Struhars Werk ist die Natur bzw., konkreter, der Garten oder der Park: Seit den Gedichten in „Der alte Garten“, die ich zum Teil in der Tschechoslowakei verfasst habe, ist diese Beziehung zur Natur, zu Parks, zu Gärten geblieben. Ich wollte unbedingt diese Orte auch in meiner Prosa aufgreifen, da sie eine gewisse Abgeschiedenheit und einen Frieden für mich ausstrahlen. (Interview)

Struhars Werk kreist um die Suche nach Heimat und (kultureller, sprachlicher) Zugehörigkeit. Ein Ort, an dem diese ‚Heimat‘ zu finden ist bzw. an dem die ProtagonistInnen seiner Erzählungen ‚angekommen‘ zu sein scheinen und ein Gefühl der Zugehörigkeit empfinden, ist der Garten bzw. die Natur. Im Roman Eine Suche nach Glück werden zwar viele zentrale Orte der Wiener Innenstadt Schauplatz der Handlung, doch nur der Burggarten wird ausführlicher beschrieben und bekommt eine besondere Bedeutung für den Protagonisten. Ich setzte mich auf meinen Lieblingsplatz in dem unteren Teil der westlichen Seite, unter einen der großen Laubbäume. Dort lehnte ich mich an den lauwarmen Stamm und sah in die weit ausladende Krone. Ich spürte die Sonne an meinem Gesicht spielen und empfand eine zaghafte Zufriedenheit. Ich fühlte mich daran erinnert, wie ich mir als Elfjähriger das rechte Handgelenk gebrochen hatte. Es geschah an einem sommerlichen Nachmittag in einem kleinen Park vor unserem Haus am Rand der Olmützer Altstadt. Ich wollte für Pavlína und Jana, zwei dreizehnjährige Mädchen aus unserem Haus, eine Schaukel am Baum befestigen. Dabei fiel ich von einem der unteren Äste auf den Boden. Die erschrockenen Mädchen sahen sich sofort meine Hand an. Ich saß an den Stamm gelehnt und sah ihren emsigen Fingern zu, die zart wie Blütenblätter waren. Das Gelächter einer Gruppe Burschen und Mädchen holte mich zurück in die Wirklichkeit. (Struhar, 2005, 12)

In diesem längeren Textausschnitt verbindet der Protagonist seine Wahrnehmungen des Burggartens mit positiv besetzten Kindheitserinnerungen. Er ver-

Eine Suche nach Heimat: Stanislav Struhar

knüpft damit seine eigene Geschichte mit seiner (österreichischen) Umgebung und schreibt sich in diese – nicht nur metaphorisch gesprochen – ein: Es ist der Burggarten, den der Protagonist wiederholt aufsucht, um in diesem Ruhe zu finden oder Freunde zu treffen. In ihm schrieb er zudem die erste Seite seines ersten Romans (Struhar, 2005, 14). Die Natur bzw. der Garten als Metapher begleitet Struhars gesamtes Werk und wird, wie etwa in Struhars zuletzt erschienenem Roman Die vertrauten Sterne der Heimat, auch als Gegenpol zur Stadt gesetzt. In diesem Roman ist das idyllische, kleine ligurische Bergdorf Bajardo die „Heimat“ der Protagonistin Sybille, obwohl sie in der Stadt San Remo, die sehr touristisch ist, als Verkäuferin arbeitet. Die Stadt ist der Gegenpol zum Land bzw. zur Natur. Als Sybille etwa einen Rosengarten verlässt, heißt es im Text: „Der Gestank von Abgasen umgab Sibylle, als sie aus dem Park trat“ (Struhar, 2015a, 60).27 Der Garten hat für Struhar eine sehr persönliche Bedeutung und ist eng mit seinen eigenen Kindheitserinnerungen verknüpft. Als Kind wuchs er bei seinen Großeltern auf: Wir haben am Stadtrand gewohnt. Ich bin dann immer wieder weg, in die Natur. Das war eine Art Flucht für mich aus der damaligen Tschechoslowakei, aus der Realität. Ich erlebte das Gefühl des Ausgeschlossen-Sein, der Einsamkeit … in der Natur fand ich eine gewisse Freiheit … die Umgebung [die Natur] sah wie eine Art verwüsteter Garten aus. (Interview)

Das Motiv nahm er bereits in einem seiner ersten Prosatexte auf, dem Roman Opuštěná zahrada, der in den Jahren 1994–1996 entstand (Holubcová, 2009, XXIV). In diesem geht es um den kleinen Jungen Joachim, der bei seinen Großeltern, in einer alten Villa mit verwildertem Garten nahe des Schönbrunner Schlossparks, aufwächst.28

Zusammenfassung Stanislav Struhars Autor-Werdung zeigt deutlich die Grenzen und ‚Spielregeln‘ des literarischen Betriebs auf. Als nicht deutsch schreibender Autor ist es schwierig, um nicht zu sagen nahezu unmöglich, im deutschsprachigen Literaturbetrieb Veröffentlichungsmöglichkeiten zu finden. Auch der Zugang zu 27 28

Auf diesen Gegensatz der Orte (Stadt–Land, Stadt–Natur) verweist auch Gabriele Wild in ihrer Rezension zum Buch (Wild, 2015). Da der Roman bislang nur in tschechischer Fassung vorliegt, beziehe ich diese inhaltlichen Angaben aus der Diplomarbeit von Petra Holubcová (2009, 48).

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literarischen Stipendien und Preisen ist an die deutsche Sprache gebunden; das heißt, eine ‚Integration‘ in das literarische Feld findet über die Sprache bzw. eigentlich über deren Beherrschung auf muttersprachlichem Niveau statt. Seine eigenen Erfahrungen mit der Autor-Werdung verarbeitete Struhar in seinen ersten beiden Romanen Das Manuskript und Eine Suche nach Glück. In den Romanen empfinden sich seine Protagonisten als Teil der österreichischen Kultur und Geschichte – sie werden in diese vom Autor eingeschrieben, bekommen jedoch von ihrem Umfeld ständig signalisiert, dass sie nicht dazugehören – als wüssten sie nicht, wie die Lektorin Astrid zu David meint, wo sie „wirklich hingehören“. In seinen späteren Romanen, Das Gewicht des Lichts und Die vertrauten Sterne der Heimat, wechseln Schauplatz und Perspektive: Es geht nunmehr um österreichische bzw. deutsche Zuwanderer in Italien und ihre Erfahrungen der Fremdheit (unter anderem Sprachwechsel) in der ‚neuen Heimat‘. Struhars Werk ist durchaus einem engagierten, einem gesellschaftskritischen Schreiben verpflichtet; dieser Impetus soll sich auch im zukünftigen Schreiben des Autors widerspiegeln: Inhaltlich werden es wahrscheinlich die Themen wie Leben in der Fremde, Sprachwechsel, Rassismus und Vorurteile bleiben. Das sind Themen, die im Hintergrund bleiben, denn vordergründig sind es ganz alltägliche Geschichten, die man sowohl in Österreich als auch in Tschechien oder in Italien erleben kann – etwa Beziehungen zwischen Mann und Frau. Das wird bleiben, auf jeden Fall. Ich denke mir, das sind Geschichten, die wir alle erleben, mit denen wir vertraut sind, egal, ob wir Österreicher, Tschechen, Italiener oder Franzosen sind. Ich möchte aber auch, dass jetzt diese Zuwanderung, die unsere Zeit prägt, dass sie dann irgendwie schon präsent in den Texten ist. (Interview)

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„Ich bin irgendwo dazwischen“: Tanja Maljartschuk Ich bin einfach eine ukrainische Autorin, die in Wien lebt. Ich gehöre nicht zur österreichischen Literatur. Zumindest bis jetzt, bis ich noch nichts auf Deutsch geschrieben habe und bis ich vielleicht die österreichische Staatsbürgerschaft habe. Wann wird man „österreichische Autorin“? Also, wenn man die Staatsbürgerschaft hat und auf Deutsch schreibt. Ich glaube, ja, ich weiß es aber nicht ... War denn Kafka ein österreichischer Autor?!1

Nationale Zuordnungen und Grenzen sind in der Literatur per se brüchig und konstruiert. Das zeigt Tanja Maljartschuks Verweis auf Kafka, dessen literarische Verortung in der Literaturwissenschaft und -rezeption strittig ist. Auch Maljartschuks eigene literarische Laufbahn illustriert diese Brüchigkeit, wie ich im Folgenden zeigen werde. Doch diese wird bei AutorInnen wie Maljartschuk, anders als bei anderen zugewanderten AutorInnen, selten wahrgenommen. Das hängt damit zusammen, dass Maljartschuk zwar in Österreich lebt, aber sich im Gegensatz zu den meisten anderen in diesem Band versammelten AutorInnen bereits einen Namen gemacht hatte, bevor sie nach Österreich kam, und ihre Literatur weiterhin auf Ukrainisch schreibt. Dass ihre Texte auch in deutscher Übersetzung erscheinen, ändert nichts daran, dass sie sich als ukrainische Autorin verortet und als solche wahrgenommen wird, was dazu führt, dass sie in Österreich vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erhält, auch wenn besonders die Übersetzungsforschung die große Bedeutung von Übersetzungen für literarische Entwicklungen betont (Bassnett, 2014, 7). Denn die klassische literaturwissenschaftliche Forschung zieht sprachliche Grenzen. Das gilt auch für zugewanderte AutorInnen. Hier fokussieren literaturwissenschaftliche Forschung (Sievers und Vlasta, 2017) und literarische Förderung nach wie vor jene AutorInnen, die aus einer anderen „Muttersprache“ kommen und in deutscher Sprache schreiben (vgl. Sievers, Grenzüberschreitungen und Schwaiger zu Struhar in diesem Band): Der renommierte Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert Bosch Stiftung ehrt „herausragende auf Deutsch schreibende Autoren, deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist“ (Robert Bosch Stiftung, ohne 1

Diese Passage stammt aus einem Gespräch, das die Verfasserin mit Tanja Maljartschuk am 28. Jänner 2015 in Wien führte. Im Folgenden kennzeichne ich Passagen aus diesem Gespräch mit dem Kürzel Interview.

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Jahr), und das österreichische Pendant, der exil-Literaturpreis „schreiben zwischen den kulturen“, fördert die „literatur von autorInnen, die aus einer anderen muttersprache kommen und in deutscher sprache schreiben“ (verein exil, ohne Jahr). Der Ort, der diesen zugewanderten AutorInnen deutscher Sprache und ihren Texten zugewiesen wird, ist meist einer des „Dazwischen“ (Weigel, 1992, 216–219) – „zwischen den kulturen“ wie der exil-Literaturpreis programmatisch verkündet.2 Dieses „Dazwischen“, das sich in Metaphern wie Grenze, Schwelle oder Übergang artikuliert und von einem transitorischen Element bestimmt wird (Görner, 2001), zeigt sich jedoch nicht erst bei AutorInnen, die einen Sprachwechsel (ins Deutsche) vollzogen haben. Man könnte also durchaus kritisch hinterfragen, warum die Forschung zur Literatur zugewanderter AutorInnen erst nach dem Sprachwechsel beginnt und nicht bereits früher ansetzt. In Tanja Maljartschuks Autorinnen-Positionierung, und dies soll der Leitgedanke dieses Kapitels sein, spiegelt sich in vielerlei Hinsicht ein „Übergang“ zwischen national konnotierten (Kultur-)Räumen wie auch innerhalb solcher Räume wider. Im Gespräch mit mir lässt sie einen Satz fallen, wie er wohl nicht besser ihre Autorinnen-Existenz hätte fassen können: „Ich bin irgendwo dazwischen“ – zwischen den Kulturen und Sprachen. Dieses „Dazwischen“, dieser Übergang, hat dabei sowohl die Bedeutung eines Wechsels, einer Transformation zu etwas Anderem/Neuem als auch die eines Grenzübertritts, etwa zwischen der ukrainischen und der deutschen Sprache. Doch wie ich im Folgenden zeigen werde, beginnt „das Dazwischen“ bei Maljartschuk lange vor dem Grenzübertritt. Ihre gesamte literarische Laufbahn ist von diesen Übergängen geprägt. Obwohl sie im Autorinneninterview und mit ihrem Schriftstellerinnen-Dasein nationale Paradigmen und Zuschreibungen (wenn auch nicht immer bewusst) infrage stellt, bleiben diese dennoch als Referenzpunkte und Denkmuster, beispielsweise für den Versuch einer literarischen Verortung als „ukrainische Autorin“, vorhanden. Im Folgenden werde ich versuchen, Maljartschuks Positionierung im Dazwischen aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Dafür gehe ich zunächst auf den ukrainischen Verlags- und Buchmarkt ein, der mit einer starken Konkurrenz des russischen Marktes zu kämpfen hat. Für LiteratInnen ist eine Orientierung 2

Dieses „Dazwischen“ wird in der Forschung inzwischen teilweise sehr kritisch gesehen, weil es den Blick für den Beitrag der AutorInnen zu der Literatur verstellt, in der sie hauptsächlich verankert sind (Adelson, 2006). Doch selbst solche kritischen Positionen gehen weiterhin davon aus, dass diese AutorInnen aufgrund ihres spezifischen Hintergrunds bisherige Vorstellungen von nationaler Geschichte und Kultur infrage stellen.

„Ich bin irgendwo dazwischen“: Tanja Maljartschuk

über Landesgrenzen hinaus nötig, etwa um Arbeitsstipendien zu erhalten oder um übersetzt zu werden und als AutorIn ein Auskommen zu finden. Anschließend widme ich mich Maljartschuks literarischem Netzwerk, das transnational angelegt ist. Die ersten Kontakte knüpfte sie in Iwano-Frankiwsk – mittlerweile ist sie jedoch über die ukrainischen Grenzen hinaus, etwa im deutschsprachigem Raum, gut vernetzt; sie wird unter anderem in Deutschland oder in der Schweiz zu Lesungen eingeladen, und ihre Texte werden in andere Sprachen übersetzt. Der dritte Kapitelabschnitt beschäftigt sich mit Maljartschuks literarischem Schreiben, wobei ich exemplarisch näher auf ihren 2013 in deutscher Übersetzung veröffentlichten Debütroman Biografie eines zufälligen Wunders eingehen werde. Wie auch viele ihrer Kurzgeschichten porträtiert der Roman die Zeit des Übergangs der Ukraine von der Sowjetrepublik zum (unabhängigen) Staat. Im Mittelpunkt des Buches steht die Protagonistin Lena und ihr Aufwachsen in der postsowjetischen Ukraine. Der letzte Abschnitt des Aufsatzes fokussiert Maljartschuks (vor allem auch sprachlichen) „Übergang“ als Autorin in Österreich.

Verlage und Buchmarkt – mit Blick nach ‚Europa‘ Tanja Maljartschuk wurde 1983 im westukrainischen Iwano-Frankiwsk geboren. Sie studierte an der Nationalen Wassyl-Stefanyk-Universität der Vorkarpaten ukrainische Philologie und arbeitete später in Kiew als Fernsehjournalistin. 2004 erschien Maljartschuks erste Publikation, ein avantgardistisch-sprachexperimenteller Prosaband mit dem Titel Ендшпіль Адольфо або Троянда для Лізи (dt. Endspiel Adolfo oder eine Rose für Lisa); es folgten weitere Publikationen: 2006 Згори вниз. Книга страхів (dt. Von oben nach unten. Das Buch der Ängste), 2006 Як я стала святою (dt. Wie ich eine Heilige wurde), 2007 Говорити (dt. Sprechen) sowie 2009 Звірослов (dt. Zviroslov). Ihr Debütroman Біографія випадкового чуда (dt. Biografie eines zufälligen Wunders) erschien schließlich 2012 bei KSD in Charkiw.3 2011 zog Maljartschuk nach Wien, wo sie derzeit als freischaffende Schriftstellerin lebt. Der Residenz Verlag entdeckte Maljartschuk – und dies bereits vor ihrem Umzug nach Österreich – für den 3

Ich übernehme im Text die deutschsprachige Übertragung von ukrainischen und russischen Eigennamen. Für Übersetzungen ins Deutsche danke ich Mykhaylo Palahitskyy, der mir als Übersetzer bei der Abfassung dieses Kapitels hilfreich zur Seite stand und meinen Blick auf die ukrainische Literaturlandschaft erweiterte. Wenn ich im Folgenden auf seine Übersetzungen oder Anmerkungen verweise, kennzeichne ich diese mit der Abkürzung M. P.

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deutschsprachigen Markt. 2009 publizierte er ihren Erzählband Говорити (Folio 2007) in deutscher Übersetzung unter dem geänderten Titel Neunprozentiger Haushaltsessig und 2013 Maljartschuks Debütroman Biografie eines zufälligen Wunders. Zuletzt erschien in deutscher Übersetzung ihr Erzählband Звірослов4 im Berliner Verlag edition.fotoTAPETA. Der Verlag veröffentlichte das Buch 2014 unter dem Titel Von Hasen und anderen Europäern. Maljartschuks literarische Laufbahn beginnt also in der Ukraine, doch sie ist von Beginn an transnational ausgerichtet, wie ich im Folgenden zeigen werde. Das hängt damit zusammen, dass es in der Ukraine nahezu unmöglich ist, frei von ökonomischen Zwängen dem literarischen Schreiben nachzugehen, weil die Verlagsstruktur bzw. der Buchmarkt eher schwach ausgebaut sind und staatliche Förderungen und Stipendien fehlen. Der russischsprachige ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkov zieht in Bezug auf den ukrainischen Verlags- und Buchmarkt eine eher düstere Bilanz: „In the course of Ukraine’s twenty years of independence, the country’s publishing ‚industry‘ has not become a business, and the book ‚trade‘ has not developed a market“ (Kurkov, 2013, 36). Ähnlich resümiert Tanja Maljartschuk vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen: „Die Verlagskultur in der Ukraine ist sehr komisch. Sie behandeln Autoren wie Sklaven“ (Interview). Maljartschuk arbeitete hauptberuflich als Fernsehjournalistin in Kiew – ohne dieses Einkommen hätte sie nicht als Autorin existieren können. 2004 erschien ihre erste Publikation im kleinen Verlag Lileja-NV in ihrer Heimatstadt Iwano-Frankiwsk. Darauf folgten zwischen 2006 und 2009 weitere Publikationen im größeren Folio Verlag in Charkiw. Bei Folio (Folio Verlag, ohne Jahr), wo der Großteil ihres bisherigen literarischen Werkes erschien, fühlte sich Maljartschuk nicht gut aufgehoben. Der Verlag forderte von der Jungautorin, so wurde vertraglich festgehalten, eine Buchpublikation pro Jahr, und das ganz ohne Bezahlung und Honorar. „Solche Verträge sind nicht in Ordnung; sie waren aber Alltag in der Ukraine“ (Interview). Maljartschuk wandte sich vom Verlag ab und publizierte schließlich ihren Debütroman 2012 bei KSD (KSD Verlag, ohne Jahr).5 Das Verlagshaus ist von seinem Programm her sehr breit aufgestellt – vertreten sind Klassiker der Weltliteratur, Kochbücher, Belletristik und Reisebücher, aber auch CDs, Schmuck oder Kosmetika 4

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Der ukrainische Originaltitel lautet Звірослов („Zvirslov“) und ist eine Eigenkreation der Autorin. Er setzt sich zusammen aus „Звіро“ (dt. Wortableitung von „Tier“) und „слов“ (dt. Wortableitung von „Wörter“) (M. P.). Der Verlag heißt auf Ukrainisch „Клуб сімейного дозвілля“ und wird etwa in der deutschsprachigen Residenz-Ausgabe mit den ukrainischen Anfangsbuchstaben „KSD“ abgekürzt. Ins Deutsche übersetzt heißt der Verlag „Familie-Freizeit Club“ (M. P.). Im Folgenden verwende ich die ukrainische Abkürzung KSD bei der Nennung des Verlages.

„Ich bin irgendwo dazwischen“: Tanja Maljartschuk

können über den Versandhandel bestellt werden. Die Bücher erreichen eine breite Zielgruppe – sie liegen in Supermärkten auf, können aber auch direkt über den Online-Katalog per Post bestellt werden. Das Verlagshaus gehört seit 2004 zum großen deutschen Bertelsmann-Konzern und hat damit eine ganz andere Positionierung und Reichweite als etwa Folio. Unter den AutorInnen finden sich viele renommierte Namen wie etwa Jurij Andruchowytsch oder Irena Karpa (die beide ebenfalls im Folio Verlag mit Publikationen vertreten sind), Yurko Isdryk und Oksana Sabuschko. Trotz der nationalen Unabhängigkeit des Landes von der Sowjetunion seit 1991 kämpft der ukrainische Buchmarkt mit sehr starker russischer Konkurrenz. Die Dominanz des Russischen gegenüber dem Ukrainischen ist historisch tradiert. Tanja Maljartschuk wuchs im Westen des Landes zweisprachig auf. Ukrainisch ist für sie die (mündliche) Alltagssprache, Russisch jedoch „das war die einzige Möglichkeit, etwas zu lernen“: Ich muss sagen, Russisch habe ich nie gelernt, aber Russisch kann man in der Ukraine sowieso. Es ist überall – im Fernsehen, in den Büchern ist das Russische präsenter als das Ukrainische. Und wenn man studiert, vor allem vor zehn Jahren, als ich studierte, war die wissenschaftliche Literatur zu fast 90 Prozent auf Russisch. (Interview)

Feste Sprachgrenzen zwischen Ukrainisch und Russisch gibt es nicht. Tanja Maljartschuk beschreibt den alltäglichen Sprachwechsel mehr als fließenden Übergang; man versteht sich – in beiden Sprachen. Als sie zum Beispiel als Erwachsene nach Kiew zog, um dort als Fernsehjournalistin zu arbeiten, wurde in ihrem Umfeld vor allem Russisch gesprochen. „Für mich ist das kein Problem – ich spreche ukrainisch, sie antworten russisch. So reden wir miteinander“ (Interview). Mehrsprachigkeit und Multinationalität waren Programm der Sowjetunion, der die Ukraine von 1922 bis zum Zerfall 1991 angehörte. Doch ähnlich wie in Zeiten der Habsburgermonarchie waren Mehrsprachigkeit und Multinationalität der Sowjetunion nicht frei von Machtverhältnissen. Die russische Nationalität dominierte, und die russische Sprache war die „Lingua franca“, das heißt Sprache des Staates, des Bildungswesens und der Medien (Wanner, 1998, 13). Diese Dominanz des Russischen hatte Einfluss auf die Entwicklung der ukrainischen Sprache und Kultur: Die ukrainische Sprache hatte keine Möglichkeit, sich zu entwickeln, weil es noch bis ins 19. Jahrhundert wenige Bücher auf Ukrainisch gab; das heißt, erst das 20. Jahrhundert war die Zeit der ukrainischen Sprache. Und trotzdem war es verboten im russischen Imperium; also bis 1918 war das Lesen ukrainischer Bücher im Großteil der Ukraine verboten. Sprechen war

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egal. […] Und dann mit dem Kommunismus war es nicht besser. Viele versuchten die Sprache dem Russischen ähnlich zu machen. (Interview)

Diese ungleiche Sprachentwicklung wirkte sich auf die nationale Literaturtradition aus. Die russische Literatur wurde zur „Weltliteratur“, während die ukrainische eine „kleine Literatur“ blieb: Im Vergleich zur ukrainischen Literatur ist die russische Literatur viel, viel erwachsener, also viel breiter. Man kann das überhaupt nicht vergleichen, weil die ukrainische Literatur immer diese Opfer-Literatur, diese Kolonie-Literatur war, und die russische Literatur ist die Literatur eines Imperiums. Viele russische Autoren sind eigentlich Ukrainer, die auf Russisch geschrieben haben, weil es auf Ukrainisch nicht möglich war. Ja, egal, über Gerechtigkeit werden wir nicht reden. (Interview)

Wie bei anderen AutorInnen,6 so zeigt sich auch bei Maljartschuk ein sehr ambivalentes Verhältnis zum Russischen, das zwischen Anerkennung, etwa der russischsprachigen literarischen Klassiker, und Abgrenzung, etwa von der imperialistischen Politik Russlands, changiert. Dem Imperialismus Russlands versuchte der ukrainische Buchmarkt in den letzten Jahren entgegenzuwirken: Noch bis Ende 2013 kamen rund 70 Prozent der Bücher auf dem ukrainischen Markt von russischsprachigen Verlagen. Erst 2014 verschob sich dieser Prozentsatz aufgrund der Einführung von Schutzzöllen zugunsten der ukrainischsprachigen Titel (Chalmers, 2015). „As a result of the spoiled relationship Ukraine imposed an income tax over Russian books, despite the long-term trade history. This fact, amongst others, has influenced the rise in prominence of the Ukrainian publishing industry“ (Chalmers, 2015). In Europa fand die ukrainische Literatur vor allem aufgrund der jüngsten politischen Ereignisse mehr Aufmerksamkeit. Diese Erfahrung machte auch Maljartschuk: „Ende 2013 bzw. 2014 waren alle ukrainischen Autoren sehr gefragt. Aber nicht wegen der Literatur, sondern wegen der Politik“ (Interview). Oft ist nach ihren Lesungen weniger Literatur als Tagespolitisches Thema der Diskussion. Die verstärkte Aufmerksamkeit für die Ukraine änderte jedoch nicht viel an den Strukturen des ukrainischen Verlags- und Buchmarktes, die dazu führen, dass sich viele ukrainische AutorInnen von Anfang an transnational orientieren, also nicht national, sondern in einem Dazwischen verortet sind. Da 6

Vgl. in diesem Zusammenhang den Essay von Jurij Andruchowytsch „Mit einer seltsamen Liebe …“ (2003). Er weiß um den (kulturellen) Einfluss des „Bruderlandes“ (1216), appelliert aber zugleich für die Anerkennung einer eigenständigen ukrainischen Nationalität.

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es in der Ukraine nahezu keine (und wenn, dann sehr gering dotierte) Stipendienmöglichkeiten gibt, suchen AutorInnen Möglichkeiten im Ausland – so etwa in Polen: „Dort gibt es ein paar Stipendien, für die man sich als ukrainische Autorin bewerben kann. Und eben dann auch in Deutschland, Österreich und in der Schweiz – sonst fällt mir nichts ein“, erzählt Maljartschuk (Interview). Viele AutorInnen versuchen zudem über die Landesgrenzen hinaus, mithilfe fremdsprachiger Übersetzungen ihrer Werke, symbolisches wie ökonomisches Kapital zu generieren (Bourdieu, 1999). Übersetzt zu werden bedeutet mehr Sichtbarkeit und (finanzielle) Anerkennung. Einen besonderen Stellenwert für den ukrainischen (Übersetzungs-)Markt hat seit Langem Polen, das als erster Staat 1991 die Unabhängigkeit der Ukraine anerkannte ( Jobst, 2010, 18). Iryna Kuchma von der ukrainischen NGO „International Renaissance Foundation“ (IRF) stellt fest, „Poland is becoming Ukraine’s gateway onto the European book market. [It has been] the only country in the last several years to consistently buy the rights to translate Ukrainian authors’ works into Polish“ (Kuchma zitiert in Anonym, 2007). Kuchma betont die Wichtigkeit von literarischen Vermittlern wie Jurij Andruchowytsch, die AutorInnen und Texte an ausländische Verlage weiterempfehlen. Der Weg in den ‚europäischen‘ Buchmarkt findet nicht selten von der Ukraine aus über Polen statt: In most cases the scenario is the following: The author is noticed by the Polish market (mostly due to the recommendations of personalities, like Andrukhovych), which then gets the authors [sic] attention in Germany, and once the author gets a German translation, that is already the door to all of Europe. (Kuchma zitiert in Anonym, 2007)

In Kuchmas Beispiel zeigen sich deutlich literarische Hierarchien (Casanova, 2007), das heißt, dass den einzelnen Sprachen im internationalen Kontext eine unterschiedliche Wertigkeit zukommt – als ukrainische(r) AutorIn ins Polnische übersetzt zu werden bedeutet Zugewinn an symbolischem Kapital, das wiederum ökonomisches generieren kann. Der nächste Schritt wäre, in den deutschsprachigen Raum zu gelangen und von dort aus andere Märkte, wie etwa den großen ökonomisch und symbolisch bedeutenden englischsprachigen, zu erschließen. Doch die literarischen Hierarchien sind nicht so leicht zu überwinden und transnationale literarische Lebensläufe damit für AutorInnen aus ‚kleinen Literaturen‘ zwar ökonomisch notwendig, aber keinesfalls selbstverständlich. Die Daten zeigen, dass ukrainische Literatur auf dem deutschsprachigen Buchmarkt und insbesondere in Österreich wenig Anklang findet und dass es spezifischer VermittlerInnen bedarf, um diese Grenzen zu überwinden. Laut Index

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Translationum (United Nations Educational, 1979–2009) wurden im Zeitraum 1991–20097 45 literarische Werke ins Deutsche übersetzt. Wirft man einen gesonderten Blick auf Deutschland und Österreich, so ist Österreich mit nur drei Einträgen vertreten;8 in Deutschland hingegen sind es 40. Dass Österreich „kein Land des Übersetzens“ ist, zeigte Rudolf Pölzer (2007) in seiner Studie zum österreichischen Übersetzungsmarkt der Jahre 2000–2004. Er kommt, bereits in seiner Einleitung, zum Fazit: „Gemessen an der gesamten Buchproduktion des jeweiligen Landes liegt die Übersetzungsleistung österreichischer Verlage […] weit hinter jener deutscher Verlage zurück“ (Pölzer, 2007, 9). Schafft es ein Text aber nach Österreich und wird von einem Verlag übersetzt, dann ist dies zumeist (informellen) „Vermittlungspersönlichkeiten“ zu verdanken (Pölzer, 2007, 123). Auch Tanja Maljartschuks Texte gelangten durch diese zu den deutschsprachigen LeserInnen – wie ich im nächsten Abschnitt zeigen werde, spielt dabei unter anderem die Vermittlung von Texten an Verlage durch ÜbersetzerInnen eine ausschlaggebende Rolle. 2009 erschien ihr erster ins Deutsche übersetzter Erzählband Neunprozentiger Haushaltsessig im österreichischen Residenz Verlag. Auch an der Geschichte des Residenz Verlags zeigt sich die traditionell geringe Bedeutung von Übersetzungen auf dem österreichischen Buchmarkt. Der Residenz Verlag wurde 1956 in Salzburg gegründet und verlegte vorwiegend zeitgenössische „österreichische“ AutorInnen. Erst ab Mitte der 1980er Jahre wurden Übersetzungen publiziert. [M]an beschränkte sich [zunächst] noch auf Autoren aus dem Bereich der „alten Monarchie“, was sich im Laufe der Achtziger Jahre aber ändern sollte. 1994 bemerkten die Oberösterreichischen Nachrichten, der Residenz Verlag habe den Anspruch aufgegeben, Hort der österreichischen Literatur zu sein. (Bernauer, 2006, 31)

Die Veröffentlichungen der letzten Jahre zeigen, dass fremdsprachige Übersetzungen mittlerweile fester Bestandteil des Verlagsprogramms sind (Residenz, ohne Jahr).9 Dennoch muss erwähnt werden, dass im Vergleich zu anderen Verlagen Residenz nicht die österreichische Übersetzungsproduktion anführt. Den größten Beitrag an Übersetzungen für den Zeitraum 2000–2004 lieferten der 7 8

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Der Index Translationum erfasst die weltweiten literarischen Übersetzungen für den Zeitraum 1979 bis 2009. Zu den drei Einträgen zählen Publikationen in den Verlagen Droschl (Oksana Zabužko, 2006), Leykam (Nazar Hončar, 2008) und Residenz (Tanja Maljartschuk, 2009) (United Nations Educational, 1979–2009). Zur Verlagsgeschichte vgl. die Diplomarbeit von Ines Bernauer, Der Residenz Verlag im Wandel (2006).

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auf Kinder- und Jugendbuchübersetzungen spezialisierte Ueberreuter/Annette Betz Verlag sowie Zsolnay, der dem großen Hanser Literaturverlag angehört (Pölzer, 2007, 82). Mit Maljartschuk holte sich Residenz eine sehr transnational agierende Autorin ins Programm. Transnationalität spiegelt sich nicht nur in ihrem Werk, sondern auch in ihren literarischen Netzwerken wider.

Transnationale literarische Netzwerke Das literarische Netzwerk von Tanja Maljartschuk, das im Interview in Form von Anekdoten sichtbar wird, reicht von der Universität über literarische Förderer wie bekannte SchriftstellerInnen und KulturvermittlerInnen bis hin zu ÜbersetzerInnen. Ihre literarischen Anfänge sind dabei sehr lokal geprägt, doch besonders seit ihrem Umzug nach Wien hat sich ihr Netzwerk transnationalisiert. Doch ob lokal oder transnational, ihr Netzwerk basiert immer auf persönlichen Beziehungen. Erste Kontakte knüpfte sie an der Universität in Iwano-Frankiwsk, wo sie ukrainische Philologie studierte. Einen ihrer frühen literarischen Texte zeigte sie einer Professorin, die Maljartschuk mit den folgenden Worten in ihrem Schreiben bestärkte: „[W]eißt du, ich habe wenig verstanden in diesem Text, aber ich glaube, er ist sehr gut“ (Interview). Ein anderer Professor zeigte sich begeistert von ihrer Arbeit und schickte den Text an eine Literaturzeitschrift, die ihn publizierte. Dadurch wurde der inzwischen verstorbene ukrainische Autor Pawlo Sahrebelnyi auf sie aufmerksam und schlug sie für den renommierten „Taras-Schewtschenko-Nationalpreis“ vor.10 Er hat mich nominiert, wobei es nicht möglich war, weil ich kein Buch hatte. Und seitdem … also das war ein großer Skandal in der Ukraine. Eine 18-Jährige ohne Buch kann nicht nominiert werden für den Preis. Und immer noch fragen mich Journalisten aus der Ukraine, was das für eine Geschichte mit Sahrebelnyi war. (Interview)

Durch diese Nominierung erhielt Maljartschuk literarische Aufmerksamkeit und publizierte 2004 ihr erstes Buch. Das Buch, das (bislang) nicht ins Deutsche 10

Der prestigeträchtige Taras-Schewtschenko-Nationalpreis, der jährlich vergeben wird, ist die höchste Auszeichnung der Ukraine im Bereich Kunst und Kultur. Benannt ist der Preis nach dem Autor Taras Schewtschenko (1814–1861), der mit seiner Gesellschaftslyrik zu den großen und bedeutendsten Autoren der ukrainischen Literatur zählt (Horbatsch, 2001, 14–16).

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übersetzt wurde, beinhaltet zwei Erzählungen mit sehr experimentellem Charakter. Diese sprachlich experimentelle Herangehensweise sollte jedoch nur ihr literarisches Debüt prägen – in nachfolgenden Texten steht weniger das sprachliche Experiment als das Erzählen im Vordergrund. Bereits der Blick auf Maljartschuks schriftstellerische Anfänge zeigt, dass sie auf ihrem Weg wichtige Förderer hatte, die ihr neue Möglichkeiten hinsichtlich der Publikation ihrer Texte in Zeitschriften und Verlagen eröffneten. Ohne von sich aus Kontakt zu ihnen aufzunehmen, wurde die Autorin – so zumindest ihre Auskunft – von Verlagen und Institutionen kontaktiert. Es waren literarische VermittlerInnen, wie etwa später für den deutschsprachigen Markt ÜbersetzerInnen, aktiv, die wichtige Kontakte herstellten. „Ehrlich gesagt, ich habe mich nie gekümmert um die Veröffentlichungen. Ich weiß nicht, vielleicht bin ich zu selbstsicher, aber die Verleger finden mich immer selber“ (Interview). Der Folio Verlag etwa, in dem Maljartschuk mehrere Bücher veröffentlichte, trat von sich aus an sie heran. Obwohl sich Maljartschuk als sehr öffentlichkeitsscheue und zurückgezogene Autorin präsentiert, ist ihr breites schriftstellerisches und intellektuelles Umfeld wichtig für ihre literarische Laufbahn: Ich glaube, es ist schon wichtig, wenn ein Schriftsteller sich selbst ähnliche Menschen sucht. Schriftsteller, die sich kennen, müssen keine Freunde sein, aber sie müssen immer wieder reden. Das ist wichtig, glaube ich, um die Atmosphäre, die Zeit zu verstehen und auch, was die anderen denken. (Interview)

Teil von Maljartschuks literarischem Netzwerk sind prominente Akteure im literarischen Feld, die sie förderten und mit denen sie im Austausch steht. Erste wichtige Kontakte knüpfte sie in ihrer Geburtsstadt Iwano-Frankiwsk in der Westukraine. Iwano-Frankiwsk hat etwas über 200.000 EinwohnerInnen; die literarische Szene ist ungemein lebendig. Renommierte SchriftstellerInnen wie Jurij Andruchowytsch11 sowie Taras und Jurko Prochasko stammen von dort. Die LiteratInnen organisierten sich, so erinnert sich Maljartschuk, eher informell. Ort des Austausches war das Kaffeehaus „Peters“. Das Kaffeehaus als solches war bereits im Österreich-Ungarn der Habsburgermonarchie, zu dem Iwano-Frankiwsk gehörte, wichtiger Treffpunkt für KünstlerInnen und Intellektuelle. „Peters“ existiert heute jedoch nicht mehr. Maljartschuk beschreibt 11

Wenn es um die ukrainische Gegenwartsliteratur geht, scheint der Autor Jurij Andruchowytsch omnipräsent. Alexander Kratochvil spricht in seinem Aufsatz sogar von einer „postAndruchovyč-Generation“, um das Schreiben junger AutorInnen zu positionieren (Kratochvil, 2005).

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die Atmosphäre bei den Zusammentreffen (für Lesungen und Diskussionen) als sehr familiär: „Als junge Studentin war ich immer dabei und habe dort viele Leute kennengelernt, und dann irgendwie war ich drinnen und konnte nicht mehr raus“ (Interview). Deutlich wird anhand von Maljartschuks Netzwerk, dass viele Kontakte aufgrund persönlicher Beziehungen – die sich in einer verhältnismäßig kleinen, aber an Literaten reichen Stadt wie Iwano-Frankiwsk leicht knüpfen ließen – zustande kamen. Jurij Andruchowytsch etwa lernte sie durch dessen Tochter Sofia kennen, mit der sie dieselbe Schule besuchte. Innerhalb der ukrainischen Literaturszene treten AutorInnen einer älteren, etablierten Generation, der etwa Andruchowytsch angehört, als wichtige FörderInnen der Jungen in Erscheinung (Kurkov, 2005). Prominentes Beispiel ist die Förderung von Serhij Zhadan durch Jurij Andruchowytsch. Obwohl sie sich literarisch-ästhetisch sehr unterschiedlich positionieren, kam Zhadan auf Vermittlung von Andruchowytsch zum Suhrkamp Verlag, wo 2006 sein Gedichtband erschien. Das Nachwort dazu verfasste Andruchowytsch. Auch für Tanja Maljartschuks Biografie eines zufälligen Wunders findet sich Andruchowytsch als Fürsprecher. Auf dem Buchumschlag der Residenz-Ausgabe wird er mit einer knappen, aber euphorischen Äußerung zitiert: „Ich finde das Buch einfach genial“. In der ukrainischen Erstausgabe fehlt dieses Zitat. Auf meine Frage, wie Tanja Maljartschuk zum Residenz Verlag kam, antwortete sie: [Sie haben] mir einfach eine E-Mail geschrieben, denn sie wussten, dass ich [für ein Literaturfestival] in Wien bin“ (Interview). Der Residenz Verlag trat mit Maljartschuk in Kontakt, als sie noch in der Ukraine lebte, und interessierte sich für eine Übersetzung ihres Buches. Eine andere vermittelnde Instanz kommt bei diesem Prozess ins Spiel: „Ich muss sagen, Übersetzer spielen eine große Rolle, vielleicht die größte“ (Interview). Literarische ÜbersetzerInnen agieren an der Schnittstelle zwischen Verlag und AutorIn. Sie sind vor allem für „kleinere“ Sprachen von enormer Bedeutung; während für den größeren englischen oder deutschsprachigen Markt meist literarische Agenturen tätig sind, die zwischen AutorInnen und Verlagen vermitteln. Verlage sind oft auf Exposés (Zusammenfassungen und Einschätzungen literarischer Texte) von anderen AutorInnen bzw. ÜbersetzerInnen oder AgentInnen angewiesen. Sie geben einen ersten Eindruck vom Text und helfen bei der Entscheidung, ob eine Übersetzung (ökonomisch) rentabel für den Verlag ist oder nicht. Wenn Maljartschuk meint, sie habe sich „nie gekümmert um die Veröffentlichungen“, dann liegt es daran, dass ÜbersetzerInnen aktiv wurden, denn diese sind nicht nur an der Vermittlung von Literatur interessiert, für sie bedeutet ein vom Verlag angenommenes Buch oder eine übersetzte Erzählung Honorar.

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Maljartschuks Texte wurden bereits bei Residenz verlegt, bevor sie nach Österreich kam. 2009 erschien der Erzählband Neunprozentiger Haushaltsessig, und erst 2011 übersiedelte sie nach Wien. Kontakte zu Österreich waren also schon vorher vorhanden. Diese sollte sie später noch ausbauen. Da ihr Mann, den sie in Österreich kennenlernte und dessentwegen sie die Ukraine verließ, im Literaturbetrieb tätig ist, fand sie sehr schnell Anschluss an die österreichische Literaturszene und lernte neue AutorInnen und Leute im Kulturbereich kennen. So etwa Hans Ruprecht, der in der Schweiz als Literaturvermittler tätig ist. Tanja Maljartschuk ist nicht nur regelmäßig in Österreich auf Lesungen, sondern auch in Deutschland und in der Schweiz. 2014 etwa las sie beim 5. Berner Literaturfest, das unter anderem von Hans Ruprecht organisiert wurde (sprachFORM, ohne Jahr).12

Literarische Anfänge in der Ukraine und in Österreich Eigenen Erinnerungen zufolge hat Tanja Maljartschuk bereits sehr früh mit dem Schreiben begonnen: „Mit sechs Jahren habe ich schon kurze, unanständige Gedichte, geschrieben. Über Kakerlaken und über meine Schwester, die ich damals nicht mochte“ (Interview). Etwas später dann, zwischen zehn und 16 Jahren, begann sie nachzudichten. „Wassyl Stus, das ist ein sehr berühmter ukrainischer Dichter, den ich sehr schätze“ (Interview). Wassyl Stus (1939–1985), der Gedichte von Goethe und Rilke ins Ukrainische übertrug, „gehörte zu den oppositionell eingestellten, nationalbewußten jungen Intellektuellen, die offen gegen das totalitäre Regime [die sowjetische Regierung] auftraten“ (Horbatsch, 2001, 108). Da Stus sich als Regimekritiker positionierte und engagierte, wurde er wiederholt verhaftet und starb schließlich „im Karzer des berüchtigten Straflagers Kutschino im Nordural“ (Horbatsch, 2001, 108). Stus ist eine zentrale Figur für die ukrainische Literatur, und es ist bezeichnend, dass Maljartschuk wiederholt auf ihn zu sprechen kommt. Sie verortet sich damit sehr deutlich in einer nationalbewussten ukrainischen Tradition, die dem russischen Regime gegenüber kritisch eingestellt war – wobei sie sich in ihrem späteren Schreiben durchaus kritisch gegenüber dem ukrainischen Nationalbewusstsein äußert, wie ich noch zeigen werde. Stus war, gemeinsam mit anderen SchriftstellerInnen, Kulturschaffenden und Intellektuellen wie Lina Kostenko, Vasyl 12

Tanja Maljartschuk ist auch mit einem Text in dem von Rolf Hubler und Hans Ruprecht herausgegebenen Sammelband Auch das könnte wahr sein. Hommage an den Geschichtenerzähler Jörg Steiner (2014) vertreten.

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Symonenko oder Ivan Drač, Mitglied der Vereinigung šistdesjatnyky, „Sechziger“ (Boeckh und Völkl, 2007, 180; Horbatsch, 2001, 101–118; Jobst, 2010, 222). Deren Mitglieder lehnten nicht das sozialistische System als solches ab, sondern demonstrierten gegen das ideologische Diktat des Sozialistischen Realismus und gegen die Russifizierung des öffentlichen Lebens, stemmten sich gegen die Unterprivilegierung des Ukrainischen und traten für eine Renaissance der ukrainischen Nationalkultur, -literatur und -geschichte ein. (Boeckh und Völkl, 2007, 180)

Ihre Nachdichtungen von Stus’ Gedichten waren aber für Maljartschuk noch kein ernsthaft betriebenes literarisches Schreiben. Diese hätten „keinen Wert. Ich glaube, ich habe einfach geübt“ (Interview). Literarisch eigenständige Texte schrieb sie etwas später. Als sie drei Monate bei ihrer Tante in Sibirien verbrachte – eine sehr weite Reise für jemanden aus Iwano-Frankiwsk –, arbeitete sie, aus einem Gefühl der Nostalgie und Einsamkeit heraus, an einem experimentellen Text, der 2004 veröffentlicht werden sollte. Maljartschuks erste Veröffentlichung in deutscher Sprache war der Erzählband Neunprozentiger Haushaltsessig, der 2009 im Residenz Verlag erschien. Der Band ist in drei Abschnitte gegliedert und enthält Texte, die meist aus einer Ich-Perspektive erzählt werden. Die Geschichten, die in der (postsowjetischen) Ukraine angesiedelt sind, erzählen von zwischenmenschlichen Beziehungen, von Einsamkeit und Armut. „Auf den ersten Blick erschien mir das Buch fast spröde, tief melancholisch und voller gedämpfter Emotionen“, schreibt Petra van Cronenburg in der umfangreichsten und durchaus sehr positiven Rezension zum Erzählband (Cronenburg, 2009). Das Grausame und das IronischGroteske liegen bei Maljartschuk, wie ich später auch anhand ihres Debütromans zeigen werde, nah beieinander. Der Erzählband fand positive Aufnahme im Feuilleton, wenn auch die einzelnen Rezensionen, im Vergleich zur späteren Besprechung ihres Debütromans, weniger ausführlich ausfielen (Anonym, 2009a, 2009b; Kirchner, 2009; Zarbach, 2009). Die Rezeption des Erzählbandes in der Kritik warf jedenfalls ein gutes Licht auf die Autorin. Daher entschied sich der Residenz Verlag 2013 für die deutschsprachige Übersetzung und Veröffentlichung des Debütromans. Im Folgenden werde ich auf Maljartschuks ersten und bislang einzigen veröffentlichten Roman Biografie eines zufälligen Wunders eingehen. Es soll verdeutlicht werden, dass sie nicht nur verlagstechnisch, sondern auch inhaltlich von Anfang an in einem Dazwischen positioniert war. Im Roman spielt die Autorin mit intertextuellen Verweisen, mit einem Wechsel der Erzählperspektive

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und porträtiert damit – aus der Perspektive ihrer Hauptfigur Lena – die postsowjetische ukrainische Gesellschaft „im Übergang“.

Biografie eines zufälligen Wunders: Ein Porträt der ukrainischen Gesellschaft im Übergang In Interviews äußerte sich Tanja Maljartschuk wiederholt begeistert vom ukrainischen Barock, dessen Einfluss sich im Debütroman widerspiegelt. Ein Grund für Maljartschuks Interesse an dieser Zeit sind die Biografien bzw. eigentlich ihre biografischen Fragmente: Es gibt viele Biografien, die sich auf unterschiedlichste Weise mit Barockkultur beschäftigen. Für mich dauert der Barock üblicherweise vom Anfang des 17. Jahrhunderts bis zu dem Punkt, als in den 1720er Jahren viele ukrainische Persönlichkeiten nach Moskau transportiert wurden, einige nach Ryazan, einige woandershin. Sie sind alle dort verschwunden, alle Professoren der Kiew-Mohyla-Akademie, ein paar verrückte Dichter … (Maljartschuk in Slavinska, 2010, übersetzt von M. P.)13 Alte Texte scheinen wegen ihrer Abstrusität geheimnisvoll zu sein, wobei es die tatsächlich schlechte Erforschung des ukrainischen Barocks erlaubt, zu träumen und so viele alternative Geschichten wie möglich zu schaffen. (Maljartschuk in Pantschenko, Troskot und Sviato, 2011, übersetzt von M. P.)

Mit dem Geheimnisvollen, Wunderbaren und Abstrusen spielt auch Maljartschuks Debütroman Біографія випадкового чуда (2012), der 2013 vom Residenz Verlag in deutscher Übersetzung unter dem Titel Biografie eines zufälligen Wunders veröffentlicht wurde. In gewisser Hinsicht spielt Maljartschuk im Buch mit dem Genre der „Biografie“ – es ist keine in sich geschlossene, klassisch erzählte Biografie, die auf eine (historische) Wirklichkeit referiert; vielmehr bastelt sie aus fragmentarischen Puzzleteilen eine fiktive Biografie, die ihre eigene Perspektive auf eine Wirklichkeit preisgibt. Maljartschuks Buch erzählt die Geschichte bzw. die nicht gerade alltägliche „Biografie“ der Protagonistin Lena, von ihrem Aufwachsen in der fiktiven ukrainisch-postsowjetischen Stadt San Francisco und von ihrem unermüdlichen Einsatz für eine gerechtere Welt. Schon im Namen der Stadt deutet sich an, dass die transnationale Dimension in diesem Roman eine besondere Bedeutung hat. Im Text heißt es: „Ihren Namen 13

Lifepravda, wo das Gespräch von Iryna Slavinska mit Tanja Maljartschuk erschien, ist der Kulturteil der ukrainischen Online-Tageszeitung Ukrainiska Pravda (M. P.).

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erhielt sie zum Andenken an diejenigen, die Anfang des 20. Jahrhunderts auf der Suche nach ihrem Traum in die USA ausgewandert waren. Die Daheimgebliebenen sagten ‚Unser Amerika ist hier‘, und tauften ihre Stadt ‚San Francisco‘“ (Maljartschuk, 2013, 7). Der Text erinnert damit daran, dass das Transnationale in der Geschichte der Ukraine eine bedeutende Rolle spielt. Wie wichtig diese Dimension für den gesamten Roman ist, soll im Folgenden genauer illustriert werden. Die transnationale Dimension von Maljartschuks Debüt wird in der ukrainischen Erstausgabe durchaus sichtbar gemacht. Diese betont das Fantastische in diesem Roman und bezieht ihn auf die französische Kultur, siedelt ihn damit also auf zwei Ebenen außerhalb der Ukraine an. So findet sich auf der ukrainischen Erstausgabe, auf schreiend rotem Hintergrund, die Zeichnung einer Frauenfigur, die über ihrem Gesicht eine weiße Maske mit geschlossenen Augen trägt. Auf dem Buchumschlag sind, neben einer kurzen Beschreibung des Inhaltes, ein Zitat aus der Zeitschrift Дзеркало тижня14 sowie der Hinweis „Wenn Amélie Poulain in der Sowjetunion geboren wäre, das wäre ihre Biografie“ abgedruckt. Die treffende Anspielung auf Amélie, Hauptfigur im französischen Film Le Fabuleux Destin d’Amélie Poulain von Jean-Pierre Jeunet, fehlt leider in der deutschsprachigen Ausgabe. Diese betont viel stärker den ukrainischen Bezug des Buches und insbesondere mit dem Bild auch das Thema Unterdrückung. Insgesamt gestaltet der Residenz Verlag das Buch im Vergleich zur ukrainischen Ausgabe schlicht, unauffällig und viel leiser. Am grünlichen Buchcover sind zwei Füße unter einer langen, schwarzen Kleidung, vermutlich ein Mantel oder ein Kleid, zu sehen. Angepriesen wird das Buch schließlich mit einem Zitat von Jurij Andruchowytsch und einer NDR-Kultur-Kritik, die lakonisch feststellt: „Tanja Maljartschuk – ein Name, den man sich merken sollte“. Grund dafür ist sicherlich die Tatsache, dass Andruchowytsch ein bekannter Name der ukrainischen Gegenwartsliteratur im deutschsprachigen Raum ist. Zusätzlich bekam 2013 die Ukraine mit den Maidan-Protesten, die im November ihren Ausgangspunkt nahmen, verstärkte mediale Aufmerksamkeit. Residenz veröffentliche das Buch zwar vor den Protesten; der politische Hintergrund spielte aber später bei der Rezeption und Positionierung des Buches eine große Rolle. Die deutschsprachige Ausgabe und Rezeption fixiert Maljartschuk damit als Repräsentantin der ukrainischen Literatur und Gesellschaft und vernachlässigt dabei, dass sie 14

Das Zitat auf dem ukrainischen Buchumschlag lautet: „Jede neue Publikation der Werke von Tanja Maljartschuk findet so statt, als ob sie anderen Menschen Katzen schenken würde, aus der erzwungenen Notwendigkeit, sie jemandem zu geben, weil die Texte wachsen und das Herz der Schriftstellerin kratzen“ (Maljartschuk 2012, übersetzt von M. P.).

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in ihrem Schreiben über diese ukrainische Dimension hinausdenkt. Zu diesem Zweck dient ihr das Fantastische.

Entrückte Realität: Aus der Perspektive einer Außenseiterin

Autoren der fantastischen Literatur wie Jorge Luis Borges, Julio Cortázar oder der kolumbianische Nobelpreisträger Gabriel García Márquez gehören zu Maljartschuks Lieblingsschriftstellern. Mit ihrem eigenen Schreiben knüpft die Autorin an diese Art von Literatur an und fühlt sich geschmeichelt, wenn die Kritik sie in diesem Umfeld verortet. „Früher habe ich es sehr gemocht, wenn irgendjemand meine Texte als zum Beispiel magischen Realismus gelesen hat. Das gefällt mir, wobei ich selbst nicht sagen kann, wie ich schreibe“ (Interview). Auch in ihrem Debütroman sind Elemente des magischen Realismus zu erkennen, auch wenn sie sich für die konkrete Umsetzung dieser Dimension nicht an einen der genannten Autoren anlehnt, sondern an Fjodor M. Dostojewskis Der Idiot.15 Maljartschuks Roman wird aus der Perspektive der Außenseiterin Lena erzählt, die einen besonderen Blick auf die Realität wirft. Augenscheinlich sind die Parallelen zwischen Lena und dem für seine Umgebung liebenswerten „Idioten“ Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin. In ihrem Nachwort zur deutschsprachigen Übersetzung von E. K. Rahsin schreibt Ilma Rakusa über den „Revolutionär“ und „Heiligen“ Myschkin: Als „Vollstrecker der Nächstenliebe“, als „reiner Missionar des Mitleids“, als „argloser, mit herausfordernder Unschuld auftretender Demonstrant der Güte“ (Siegfried Lenz) verkörpert der Epileptiker und gesellschaftliche Außenseiter Myschkin den „wahrhaft vollkommenen und schönen Menschen“, die Utopie christlich-sozialen Glücks, ohne indes zur blutlosen Idealfigur zu werden. (Rakusa, 1999, 955)

Eine ähnliche Charakterisierung trifft auf Maljartschuks Lena zu. Sie ist ein Sonderling, eine Außenseiterin, „hatte keine Freunde und war immer allein mit ihren Büchern. Sie lebte in einer Fantasiewelt, die wenig mit der Welt zu tun hatte, wie wir sie kennen“ (Maljartschuk, 2013, 18). Lenas Blick auf die Welt ist arglos; sie ist in Anlehnung an den Idioten im Sinne Rakusas eine „Vollstreckerin der Nächstenliebe“. Im Gegensatz zu vielen anderen Romanfiguren glaubt sie 15

Neben den ukrainischen Autoren spielen für Maljartschuks literarische Positionierung besonders auch die russischen Klassiker eine wichtige Rolle. Die russische Gegenwartsliteratur aber meidet sie – sie sei ihr „zu russisch, zu imperialistisch“ (Interview).

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noch an Demokratie und Gerechtigkeit und setzt sich für diese ein. Sie hilft etwa streunenden Straßenhunden oder macht sich für ihre Freundin Iwanka stark. In Lena spiegelt sich eine kindliche Perspektive wider, die für Maljartschuk eine „sehr wahre, eine sehr offene Perspektive“ ist (Interview). Lena spricht aus, was sie sich denkt, und versucht dementsprechend zu handeln – auch wenn sie letztlich scheitert. Dass die Figur Lenas eng an den „Idioten“ Dostojewskis angelehnt ist, zeigt sich jedoch nicht nur in der deutlichen Anspielung, sondern auch in direkten intertextuellen Zitaten. Als Lena, nach einem tätlichen Angriff auf die Frau vom Amt für Sozialpolitik in der geschlossenen Anstalt der Psychiatrie landet, trifft sie auf eine weitere Insassin der Psychiatrie, die Ich-Erzählerin im letzten Textabschnitt. Das Erste, was Lena zu ihr sagt, ist die vorerst eher kryptische Anspielung: „Wenn Schneider selbst jetzt aus der Schweiz gekommen wäre, seinen einstigen Zögling und Patienten zu sehen, so hätte er nur eine hoffnungsvolle Handbewegung16 gemacht und gesagt: ‚Ein Idiot‘“ (Maljartschuk, 2013, 261). Mit ähnlichen Worten endet Abschnitt XI aus Dostojewskis Roman. In der deutschsprachigen Übersetzung heißt es: Und wenn Professor Schneider jetzt persönlich aus der Schweiz gekommen wäre, um sich seinen ehemaligen Schüler und Patienten [Fürst Myschkin] anzusehen, so würde er, in der Erinnerung an den Zustand des Fürsten, manchmal nach Anfällen im ersten Jahr seiner Kur in der Schweiz, wieder nur mit der Achsel zucken und wie damals gesagt haben: „Ein Idiot!“ (Dostojewski, 1999, 935)

Tanja Maljartschuk weist diese Textstelle nicht als Zitat aus, zum Beispiel indem sie den Abschnitt kursiv oder unter Anführungszeichen setzt. Dennoch hebt sie sie vom restlichen Text ab. So lässt sie ihre Ich-Erzählerin nach diesem Ausspruch Lenas reflektieren: „Was sie damit meinte, weiß ich nicht. Vielleicht war das irgendein Zitat, aber ich bin noch nicht draufgekommen welches“ (Maljartschuk, 2013, 261). Neben dem Spiel mit intertextuellen Verweisen, mit denen Lenas Perspektive in Anlehnung an Dostojewski als die einer gesellschaftskritischen Außenseiterin charakterisiert wird, kommt es zur Vermischung verschiedener Erzählebenen. Dadurch entsteht eine Vielstimmigkeit, die unterschiedliche Facetten der Wirk16

Dass Übersetzungen durchaus sehr unterschiedlich ausfallen können, zeigt diese Passage. In der deutschen Übersetzung des Zitats in Maljartschuks Roman ist es eine „hoffnungsvolle Handbewegung“; in der hier zitierten Übersetzung von E. K. Rahsin ist es jedoch lediglich ein „Achselzucken“.

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lichkeit zum Ausdruck bringt und gleichzeitig eine Absage an eine allgemeingültige „Wahrheit“ erteilt. Diese Infragestellung von „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“ ist dabei ein zentrales Element des magischen Realismus. Im Roman dominieren die auktoriale und die personale Erzählsituation, wobei der Großteil der Ereignisse aus Lenas Perspektive geschildert wird. Etwa ab Kapitel elf jedoch ändert sich der Blickwinkel. In diesem Abschnitt wird ein Brief der Leiterin des Amts für Sozialpolitik an den stellvertretenden Bürgermeister der Stadt San Francisco abgedruckt. In diesem Schreiben schildert sie ihre Erfahrungen und Konflikte mit Lena. Der Briefanfang lautet folgendermaßen: Sehr geehrter Herr Taras Mykolajowytsch! Hiermit möchte ich, Bohdana Iwaniwna Bihun, Ihnen, sehr geehrter Herr Taras Mykolajowytsch, meine Position zu den kürzlich viel diskutierten Ereignissen, die auf unser Amt und meine Tätigkeit sicherlich kein gutes Licht werfen, in schriftlicher Form darlegen. (Maljartschuk, 2013, 231)

Durch den Wechsel der Erzählstimmen, die ihre Sicht der Wirklichkeit wiedergeben, entwickeln sich im Roman unterschiedliche Erzählebenen. Es handelt sich nicht nur um eine erzählte Wirklichkeit, sondern um viele, die einander gegenübergestellt werden. Die ErzählerInnen selbst sind für die LeserInnen nicht zwangsläufig zuverlässig, da mit ihrem Sprechen unterschiedliche Motivationen einhergehen. So gilt die schon erwähnte Ich-Erzählerin im letzten Kapitelabschnitt, eine Insassin der Psychiatrie, aus einem normativen Betrachtungssystem heraus nicht als glaubwürdig. Die LeserInnen sind aber auf ihre Perspektive angewiesen, denn sie ist die einzige Person, die über die letzten Ereignisse und Lenas wundersames Verschwinden Auskunft geben kann. Im Interview meinte Maljartschuk, dass sie ihren Roman nur deshalb schrieb, weil sie als Journalistin arbeitete und so die „dunkle Seite“ der ukrainischen Gesellschaft kennenlernte. Die Erfahrungen, die sie als Fernsehjournalistin in Kiew machte, fließen in den Text mit ein. Diese „Wirklichkeitsebene“ des Textes nahmen die RezensentInnen unterschiedlich wahr. Olena Kravchuk, eine ukrainische Rezensentin, etwa spricht in ihrer Buchkritik von Betroffenheit, die sie beim Lesen verspürte: „[D]enn die Autorin berührt schmerzhafte gesellschaftliche Fragen. Alle im Buch erwähnten Geschichten sind real“ (Kravchuk, 2013, übersetzt von M. P.). Eine Lektüre des Buches aus einer ukrainischen Perspektive, für die vielleicht die geschilderten Erlebnisse Teil der eigenen Erfahrung sind, dürfte andere Lesearten generieren als ein „westlicher“ Blick von außen. Für so manche deutschsprachigen LeserInnen spiegelt das Buch keine erlebte Wirklichkeit wider, sondern im Fokus der Lektüre stehen vor allem Humor

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und Ironie (Anonym, 2014; Pohl, 2013). Viele der Buchbesprechungen schätzen das Spiel der Autorin mit Realität, Fiktion und Humor und ihre, wie Sylvia Treudl im Magazin Buchkultur anmerkt, gleichzeitig „witzig[e] und traurig[e]“ Erzählweise (Anonym, 2013; Fasthuber, 2014; Gutschke, 2014; Treudl, 2013). Interessanterweise decken sich die Rezeption des Buches und ihr Fokus auf Ironie und Humor nicht unbedingt mit der Gestaltung der Buchcover durch die Verlage (Residenz, KSD). Denn die visuelle Gestaltung der Bücher hinterlässt einen eher bedrückenden, verstörenden Eindruck.

Das „Dazwischen“ als Raum der Kritik

Maljartschuks Schreiben bewegt sich zwischen Tragik und Komödie, zwischen dem Fiktionalen, dem Wunderbaren und dem Realen – in diesem „Dazwischen“, das von der Außenseiterin Lena besetzt wird, verpackt in Ironie und Humor, öffnet sich ein Raum der Kritik, etwa an gesellschaftlichen Zuständen in der Ukraine. Die Autorin knüpft das Schicksal ihrer literarischen Figuren eng an historische und gesellschaftliche Entwicklungen. Als etwa Lena vor einem Geschäft in einer langen Warteschlange steht, hört sie unzufriedene Stimmen: „Sind Sie denn nicht froh?“, fragte sie. „Die Ukraine war fast dreihundert Jahre lang abhängig. Und jetzt ist sie frei! Wir sollten uns freuen.“ „Worüber freust du dich denn, Kind?! Dass du dich tagelang anstellen musst?“ „Na ja“, widersprach Lena nicht mehr ganz so selbstsicher, „das ist nur anfangs so. Später werden wir alle glücklich und reich sein. Weil wir selbst über uns bestimmen.“ Die neuen Selbstbestimmer antworteten Lena kurz und prägnant: „Halt die Klappe!“ Obwohl sie insgeheim die gleichen Hoffnungen hegten. (Maljartschuk, 2013, 44–45)

Die postsowjetische Ukraine, eine Gesellschaft im „Übergang“, wird eher düster gezeichnet, wenn auch Hoffnung auf eine Verbesserung der ökonomischen Situation bleibt. An einer anderen Stelle im Roman wird konkret das Jahr 1996 genannt. Damals wurde die ukrainische Verfassung vom Parlament angenommen und die Hrywnja, die neue Währung der unabhängigen Ukraine, eingeführt. In der Erzählung ging in diesem Jahr „endgültig alles den Bach runter, und San Francisco versank im schwarzen Wasser des freien Marktes“ (Maljartschuk, 2013, 59). Doch der reale Marktplatz war für die Menschen auch ein Ort der „Hoffnung auf besserer Zeiten“. Intellektuelle, Akademiker, Schauspieler, Lehrer und Lenas Eltern versuchten dort ihr Glück.

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Ein Motiv, das sich leitmotivisch durch den Roman zieht und vor dessen Hintergrund die Bürokratie in der Ukraine kritisiert wird, ist jenes des Hundes.17 Dies wird durch ein Gedicht von Erich Fried, das Maljartschuk der Biografie eines zufälligen Wunders programmatisch voranstellt, angekündigt. Die Autorin beendete ihren Roman, als sie bereits in Wien lebte und die deutschsprachige Literatur wahrzunehmen begann, wodurch sich ihr literarischer Bezugsrahmen in ihren Werken noch einmal erweiterte. Durch Zufall stieß sie auf ein Buch von Erich Fried und fand den folgenden Ausschnitt sehr passend für ihre eigene Erzählung: „Ein Hund, der stirbt und der weiß, / daß er stirbt wie ein Hund, / und der sagen kann, daß er weiß, / daß er stirbt wie ein Hund – ist ein Mensch“ (Maljartschuk, 2013). Über die Metapher des Hundes werden im Roman gesellschaftliche Probleme verhandelt und strukturelle Missstände aufgezeigt. Im Interview merkt die Autorin an, dass „[i]n der Ukraine viele Menschen wie Hunde [leben]. Und wieder ein Mensch zu werden ist schwierig, aber es ist möglich“. Genau dies versucht Lena mit ihrer Freundin Iwanka, die sie „Hund“ nennt. „Hund“ ist einfach und gutmütig (daher der Name), sie hat neun Geschwister und kommt aus armen Verhältnissen. Als sie bei der Flucht vor ihrem brutalen Mann, abgewiesen von der Fürsorge, eine Nacht im verschneiten Wald verbringt, erfrieren ihre Beine. Lena beschließt, ihr zu helfen, und verspricht: „Hund, ich mache einen Menschen aus dir“ (Maljartschuk, 2013, 191). Mit ihrer „Hund“-Geschichte führt Maljartschuk vor Augen, dass das gesellschaftliche System, der Staat, den sie kritisiert, einen Menschen erst zu einem „Hund“ macht; doch gleichzeitig ist sie sich bewusst, dass dieses System nur deshalb existiert, weil es von Menschen erschaffen wurde. Jetzt ist der Einfluss des Systems in der Ukraine schon so stark, dass man kein normaler Mensch mehr werden kann, also ein freier Mensch, der seine Rechte kennt, ein bisschen selbstsicher ist und keine Angst hat. Es ist schwierig, einen solchen Menschen, der nicht unter Minderwertigkeitskomplexen leidet, zu finden. (Interview)

In ihrem literarischen Schreiben aber erschafft Maljartschuk mit ihrer Protagonistin Lena einen solchen „freien Menschen“, der seine Rechte kennt und sich für 17

In ihrem Erzählband Neunprozentiger Haushaltsessig kommt die Metapher des Hundes ebenfalls vor. Die letzte Erzählung endet mit einem wörtlichen Zitat aus Franz Kafkas unvollendetem Roman Der Prozess. Kursiv hervorgehoben heißt es in ihrer Erzählung: „Wie ein Hund, dachte ich, es war, als sollte die Scham mich überleben“ (Maljartschuk, 2009b, 214).

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diese einsetzt. Auch wenn sie oft an Grenzen stößt und scheitert, unternimmt Lena zumindest den Versuch, das „System“ zu ändern. Gleichzeitig gerät sie damit in die Rolle der Außenseiterin, wird als fremd und anders wahrgenommen, als würde sie in einer anderen Welt leben. Außer mit dem ukrainischen bürokratischen System setzt sich Biografie eines zufälligen Wunders kritisch mit Nationalismus und Patriotismus auseinander. Dies spiegelt sich im Roman vor allem in der Sprachverwendung, im Bestehen auf dem Ukrainischen und der Ablehnung des Russischen, wider. Lena etwa heißt eigentlich ukrainisch Olenka, doch sie mag diesen Namen nicht und nennt sich russisch „Lena“, und das „obwohl sie – wie die meisten Westukrainer – alles Russische wie die Pest hasste“ (Maljartschuk, 2013, 7). Lena hat ein eher ambivalentes Verhältnis zum Russischen. Frau Dutt, zu der Lena eine besonders enge Beziehung pflegt, ist ihre Erzieherin im Kindergarten. Sie spricht mit den Kindern nur Russisch, da sie die ukrainische Sprache nicht beherrscht. Schließlich bekommt sie von der Direktorin die Anweisung, mit den Kindern nur mehr Ukrainisch zu sprechen. Als Lena die Verzweiflung ihrer Lieblingslehrerin mitbekommt, versucht sie, sie zu trösten. Die gut gemeinte kindliche Geste verfehlt jedoch ihre Wirkung: „Sie wissen ja“, sagte Lena, „Russland ist ein sehr böses und gemeines Land. Wegen Russland mussten viele Ukrainer sterben. In Sibirien und auch am Weißen Meer.“ Das Gesicht der Kindergärtnerin wurde rot und verquollen, Tränen rannten. Sie schwieg, und ihr Schweigen ließ Lena keine Ruhe […] „Kommen Sie eigentlich aus Russland? Denn wenn Sie Russin sind, können Sie mein Feind sein.“ „Ich bin Russin“, antwortete Frau Dutt in einer Sprache, die nicht so leicht einzuordnen war. „Dann sind Sie eben eine liebe Russin. Das gibt’s auch.“ (Maljartschuk, 2013, 11)

Humor entsteht im Roman vor allem durch Lenas kindlichen, unbefangenen Blick, der eine ironische Brechung hervorzurufen vermag. Aus dieser Perspektive wird Kritik geübt, wenn auch unter dem Mantel von Ironie und Humor. Wenn Maljartschuk das Buch jedoch heute nochmals neu schreiben müsste, würde es wahrscheinlich, vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Ereignisse, etwas anders aussehen. Ich muss sagen, dass ich das Buch geschrieben habe, bevor der Russland-Ukraine-Konflikt bzw. der Krieg anfing. Da habe ich einfach den ukrainischen Nationalismus ausgelacht, weil, egal, welche Sprache du sprichst, du kannst auch auf Ukrainisch Blödsinn reden. Viel wurde

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in letzter Zeit auf Ukrainisch gesagt und kluge Sachen auf Russisch. Maidan war zu 70 Prozent russischsprachig. Sprache ist für mich kein Problem. (Interview)

Die Funktion des Wunderbaren

Die wunderbaren Elemente in Maljartschuks Roman verfremden die Wirklichkeit und legen einen anderen Blick auf diese offen. Wie viele andere ihrer Erzählungen (Maljartschuk, 2009b, 2014b) weist Biografie eines zufälligen Wunders Anklänge an den magischen Realismus auf. Die Vermischung realer und fiktionaler, wunderbarer Elemente drückt eine andere Perspektive aus und schafft damit ein „vollständigeres, tiefergehendes Bild“ der Wirklichkeit (Scheffel, 1990, 52). Doch das Wunderbare erfüllt noch eine andere Funktion. Viele der tragischen, traurigen und grausamen Geschichten scheinen durch die humoristische Zeichnung der Autorin erst erträglich. Das Fantastisch-Wunderbare wird von Maljartschuk als hoffnungsvolle Perspektive eingesetzt und tritt dann auf, wenn (auf der Realitätsebene) kein Ausweg mehr möglich scheint. Leitmotivisch begleitet eine fliegende Frau, die ein gelbes Kopftuch trägt, das mit dunkelroten Blumen verziert ist, die Erzählung. Sie tritt in ausweglosen Situationen als Helferin in Erscheinung. Lena, die verschiedene Geschichten über sie hört, sie selbst jedoch noch nie zu Gesicht bekam, ist fasziniert von ihr. Die fliegende Frau rettet etwa „Hund“ vor dem Erfrieren, als diese von der Direktorin des Frauenhauses weggeschickt wird und im verschneiten Wald herumirrt. Sie bringt eine Nebenfigur im Roman, die gutmütige Shenja, vor ihrem brutalen Sohn in Sicherheit, bevor dieser sie mit einer Axt erschlagen kann (Maljartschuk, 2013, 149–151). Während Maljartschuks Roman immer zwischen Fiktion und Realität oszilliert, verschiebt die Autorin das Romanende zunehmend ins Wunderbare. Lena bittet die Frau vom Amt für Sozialpolitik um einen Rollstuhl für „Hund“ und fleht sie an: „[I]ch verstehe, dass Sie persönlich nichts am System ändern können. Aber Sie können sich selbst ändern. Sie können wenigstens jemandem helfen, wenigstens ein bisschen“ (Maljartschuk, 2013, 258). Doch die Frau denkt nicht daran und triumphiert: „Du wirst nichts erreichen, Lllllena. Und eher wird deine Freundin in ihrem stinkenden Loch verrotten, bevor sie auch nur irgendwas von mir bekommt. Du hättest nicht „Demokratie“ spielen dürfen, ich habe dich gewarnt. Wer zuletzt lacht, lacht am besten.“ Die Beamtin erstrahlte plötzlich im trüben Licht einer gelungenen Rache. (Maljartschuk, 2013, 258)

Lena erkennt ihr Scheitern, und als sie die Beamtin daraufhin in ihrer ausweglosen Lage würgt, wird sie in die Psychiatrie eingeliefert. Diese ist dann Schauplatz

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des Romanendes. Die Psychiatrie ist nach Foucault (1973) ein Ort, an den das Andere verbannt wird. Das Andere ist all jenes, das nicht einer gesellschaftlichen, rationalen Norm oder Konvention entspricht – wie etwa der Wahnsinn, der in rationalen Gesellschaften keinen Platz findet und daher in Psychiatrien ausgelagert wird. Lena entspricht nicht den Normen des Systems, gegen das sie „unvernünftigerweise“ ankämpft. Die Erzählperspektive wandelt sich im letzten Kapitelabschnitt des Romans – eine Ich-Erzählerin schildert nunmehr die Geschehnisse. Von einer normativen Perspektive der LeserInnen aus ist die Erzählerin ambivalent und unzuverlässig in der Beschreibung der Ereignisse. Sie ist Insassin der Psychiatrie und diagnostiziert sich selbst als „schizophren“ (Maljartschuk, 2013, 261). Im Schlusskapitel zeigt sich nochmals gut Maljartschuks Spiel mit Fiktion und Realität. Die Autorin nimmt eine Umkehrung der Zuordnungen – Wirklichkeit als „Wahrheit“ und Fiktion als „Lüge“ – vor. Eine Absolut-Setzung von „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“ gibt es bei ihr nicht. „[Literatur] ist gelogene Wahrheit […]. Manchmal kann man mit einer Lüge mehr Wahrheit sagen – Literatur ist so schön geschrieben, dass man ihr glaubt.“ (Interview). Zum Schluss entkommt Lena der Psychiatrie. „Lena kann fliegen. Sie ist von hier weggeflogen“ (Maljartschuk, 2013, 267), lautet die Auskunft der Ich-Erzählerin. Lena verschwindet, denn ein Verbleiben in der Realität ist nicht mehr möglich. Sie hinterlässt der Ich-Erzählerin als Andenken einen blauen Plastilinschwan und ein gelbes Kopftuch mit dunkelroten Blüten. Das Ende ist durchaus mehrdeutig zu lesen. Einerseits, da Maljartschuk sich des Wunderbaren (Fliegen als Metapher für Freiheit) bedient und ihre Protagonistin nicht der tristen Realität überlässt, bleibt Hoffnung (auf Veränderung) bestehen. Lena – so die hoffnungsvolle Perspektive der Ich-Erzählerin – fliegt in die Freiheit und kann nun als helfende Retterin Gutes tun. Andererseits ist das Ende auch pessimistischer deutbar. Lena hinterlässt das gelbe Kopftuch, ein Merkmal der fliegenden Retterin, und verschwindet ganz aus der Realität, für die jede Hilfe zu spät kommt. Lenas Auflösung zeigt, dass es in dieser Realiät keine Möglichkeit der Existenz mehr gibt. Fest steht, dass Lena mit ihrem plötzlichen Verschwinden etwas erfüllt, was ihr früher versagt blieb – in die Welt hinaus zu gehen. Sie hatte sich bereits ein Busticket nach Bratislava gekauft, das sie aber nicht einlöste, da sie ihrer Freundin „Hund“ helfen musste (Maljartschuk, 2013, 185). Erst zum Romanende, mit ihrem wundersamen Verschwinden, gelingt ihr – wenn auch metaphorisch – die Migration. Damit zeigt der Roman deutlich, dass der Übergang lange vor der Migration beginnt. Dennoch bringt die Migration neue Dimensionen des Dazwischen mit sich, um die es im Folgenden gehen soll.

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Übergang – als Autorin in Österreich Tanja Maljartschuk zog 2011 zu ihrem Mann, der ebenfalls im Literaturbetrieb tätig ist, nach Wien. [Es] war für mich klar, dass mein Mann nicht in die Ukraine kommt, denn er kann dort nichts machen. Von mir war das nicht wirklich mutig, weil ich hatte nicht viel in der Ukraine zu verlieren. Als Journalistin arbeiten wollte ich nicht mehr. Ich habe das sehr gerne abgebrochen. […] Am Anfang war ich natürlich sehr ängstlich, denn der Anfang war sehr kompliziert. (Interview)

Der Wechsel nach Österreich brachte nicht nur Erfreuliches mit sich; mit ihm war eine ökonomische Unsicherheit verbunden. Maljartschuk studierte in Iwano-Frankiwsk ukrainische Philologie und schloss ihr Studium 2005 ab. Der universitäre Abschluss jedoch wird in Österreich nicht anerkannt. „Ich hab keinen Beruf in den Händen, nur das Schreiben“ (Interview). Die Angst, nichts ökonomisch Rentables studiert zu haben und daher finanziell kein Auskommen zu finden, ist präsent und wird wiederholt Thema unseres Gespräches. Es scheint aber im Gegensatz zur Ukraine in Österreich eine Existenz als freie AutorIn möglich(er), denn, wie Maljartschuk anmerkt, man kann als in der Öffentlichkeit stehende AutorIn, neben dem Verkauf der Bücher, mit Lesungen, Artikeln für Zeitungen oder Interviews Geld verdienen. Neben der Sorge um das finanzielle Auskommen war das Erlernen der deutschen Sprache eine Hürde, die sie in Österreich zu überwinden hatte. Aus einem mehrsprachig ukrainisch-russischsprachigen Umfeld kam Tanja Maljartschuk 2011 ins vergleichsweise einsprachige Österreich. Der ukrainische Sprachalltag und der selbstverständliche Wechsel zwischen den Sprachen – russisch sprechen, auf Ukrainisch antworten – scheinen in Österreich unmöglich. Maljartschuk sprach mit ihrem Mann, als sie sich kennenlernten, Englisch; Deutsch eignete sie sich, mit viel Ehrgeiz, erst in Österreich an: „Ich verstehe, dass Migranten Deutsch lernen müssen, ich bin dafür. Ich hasse es, wenn ein Mensch hier zwanzig Jahre lebt und keine zwei Wörter zusammenstellen kann“ (Interview). Ihr Mann unterstützte sie beim Lernen, und als „Migrantin“ bekam sie Gutscheine von der Stadt, die sie bei Sprachschulen einlösen konnte. Die Sprachschule jedoch wollte die Gutscheine nicht annehmen, da sie weniger Stunden als vom Staat bzw. Gutschein gefordert anbot: „Sie würden dann einen Gutschein akzeptieren, wenn ich drei Monate bezahle. Aber drei Monate, das ist verdammt viel Geld, und damals hatte ich dieses Geld nicht. 400–500 EUR pro Monat, woher sollte ich das als Migrantin haben?“ (Interview) Wenn sie Geld für einen Monat hatte,

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lernte sie in der Sprachschule. Ihre Neugier und die Lust am Lernen reichten soweit, dass sie sehr früh begann, Gedichte deutschsprachiger AutorInnen ins Ukrainische zu übertragen. Sie übersetzte ihre Lieblingsgedichte von Ingeborg Bachmann, Paul Celan und Georg Trakl ins Ukrainische. Letzteren „verstehe ich immer noch nicht wirklich, aber der Rhythmus seiner Texte gefällt mir“ (Interview). Das erste Buch, das sie auf Deutsch las, waren Peter Bichsels Kindergeschichten (1969). Der Schweizer Autor wurde zu einem ihrer Lieblingsautoren; manche seiner Geschichten übersetzte sie auch ins Ukrainische. Das literarische Übersetzen ist – wenn auch nicht mit der Intention, die ukrainischen Texte dann zu publizieren – von Anfang an Teil ihres persönlichen Sprachlernprozesses. Gleichzeitig erweiterte Maljartschuk damit ihr Wissen über deutschsprachige Literatur, was dann wiederum auch ihr Schreiben beeinflusste, wie schon für das Zitat aus Erich Fried in ihrem Debütroman erläutert. Auch die Übersetzung ihrer Werke ins Deutsche wird mit dem Umzug nach Österreich für sie wichtiger. Beim ersten im Residenz Verlag erschienenen Erzählband konnte Maljartschuk noch nicht viel zur deutschen Übersetzung anmerken, doch bei ihrem Debütroman arbeitete sie eng mit ihrer Übersetzerin Anna Kauk zusammen. Diskussionen gab es zum Beispiel über bestimmte Wortverbindungen oder Sprichwörter, die sich nicht 1:1 ins Deutsche übertragen ließen. In der ukrainischen Ausgabe von Biografie eines zufälligen Wunders gibt es beispielsweise die Redewendung „Я покажу тобі де раки зимують“, die wörtlich übertragen „Ich zeig dir, wo die Krebse überwintern“ lautet. Diese ergibt im Deutschen, wörtlich übersetzt, wenig Sinn. Inhaltlich jedoch deckt sich dieses Sprichwort mit dem Ausspruch „Ich zeig dir, wo der Hammer hängt“. Nach Rücksprache mit der Autorin ersetzte dieses Sprichwort schließlich das ukrainische. Obwohl Maljartschuk selbst deutschsprachige Texte ins Ukrainische und ukrainische Texte ins Deutsche18 überträgt und darüber hinaus an der Übersetzung ihrer eigenen Texte mitarbeitet, scheut sie sich noch, literarische Texte auf Deutsch zu veröffentlichen. Maljartschuk publizierte bereits journalistische Texte in deutscher Sprache. Ihr Beitrag zum „Widerstand in der Ukraine“ mit dem 18

Im Frühjahr 2016 erschien ein Doppelheft der Literaturzeitschrift Podium, das sich der ukrainischen Literatur widmet. Die Texte (Beiträge von u. a. Wassyl Stus und Jurij Andruchowytsch) wurden von Tanja Maljartschuk zusammengestellt und von u. a. Harald Fleischmann und Maria Weißenböck ins Deutsche übertragen. Im Interview, das Monate vor dem Erscheinen der Podium-Ausgabe geführt wurde, erzählt Maljartschuk, dass sie in den Übersetzungsprozess eingebunden war. Sie fertigte z. T. eine Rohübersetzung der Texte an, die dann von ÜbersetzerInnen und LiteratInnen nochmals überarbeitet wurden. Im Gespräch beschreibt sie dies lakonisch: „Ich mache die Rohübersetzung, und er wird dann dichten“ (Interview).

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Titel „Der Tod sitzt auf dem goldenen Thron“ (Maljartschuk, 2014a), erschienen im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, war ihr erster in deutscher Sprache geschriebener Artikel. Literarische Versuche in deutscher Sprache wagte sie bereits, doch diese seien für sie mehr Teil des Sprachlernprozesses als ernsthaft betriebenes literarisches Schreiben. Für das literarische Schreiben sei ihrer Auffassung nach, im Gegensatz zum journalistischen, ein „Spielen mit Sprache“ notwendig, das sie noch nicht beherrsche. „Ich kann zum Beispiel nichts mehr mit der Sprache machen, ich kann nicht mit ihr spielen, sie weiterentwickeln […]. Was bleibt, ist nur mehr eine Geschichte. Das ist nicht schlecht, aber doch etwas anderes. Dann ist man bereits zu Beginn arm“ (Interview). Ihr nächster Roman, an dem sie derzeit arbeitet und dem Recherchearbeiten in der Österreichischen Nationalbibliothek vorangehen, soll daher zuerst (oder ggf. gleichzeitig) bei einem ukrainischen Verlag erscheinen, bevor er in deutscher Übersetzung auf den Markt kommt. Im Roman, so die vorsichtige Auskunft, wird es wieder um die Ukraine gehen, wobei auch Österreich als Schauplatz eine Rolle spielen wird. Ihrer Schreibweise jedenfalls bleibt Maljartschuk treu, es „wird ein sehr realistisches Buch, aber eben auch absurd“ (Interview).

Zusammenfassung Maljartschuks literarisches Schreiben wie auch ihr Autorin-Verständnis sind geprägt von nationalen Dimensionen, die sie aber immer wieder unterläuft. Übersetzung und eine internationale Ausrichtung sind von Anfang an konstitutive Bestandteile ihrer literarischen Laufbahn, die in Iwano-Frankiwsk ihren Ausgangspunkt nahm. Ein Fokus ausschließlich auf den nationalen ukrainischen Buchmarkt ist für die Autorin ökonomisch nicht rentabel – um ein Auskommen zu sichern, sind etwa fremdsprachige Übersetzungen der eigenen Werke, die andere Buchmärkte erschließen und neue LeserInnen gewinnen, wie auch Arbeitsstipendien außerhalb der Ukraine vonnöten. Maljartschuks literarisches Netzwerk hat daher eine transnationale Prägung. Erste Kontakte knüpfte sie in ihrer „Heimatstadt“ – mittlerweile ist sie im deutschsprachigen Raum, vor allem in der österreichischen Literaturlandschaft, als Autorin gut vernetzt. Auch erste Übersetzungen im englischsprachigen Raum sind von ihren Erzählungen bereits erschienen (Malyarchuk, 2012). Der Residenz Verlag wurde auf die Autorin durch die Vermittlung von ÜbersetzerInnen aufmerksam und veröffentlichte zwei ihrer Bücher in deutscher Übersetzung. In beiden Werken ist die Ukraine Schauplatz der Erzählung, doch während Neunprozentiger Haushaltsessig Einzelschicksale verhandelt, fokussiert

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Maljartschuks Debütroman Biografie eines zufälligen Wunders die ukrainische Gesellschaft. „Im Roman habe ich erstmals versucht, die soziale Ebene zu schildern und diese für mich zu klären. Also nicht das Leben eines Menschen zu erzählen, sondern das einer Gesellschaft“, erzählt Maljartschuk im Interview. Der Roman wird aus der Perspektive der gesellschaftlichen Außenseiterin Lena erzählt und wirft einen schonungslosen Blick auf die ukrainische Gesellschaft, die sich im Übergang befindet. Die Erzählung, da vielstimmig angelegt, gibt mit Mitteln von Humor und Ironie eine entrückte Perspektive auf die Wirklichkeit wieder. Seit dem Maidan-Aufstand engagiert sich Maljartschuk verstärkt für die Ukraine und verfasste bereits erste journalistische Texte in deutscher Sprache. Ende 2013 bzw. 2014 waren alle ukrainischen Autoren sehr gefragt. Aber nicht wegen der Literatur, sondern wegen der Politik. Für mich war das eine große Herausforderung, weil ich mich lieber im Hintergrund halte. Ich hasse es, öffentlich über Politik zu reden, aber in dieser Situation musste ich etwas tun. (Interview)

Ihre Bücher wurden am deutschsprachigen Markt vor den Protesten veröffentlicht, aber dennoch hatte die politische Situation Einfluss auf ihre literarische Rezeption bzw. auf das gesteigerte Interesse für ihre Person. Bei Lesungen etwa, bei anschließenden Gesprächen mit dem Publikum steht oft weniger die Literatur im Zentrum der Diskussionen als die Politik, was für zugewanderte AutorInnen nicht untypisch ist. Doch Maljartschuk versucht, diese nationale Fixierung literarisch zu überwinden: „Ich antworte nur auf das, was ich weiß. Und sehr oft gehe ich dann dazu über, eine Geschichte aus der Ukraine zu erzählen. Und das ist gut, denn ich kann Geschichten erzählen“ (Interview). Ob Maljartschuk Deutsch zu ihrer Literatursprache macht, ist noch offen. Fest steht, dass sie bereits selbst als Übersetzerin, als Mittlerin „zwischen den Kulturen“ tätig ist – sie übersetzt sowohl ihre deutschsprachigen LieblingsliteratInnen ins Ukrainische als auch ukrainische DichterInnen ins Deutsche.

Literaturverzeichnis Adelson, Leslie A. (2006). Against Between – Ein Manifest gegen das Dazwischen. In Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Literatur und Migration. München: edition text + kritik, 36–46. Andruchowytsch, Jurij. (2003). Mit einer seltsamen Liebe … Osteuropa, 53 (9), 1215–1222. Anonym. (2007). Ukrainian authors make headway into lucrative European book market, Kyiv Post, 6. Juni 2007. Abgerufen am 25. Juli 2015 unter http://www.kyivpost.com/content/ ukraine/ukrainian-authors-make-headway-into-lucrative-euro-26746.html?flavour=full.

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BURCU DOGRAMACI

HEIMAT EINE KÜNSTLERISCHE SPURENSUCHE

Heimat ist ein in der deutschen Sprache verorteter Begriff. Eine Übersetzung in andere Sprachen fällt schwer, ist bisweilen unmöglich. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich „Heimat“ zu einer emotional gefassten und politisch aufgeladenen Bezeichnung entwickelt und besonders in der Zeit des Nationalsozialismus als politisch instrumentalisierte Vorstellung vom kulturell und territorial Eigenen neue Brisanz erhalten. Burcu Dogramaci begibt sich auf die Suche nach der Präsenz und Bedeutung von Heimat in der Kunst seit den 1960er Jahren. In Auseinandersetzung mit Heimattheorien und literarischen Texten beleuchtet sie die vielfältigen Bedeutungen und Deutungen von künstlerisch wie fotografisch reflektierter Heimat. Sie ordnet auch die Kehr- und Gegenbilder von Heimat, die vielen künstlerischen Arbeiten eingeschrieben sind, in einen größeren kulturgeschichtlichen und zeithistorischen Zusammenhang ein. Dabei fordert die Autorin keine wehmütige Aufwertung von Heimat ein. Im Gegenteil: sie regt an, Heimat im Kontext globaler Migrationsphänomene und Entgrenzungen neu in den Blick zu nehmen. 2016. 78 S. 42 S/W- UND 55 FARB. ABB. BR. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-412-50205-8

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar