Literarischer Stil: Mittelalterliche Dichtung zwischen Konvention und Innovation. XXII. Anglo-German Colloquium Düsseldorf 9783110344738, 9783110344714

The issue of “style” has thus far played a minor role in the intensive debates regarding the historical poetics of medie

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Literarischer Stil: Mittelalterliche Dichtung zwischen Konvention und Innovation. XXII. Anglo-German Colloquium Düsseldorf
 9783110344738, 9783110344714

Table of contents :
Perspektiven mediävistischer Stilforschung. Eine Einleitung
Stilbegriff und Stilkonzept
Historische Stildiskurse und historische Poetologie
stilus – calamus – griffel – stift
Stildifferenz im Minnelied
‚Mystischer‘ Stil als kulturelle Praxis? Interferenzen zwischen geistlicher und weltlicher Lyrik in Hadewijchs ‚Strophischen Liedern‘
Die ,Kunst der vuoge‘: Stil als relationale Kategorie
Der Meister-Diskurs in der volkssprachlichen Literatur um 1200
Poetologien der Oberfläche: Das Beispiel der mittelhochdeutschen Antikenepik
Das Kleid der triuwe und das Kleid der Dichtung
Stilpraxis und Stilideal
cristallîniu wortelîn
Kristallwörtchen und das Stilprogramm der perspicuitas
Stil als KommentarZur inhaltlichen Funktion des Sprachklangs in Gottfrieds von Straßburg Tristan
Stil und Klang
Generische Interferenz im MittelalterLyrisches in der geistlichen Epik
Sprachästhetik als ars cantandiPoetik im Diskurs der musica in Konrads von Würzburg Goldener Schmiede
Mechthilds KlangpoetikZu den Kolonreimen im Fließenden Licht der Gottheit
‚Musikalischer Stil‘ in mittelalterlicher Literatur
Intertextualität und Traditionalität
Zur Poetik des mehrsinnigen VerstehensDer allegorische Stil der Hochzeit
Leien mund nie baz gesprachWolfram als stilistisches Vorbild im Jüngeren Titurel, im Lohengrin und im Göttweiger Trojanerkrieg?
Wolfram als Chronist?‚Chronikstil‘ und Sprecher in den Schlussstrophen des Lohengrin
mit geflorierten worten?
Kuckuck und NachtigallStilfragen an Hugo von Montfort
Stil und Hybridität
swie ez ie kom, ir munt was rôtZur Handhabung der descriptio weiblicher Körperschönheit im Parzival Wolframs von Eschenbach
Metapher und Metonymie bei WolframÜberlegungen zum ‚Personalstil‘ im Mittelalter
Hartmann von Aue oder Hans Ried?Zum Umgang mit der Text- und Stilkritik des ‚Ambraser Erec
Der Mantel im Ambraser Heldenbuch und die Frage nach dem Stil
Materialität und Stil
Stil und StrukturDie Literarisierung der Predigten Bertholds von Regensburg und ihre materielle Reflexion in den Handschriften
Schneckenstile
Abkürzungsverzeichnis
Register

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Literarischer Stil

Literarischer Stil

Mittelalterliche Dichtung zwischen Konvention und Innovation. XXII. Anglo-German Colloquium Düsseldorf Herausgegeben von Elizabeth Andersen Ricarda Bauschke-Hartung Nicola McLelland Silvia Reuvekamp

ISBN 978-3-11-034471-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-034473-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038034-7 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Echternacher Evangelistar Heinrichs III., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, msb 0021, fol. 124v, mit freundlicher Genehmigung gedruckt. Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Vorwort | IX Silvia Reuvekamp Perspektiven mediävistischer Stilforschung. Eine Einleitung | 1

Stilbegriff und Stilkonzept Gert Hübner Historische Stildiskurse und historische Poetologie | 17 Michael Stolz stilus – calamus – griffel – stift. Zur metonymischen Metaphorik des Stilbegriffs in der mittellateinischen und mittelhochdeutschen Literatur | 39 Manfred Eikelmann Stildifferenz im Minnelied. Zum Verhältnis von iterativer Rede und geistlichen Assoziationskontexten in Heinrichs von Morungen In sô hôher swebender wunne (MF 125,19) | 61 Almut Suerbaum ‚Mystischer‘ Stil als kulturelle Praxis? Interferenzen zwischen geistlicher und weltlicher Lyrik in Hadewijchs ‚Strophischen Liedern‘ | 77 Annette Gerok-Reiter Die ,Kunst der vuoge‘: Stil als relationale Kategorie. Überlegungen zum Minnesang | 97 Susanne Bürkle Der Meister-Diskurs in der volkssprachlichen Literatur um 1200. Handwerkliche Kompetenz und artistische Valorisierung | 119 Markus Stock Poetologien der Oberfläche: Das Beispiel der mittelhochdeutschen Antikenepik. Mit einigen Bemerkungen zum New Formalism | 141 Esther Laufer Das Kleid der triuwe und das Kleid der Dichtung. mære erniuwen als Verfahren stilistischer Erneuerung bei Konrad von Würzburg | 157

VI 

 Inhalt

Stilpraxis und Stilideal Klaus Grubmüller cristallîniu wortelîn. Gottfrieds Stil und die Aporien der Liebe | 179 Christoph Huber Kristallwörtchen und das Stilprogramm der perspicuitas. Zu Gottfrieds Tristan und Konrads Goldener Schmiede | 191 Albrecht Hausmann Stil als Kommentar. Zur inhaltlichen Funktion des Sprachklangs in Gottfrieds von Straßburg Tristan | 205

Stil und Klang Timothy R. Jackson Generische Interferenz im Mittelalter. Lyrisches in der geistlichen Epik | 227 Almut Schneider Sprachästhetik als ars cantandi. Poetik im Diskurs der musica in Konrads von Würzburg Goldener Schmiede | 247 Caroline Emmelius Mechthilds Klangpoetik. Zu den Kolonreimen im Fließenden Licht der Gottheit | 263 Volker Mertens ‚Musikalischer Stil‘ in mittelalterlicher Literatur | 287

Intertextualität und Traditionalität Sarah Bowden Zur Poetik des mehrsinnigen Verstehens. Der allegorische Stil der Hochzeit | 305 Annette Volfing Leien mund nie baz gesprach. Wolfram als stilistisches Vorbild im Jüngeren Titurel, im Lohengrin und im Göttweiger Trojanerkrieg? | 323

Inhalt 

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Alastair Matthews Wolfram als Chronist? ‚Chronikstil‘ und Sprecher in den Schlussstrophen des Lohengrin | 339 Cordula Böcking mit geflorierten worten? Die Minnelyrik Hugos von Montfort zwischen Epigonalität und Experiment | 353 Michael Waltenberger Kuckuck und Nachtigall. Stilfragen an Hugo von Montfort | 371

Stil und Hybridität Elke Brüggen swie ez ie kom, ir munt was rôt. Zur Handhabung der descriptio weiblicher Körperschönheit im Parzival Wolframs von Eschenbach | 391 Stephan Fuchs-Jolie Metapher und Metonymie bei Wolfram. Überlegungen zum ‚Personalstil‘ im Mittelalter | 413 Andreas Hammer Hartmann von Aue oder Hans Ried? Zum Umgang mit der Text- und Stilkritik des ‚Ambraser Erec‘ | 427 Henrike Manuwald Der Mantel im Ambraser Heldenbuch und die Frage nach dem Stil | 449

Materialität und Stil Johannes M. Depnering Stil und Struktur. Die Literarisierung der Predigten Bertholds von Regensburg und ihre materielle Reflexion in den Handschriften | 471 Christina Lechtermann Schneckenstile. Albrecht Dürers Underweysung der Messung (1525) und Hans Sebald Behams Kunst und Lere Buͤchlin (1546) | 489

VIII 

 Inhalt

Abkürzungsverzeichnis | 513 Register | 515

Vorwort Seit über 40 Jahren kooperieren britische und deutsche Altgermanisten im institutionalisierten Rahmen des alle zwei Jahre stattfindenden Anglo-German Colloquiums. Der internationale Austausch fand vom 7. bis 11. September 2011 im Kardinal Schulte Haus in Bensberg seine Fortsetzung. Thema des nunmehr schon XXII. Anglo-German Colloquiums war „Literarischer Stil im Mittelalter. Deutschsprachige Literatur zwischen Tradition und Innovation“. Die Vorträge sind bis auf einzelne Ausnahmen in diesem Band versammelt. Entscheidend für die Themenwahl war die Beobachtung, dass in den aktuell virulenten Diskussionen um die Poetik, Ästhetik und Artifizialität der volkssprachigen Literatur des Mittelalters Fragen der sprachlichen Formgebung bisher eine eher untergeordnete Rolle spielen und dort, wo diese in den Blick geraten, eine gewisse Zurückhaltung gegenüber dem eher in älteren Forschungsdiskursen verankerten Stilbegriff geübt wird. Ziel des geplanten Colloquiums war entsprechend die Klärung, ob ein unter neuen methodischen und theoretischen Vorzeichen konturiertes Stilkonzept mit daraus abgeleiteten Beschreibungs- und Analyseverfahren geeignet sein könnte, eine Leerstelle im Bemühen um ein besseres Verständnis poetischer Praxis und poetologischen Selbstverständnisses mittelalterlicher Literatur abzutragen. Immerhin lenkt die Kategorie ‚Stil‘ nicht einfach nur den Fokus auf die Formgebung der sprachlichen Oberfläche und erscheint damit als eine sinnvolle (und vielleicht sogar notwendige) Ergänzung zur Analyse poetischer, rhetorischer oder narrativer Verfahren, sondern sie denkt die sprachliche Verfasstheit von Texten von vornherein in einem Schnittfeld von Tradition und Innovation, von Kollektivität und Individualität, von Kontinuität und Diskontinuität. Damit ist die Kategorie ‚Stil‘ in besonderem Maße geeignet, um die komplexen und sich gegenseitig überlagernden Prozesse von Normerfüllung, Normbrechung und Normsetzung greifbar zu machen, die gerade für mittelalterliche Literaturproduktion wie Literaturrezeption von kaum zu unterschätzender Bedeutung sind. Aus der skizzierten Zielsetzung ergaben sich vorerst vier verschiedene Arbeitsfelder, allesamt innerhalb der germanistischen Mediävistik wenig sondierte Bereiche. Die Vorträge des Colloquiums bzw. Beiträge dieses Bandes stecken ausgehend von den vier entworfenen Untersuchungsinteressen mit den sich daraus ergebenden Fragestellungen neue Forschungsfelder ab, entwickeln alternative Zugänge oder aber adaptieren das in der älteren Forschung bereits Geleistete unter veränderten Prämissen: 1. Stilbegriff, Stiltheorie und Stilanalyse: Wo der Stilbegriff in aktuellen Diskussionen überhaupt Verwendung fand, geschah dies bis auf wenige Ausnahmen eher heuristisch. Ein klar konturiertes begriffliches Konzept der Kategorie ‚Stil‘ gab es innerhalb der mediävistischen Literaturwissenschaft ebenso wenig wie gut erprobte Verfahren der Stilanalyse. Der Weg zu einer elaborierteren Stiltheorie und Analysepraxis muss daher erst neu beschritten werden. Ebnen kann ihn u.  a. eine historische Semantik mittelhochdeutscher Termini für Stilphänomene in

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 Vorwort

unterschiedlichen Gattungen (z.  B. blüemen, schîn, erniuwen, parieren, figieren), wie sie für zahlreiche poetologische Begriffe bereits erarbeitet wurde. Flankiert werden muss dies durch vergleichende Untersuchungen zu Stilbegriffen und Stilkonzepten in den relevanten lateinischen Theoriefeldern (z.  B. ars dictaminis, ars poetriae, ars dictandi, ars praedicandi), um eine genauere Vorstellung von der Verwurzelung der volkssprachigen Literatur in lateinisch-gelehrten Traditionen sowie eigenständige Akzentuierungen zu erlangen. In umgekehrter Blickrichtung sind zudem aber auch die vielschichtigen modernen Ansätze zu einer Theoretisierung des Stilbegriffs aus linguistischer, soziologischer, psychologischer, kunsthistorischer und literaturtheoretischer Sicht auf ihre Historisierbarkeit und ihren möglichen Erklärungswert für die mittelalterliche literarische Praxis hin zu befragen. All diese Bemühungen um eine Konzeptualisierung der Kategorie ‚Stil‘ dürfen dabei Fragen der methodischen Operationalisierbarkeit nicht gänzlich aus den Augen verlieren, um einer Loslösung der Stiltheorie von der Stilanalyse, wie sie in den modernen Literaturwissenschaften an verschiedenen Stellen zu beobachten ist, Vorschub zu leisten. In diesem Sinne werden in den Beiträgen ganz basale Fragen angegangen: Welche Möglichkeiten bieten Stilanalysen überhaupt, mit welchen Erkenntnisinteressen können sie verbunden werden (bei poetischen Texten und bei Gebrauchstexten), und in welchem Verhältnis stehen sie zu anderen interpretatorischen Zugängen? Deutlich wurde dabei aber auch, welchen ganz praktischen Grenzen Sprachanalysen unterliegen, die einerseits auf die breit angelegte und detailreiche Beschreibungen der Gestaltung ganzer Texte zielen (Stil als Flächenphänomen), deren Besonderheiten gleichzeitig aber nur im Vergleich mit anderen Texten profiliert werden können (Stil als relationale Kategorie). Spannungsfeld von Rhetorik, Poetik, Narrativik, Ästhetik und Stil: Die Kategorie ‚Stil‘ ist nicht trennscharf gegenüber anderen Ebenen und Eigenschaften literarischer oder poetischer Gestaltung abgegrenzt. In verschiedenster Hinsicht ergeben sich Analogien, Interdependenzen oder Überschneidungen etwa zur Ästhetik, Rhetorik, Poetik oder auch Narrativik literarischer Texte, die es genauer zu beleuchten gilt. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang nicht allein, welche Phänomene und Gestaltungselemente in einem spezifischen Sinne als Stileigenschaften oder Stilmerkmale verstanden werden können; notwendig sind vielmehr weit über solche klassifikatorischen Zugriffe hinaus Beobachtungen zum Zusammenspiel verschiedener Gestaltungsebenen und den dahinter stehenden Strategien oder poetologischen Konzepten (z.  B. Sprachstil und Gattungspoetik; poetologische Reflexion und sprachliche Gestaltung im höfischen Roman; Motivund Sprachvariation im Minnesang; Pragmatik rhetorischer Sprechweisen in der Sangspruchdichtung; Reduktion von Rhetorik und Sprachästhetik im frühneuhochdeutschen Prosaroman etc.). In den Beiträgen werden sowohl die methodischen Konstellationen diskutiert als auch in Fallbeispielen die Praktikabilität der Zugriffe erprobt.

Vorwort 

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3.

Voraussetzungen und Bedingungen von Stilbildung und Stilwandel: Gedacht als im Kern relationale Kategorie, kann die Frage nach ‚Stil‘ nicht losgelöst von literarischen, sozialen, institutionellen und medialen Kontexten der Literaturproduktion wie Literaturrezeption gestellt werden. So sind etwa Prozesse der Stilbildung in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters nur im Zusammenhang mit übergreifenden Überlegungen zum kulturellen Transfer aus der lateinischen Bildungswelt wie zur Anlehnung an die französische Hofkultur zu verstehen und im Zusammenspiel aller Faktoren zu betrachten, die eine erste Institutionalisierung eines mehr oder minder eigenständigen literarischen Feldes erst ermöglichen. Auf einen solchen Hintergrund rekurrieren die Beiträge, die gegenseitige Beeinflussungen von Sprachwandel und Stilwandel untersuchen, die mediale Entwicklungen und Stilbildung betrachten, die der Bedeutung literarischer Stilbildung als Mittel gesellschaftlicher Identitätsstiftung und/oder Abgrenzung nachspüren, aber auch diejenigen, die Strategien der Verknüpfung und Hierarchisierung von Künsten und Diskursen in den Blick nehmen. 4. Urteil und Bewertung: All diese Überlegungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Beschreibung oder Zuordnung von Stileigenschaften in aller Regel nicht auf eine wertneutrale literarästhetische Kategorisierung zielt. Stilurteile dienen mehr oder weniger explizit immer der Bewertung einzelner literarischer Texte oder Gattungen, zählen aber auch zu den Techniken und Strategien der Valorisierung von Literatur. Zum besseren Verständnis solcher Strategien bleibt es zentral, die mit zeitgenössischen Benennungen von Stileigenschaften oder auch Stilidealen (z.  B. aptum, decorum, claritas, brevitas, perspicuitas, variatio, elegantia, meisterlîchen, cristallînen, bickelworte) implizit verbundenen Maßstäbe und Kriterien der Wertung genauer zu erfassen und in Bezug zu modernen wissenschaftlichen Begrifflichkeiten (Wortzauber, Sprachästhetik, Artistik; aber auch Nachklassik, Epigonalität, Manierismus) mit ihren je eigenen Möglichkeiten und Grenzen zu setzen. Zu berücksichtigen sind schließlich auch die historischen, sozialen, institutionellen und kulturellen Voraussetzungen für die Formierung von ‚Geschmack‘ sowie die Verfahren, über welche bestimmte literarische Qualitäten in Geltung gesetzt werden. Gerade für diesen letzten Teilbereich ist es in mehreren Beiträgen gelungen, ältere Forschungspositionen zu revidieren und Autoren bzw. Werke von stigmatisierenden Bewertungen zu befreien. Auch wenn sich bisweilen in den Einzeluntersuchungen Affinitäten zu ein oder zwei der skizzierten Zugriffskoordinaten erkennen lassen, haben doch stets alle vier hier entworfenen Forschungsfelder für ‚Stil‘ das Frageinteresse der Beiträger geleitet. Erkennbar wird daher nicht nur eine nuanciertere Wahrnehmung der ‚Stil‘-Kategorie, sondern es entfalten sich neue bzw. partiell neuartige Zugangsmöglichkeiten zu altbekannten Gegenständen. Dabei hat sich eine selbst wiederum aufschlussreiche Konzentration auf bestimmte Denkzusammenhänge und Analyseoptionen ergeben: Einzelne Beiträge wenden sich insbesondere dem schwierigen Bereich zeitgenössischer

XII 

 Vorwort

und moderner Terminologie für die Benennung und Wahrnehmung von Stil zu und besprechen die mit verschiedenen Selbst- oder Fremdbezeichnungen verbundenen Ansätze zu einer Theoretisierung des Stilbegriffs. Einen weiteren Schwerpunkt bilden textnahe Beispielanalysen ganz spezifischer Form-Funktion-Korrelationen in unterschiedlichen Werken, Gattungen und literarischen Feldern, die letztlich Fragen der Interpretierbarkeit von Stilbeobachtungen nachgehen. Als besonderes Anliegen erkennbar ist außerdem die Konturierung des ausgesprochen verzweigten literarischen wie außerliterarischen Bezugssystems für Stileigenschaften, die erst die Grundlage für eine Verständigung über die Traditionalität oder Innovativität, aber auch die Funktionalisierung konkreter Gestaltungselemente bildet. In der Zusammenschau vermitteln die Beiträge des vorliegenden Bandes damit einen ersten wichtigen Eindruck von den vielschichtigen Anforderungen und Aufgaben einer literaturwissenschaftlichen Stilforschung innerhalb der germanistischen Mediävistik. Im Folgenden seien nur einige Leitlinien und Perspektiven des im Entstehen begriffenen Gespräches über Stil in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters skizziert. Eine erste Gruppe von Beiträgen widmet sich der Genese und den historischen Implikationen von Stilbegriff und Stilkonzept. Sie alle reflektieren aus unterschiedlichen Perspektiven und an unterschiedlichen Beispielen letztlich die Anforderungen, die aus dem Fehlen einer für die volkssprachige Literatur des Mittelalters gültigen, metaliterarisch explizierten Stiltheorie oder auch nur terminologisch gesicherten Bezeichnung für Stilphänomene resultieren. Gert Hübner zeichnet die ganz heterogenen Beschreibungskategorien und Erkenntnisinteressen des vormodernen rhetorischen, des ästhetischen und des modernen linguistischen Stildiskurses nach, die in je unterschiedlicher Weise die Diskursgeschichte des modernen sprachtextbezogenen Stilbegriffs geprägt haben. Vor diesem Hintergrund plädiert er dafür, die konturierten Paradigmendifferenzen in sehr viel stärkerem Maße als hinlänglich üblich bei Stilanalysen vormoderner Texte zu berücksichtigen. Demnach eigneten sich rhetorische und linguistische Stilkonzepte vor allem dann, wenn es um die Funktionen klar erfassbarer stilistischer Praktiken gehe, wogegen Phänomenen mit weniger klarer Form-Funktion-Korrelation eher über ästhetische Stilkonzepte beizukommen sei. Die Genese des Stilbegriffs nimmt Michael Stolz in den Blick. Anders als Gumbrecht versteht er die Bedeutungsverschiebung von stilus als Schreibwerkzeug auf ein sprachliches Ausdrucksverhalten nicht als rein metaphorisch. Da stilus schon als Schreibwerkzeug für die Eigenart der in Schriftform encodierten Zeichen und Texte stehe, bestehe zwischen Instrument und Schrift eine metonymische Relation, die Stolz von einer metonymisch geprägten Metaphorik des Stilbegriffs sprechen lässt. Wie er zeigt, bleibt in diesem Sinne die Materialität des Schreibens noch in der mittellateinischen und mittelhochdeutschen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts eng an den Stilbegriff gebunden. Die Beiträge von Manfred Eikelmann und Almut Suerbaum verbindet die gemeinsame Frage, ob und wie Stil als funktional relevante literarische Formkategorie unter den ganz spezifischen kulturellen, poetologischen

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und materiellen Bedingungen mittelalterlicher Literaturproduktion und Literaturrezeption überhaupt greifbar sowie konzeptualisierbar ist. Exemplarisch ausgelotet wird der mit dieser Frage eröffnete ganz grundlegende Problemkomplex am Beispiel mittelalterlicher Lyrik, einem poetischen Feld also, das in ganz besonderem Maße traditionsgebunden wie durch den verdichteten Wiedergebrauch sprachlicher Mittel gekennzeichnet ist und schon deswegen die Grenzen der Beschreibbarkeit stilistischer Differenzqualität ausgesprochen klar zu markieren scheint. Allerdings weisen beide Autoren dann in den von ihnen in den Blick genommenen Liedern durchaus sehr unterschiedliche und auf Distinktion zielende Form-Funktions-Korrelationen nach, die jedoch gleichermaßen aus der Berührung von höfisch-weltlichen und geistlichen Sprach- und Denkformen resultieren. So konturiert Eikelmann für Morungens Freudenlied In sô hôher swebender wunne einen eigenen, von anderen Liedern unterscheidbaren Redegestus, der geistliches und weltliches Sprechen über Liebe engführt, ohne die jeweiligen Grenzen zu markieren oder klare Hierarchisierungen vorzunehmen. Gerade diese offene und virulent gehaltene Spannung zwischen den heterogenen Redeformen sei als Mittel stilistischer Profilierung wahrnehmbar. Demgegenüber geht es Almut Suerbaum für die ‚Strophischen Lieder‘ Hadewijchs, die wie Morungen auf besondere Weise Elemente der unterschiedlichen Rede- und Denktraditionen kombinieren, um die Anbindung an eine kulturelle Praxis. Das Ineinandergreifen weltlicher und geistlicher Elemente sei hier nicht über moderne Konzeptionen individuellen Stilwillens zu fassen, sondern als Angebot an die eingeschriebenen Adressatinnen zu verstehen, sich über die vertraute literarische Diktion als Gruppe zu konstituieren und dabei eine Beziehung zu Gott zu artikulieren, wie sie sonst an die monastisch-lateinische Liturgie gebunden ist. Ebenfalls am Beispiel des Minnesangs führt Anette Gerok-Reiter in das schwierige Verhältnis von Stilkonzept und Stilanalyse ein. Vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Verständnisses von ars und artificium beschreibt sie Stil als eine Kunst der vuoge, als eine Beschreibungskategorie also für die Bezüge zwischen den einzelnen Bestandteilen eines sprachlichen Artefakts, für die tiefen internen Relationen und Proportionen. In diesem Sinne sei Stil keine über die Beschreibung einzelner Elemente fassbare Oberflächenkategorie, sondern betreffe die Substanz eines jeden Kunstwerks und offenbare sich damit letztlich nur im Blick auf den gesamten Diskurs. Aus der Perspektive eines sich zu Beginn des 13. Jahrhunderts ausdifferenzierenden Meisterschaftsdiskurses zeigt auch Susanne Bürkle die Verwobenheit stilistischer Ordnungen und Funktionen mit anderen Ebenen und Eigenschaften des Literarischen. Im Zusammenhang mit Verwendungsweisen des Meisterbegriffs und Selbstbeschreibungen von Dichtung konturiere sich kein eigenständiger Bereich sprachstilistischer Kompetenzen. Vielmehr sei Meisterschaft ein Akt der Zuschreibung und Valorisierung, der in der Reflexion des Literarischen als übergreifendem Konzept Vehikel und Indikator eines Institutionalisierungsprozesses sei. Speziell auf solche metapoetischen Kommentare, die das Verhältnis von Inhalt und Form betreffen, richtet Markus Stock sein Augenmerk. Am Beispiel der mittelhochdeutschen Antikenepik beobachtet er, dass für analoge

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 Vorwort

stoffliche Herausforderungen ganz verschiedene sprachliche Ausdrucksideale gleichermaßen selbstbewusst favorisiert werden können. Im Zuge der Abwägung unterschiedlicher Möglichkeiten der Gestaltung würden dabei Metaphoriken für Stilphänomene entwickelt, die, obwohl sie vorterminologisch blieben, doch geeignet seien, die Lücke zwischen der komplexen literarischen Praxis und den zeitgenössischen Möglichkeiten der Beschreibung zu schließen. Unter einer ähnlichen Fragestellung spürt Esther Laufer dem Retextualisierungskonzept Konrads von Würzburg nach, wie es sich im Engelhard und im Trojanerkrieg mit der Formel maere erniuwen verbindet. Ausgangspunkt für ihre Überlegungen ist die Beobachtung, dass diese Formel zwar text- und gattungsübergreifend Verfahren des Wiedererzählens indiziert, dass aber auch hier insofern ein vorterminologischer Gebrauch vorläge, als keine genau spezifizierbaren Retextualisierungsverfahren ausgewiesen würden. Für Konrad offenbarten die syntaktischen Bezüge von maere und erniuwen sowie die Kontextualisierungen beider Begriffe ein Selbstverständnis als Restaurator, dessen vor allem stilistische Bearbeitung natürlichen Verfallsprozessen entgegenwirken und das Alte wieder erblühen lassen solle. Klaus Grubmüller, Christoph Huber und Albrecht Hausmann nähern sich am Beispiel von Gottfrieds Tristan Friktionen zwischen Stilpraxis und Stilideal an, Spannungen also zwischen poetologischer Reflexion und konkreter sprachästhetischer Gestaltung. Von grundlegendem Interesse sind solche Friktionen nicht zuletzt deswegen, weil die begrenzte Umsetzbarkeit von stiltheoretischen Überlegungen in literarischer Praxis wie wissenschaftlicher Analyse bis in neueste Diskussionen hinein (vgl. auch Gerok-Reiter) zu den virulentesten Problemen einer literaturwissenschaftlichen Stilforschung gehört. Grubmüller und Huber setzen beide bei der Konturierung eines Stilkonzepts im Literaturexkurs des Tristan an und reflektieren, inwiefern Gottfried den Anspruch erhebe, einem Ideal der perspicuitas zu folgen. Im Gegensatz zu weiten Teilen der Forschung liest Grubmüller den Unfähigkeitstopos im Eingang des Exkurses nicht als ironisch. Gottfried erkläre tatsächlich auch für sein eigenes literarisches Schaffen das lateinische Stilideal des perspicue loquendum zur Orientierungsgröße, formuliere aber gleichzeitig das Bewusstsein des eigenen Versagens, das sich allerdings nicht in fehlender artistischer Kompetenz begründe, sondern in den besonderen Anforderungen des Gegenstandes. Die Aporien, Dilemmata und Widersprüche, die das Ideal sprachlicher Klarheit brechen, erfüllen nach Grubmüller gerade das aptum eines Erzählens von der Unmöglichkeit, wahre Liebe im Rahmen gesellschaftlicher Normen zu erfüllen. Christoph Huber stellt die Frage nach der Bedeutung des Bildes von den cristallînen wortelîn ausgehend von den zeitgenössischen Implikationen der Kristallmetapher. Da der Kristall zwar als durchsichtiges, gleichzeitig aber auch den Gegenstand der Betrachtung brechendes oder zumindest doch modifizierendes Medium verstanden werde, plädiert er dafür, Gottfrieds Bild nicht auf das lateinische Stilideal der claritas oder perspicuitas zu beziehen, sondern als Bekenntnis zu einem sprachästhetischen Entwurf jenseits der Tradition zu verstehen. Im Zentrum dieses Entwurfes stünde eine zwar transparente Sprache, die aber gleich-

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wohl einer Ästhetik semantischer Mehrschichtigkeit folge, ihren Gegenstand also zur Erscheinung bringe, ohne dabei aber in der Erkenntnis dieses Gegenstandes Eindeutigkeit zu evozieren. Die von Grubmüller und Huber fokussierte semantische Uneindeutigkeit der Sprache im Tristan konfrontiert Albrecht Hausmann mit einer aus seiner Sicht gegenläufig verwendeten Dimension von Sprache. Der Klang der Worte und syntaktischen Einheiten suggeriere im Tristan eine Zwangsläufigkeit und Gerichtetheit des Erzählens, die auf der Ebene des Gesagten immer wieder unterlaufen und konterkariert werde und fungiere so als eigenständige Ebene der Sinnkonstitution. Die besondere Nähe von Stil und Klang bzw. solche Form-Funktion-Korrelationen, die auf der Klanglichkeit von Sprache beruhen, untersuchen neben Albrecht Hausmann auch Timothy R. Jackson, Almut Schneider, Caroline Emmelius und Volker Mertens. Für eine ganze Reihe erzählender geistlicher Texte zeigt Jackson, wie formal markierte Wechsel von Narration in einen Modus des Lyrischen, der sich in einem emotional gesteigerten Stil fassen ließe, genutzt werden, um die Beteiligung der Rezipienten an der Figurenhandlung zu erhöhen. Im Zuge aktueller Diskussionen im Bereich der historischen Emotionsforschung seien neben der Ebene inhaltlicher Darstellung solche Verfahren der Rezeptionssteuerung stärker zu beachten. Almut Schneider diskutiert das Verhältnis von Musikreflexion und poetologischem Selbstverständnis, wie Konrad von Würzburg es in der Goldenen Schmiede entwickelt. Ihrer Lektüre nach markiert sich im interartifiziellen Diskurs gerade nicht die Begrenztheit dichterischen Schaffens. Ganz im Gegenteil evoziere Konrad in einer ohne Ziel bleibenden Dynamik und über Metaphernketten, die eine Gleichzeitigkeit von Stillstand und Bewegung erzeugen, eine Zeitlosigkeit, die zumindest partiell an die musikalischen Bewegungen des Engelsangs heranzureichen vermöge. Auf diesem Weg bilde Konrad mit den eigenen Mitteln des poetischen Sprechens den Engelsang ab und fokussiere somit das Zentrum der Sprache selbst, nämlich ihre erkenntnisstiftende Funktion. Am Beispiel der Kolonreime entwirft Caroline Emmelius die Grundzüge einer Klangpoetik für Mechtilds Fließendes Licht der Gottheit. Insbesondere in den Figurenreden ließe sich eine doppelte Funktionalisierung dieser Gestaltungselemente erkennen, die einerseits über eine ästhetische Wirkung verfügten, indem sie dem geschriebenen Wort eine deutlich wahrnehmbare stimmliche Qualität verliehen, andererseits aber auch als rhetorisches Mittel des dramatischen Dialogs eingesetzt würden, um die Bezogenheit verschiedener Aussagen aufeinander zu markieren, semantische Einheiten auszuweisen oder die Gegensätzlichkeit von Positionen hervorzuheben. Um die unterschiedlichen hermeneutischen Impulse, die im Tristan und im Jüngeren Titurel durch Klangkonfigurationen gegeben werden, geht es Volker Mertens. Während Albrechts Text durch eine musikalische Verdichtung zur Evokation und Verheißung des Engelsangs werde und durch musikalisch generierte Empathie eine Poetik der transzendentalen Harmonie entstehe, evoziere die Klanglichkeit bei Gottfried nicht nur die Ambiguität sprachlicher Zeichen, sondern auch eine Semantik der Kontingenz. Die konkretisierenden Beschreibungen sprachästhetischer Eigenarten einzelner Autoren und Werke sind Gegenstand einer weiteren Gruppe von Beiträgen, welche die

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 Vorwort

Intertextualität und Traditionalität von Stilphänomenen fokussieren. Schon für das frühmittelhochdeutsche Gedicht Die Hochzeit weist Sarah Bowden Rekurrenzen auf Traditionen des mehrsinnigen Verstehens nach. Traditionelle Elemente scheinen dabei so strukturiert und kombiniert, dass sie den Leser dazu anhalten, in der Auslegung des nur Angedeuteten die Kohärenz des Expliziten erst herzustellen. Einer ungleich konkreteren intertextuellen Konfiguration wendet sich Annette Volfing zu, wenn sie die Frage stellt, ob Texte, die einen Wolfram-Erzähler entwerfen, auch den Stil des historischen Wolfram nachzuahmen versucht seien. Sie zeigt, dass es ganz verschiedene Verfahren, Techniken und Strategien der Bezugnahme gibt, stilistische Korrespondenzen dabei aber insgesamt eine eher untergeordnete Rolle spielen. Allein für den Jüngeren Titurel seien Analogien in der sprachlichen Komplexität zu erkennen, allerdings setze Albrecht dem freizügigen Sprachverhalten Wolframs eine normative, durch Regelmaß und Musterhaftigkeit geprägte Gestaltung entgegen, die das Erzählen letztlich entdynamisiere. In einem ähnlichen Untersuchungskontext erklärt Alastair Matthews das Erzählkonzept in den Schlussstrophen des Lohengrin als produktive Auseinandersetzung mit verschiedenen Prätexten (Sächsische Weltchronik, Prosakaiserchronik, Wolframs Parzival), von denen keiner einfach nachgeahmt würde und die es nicht erlaube, den Sprach- und Erzählstil der Passage undifferenziert als chronikartig zu bezeichnen. Neu zu bewerten sei vor allem aber die Charakteristik der Nachfolgerschaft Wolframs. Die Durchlässigkeit zwischen den Stimmen des Wolfram-Erzählers und des Lohengrin-Dichters könne Matthews zu Folge darauf hinweisen, dass nicht nur ein Vorbild nachgeahmt würde, sondern dieses mit der eigenen dichterischen Identität verschmolzen werden solle. Vor dem Hintergrund älterer ästhetischer Urteile werfen Cordula Böcking und Michael Waltenberger die Frage nach einem greifbaren Stilwissen und einem eventuellen Stilwillen bei Hugo von Montfort auf. Während Böcking für Hugo in Anspruch nimmt, sich nicht nur metapoetisch mit Konzepten des geblümten Stils auseinander zu setzen, sondern auch in der bewussten Verweigerung konventionalisierter Schreibweisen zugunsten inhaltlicher Kohärenz den Bruch mit der Tradition selbst zum eigenen Stilmittel werden zu lassen, perspektiviert Waltenberger etwas anders. Er erkennt in Hugos Dichtung eine bewusste Relativierung konträrer poetologischer Horizonte, die letztlich auf eine deutliche Abschwächung des Geltungsanspruchs poetischer Meisterschaft verweise. Auch in den sich anschließenden Beiträgen bleiben Formen und Funktionen der Traditionsbindung sprachästhetischer Gestaltung in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters im Zentrum des Interesses. Allerdings kreisen die Analysen dabei insofern noch intensiver um ein Spannungsfeld von Stil und Hybridität, als sie verschiedene Formen von Brechungen und Neufunktionalisierungen traditioneller Darstellungsverfahren dokumentieren, die ihr Profil gerade in der gezielten Erzeugung von Friktionen oder Dissonanzen zum Erwartbaren entwickeln. Am Beispiel der Jeschute-Handlung des Parzival zeigt Elke Brüggen, dass Wolfram das Mittel der descriptio personae in einer ganz spezifischen Weise nutzt, indem er äußerst selektiv auf Topoi und Elemente traditioneller Beschreibungsmuster zurückgreift und diese

Vorwort 

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gegen die Tradition funktionalisiert. Besonders signifikant erscheint ihr die gleichzeitige Verwendung des Farbkontrastes weiß-rot zur Inszenierung erotisch konnotierter Schönheit der schlafenden Jeschute im Zelt wie ihres durch Orilus’ Misshandlungen versehrten Körpers. Indem Jeschute in beiden völlig gegenläufigen Situationskontexten allerdings nicht nur auf der Ebene der Handlung zum Objekt männlicher Gewalt werde, sondern zudem in beiden Fällen einem durch den Erzähler evozierten voyeuristischen Blick als Form diskursiver Gewalt ausgesetzt sei, entstehe ein höchst eindrücklicher Konnex von erotischer Attraktivität und Leiden, von Schönheit und Gewalt, der als Novum in der Tradition der descriptio personae begriffen werden könne. Durchaus im Sinne eines Autorstils konzeptualisierbare Korrelationen von Form und Inhalt erkennt auch Stephan Fuchs-Jolie in den unter dem Namen Wolfram von Eschenbach überlieferten Werken. In einem solchen Sinne typisch für Wolframs Sprache seien kontrastive Überblendungen metaphorischer und metonymischer Verfahren, bei denen metonymische Konnotationen in metaphorische Vergleiche hineinspielen und ein einmal metaphorisches evoziertes Bild metonymisch überlagern. Ergebnis solcher Überblendungen sei eine Mehrdeutigkeit durch simultane Sichtbarmachung von Verschiedenem, eine Ratio des Erzählens, nicht des Erzählten also, welche die Komplexität der Sprache und die Vielfalt der Signifikantenbeziehungen offenlege und zum poetischen Prinzip erhebe. In kritischer Auseinandersetzung mit älteren, auf überholten Erwartungen an Einheitlichkeit und Homogenität beruhenden Stilbewertungen wendet sich Andreas Hammer noch einmal neu dem Zusammenhang von Erec- und Mantelfragment im Ambraser Heldenbuch zu und plädiert dafür, beide Erzählkomplexe wenn auch nicht als organisches Ganzes, so doch aber als einen einzigen Text zu verstehen und konsequent als kulturelles Zeugnis des 15. Jahrhunderts zu bewerten. Im Fluchtpunkt dieser Überlegungen weist Henrike Manuwald schon für das Mantelfragment einen durch und durch hybriden Stil nach, der sich u.  a. in Brüchen und Disproportionen zwischen verschiedenen sprachlichen Registern sowie im unvermittelten Nebeneinander unterschiedlicher Form-Zitate dokumentiere, und sie deutet dies als sprachlich-formale Entsprechung zur schlechten Passform des Zaubermantels auf der inhaltlichen Ebene, welche letztlich die Kritik an den Interaktionsformen der Artusgesellschaft auch poetisch inszeniere. Im Ausblick perspektivieren zwei Beiträge das auch an anderen Stellen immer wieder angesprochene enge Verhältnis von Materialität und Stil unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten. Johannes M. Depnering erläutert, dass die volkssprachigen Ergänzungen in den lateinischen Sermones Bertholds von Regensburg in der Freiburger Handschrift Ms. 117 I/II den verständniserleichternden Gestus der lateinischen Texte erkennen und stützen und dass sich damit ein übergreifender Funktionsrahmen erkennbar abzeichnet. Für die Fachprosa des 15. und 16. Jahrhunderts problematisiert Christina Lechtermann gerade eine solche Vorstellung einer geschlossenen Konfiguration aus typographischem Erscheinungsbild, inhaltlicher wie stilistischer Gestaltung und pragmatisch-didaktischer Intention. Am Figurenkomplex der Schneckenlinien untersucht sie das Verhältnis von Text und Bild in Dürers

XVIII 

 Vorwort

Underweysung der Messung und Behams Kunst und Lere Buͤchlin. Während bei Dürer die Gestalt der Text-, Bild-, und Ziffernverbünde durch die Bedingungen der jeweiligen Instrumente determiniert würde und die stilistische Gestalt ähnlich wirkender Bilder oder Texte tatsächlich aber auf je unterschiedlichen Konstruktionsverfahren beruhe und dadurch äußerst komplex sei, büßten die Schneckenlinien bei Beham ihre didaktische Funktion ein und dienten nur noch als Verweis auf einen Wissenszusammenhang, der nicht mehr ausgeführt werde. Mit den hier versammelten Beiträgen sind für die Literatur des deutschen Mittelalters Wege der künftigen Stilforschung aufgezeigt; dies betrifft gleichermaßen die methodische Orientierung, die Einzelpraxis der Analyse sowie das grundsätzliche Erkenntnisinteresse, aber auch die Grenzen dessen, was stilistische Untersuchungen leisten können. Die vorgelegten Interpretationen und Deutungen, die sich unter dem Vorzeichen einer – nunmehr neu fassbaren – Stilanalyse vollziehen, öffnen andere Perspektiven auf bekannte Fragen auch dort, wo endgültige Antworten spekulativ bleiben. Darüber hinaus macht die Zusammenschau der Beiträge deutlich, dass für eine auf Vollständigkeit angelegte Rekonstruktion historischer Textbedeutungen die Kategorie ‚Stil‘ in jedem Fall Berücksichtigung finden muss. Die Herausgeberinnen danken an erster Stelle all denjenigen, die das hier nur in seinen Konturen skizzierte Gespräch über mögliche Perspektiven einer literaturwissenschaftlichen Stilforschung innerhalb der germanistischen Mediävistik mit ihren Vorträgen und Diskussionsbeiträgen erst ermöglicht haben. Ohne die großzügige Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Gesellschaft von Freunden und Förderern der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, die Philosophische Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, die University of Newcastle und die University of Nottingham wäre dies allerdings nicht in einem so komfortablen Rahmen möglich gewesen. Elisabeth Höpfner-Poleski, Veronika Hassel, Svenja Fahr und Susanne Kollmann haben im Vorfeld und während der Tagung die organisatorischen Aufgaben engagiert mitgetragen. – Allen Beiträgern danken wir für die Druckerlaubnis ihrer Aufsätze. Nicht zuletzt haben Bibliotheken zum Gelingen des Bandes beigetragen, indem sie Abbildungen und Digitalisate zur Verfügung gestellt haben. Für die Herstellung des Buches stehen wir beim Akademie Verlag, nun aufgegangen im Verlag De Gruyter, in großer Schuld. Er hat uns die Publikation ermöglicht und alle Entstehungsschritte mit Geduld begleitet. Für ihre Hilfe bei der Zusammenstellung des Registers danken wir Laura Bitnar, Martyn Gray und Jenny Lemke. Größter Dank gebührt Veronika Hassel, Nina Scheibel, Anne Florack und Romy Bittmann; sie haben die Drucklegung des Bandes mit großem Einsatz und besonderer Sorgfalt mitbetreut. Elizabeth Andersen, Ricarda Bauschke, Nicola McLelland, Silvia Reuvekamp Juli 2015

Silvia Reuvekamp

Perspektiven mediävistischer Stilforschung. Eine Einleitung Die mediävistische Literaturwissenschaft wendet sich in den letzten Jahren wieder verstärkt der ästhetischen Qualität vormoderner Dichtkunst zu.¹ Insbesondere in der Auseinandersetzung mit den Ergebnissen einer im weiteren Sinne kulturhistorisch ausgerichteten Forschung stieg das Bedürfnis, Literatur nicht nur in ihrer Differenzqualität gegenüber anderen Formen von Schriftlichkeit, sondern auch gegenüber kulturellen Äußerungen in anderen Künsten zu profilieren. Eine besondere Rolle spielte dabei von Beginn an die Beschäftigung mit den Orten und den Formen poetologischer Selbstreflexion, die einen mehr oder minder unmittelbaren Zugang zum Selbstverständnis und Selbstbewusstsein mittelalterlicher Schriftkultur eröffnen. Inzwischen werden in diesem Zusammenhang längst nicht mehr nur solche Textpassagen untersucht, denen mutmaßlich eine Programmatik eingeschrieben ist (Prologe, Epiloge, poetologische Exkurse) und denen Walter Haug seine bahnbrechenden Studien zu einer impliziten Literaturtheorie des Mittelalters gewidmet hat.² Von hier aus wurde vielmehr der Blickwinkel auf ganz unterschiedliche Untersuchungsfelder erweitert, wie etwa die Wort- und Begriffsgeschichte poetologischer Termini,³ die Kunst- und Architekturbeschreibungen als Selbstreflexion ästhetischer Darstellungspraxis,⁴ die Thematisierung, Diskussion und Hierarchisierung der Künste im Medium der Literatur⁵ oder aber

1 Die Bedingungen der Historisierung eines Begriffes des Ästhetischen im Kontext theologischer Konzeptualisierung des Schönen, lateinischer Poetik und Rhetorik sowie den Beschreibungsmodellen der idealistischen Kunstphilosophie reflektiert Manuel Braun: Kristallworte, Würfelworte. Probleme und Perspektiven eines Projekts ‚Ästhetik mittelalterlicher Literatur‘. In: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Manuel Braun/Christopher Young, Berlin, New York 2007 (Trends in Medieval Philology 12), S. 1–40. Eine Diskussion des methodischen Ansatzes bietet Bent Gebert in seiner Rezension des Bandes. In: Arbitrium 28 (2010), S. 25–32. 2 Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 1985, 21992. 3 Vgl. mit einer einführenden Sondierung des Forschungsfeldes: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Hrsg. von Gerd Dicke/ Manfred Eikelmann/Burkhard Hasebrink, Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10). 4 Vgl. insbesondere Haiko Wandhoff: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters, Berlin, New York 2003 (Trends in Medieval Philology 3); Susanne Bürkle: ‚Kunst‘-Reflexion aus dem Geiste der descriptio. Enites Pferd und der Diskurs artistischer meisterschaft. In: Das fremde Schöne (Anm. 1), S. 143–170; Britta Bussmann: Wiedererzählen, Weitererzählen und Beschreiben. Der Jüngere Titurel als ekphrastischer Roman, Heidelberg 2011 (Studien zur historischen Poetik 6). 5 Vgl. Interartifizialität. Die Diskussion der Künste in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Susanne Bürkle/Ursula Peters. ZfdPh 128 (2009), Sonderheft.

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die Modi und Bedingungen intensiver ästhetischer Erfahrung sowie die literarischen Techniken ihrer Evokation.⁶ In all diesen Koordinaten wird mit je eigener Schwerpunktsetzung nach dem nicht metaliterarisch explizierten, sondern poetischen Techniken, literarischen Praktiken und begrifflichen Akzentuierungen inhärenten Selbstverständnis volkssprachiger mittelalterlicher Dichtung gefragt und den Äußerungsformen der Etablierung, Konturierung sowie Valorisierung eines literarischen Feldes in seinen kulturellen Kontexten nachgegangen. Dabei ist allen Ansätzen gemein, dass die Unschärfe und Mehrdeutigkeit der Selbstbezeichnungen dieses Feldes (z.  B. für Verfahren der Textproduktion wie -rezeption; Verfahren der Bedeutungskonstitution, für Gattungen und Texttypen, für die Akteure der Text- und Buchproduktion wie deren jeweilige Tätigkeiten oder für ästhetische Wertungskriterien) nicht länger als Defizit verstanden werden, das neben einem gegenüber der Moderne ungleich geringeren Interesse an begriffssprachlicher Präzision und terminologischer Schärfe letztlich auch ein fehlendes Bewusstsein für poetologische Kategorienbildung dokumentiert. Vielmehr erscheinen die semantischen Räume, die die z.  T. sehr verschiedenen Verwendungen der allermeisten im engeren oder weiteren Sinne poetologischen Begriffe eröffnen, der aktuellen Forschung gleichsam als Kristallisationspunkte spezifischer Interessen und virulenter Problemstellungen der volkssprachigen Schriftkultur, die einen Zugang zu deren ganz eigenen Organisationsformen, epistemologischen Bedingungen und kulturellen Praktiken ermöglichen.⁷ Damit verortet sich die Suche nach den historischen Formen, Orten und Inhalten einer immanenten Poetik der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters zunehmend in einem Spannungsfeld philologischer, hermeneutischer, kulturhistorischer und literaturtheoretischer Fragestellungen und Arbeitstechniken. Methodisch leitend ist dabei wohl die Erkenntnis, dass valide Ergebnisse am ehesten dann zu erzielen sind, wenn die Analysen zunächst von Einzeltexten, einzelnen Begriffen und ihren Verwendungen bzw. der Zusammenschau thematisch oder poetisch affiner Passagen verschiedener Einzeltexte sowie den dort greifbaren, jeweils singulären Akzentsetzungen ausgehen, um erst von dort aus abstrahierende Konzepte zu entwickeln. So elaboriert die Forschung in den skizzierten Bereichen inzwischen auch ist, umso auffälliger erscheint es, dass die Formgebung der sprachlichen Oberfläche, in der sich poetologisches Selbstverständnis ja zuallererst sprachlich konkretisiert, nur vergleichsweise selten und mit Zurückhaltung einbezogen wird. Dies erstaunt umso

6 Vgl. Immersion im Mittelalter. Hrsg. von Hartmut Bleumer unter Mitarbeit von Susanne Kaplan. In: LiLi 167 (2012). 7 Gerd Dicke/Manfred Eikelmann/Burkhard Hasebrink: Historische Semantik der deutschen Schriftkultur. Eine Einleitung. In: Im Wortfeld des Textes (Anm. 3), S. 1–12, hier insbesondere S. 5  f. und S. 12; Susanne Bürkle: Einleitung. In: Interartifizialität (Anm. 5), S. 1–16, hier insbesondere S. 5; Hartmut Bleumer: Immersion im Mittelalter: Zur Einführung. In: Immersion im Mittelalter (Anm. 6), S. 1–15, hier insbesondere S. 6 und S. 14  f.

Perspektiven mediävistischer Stilforschung. Eine Einleitung 

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mehr, als sich (nicht nur) die mittelalterliche Literatur allem voran als Wortkunst versteht und entsprechend gegenüber anderen artes profiliert, in diesem Sinne Selbstbezüglichkeit immer auch ein Effekt sprachlicher Auffälligkeit ist.⁸ Symptomatisch für die Vernachlässigung sprachlicher Formgebung ist dabei unter anderem, dass eine explizite Beschäftigung mit dem begrifflichen Konzept des Stils⁹ und seiner literaturwissenschaftlichen Operationalisierung in der germanistischen Mediävistik derzeit weitgehend ausgesetzt scheint.¹⁰ Man kann sogar den Eindruck gewinnen, dass die Verwendung dieses Terminus eher gemieden wird und zwar auch dort, wo durchaus Fragen diskutiert werden, die in den Bereich literarästhetischer Kategorisierung und Profilierung reichen, also letztlich das Konzept vom Stil berühren oder sogar im Kern treffen.¹¹ Es wäre zu fragen, ob mit dieser Vernachlässigung der Kategorie ‚Stil‘ der aktuellen Diskussion um die Ästhetik und Artifizialität mittelalterlicher Literatur nicht eine entscheidende Grundlage fehlt.¹² Allerdings muss dabei gesehen werden, dass die

8 Vgl. Susanne Bürkle (Anm. 7), S. 15; Christian Kiening: Ästhetik des Liebestods. Am Beispiel von Tristan und Herzmaere. In: Das fremde Schöne (Anm. 1), S. 171–193, hier S. 175. 9 Eine erste definitorische, begriffs- und forschungsgeschichtliche Annäherung bietet Hans Ulrich Gumbrecht: Stil. In: RLW 3 (2003), S. 509–513, der Stil als gesamtkulturelles Phänomen der „Manifestation von rekurrenten Formen menschlichen Verhaltens in den verschiedensten Materialien und Medien, insbesondere in den Künsten“ (S. 509) versteht. 10 Eine Ausnahme bildet der 2011 erschienene Beitrag von Jens Haustein (Mediävistische Stilforschung und die Präsenzkultur des Mittelalters. Mit einem Ausblick auf Gottfried von Straßburg und Konrad von Würzburg. In: Textprofile stilistisch. Beiträge zur literarischen Evolution. Hrsg. von Ulrich Breuer/Bernhard Spies, Bielefeld 2011 [Mainzer historische Kulturwissenschaften 8], S. 43–60), der allerdings die Beobachtung von Stilphänomenen für besonders geeignet hält, das Streben der Texte nach einer zweckfreien äußeren Schönheit, die allein darauf zielt, ein besonderes Maß an Gegenwärtigkeit des ästhetischen Objekts zu evozieren, beschreibbar zu machen und damit eine mögliche Neuorientierung mediävistischer Stilforschung relativ einseitig an die rekurrenten Alteritätsparadigmen geschuldete Prämisse einer von gelehrt-lateinischen Schrifttraditionen weitgehend abgekoppelten Präsenzkultur des Laienadels anbindet. 11 Einen nach Texttypen organisierten Überblick über das in der Forschung bereits Geleistete und noch offene Arbeitsfelder bietet Gert Hübner: Rhetorische und stilistische Praxis des deutschen Mittelalters / Applied rhetoric and stylistics in the German Middle Ages. In: Rhetorik und Stilistik / Rhetoric and Stylistics. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung / An International Handbook of Historical and Systematic Research. Hrsg. von Ulla Fix/Andreas Gardt/ Joachim Knape, 2 Bde, Berlin, New York 2008 und 2009 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 31,1–2), Bd. 1 (2008), S. 348–369. 12 In eine ähnliche Richtung zielt z.  B. Bruno Quast, wenn er für eine stärkere Berücksichtigung des Materialen der Literatur plädiert. Vgl.: Gottfried von Straßburg und das Nichthermeneutische. Über Wortzauber als literarästhetisches Differenzkriterium. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 51 (2004), S. 250–260. Gerade die aktuelle Forschungsdiskussion um die Sprachästhetik von Gottfrieds Tristan zeigt allerdings, dass es das Verhältnis von sprachlicher Materialität und dem, was man als das ‚Nicht-Hermeneutische‘, ‚Asemantische‘ oder ‚Ornamentale‘ bezeichnen könnte, erst noch genauer zu erfassen gelte und klarere Kriterien für die Beschreibung einer solchen Dimension des Ästhetischen zu entwickeln wären. Dahinter stünde die Frage, ob für literarische Texte überhaupt

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offensichtliche Zurückhaltung gegenüber dem Stilbegriff, welche die mediävistische Literaturwissenschaft mit anderen literaturwissenschaftlichen Disziplinen teilt, in einem Zusammenspiel verschiedener Ursachen begründet ist, vor deren Hintergrund sie mehr als nachvollziehbar erscheint. Zum einen ist der Terminus ‚Stil‘ immer noch durch das Stigma der positivistischen, psychologischen oder psychoanalytischen Stilforschung belastet. Diese gehört an den Beginn der Forschungsgeschichte und ist kaum mehr mit dem inzwischen geschärften Verständnis zentraler Kategorien der Literaturproduktion wie Autor, Werk oder Text zu vereinbaren. Letztlich bleibt die Denkkategorie ‚Stil‘ nämlich in ihren verschiedenen methodischen Ausrichtungen und Frageinteressen einer inzwischen überholten Vorstellung von der Einheitlichkeit eines literarischen Textes (im Sinne von Textstil), eines Autorœuvres (im Sinne von Autorstil), einer Textreihe (im Sinne von Gattungsstil), einer zielgerichteten Handlungsweise (im Sinne von Funktionalstil) oder gar eines zeitlich eingrenzbaren literaturhistorischen Abschnitts (im Sinne von Epochenstil) verpflichtet.¹³ Zum anderen wird der Zugang erschwert durch die Vielzahl zum Teil deutlich divergierender Ansätze zu einer Theoretisierung des Stilbegriffs, u.  a. aus linguistischer, soziologischer, psychologischer, kunsthistorischer und literaturtheoretischer Sicht. Im Einzelnen haben diese zwar ganz entschieden zur begrifflichen Explizierung und Konturierung beigetragen und den Blick für Aspekte der (sprachlichen) Formgebung geschärft. Zur Begründung einer methodisch erneuerten literaturwissenschaftlich ausgerichteten Stilforschung haben sie bisher allerdings nicht geführt.¹⁴ Doch sind nicht allein solche eher äußeren und insbesondere forschungsgeschichtlichen Umstände die Ursachen für die Zurückhaltung gegenüber dem Stilbegriff; diese erklärt sich wohl noch stärker mit den Eigenheiten des Konzepts Stil selbst. Dem gedanklichen Konzept nach ist Stil nämlich ein ausgesprochen komplexes Phänomen, das letztlich immer mit dem Anspruch einer ganzheitlichen Erfassung verbunden ist. Aufgrund dieser Komplexität des Konzepts ist Stil als operationable Kategorie kaum präzise bestimmbar. So ist Stil zwar im Kern eine Formkategorie, die auf die Oberflächenstruktur von Artefakten und Handlungen konzentriert bleibt, sich aber gleichwohl nicht in der Betrachtung einzelner Details oder Merkmale erschöpft. Wenn der Stil eines Textes aber nicht allein an einzelnen sprachlichen Merkmalen

in der gleichen Weise wie für außerliterarische oder gar alltägliche Kommunikation zwischen dem was und dem wie einer Aussage unterschieden werden kann. 13 Zur Problematik der dem Stilparadigma inhärenten Einheitlichkeitsunterstellung vgl. Johannes Anderegg: Stil und Stilbegriff in der neueren Literaturwissenschaft. In: Stilfragen. Jahrbuch für deutsche Sprache 1994. Hrsg. von Gerhard Stickel, Berlin, New York 1995, S. 115–127, hier S. 115. 14 Dazu resümierend Johannes Anderegg: Literaturwissenschaftliche Stilauffassungen / Concepts of style in literary studies. In: Rhetorik und Stilistik (Anm. 11), Bd. 1 (2008), S. 1076–1092. Eine weitere Hypothek des Stilbegriffs sieht Jens Haustein (Anm. 10, S. 46  f.) in der auf Stilanalysen beruhenden Praxis der älteren mediävistischen Forschung, literarische Werke unabhängig von den konkreten Überlieferungsverhältnissen bestimmten Autoren zu- oder abzuschreiben, und damit verbundenen gleichermaßen langwierigen wie ergebnislosen Echtheitsdebatten.

Perspektiven mediävistischer Stilforschung. Eine Einleitung 

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festgemacht werden kann, dann lässt er sich nur als Flächenphänomen fassen, das sich in der Summe aller sprachlichen Details und in deren Wechselbeziehungen untereinander manifestiert.¹⁵ Ein solcherart entgrenzter Stilbegriff ist jedoch nur mit größtmöglichem Aufwand operationabel zu halten. Die oftmals unscharfe Verwendung der Kategorie ‚Stil‘ in der literaturwissenschaftlichen Forschung hat ihre Ursache aber auch darin, dass sie gleichzeitig sowohl Kohärenz als auch Differenz bildend in dem Sinne ist, als sie auf die Spannung von Kollektivität und Singularität, Normerfüllung, Normbrechung und Normsetzung bzw. Kontinuität und Diskontinuität abzielt. Stil äußert sich nämlich in der spezifischen Verwendung weitestgehend kollektiv verfügbarer Darstellungsmittel und wird entsprechend erst dann beschreibbar, wenn beide Ebenen – die des Individuellen und die des Überindividuellen – gleichermaßen Berücksichtigung finden und in ihren gegenseitigen Bedingungen beleuchtet werden. Stil erfasst also weder ausschließlich Arten der Aktualisierung von Traditionen noch allein individuelle Gestaltungsweisen. Von Interesse ist vielmehr, wie im Einzelfall die Spannung zwischen beiden Bereichen ausgelotet wird und wie sich daraus wiederum Effekte der Rückkopplung auf die Ausbildung von Konventionen ergeben. So verstanden ist Stil eine relationale Kategorie. Beschreibbar sind die sprachlichen Eigenheiten eines Textes nämlich immer nur in einem mehr oder weniger explizit mitgedachten Vergleich mit anderen Texten.¹⁶ Nicht zuletzt ist die Frage nach dem Stil eines Textes, obwohl auf der formalen Ebene angesiedelt, nicht von den Bedingungen und Strategien der Bedeutungskonstitution zu trennen.¹⁷ Damit ist Stil zuletzt auch eine integrative Kategorie, insofern als der Blick gar nicht allein auf seine produktionsästhetische Dimension gerichtet werden kann, sondern auch die Strategien der Rezeptionssteuerung über die Sprachästhetik Beachtung verdienen.¹⁸

15 Vgl. z.  B. Gérard Genette: Stil und Bedeutung. In: ders.: Fiktion und Diktion. Übers. aus dem Französischen von Heinz Jatho, München 1992, S. 95–151. 16 In der Forschung ist die Auffassung weit verbreitet, dass sich die stilistischen Spezifika eines Textes nur im Vergleich mit anderen kulturellen Praktiken beschreiben ließen. Stil manifestiert sich nämlich nicht nur in Artefakten der Literatur, bildenden und darstellenden Kunst sowie der Architektur, sondern auch in Formen pragmatischer wie alltagssprachlicher Mündlichkeit und Schriftlichkeit, in menschlichen Verhaltensweisen und sozialen Interaktionen, im Design von Kleidung, Möbeln und anderen Gegenständen des täglichen Gebrauchs. Prozesse, Voraussetzungen und Bedingungen von Stilbildung und Stilwandel sind in diesem Sinne nicht in distinkten Bereichen beschreibbar. Entsprechend soll auch eine dezidiert literaturwissenschaftliche Stilforschung nicht nur offen für, sondern geradezu angewiesen sein auf interdisziplinäre Fragestellungen und kulturhistorische Perspektivierungen. Vgl. dazu u.  a. Barbara Sandig: Stil ist relational! Versuch eines kognitiven Zugangs. In: Perspektiven auf Stil. Hrsg. von Eva-Maria Jakobs/Annely Rothkegel, Tübingen 2001 (Reihe Germanistische Linguistik 226), S. 21–34; dies.: Textstilistik des Deutschen. 2., völlig neu bearb. und erw. Aufl., Berlin, New York 2006, S. 85–146; Anderegg (Anm. 14), S. 1089. 17 Vgl. dazu oben Anm. 12. 18 Vgl. u.  a. Bernd Spillner: Stilsemiotik. In: Stilfragen (Anm. 13), S. 62–93.

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Was in einer theoretischen Explikation als besondere Schlagkraft des Konzepts erscheint, bringt in der methodischen Umsetzung aber beinahe zwangsläufig erhebliche Schwierigkeiten mit sich: Es wird – wie bereits angedeutet – wohl kaum je möglich (und auch nicht sinnvoll) sein, die Summe aller sprachlichen Details eines literarischen Textes und deren jeweilige Beziehungen untereinander in Relation zu einem repräsentativ konturierten Vergleichscorpus anderer literarischer Texte sowie signifikanter kultureller Äußerungen des außerliterarischen Kontextes formal zu beschreiben, um sie dann in ihrer Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität, Normsetzung und Normbrechung näher zu bestimmen, weiterhin auf die Konsequenzen für Bedeutungskonstitution wie Rezeptionssteuerung zu befragen und in größere funktionale Zusammenhänge einzuordnen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter erstaunlich, dass sich immer noch eine große Lücke zwischen den Bereichen Stiltheorie und Stilanalyse auftut – die Kategorie ‚Stil‘ zwar theoretisch immer feinsinniger reflektiert, in verschiedensten Bereichen literaturwissenschaftlichen Arbeitens auch am Rande mitgeführt, gleichwohl aber analytisch kaum noch wirklich fruchtbar gemacht wird. Gerade für die mediävistische Literaturwissenschaft böte sie aber insofern wichtige Anschlusspunkte, als sie im Kern durch Grundansichten strukturiert ist, die den ganz eigenen Gegebenheiten mittelalterlicher Literaturproduktion wie Literaturrezeption mit ihrem vergleichsweise hohen Maß der Traditionsbindung, einem Dichtungsverständnis, das die Bedeutung der sprachlichen Formgebung in den Vordergrund stellt, und einem wenig ausdifferenzierten und überindividuell institutionalisierten Literaturbetrieb in besonderer Weise entsprechen. Die angesprochenen forschungsgeschichtlichen Belastungen des Stilbegriffs wie die konzeptinhärenten Problemstellungen einer methodischen Umsetzung der Kategorie ‚Stil‘ lassen sich vielleicht an der neueren Debatte um das, was die ältere mediävistische Forschung als ‚geblümten Stil‘ bezeichnet hat, verdeutlichen. Wenn Gert Hübner in seiner grundlegenden Studie zur geblümten Rede vorschlägt, von einer ‚poetischen Technik des blüemens‘ statt vom ‚geblümten Stil‘ zu sprechen,¹⁹ geht es ihm vor allem um eine konkretisierende Eingrenzung seines Gegenstandes auf eine historisch in Herkunft, Genese, Ausdrucksformen, Kontextbindung und Funktionszusammenhängen konkret fassbare literarische Redepraxis. Den Ausgangspunkt für diese Eingrenzung bilden entsprechend die zeitgenössischen Verwendungen des Begriffs blüemen. Dieser lässt sich seit dem späten 13. Jahrhundert als technischer Terminus für eine bestimmte Form laudativer und vituperativer Rede nachweisen, die durch ein spezifisches Register metaphorischer Ausdrucksformen gekennzeichnet ist, deren amplifizierender Gebrauch über den konkreten Gegenstandsbezug der Rede hinaus auch oder sogar insbesondere selbstreferentiell deren sprachliche Artistik in

19 Gert Hübner: Lobblumen. Studien zur Genese und Funktion der ‚Geblümten Rede‘, Tübingen, Basel 2000 (Bibliotheca Germanica 41), hier S. 5 und S. 446.

Perspektiven mediävistischer Stilforschung. Eine Einleitung 

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den Blick rückt.²⁰ Die Fokussierung auf eine so spezifische „Form-Funktions-Konfiguration“, die Hübner als „Lobblümen“ bezeichnet (S. 442) und die offenere Verwendung des Begriffes blüemen im Sinne von ‚mit rhetorischen Figuren schmücken‘ zunächst einmal außen vor lässt, scheint die entscheidende Voraussetzung dafür zu sein, überhaupt präzise und innovative Beobachtungen zu den poetologischen Implikationen des blüemens machen zu können. Wie Hübners Durchgang durch die Forschungsgeschichte (S. 7–32) nämlich eindringlich vor Augen führt, ist es trotz intensiver Bemühungen nie gelungen, ein konsensfähiges Konzept dessen, was geblümter Stil eigentlich ist, durch welche poetischen Techniken er sich auszeichnet, wie er zeitlich oder personell zu verorten ist und was seine pragmatischen wie funktionalen Zielrichtungen sind, zu entwickeln. So erscheint ‚geblümt‘ mal als deutsche Entsprechung des von Johannes von Garlande und Galfrid von Vinsauf als ornatus difficilis gefassten gehäuften Tropengebrauchs, der symptomatisch für die Schreibweisen einzelner Autoren ist, mal als epigonale Wendung ins Formalistische oder Ornamentale, Bildliche oder Allegorische, mal als ausgestellter Bezug zur lateinischen Gelehrsamkeit, mal allgemein als Rhetorisierung oder verstärkte Verwendung künstlerischer Mittel oder ganz generell gar als Gesamtcharakterisierung des mittelalterlichen Stils schlechthin. Entstanden ist das so disparate Feld von Bestimmungen und Explikationen des geblümten Stils nicht zuletzt dadurch, dass unter je unterschiedlichen Perspektiven und Frageinteressen im Einzelnen durchaus zutreffende Beobachtungen zu den poetischen Techniken bestimmter Texte, Autoren oder literaturhistorischen Entwicklungstendenzen im Sinne des mit dem Stilbegriff verbundenen ganzheitlichen Anspruchs generalisiert wurden, ohne die jeweiligen Prämissen einer solchen Ausweitung hinreichend zu klären oder transparent zu halten. Indem Hübner auf den Stilbegriff verzichtet, zeigt er nicht zuletzt an, dass es ihm jenseits des Strebens nach solchen Verallgemeinerungen darum geht, einen einzelnen – wenn auch für das Interesse an den impliziten Reflexionen von Artistik und Artifizialität zentralen  – Teilbereich dessen, was historisch als blüemen bezeichnet oder verstanden werden konnte, konsequent auszuleuchten.²¹ Daran schließt sich die Frage an, ob ein solches Maß an Präzision tatsächlich nur durch eine Abkehr vom Stilbegriff erreicht werden kann und was dann überhaupt noch dafür sprechen könnte,

20 Hübner (Anm. 19), S. 33–88. 21 Kritisch beleuchtet wurde diese Einschränkung von Jan-Dirk Müller, der zwar wie Hübner auf die Diversität dessen, was in der Forschung gemeinhin als ‚geblümt‘ charakterisiert wird, hinweist und deswegen dafür plädiert, gattungs- und diskursspezifisch verschiedene Formen und Funktionen des blüemens mit ihren jeweiligen semantischen Leistungen zu unterscheiden, bei all dem aber davor warnt, die vielen gemeinsamen Züge durch eine zu starke Fokussierung auf ganz spezifische elokutionelle wie funktionale Konfigurationen auszublenden. Vgl. Jan-Dirk Müller: schîn und Verwandtes. Zum Problem der ‚Ästhetisierung‘ in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg. (Mit einem Nachwort zu Terminologie-Problemen der Mediävistik). In: Im Wortfeld des Textes (Anm. 3), S. 287–307.

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ungeachtet aller Schwierigkeiten an diesem festzuhalten. Den ersten Teil dieser Frage beantwortet Hübner selbst, wenn er die von ihm fokussierte poetische Technik alternativ zu seinen terminologischen Bestimmungen (elokutionäres Register, S. 4; FormFunktions-Konfiguration, S. 442; funktionale Formulierungstechnik, S. 443) auch in den durch den Stilbegriff abgesteckten Gesamtzusammenhang einordnet: Das Lobblümen ist in diesem Sinn, wenn man den Stilbegriff doch noch einmal bemühen will, kein Autor-, kein Epochen-, kein Gattungs-, sondern am ehesten ein Funktionalstil, der in laudativen Texten oder Textpassagen allerdings innerhalb einer bestimmten Zeitspanne von bestimmten Autoren besonders gern eingesetzt wurde.²²

Diese Bestimmung zeigt, dass es sehr wohl möglich ist, die verschiedenen, im Stilkonzept korrelierten Beschreibungsebenen so differenziert aufeinander zu beziehen, dass durchaus ganz präzise Konturierungen von Einzelphänomenen erreicht werden können. Damit scheint aber zugleich auch der Vorteil eines Festhaltens am Stilbegriff (also eine Antwort auf den zweiten Teil der oben formulierten Frage) auf. Kehrt man nämlich den mit diesem Begriff verbundenen ganzheitlichen Anspruch gleichsam um, bietet das Stilkonzept mit seinen einzelnen und jeweils für sich genommen theoretisch gut reflektierten Dimensionen eine elaborierte Beschreibungsmatrix unter anderem für ebensolche Form-Funktions-Korrelationen, wie sie Hübner interessieren.²³ Welche Perspektiven sich außerdem für die virulente Diskussion um eine implizite Poetik mittelalterlicher Literatur eröffnen, wenn man Stil konsequent als relationale Kategorie versteht und vom Diktum der Einheitlichkeit befreit, sei im Ausblick noch an einem weiteren Beispiel angedeutet. Während die ältere Forschung die volkssprachige Literatur des Mittelalters vor allem auf kohärente, in sich geschlossene Muster der Weltdarstellung und Weltdeutung sowie die daraus ableitbaren Orientierungsleistungen oder Verfahren der Wertevermittlung befragte, geraten schon seit einiger Zeit zunehmend die Widerständigkeiten, Diversitäten und Spannungen in den Blick, die diese Texte auszeichnen und zwar gleichermaßen in ihren Inhalten wie ihren poetischen Gegebenheiten. Mit Stichworten wie Hybridität, Brüchigkeit, Ambivalenz, Ambiguität, Heterogenität, Überblendung, Subversion oder Amalgamierung werden dabei vielfältige Formen der Verschmelzung divergierender Erzählmodelle, -stoffe und -motive oder des spielerischen Erprobens neuer Kombinationsmöglichkeiten, des unvermittelten Nebeneinanders konkurrierender Deutungsansprüche, der Diskursivierung von Werten und deren normativer Dynamisierung, der Verhandlung diversiver kultureller Ansprüche

22 Hübner (Anm. 19), S. 5  f. 23 Ganz am Rande wäre mit einem solchen Ansatz vielleicht den Einwänden Müllers (vgl. oben Anm. 21) gegen Hübners Spezifikationen Genüge getan, ohne dessen Grad an Differenziertheit aufzugeben.

Perspektiven mediävistischer Stilforschung. Eine Einleitung 

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oder der Partizipation an ganz unterschiedlichen literarischen Traditionen, Wissensbereichen und Bildungstraditionen beschrieben.²⁴ Während in all diesen Zusammenhängen ein besonderes Augenmerk auf den vielseitigen Interdependenzen zwischen poetischer Form und inhaltlichen Entwürfen liegt, werden konkrete Bezüge zur sprachlichen Materialität sehr viel weniger konsequent hergestellt. Wie notwendig dies wäre, zeigt sich aber zum Beispiel im Kontext der aktuellen Debatte um die religiösen wie ästhetischen Sinnansprüche der Legende.²⁵ Susanne Köbele versteht die Legende als eine in ihren Grunddispositionen widersprüchliche Erzählform, bei der die vermittelten religiösen Inhalte und Einsichten in unauflöslicher Spannung zu den Bedingungen ihrer Literarisierung stehen.²⁶

24 Vgl. z.  B. Christoph Huber: Brüchige Figur. Zur literarischen Konstruktion der Partonopier-Gestalt bei Konrad von Würzburg. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Fs. für Volker Mertens. Hrsg. von Matthias Meyer/Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 2002, S. 283–308; Gert Hübner: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im Eneas, im Iwein und im Tristan, Tübingen, Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44); Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007; Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter. Wissen – Literatur – Mythos. Hrsg. von Manfred Eikelmann/Udo Friedrich unter Mitarbeit von Esther Laufer/Michael Schwarzbach, Berlin 2013; Armin Schulz: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik. Willehalm von Orlens – Partonopier und Meliur – Wilhelm von Österreich – Die schöne Magelone, Berlin 2000 (Philologische Studien und Quellen 161); ders.: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Hrsg. von Manuel Braun/Alexandra Dunkel/Jan-Dirk Müller, Berlin, Boston 2012, hier insbes. S. 119–158; Peter Strohschneider: Einfache Regeln – komplexe Strukturen. Ein strukturanalytisches Experiment zum Nibelungenlied. In: Mediävistische Komparatistik. Fs. für Franz Josef Worstbrock, Stuttgart, Leipzig 1997, S. 43–74, wieder in: Nibelungenlied und Nibelungenklage. Neue Wege der Forschung. Hrsg. von Christoph Fasbender, Darmstadt 2005, S. 48–82; demnächst: Ambiguität im Mittelalter. Formen zeitgenössischer Reflexion und interdisziplinärer Rezeption. Hrsg. von Oliver Auge/Christiane Witthöft. 25 Vgl. Hartmut Bleumer: ‚Historische Narratologie‘? Metalegendarisches Erzählen im Silvester Konrads von Würzburg. In: Historische Narratologie  – Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland/Matthias Meyer unter Mitarbeit von Carmen Stange/Markus Greulich, Berlin, New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 231–261; Margreth Egidi: Verborgene Heiligkeit. Legendarisches Erzählen in der Alexiuslegende. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Peter Strohschneider, Berlin 2009, S. 607–657; Andreas Hammer: Erzählen vom Heiligen. Narrative Inszenierung von Heiligkeit im Passional, Habilitationsschrift (masch.), Göttingen 2012; Bruno Quast: Vom Kult zur Kunst. Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen, Basel 2005 (Bibliotheca Germanica 48); Peter Strohschneider: Weltabschied, Christusnachfolge und die Kraft der Legende. In: GRM 60 (2010), S. 143–163; ders.: Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg Alexius. In: Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen. Hrsg. von Gert Melville/Hans Vorländer, Köln u.  a. 2002, S. 109–147; Julia Weitbrecht: Imitatio und Imitabilität. Zur Medialität von Legende und Legendenspiel. In: PBB 134 (2012), S. 204–219. 26 Susanne Köbele: Die Illusion der ‚einfachen Form‘. Über das ästhetische und religiöse Risiko der Legende. In: PBB 134 (2012), S. 365–404.

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Als erzählte Glaubensgewissheit erhebe sie – gleichsam zwischen den Sphären Kult und Kunst fluktuierend  – zu gleicher Zeit den Anspruch, Medium einer möglichst unmittelbaren und unverstellten religiösen Erfahrung zu sein wie Medium eines in der kunstvollen Überformung des Dargestellten gründenden ästhetischen Genusses. Symptom dieser tiefliegenden Spannung seien zahlreiche Friktionen, die das Legendenerzählen zu bewältigen oder doch zumindest zu balancieren habe: so etwa zwischen dem Wissen um die Unbedingtheit wie Verlässlichkeit göttlicher Gnade und den Erfordernissen narrativer Spannungserzeugung, zwischen der Einzigartigkeit des Wunders und seiner seriellen Vervielfältigung, zwischen dem Verständnis des Heiligen als passivem Gegenstand göttlichen Heilshandelns und den literarischen Anforderungen an die Ausgestaltung einer Protagonistenrolle und nicht zuletzt zwischen einer radikalen, in tiefer Demut gründenden Weltabkehr als Äußerungsform des Heiligen und dem Erzählen vom Sichtbarwerden dieser heiligmäßigen Abgewandtheit als Überlegenheit innerhalb einer erzählten Welt.²⁷ Die durch und durch ambivalente Einstellung des Legendenerzählens gegenüber den Mitteln literarischer Ästhetisierung kulminiere letztlich aber in der Formgebung der sprachlichen Oberfläche, die ihrerseits zwischen einer auf die Selbstevidenz des Heiligen zielenden Schlichtheit und elaborierten Techniken rhetorischer Heiligenverehrung, sermo humilis und sermo grande, Rhetorisierung und De-Rhetorisierung changiere. Selbst dort, wo die Sprache der Legende eine ungebrochen einfache sei, bleibe sie insofern spannungsgeladen, als sie zwar einerseits literarische Komplexität negiere, selbst jedoch als Ergebnis eines künstlerischen Schaffensprozesses durchsichtig bleibe.²⁸ Damit lösten sich die inneren Widersprüche der Legende aber gerade nicht in sprachlicher und poetischer Einfachheit auf, sondern würden allenfalls im Prozess des Erzählens (zeitweilig) verdeckt, blieben zu jeder Zeit jedoch so virulent, dass sie immer wieder aufbrächen oder doch aufzubrechen drohten. Das Verständnis einer (hoch)artifiziellen sprachlichen Einfachheit, das Köbele mit Blick auf die besondere Gattungsdisposition der Legende entwickelt, ließe sich im Kontext des Stilkonzepts weiter elaborieren. Da eine einfache Sprache in literarischen Zusammenhängen nur in wenigen Ausnahmefällen einer fehlenden artistischen Kompetenz des Autors geschuldet sein wird, muss sie in der Regel als intentionale Stileigenschaft eines Textes verstanden werden, die dann allerdings letztlich nur in Relation zu relevanten Vergleichstexten überhaupt zu erfassen ist. Schon Cicero empfiehlt für bestimmte rhetorische, besonders sachorientierte Funktionskontexte die niedrige Stillage, die sich durch ihren schmucklos-schlichten aber durchaus eleganten Ausdruck auszeichne und die insofern in besonderer Weise eine Konzentration auf den Inhalt der Rede ermögliche, als die Aufmerksam-

27 Vgl. Köbele (Anm. 26), S. 375–377. 28 Köbele (Anm. 26) spricht in diesem Zusammenhang von einer „heiklen Rhetorik des Schlichten“ (S. 373) oder von einem „Effekt eines raffinierten Artificiums“ (S. 402).

Perspektiven mediävistischer Stilforschung. Eine Einleitung 

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keit der Hörer nicht durch die Artifizialität der sprachlichen Oberfläche gebunden oder gar abgelenkt werde.²⁹ Dabei kennzeichne allerdings nicht der völlige Verzicht auf rhetorische Figuren diese Stilnorm, sondern ein gezielt reduzierter und einfacher Gebrauch, der folglich ein hohes Maß an artistischer Kompetenz des Redners voraussetze: Ornamentis isdem uti fere licebit, alias contentius, alias summissius.³⁰ Sprachliche Einfachheit erscheint also bereits hier als eine funktionsgebundene graduelle Reduktionsform, die keinesfalls unterkomplex ist, sondern die ihr inhärente Komplexität lediglich planvoll verdeckt. Auch Jurij M. Lotman beschreibt literarische Einfachheit (mit Blick auf das Verhältnis von Vers und Prosa) als eine typologisch sekundäre Erscheinung: da poetische Sprache sich immer zunächst einmal von der Alltagssprache und den verschiedenen Ausprägungen pragmatischer Schriftlichkeit abgrenze, seien Elaboriertheit und Artifizialität (also gerade nicht Schlichtheit) ihre genuinen Erscheinungsformen. Als Sekundärphänomen bleibe Einfachheit damit allerdings stets von dem System abhängig, auf das projiziert werde, und folglich sei auch die Wahrnehmung von Einfachheit durch den Rezipienten darauf angewiesen, die Reduktion oder Absenz von Verfahren zu erkennen, die im Bezugssystem realisiert seien.³¹ Entsprechend stelle nicht nur die Definition des Begriffs ‚Einfachheit‘ ein großes Problem dar, sondern am Ende sei literarische Einfachheit als Phänomen komplexerer Natur als literarische Kompliziertheit.³² Vor einem solchen Hintergrund wäre genauer zu fragen, ob die sprachlichen Erscheinungen, die Susanne Köbele als unmittelbaren Reflex der inneren Spannungen der Legende erfasst, tatsächlich allein den spezifischen Gattungsdispositionen legendarischen Erzählens geschuldet sind oder ob sie eher als Ausprägungen eines frei verfügbaren und an bestimmte Funktionskontexte gebundenen stilistischen Registers zu erklären wären. Für letzteres spräche in jedem Fall die von Köbele selbst gemachte Beobachtung, dass sich bei weitem nicht alle Legenden durch die gleiche ambivalente Einstellung gegenüber den Mitteln literarischer Ästhetisierung auszeichnen.

29 Vgl. Marcus Tullius Cicero: De Oratore – Über den Redner. Lateinisch-deutsch. Hrsg. und übers. von Theodor Nüsslein, Düsseldorf 2007, III, 52, S. 199  f. 30 „Dabei darf man etwa genau die gleichen Schmuckmittel anwenden, lediglich bald leidenschaftlicher, bald gelassener“, Cicero (Anm. 29), III, 55, S. 212. 31 Auch Köbele (Anm. 26) beschreibt z.  B. die sprachliche Einfachheit der Legenden Konrads von Würzburg beinahe ausschließlich ex negativo als Fehlen sprachartistischer Merkmale, wie sie in anderen Werken des Autors begegnen: „Ausgerechnet der rhetorikfaszinierte Konrad, Blümer par exellence, dessen unerschütterliche Wiederholungen und symbolische ‚Zwillingsformeln‘ des Typs rüemen unde blüemen, zieren und florieren schon die Zeitgenossen geschätzt und bereitwillig kopiert haben, widersteht dem Sog zum rüemen und blüemen und schreibt drei ‚ungeblümte‘, wenn auch nebenbei ‚schön‘ gedichtete Legenden (S. 382)“; „Konrad hat […] der doppelten Versuchung widerstanden, dem Legendensujet epische Totalität und geblümten Stil abringen zu wollen […]“ (S. 397). 32 Jurij M. Lotman: Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik. Einführung, Theorie des Verses. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Karl Eimermacher, übers. von Waltraud Jachnow, München 1972 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 14), S. 52–60.

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Eine durch und durch rhetorische Überformung legendarischer Erzählstoffe, wie sie u.  a. in Hugos von Langenstein Martina begegnet, wäre dann auch nicht mehr als Versagen gegenüber den poetischen Anforderungen der Gattung Legende zu verstehen,³³ sondern zunächst einmal wertneutral als Rückgriff auf ein anderes Stilregister, dessen funktionale Implikationen im Zusammenhang mit den thematischen und poetischen Herausforderungen legendarischen Erzählens erst noch genauer zu erfassen wären. Blickt man über die Grenzen der Gattung Legende hinaus, lassen sich außerdem durchaus Bezugstexte finden, in denen eine ganz ähnliche, artifizielle und gleichzeitig hybride, Einfachheit begegnet wie in den von Köbele ins Zentrum gerückten Legenden Konrads von Würzburg. So spiegelt z.  B. in Konrad Flecks Flore und Blanscheflur die Einfachheit der Sprache wie der Poetik insgesamt ein in sich geschlossenes Liebeskonzept ohne Widersprüche, Brüche und Ambivalenzen. Die Liebe in Flecks Roman ist – anders etwa als in Gottfrieds Tristan – kein unbegreifliches Abstraktum, dessen Komplexität in einer ganz eigenen und hoch artifiziellen Sprache erst evoziert werden muss, sondern ein ganz einfaches und letztlich an die göttliche Natur zurückgebundenes sowie in den göttlichen Heilsplan konkret eingebundenes Prinzip. Durchbrochen wird die auffällige Schmucklosigkeit des Textes allein in den zahlreichen ekphrastischen Passagen, die gleichsam kontrastiv gegenüber der Sprache der sie umgebenden Liebeshandlung gestaltet sind. Der Wechsel der stilistischen Register zeigt hier eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Möglichkeiten und Maßstäben für das literarische Sprechen über Liebe an. Die ganz offensichtliche Präferenz für sprachliche Einfachheit kann in diesem Zusammenhang als Akt der programmatischen Abgrenzung gegenüber einer in einem falschen Verständnis weltlicher Liebe gründenden ästhetischen Überformung aufgefasst werden.³⁴ Wie in den Legenden Konrads von Würzburg erhält damit aber eine literarisch erzeugte (und damit letztlich illusionäre) Einfachheit in der Rückbindung an die religiösen Inhalte eine dezidiert spirituelle Bedeutung.

33 So Köbele (Anm. 26), u.  a. S. 399: „Die Legende ist Prototyp finalen Erzählens. Ihre Poetik der absoluten Ziele, der strikten Wunder-Evidenz und universalen Heils-Selbstverständlichkeit legitimiert zweifellos das Erzählen von Heiligen, verdrängt aber zugleich die Mittel und erstickt das Erzählen. Anders gesagt: Die ‚Kraft‘ der Legende, ihre unabweisbare Schlichtheit und einfache Form, muss ihr abgetrotzt werden. Wo die Legende diesen immanenten Widerstand (den Evidenzmangel, die Illusion der einfachen Form) vergisst und zur epischen Großform tendiert, handelt sie sich Probleme ein. Die Legende im großepischen Format kann gewissermaßen systemimmanent nicht gelingen“ und S. 401: „Wer in einem Vers drei Mal, in zwei Versen vier Mal dasselbe sagt, braucht insgesamt 16164 süß geblümte Verse für seine Geschichte. Sicherer wird das Heil, besser die Legende dadurch nicht. […] Die großepische Legende ist keine tragfähige Antwort auf die Illusion der einfachen Form, das Blümen keine Alternative zur ambivalenten Rhetorik-Einstellung der Legende.“ 34 Vgl. dazu ausführlicher: Silvia Reuvekamp: sô kêre doch herz und vernunst / ûf edele dœne und edeliu wort. Überlegungen zum Verhältnis von Liebes-, Kunst- und Sprachreflexion im mittelhochdeutschen Liebes- und Abenteuerroman. In: ZfdPh 133 (2014), S. 49–65.

Perspektiven mediävistischer Stilforschung. Eine Einleitung 

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Dieser Vergleich kann lediglich andeuten, wie lohnenswert es für eine methodisch neu ausgerichtete literarische Stilforschung innerhalb der germanistischen Mediävistik sein könnte, solchen Phänomenen wie sprachlicher Einfachheit im Schnittfeld der im Stilkonzept korrelierten Beschreibungsebenen, also von Gattungsdispositionen, text- oder autorspezifischen Schreibweisen, funktionalen Registern und zeit- bzw. epochentypologischen Konfigurationen nachzugehen. Die verschiedenen literaturtheoretischen Implikationen und ausdifferenzierten Beobachtungsfelder der Kategorie ‚Stil‘ bieten für solche Unternehmungen in jedem Fall einen entscheidenden Ausgangspunkt.

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 Silvia Reuvekamp

Stilbegriff und Stilkonzept

Gert Hübner

Historische Stildiskurse und historische Poetologie Bevor man den Stilbegriff erneut zum Instrument der Analyse vormoderner Texte macht,¹ ist es möglicherweise nicht völlig unnütz, sich einige Aspekte seiner Geschichte in Erinnerung zu rufen. Mein Interesse gilt im Folgenden Paradigmendifferenzen in der Diskursgeschichte des modernen sprachtextbezogenen Stilbegriffs, nicht der Geschichte des lateinischen Wortes stilus und seiner Entlehnungen in die Volkssprachen.² Konstitutiv für die Geschichte dieses sprachtextbezogenen Stilbegriffs scheinen drei historische Stildiskurse zu sein, nämlich der vormoderne rhetorische, der im 18. Jahrhundert aufgekommene ästhetische und der moderne linguistische.³ Weil die Ästhetik die Rhetorik zunächst verdrängte und die gegenwärtigen rhetorischen Konzeptionalisierungen der Kategorie ‚Stil‘ entweder auf vormodernen rhetorischen oder auf modernen linguistischen beruhen, nehme ich allein die vormoderne – antike, mittelalterliche und frühneuzeitliche – Rhetorikgeschichte in den Blick. Die Verwendungsweisen des Stilbegriffs in den Literaturwissenschaften stehen meiner Überzeugung nach in einer parasitären Relation zu den Diskursen der Rhetorik, Ästhetik und Linguistik, ohne einen eigenständigen literaturwissenschaftlichen Stildiskurs zu konstituieren.⁴ Der Einfluss kunstgeschichtlicher Stilbegriffe auf die Literaturwissenschaften ist über die philosophische Ästhetik vermittelt; sie sind die einzigen unter den vielen nicht sprachtextbezogenen Anwendungen des Stilbegriffs, die ich am Rand berücksichtige. Mit dem Begriff ‚Stildiskurse‘ meine ich Aktualisierungen historischer Ordnungen expliziten Reflexions- und Anleitungswissens, die sich auf Stilpraktiken beziehen, mit dem Begriff ‚Stilpraktiken‘ Aktualisierungen historischer Ordnungen impliziten kulturellen Praxiswissens. Als stilistisches Praxiswissen soll dasjenige Wissen

1 Vgl. die Anregungen von Jens Haustein: Mediävistische Stilforschung und die Präsenzkultur des Mittelalters. Mit einem Ausblick auf Gottfried von Straßburg und Konrad von Würzburg. In: Textprofile stilistisch. Beiträge zur literarischen Evolution. Hrsg. von Ulrich Breuer/Bernhard Spies, Bielefeld 2011 (Mainzer historische Kulturwissenschaften 8), S. 43–59. – Alle Literaturverweise sind im Folgenden aus Platzgründen auf ein Minimum beschränkt. 2 Vgl. den Beitrag von Michael Stolz in diesem Band. 3 Eine größere Anzahl von Paradigmen unterscheiden Rainer Rosenberg u.  a.: Stil. In: ÄGB 5: Postmoderne – Synästhesie (2003), S. 641–702, die sich jedoch nicht auf sprachtextbezogene Stilbegriffe beschränken. 4 Rosenberg u.  a. (Anm. 3) setzen dagegen ein „poetologisches Paradigma“ an, das allerdings vom philosophisch-ästhetischen „nur schwer abzugrenzen“ sei (S. 657) – so ist es in der Tat.

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 Gert Hübner

gelten, das die Stilpraktiken tatsächlich hervorbringt und das zur sprachpragmatischen Kompetenz von Textproduzenten und -rezipienten gehört. Sobald es expliziert wird, wird es zum Diskurs und tritt dadurch in eine kontingente Relation zu den Praktiken. Das Spektrum möglicher Relationen zwischen Stilpraktiken und Stildiskursen liegt zwischen drei Polen: (1.) Stilpraktiken sind reine Produkte kulturellen Praxiswissens, ohne dass es einen auf sie bezogenen, ihnen zeitgenössischen Stildiskurs gibt oder ohne dass sie von einem ihnen zeitgenössischen Stildiskurs beeinflusst sind. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn in Mittelalter und Früher Neuzeit volkssprachliche Texte vollständig außerhalb der Wirkungsmacht der Rhetorik sowohl produziert als auch von der Überlieferung in dieser unbeeinflussten Gestalt bewahrt worden wären. (2.) Ein Stildiskurs produziert dem Selbstverständnis der Beteiligten nach sowohl Reflexionsals auch Anleitungswissen, wobei das Reflexionswissen das Anleitungswissen begründet, und er deklariert das produzierte Anleitungswissen als Praxiswissen. Dazu tendierte der vormoderne rhetorische Stildiskurs, der deshalb heute gewöhnlich als ‚normativ‘ oder ‚präskriptiv‘ eingeschätzt wird. (3.) Ein Stildiskurs produziert dem Selbstverständnis der Beteiligten nach ausschließlich Reflexionswissen und kein Anleitungswissen für Stilpraktiken. Dies ist die Standardoption sowohl des ästhetischen als auch des linguistischen Stildiskurses, die deshalb gewöhnlich als ‚deskriptiv‘ eingeschätzt werden. Selbstverständlich schließt diese Konstellation aber nicht aus, dass sich aus dem Reflexionswissen Rezepte ableiten lassen, die Stilpraktiken beeinflussen können. Wie alle Diskurse konstruieren diejenigen über den Stil Phänomene, indem sie als sowohl konstitutive wie normative Regelsysteme Aussagen wahrscheinlich oder unwahrscheinlich machen. (Die Linguistik schreibt keine Stilpraktiken vor, aber sie konstituiert und begrenzt wie Rhetorik und Ästhetik über Stilpraktiken Sagbares.) Wenn die folgenden Überlegungen in einem holzschnittartigen Stil gehalten sind, müsste dies beispielsweise im rhetorischen und linguistischen Diskurs als eine der Zuspitzungsfunktion verdankte Faktur gelten, im ästhetischen dagegen eher als Ausdruck meiner Persönlichkeit.

Rhetorik Das Wort stilus spielte in der antiken Rhetorik eine randständige Rolle. Was später Stil hieß, hatte hier drei diskursive Orte, nämlich die gesamte Lehre von der elocutio, die Lehre von den genera dicendi (den drei ‚Stilen‘) als funktionalen Typen elokutionärer Konfigurationen und die Lehre von der imitatio auctorum als Verfahrensweise für die Produktion bestimmter elokutionärer Konfigurationen. stilus (Schreibgriffel) wurde als Metonymie für ‚Art und Weise‘ (modus, usus, consuetudo) auf viele verschiedene Handlungen und Hervorbringungen bezogen, darunter auch auf die Machart des Ge-

Historische Stildiskurse und historische Poetologie  

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schriebenen; als uneigentliche Bezeichnung für elocutio und genera dicendi diente es anfangs eher selten.⁵ Konstitutiv blieb für die Geschichte des Stilbegriffs die seit Aristoteles als rhetorischer Standard greifbare Unterscheidung zwischen der Gestaltung des Inhalts als Gegenstand von heuresis/inventio sowie taxis/dispositio und der Gestaltung des Ausdrucks als Gegenstand der lexis/elocutio. Eng damit verbunden war die (problematische) Ansicht, dass man denselben Inhalt auf unterschiedliche Weise ausdrücken kann. In glossematischer Terminologie reformuliert, differenzierte die Rhetorik prinzipiell zwischen Inhaltsformen und Ausdrucksformen. In diesem Sinn dienen alle rhetorisch beeinflussten Stilbegriffe dazu, das Interesse auf die Ausdrucksformen zu lenken – freilich immer, um die Funktionen der Gestaltung des Ausdrucks für die Gestaltung des Inhalts und das mit der kommunikativen Handlung angestrebte Ziel in den Blick zu nehmen. Noch die allerweitesten modernen Stildefinitionen wie diejenige von Hans Ulrich Gumbrecht („Manifestation von rekurrenten Formen menschlichen Verhaltens in den verschiedensten Materialien und Medien, insbesondere in den Künsten“)⁶ stehen in dieser Tradition, wenn sie auf einen Formbegriff rekurrieren. Meines Erachtens beruht der instrumentelle Wert, der einen sprachtextbezogenen Begriff ‚Stil‘ von demjenigen anderer Begriffe wie etwa ‚Formen‘ oder ‚Verfahrensweisen‘ bis heute unterscheidet, jedoch weiterhin auf einer Differenzierung zwischen Inhaltsformen und Ausdrucksformen, die eine Voraussetzung für das spezifische Interesse an Ausdrucksformen und ihren Funktionen ist. Die in der antiken Rhetorik konzeptionell verfestigten Unterscheidungen des Inhalts vom Ausdruck und verschiedener Ausdrucksoptionen setzen ziemlich offensichtlich die Praktiken des Aus- und Überarbeitens in der schriftlichen Textproduktion voraus. Der rhetorische Diskurs konstituiert Stil deshalb als ein Phänomen produktionsseitiger Schriftlichkeit. Dass die Metonymie stilus durch die Bedeutungsübertragung vom Schreibgriffel auf den geschriebenen Text entstand, folgt deshalb in der Tat einer historischen Kontiguität. Auch unter der Voraussetzung etablierter kultureller Schriftlichkeit lässt sich das Modell der elocutio als nachträglicher sprachlicher Ausarbeitung vorgängig ausgearbeiteter Inhalte nicht ohne Modifikationen auf produktionsseitig mündliche Kommunikationsakte übertragen. Noch schwieriger ist jede Applikation auf Bedingungen schriftloser kultureller Mündlichkeit.⁷

5 Bernhard Sowinski: Stil. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding, 10 Bde, Tübingen 1992–2012, Bd. 8 (2007), Sp. 1393–1419, hier Sp. 1394–1401. Instruktiv ist die Liste der stilus attribuierenden Adjektive im Register bei Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 31990, S. 817  f. 6 Hans Ulrich Gumbrecht: Stil. In: RLW 3 (2003), S. 509–513, hier S. 509. 7 Gert Hübner: Rhetorische und stilistische Praxis des deutschen Mittelalters / Applied rhetoric and stylistics in the German Middle Ages. In: Rhetorik und Stilistik / Rhetoric and Stylistics. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung / An International Handbook of Historical and Systematic Research. Hrsg. von Ulla Fix/Andreas Gardt/Joachim Knape, 2 Bde, Berlin,

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Das antike rhetorische Interesse am Stil galt Persuasionsmitteln und war wie das gesamte rhetorische Reflexions- und Anleitungswissen auf die Optimierung von Persuasionserfolgen ausgerichtet. Auch der ornatus hat eine persuasive Funktion, nämlich durch Abweichung vom gewohnten Sprachgebrauch das Wohlgefallen der Adressaten zu erzeugen (delectare) und ihre Affekte zu lenken (movere).⁸ Die modernen Etiketten ‚präskriptiv‘ und ‚normativ‘ evozieren dabei einen historisch unpassenden Eindruck von der antiken rhetorischen Wissensordnung: In der aristotelischen Konzeption vermittelt die Rhetorik als techne zwar kein axiomatisch gesichertes Theoriewissen, aber auf Lebenserfahrung beruhendes Handlungswissen von wahrscheinlicher Geltung (topisches Wissen also). Indem die Rhetorik es systematisch diskursiviert, formuliert sie Erfolgsrezepte etwa in Gestalt von Stilprinzipien wie perspicuitas oder aptum. Charakteristisch dafür ist beispielsweise das aristotelische Räsonnement, dass die lexis zwischen den Polen Klarheit und Fremdheit operiert:⁹ Für Klarheit sorgt der gewohnte Sprachgebrauch; das Fremde (xenon) evoziert als Abweichung davon Interesse. Offensichtliche oder sehr schwer verständliche Verfremdungen rufen jedoch das Misstrauen der Rezipienten hervor. Wegen der unterschiedlichen Wirkungsfunktionen weist Aristoteles der öffentlichen Prosarede dabei geringere Lizenzen als der Dichtung zu. Der epistemische Status der Rhetorik änderte sich mit ihrer Verpflichtung auf den christlichen Wahrheitsbegriff seit Augustinus,¹⁰ deren Konsequenzen sich nicht in der bloßen Direktive erschöpften, dass die Rhetorik keine Technik erfolgreichen Lügens mehr sein dürfe. Wenn die Welt eine gottgeschaffene Ordnung hat, die durch die Ordnung der Sprache abgebildet werden kann, lassen sich auch die Relationen zwischen Ausdrucksweise, Redegegenstand und Wirkung auf die Rezipienten in einen Bezug zur Ordnung setzen: Man kann dann sozusagen innerhalb oder außerhalb der Ordnung reden. Anschaulich macht das beispielsweise die mittelalterliche Umdeu-

New York 2008 und 2009 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 31,1–2), Bd. 1 (2008), S. 348–369, hier S. 351  f. 8 Zum Deviationskonzept der antiken ornatus-Lehre vgl. etwa Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis oratoriae libri XII. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. und übers. von Helmut Rahn, 2 Bde, Darmstadt 21988 (Texte zur Forschung 2; 3), IX.1.3. – Insofern Figuren als regelgeleitete Abweichungen gelten können, lässt sich Deviation mittels ornatus auch als Hyperstrukturierung verstehen; vgl. dazu Joachim Knape: Allgemeine Rhetorik. Stationen der Theoriegeschichte, Stuttgart 2000 (RUB 18045), S. 162  f.; im Überblick Ulla Fix: Muster und Abweichung in Rhetorik und Stilistik / Pattern and derivation in rhetoric and stylistics. In: Rhetorik und Stilistik (Anm. 7), Bd. 2 (2009), S. 1300–1315. 9 Aristoteles: Rhetorik. Übers. und hrsg. von Gernot Krapinger, Stuttgart 1999 (RUB 18006), III.2 (1404b–1405b). 10 Augustine De doctrina christiana. Hrsg. und übers. von Roger P. H. Green, Oxford 1997, Buch IV; dt. Aurelius Augustinus: Die christliche Bildung (De doctrina christiana). Übers., Anm. und Nachwort von Karla Pollmann, Stuttgart 2002; Joachim Knape: Augustinus De doctrina christiana in der mittelalterlichen Rhetorikgeschichte. Mit Abdruck des rhetorischen Augustinusindex von Stephan Hoest (1466/67). In: Traditio Augustiniana. Studien über Augustinus und seine Rezeption. Fs. für Willigis Eckermann OSA. Hrsg. von Adolar Zumkeller/Achim Krümmel, Würzburg 1994, S. 141–173.

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tung der antiken Lehre von den drei Stilen (charakteres, genera, figurae dicendi).¹¹ In der antiken Rhetorik waren sie funktionsbestimmte elocutio-Profile: Der niedere dient der Wissensvermittlung (docere), der mittlere der Erzeugung von Wohlgefallen (delectare), der hohe der Erregung der Affekte (movere). Die Aktualisierung eines Registers in einer Textpartie folgt der jeweiligen Wirkungsfunktion, die Funktionalität der Ausdrucksformen beruht auf erfahrungsbasierter Wahrscheinlichkeit der Wirkung. Die mittelalterliche Rhetorik definierte die elokutionären Konfigurationen der Stile nicht mehr anhand wahrscheinlicher Wirkungen, sondern ontologisch anhand der Rechtsstände dargestellter Personen. Die Korrelation von Stand und Stil gewährleistet die Angemessenheit der elokutionären Konfiguration an den Gegenstand und macht den Stil dadurch ordnungsgemäß; alle anderen möglichen Korrelationen sind weniger wahr. Auch dieses in der historischen Ontologie begründete Wissen ist selbstverständlich nur nach modernen Kriterien ‚präskriptiv‘ oder ‚normativ‘. Die antike Rhetorik schrieb Textteilen oder Texten mittels Typologien kommunikative Funktionen zu und korrelierte die Funktionen dann mit elokutionären Profilen. Die kommunikativen Funktionen der Typen öffentlicher Rede wiederum wurden seit Aristoteles unmittelbar aus der kulturellen Praxis abgeleitet; Funktion und elokutionäres Profil der Bestandteile der – stets als Modellfall dienenden – Gerichtsrede etwa ergaben sich aus der Praxis der Gerichtsverhandlung. Als Horaz das Prinzip einer Korrelation kommunikativer Funktionen mit elokutionären Profilen in der Ars poetica auf die Dichtung applizierte, leitete er deren Funktion jedoch nicht aus einer von ihr unterscheidbaren kulturellen Praxis ab. Im Rekurs auf das Tragödienmodell der aristotelischen Poetik wäre das zwar möglich gewesen, hätte sich jedoch nicht mit der gängigen Identifikation von Dichtung mit Versrede vereinbaren lassen: Wenn ein Text, welchen Inhalts und welcher Funktion auch immer, qua Versifikation Dichtung ist, lässt sich Dichtung nicht mittels einer für sie spezifischen Funktion definieren. Horaz schrieb der Dichtung deshalb einfach sämtliche rhetorisch traditionell denkbaren kommunikativen Funktionen zu:¹² Dichtung will nützen, erfreuen und affektiv bewegen. Nutzen ist die Folge von Wissensvermittlung; Wohlgefallen (delectatio) wird durch Schönheit (pulchritudo) verursacht, die Horaz nicht allein, aber doch in erster Linie mit Versifikation identifizierte. Die Affekterregung (movere) beruht auf Süße (dulcedo), welche die Seelen der Rezipienten lenkt. Das in der Ars poetica entwickelte Konzept determinierte die gesamte mittelalterliche und frühneuzeitliche Dichtungstheorie. Die Poetiken des 12. und 13. Jahrhun-

11 Franz Quadlbauer: Die antike Theorie der genera dicendi im lateinischen Mittelalter, Wien 1962; Kurt Spang: Dreistillehre. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik (Anm. 5), Bd. 2 (1994), Sp. 921–972; Thomas Schirren: Niveau der Textgestaltung (Dreistillehre/genera dicendi) / Composition standards (system of three styles/genera dicendi). In: Rhetorik und Stilistik (Anm. 7), Bd. 2 (2009), S. 1425–1444. 12 Quintus Horatius Flaccus: De arte poetica. In: Horaz: Sämtliche Werke. Lateinisch/Deutsch. Mit einem Nachwort hrsg. von Bernhard Kytzler, Stuttgart 2006 (RUB 18466), V. 99–107; V. 333–346.

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derts beispielsweise verengten den Fokus auf die Schönheit (venustas, elegantia), für die sie vor allem die elocutio und insbesondere den ornatus verantwortlich machten.¹³ Schönheit wurde dadurch mit elokutionärer Ausarbeitung zwar nicht vollständig, aber doch weitgehend identifiziert; die elokutionäre Ausarbeitung ihrerseits sollte gemäß dem perspicuitas-Ideal den Sinn der materia erkennbar machen. Obschon dieses Modell der Prominenz elokutionärer Techniken als differentia specifica der Dichtung denselben Stellenwert einräumte wie der Versifikation, unterstellte es der Dichtung mangels spezifischer Funktionszuschreibung weiterhin keinen eigenen Funktionalstil. Weil die von Horaz geprägte vormoderne Poetologie bei der Dichtung nicht zwischen Texttypus und kultureller Praktik unterschied, wies sie ihr keine spezifische kommunikative Funktion und kein damit korreliertes elokutionäres Profil zu. Der rhetorische Stildiskurs konstituierte keinen Dichtungsbegriff, sondern setzte einen voraus, nämlich den an die Versifikation geknüpften formalen. Jede versifizierte Textpartie, jeder versifizierte Text konnte dieselbe Funktion wie eine Textpartie oder ein Text in Prosa haben und dieser Funktion entsprechende Ausdrucksformen einsetzen, aber Verstexte konnten nicht qua Vers eine für sie spezifische Funktion und elocutioFaktur haben. Da Dichtung alle Ausdrucksformen für sämtliche Inhalte und Funktionen einsetzen konnte, galt sie allerdings als besonders gut geeignetes Übungsfeld für stilistische Kompetenz jeder Art. Dies wurde in rhetorisch beeinflussten poetologischen Reflexionen seit der Spätantike dann auch immer mehr als ihre kulturelle Funktion verstanden, mit historischen Zuspitzungen in den Poetiken des 12. und 13. sowie in den humanistischen des 15. und 16. Jahrhunderts.¹⁴ Aus den skizzierten Gründen ist der vormoderne rhetorische Stilbegriff prinzipiell ausgesprochen schlecht dazu geeignet, irgendwelche Eigenschaften poetischer Texte als spezifische Eigenschaften poetischer Texte zu erfassen. Immerhin schreibt er der Dichtung jedoch eine Neigung zu, das Interesse auf die ausdrucksseitige Gestaltung – Vers und elocutio – zu lenken. Dichtung und Stilbegriff ‚machen‘ in dieser Hinsicht also dasselbe; deshalb taugen Rezeption und Produktion von Dichtung besonders gut zum Stiltraining. Nach modernen Kategorien ist das ein Selbstbezüglichkeitskonzept,

13 Insbes. Matthäus von Vendôme: Ars versificatoria. In: Mathei Vindocinensis Opera. Hrsg. von Franco Munari. 3 Bde, Rom 1977–1988, Bd. 3 (1988): Ars versificatoria, passim; Galfrid von Vinsauf: Poetria nova. In: Ernest Gallo: The Poetria Nova and its Sources in Early Rhetorical Doctrine, Den Haag, Paris 1971 (De proprietatibus litterarum, Series maior 19), passim. Vgl. zum Überblick Douglas Kelly: The Arts of Poetry and Prose, Turnhout 1991; James Jerome Murphy: The Arts of Poetry and Prose. In: The Cambridge History of Literary Criticism. Vol. 2. The Middle Ages. Hrsg. von Alastair Minnis/Ian Johnson, Cambridge 2005, S. 42–67. 14 Im deutschen Sprachraum prototypisch ausgeführt bei Joachim Vadianus: De poetica et carminis ratione. Kritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung und Kommentar von Peter Schäffer. 3 Bde, München 1973–1977; vgl. auch Philipp Melanchthon: Encomion eloquentiae. In: Philipp Melanchthon: Glaube und Bildung. Texte zum christlichen Humanismus. Ausgew., übers. und hrsg. von Günther R. Schmidt, Stuttgart 1989 (RUB 8609), S. 152–181.

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aber in der Selbstbezüglichkeit liegt dabei nicht schon die Funktion, sondern ihre Voraussetzung: In den lateinischen Gelehrtenkulturen des Mittelalters und der frühen Neuzeit, aus denen die Poetiktraktate stammen, sollte Dichtung in erster Linie Kennerschaft im Sinn stilistischer Produktions- und Rezeptionskompetenz schulen und dadurch sozialen Identitätspraktiken dienen. Wo immer volkssprachliche Dichtung zum Gegenstand des rhetorischen Stildiskurses wurde – und ein anderer Stildiskurs ist in der Vormoderne nicht belegt –, gab es zur Applikation dieses Konzepts keine Alternative. Allerdings konnte man die Identitätspraktiken der Schulgelehrten durch diejenigen der geburtsbedingt Vornehmen ersetzen oder für sie instrumentalisieren. In einem historischen Sinn tatsächlich normativ waren die elocutio-Profile, welche die antike Rhetorik unter Etiketten wie ‚attisch‘ und ‚asianisch‘ verhandelte und als Konsequenzen der imitatio kanonisierter Vorbilder verstand.¹⁵ Dass man sich einem Stilideal durch imitatio und aemulatio eines oder mehrerer Vorbilder immer weiter annähern kann, unterstellte die Möglichkeit zunehmender Perfektion und evozierte deshalb Fortschrittsmodelle. Die lateinischen Poetiken des 12. und 13. Jahrhunderts etwa waren von der Überzeugung durchdrungen, dass jede tractatio materiae besser sein kann als ihre Vorlage und neue Produkte ältere deshalb qualitativ zu übertreffen vermögen. Die Humanisten neigten zumindest anfangs eher zu einem Konzept der fortschreitenden Annäherung an ein kanonisiertes Vorbild, die durch den aemulativen Wettbewerb unter den Nachahmern vorangetrieben werden sollte. Dass die Konzepte von imitatio und aemulatio nicht auf ein einziges Vorbild bezogen werden mussten, sondern auch eklektisch gedacht werden konnten, eröffnete die Option, das Ergebnis selektiv-kombinatorischer imitatio und aemulatio als ein spezifisch persönliches einzuschätzen. Auf diesem Weg entstanden in der italienischen Renaissance sowohl im Diskurs über die sprachlichen artes als auch im Diskurs über Malerei, Skulptur und Architektur durch die Aktualisierung rhetorischer Kategorien Personalstilkonzepte, welche die Ästhetik später aufgreifen und umdeuten konnte. So kam in der Kontroverse zwischen Pico und Bembo über die Frage, ob die imitatio auctorum einem oder mehreren Vorbildern gelten sollte, das Argument auf, dass mehrere Vorbilder durch Selektion und Kombination einen persönlichen Stil ermöglichen.¹⁶ Noch 1636 definierte Agostino Mascardi Stil als je besondere, durch das 15 Eduard Norden: Die antike Kunstprosa vom VI. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der Renaissance. 2 Bde, Leipzig, Berlin 1898, Darmstadt 51958; Alexandru N. Cizek: Imitatio et tractatio. Die literarisch-rhetorischen Grundlagen der Nachahmung in Antike und Mittelalter, Tübingen 1994 (Rhetorik Forschungen 7), S. 64–117; Nicola Kaminski: Imitatio auctorum. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik (Anm. 5), Bd. 4 (1998), Sp. 235–285; dies.: Regulative und Normen der Textgestaltung (imitatio vs. aemulatio) / Regulations and norms of text composition (imitatio vs. aemulatio). In: Rhetorik und Stilistik (Anm. 7), Bd. 2 (2009), S. 1406–1417. 16 Le epistole De imitatione di Giovanfrancesco Pico della Mirandola e di Pietro Bembo. Hrsg. von Giorgio Santangelo, Florenz 1954, insbes. S. 28 und S. 42; Volker Kapp: Rhetorik und Stilistik der Neuzeit in Italien / Rhetoric and stylistics in modern Italy. In: Rhetorik und Stilistik (Anm. 7), Bd. 1 (2008), S. 206–226, hier S. 212  f.

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ingenium ermöglichte Handhabung sprachlicher Verfahrensweisen.¹⁷ Neu war daran nicht die Erklärung des Besonderen als selektive Aktualisierung des Allgemeinen, sondern eine zunehmende Neigung zu seiner positiven Bewertung, die das Gewicht des Ingeniums vergrößerte. Im italienischen Renaissancediskurs über Malerei und Skulptur konstituierte die Verbindung des neu etablierten Begriffs der Naturnachahmung mit dem der imitatio antiker Vorbilder ein Vollkommenheitsideal, das ein Personalstilkonzept als Differenzbegriff evozierte.¹⁸ In Vasaris Narrativ einer fortschreitenden Beherrschung der Naturnachahmung fungierten die Wiedergewinnung des antiken Ideals als Ziel und die göttliche Inspiration zusammen mit imitatio und aemulatio als Triebkräfte.¹⁹ Als persönliche maniera galt ihm jede Abweichung vom Ideal, der er aber zugleich eine verkaufsstrategische Funktion im Sinn einer Künstlersignatur zuschrieb.²⁰ Die Terminologie blieb schwankend: Im 16. Jahrhundert konnte maniera auch das allgemeine Ideal und stile die persönlichen Besonderheiten meinen; im 17. Jahrhundert bezeichnete maniera wie bei Vasari meistens die Abweichung vom inzwischen ‚klassizistisch‘ gewordenen Ideal.²¹ Dies begründete noch die Begriffsverwendung in Goethes Aufsatz Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl aus dem Jahr 1789: ‚Stil‘ ist hier Klassizismus, alles andere davon abweichende ‚Manier‘.²² Mit der Differenzierung zwischen antikem Ideal, seiner Wiedergeburt und einem regel- und entwicklungslosen mittleren Zeitalter dazwischen beförderte Vasari außerdem die Entstehung eines Epochenstilkonzepts aus den Kategorien imitatio und aemulatio, dem der Architekturdiskurs mit der Erfindung der Gotik bereits maßgeblich zugearbeitet hatte.²³

17 Lo stilo è un maniera particolare ed individua di ragionare o di scrivere, nascente dal particolare ingegno di ciascuno componitore, nell’applicazione e nell’uso de’ caretteri del favellare. („Der Stil ist eine besondere, individuelle Art des Sprechens oder Schreibens, die durch die besondere Begabung eines jeden in der Anwendung und im Gebrauch der Spracheigentümlichkeiten entsteht.“) – Agostino Mascardi: Dell’arte istorica (1636), Modena 1994, S. 288; Übersetzung nach Kapp (Anm. 16), S. 217. 18 Vgl. zum Folgenden den Überblick von Rosenberg u.  a. (Anm. 3), S. 667–686. 19 Giorgio Vasari: Le vite de’ più eccellenti architetti, pittori, e scultori italiani, da Cimabue insino a’ tempi nostri. A cura di Luciano Bellosi/Aldo Rossi, pres. di Giovanni Previtali, 2 Bde, Turin 1991; dt. Giorgio Vasari: Lebensläufe der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten. Übers. aus d. Italien. von Trude Fein, Nachw. von Robert Steiner, Zürich 2000.  – Philipp Sohm: Ordering History With Style: Giorgio Vasari on the Art of History. In: Antiquity and Its Interpreters. Hrsg. von Alina Alexandra Payne u.  a., Cambridge u.  a. 2000, S. 40–55; ders.: Style in the Art Theory of Early Modern Italy, Cambridge u.  a. 2001. 20 Rosenberg u.  a. (Anm. 3), S. 671. 21 Rosenberg u.  a. (Anm. 3), S. 674  f. 22 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, 21 Bde. Hrsg. von Karl Richter u.  a. Bd. 3,2: Italien und Weimar 1786–1790. Hrsg. von Hans J. Becker u.  a., München, Wien 1990, S. 186–191. 23 Markus Brandis: La maniera tedesca. Eine Studie zum historischen Verständnis der Gotik im Italien der Renaissance in Geschichtsschreibung, Kunsttheorie und Baupraxis, Weimar 2002; Ulrich Pfisterer: Donatello und die Entdeckung der Stile 1430–1445, München 2002.

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Ästhetik Unter dem Gesichtspunkt historischer Paradigmendifferenzen scheinen mir am ästhetischen Stildiskurs vor allem die Veränderungen an der rhetorischen Stillehre nach den neuen systemphilosophischen Prinzipien sowie die Umdeutungen der Konzepte Personal- und Epochenstil bemerkenswert. Wie aus Rhetorik Ästhetik wurde, lässt sich gut in Johann Christoph Adelungs Monographie Ueber den Deutschen Styl von 1785 verfolgen, die darauf zielt, die traditionelle rhetorische Systematik an die neue anthropologische Theorie der Seelenvermögen anzupassen.²⁴ Zu diesem Zweck entfaltet der ‚Zweyte Theil‘ über ‚Besondere Arten des Styles‘ eine Funktionalstilistik nach der rhetorischen Tradition, legt sie jedoch nach der Taxonomie der Seelenvermögen an: ‚Geschäfts-Styl‘ (pragmatische Schriftlichkeit), ‚historischer Styl‘ (Geschichtsschreibung) und ‚didaktischer Styl‘ (Wissenschaft) unterrichten den Verstand. Der ‚bildliche‘ oder ‚figürliche Styl‘ unterhält die Einbildungskraft, die ohne Beteiligung des begrifflich operierenden Verstands sinnliche Erkenntnis produziert. ‚Rührender‘, ‚pathetischer‘ und ‚erhabener Styl‘ lenken die – auch als ‚Leidenschaften‘ und ‚Affekte‘ etikettierten – ‚Gemüthsbewegungen‘, die am Verstand vorbei auf den Willen wirken, wobei sich vom Rührenden über das Pathetische zum Erhabenen die Wirkungsintensität steigert. ‚Bildlicher‘ und ‚gemütsbewegender Styl‘ fallen im ‚poetischen Styl‘ zusammen, der sich an Einbildungskraft und Gemütsbewegungen gleichermaßen richtet, indem er „höchste Lebhaftigkeit und Anschaulichkeit“ gewährt (Theil II, S. 66). Adelung operiert dabei noch mit dem alten Begriff der Dichtung als versifizierte Rede: „Die Prose spricht zum Verstande, die Poesie zu den untern Kräften“ (Theil II, S. 123); „poetische Prosa“ behandelt er eigens als Geschmacksverirrung (Theil II, S. 122  f.). Das entsprach, auch wenn es 1785 nicht mehr ganz state of the art war, Adelungs Verständnis nach offenkundig den Axiomen Baumgartens, der die alte Assoziation von Dichtung und Versifikation wegen der sinnlichen Qualitäten des Verses in der berühmten Definition poema oratio sensitiva perfecta est zunächst übernommen hatte.²⁵ Weder Poesie noch poetische Prosa, sondern ‚erdichtete Geschichte‘ – erfundene historia also – ist bei Adelung übrigens der Roman (Theil II, S. 108  f.): Insofern er Erfundenes erzählt, ist er im Unterschied zur ‚wahren‘ Historiographie teilweise, wegen seiner Orientierung am historiographischen Modell aber nicht vollständig auf die unteren Seelenkräfte angewiesen. Infolgedessen kann der Roman stilistisch alles, so wie im traditionellen rhetorischen Modell die Dichtung alles gekonnt hatte. Dass der Roman für Adelung, gerade weil er stilistisch alles kann, indes keine Poesie im

24 Johann Christoph Adelung: Ueber den Deutschen Styl. Erster Theil. Berlin 1785. Zweyter und dritter Theil. Berlin 1785, Repr. Hildesheim, New York 1974. 25 Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus [1735]. Hrsg. und übers. von Heinz Paetzold, Hamburg 1983, S. 10.

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Sinne der Ästhetik und noch nicht einmal ‚poetische Prosa‘ ist, zeigt den Paradigmenwechsel freilich besonders gut. Durch den Bezug auf die unteren Seelenvermögen erhält alles, was andere nun statt ‚Dichtung‘ auch ‚schöne Literatur‘ nannten und damit vom Versifikationskriterium ablösten,²⁶ im ästhetischen Paradigma eine spezifische Funktion für Erkenntnis und Willensbildung. Ein Text, der keinen anschaulichen und gemütsbewegenden Stil hat, kann sich nicht an die unteren Seelenvermögen richten und deshalb keine ‚schöne Literatur‘ sein. Auch mit dem Autonomiekonzept ließ sich der ‚poetische Styl‘ als ein aus der Aufklärungsanthropologie deduzierter, dem eigenen Anspruch nach empirischer Begriff gut verbinden: Autonom ist, was schön und nicht nützlich ist; schön ist, was sich an die unteren Seelenvermögen und nicht an den nützlichkeitsorientierten Verstand richtet.²⁷ Anschaulichkeit und Affekterregung gehörten selbstverständlich schon vor der Ästhetik zum weiten Funktionsspektrum der Dichtung. Solange es keine anthropologische Theorie der funktionalen Eigenständigkeit der unteren Seelenvermögen Wahrnehmung, Einbildungskraft und Gefühl gab, konstituierten sie den Dichtungsbegriff jedoch nicht. Die Ästhetik unternahm, was die Rhetorik nicht vermochte: Sie wies der ‚schönen Literatur‘ eine spezifische Funktion zu, indem sie sie von der begriffsgebundenen und nützlichkeitsorientierten Operationsweise des Verstands freistellte und als besonderen Stil geradezu identifizierte. Als Theorie der unteren Seelenvermögen interessierte sich die Ästhetik für diesen ‚poetischen‘ Stil; in die Zuständigkeit des Verstands fallende Stile dienten der Kontrastbildung. Die neue Anthropologie führte zu Positionen, die vor der Ästhetik konzeptionell nicht möglich waren: So geht Anschaulichkeit, die der konkretisierenden Exemplifikation eines vorgängigen Verstandesbegriffs dient, notwendigerweise an der Einbildungskraft vorbei und ist deshalb nicht poetisch, sondern rhetorisch. Dasselbe gilt für Gefühle, die zur Unterstützung einer vorgängigen verstandesgegründeten Willensentscheidung evoziert werden. Versifizierte exemplarische Erzählungen oder Bußpredigten konnten unabhängig von ihrer elokutionären Gestalt problemlos Dichtung im alten Sinn sein; kein stilistisches Verfahren, sondern nur eine Entpragmatisierung kann sie zu schöner Literatur im neuen Sinn machen. Indem die Ästhetik epistemische Grundlagen der Rhetorik in Abrede stellte, entzog sie ihr jede Zuständigkeit für poetische Texte und veränderte den Begriff des Poetischen radikal. Wer an spezifischen Eigenschaften poetischer Texte interessiert ist, wird aus den skizzierten Gründen vom Stilbegriff der Ästhetik ausgezeichnet versorgt. Auch jüngere

26 Rainer Rosenberg: Literarisch/Literatur. In: ÄGB 3: Harmonie-Material (2001), S. 676–736. 27 Karl Philipp Moritz: Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten. In: Karl Philipp Moritz: Werke in zwei Bänden. Hrsg. von Heide Hollmer/Albert Meier. Bd. 2: Popularphilosophie, Reisen, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1997, S. 943–957; ders.: Über die bildende Nachahmung des Schönen. In: Ebd., S. 958–991.

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Anschlusskonzepte wie die Entautomatisierung von Wahrnehmung und kulturellen Bedeutungspraktiken oder die Autonomisierung ausdrucksseitiger Materialität,²⁸ die nicht mehr unmittelbar aus der Aufklärungsanthropologie abgeleitet sind, aber die von der Ästhetik konzipierte Eigenständigkeit von Wahrnehmung und Einbildungskraft fortschreiben, leisten einem solchen Interesse beste Dienste. Gerade weil der ästhetische Stilbegriff vom Konzept der ‚schönen Künste‘ nicht ablösbar ist, taugt er exzellent dazu, vormodernen Texten Eigenschaften ‚schöner Literatur‘ zuzuschreiben. Zudem gelingt dies in vielen Fällen recht gut, weil die Repertoires der Ausdrucksformen, mit denen Stilpraktiken operieren, ziemlich beständig sind. Doch auch wenn die Geschichte der Stildiskurse gewiss nicht mit der des stilistischen Praxiswissens zusammenfällt, deuten die diskursgeschichtlichen Paradigmendifferenzen darauf hin, dass sich die kulturellen Bedeutungszuschreibungen, die den Gebrauch von Ausdrucksformen erst zu Stilpraktiken machen, schneller und zudem erheblich verändern. Umdeutungen der noch von der Rhetorik hervorgebrachten Konzepte des Personal- und Epochenstils machten die neue Anthropologie und der neue Wirklichkeitsbegriff des 18. Jahrhunderts unausweichlich.²⁹ Wegen der unüberbrückbaren Differenz zwischen kontingenter empirischer Wirklichkeit und Ordnungskonstruktionen des Verstands konnte die Subjektphilosophie den Stil jedes Einzelnen nur als natürlichen Ausdruck einer individuellen, jedes Weltverhältnis allererst begründenden Persönlichkeit verstehen und nicht als besondere Selektion aus überindividuellen Repertoires funktionaler Ausdrucksformen für Inhaltsformen. „Der Styl oder die Schreibart, in so fern man sich etwas Unterscheidendes oder Karakteristisches darunter denkt, ist bloß in der Eigentümlichkeit der Vorstellungsart eines jeden gegründet, in so fern sich dieselbe durchgängig im Ausdruck zeigt“, notierte Karl Philipp Moritz 1791 als ersten Satz der Grundlinien zu meinen Vorlesungen über den Styl; die 1793 und 1794 veröffentlichten Vorlesungen vollzogen die subjektphilosophische Umcodierung des Stilbegriffs radikal.³⁰ Als Ausdruck der Vermögen je individueller Seelen – und nicht mehr als funktionale Ausdrucksform für eine Inhaltsform – konnte Stil seit dem späteren 18. Jahrhundert kein Ergebnis technischer Operationen mehr sein; das technisch Herbeigeführte galt unter den neuen Prämissen vielmehr zunehmend als unauthentisch. Die Konzepte des atechnischen individuellen Stils, der Subjektphilosophie voraussetzt, und des in der Vormoderne denkbaren technischen Personalstils unter-

28 Terry Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart, Weimar 41994, S. 1–18 und passim. 29 Rosenberg u.  a. (Anm. 3), S. 652. 30 Karl Philipp Moritz: Grundlinien zu meinen Vorlesungen über den Styl. In: Werke (Anm. 27), Bd. 2, S. 908–910, hier S. 908; ders.: Vorlesungen über den Styl. Oder praktische Anweisung zu einer guten Schreibart in Beispielen aus den vorzüglichsten Schriftstellern. 2 Bde, Berlin 1793–1794; Ausgabe: Karl Philipp Moritz: Werke. Hrsg. von Horst Günther, 3 Bde, Bd. 3: Erfahrung, Sprache, Denken, Frankfurt a. M. 1981, S. 585–756.

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scheiden sich so gravierend, dass sie meines Erachtens terminologisch möglichst klar auseinandergehalten werden sollten. Weltverhältnis und Stil des Individuums konnten nun nicht mehr durch eine allgemeine Topik oder Ontologie bedingt sein, wohl und neuerdings aber historisch: An die Stelle von Natur- und Vorbildnachahmung hatte Johann Joachim Winckelmann als Triebkräfte der kunstgeschichtlichen Entwicklung Gesellschaftsordnung, Klima und Nationalcharakter gesetzt.³¹ Epochenstil entsteht im Anschluss an dieses Konzept als Ausdruck eines Kollektivs analog zum Individualstil als Persönlichkeitsausdruck; das Kollektiv muss dabei allerdings als eine Art entwicklungsfähiges Pseudosubjekt – Nation, Volk – aufgefasst werden. Stil ließ sich so als ein allen wahrnehmbaren Formen zugrundeliegendes Prinzip verstehen, das die Einmaligkeit eines individuellen oder kollektiven Subjekts im einzelnen Werk zur Anschauung bringt. In diesem Sinn bedeutet Stil in Hegels Ästhetik die „vollständige Vermittlung der Bedeutung als des Innern und ihrer Gestaltung im Äußeren und Erscheinenden“.³² Zum prototypischen Fall von Stil als Gestalt gewordener Idee – Ausdruck des in sich einheitlichen Individuums oder der in sich einheitlichen Kultur – avancierte das in sich einheitliche Kunstwerk. Ähnlich wie der Epochenstil war auch der Gattungsstil als dritte vom ästhetischen Diskurs hervorgebrachte Ausdifferenzierung des Stilbegriffs eine subjektphilosophische Analogiebildung zum Individualstil: Goethes ‚Naturformen der Dichtung‘ Epos, Lyrik und Drama sind ebenfalls Pseudosubjekte mit einem Weltverhältnis;³³ sie hypostasieren historische Zustände des 18. Jahrhunderts, die infolge ihres Gewordenseins selbstverständlich nicht völlig kontingent waren. Als Begriffe setzen sie jedoch voraus, dass – um Staigers Adjektivsubstantivierungen zu gebrauchen³⁴ – das Lyrische, Epische und Dramatische als überzeitliche Prinzipien in unterschiedliche historische Manifestationen gewissermaßen emanieren. Von funktionalistisch definierten Textsortenstilen als kulturellen Kommunikationskonventionen, die in historischen Textreihen erkennbar werden, unterscheiden sie sich in derselben Weise wie Individualstile von Personalstilen. Wenn Stil einer Persönlichkeit, Epoche oder Gattung im Werk eine Gestalt gibt, kommt ein subjekthaftes einheitsstiftendes Prinzip in wahrnehmbaren Formen zum Ausdruck. Aus diesem Konzept resultiert das stilanalytische Verfahren, eine den

31 Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums, Dresden 1764, Repr. Darmstadt 1982; Wolf Lepenies: Johann Joachim Winckelmann. Kunst- und Naturgeschichte im achtzehnten Jahrhundert. In: Johann Joachim Winckelmann 1717–1768. Hrsg. von Thomas W. Gaehtgens, Hamburg 1986, S. 221–237. 32 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik (1835–1838). Hrsg. von Friedrich Bassenge, Berlin 1955, S. 577  f. 33 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke (Anm. 22), Bd. 11,1,2: West-Östlicher Divan. Hrsg. von Karl Richter u.  a., München, Wien 1998, S. 194  f. 34 Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik, Zürich 1946.

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wahrnehmbaren Details zugrundeliegende Idee zu identifizieren, das Wölfflin als kunstgeschichtliche Methode kodifizierte und Walzel für die Literaturwissenschaft adaptierte.³⁵ Dort wurde es nicht allein in Geistesgeschichte und – modifiziert – werkimmanenter Interpretation, sondern auch im New Criticism und in der Explication de texte federführend; als Meister der Methode blieb Leo Spitzer in Erinnerung.³⁶ Der Gegensatz zwischen dem ästhetischen Konzept des Subjektausdrucks und dem rhetorischen Konzept funktionaler Ausdrucksformen lässt sich durch ein paar Zusatzannahmen scheinbar auflösen: Auch individueller Persönlichkeitsausdruck, kann man sagen, sei auf verfügbare Ausdrucksformen angewiesen, und Persönlichkeitsausdruck schließe weitere kommunikative Funktionen ja nicht aus. Die prinzipielle Differenz beseitigt das allerdings nicht: Der ästhetische Stilbegriff bezeichnet im Werk zur Anschauung gebrachte Einheitsprinzipien, die durch atechnische individuelle Subjekte – den Autor, das historische Kollektiv, die ‚Naturform‘ – begründet sind. Der rhetorische Stilbegriff kennt all dies nicht, sondern nur typisierte Wirkungsabsichten, welche die Verwendung allgemein verfügbarer Ausdrucksformen nahelegen und im Text nur solange für Einheitlichkeit sorgen, wie eine bestimmte Wirkungsabsicht verfolgt wird. Wenn man etwa – um ein ganz beliebiges Beispiel anzuführen – klären will, was ‚geblümter Stil‘ sein könnte, legt eine linguistisch modernisierte Rhetorik folgende Einschätzung nahe: Die Bedeutungen des Lexems blüemen indiziert sein historischer Gebrauch; untersucht werden muss deshalb zunächst, welche Form-Funktions-Korrelationen seine redebezogenen Verwendungen bezeichneten. Im Anschluss daran lassen sich die mehr oder weniger ausgedehnten Aktualisierungen dieser Korrelationen in einzelnen Texten identifizieren und beschreiben. Die Ästhetik legt dagegen die Einschätzung nahe, dass der redebezogene Gebrauch des Wortes blüemen den Autor als ‚Blümer‘ und seine Texte als ‚geblümt‘ identifiziert, also einheitsstiftende Prinzipien von Autorschaft und Werk indiziert. Was ,geblümter Stil‘ ist, erkennt man dann, indem man autortypische ausdrucksseitige Gestaltkonfigurationen in ganzen Texten respektive im ganzen Werk und einen ihnen zugrundeliegenden Sinn rekonstruiert. Diese Konfigurationen kann man schließlich noch in den Werken anderer ‚Blümer‘ suchen und im Erfolgsfall als einheitsstiftendes Epochenprinzip beschreiben. Dass die beiden Verfahren einander wechselseitig ausschließende Ergebnisse produzieren, liegt an den einander wechselseitig ausschließenden Phänomenkonstruktionen.³⁷

35 Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München 1915; Oskar Walzel: Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters, Berlin 1923. 36 Leo Spitzer: Stilstudien. 2 Bde, München 1928, 21961. 37 Das linguistisch-rhetorische Verfahren ist ausgeführt bei Gert Hübner: Lobblumen. Studien zur Genese und Funktion der ‚Geblümten Rede‘, Tübingen, Basel 2000 (Bibliotheca Germanica 41), das ästhetische zuerst bei Gustav Ehrismann: Untersuchungen ueber das mhd. Gedicht von der Minneburg. In: PBB 22 (1897), S. 257–341, und Otto Mordhorst: Egen von Bamberg und ‚die geblümte

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Linguistik Der linguistische Stildiskurs hat in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts sowohl Rhetorik als auch Literaturwissenschaft zu Rekonstruktionen ihrer Stilbegriffe gezwungen. Dabei traten so erhebliche epistemische Gemeinsamkeiten zwischen moderner Linguistik und vormoderner Rhetorik zutage, dass erstere inzwischen als historische Rache letzterer an der Ästhetik erscheinen könnte. Neben den offensichtlichen Verwandtschaften möchte ich indes auch epistemische Unterschiede zwischen vormoderner Rhetorik und moderner Linguistik akzentuieren und vor allem erläutern, weshalb der linguistische Stildiskurs poetologischen Interessen zwar analysetechnische, aber keine konzeptionellen Optionen eröffnet, die über diejenigen von Rhetorik und Ästhetik substantiell hinausreichen. Linguistische Stilistik, kann man bei Ulrich Püschel lesen, bezeichne weniger eine Disziplin oder Analyseebene, sondern eher ein „Frageinteresse“ „an der sprachlichen Gestalt von Texten und deren Bedeutung“.³⁸ Auch wenn dies kaum Hoffnungen auf eine terminologische Explizierbarkeit des sprachtextbezogenen Begriffs ‚Stil‘ schürt, scheinen Linguisten darunter am ehesten ein Ergebnis mündlichen oder schriftlichen Textgestaltungshandelns zu verstehen, das systemisch begründete und deshalb im Kommunikationsprozess interpretierbare Form-Funktions-Korrelationen herstellt. Das Textgestaltungshandeln kann ‚mikrostilistisch‘ auf einzelne Formulierungen in syntagmatischen Einheiten bezogen sein oder ‚makrostilistisch‘ auf Formulierungsrekurrenzen (Wiederholung, Variation, Kontrast als Abweichung von textinternen Regularitäten), Aktualisierungsweisen thematischer Entfaltungsmuster (Beschreiben, Erzählen, Argumentieren) und Textsortenmuster.³⁹ Als Handlungsprodukt ist Stil ein Gegenstand linguistischer Pragmatik. Wie alle kulturellen Praktiken beruht stilistisches Handeln auf Bedeutungszuschreibungen, weil Handlungen Interpretationskonstrukte sind.⁴⁰ Bedeutungszuschreibungen konstituieren Stilphänomene; wenn sie erst im Nachhinein erfolgen, konstituieren sie die Phänomene auch erst im Nachhinein. Synchron kann als Stil nur gelten, was syn-

Rede‘, Berlin 1911. Die ersten beiden Schritte des ästhetischen Verfahrens geht – verbunden mit einer scharfen Kritik des rhetorischen  – erneut Jan-Dirk Müller: schîn und Verwandtes. Zum Problem der ‚Ästhetisierung‘ in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg. (Mit einem Nachwort zu TerminologieProblemen der Mediävistik). In: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Hrsg. von Gerd Dicke u.  a., Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10), S. 287–307. 38 Ulrich Püschel: Kommunikativ-pragmatische Stilauffassungen/Communicative-pragmatic conceptions of style. In: Rhetorik und Stilistik (Anm. 7), Bd. 1 (2008), S. 1023–1037, hier S. 1033  f. 39 Barbara Sandig: Stilistik. Sprachpragmatische Grundlegung der Stilbeschreibung, Berlin, New York 1978; dies.: Textstilistik des Deutschen, Berlin, New York 22006; Püschel (Anm. 38), S. 1026  f. 40 Barbara Sandig: Handlung (Intention, Botschaft, Rezeption) als Kategorie der Stilistik / Action (intention, message, reception) as a stylistic category. In: Rhetorik und Stilistik (Anm. 7), Bd. 2 (2009), S. 1335–1347, hier S. 1337.

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chron als solcher erkennbar ist. Stil setzt demnach nicht nur produktionsseitige Wahlmöglichkeiten, sondern auch die rezeptionsseitige Erkennbarkeit der Wahl voraus. Der Begriff ‚Wahlmöglichkeit‘ bezieht sich dabei auf die Existenz eines Inventars von Alternativen, nicht auf notwendigerweise bewusste Wahl: Stilistisches Handeln kann sowohl reflektiert sein als auch Routinen aktualisieren.⁴¹ Rezeptionsseitig ist kein Stil identifizierbar, wenn keine Stile unterscheidbar sind.⁴² Mit dem Kriterium der synchronen Relationalität wird auch das der synchronen Außenwahrnehmung für den linguistischen Stilbegriff konstitutiv. Norbert Dittmars Bestimmung des Begriffs ‚Gruppenstil‘ etwa gründet darauf: „Ein gruppenspezifisches Ausdrucksrepertoire bezeichnen wir dann als ‚Stil‘, wenn das Ausdrucksrepertoire einer Gruppe A in der sozialen Perzeption einer Gruppe B als identitätsstiftende Gestalt wahrgenommen wird.“⁴³ Einen Epochenstil, der sich in allen Texten eines Zeitraums manifestiert, kann es synchron dann schwer geben: Indem die retrospektive Außenwahrnehmung Epochenstile anhand diachroner Differenzen konstituiert, kann sie Stilpraktiken a priori keine Bedeutungen zuweisen, die zur Zeit der Praktiken möglich waren. Die linguistische Stilforschung arbeitet gewöhnlich synchron gegenwartsorientiert, legt meines Erachtens jedoch wegen ihrer anti-essentialistischen Tendenz einen radikal kulturalistischen und damit auch radikal historistischen Standpunkt nahe: Dass Stil ein Produkt kultureller Stilpraktiken ist, bedeutet, dass er ein Produkt von Wahrnehmungsmustern und Bedeutungszuweisungen aus einem impliziten kulturellen Praxiswissen ist. Stil kann bei einer solchen Einschätzung nicht als etwas aufgrund einer Wissensordnung Gemachtes und aufgrund einer anderen Wahrgenommenes und mit Bedeutung Versehenes, aber immer noch mit sich selbst Identisches gedacht werden. In dem Maß, in dem Textgestaltungshandeln und Textrezeptionshandeln differieren, konstituieren sie verschiedene Stilphänomene. Aus dieser Perspektive sind sowohl der vormoderne (antike wie mittelalterlich-frühneuzeitliche) rhetorische als auch der ästhetische Stilbegriff essentialistisch, weil sie kulturell kontingente Wahrnehmungsmuster und Bedeutungszuweisungen hypostasieren. Ein nicht-essentialistischer Stilbegriff macht nun allerdings die Annahme unwahrscheinlich, dass das stilistische Praxiswissen einer Kultur allein aus den Produkten der Praktiken induzierbar ist, weil Eigenschaften der Produkte (einschließlich strukturell rekurrenter) kulturell kontingente Wahrnehmungsmuster und Bedeutungszuweisungen nicht zu erkennen geben. Die Einsicht, dass sich aus der Faktur eines Goethe-Gedichts kein historischer Stilbegriff ableiten, sondern höchstens mit

41 Püschel (Anm. 38), S. 1025. 42 Dies darf gegenwärtig als interdiskursives Gemeingut gelten; vgl. etwa auch Rosenberg u.  a. (Anm. 3), S. 647. 43 Norbert Dittmar: Zur Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Umbruchstile: terra incognita. In: Soziale Welten und kommunikative Stile. Fs. für Werner Kallmeyer. Hrsg. von Inken Keim u.  a., Tübingen 2002 (Studien zur deutschen Sprache 22), S. 284.

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einem historischen Stilbegriff die Bedeutung der Gedichtfaktur rekonstruieren lässt, ist selbstverständlich nicht neu, aber heutzutage womöglich genauer erklärbar. Ebenso lässt sich nicht aus den Stilpraktiken, sondern bestenfalls aus der kontextbedingten Glaubhaftigkeit der einschlägigen Explikationen Gottfrieds von Straßburg erschließen, ob er ein claritas-Ideal verfolgen wollte oder nicht; jenseits von deren Deutbarkeit ist der intendierte und für die primär adressierten Rezipienten verstehbare Sinn seiner Stilpraktiken heute schwer zugänglich. So bleibt beispielsweise der Schluss von forciertem Metapherngebrauch auf eine bestimmte Wirkungsfunktion und ihr kommunikatives Glücken unvermeidbar problematisch, wenn metaphorische Rede laut der zeitgenössischen Einschätzung Galfrids von Vinsauf je nach Art der Bedeutungsübertragungen sowohl der claritas dienen als auch obscuritas erzeugen kann.⁴⁴ Stilistisches Produktions- und Rezeptionshandeln weist einer ausdrucksseitigen Gestalt eine kulturelle Bedeutung zu, die keine logische Implikation der Gestalt, sondern Bestandteil des kulturellen Stilwissens ist. Synchron sind für dieses Wissen insbesondere Sprachhandlungstypen relevant, die sich in Textsortenmustern manifestieren (wissenschaftlicher Text: wissenschaftlicher Stil), sowie Sender-AdressatenBeziehungstypen (Selbstdarstellung als Einzelner oder Gruppenmitglied: Personalstil vs. Gruppenstil; Adressatenorientierung: formeller vs. informeller Stil).⁴⁵ Das Stilwissen vergangener Kulturen machen möglicherweise nur überlieferte historische Reflexionen zugänglich, die als Diskursivierungen jedoch eine unvermeidlich kontingente Relation zu den Praktiken haben. Vormoderner rhetorischer und moderner linguistischer Stilbegriff differieren  – außer in der terminologischen Formalisierung und Kohärenz  – in der essentialistischen respektive kulturalistischen Episteme, nicht dagegen in der Einschätzung von Stil als funktionsbestimmter Konstellation von Ausdrucksformen. Das liegt daran, dass pragmalinguistische wie rhetorische Wissensordnung glückendes kommunikatives Handeln zur Basiskategorie machen. In der Konzeptionalisierung des Handlungswissens als eines topischen Erfahrungs- respektive systemischen Regularitäten- und Deutungsprozedurenwissens ähneln antike Rhetorik und Pragmalinguistik einander, unterscheiden sich jedoch gemeinsam von der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Ontologie. Weil das Denken im langue-parole-Modell subjektphilosophische Positionen tendenziell ausschließt, wird das Individuelle wieder als Effekt selektiver Aktualisierungen des (systemischen) Allgemeinen verstanden, so dass das linguistische Konzept des Personalstils dem rhetorischen nahesteht. Die linguistische Unterscheidung zwischen personalen und typisierten Stilen akzentuiert indes, dass die Form-Funktions-Relationen bei personalen Stilen nicht konventionalisiert sind

44 Poetria nova (Anm. 13), V. 837–839 u. ö.; vgl. die Beiträge von Christoph Huber und Klaus Grubmüller in diesem Band. 45 Püschel (Anm. 38), S. 1028.

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und deshalb auch synchron keine auf einfacher Systemaktualisierung basierenden Bedeutungszuweisungen zulassen. Das Verstehen beruht in diesem Fall auf Deutungsprozeduren, die Implikaturen anhand von spezifischen Regelmäßigkeiten, Mustervariationen und Musterbrüchen erschließen und dadurch den Systembezug herstellen;⁴⁶ Voraussetzung ist aber stets synchrone Systemkompetenz. Der dem Stilbegriff in der Linguistik zugeschriebene Erkenntniswert, strukturelle Details einer holistischen Funktion zuzuordnen, stammt entgegen dem ersten Eindruck nicht aus dem ästhetischen, sondern aus dem rhetorischen Erbe. Stil  – ob typisiert oder personal – ist in diesem Sinn eine ganzheitliche Bezeichnung für funktionale Texteigenschaften als Resultat sinnhafter Gestaltungshandlungen, für ein einheitliches Funktionsprinzip also, das sich in unterschiedlichen strukturellen Einzelheiten manifestiert.⁴⁷ Konstituiert wird das einheitsstiftende Prinzip entweder durch konventionalisierte und damit von vornherein systemische Form-FunktionsKorrelationen  – wie insbesondere Textsortenmuster  – oder durch systemische Implikaturen nicht-konventionellen kommunikativen Handelns. Nicht subjektphilosophisch, sondern sprachsystemisch begründete einheitsstiftende Prinzipien setzen identifizierbare Textfunktionen voraus, und stilistische Verfahrensweisen lassen sich diesen umso leichter subsumieren, je weniger vielfältig und komplex sie ausfallen. Aus diesem Grund ‚funktioniert‘ linguistische Stilanalyse umso schlechter, je komplexer und funktional unterdeterminierter Texte sind. Während Dichtung für die vormoderne Rhetorik kein funktional, sondern ein formal definierter Texttypus und aus diesem Grund kein Problem war, stand am Prager Anfang der linguistischen Funktionalstilistik eine Taxonomie der ‚Funktionssprachen‘ Alltagskommunikation, Administration, Wissenschaft und – Belletristik.⁴⁸ Die einzelnen Typen sollten durch eine ihrer jeweiligen kommunikativen Funktion angemessene Verwendung sprachlicher Mittel konstituiert sein und wurden insbesondere in der Leipziger Linguistik zu einer differenzierteren Taxonomie von Funktionalstilen weiterentwickelt.⁴⁹ Das Konzept eines Funktionalstils Belletristik induziert freilich die Notwendigkeit, spezifische kommunikative Funktionen der Textsorte ‚schöne Literatur‘ und ihnen dienliche Verfahrensweisen zu identifizieren. Hier tritt nun ziemlich schlagartig zutage, dass auch der linguistische Diskurs für ‚schöne Lite46 Püschel (Anm. 38), S. 1028  f. 47 Püschel (Anm. 38), S. 1034  f. 48 Bohuslav Havránek: Úkoly spisovného jazyka a jeho kultura. In: Spisovná čeština a jazyková kultura. Hrsg. von Bohuslav Havránek/Miloš Weingart, Prag 1932, S. 32–84; dt. Die Aufgaben der Literatursprache und der Sprachkultur. In: Grundlagen der Sprachkultur. Beiträge der Prager Linguistik zur Sprachtheorie und Sprachpflege. Hrsg. von Jürgen Scharnhorst/Erika Ising, Teil 1, Berlin 1976, S. 102–141. 49 Wolfgang Fleischer/Georg Michel: Stilistik der deutschen Gegenwartssprache, Leipzig 1975. Vgl. im Überblick Ulrich Püschel: Stilistik der deutschsprachigen Länder vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart / Stylistics of the German-speaking countries from the beginning of the 20th century until the present. In: Rhetorik und Stilistik (Anm. 7), Bd. 1 (2008), S. 165–179, hier S. 174.

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ratur‘ spezifische Funktionen und Stilverfahren nur aus dem Begriff der ‚schönen Literatur‘ abzuleiten vermag, den die Ästhetik im 18. Jahrhundert hervorbrachte. Unvermeidlich erweist sich der belletristische Funktionalstil als die einzige Systemstelle der linguistischen Funktionalstilistik, die den Rückgriff auf die ästhetische Diskurstradition erzwingt. Wegen der Widersprüche zum sonstigen Theoriedesign zieht das jüngste funktionalstilistische Lehrbuch aus der Leipziger Tradition das Konzept einer funktional bestimmbaren Textsorte Belletristik mit einem textsortenbedingten Funktionalstil dann auch in Zweifel.⁵⁰ Wer an ihm festhält, muss auf Poetizitätsbestimmungen moderner Literaturtheorien rekurrieren.⁵¹ ‚Schöne Literatur‘ setzt dann alle denkbaren stilistischen Verfahrensweisen ein, löst sie aber von pragmatischen Funktionen ab und macht sie dadurch selbstbezüglich; Entpragmatisierung dient, gegebenenfalls zusammen mit Hyperstrukturierung und Normdeviation, der Entautomatisierung kultureller Bedeutungspraktiken und Wahrnehmungsautomatismen durch Verfahrensweisen, die semiotischen Gewohnheiten Widerstände entgegensetzen; dies eröffnet zugleich die Möglichkeit unterschiedlicher Sinnzuweisungen an übercodierte Textfakturen. Die Verbindung von Entpragmatisierung und Wahrnehmungsbezug macht das Erbe der Ästhetik unverkennbar. Bei Texten, die mit ästhetischen Kategorien definiert werden, ‚funktioniert‘ Funktionalstilistik nur, wenn auch die Funktion mit ästhetischen Kategorien bestimmt wird; ein Funktionalstil ‚vormoderne Dichtung‘ lässt sich auch mit dem Kategoriensystem des linguistischen Stildiskurses nicht generieren.

Schlüsse 1. Rhetorische Stilkonzepte waren zu allen Zeiten funktionalistisch; allerdings wurde der Zusammenhang zwischen Ausdrucksformen, Inhaltsformen und Funktionen in der Antike anders gedacht als in Mittelalter und Früher Neuzeit. Nie ging es dem rhetorischen Interesse an den Ausdrucksformen darum, Inhaltsformen und kommunikative Funktionen auszublenden oder zwischen ‚bloßer Formoberfläche‘ und ‚eigentlich relevantem Sinn‘ zu unterscheiden; stets ging es um die Leistungen des Konkreteren und Wahrnehmungsnäheren für das Abstraktere und Wahrnehmungsfernere. Um diese Leistungen erkennbar zu machen, lenkten rhetorische Stilkonzepte das Interesse auf das Konkretere und Wahrnehmungsnähere. Wenn die begriffliche Kategorie ‚Stil‘ weiterhin einen instrumentellen Erkenntniswert hat, den andere verfügbare Begriffe weniger gut erbringen, dann beruht er darauf.

50 Ulla Fix u.  a.: Textlinguistik und Stilistik für Einsteiger. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Leipzig 32003. 51 Prototypisch entfaltet bei Georg Michel: Stilistische Textanalyse. Eine Einführung. Hrsg. von Karl-Heinz Siehr/Christine Kessler, Frankfurt a. M. u.  a. 2001, S. 143–159.

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2. Rhetorischen und ästhetischen Stildiskurs verbinden nicht zuletzt Konzepte von Schönheit, wahrnehmungsnaher Anschaulichkeit und Selbstbezüglichkeit. In allen drei Fällen sind die historischen Differenzen jedoch gravierend. Die Vormoderne neigte zur Ansicht, dass Nutzloses weniger schön ist als Nützliches;⁵² in der Ästhetik ist das Schöne dagegen als Opposition zum Nützlichen konzipiert und setzt deshalb Entpragmatisierung voraus. Vormoderne Erkenntnistheorien schrieben der Wahrnehmung keine begrifflich uneinholbare Erkenntnisleistung zu; da Vers- oder Prosatexte mit Wörtern operieren, konnte das von ihnen Veranschaulichte nur begrifflich verfasst sein. Für die Ästhetik ist Wahrnehmung ein nichtbegriffliches Erkenntnisvermögen mit einer spezifischen Erkenntnisleistung; die Veranschaulichung eines Begriffs kann sich deshalb nicht an sie, sondern nur an den Verstand richten und folglich nicht ‚poetisch‘ sein. Vormoderne Selbstbezüglichkeit diente im Rahmen kultureller Identitätspraktiken der Kompetenzschulung und Kennerschaftsdemonstration. Die Moderne macht Selbstbezüglichkeit zur Folge von Entpragmatisierung und weist ihr als Funktion die Entautomatisierung kultureller Wahrnehmungs- und Bedeutungspraktiken durch die Autonomisierung der Ausdrucksform sowie in letzter Konsequenz auch der Ausdruckssubstanz – der ausdrucksseitigen Materialität also – zu. Insbesondere letzteres verlockt, weil es einen Anschluss an das ‚Präsenzkultur‘Konzept ermöglicht, gegenwärtig offenbar als avancierte mediävistische Option.⁵³ Die Ablösung der Ausdrucksseite von semantischer Intension und Referenz, die das Interesse noch über die Ausdrucksform hinaus auf die Ausdruckssubstanz lenkt, ist allerdings die historisch jüngste Konsequenz der Ästhetik in der Moderne: Als Entautomatisierungskunst ist das Gedicht die Ausstellung nicht nur der sprachlichen Form, sondern auch der Sprache als Material, ähnlich wie das Bild wegen einer solchen Funktion die Ausstellung nicht nur von Form und Farbe, sondern auch von Farbauftragung und Bildträger ist. Die Frage, in welchem Sinn kulturelle Präsenzpraktiken einer als spezifisch ‚mittelalterlich‘ eingeschätzten ‚Materialität der Zeichen‘ Gemeinsamkeiten beispielsweise mit den ästhetischen Praktiken Konkreter Poesie haben können, operiert meines Erachtens auf einem sehr hohen semiotischen Abstraktionsniveau, das den Erkenntniswert des Stilbegriffs überfordert, weil seine Wahrnehmungsnähe dabei eher forcierte Moderneprojektion als Historisierung evozieren wird. 3. Der linguistische Stilbegriff legt die Einschätzung nahe, dass stilistisches Praxiswissen nicht aus den Produkten der Praktiken selbst rekonstruiert werden kann, weil die Relation zwischen Ausdrucksformen und kulturellen Bedeutungszuweisungen kontingent ist. Historische Bedeutungen stilistischer Praktiken wären unter diesen Umständen ohne den Rekurs auf ihnen zeitgenössische historische Reflexions-

52 Pointiert in der berühmten gläsernen Säge bei Thomas von Aquino: Summa theologiae. In: Opera omnia iussu Leonis XII edita cura et studio Fratrum Praedicatorum, Bd. 8–12, Rom 1982–1906, I.91.3. 53 Vgl. dazu Haustein (Anm. 1).

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konzepte – Diskursivierungen also – nicht erkennbar. Mit der Diskursivierung treten explizite zeitgenössische Reflexionskonzepte indes in eine ebenfalls kontingente Relation zu den Praktiken; als Kriterium für ihre Zuverlässigkeit kommt am ehesten die Dichte übereinstimmender Kategorisierungen in Frage. 4. Wenn Stil das Produkt einer Bedeutungszuweisung ist, kann er als Textgestaltungs- und Rezeptionshandeln nur Bedeutungen haben, die den Textproduzenten respektive Rezipienten verfügbar sind. Weil historische Hermeneutik historische Bedeutungen nicht einfach simulieren kann, ist das Vergangene unvermeidlich eine Bedeutungskonstruktion mit den Mitteln der Gegenwart. Das ändert aber nichts daran, dass vormoderne Texte für ihre Produzenten und intendierten Rezipienten keine fakturalen oder funktionalen Eigenschaften haben konnten, die erst in der Retrospektive konstituierbar sind. Für moderne Rezipienten können sie solche Eigenschaften selbstverständlich haben. 5. Rhetorische wie linguistische Funktionalstilistik sind nützliche Erkenntnisinstrumente für vormoderne Vers- wie Prosatexte, deren stilistische Praktiken überschaubar und deren Funktionen im Einzelfall identifizierbar sind. Je komplexer die stilistischen Praktiken ausfallen, umso schwerer wird es, sie einem einheitsstiftenden Prinzip als holistischer Gesamtfunktion zuzuordnen; die „Stildissertationen unseligen Angedenkens“⁵⁴ bieten dafür mit ihren oft syntheselosen Formenklassifikationen unfreiwillig allerhand Anschauungsmaterial. Eine unklare holistische Funktion durch die Analyse komplex gestalteter Ausdrucksformen aufdecken zu wollen, muss nach gegenwärtigem Theoriestand als ziemlich aussichtslos gelten. Textfunktionen sind umso leichter identifizierbar, als ein Text historische Textsortenmuster mit diskursgeschichtlich als stabil dokumentierbaren, konventionalisierten Form-Funktions-Korrelationen aktualisiert. Dichtung war in der Vormoderne kein solches Textsortenmuster, weil sie formal und nicht funktional definiert war. Selbstverständlich konnte aber jeder einzelne Verstext oder jede Verstextpassage funktionale Textsortenmuster aktualisieren, wie es – nur beispielsweise – bei Verschroniken oder versifizierten Marienklagen der Fall ist. An Texten mit weniger klaren Funktionen – vormodernen etwa, denen wir heute nicht zuletzt wegen einer geringeren funktionalen Eindeutigkeit Eigenschaften ‚schöner Literatur‘ zuschreiben  – scheitert Funktionalstilistik ohne Rückgriffe auf die Diskurstradition der Ästhetik schon im Ansatz. Der ästhetische Stilbegriff kommt dagegen mit ausdrucksseitig übercodierten und funktional unterdeterminierten Texten gut zurecht, weil er Identitätsprinzipien hypostasiert: Schöne Literatur hat dann zwar in Grenzen variable, aber im Kern wesenhafte und deshalb historisch (wenigstens von Homer bis Philip Roth) konstante Funktionen, und vormoderne Texte mit diesen Funktionen sind ‚Literatur vor der Literatur‘. Die Begriffshypostasierung

54 Karl Stackmann: Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln. Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualität, Heidelberg 1958, S. 153.

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projiziert Eigenschaften von Ergebnissen komplexer Traditionsbildungs- und Transformationsprozesse so zurück, dass sich Identität unterstellen lässt, wo es vielgestaltigstes Anknüpfen und Verändern gab. 6. Der Erkenntniswert eines funktionalistischen, aber nicht idealistisch konzipierten Stilbegriffs besteht darin, dass er der gesamten ausdrucksseitigen Gestaltung einer Textpassage oder eines Textes ein holistisches Funktionsprinzip zuzuweisen versucht. Dies wird mit zunehmender Textkomplexität schwieriger. Form-FunktionsAnalysen einzelner sprachlicher Ebenen (Lautgestalt, Lexik, Syntax, Muster der thematischen Entfaltung wie etwa die Formen des narrativen discours) oder einzelner Verfahrensweisen (Metaphorik zum Beispiel) lassen sich dagegen auch bei komplexeren Texten leichter durchführen, weil die Forminventare dann überschaubarer und die Spektren denkbarer Funktionen kleiner sind. Vieles davon hat einen etablierten Platz in der germanistischen Mediävistik, ohne dass dafür auf einen Stilbegriff rekurriert werden müsste. Um manches, beispielsweise um die Syntax und ihre Relation zu Vers und Prosa, sollten wir uns mehr kümmern, aber auch dabei wäre der Stilbegriff verzichtbar. Der Analyse vieler mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Texte könnte er jedoch gerade wegen seiner holistischen Perspektive Erkenntnisoptionen eröffnen; geistliche Prosatraktate mit ihrem relativ breiten, aber erkennbaren Funktionsspektrum und ihren überschaubaren Ausdrucksformen wären dafür beispielsweise gute Kandidaten. Dass sich bei Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg oder Walther von der Vogelweide ein Werk- oder Personalstil identifizieren lässt, der die Komplexität der Ausdrucksformen so auf ein holistisches Funktionskonzept beziehen kann, dass dabei historische Bedeutungspraktiken erkennbar werden, kommt mir angesichts des gegenwärtigen Theorie- und Methodenstands dagegen sehr unwahrscheinlich vor. Das Epochenstilkonzept kann allein schon wegen seiner begrifflichen Konstruktion keinen Wert als historisches Erkenntnisinstrument haben; dass bestimmte Stilpraktiken zu bestimmten Zeiten in bestimmten Kommunikationsgemeinschaften aus bestimmten Gründen besonders beliebt sein können, bleibt davon selbstverständlich unberührt.

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stilus – calamus – griffel – stift Zur metonymischen Metaphorik des Stilbegriffs in der mittellateinischen und mittelhochdeutschen Literatur

Die Materialität des Stils und ihre metonymische Metaphorik ‚Stil ist Stiel, ist Griffel, ist Schreibgerät‘, sagt Hans Ulrich Gumbrecht in einem Beitrag über die Geschichte des Stilbegriffs, der in einem von ihm 1986 herausgegebenen Sammelband zum Thema ‚Stil‘ erschienen ist.¹ Gumbrecht behauptet dabei, dass im antiken und mittelalterlichen Gebrauch des Stilbegriffs die ursprüngliche Bedeutung eines Schreibwerkzeugs noch mindestens bis ins 14. Jahrhundert fassbar sei.² ‚Stil ist Stimme, ist Performanz‘, sagt Paul Zumthor in einem Beitrag desselben Sammelbands und verweist dabei auf seine bekannte These, dass die mittelalterliche Schriftpraxis und damit auch der mittelalterliche Stilbegriff von einer „Sphäre des Mündlichen“ durchdrungen seien, die nie ganz verschwinde.³ Namentlich Gumbrecht und implizit auch Zumthor vertreten die Auffassung, dass die Semantik von stilus auf ein Konkretum in der Bedeutung von Schreibinstrument zurückgehe und dass die Metaphorisierung des graphischen Werkzeugs im Sinne eines sprachlichen Ausdrucksverhaltens noch lange nachwirke. Der vorliegende Beitrag setzt sich zum Ziel, diese These an konkreten Textbelegen der mittellateinischen und mittelhochdeutschen Literatur zu überprüfen. 1 So sinngemäß Hans Ulrich Gumbrecht: Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des Stilbegriffs. In: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1986 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 633), S. 726–788; Nachdruck in ders.: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, München 2006, S. 159–209. 2 Nach Hans Ulrich Gumbrecht: Stil. In: RLW 3 (2003), S. 509–513, hier S. 509b, findet sich der erste Beleg bei Terenz, Andria, Prolog, V. 12: dissimili oratione sunt factae ac stilo (über Menanders Andria und Perinthia zit. nach Terenz Komödien, Bd. 1. Hrsg., übers. und komm. von Peter Rau, Darmstadt 2012 [Edition Antike], S. 14). Vgl. auch Wolfgang G. Müller: Topik des Stilbegriffs. Zur Geschichte des Stilverständnisses von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1981 (Impulse der Forschung 34), S. 6  f. 3 So sinngemäß Paul Zumthor: Mittelalterlicher ‚Stil‘. Plädoyer für eine ‚anthropologische‘ Konzeption. In: Stil (Anm. 1), S. 483–496, Zitat S. 487. Zu Aspekten der „Präsenz und Performanz“ des mittelalterlichen Stilbegriffs jetzt auch Jens Haustein: Mediävistische Stilforschung und die Präsenzkultur des Mittelalters. Mit einem Ausblick auf Gottfried von Straßburg und Konrad von Würzburg. In: Textprofile stilistisch. Beiträge zur literarischen Evolution. Hrsg. von Ulrich Breuer/Bernhard Spies, Bielefeld 2011 (Mainzer historische Kulturwissenschaften 8), S. 43–60, bes. S. 50–52.

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Gumbrechts Behauptung, dass „der Gebrauch des Prädikats ‚stilus‘“ in Antike und im Mittelalter „in seinen heute geläufigen Bedeutungen noch als Metapher erfahren worden“ sei,⁴ wäre dabei unter rhetorischen oder, wenn man so will, stilistischen Gesichtspunkten zu überprüfen, denn offensichtlich handelt es sich bei der Bedeutungsverschiebung weniger um eine Metapher als um eine Metonymie: Der stilus als Schreibgerät steht für die mit ihm auf einem Beschreibstoff eingetragenen Schriftzeichen und weiter für die ‚Eigenart‘ oder ‚Manier‘ der in Schriftform enkodierten Texte. Zwischen dem Instrument und der Schrift bzw. dem Text besteht also ein Verhältnis von Erzeuger und Erzeugnis bzw. von Ursache und Wirkung, wie es für metonymische Relationen charakteristisch ist.⁵ Macht man sich dieses metonymische Verhältnis bewusst, so erscheint es angebracht, von einer metonymischen Metaphorik des Stilbegriffs zu sprechen, liegt doch eine metonymische Kernbeziehung zwischen dem stilus als Schreibinstrument und der damit erzeugten Schrift vor. Der stilus aber wird von einer menschlichen Hand geführt, die zu einem Körper gehört, dessen Aktionen von einem menschlichen Bewusstsein geleitet werden. Dies ist die eine Seite der Verlängerung der Kernbeziehung von stilus und Schrift. Auf der anderen Seite der Verlängerung stehen die Schrift, die je nach der ‚Eigenart‘ und ‚Manier‘, welche das den stilus führende menschliche Bewusstsein hat, andere Formen aufweist, ferner der Text, dessen sprachliche Ausdrucksweise seinerseits vom Bewusstsein des Schreibers abhängt. Auf diese Weise sind mentale, körperliche und materielle Komponenten an der Stilform eines Textes beteiligt. Es bietet sich in diesem Zusammenhang an, auf die Forschungen des französischen Ethnologen André Leroi-Gourhan zu verweisen, der die Entwicklung von Technik, Sprache und Kunst mit der Formel „Le geste et la parole“ („Hand und Wort“) beschrieben hat.⁶ Leroi-Gourhan zeigt auf, wie die Entwicklung der linearen Schrift in den „mediterranen und europäischen Zivilisationen“ an die Herstellung von graphischen Werkzeugen gebunden war: Die „Hand als Mittel zur Schaffung“ und Nutzung graphischer Werkzeuge entwickelte sich dabei in etwa demselben Maße, wie sich die stimmlichen Organe in Hals und Mund „als Mittel zur Schöpfung der gesprochenen Sprache“ ausformten. Die Hand ermöglichte die „Schöpfung eines graphischen Ausdrucksmodus“, was sich wohl mit stilus in der eingangs vorgeführten Definition nach Gumbrecht übersetzen ließe. Dieser Ausdrucksmodus hat nach Leroi-Gourhan „gleiches Gewicht […] wie die gesprochene Sprache“.⁷ Hierin drückt sich die Ansicht aus, dass die Stimme und die gesprochene Sprache als Äquivalente der Hand und der

4 Gumbrecht (Anm. 1), S. 735, ähnlich S. 741. 5 Vgl. stellvertretend Marc Bonhomme: Le discours métonymique, Bern 2005 (Sciences pour la communication 79). 6 Vgl. André Leroi-Gourhan: Le geste et la parole, 2 Bde, Paris 1964 und 1965; dt. Übers. von Michael Bischoff: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Mit 153 Zeichnungen des Autors, Frankfurt a. M. 1988 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 700). 7 Alle Zitate Leroi-Gourhan (Anm. 6), dt. Übers., S. 261.

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von ihr produzierten Graphien zu betrachten seien. Diese Auffassung wäre mit der erwähnten Position Paul Zumthors vermittelbar, der gerade im Hinblick auf die mittelalterliche Schriftlichkeit den unleugbaren Kontext oraler Ausdrucksweisen betont. Dass der von der menschlichen Hand ausgeführte Graphismus eine auch im etymologischen Wortsinn zu verstehende ‚Manier‘ (von manus) und damit ‚Stil‘ bzw. ‚Eigenart‘ ist, gilt im Übrigen auch als Prämisse soziologischer Forschung. In diesem Zusammenhang ist auf Pierre Bourdieu zu verweisen, der den Habitus gesellschaftlicher Gruppen, d.  h. deren soziales Verhalten und dessen Wahrnehmung, in einem „Raum der Lebensstile“ verortet, womit die „repräsentierte soziale Welt“ gemeint ist.⁸ Als ein Beispiel für den so verstandenen ‚Habitus‘ nennt Bourdieu ausdrücklich das „‚Schreiben‘“.⁹ Der Habitus drücke sich darin aus, dass er „stets die gleiche Schrift erzeug[e]“, dies unabhängig von „Größe, Stoff und Farbe der Schreibunterlage (Blatt Papier oder Schiefertafel)“ und unabhängig von dem benutzten Schreibinstrument – Bourdieu nennt stellvertretend „Füller oder Kreide“.¹⁰ ‚Stil‘, so ließe sich in unserem Zusammenhang folgern, drückt sich also paradigmatisch im Schreiben aus und ist damit Teil eines umfassenderen gesellschaftlichen Lebensstils, den Bourdieu unter dem Ausdruck ‚Habitus‘ fasst. Ehe nun auf den metonymisch-metaphorischen Gebrauch des stilus-Begriffs in mittelalterlichen Texten einzugehen ist, soll das bisher Ausgeführte an einem Bildbeispiel verdeutlicht werden. Dies kann anhand der bekannten Artes-Miniatur aus dem Hortus deliciarum der Herrad von Hohenburg (um 1176–1196) geschehen (Bl. 32r). Darin wird die personifizierte Rhetorik mit einem Griffel und einer Wachstafel dargestellt: stilus und tabula, wie es in der Beischrift heißt (vgl. Abb. 1).¹¹ stilus und tabula fungieren hier als Attribute der in weiblicher Gestalt dargestellten rhetorischen Kunst. Zugleich aber ist stilus – nunmehr im metonymisch-metaphorischen Verständnis – Teil der in der allegorischen Figur repräsentierten Rhetorik, man denke etwa an die Lehre 8 Vgl. Pierre Bourdieu: La distinction. Critique sociale du jugement, Paris 1979; dt. Übers. von Bernd Schwibs/Achim Russer: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1982 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 658), bes.: „Der Habitus und der Raum der Lebensstile“, S. 277–354, hier S. 278. Zur „Manier“ als „Stil“ und „Eigenart“, als „eine symbolische Manifestation […], deren Sinn und Wert gleicherweise von dem abhängt, der sie wahrnimmt, wie von dem, der sie äußert“ (S. 120). Eine Bezugsetzung der so verstandenen „Manier/maniera“ (hier als „Leitbegriff“, unter dem „in der Kunst- und Literaturwissenschaft die Frage der Darstellung und des Stils diskutiert“ wird) mit dem „Begriff der ‚Manieren‘“ und dem „Manierismusbegriff“ (Einleitung, S. 7) verfolgt der Sammelband Manier – Manieren – Manierismen. Hrsg. von Erika Greber/Bettine Menke, Tübingen 2003 (Literatur und Anthropologie 18). 9 Bourdieu (Anm. 8), dt. Übers., S. 282. 10 Ebd. 11 Herrad of Hohenbourg: Hortus Deliciarum. Hrsg. von Rosalie Green/Michael Evans/Christine Bischoff/Michael Curschmann, 2 Bde (Commentary, Reconstruction), London 1979 (Studies of the Warburg Institute 36), Reconstruction, S. 57, Commentary, S. 104–106. Dazu stellvertretend mit weiterer Literatur Michael Stolz: Artes-liberales-Zyklen. Formationen des Wissens im Mittelalter, 2 Bde, Tübingen, Basel 2004 (Bibliotheca Germanica 47), Bd. 1, S. 137–141.

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Abb 1: Bl. 32r

der drei Stilarten (häufig unterschieden als stilus gravis – mediocris – humilis).¹² Eine ähnliche, fachbezogene Funktion hat der Hundekopf (caput canis) in der Hand der neben Rethorica stehenden Personifikation der Dialektik; er dürfte auf die ‚bissige‘ oder ‚verschlagene‘ Rede verweisen, die in antiken Artes-Texten thematisiert wird.¹³ Im Vergleich mit der personifizierten Dialektik, die auf den Hundekopf mit einer lehrhaften, ja schulmeisterlichen Geste deutet, fällt die elegante Haltung der Rethorica

12 Vgl. zur Lehre der drei Stilarten als Bestandteil der mittelalterlichen Rhetorik und Poetik Paul Klopsch: Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters, Darmstadt 1980 (Das lateinische Mittelalter), S. 111; S. 136 (zu Galfrid von Vinsauf im Anschluss an Horaz und Vergil); S. 151 (zu Johannes de Garlandia Rota Vergilii) u. ö. 13 Vgl. Stolz (Anm. 11), S. 140 mit Anm. 82.

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ins Auge. Der Oberkörper ist dem Betrachter zugewandt; unterhalb der Wespentaille vollführt Rethorica mit dem linken Bein einen tänzelnden Schritt, wobei die Schuhe unter dem blauen Gewand hervorragen. Die linke Hand bietet die in einer formvollendeten Diptychon-Form gestaltete Wachstafel dar; die Rechte trägt mit extravaganter Biegung den stilus zur Schau.¹⁴ Die Handhaltung wird dabei im wörtlichen Sinne zur Manier: in der Pose der Rethorica drücken sich ‚Stil‘, ja die Vornehmheit und der Geltungsanspruch der rhetorischen Kunst aus. Der im Bogenfeld oberhalb von Rethorica angebrachte Hexameter lautet: Causarum vires per me rethor alme requires („Die in Streitfällen benötigten Techniken wirst du, holder Redner, durch mich erwerben“). Damit ist, anders als in der Bilddarstellung, der performativ und mündlich geprägte ‚Raum der Lebensstile‘ vor Gericht erwähnt. Die Eleganz der Rethorica kommt auch im Vergleich mit anderen Schreiberbildern innerhalb der Artes-Miniatur zum Ausdruck: Die unterhalb der personifizierten Philosophie positionierten Philosophen Sokrates und Plato sind ihrerseits mit Schreibgeräten dargestellt. Allerdings schreiben beide nicht auf Wachstafeln, sondern auf Pergamentcodices; bei den Schreibgeräten dürfte es sich entsprechend nicht um metallene Schreibgriffel (stili) handeln, sondern um aus Pflanzen, besonders aus Schilfrohr, oder aus Federn hergestellte Schreibgeräte – sogenannte calami, die es ermöglichten, mit Tinte auf einem Beschreibstoff zu schreiben. In der Linken des Sokrates ist zudem ein Federmesser zu erkennen, das in den mittelalterlichen Schreibstuben zum Spitzen der calami und zur Korrektur der Tinteneinträge diente.¹⁵ Von den lateinischen Ausdrücken stilus und calamus herkommend, sind nunmehr deren deutschsprachige Entsprechungen in den Blick zu nehmen. Gemäß den Belegen in mittelalterlichen Glossarien lauten die Äquivalente für lateinisch stilus: griffel oder stil do mit man schreibt; für lateinisch calamus begegnen neben dem ebenfalls bezeugten griffel auch: halm, ror, feder oder schrip federn.¹⁶ Dieses lateinisch-deutsche Wortfeld soll im Folgenden anhand exemplarischer Texte ausschnitthaft betrachtet werden.

14 Lieselotte E. Saurma (Heidelberg) machte mich auf vergleichbare Gesten in Darstellungen der Tugenden mit Lanze aufmerksam, deren Hände jedoch nicht denselben Biegungsgrad aufweisen, so in einer Miniatur der Bamberger Apokalypse (Bamberg, Staatsbibliothek, Msc.Bibl.140, Bl. 60r, Reichenau um 1010) und bei Skulpturen am nördlichen Portal der Westfassade des Straßburger Münster (späteres 13. Jahrhundert). 15 Vgl. zu den erwähnten Schreibwerkzeugen stilus (auch: graphius, davon deutsch Griffel) und calamus W[ilhelm] Wattenbach: Das Schriftwesen im Mittelalter, 3. Aufl., Leipzig 1896, Nachdruck Graz 1958, S. 219–232; Karin Schneider: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung, Tübingen 1999 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte, B: Ergänzungsreihe Nr. 8), S. 117. 16 Belege nach: Glossarium latino-germanicum mediae et infimae aetatis. Hrsg. von Lorenz Diefenbach, Frankfurt a. M. 1857, Nachdruck Darmstadt 1968, S. 88c (calamus); S. 552c (stilus); Novum glossarium latino-germanicum mediae et infimae aetatis. Hrsg. von Lorenz Diefenbach, Frankfurt a. M. 1867, Nachdruck Aalen 1964, S. 65b (calamus); S. 348b (stilus).

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stilus bei Alanus ab Insulis Einen Beleg für die übertragene Verwendung des lateinischen Begriffs stilus liefert Alanus ab Insulis in seinem um 1182/83 vollendeten Hexameterepos Anticlaudianus:¹⁷ Der auf einen Prosaprolog folgende Versprolog enthält den Terminus prominent in der Eingangszeile, wo der Ausdruck stilus als erstes Wort nach der Zäsur begegnet: Autoris mendico stilum falerasque poete („Des Urhebers Schreibgerät bzw. Stil erbitte [erbettle] ich  – und den Schmuck [die Metallbeschläge bzw. militärischen Ehrenabzeichen] des Dichters“; S. 57, V. 1). Mit diesen Worten erfleht der Dichter die Inspiration von keinem Geringeren als dem heidnischen Gott Phoebus Apollo, der im folgenden Vers 7 direkt angesprochen wird (Fonte tuo sic, Phebe, tuum perfunde poetam, „Mit deiner Quelle, o Phoebus, durchströme deinen Dichter“). Die im Eingangsvers erbetenen Güter  – stilus und falerae – können sowohl in einem wörtlichen als auch in einem übertragenen Sinn verstanden werden, dies nach einem Modell gestufter Hermeneutik, das Alanus in dem unmittelbar vorausgehenden Prosaprolog mit einem Verweis auf den allegorischen Schriftsinn ausdrücklich erwähnt (S. 56). stilus bezeichnet das ‚Schreibgerät‘, aber eben auch den ‚Stil‘ im Sinne einer „Manifestation literarischer Form“.¹⁸ Die falerae (klassisch lateinisch: phalerae) evozieren die Vorstellung von Metallbeschlägen an Rüstungen (Helm und Panzer, auch am Pferdegeschirr) – so die ursprüngliche Bedeutung des Wortes; sie implizieren aber zugleich eine militärische Auszeichnung, wie sie häufig als Schmuck an antiken Rüstungen angebracht war; und sie bezeichnen eben diesen ‚Schmuck‘ oder ‚Dekor‘:¹⁹ Falerae sind also der Schmuck des Dichters als

17 Vgl. zu Alanus ab Insulis zuletzt Alain de Lille, le docteur universel. Philosophie, théologie et littérature au XIIe siècle. Actes du XIe Colloque International de la Société Internationale pour l’Etude de la Philosophie Médiévale, Paris, 23–25 octobre 2003. Hrsg. von Jean-Luc Solè̀re/Anca Vasiliu/ Alain Galonnier, Turnhout 2005 (Rencontres de philosophie médiévale 12); Alain von Lille: Regulae theologiae. Regeln der Theologie. Lateinisch – Deutsch. Übers. und eingel. von Andreas Niederberger/Miriam Pahlsmeier, Freiburg, Basel, Wien 2009 (Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters 20), Einleitung, S. 19–26. Zum Anticlaudianus Michel Lemoine: Alain de Lille et lʼécole de Chartres. In: Alain de Lille, le docteur universel, S. 47–58, bes. S. 54–57; Stolz (Anm. 11), S. 192–196 (mit weiterer Literatur). Zitiert wird im Folgenden nach Alain de Lille: Anticlaudianus. Texte critique avec une introduction et des tables. Hrsg. von R[obert] Bossuat, Paris 1955 (Textes philosophiques du Moyen Age 1). Deutsche Übersetzung: Alanus ab Insulis. Der Anticlaudian oder Die Bücher von der himmlischen Erschaffung des Neuen Menschen. Ein Epos des lateinischen Mittelalters. Übers. und eingel. von Wilhelm Rath, 2. Aufl., Stuttgart 1983 (Aus der Schule von Chartres 2); englische Übersetzung: Alain of Lille: Anticlaudianus or The Good and Perfect Man. Translation and commentary by James J. Sheridan, Toronto 1973. 18 Gumbrecht (Anm. 2), S. 509a. 19 Vgl. jeweils unter dem Lemma phalerae: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Aus den Quellen zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten unter Berücksichtigung der besten Hilfsmittel ausgearbeitet von Karl Ernst Georges, 2 Bde, unveränd. Nachdruck der 8. verb. Aufl., Basel, Stuttgart 1967, Bd. 2, Sp. 1679a/b; Langenscheidts

stilus – calamus – griffel – stift 

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Auszeichnung seiner poetischen Kunst, aber auch der Schmuck oder Dekor, den der Dichter der Sprache verleiht und durch den er seinerseits die ersehnte Auszeichnung seiner Dichtergabe erlangen kann. Eine ähnliche Mehrdeutigkeit bestimmt den Ausdruck stilus, der dem Wort falerae vorangeht: Er bezeichnet das ‚Schreibwerkzeug‘ des Dichters, in dem sich dessen ‚Stilverhalten‘ manifestiert, aber zugleich dieses ‚Stilverhalten‘ selbst. Mit dem so verstandenen stilus erhofft der Verfasser des Anticlaudianus – beschenkt durch die Dichtergabe des Phoebus Apollo – zu literarischem Ruhm zu gelangen. Dass die erbetenen Güter stilus und falerae helfen sollen, den Dichter vor literarischer Trägheit zu bewahren, wird in den auf den Eingangsvers folgenden Zeilen erläutert. Der Dichter erfleht diese Gaben ausdrücklich als Mittel gegen „Schlaffheit“ (segnicie, S. 57, V. 2) und gegen einen „erlahmenden Griffel“ (calamus […] torpens, S. 57, V. 3). Damit sind nun  – ex negativo  – Konnotationen der wörtlichen Bedeutungen von falerae und stilus aufgegriffen: die militärischer Auszeichnung entgegenstehende Trägheit (segnicies) und der lahm bzw. starr werdende Griffel (calamus torpens).²⁰ Ähnlich ist in Vers 6 von der tenuis harundo, dem „dünnen“ bzw. „schwachen Schilfrohr“ die Rede, in dem sich die Muse bereits ausgelassen rege. Für harundo sind ebenfalls die Bedeutungen ‚Schreibinstrument‘ und ‚Stil‘ belegt, ferner die eines aus Schilfrohr hergestellten Blasinstruments – es eröffnet sich an dieser Stelle also ein ganzes Bedeutungsspektrum für eine aus natürlichem Material gewonnene künstlerische Betätigung.²¹ In den davor liegenden Versen 2 bis 5 spielt Alanus souverän mit einem Topos, den er auch sonst vielfach in seinen Dichtungen verwendet, jenem der Verjüngung: Die in Vers 2 erwähnte Clio, welche hier namentlich als Muse der Dichtkunst erscheint, soll eben gerade nicht durch die semantisch negativ besetzte „Schlaffheit“ (segnicies) des Dichters altern: ne […] senescat lautet der ausdrücklich vorgetragene Wunsch – wohl ein Wortspiel (genauer eine Paronomasie bzw. Adnominatio)²² mit segnicies. Ähnlich wird in Vers 4 betont, dass sich der alte Beschreibstoff Papyrus (uetus […] carta) durch die neue Schreibart verjüngen möge: Scribendi nouitate […] iuuenescere. Der Ausdruck scribendi nouitas entspricht dabei seinerseits der übertragenen Bedeutung des Konkretums stilus: Das „alte Blatt“ soll sich durch eine „erneute Beschriftung verjüngen“; damit ist – wie bei dem Schreibgerät – die materielle Seite des Schreibvorgangs Handwörterbuch Lateinisch-Deutsch. Bearbeitet von Erich Pertsch auf der Grundlage des MengeGüthling, Berlin, München, Zürich 1971, S. 440b (ein entsprechender Artikel im Mittellateinischen Wörterbuch, vgl. Anm. 21, ist bislang nicht erschienen). 20 Der Ausdruck calamus begegnet auch zweimal im Prosaprolog, S. 55, Z. 3 und Z. 20. 21 Vgl. Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert. 4 Bde. Hrsg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, München 1967–2008, Bd. 1 (1967), Sp. 1007  f. (arundo). 22 Vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, 3. Aufl., Stuttgart 1990, § 637–639, S. 322–325; Christian Wagenknecht: Wortspiel. In: RLW 3 (2003), S. 864–867, bes. S. 865b.

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im Blick. Zugleich aber ist eine „neue Schreibweise“ (nouitas scribendi), mithin ein neuer ‚Stil‘, angezielt, den sich der Dichter durch die Inspiration des Phoebus Apollo erhofft. Neben dem Versprolog ist die stilus-Metaphorik auch in einer weiteren Inspirationsbitte relevant, die Alanus später an einer für die Handlung entscheidenden Stelle einschaltet. Der Anticlaudianus handelt bekanntlich von der Erschaffung eines neuen Menschen (homo novus), der das von Alanus propagierte Innovationskonzept geradezu verkörpert. Während die personifizierte Natura und die Tugenden die leibliche Gestalt des homo novus zu bilden vermögen, bedarf es für die Kreation der Seele des göttlichen Beistands, den die personifizierte Klugheit auf einer Himmelsreise einholt. Als die Klugheit während ihrer Fahrt durch die Sphären in einem von den Artes liberales erbauten Himmelswagen die Grenzen des Kosmos überschreitet und in jenseitige Sphären gelangt, vertraut sie sich der personifizierten Theologie an und wechselt ihren Namen (von Prudentia zu Phronesis). Eingeleitet werden diese Wandlungen durch ein neuerliches Inspirationsgebet des Dichters, der sich nunmehr statt an Apollo an den göttlichen Schöpfer wendet (Buch V des Anticlaudianus, S. 131  f., V. 265–305). In Vers 270  f. wird ausdrücklich gesagt, dass Apollo einer „himmlischen Muse“ und die Muse des Versprologs (also Clio) dem Jupiter – wie der christliche Gott hier genannt wird – weichen mögen. Für des Dichters Schreibinstrument und – wie wohl aus dem Versprolog (V. 3) abgeleitet werden kann  – auch für seinen ‚Stil‘ steht an dieser Stelle allein der Begriff calamus: Angesichts der erflehten göttlichen Inspiration bekennt der Dichter, dass er selbst zum „Schreibrohr dieses Liedes“ werden möchte: Carminis huius ero calamus (S. 131, V. 273) – wobei der Ausdruck calamus wiederum pointiert nach der Zäsur steht. Ausdrücklich betont der Dichter, dass er sich mit seinem Stilverhalten in dem von Gott gelenkten Schreibwerkzeug materialisiere, ohne dass er die Rolle eines selbständigen Schreibers oder Vermittlers bzw. Darstellers – non scriba uel actor (S. 131, V. 273) – übernehmen wolle. Als Paradigmen des göttlichen Werkzeugs, das der Dichter zu werden erhofft, begegnen neben der calamus-Metapher in Vers 274  f. weitere Sinnbilder für Instrumente künstlerischer Betätigung, so u.  a. das „tönende Erz“ (Es resonans, nach I Cor 13,1), der „schweigende Papyrus des Schreibers“ (reticens scriptoris carta), der „Meißel des Bildhauers“ (sculptoris scalprum) und der „Kehlkopf des Sängers“ (canentis fistula) – wobei zu beachten ist, dass das Wort fistula wörtlich das Hohlrohr bezeichnet und, ähnlich wie calamus oder harundo, metonymisch für ein daraus hergestelltes Blasinstrument oder Werkzeug stehen kann.²³ Auffällig ist, dass die graphischen Metaphern wie calamus und carta mit solchen akustisch-stimmlicher Ausrichtung wie dem „tönenden Erz“ und der „Kehle des Sängers“ zusammenwirken. Dabei klingen in den genannten Werkzeugen, besonders deutlich etwa in dem wiederum als Wortspiel (Paronomasie bzw. Adnominatio) vorgeführten Meißel (sculptoris scalprum), Bildvor-

23 Vgl. Mittellateinisches Wörterbuch (Anm. 21), Bd. 4, Sp. 287–289.

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stellungen göttlicher Kunstfertigkeit an, die im Rahmen der mittelalterlichen deusartifex-Topik verbreitet sind, dies besonders im neuplatonisch orientierten Kontext der Schule von Chartres, deren Umkreis auch Alanus ab Insulis angehört.²⁴ Von dem so verstandenen monotheistischen Schöpfergott erfleht der Dichter die Inspiration, indem er betont, sich zu dessen Werkzeug machen zu wollen. Eine diese Gottesvorstellung ergänzende Auffassung drückt sich in den Schlussversen des Inspirationsgebets aus, in denen auch der Begriff des calamus nochmals wiederkehrt. Hier evoziert der Dichter die Wiederherstellung eines ursprünglich vollkommenen Zustands, indem er um die „Reparatur“ seines Schreibgeräts, um die „Reinigung“ seiner beschädigten Sprache bittet: Tu repara calamum, purga rubigine linguam (S. 132, V. 301). Beide Anliegen greifen Themen aus dem Versprolog auf. So bezieht sich die Wiederherstellung des Griffels auf die bereits dort angelegte Innovationstopik, während für die zu reinigende Sprache das Bildfeld rubigo aufgerufen wird – ‚Rötung‘, zu verstehen als Rost oder drastischer: als Ekel erregende Verfärbung, etwa eines Geschwürs.²⁵ Der Versprolog verwendet dieses Bild seinerseits im Kontext des calamus, dessen Erlahmen durch „räudige Rötung“ oder „räudigen Rost“ – scabra rubigine – verursacht sei (S. 57, V. 3). In der Darstellung des versagenden, auf göttliche „Reparatur“ angewiesenen Schreibinstruments  – dies wird spätestens an dieser Stelle deutlich  – erweist sich Alanus seinerseits als ein raffinierter Stilist, der alle Register des Wortkünstlers zu bedienen weiß. Sein Text lebt von Wortspielen, wie der effektvoll eingesetzten Paronomasie bzw. Adnominatio, aber auch von isotopisch wiederkehrenden Metaphern und Motiven. Für die Anrufung der Inspirationsinstanz Phoebus Apollo und deren Überbietung in der Invokation Gottes wählt Alanus die höchste Stillage. Im Liber in distinctionibus dictionum theologicalium, einem nach 1179 entstandenen theologischen Wörterbuch, definiert Alanus den lateinischen Begriff stylus wie folgt: Dicitur modus loquendi, unde secundum auctores distinguuntur tres styli, scilicet humilis, mediocris et altilogus („Er wird Sprechweise genannt, weshalb gemäß den Autoritäten drei Stile unterschieden werden, nämlich der niedere, der mittlere und der hohe.“).²⁶ Auffällig ist auch hier der Verweis auf mündliche Rede (modus loquendi), welcher der Tradition antiker Rhetorik folgt und wohl auch der Tatsache geschuldet ist, dass der Verfasser sein Handbuch unter anderem als Hilfsmittel für die Anferti-

24 Vgl. zum Topos von „Gott als Bildner“ Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 10. Aufl., Bern, München 1984, S. 527–529. Die Auffassung leitet sich von Platos Timaios her, der im Kontext der Schule von Chartres rezipiert wurde; vgl. Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 1986 (RUB 8342), S. 229–231. 25 Vgl. Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch (Anm. 19), Bd. 2, Sp. 2400  f.; Langenscheidts Handwörterbuch Lateinisch-Deutsch (Anm. 19), S. 516b/517a (beide Referenzen werden wiederum in Ermangelung eines entsprechenden Artikels im Mittellateinischen Wörterbuch angeführt). 26 Alanus ab Insulis: Liber in distinctionibus dictionum theologicalium. In: PL Bd. 210, Paris 1855, Sp. 685–1012, hier Sp. 959A.

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gung von Predigten verstanden haben dürfte. Anschließend werden unter Verweis auf auctores wie Vergil und Horaz²⁷ auch die drei in der mittelalterlichen Poetik verbreiteten Stilarten genannt, dies mit den Termini humilis, mediocris et altilogus. Für die höchste Stillage, die auch in den textlichen Manifestationen der beiden betrachteten Inspirationsbitten zum Ausdruck kommt, wird – hier wie an anderen Stellen in Alans Werk – wiederum ein Begriff gewählt, der die Vorstellung von mündlicher Sprache zum Ausdruck bringt: altilogus (nach mittellateinisch altiloquus, ‚erhaben redend‘).²⁸ Der auf einem graphischen Gebrauch basierende Ausdruck stylus wird auf diese Weise mit Begriffen der mündlichen Rede (modus loquendi, altilogus) erläutert, ähnlich wie sich im Kontext der Inspirationsgebete des Anticlaudianus Metaphern der Schriftlichkeit vom Typus calamus mit solchen der Rezitation vom Typus fistula verbinden. Was aber ist mit der in den Schlusszeilen der an Gott gerichteten Invokation zum Ausdruck gebrachten „Reparatur“ von Schreibwerkzeug und Sprache gemeint?  – Alanus spielt hier wohl auf Gedanken der zeitgenössischen Gnadenlehre an, gemäß welcher der Sünder der reparatio durch Christi Erlösertod am Kreuz bedarf, der „Wiederherstellung der menschlichen Natur, die durch den Sündenfall verdorben worden war“.²⁹ Die bei Alanus und seinen Zeitgenossen häufig anzutreffenden Reparations- und Innovationsmetaphern implizieren stets auch diese Dimension der Erneuerung. Dieselbe Auffassung ist auch für Alans zweites Großepos grundlegend, den als Prosimetrum angelegten, also aus Vers- und Prosapartien bestehenden Planctus Naturae, der einige Jahrzehnte vor dem Anticlaudianus um 1160/70 entstanden sein dürfte.³⁰ Alanus versucht in diesem Text eine dichterische Antwort auf die Frage zu geben, wie die Homosexualität, gleichsam als subalterner Sündenfall, in die Welt

27 Vgl. oben mit Anm. 12. 28 Vgl. Mittellateinisches Wörterbuch (Anm. 21), Bd. 1, Sp. 517. 29 Hugo von Sankt Viktor: Didascalicon de studio legendi. Studienbuch. Übers. und eingel. von Thilo Offergeld, Freiburg i. Br. u.  a. 1997 (Fontes Christiani 27), Einleitung des Herausgebers, S. 83, mit Verweis auf Hugos von Sankt Viktor Hauptwerk De sacramentis christianae fidei. In Hugos Didascalicon wird diese Auffassung auf Bildung und Wissenschaft bezogen: Reparamur autem per doctrinam, ut nostram agnoscamus naturam („Durch das Studium werden wir wiederhergestellt, so dass wir unsere eigene Natur erkennen“, Didascalicon 1,1, ebd., S. 116  f.), dazu auch die Einleitung, S. 84  f. Einen guten Überblick zum Begriff der reparatio in den „Systemansätze(n) des 12. Jahrhunderts“ gibt Richard Heinzmann: Die Summe Colligite Fragmenta des Magister Hubertus (Clm 28799). Ein Beitrag zur theologischen Systembildung in der Scholastik, München, Paderborn, Wien 1974 (Münchener Universitätsschriften N. F. 24). Vgl. auch im Zusammenhang mit der Umsetzung in der zeitgenössischen Kathedralplastik Bruno Boerner: Par caritas par meritum. Studien zur Theologie des gotischen Weltgerichtsportals in Frankreich – am Beispiel des mittleren Westeingangs von Notre-Dame in Paris, Freiburg i. d. S. 1998 (Scrinium Friburgense 7), S. 107  f. (mit weiterer theologischer Literatur). 30 Im Folgenden zitiert nach Alan of Lille: De Planctu naturae. Hrsg. von Nikolaus M. Häring. In: Studi Medievali, 3a Serie, 19/2 (1978), S. 797–879. Englische Übersetzung: Alan of Lille: The Plaint of Nature. Translation and commentary by James J. Sheridan, Toronto 1980 (Mediaeval sources in translation 26).

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gekommen sei. Er geht dabei von einem Instanzensystem aus, dem gemäß Gott verschiedene Wirkweisen in seiner Schöpfung an untergeordnete Vertreterinnen delegiert hat: Für das Werden und Vergehen der Lebewesen ist Natura verantwortlich. Das Profil ihrer allegorischen Gestalt, die in der Handlung des Anticlaudianus wiederkehrt, basiert auf Vorstellungen, welche unter anderem von Vertretern der Schule von Chartres (wie Bernardus Silvestris) entwickelt worden sind. Natura ihrerseits hat Venus als ihre Vertreterin mit der Lenkung des Geschlechtslebens beauftragt. Venus aber versagt bei dieser Aufgabe, da sie ihren Gatten Hymenäus mit einem Liebhaber namens Antigenius betrogen und mit diesem das Kind Jocus gezeugt hat. In einer als Vision des Dichters angelegten Erzählung tritt Natura auf und erklärt unter anderem ihr Wirken in Gottes Schöpfung. Dabei spielt auch die später in den Inspirationsbitten des Anticlaudianus voll ausgeprägte Stilmetaphorik eine nicht unbedeutende Rolle. Natura, deren äußere Gestalt und Kleidung in ihrer betörenden Schönheit den Kosmos repräsentieren,³¹ malt auf Schiefertafeln (in latericiis […] tabulis) mit Hilfe eines aus Schilfrohr gewonnenen Schreibgeräts (arundinei stili ministerio) und evoziert damit vergängliche Bilder (picturaliter suscitabat imagines; Kapitel  IV, S. 821, Z. 3  f.). Als Abbild einer beständigem Werden und Vergehen unterliegenden Schöpfung bleibt das von Natura entworfene Gemälde auf dem Schreibstoff nicht haften (subiacenti materie familiariter non coherens, S. 821, Z. 4  f.); es erlischt alsbald wieder (uelociter euanescendo moriens, S. 821, Z. 5), ohne Spuren zu hinterlassen (nulla […] relinquebat uestigia, S. 821, Z. 5  f.). Obwohl Natura das Gemälde stets erneuert und die Bilder im Malen zum Leben erweckt (sepe suscitando puella crebro uiuere faciebat, S. 821, Z. 6  f.), sind diese, wie es heißt, „im Entwurf der Beschriftung nicht von Dauer“ (in scripture proposito imagines perseuerare non poterant, S. 821, Z. 7  f.). Damit ist das Gesetz der vergänglichen Schöpfung – im Wortsinn möchte man sagen – ‚umschrieben‘. Deutlich artikulieren die Ausführungen die in mittelalterlichen Texten häufig beobachtbare Überblendung der Medialität von Malen und Schreiben, von Bild (pictura, S. 821, Z. 4) und Schrift (scriptura, S. 821, Z. 7).³² Funktion des zur Bemalung verwendeten Griffels – stili ministerium (S. 821, Z. 3) – ist der immer neue Entwurf von unbeständigen Formen, Abbildern der ewigen Formen in Gottes Geist, wie sich im Blick auf die im zeitgenössischen Kontext verankerte neuplatonische Ideenlehre hinzufügen lässt.³³ 31 Vgl. zur Gestalt der Natura Johannes Köhler: Natur und Mensch in der Schrift De Planctu Naturae des Alanus ab Insulis. In: Mensch und Natur im Mittelalter. Hrsg. von Albert Zimmermann/ Andreas Speer, 2 Bde, Berlin, New York 1991 und 1992 (Miscellanea mediaevalia 21), Bd. 1 (1991), S. 57–66; George D. Economou: The Goddess Natura in Medieval Literature, 2. Aufl., Notre Dame 2002, S. 72–103; Jean Jolivet: La figure de Natura dans le De Planctu Naturae dʼAlain de Lille: une mythologie chrétienne. In: Alain de Lille, le docteur universel (Anm. 17), S. 127–144. 32 Vgl. Horst Wenzel: Hören und Sehen – Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 292–305. 33 Dazu immer noch lesenswert Erwin Panofsky: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Leipzig, Berlin 1924 (Studien der Bibliothek Warburg 5), 7. unveränderte Aufl., Ber-

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Liest man die Inspirationsgebete des Anticlaudianus vor diesem Horizont, so erweist sich auch die dichterische und mit ihr die künstlerische Tätigkeit des Menschen als unbeständig. Die menschliche Kunst ist wie das Leben vergänglich und vermag gerade deshalb, wie Alans stilistisches Verfahren im Planctus Naturae sinnfällig zeigt, die unstete Existenz der Geschöpfe zu repräsentieren. Entsprechend dürfte Alanus von späteren, auch volkssprachigen Dichtern als stilistisches Vorbild verstanden und weiter verarbeitet worden sein.

Ausformungen in der deutschsprachigen AlanusRezeption Belege finden sich beispielsweise im Prager Kontext des 14. und beginnenden 15. Jahrhunderts, wo eines der Zentren der spätmittelalterlichen Alanus-Rezeption anzutreffen ist.³⁴ Der zeitweilig in der Umgebung des Prager Kaisers Karl IV. nachweisbare Dichter Heinrich von Mügeln liefert in seinen Texten begriffliche Belege, die einen Bezug zu den bei Alanus beobachtbaren stilus- und calamus-Begriffen zumindest vermuten lassen. Einen zunächst eher unsicheren Nachweis bietet der Prolog von Mügelns Mariengedicht Der Tum, der mit seinen Inspirationsbitten und seinem Innovationskonzept, hier dem Programm einer ‚Verjüngung alter Sprüche‘,³⁵ Anklänge an die poetischen Konzepte des Anticlaudianus aufweist.³⁶ In der vierten Prologstrophe wendet sich der Sprecher an den göttlichen Intellekt und bittet den bilder der vernunst (S. 151, Str. 4, V. 1), das Urbild der Ideen in Gottes Geist,³⁷ ein Marienlob im ‚Herzen‘ des Dichters zu entwerfen, und zwar mit der genaden stift (S. 151, Str. 4, V. 5). stift

lin 1993, bes. S. 17–22; ferner G. Schrimpf u.  a.: Idee. II. Mittelalter. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter/Karlfried Grüder, 13 Bde, Basel, Stuttgart 1971–2007, Bd. 4 (1976), Sp. 65–102. 34 Vgl. Christoph Huber: Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen. Untersuchungen zu Thomasin von Zerklaere, Gottfried von Straßburg, Frauenlob, Heinrich von Neustadt, Heinrich von St. Gallen, Heinrich von Mügeln und Johannes von Tepl, Zürich, München 1988 (MTU 89), S. 304  f.; S. 395  f.; Michael Stolz: Vivus est sermo tuus. Religion und Wissen in der Prager Hofkultur des 14. Jahrhunderts. In: Die Aktualität der Vormoderne. Epochenentwürfe zwischen Alterität und Kontinuität. Hrsg. von Klaus Ridder/Steffen Patzold, Berlin 2013 (Europa im Mittelalter 23), S. 267–294. 35 Vgl. Johannes Kibelka: der ware meister. Denkstile und Bauformen in der Dichtung Heinrichs von Mügeln, Berlin 1963 (Philologische Studien und Quellen 13), S. 219–237; Michael Stolz: TumStudien. Zur dichterischen Gestaltung im Marienpreis Heinrichs von Mügeln, Tübingen, Basel 1996 (Bibliotheca Germanica 36), S. 104–106. 36 Der Tum wird im Folgenden zitiert nach dem kritischen Text in: Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Erste Abteilung: Die Spruchsammlung des Göttinger Cod. Philos. 21. Hrsg. von Karl Stackmann, 3 Teilbde, Berlin 1959 (DTM 50; 51; 52), Bd. 2, S. 147–219. 37 Vgl. Stolz (Anm. 35), S. 131–146.

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kann die ‚Anstiftung‘ bzw. den ‚Stachel‘ der göttlichen Gnade, vielleicht auch deren ‚Wirkung‘ bezeichnen. Es ist dabei nicht völlig auszuschließen, dass eine Bedeutung im Sinne des neuhochdeutschen Wortes ‚Stift‘ als Schreibgerät mitschwingt, die allerdings erst ab dem 17. Jahrhundert sicher zu belegen ist (davor im Mittelhochdeutschen nur als länglicher, spitzer Gegenstand).³⁸ Ein deutlicherer Verweis auf Alans stilus-Begriff scheint in der allegorischen Reimpaardichtung Der meide kranz vorzuliegen, die zudem in ihrer Handlungs- und Personalstruktur Bezüge zum Anticlaudianus und dem Planctus naturae erkennen lässt.³⁹ Von der personifizierten Nature (wie Alans Natura hier heißt) findet sich unter anderem folgende Beschreibung: des sinnes grabestickel fur / uf iren heften hin und dar (V. 1014  f.).⁴⁰ Damit könnte jene Szene des Planctus aufgerufen sein, gemäß der Natura mit ihrem stilus die Abbilder der Schöpfung auf Schiefertafeln aufmalt: arundinei stili ministerio […] picturaliter suscitabat imagines (Kapitel IV, S. 821, Z. 3  f.; vgl. oben). Allerdings ist auch dieses Verständnis in der Mügeln-Forschung nicht ganz unumstritten: Christoph Huber stellt einen Bezug zwischen beiden Textstellen her und wertet die Mügeln-Verse als Befund der Alanus-Rezeption; er versteht die hefte im Sinne des nhd. Worts, d.  h. wohl als ‚geheftete‘ oder zusammengebundene Faszikel.⁴¹ Karl Stackmann und Annette Volfing hingegen deuten die hefte im Sinne von ‚Spangen‘ auf dem Kleid der Nature.⁴² – Was aber besagt in diesem Kontext der Ausdruck sinnes grabestickel? Es dürfte sich um ein von der Vernunft (mhd. sin) geleitetes Werkzeug handeln, vielleicht sogar – als Genitivmetapher – um ein Werkzeug, das die Vernunft symbolisiert, von der sich Nature in ihrem Tun leiten lässt.⁴³ Der Ausdruck grabestickel deutet auf mhd. graben, im Sinne von ‚gravieren‘, ‚Gravuren anfertigen‘; vielleicht handelt es sich um einen „Griffel für Gravierarbeiten“,⁴⁴ mit denen die Spangen auf dem Kleid der Nature verziert worden sind. Dies wäre eine 38 Vgl. Lexer, Bd. 2, Sp. 1191; Jacob Grimm/Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 10,2,2, Leipzig 1941, Sp. 2867–2869. Die Bedeutung ‚Schreibgerät‘ wurde erwogen bei Stolz (Anm. 35), S. 138, Anm. 571; danach mit Vorsicht verzeichnet im Glossar von: Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Zweite Abteilung. Hrsg. von Karl Stackmann, mit Beiträgen von Michael Stolz, Berlin 2003 (Deutsche Texte des Mittelalters 84), S. 265a. 39 Vgl. Huber (Anm. 34), S. 247–313; S. 391–393. 40 Der meide kranz wird zitiert nach dem kritischen Text in: Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Zweite Abteilung (Anm. 38). 41 Huber (Anm. 34), S. 275: „Schreibtätigkeit in ihren Heften“. 42 Annette Volfing: Heinrich von Mügeln, Der meide kranz. A Commentary, Tübingen 1997 (MTU  111), S. 222, nach Verweis auf Huber (Anm. 34), S. 275, mit Referat einer Anregung von Karl Stackmann: „Alternatively, it has been suggested that the heften [sic] are brooches or clasps, with the grabestickel being a tool for engraving these ornaments [K. Stackmann]“. 43 Vgl. zur Funktion der Genitivmetapher, bei der in der Regel ein Bildempfänger im Genitiv durch einen zugeordneten Bildspender konkretisiert wird, Stolz (Anm. 35), S. 15–17; S. 111  f. u. ö. 44 So das Glossar in: Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Zweite Abteilung (Anm. 38), S. 234b.

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Deutung im Horizont des von Stackmann und Volfing vorgeschlagenen Verständnisses von hefte. Damit aber wäre der Ausdruck nicht allzu weit entfernt von der lateinischen Bezeichnung sculptoris scalprum („Bildhauers Meißel“ oder auch „Schnitzers Schnitzmesser“), die in der Gottesanrufung des Anticlaudianus als künstlerisches Werkzeug zusammen mit den dort fassbaren calamus-Belegen begegnet (Kapitel V, S. 131, V. 275; vgl. oben). Jedenfalls handelt es sich um Schriftzüge oder Piktogramme, die auf einer Unterlage eingetragen werden, sei diese nun ein Beschreibstoff im Sinne der bei Alanus erwähnten Schiefertafeln oder eine als Schmuck zu tragende Spange. Nicht auszuschließen ist, dass die Ausdrücke grabestickel und hefte in Mügelns Der meide kranz im Kontext des ersten Prologverses aus Alans Anticlaudianus zu deuten sind: grabestickel könnte den dort genannten stilus aufgreifen, die hefte könnten sich auf die falerae beziehen: ‚Spangen‘ als Beschläge, die den von Nature angefertigten Schmuck – die kunstgleiche Schönheit der Natur – repräsentieren. Genau davon ist in den Folgeversen von Der meide kranz die Rede: was schone heißt, das was da gar, / lieb, adel, lust, freud ane zil (V. 1016  f.). Auffällig ist, dass Johannes von Tepl in seinem um 1401 fertiggestellten Ackermann, der vielfältige stilistische Bezüge zur deutschsprachigen Rhetorik der Prager Hofkultur des 14. Jahrhunderts aufweist, den Begriff grabestickel übernimmt.⁴⁵ Im achten Kapitel argumentiert der personifizierte Tod, dass sein Werk eine Übervölkerung der Erde zu verhindern helfe. Dabei kommt die grabestickel-Metapher zum Einsatz, wenn der Kläger folgendermaßen angesprochen wird: Nym für dich, tummer man, prüfe vnde grab mit sinnes grabstickel jn die vernunfft, so vindestu (Kapitel  8, S. 16  f., Z. 7–9). Deutlich manifestiert sich in den wenigen Worten eine pleonastische Stiltendenz, dies über das imperative Syntagma grab […] jn die vernunfft, mit dem das Nomen sinnes grabstickel verbunden wird: Das Verbum grab bezieht sich nach Art einer figura etymologica⁴⁶ auf das Nomen grabstickel und weist es unmissverständlich als Gravurinstrument aus. Zugleich rekurriert die vernunfft auf das synonyme Wort sin, das die grabstickel-Metapher im Rahmen der Genitivkonstruktion ergänzt und wohl deren Bildempfänger, mithin deren Bedeutung darstellt: Der als tummer man gescholtene Kläger soll mittels der Metapher zur Vernunft gebracht werden. In dieser Absicht besteht das vom Autor inszenierte Stilverhalten des zur Verteidigung gezwungenen Todes. Johannes von Tepl dürfte Mügelns Der meide kranz, oder gegebenenfalls einen vergleichbaren Text, in dem der Ausdruck sinnes grabstickel begegnet, gekannt und in der beschriebenen Weise verstanden haben. Damit fügt sich der Ausdruck, durchaus im Sinne einer Stilmetapher, zu weiteren Metaphorisierun-

45 Zitate im Folgenden nach: Johannes von Tepl: Der Ackermann. Frühneuhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übers. und komm. von Christian Kiening, Stuttgart 2000 (RUB 18075). Nachweise der Bezüge zur Prager Hofkultur ebd., Nachwort, bes. S. 162; S. 164; zu sprachlichen Anleihen die Angaben im Kommentar, passim. 46 Vgl. Wagenknecht (Anm. 22), bes. S. 865a.

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gen des Schreibgeräts im Ackermann und seinem nächsten Kontext. Erinnert sei an die Selbstbeschreibung des Klägers im dritten Kapitel: Jch bins genant ein ackerman, von vogelwat ist meyn pflug (Kapitel 3, S. 8, Z. 1  f.),⁴⁷ ferner an die im lateinischen Begleitschreiben an Peter Rothers begegnende Bescheidenheitsformel, die besagt, dass der Verfasser den Adressaten des Schreibens „mit blanken lateinischen Halmen von [s]einem unfruchtbaren Acker erfreuen“ wolle: Tandem uos latinis de agro meo sterili enuditibus stipilis recreabo (S. 84, Z. 24  f.).

griffel in der deutschsprachigen Epik Nachdem mit den mutmaßlichen Rezeptionszeugnissen des Alanus vernakuläre Texte in den Blick gerückt sind, soll nun abschließend die Stilmetaphorik in einem weiteren deutschsprachigen Text vorgestellt werden: Konrad Flecks Versroman Flore und Blanscheflur. Der stilus kommt dabei, in der deutschen Wendung griffel, nicht nur als Schreibgerät, sondern auch als Stichwaffe zum Einsatz, woran noch das im Deutschen seit dem 17. Jahrhundert gebräuchliche, aus dem Französischen und Italienischen entlehnte Wort Stilett erinnert.⁴⁸ Ein solches Verständnis von stilus ist seinerseits im lateinischen Bereich vorgeprägt, wobei nochmals auf Alanus ab Insulis zu verweisen ist: In dessen Anticlaudianus betont die Tugend Concordia, dass der Lauf der Welt weitaus friedvoller verliefe, wenn die Regeln und Gesetze der Eintracht beachtet würden. Sie erinnert dabei an Julius Caesar, der unter ihrem Regiment weder Verrat noch den Dolchstoß hätte erdulden müssen: Non fraudes pugnamque stili sensisset inhertem (Kapitel II, S. 79, V. 236). Eine Spannung von Schreibgerät und Waffe wird zudem in Hartmanns von Aue Erzählung Gregorius evoziert, dies in dem Moment, als sich der Protagonist anstelle des mönchischen für das ritterliche Leben entscheidet und bekennt: ouch was mir ie vil ger / vür den griffel zuo dem sper, / vür die veder ze dem swerte (V. 1589–1591).⁴⁹ Regelrecht als Dolch findet der stilus in Flecks Flore und Blanscheflur Verwendung, einem Text, der gemäß jüngeren Forschungen um 1220 entstanden sein dürfte.⁵⁰ Der

47 Vgl. dazu stellvertretend den Kommentar in: Der Ackermann (Anm. 45), S. 102, mit Verweis auf die antike Tradition und weiterer Literatur. 48 Vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold, 25., durchges. und erw. Aufl., Berlin, Boston 2011, S. 885b. Zum Gebrauch als Stichwaffe in der Antike auch Wattenbach (Anm. 15), S. 222. 49 Zitiert nach: Hartmann von Aue: Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein. Hrsg. und übers. von Volker Mertens, Frankfurt a. M. 2008 (Bibliothek des Mittelalters 6). 50 Verwiesen sei auf die im Erscheinen befindliche Studie mit Edition von Christine Putzo: Konrad Fleck: Flore und Blanscheflur. Text und Untersuchungen, Berlin, Boston (MTU) [im Druck]. Der Roman ist in je einem Fragment des 13. bzw. 14. Jahrhunderts überliefert: Frauenfeld, Archiv der katholischen Kirchgemeinde, III Bg 3, und Prag, Nationalbibliothek, Cod. XXIV.C.6; vollständig erhalten ist er in

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in dem Roman gestaltete „Mittelmeerstoff“⁵¹ lässt Komponenten des hellenistischen Liebesromans und arabischer Erzähltraditionen erkennen. Er findet sich in verschiedenen Fassungen in zahlreichen europäischen Volkssprachen. Flecks Version geht auf eine französische Quelle (‚version aristocratique‘) des späten 12. Jahrhunderts zurück.⁵² Die Erzählung handelt von einem Liebespaar in Spanien, dem muslimischen Königssohn Flore und der Christin Blanscheflur, die durch widrige Umstände getrennt werden und auf wundersame Weise wieder zusammenfinden. Im ersten Teil der abenteuerlichen Geschichte spielen dabei zwei im Besitz von Flore und Blanscheflur befindliche griffelîn eine handlungstragende Rolle.⁵³

zwei Papierhandschriften des 15. Jahrhunderts aus der Werkstatt des Diebold Lauber: Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 18 (Hs. B, mit für Bilder ausgespartem Raum), und Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. Germ. 362 (Hs. H, mit ausgeführten Illustrationen). Vgl. Bruchstücke von Konrad Flecks Floire und Blanscheflur. Nach den Handschriften F und P, unter Heranziehung von B H hrsg. von Carl H. Rischen, Heidelberg 1913 (Germanische Bibliothek 4); Christine Putzo: Die Frauenfelder Fragmente von Konrad Flecks Flore und Blanscheflur. Zugleich ein Beitrag zur alemannischen Handschriftenüberlieferung des 13. Jahrhunderts. In: ZfdA 138 (2009), S. 312–343, zur handschriftlichen Überlieferung bes. S. 312–315; dies.: Stoffgruppe 40: Flore und Blanscheflur. In: Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters. Begonnen von Hella Frühmorgen-Voss/Norbert H. Ott. Hrsg. von Ulrike Bodemann/Peter Schmidt/ Christine Stöllinger-Löser, 7 Bde, München 1991–2008, (Veröffentlichungen der Kommission für Deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften), Bd. 4.2: 38. Fechtund Ringbücher; 42. Konrad von Stoffeln, Gauriel von Muntabel (2010), S. 513–524; ferner http://www. handschriftencensus.de/werke/204. Der Text wird im Folgenden zitiert nach Konrad Fleck: Flore und Blanscheflur. Hrsg. von Emil Sommer, Quedlinburg, Leipzig 1846 (Bibl. d. ges. dt. Nat.-Lit. 1/12). Zur älteren Forschung Peter Ganz: ‚Fleck, Konrad‘. In: 2VL, Bd. 2 (1980), Sp. 744–747. 51 So L. Peter Johnson: Die höfische Literatur der Blütezeit, Tübingen 1999 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit II,1), S. 378. 52 Die unmittelbare Vorlage ist nicht erhalten; nahe steht ihr eine in folgenden Ausgaben verfügbare Version: Floire et Blancheflor, Édition du Ms. 1447 du fonds français avec notes, variantes et glossaire par Margaret M. Pelan, 2. Aufl., Paris 1956 (Publications de la Faculté des Lettres de l’Université de Strasbourg. Textes d’étude 7); Jean-Luc Leclanche: Contribution à l’étude de la transmission des plus anciennes œuvres romanesques françaises. Un cas privilégié: Floire et Blancheflor, 2 Bde, Diss. Paris 1977, Lille 1980 (im Folgenden zitiert nach der dort in Synopse abgedruckten Hs. B, Paris, Bibliothèque nationale, fr. 1447, welche Flecks Text am nächsten kommt; vgl. ebd., Bd. 2, S. 105  f.; der Wortlaut der Zitate ist bei gleicher Verszählung bis auf geringfügige Abweichungen in Graphie und Interpunktion identisch mit jenem der Ausgabe von Pelan). Zu Flecks Bearbeitung der französischen Vorlage im Hinblick auf rhetorische Verfahren Karen Pratt: The Rhetoric of Adaption. The Middle Dutch and Middle High German Versions of Floire et Blancheflor. In: Courtly Literature. Culture and Context. Selected papers from the 5th Triennial Congress of the International Courtly Literature Society. Dalfsen, The Netherlands, 9–16 August 1986. Hrsg. von Keith Busby/Erik Kooper, Amsterdam, Philadelphia 1990 (Utrecht Publications in General and Comparative Literature 25), S. 483–497. 53 Das Motiv wurde in einschlägigen Studien, welche die Verflechtung von Liebe und Kunst in der Minne von Flore und Blanscheflur behandeln, gelegentlich berührt. Erwähnt sei stellvertretend Margreth Egidi: Schrift und ‚ökonomische Logik‘ im höfischen Liebesdiskurs: Flore und Blanscheflur und Apollonius von Tyrland. In: Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Hrsg. von Mireille Schnyder, Berlin 2008 (Trends in Medieval Philology 13), S. 147–163, bes. S. 154  f.; dies.: Die höfischen

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Von den kindlichen Liebenden heißt es, dass sie das, was sie nach ersten Lektüreerfahrungen nun im eigenen Erleben sehen, imaginieren und empfinden, auf Elfenbeintäfelchen (V. 820; V. 828) festhalten: erwähnt werden bluomen, vogele[n] und die minne[n] (V. 821–823). Die Zeilen erinnern dabei fast ein wenig an die Natura in Alans Planctus und die von ihr verantwortete Niederschrift der natürlichen Welt. Als Schreibgeräte dienen den Kindern griffelîn von golde (V. 829), die ein Geschenk von Flores Vater darstellen (vgl. V. 830–832). Dem materiellen Wert dieser Instrumente korrespondieren sprachliche und stilistische Fähigkeiten. Nach einer fünfjährigen Ausbildung sind die beiden Kinder in der Lage, was immer sie wollen, vor einem Publikum in Latein auszudrücken: sie kunden vor den liuten / in latîne betiuten / allez daz ir wille was (V. 839–841). Als die Liebe des Paars bei Hofe bekannt wird, schickt Flores Vater seinen Sohn nach Montôre in Andalusien. Bei der erzwungenen Trennung ist Blanscheflur so verzweifelt, dass sie sich mit dem griffelîn, das bislang als Sinnbild der von Bildung begleiteten Welt- und Liebeserfahrung des jugendlichen Paars fungierte, erstechen will (vgl. V. 1244–1256). Aus dem stilus ist  – ähnlich wie in der zitierten Stelle aus dem Anticlaudianus – ein Stilett geworden. Bemerkenswert ist, dass einige weitere volkssprachige Fassungen des 14. Jahrhunderts diese Doppeldeutigkeit nicht aufrecht erhalten, sondern sie im Hinblick auf eine Waffe auflösen: Die niederdeutsche Version Van Flosse un Blankflosse (wohl aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts) bezeichnet das Mordinstrument als swert, in einer schwedischen Fassung (Flores och Blanzeflor von 1312) ist von kníiff (also ‚Messer‘) die Rede.⁵⁴ Im Fortgang der Handlung des mhd. Romans kann der Muslim Flore Blanscheflur gerade noch von ihrem Vorhaben abbringen und argumentiert dabei – auffällig unabhängig von christlichen Normen – damit, dass Selbstmord kein Scherz oder Kinderspiel sei: dehein spot / noch ein senfte kindes spil (V. 1254  f.). Beim Abschied des Paars werden die Griffel, von denen einer eben noch als Mordinstrument dienen sollte, zum Liebespfand (vgl. V. 1321–1331). Im gegenseitigen Geben und Nehmen (Dô nâmen sie ir griffelî / beidiu er unde sî / und gap er ir daz sîne, V. 1321–1323) tauschen Flore und Blanscheflur die Schreibgeräte und versichern

Künste in Flore und Blanscheflur und Apollonius von Tyrland. In: Interartifizialität. Die Diskussion der Künste in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Susanne Bürkle/Ursula Peters. ZfdPh 128 (2009), Sonderheft, S. 37–47, hier S. 39; S. 41 (mit weiterer Literatur in Anm. 1, S. 37). 54 Vgl. den Kommentar in Fleck: Flore und Blanscheflur. Hrsg. von Emil Sommer (Anm. 50), S. 292, zu V. 1244. Eine Variante weist das Motiv in dem spätmittelalterlichen Prosaroman Florio und Bianceffora auf, der einer anderen Stofftradition entstammt. Als der Protagonist nach einem Traum glaubt, seine Geliebte sei an einen Anderen vergeben, schreibt er, statt mit einem Messer Selbstmord zu begehen, einen Brief an Bianceffora. Vgl. Florio und Bianceffora. Ein gar schone newe hystori der hochen lieb des kuniglichen fursten Florio vnnd von seyner lieben Bianceffora. Nachdruck der Ausgabe Metz 1500. Mit einem Nachwort von Renate Noll-Wiemann, Hildesheim, New York 1975 (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken A/3), Bl. XLIXr. Dazu auch Egidi, Schrift (Anm. 53), S. 154.

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sich damit ihrer Treue.⁵⁵ Während Flores Abwesenheit wird Blanscheflur an babylonische Händler verkauft. Flores Eltern lassen zum Schein ein Grabmal errichten, auf dem die Liebenden als memoriale „Bildautomaten“ nachgebildet sind,⁵⁶ und behaupten gegenüber dem zurückkehrenden Sohn, Blanscheflur sei verstorben. Nun ist es Flore, der den Tod herbeisehnt: nâch tôde was sîn gerinc (V. 2356). Er zieht den von Blanscheflur als Pfand erhaltenen Griffel aus dem Futteral und vollführt dabei dieselbe Geste wie zuvor die todessehnsüchtige Blanscheflur; auch der Wortlaut der entsprechenden Verse ist nahezu identisch: dô zôch sî ûz ir griffelîn / ûz ir griffelfuoter (V. 1244  f.) – er zôch ein guldîn griffelîn / ûz sinem griffelfuoter (V. 2358  f.).⁵⁷ Danach setzt Flore vor seiner anwesenden Mutter zu einer Rede an, die er an den Griffel adressiert und in die er eine erinnerte Rede der Blanscheflur einflicht. Flore evoziert den Moment des Griffeltauschs beim Abschied. Von seiner friundîn seien ihm – metonymisch gesprochen – nur herzeleides unde dîn, der durch die Trennung von Blanscheflur verursachte Kummer sowie der angesprochene Griffel, geblieben (V. 2367  f.). Ausdrücklich wird die stellvertretende Bewahrung des Griffels erwähnt (sî bat mich dîn wol warn, V. 2369), dies auch in einer von Flore erinnerten Rede der Blanscheflur, in welcher der Griffel als Memorialzeichen fungiert: sî sprach ‚ich wil dir ze minnen geben diz schœne griffelîn, daz dû dâ bî gedenkest mîn, swaz dir oder mir geschehe. got well, daz ich dich schiere sehe.‘ daz was ir jungest wort. (V. 2372–2377)⁵⁸

55 Auf solche ‚anökonomischen‘ Logiken zielen die Interpretationen von Egidi, Schrift (Anm. 53), S. 154  f. 56 Vgl. Klaus Ridder: Ästhetisierte Erinnerung  – erzählte Kunstwerke. Tristans Lieder, Blanscheflurs Scheingrab, Lancelots Wandgemälde. In: LiLi 105 (1997), S. 62–85, hier S. 71–74; Ulrich Ernst: Zauber  – Technik  – Imagination. Zur Darstellung von Automaten in der Erzählliteratur des Mittelalters. In: Automaten in Kunst und Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Grubmüller/Markus Stock, Wiesbaden 2003 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 17), S. 115–172, hier S. 123–125 (Zitat S. 123). 57 Der Wortlaut von Vers 1244 wird durch das Prager Fragment aus dem 14. Jahrhundert gestützt; vgl. Bruchstücke. Hrsg. von Rischen (Anm. 50), S. 28. Allerdings wäre zu erwägen, ob (auch gegen den Text von Sommer, Anm. 50, dazu dessen Kommentar, S. 292) mit Hs. H der Artikel bzw. das Demonstrativpronomen ein statt ir anzusetzen ist. Die Übereinstimmung mit dem Wortlaut von Vers 2358 wäre dann noch offenkundiger. 58 Diese Rede fehlt im altfranzösischen Text, in dem der angesprochene Griffel (grefes, V. 798; V. 802) nur dazu dient, Floire an seine Geliebte zu erinnern: Donnez me fus por ramenbrer / De lui (Floire et Blancheflor, V. 800  f.). – Im deutschen Text fällt auf, dass Blanscheflurs Worte an dieser Stelle ausführlicher wiedergegeben werden, als sie in der entsprechenden vorausliegenden Szene angelegt sind. Dort sagt Blanscheflur zu Flore im Hinblick auf das griffelîn: ‚nû nement ouch daz mîne‘ / sprach diu vil getriuwe. / ‚mir muoz iemer niuwe, / friunt, iuwer minne sîn.‘ (V. 1324–1327). Der deutsche Erzähler hat die Abschiedszene im Kontext dieser Verse wohl zusätzlich gegenüber der altfranzösischen

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Gegen Ende seiner Rede bezeichnet Flore den Griffel schließlich ausdrücklich als Liebespfand (urkünde, V. 2382). Angesichts der vermeintlichen Trennung der Liebenden in Diesseits und Jenseits (nû bin ich hie, sô ist sî dort, V. 2378) soll das Schreibgerät den untröstlich Liebenden zu Blanscheflur geleiten: ei griffelîn, nû füere mich (V. 2380). Als Flore die Spitze des Griffels auf seine Brust richtet (V. 2388  f.), schreitet die Mutter ein, die ja ihrerseits vom Fortleben der Blanscheflur weiß. Sie verhindert den in einer figura etymologica zweimal erwähnten ‚Stich‘ (V. 2391  f.), indem sie ihrem Sohn den Griffel entwendet (V. 2394), was gegen dessen Willen (sunder sînen danc, V. 2397) geschieht. In ihrer Rede bleibt die heidnische Königin zunächst wiederum auffallend weit von christlichem Gedankengut entfernt: Sie betont, dass sich der Sterbende nach nichts mehr sehne als nach dem Leben: daz er wider in die werlt kæme (V. 2410). Erst später beschwört die Mutter ihren Sohn Flore, nicht ins Jenseits zu streben, da sie ja weiß, dass sich Blanscheflur dort gar nicht aufhält – möglicherweise in Anspielung an die muslimische Vorstellung vom ‚Garten Allahs‘ ist hier von einer wise (‚Wiese‘, V.  2425) die Rede.⁵⁹ Dieser Ort nämlich sei nur jenen Toten zugänglich, die nicht Selbstmord begangen hätten (V. 2428). Wer aber freiwillig aus dem Leben scheiden wolle, müsse Strafe erleiden (wîze, V. 2432, als Wortspiel mit wise). In diesem Zusammenhang führt die Königin Gestalten aus der antiken Mythologie und Literatur wie Dido, Byblis, Pyramus und Thisbe an (V. 2434  f.). Die literarische Stilisierung der Rede wird an dieser Stelle überdeutlich. Sie ist im Übrigen auch schon in einem vorausgehenden Monolog wirksam, in dem sich Flore mit einer rhetorischen Apostrophe an die abwesende und vermeintlich tote Blanscheflur richtet: ach wie wir tougen samet retten in latîne, und ich iu an mîme tevelîne brievel von minnen schreip und mir wider daz vertreip und iu die wîle und stunde. (V. 2286–2291)

Die Interaktion des Paars wird hier mit Unterredungen in lateinischer Sprache (in latîne, V. 2287) und dem damit in engem Zusammenhang stehenden, wenn nicht identischen Verfassen von Liebesbriefen auf den zu Beginn erwähnten Elfenbeintafeln umschrieben: metonymisch als Teil der Kommunikation zwischen den Liebenden und metaphorisch als Sinnbild einer Liebesgeschichte, die ihrerseits im Medium der Literatur vermittelt wird. In Flores Behauptung, dass er sich und seiner Geliebten

Vorlage eingefügt; vgl. auch den Kommentar von Sommer (Anm. 50): „die ganze schilderung des abschiedes der liebenden (1054–1365) ist eigenthum des deutschen dichters“ (zu V. 1244, S. 292). 59 Vgl. Adel Theodor Khoury/Peter Heine: Im Garten Allahs. Der Islam, Freiburg, Basel, Wien 1996 (Kleine Bibliothek der Religionen 6), S. 80 (mit Belegstellen aus dem Koran). Im französischen Text lautet die Entsprechung champ flori (Floire et Blancheflor, V. 783; V. 789; V. 821).

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damit wîle und stunde ‚vertrieben‘ habe (V. 2290  f.), klingen zudem Topoi an, wie sie sich in den Prologen Hartmanns von Aue finden.⁶⁰ Die Motivkomplexe der Griffel und der damit verbundenen Akte, die neben dem Schreiben auch das Leben bzw. dessen Gefährdung betreffen, erweisen sich damit als literarisches Konstrukt, ja als literarisches Spiel. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nochmals an die im Kontext der Griffelszenen beobachteten rhetorischen Mittel und Verfahren wie Rekurrenzen, Wiederholungsstrukturen, monologische Reden (wie jene an den Griffel oder die an Blanscheflur gerichtete Apostrophe), die Rede in der Rede oder die figura etymologica. Viele dieser stilistischen Verfahren ließen sich dem ‚leichten Schmuck‘ der Rhetorik und mithin einer niederen bzw. mittleren Stillage zuordnen. Vergleicht man das Motiv des Griffels mit Textstellen in der zeitgenössischen Literatur, ergeben sich zudem auffällige intertextuelle Bezüge, etwa zum Eneasroman, in dem das Schreiben von Briefen eine wichtige Rolle spielt, zu Hartmanns Gregorius, in dem das Motiv der Tafel handlungstragend ist, ferner zu Neidhart, dessen Lied c 96 den Raub eines gläsernen Griffels zum Thema hat.⁶¹

Fazit Die metonymisch geprägte Metaphorik des stilus bzw. griffel als materielles Schreibgerät, welches auf stilistische Verfahren verweist, lässt sich damit, wie anhand der angeführten Beispiele gezeigt werden konnte, in der lateinischen und volkssprachigen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts noch deutlich greifen. Ausläufer finden sich mit den erwähnten Texten Heinrichs von Mügeln und Johannes von Tepl noch bis um 1400. Zumindest in der mittelalterlichen Literatur wird damit eine Koppelung der Materialität des Schreibens an den Stilbegriff fassbar. Die angeführten Textbeispiele lassen erkennen, dass die Thematisierung des Schreibgeräts jeweils spezifische stilistische ,Eigenarten‘ oder ,Manieren‘ tangiert (was durchaus im ursprünglichen Wort60 Erinnert sei an Formulierungen wie swære stunde / […] senfter machen im Armen Heinrich (V. 10  f.) und sîne stunde niht / baz bewenden (V. 23  f.) im Iwein. 61 Auf eine ausführliche Erörterung muss hier aus Platzgründen verzichtet werden. Vgl. stellvertretend zu Veldekes Eneasroman Henning Wuth: was, strâle unde permint. Mediengeschichtliches zum Eneasroman Heinrichs von Veldeke. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hrsg. von Horst Wenzel u.  a., Berlin 1997 (Philologische Studien und Quellen 143), S. 63–76; zu Hartmanns Gregorius Christian Kiening: Vorspiel: Zwischen Körper und Schrift. In: ders.: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt a. M. 2003, S. 7–31, hier S. 17–20. Neidharts Lied c 96 ist abgedruckt in: Neidhart-Lieder. Texte und Melodien sämtlicher Handschriften und Drucke. Hrsg. von Ulrich Müller u.  a., 3 Bde, Berlin, New York 2007 (Salzburger Neidhart-Edition 1; 2; 3), Bd. 1: Neidhart-Lieder der Pergament-Handschriften mit ihrer Parallelüberlieferung, S. 129–131. In Strophe II wird der Griffelraub als Minnehandlung inszeniert, wenn der Dichter von der Dame sagt: der getrat ich einest also nahent, / das ich auß ir hende einen glesen griffell nam (V. 3  f.).

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sinn zu verstehen ist) – sei dies die an Hartmann geschulte Eleganz bei Konrad Fleck oder die über Alanus vermittelte Tradition sprachlichen Schmucks bei Heinrich von Mügeln und Johannes von Tepl. Für spätere Epochen, etwa die Renaissance, wären entsprechende Belege zu prüfen.

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Manfred Eikelmann

Stildifferenz im Minnelied Zum Verhältnis von iterativer Rede und geistlichen Assoziationskontexten in Heinrichs von Morungen In sô hôher swebender wunne (MF 125,19)*

I Stilkonzeptionen der Mediävistik Was unter ‚Stil‘ und ‚Stilisierung‘ zu verstehen sei, ob die Begriffe historisch brauchbar sind, wie sich Stilphänomene in älterer Literatur adäquat erschließen lassen, auch, worin die spezifische Leistung von Stilanalysen zu suchen ist – dies sind Fragen, die im Kontext aktueller Debatten um die deutsche Literatur im Mittelalter allenfalls am Rande auftauchen und auf den ersten Blick nach allem Anschein kaum direkt an sie anzuschließen sind. Denn „nachdem der Strukturalismus und ein aufkommendes Interesse an der Sozialgeschichte der Kultur die Stilforschung seit den 1960er Jahren in den Hintergrund gedrängt hatten“,¹ ist gegenwärtig selbst die eigentlich naheliegende „Frage, was es denn sei und wie man es begrifflich fassen könne, was den Stil vormoderner Texte über Rhetorik und Stilistik hinaus denn nun eigentlich zum individuellen Werkstil mache“², alles andere als selbstverständlich. Dies gilt auch für das methodische Problem, wie Stilanalysen der deutschen Literatur des Mittelalters mit ihren eigenen kulturellen Rahmenbedingungen so angelegt werden könnten, dass ihre Virulenz für Interpretationen der poetologischen, performativen und medialen Dimension volkssprachlicher Texte zur Geltung kommt.

* Mein Beitrag verdankt sich anglo-deutschen Gesprächen mit Almut Suerbaum. Es ging dabei um die Frage, wie sich Stilphänomene in mittelalterlicher Lyrik erklären lassen, wenn man sie nicht einem individuellen Stilwillen zurechnet, sondern in ihnen das Ergebnis einer Sprachgestaltung sieht, bei der sich höfisch-weltliche mit geistlichen Sprach- und Denkformen überschneiden. Auf Wunsch unserer Veranstalterinnen haben wir diese Überlegungen beim Bensberger Colloquium in einem gemeinsamen Vortrag zur Diskussion gestellt. Für den Druck bot sich eine separate Publikation an, um über unsere korrespondierende Fragestellung hinaus auch Unterschiede im Stilverständnis profilieren zu können. Vgl. den Beitrag von Almut Suerbaum in diesem Band. 1 Hans Ulrich Gumbrecht: Stil. In: RLW 3 (2003), S. 509–513, hier S. 512. 2 Jens Haustein: Mediävistische Stilforschung und die Präsenzkultur des Mittelalters. Mit einem Ausblick auf Gottfried von Straßburg und Konrad von Würzburg. In: Textprofile stilistisch. Beiträge zur literarischen Evolution. Hrsg. von Ulrich Breuer/Bernhard Spies, Bielefeld 2011 (Mainzer historische Kulturwissenschaften 8), S. 43–60, hier S. 43  f.

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Treffend hat Hugo Kuhn bereits 1959 die Vorbehalte gegenüber „der stilistischen Arbeit der Philologie“³ charakterisiert, wenn er den Tenor der Kritik zu beschreiben versucht: Sie möchte nicht mehr fragen, wie ist das gemacht?, also nach den einzelnen Stilmitteln, sondern: warum ist das so gemacht?, also sogleich nach ihrer Funktion. Das heißt, sie vermißt in der Philologie, oft mit Recht, das Bewußtsein von der ‚Gestalt‘, von der ‚Ganzheit‘ des literarischen Werks, vom funktionalen Zusammenhang aller Stilmittel und von der Einheit dahinter, sei diese Einheit die Idee, das Lebensgefühl oder die Absicht des Weltgeistes, die ökonomische Lage, sei es eine logische Struktur oder das Weltverständnis und wie immer die Schlagworte der philosophischen Mode heißen.⁴

Die Einwände richten sich also nicht gegen eine textphilologische Stilforschung, die der sprachlich-rhetorischen Formung des literarischen Werkes – ihrer Grammatik, Metrik, Lexik, Metaphorik, ihren rhetorischen Figuren, Textstrukturen – gilt. So gewinnt die mediävistische Lyrikforschung noch in jüngerer Zeit und gerade auch dort, wo sie das Verhältnis von Überlieferung und Autorschaft reflektiert, immer noch anhand sprachstilistischer und formaler Analysen Kriterien für die Zuschreibung einzelner Texte an einen Autor und sogar das Profil ganzer Autorœuvres.⁵ Denn selbst wenn man davon ausgeht, dass die Kennmerkmale, an denen sich Autorschaft bemisst, oft unsicher sind und im Einzelfall immer erst ermittelt werden müssen, ist die Annahme doch begründet, dass es auch im Mittelalter „die Aufmerksamkeit für eine autorspezifische Stilhaltung, für ein individuelles Sprach- und Formverhalten“⁶ gibt. Während die ältere Stilforschung so aber bei aller Problematik als philologisches Arbeitsinstrument unverzichtbar scheint, weil sie tatsächlich „das breiteste Material für eine Stilgeschichte der deutschen Literatur im Mittelalter“⁷ liefert, müssen Stilanalysen literarischer Werke den Vorbehalt einkalkulieren, dass sie sich allzu oft mit der Beschreibung einzelner sprachlicher Details begnügen und die Sprachlichkeit der Texte auf Kataloge zählbar gemachter Ausdruckselemente reduzieren, deren variierende Verwendungen dann etwa als Beleg für artistische Könnerschaft dienen

3 Hugo Kuhn: Stil als Epochen-, Gattungs- und Wertproblem in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: ders.: Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 21969, S. 62–69, hier S. 63. 4 Kuhn (Anm. 3), S. 63. 5 Eine intensive Diskussion der Forschung bietet Susanne Köbele: Frauenlobs Lieder. Parameter einer literarhistorischen Standortbestimmung, Tübingen, Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 43), S. 21–34; vgl. dazu auch die beispielhafte Diskussion zum Mönch von Salzburg: Burghart Wachinger: Der Mönch von Salzburg. Zur Überlieferung geistlicher Lieder im späten Mittelalter, Tübingen 1989 (Hermaea N. F. 57), S. 135  f.; Die weltlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Texte und Melodien. Hrsg. von Christoph März, Tübingen 1999 (MTU 114), S. 6–8; vgl. auch bei Haustein (Anm. 2) den forschungsgeschichtlichen Hinweis auf die Stilurteile der älteren Forschung und die von da noch immer hohe „Athetesen-Hypothek“ (S. 46  f.) für den Stilbegriff. 6 Köbele (Anm. 5), S. 31. 7 Kuhn (Anm. 3), S. 63.

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sollen. Für Interpretationen und die Arbeit an theoretischen Konzepten scheinen Stilanalysen auch insofern wenig herzugeben, weil sie sich auf einzelne Phänomene der sprachlichen Oberfläche konzentrieren, ohne die funktionalen Zusammenhänge der Stilmittel zu erfassen. Dass es bei diesen Vorbehalten immer schon um die grundsätzlichere Frage geht, wie ‚Stil‘ als literarische Formkategorie zu konzeptualisieren wäre, wird jedoch oft nicht mehr gesehen. Jedenfalls fehlt zumeist der Rekurs auf neuere Ansätze der Stilforschung, die den Stil eines Textes eben nicht atomistisch in diesem oder jenem auffälligen Ausdruckselement suchen, sondern, um einiges riskanter, ein Verständnis geltend machen, wonach sich der Stil literarischer Werke kontinuierlich in ihrer gesamten Textur mit allen sprachlichen Details sowie deren Zusammenspiel material und medial manifestiert.⁸ Unter den Prämissen eines solchen ‚integrativen‘ Stilkonzepts bezieht man sich zwar explizit auf textuelle Oberflächenphänomene, doch in den Blick kommen mit ihm neben den Strukturen jedes einzelnen Ausdruckselements stets Beziehungen verschiedener Ausdruckselemente, die konstitutiv für das jeweilige Rede- und Textgefüge und dessen Dynamik in der literarischen Kommunikation sind. Denn was der Stil zur ästhetischen Gestalt und Sinnbildung eines Textes beiträgt und wie er kommunikativ im Kontakt mit Hörer und Leser wirken will, hängt so nicht von einem Stilmittel allein ab, sondern von allen sprachlichen Mitteln zusammen. Umgekehrt erlaubt dieses Stilverständnis die Interpretation unterschiedlicher funktionaler Möglichkeiten – von der kontextuellen Analyse einzelner Stilfiguren über die funktionale Deutung literarischer Texte bis hin zu stilgeschichtlichen Schlussfolgerungen. Dass ein solches Verständnis dabei aktuellen poetologischen und literarästhetischen Fragestellungen zuarbeiten könnte, liegt nahe, da sich gerade auch in der Sprachlichkeit literarischer Texte – anders als in abstrakteren Textstrukturen – „das Ästhetische als sinnliches, wahrnehmbares, erscheinendes konkret manifestiert“.⁹ Fragt man so nach Anschlusspunkten für die Erforschung der deutschen Literatur des Mittelalters, wäre eine Reihe älterer wie neuerer Ansätze – so beispielsweise die für volkssprachliche Literatur kontrovers beurteilte Verbindlichkeit und Mächtigkeit der Tradition

8 Vgl. dazu die klärende Diskussion bei Gérard Genette: Stil und Bedeutung. In: ders.: Fiktion und Diktion. Aus dem Französischen von Heinz Jatho, München 1992, S. 95–151, hier S. 132–135; weiterhin etwa Bernd Spillner: Stilistik. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold/Heinrich Detering, München 1996, S. 234–256. Ob und inwieweit sich Spillners „integrative Stiltheorie“ mit ihrem weitergehenden Anspruch, „den gesamten literarischen Kommunikationsprozeß“ (S. 246) in den Blick zu nehmen und Stil dabei als eine historischen Veränderungen unterliegende „dynamische Kategorie“ (S. 247) zu fassen, für mittelalterliche Literatur fruchtbar machen lässt, wäre erst noch näher zu diskutieren. 9 Christian Kiening: Ästhetik des Liebestods. Am Beispiel von Tristan und Herzmaere. In: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Manuel Braun/Christopher Young, Berlin 2007 (Trends in Medieval Philology 12), S. 171–193, hier S. 178.

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der lateinischen Rhetorik und Poetik¹⁰  – zu beachten, doch scheinen mir letztlich vor allem zwei jüngere Diskussionen in der germanistischen Mediävistik fruchtbar zu sein: 1. Materialität des Textes: Schon Paul Zumthor hatte in der frühen Diskussion um die Materialität der Kommunikation gefordert, Stil im Spannungsfeld zwischen Aufführung und Schrift zu verorten. Nicht allein „die linguistischen Formen, deren Gesamtheit den Text ausmacht“, seien zu berücksichtigen, sondern auch „alle nichttextuellen Bestandteile, die mit der Körperlichkeit der Teilnehmer und ihrer gesellschaftlichen Existenz als Mitglieder einer Gruppe und als Individuen in einer Gruppe zusammenhängen“.¹¹ Für die Analyse mittelalterlicher Werke sei daher auch die „Materialität der Stimme“¹² nicht weniger zentral, als es die Vorschriften und Muster der lateinischen Rhetorik sind. Auch unabhängig von diesem Konzept hat die jüngere Forschungsdiskussion nach der Pragmatik der Texte und ihrer kontextuellen Bindung an Aufführungssituationen gefragt und für Interpretationen genutzt.¹³ Doch anders als bei Zumthor erhalten Fragen nach Sprachstil und Redegestus zumeist noch zu wenig Aufmerksamkeit, auch wenn man dies insbesondere für den nachklassischen Minnesang bis Frauenlob differenziert sehen muss.¹⁴ Jedenfalls kann der Erkenntnisanspruch, der sich in der Frage vorwagt, welche Effekte der im Lied textierte ‚Ton‘ und ‚Klang‘ der Stimme haben und wie sich die Modalitäten des Vortrags im Redegestus manifestieren,¹⁵ nicht abgewiesen werden; und vielleicht ist es bemerkenswert,

10 Erinnert sei an die ‚klassischen‘ mediävistischen Referenzstudien zur rhetorischen descriptio und der daran orientierten Debatte um Kontinuität und Diskontinuität antiker Stilformen: Henning Brinkmann: Zu Wesen und Form mittelalterlicher Dichtung, Halle a. d. S. 1928, S. 103–184; Ernst Robert Curtius: Dichtung und Rhetorik im Mittelalter. In: DVjs 16 (1938), S. 435–475; Erich Auerbach: Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter, Bern 1958. 11 Paul Zumthor: Körper und Performanz. In: Materialität der Kommunikation. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeifer, Frankfurt a. M. 1988 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 750), S. 703–713, hier S. 707. 12 Paul Zumthor: Mittelalterlicher ‚Stil‘. Plädoyer für eine ‚anthropologische‘ Konzeption. In: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeifer, Frankfurt a. M. 1986 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 633), S. 483–496, hier S. 487. 13 Vgl. die souveräne Zusammenschau bei Burghart Wachinger: Liebeslieder vom späten 12. bis zum frühen 16. Jahrhundert. In: ders.: Lieder und Liederbücher. Gesammelte Aufsätze zur mittelhochdeutschen Lyrik, Berlin, New York 2011, S. 39–66, hier S. 40–52. 14 Vgl. Burghart Wachinger: Hohe Minne um 1300. Zu den Liedern Frauenlobs und König Wenzels von Böhmen. In: Wolfram-Studien 10 (1988), S. 135–150; Köbele (Anm. 5); Gert Hübner: Minnesang im 13. Jahrhundert. Eine Einführung, Tübingen 2008; Transformationen der Lyrik im 13. Jahrhundert. Wildbader Kolloquium 2008. Hrsg. von Susanne Köbele in Verbindung mit Eckart Conrad Lutz/ Klaus Ridder, Berlin 2013 (Wolfram-Studien 21). 15 Im Hinblick auf die Grenzen eines „rein textanalytischen Zugriffs“ diskutiert das Zusammenspiel von Klang und Wort in der Lyrik jetzt weiterführend Hartmut Bleumer: Der lyrische Kuss. Emotive

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dass der jüngste Versuch über den Begriff der „Stimmung“¹⁶ als einziges lyrisches Beispiel Walthers von der Vogelweide Lieder und Sprüche beizieht. 2. Performativität der Literatur: Das Stilkonzept, so wird man sagen können, entspricht den kulturellen Rahmenbedingungen der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters: ihrer Bezogenheit auf Traditionen, ihrem reflektierten Sprachverständnis, aber auch ihren noch kaum institutionell regulierten Kommunikationsverhältnissen, deren Geltung immer neu auszuhandeln ist. Diese Virulenz des Stilkonzepts bestätigt sich dann, wenn man neuere Zugänge zur literarischen Sprache als Ereignis und Handlung einbezieht und damit nach dem performativen Charakter von Rede und Schrift fragt. Für die sprachliche Formgebung mittelalterlicher Literatur ist dabei der Hinweis entscheidend, dass sprachliches Handeln „nicht nur in dem Einmaligen oder Ereignishaften einer bestimmten Aufführung oder Lektüre“ besteht, sondern zugleich „in der Wiederholbarkeit eines Aktes, der auf paradoxe Weise den Eindruck der Einmaligkeit“¹⁷ erzeugt. Denn es ist diese Wiederholbarkeit, die eine sprachliche Handlung stets in die Reihe mit den vorausgegangenen Sprachhandlungen stellt, die aber auch die Möglichkeit eröffnet, Wiederholungen als literarisches Mittel zu verwenden, um sich nicht zuletzt in der Sprachgestaltung auf eine Tradition zu beziehen, von ihr abzuweichen oder sie bewusst auszustellen.¹⁸ Vor diesem Hintergrund leuchtet ein, wenn Stilanalysen mittelalterlicher Literatur den wiederholten Gebrauch sprachlicher und rhetorischer Ausdrucksmittel in den Blick nehmen und dabei fragen, welche Faktoren die Wahl dieser Mittel bedingen und wie sie sich in neuen Kontexten verändern. Es spricht aber auch einiges dafür, speziell den iterativen Redegestus älterer Texte näher zu analysieren. Diese zwei Diskussionszusammenhänge ließen sich durch einen Vergleich mit der stilistischen Praxis der lateinischen Schriftkultur des Mittelalters noch stärker profilieren. Anders als dies für die Volkssprache gilt, ist der Sprachgebrauch im Lateinischen institutionell reguliert, so dass man Stil „aufgrund der starken Verbindlichkeit rhetorisch-stilistischer Normen nicht als Individualstil fasst, sondern als spezifische Verwendung überpersonal geprägter bzw. kollektiv verfügbarer sprachlicher Mittel begreift“.¹⁹ Statt nun aber zu erörtern, inwieweit Stilmittel und Stilmodelle der la-

Figurationen im Minnesang. In: Machtvolle Gefühle. Hrsg. von Ingrid Kasten, Berlin, New York 2010 (Trends in Medieval Philology 24), S. 27–52, hier S. 27–34. 16 Hans Ulrich Gumbrecht: Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur, München 2011, S. 37–43 sowie speziell zum Begriff ‚Stimmung‘ S. 10. 17 Cornelia Herberichs/Christian Kiening: Einleitung. In: Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte. Hrsg. von Cornelia Herberichs/Christian Kiening, Zürich 2008 (Medienwandel, Medienwechsel, Medienwissen 3), S. 9–21, hier S. 10. 18 Herberichs/Kiening (Anm. 17), S. 14. 19 Frank Bezner: Rhetorische und stilistische Praxis des lateinischen Mittelalters / Applied rhetoric and stylistics in the Latin Middle Ages. In: Rhetorik und Stilistik / Rhetoric and Stylistics. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung / An International Handbook of His-

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teinischen Rhetorik und Poetik in die volkssprachliche Literatur ausstrahlen, will ich im Folgenden an einem Gattungsbeispiel, der höfischen Lyrik und dem Ich-Lied der Hohen Minne, nach dem Wiedergebrauch sprachlicher Mittel und deren stilistischer Differenzqualität fragen. Meine Ausgangsbeobachtung ist, dass den Minnesang Stilphänomene kennzeichnen, die nicht nur stark traditionsgebunden, sondern zugleich mit einem hohen Maß an literarischer Sprachmodellierung und poetologischer Selbstreflexion verbunden sind. So loten gerade die Liedautoren, die um 1200 dichten, neben dem Minnethema auch formale Spielräume aus und arbeiten gezielt an Verdichtungen und Verschiebungen der Sprache des Minneliedes. An Heinrichs von Morungen Freudenlied (MF 125,19) lässt sich dies beispielhaft beobachten, weil die iterative Ich-Rede des Liedes mit dem Aufbau geistlicher Assoziationskontexte einhergeht. Da Morungen die Grenze zwischen geistlicher und weltlicher Liebessprache verwischt, sein Lied aber auch die Unsagbarkeit der Gefühle des Ich reflektiert, stellt sich schließlich die Frage, inwiefern dieser religiös konnotierte Redegestus eine Stildifferenz markiert.

II ‚Hoher‘ Redestil im Minnelied Die Entwicklung des Minnesangs bis auf Walther wird […] durch etwas Anderes deutlicher als durch die Vergleichung der Lieder auf ihren Gedankengehalt hin: nämlich durch die Betrachtung ihrer sprachlichen Form, ihres Stils und ihrer poetischen Technik.²⁰

Konrad Burdachs thesenhafte Überlegung aus dem Jahr 1880 wirkt im Kontext jüngerer Diskussionen zum Minnesang als poésie formelle und als artistischer Variation fast schon trivial. Dem heutigen Verständnis des Minneliedes hat sie, wie es auf den ersten Blick scheint, wenig zu bieten, was man nicht schon wüsste. So fragt sich etwa auch, ob die in seiner Untersuchung praktizierte Beschränkung der „sprachlichen Form“ auf die Ebene der Syntax – „Parataxe, Temporalsätze, Causalsätze, Consecutivsätze, Conditionalsätze“ – und die Ebene der poetischen Technik, unter der er rhetorische Figuren wie Antithese, Revocatio, Parallelismus oder Responsion versteht,²¹ heutigen Stilkonzeptionen überhaupt zu entsprechen vermag. Näher zugesehen fällt allerdings auf, dass es bei Burdach nicht um den Nachweis kunstvoller Variation

torical and Systematic Research. Hrsg. von Ulla Fix/Andreas Gardt/Joachim Knape, 2 Bde, Berlin, New York 2008 und 2009 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 31,1–2), Bd. 1 (2008), S. 326–348, hier S. 337. 20 Konrad Burdach: Reinmar der Alte und Walther von der Vogelweide, 2., berichtigte Aufl. mit ergänzenden Aufsätzen über die altdeutsche Lyrik, Halle a. d. S. 1928. Unveränd. Nachdruck: Hildesheim, New York 1976, S. 55. 21 Burdach (Anm. 20), S. V.

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im Sinne einer poésie formelle geht. Seine Fragestellung richtet sich auf ein anders gelagertes stilanalytisches Problem, darauf, in der sprachlichen Form der Texte die Ebenen des Überindividuellen und des Individuellen zu unterscheiden, um überhaupt erst beobachten zu können, was zur kollektiv verfügbaren Sprache des Minneliedes gehört und wie spezifisch sich ein Autor dazu verhält. Schon hier tritt also ein Frageinteresse hervor, das, obwohl riskant, auf das von Fall zu Fall anders austarierte Spannungsfeld zwischen dem Aufrufen von Tradition und deren individueller Gestaltung zielt, und zwar mit der Perspektive auf eine Engführung von Literatur- und Stilgeschichte. Selbst an Sprachdetails wie den grammatischen Formen der Syntax und des Verbmodus tut sich so die Möglichkeit auf, typischen Sprachmustern und ihrer Verwendungsweise auf die Spur zu kommen: Im späteren Minnesang treten die temporalen Sätze zurück hinter complicierteren Satzformen: man hat da eben nicht mehr Sinn und Empfänglichkeit für die in Raum und Zeit sich abspielenden Vorgänge der Aussenwelt, sondern man grübelt allein über seine Empfindungen.²²

Die im hohen Minnelied seit Friedrich von Hausen „mit allen möglichen Färbungen“ präsente „hypothetische Satzform“ erweist sich dabei als Stilphänomen, weil die Autoren nach Hausen sie schon wie „eine längst geprägte und umlaufende Münze“ behandeln und man deshalb nach dem jeweils spezifischen Sinn der „conditionalen Redeweise“²³ fragen kann. Beobachtbar wird so auch, wann sich eine Sprachform wiederholt und vielleicht sogar so häufig wird, dass sie als Rede- und Denkfigur typisch ist. Hausen und Reinmar greifen in ihren Minnekanzonen auf ein solches Sprachmuster zurück, wenn sie hypothetische Reflexionen in Szene setzen, in denen das Ich des Liedes einen Ausweg aus der nicht erfüllten Liebe sucht und daraufhin als möglich annimmt, was der Wirklichkeit aber gerade nicht entspricht: Hete ich sô hôher minne mich nie underwunden, mîn möhte werden rât. ich tet ez âne sinne; des lîde ich ze allen stunden nôt, diu mir nâhe gât. Mîn staete mir nu hât daz herze alsô gebunden, daz sî ez niht scheiden lât von ir, als ez nu stât. (MF 52,7–16)²⁴

22 Burdach (Anm. 20), S. 56. 23 Burdach (Anm. 20), S. 61. Vgl. dazu Manfred Eikelmann: Denkformen im Minnesang. Untersuchungen zu Aufbau, Erkenntnisleistung und Anwendungsgeschichte konditionaler Strukturmuster des Minnesangs bis um 1300, Tübingen 1988 (Hermaea N. F. 54). 24 Friedrich von Hausen, Lied XIV.

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Ime ist wol, der mac gesagen, daz er sîn liep in senenden sorgen lie. nu muoz aber ich ein anderz klagen: ich gesach ein wîp nâch mir getrûren nie. Swie lange ich was, sô tet sie doch daz ie. diu nôt mir underwîlent reht an mîn herze gie. und waere ich ander iemen alse unmaere manigen tac, deme het ich gelâzen den strît. diz ist ein dinc, des ich mich niht getroesten mac. (MF 155,5–15)²⁵

Diese Strophen sind Beispiele dafür, wie sich im Minnelied erste Formen der Ich-Reflexion entwickeln. Die Wendung nach innen führt so wie hier dazu, dass sich das Ich sozial isoliert, zugleich aber die lebensbestimmende Bedeutung der Minne erfährt. Während bei Hausen ein Ich hervortritt, das den hypothetisch vorgestellten Ausweg aus dem Anspruch der Hohen Minne sogleich verwirft und sich selbst korrigiert (ich tet ez âne sinne), um sein Begehren aufzuschieben und den Dienst für die Dame als staete zu rechtfertigen, greift das Ich in Reinmars Lied wiederholt auf Vorstellungen aus, die eine Alternative zur Not der nicht erwiderten Liebe bieten könnten (Ime ist wol, der […] und waere ich ander ieman). Doch jedes Mal erweisen sie sich als kontrafaktische Lösungen, die der Wirklichkeit gar nicht entsprechen und am Ende nur dazu beitragen, dass das Ich in ein auswegloses Dilemma gerät. Gerade für Reinmar muss man weiterfragen, wie diese Rede- und Denkfigur, die erwünschte Vorstellungen mit der Wirklichkeit konfrontiert, die Textur des gesamten Liedes²⁶ prägt und insofern einen unverwechselbaren ‚Reinmarton‘ erzeugt, als sie auf ein exemplarisches Ich verweist, dass die Paradoxien des im Lied inszenierten Minnedienstes im Modus höfisch kultivierter Zurücknahme von Affekten, Gefühlen und Gedanken artikuliert.²⁷ Für das Ich-Lied der Hohen Minne, die Minnekanzone,²⁸ sind der außergewöhnliche Rang und Anspruch seines Themas konstitutiv. Das Konzept einer höfischen 25 Reinmar, Lied VIa. 26 Gisela Kornrumpf: Reinmar der Alte. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann, Bd. 9, 2., vollst. überarb. Aufl., Berlin 2010, S. 534–537, hier S. 535. Wichtig ist die Beobachtung, dass Reinmar seine ungleichversigen, asymmetrischen Kanzonen „vielleicht geradezu gegen das zeitgenössische romanische Formideal entwickelt. Die komplizierten Satzgefüge zumal der großen Kanzonen gleiten souverän über die Vers- und Periodengrenzen hinweg, ohne irgendwelche Behinderung durch das einmal gewählte Formschema spüren zu lassen“. 27 Vgl. dazu die Überlegungen bei Jan-Dirk Müller: Performativer Selbstwiderspruch. Zu einer Redefigur bei Reinmar. In: ders.: Minnesang und Literaturtheorie. Hrsg. von Ute von Bloh/Armin Schulz, Tübingen 2001, S. 209–231, hier S. 230  f. 28 Vgl. zum Ich-Lied der Hohen Minne und seiner gattungshistorischen Position: Burghart Wachinger: Was ist Minne? In: PBB 111 (1989), S. 252–267; erneut abgedruckt in: ders.: Lieder und Liederbücher, S. 25–38; Helmut Tervooren: Gattungen und Gattungsentwicklungen in der mittelhoch-

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Liebe, in dem der Mann klagend, reflektierend, preisend, beteuernd um eine Frau wirbt, die höher gestellt ist als er, wird dabei als monologische Ich-Rede in Szene gesetzt, die sich meist nicht an die Geliebte richtet, nicht direkt dem geliebten Du gilt, sondern sich primär als Interaktion zwischen dem Ich und den Zuhörern entfaltet. Die Redesituation der klassischen Minnekanzone entwickelt sich stets aus der Distanz zur Frau, setzt nie eine Situation gegenseitiger Verständigung voraus, und die Ich-Rede ist immer die des einseitig betroffenen Mannes, in dessen Empfindungen und Reflexionen sich die Liebe zum absoluten Wert potenzieren kann. Wenn man dabei aber nicht nur Lieder sieht, die solche Liebesklagen eher variierend inszenieren, sondern gerade diejenigen, in denen die Paradoxien der Hohen Minne sprachlich verdichtet und zugespitzt werden, zeigt sich, wie diese Spielart des Minneliedes durch „die Intensität der Sprache und die Differenziertheit der Argumentation“²⁹ spezifisches Profil gewinnt. Dazu gehört es, wie man längst weiß, dass sich die Ich-Rede des Minneliedes in zwei Sprecherrollen spaltet und, indem neben dem liebenden Ich das Ich des Sängers hervortritt, sowohl als Minnedienst wie auch als Diskurs über das Singen realisiert.³⁰ Nicht selten geraten diese zwei Sprecherebenen in Spannung zueinander, und sie sind sogar bis zum Selbstwiderspruch aufeinander bezogen, wenn sich das liebende Ich, das sein Begehren auszudrücken sucht, an den Widersprüchen der Hohen Minne abarbeitet und dabei dem Spott anderer ausgesetzt ist, während für den Sänger die im Lied inszenierte Liebesklage der Freude der Gesellschaft dient. Die Sprache der Liebe, mit der die Lieder auf diese oftmals hochgetriebenen Spannungen reagieren, ist pathetisch und exorbitant. Gekennzeichnet ist sie durch antithetische, hyperbolische und reflexive Formen der Rede. Stilistische Prägnanz gewinnen diese Redeformen dann, wenn sie im Liedvorgang gesteigert und intensiviert werden – sei es um die Grenzen des Sagbaren bis ins Religiöse auszuloten, sei es um „die hohen Töne“³¹ spielerisch oder parodistisch zu konterkarieren. Unbestreitbar ist hier wie

deutschen Lyrik. In: Gedichte und Interpretationen. Hrsg. von Helmut Tervooren, Stuttgart 1993 (RUB 8864), S. 11–42. 29 Wachinger (Anm. 28), S. 29. 30 Vgl. zur Rollenspaltung von liebendem und singendem Ich in der Minnekanzone die grundlegende Diskussion bei Rainer Warning: Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hrsg. von Christoph Cormeau, Stuttgart 1979, S. 120–159. Gattungshistorische Differenzierungen bieten: Margreth Egidi: Poetik der Unterscheidung: Zu Frauenlobs Liedern. In: Studien zu Frauenlob und Heinrich von Mügeln. Fs. für Karl Stackmann. Hrsg. von Jens Haustein/Ralf-Henning Steinmetz, Freiburg i. d. S. 2002 (Scrinium Friburgense 15), S. 103–123; Annette Gerok-Reiter: Sprachspiel und Differenz. Zur Textur von Minnesangs Ende in Frauenlobs Lied 6. In: „Texte zum Sprechen bringen.“ Philologie und Interpretation. Fs. für Paul Sappler. Hrsg. von Christiane Ackermann/Ulrich Barton, Tübingen 2009, S. 89–105. 31 Christoph März: Metrik, eine Wissenschaft zwischen Zählen und Schwärmen? Überlegungen zu einer Semantik der Formen mittelhochdeutscher gebundener Rede. In: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent. Hrsg. von Jan-Dirk Müller/Horst Wenzel, Stuttgart, Leipzig 1999, S. 317–332, hier S. 329. Vgl. weiterhin zur keineswegs einhelligen Diskussion um die Sil- und Funktionswerte

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dort der Anspruch, das Minnelied artistisch zu variieren, zugleich treten aber auch grundsätzlichere Stildifferenzen zutage, wenn sich die Sprache des Liedes zum einen dem Gestus religiöser Rede annähert und zum anderen auf das Pathos der Hohen Minne verzichtet und ostentativ „Meta-Minnesang“³² sein will.

III Interferenzen zwischen weltlichem und geistlichem Sprechen Im Minnesang um 1200 sind es Heinrichs von Morungen Lieder, in denen sich die Sprache der Liebe dadurch differenziert, dass dieser Autor neben dem Reflexionslied den Frauenpreis bis in die verwendeten Stilmittel und diverse Stilebenen profiliert.³³ Dass die Beschreibung der „sinnlichen Wahrnehmbarkeit der Frau und die ausgeprägt metaphorische Präsentation ihrer vor allem optischen Eindrücklichkeit“³⁴ Morungens Minnesang spezifisch kennzeichnen, weiß man längst. Charakteristisch ist aber nicht allein schon die sinnliche Erfahrungsweise der Liebe, so sehr gerade auch die religiös konnotierte Lichtmetaphorik mit ihren im Inneren des Liebenden entstehenden Sichteffekten die Lieder prägt (vgl. etwa MF 129,20–24: Si liuhtet sam der sunne tuot / gegen dem liehten morgen. / ê was si verborgen. / dô muost ich sorgen. / die wil ich nû lân.).³⁵ Ihre Visualität wird nämlich erst dann adäquat beschreibbar, wenn man auch die intra- wie intertextuelle Dynamik der Lieder mit dem für sie bezeichnenden Spannungsverhältnis zwischen Anschauung, Reflexion und Narration sieht: Sinnliche „Erscheinung und [ihr] Entzug, Visualität und Abstraktion, Reden und Schweigen“, so betont Christoph Huber, „fügen sich in ein Bündel von dialek-

von Pathos und Hyperbolik des Minnliedes: Hubert Heinen: Gibt’s da nichts zu lachen? Hyperbolik als Intensivierung oder Ironiesignal bei Heinrich von Morungen und Ulrich von Liechtenstein. In: Sprachspiel und Lachkultur. Beiträge zur Literatur- und Sprachgeschichte. Fs. für Rolf Bräuer. Hrsg. von Angela Bader u. a., Stuttgart 1994, S. 194–214; Hans Irler: Minnerollen und Rollenspiele. Fiktion und Funktion im Minnesang Heinrichs von Morungen, Frankfurt a. M. 2001 (Mikrokosmos 62), S. 120–138; Christoph Huber: Liebestod im Minnesang Heinrichs von Morungen. In: Filologia Germanica – German Philology 3 (2011), S. 135–159, hier S. 138  f. 32 März (Anm. 31). 33 Vgl. dazu Gert Hübner: Frauenpreis. Studien zur Funktion der laudativen Rede in der mittelhochdeutschen Minnekanzone. Bd. 1, Baden-Baden 1996 (Saecula spiritalia 34), S. 141–196. 34 So mit Blick auf den Frauenpreis Albrecht Hausmann: Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität, Tübingen, Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 40), S. 227. 35 Vgl. zuletzt die Diskussion bei Hartmut Bleumer: Das Echo des Bildes. Narration und poetische Emergenz bei Heinrich von Morungen. In: ZfdPh 129 (2010), S. 321–345, hier S. 335; weiterhin Christoph Leuchter: Dichten im Uneigentlichen. Zur Metaphorik und Poetik Heinrichs von Morungen, Frankfurt a. M. 2003 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 3), S. 148–153.

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tisch-antithetischen Bezügen, die Morungens Minnelyrik in Bewegung halten“.³⁶ Das zeigt sich beispielhaft, wenn das Sänger-Ich in einer hypothetischen Reflexion die Anschaulichkeit der Metapher vom Einwohnen im Herzen des Ich fast reduziert und das sinnliche Erscheinen der Frau aufschiebt: West ich, ob ez verswîget möhte sîn, ich lieze iuch sehen mîne schoene vrouwen. der enzwei braeche mir daz herze mîn, der möhte sî schône drinne schouwen. (MF 127,1–4)

Zugleich gilt aber auch, dass Visualität und Narration sich bei Morungen nicht etwa ausschließen, sondern in einem Wechselverhältnis stehen, so dass man fragen muss, wie Sichtbarkeit im Kontext mit narrativen und argumentativen Strukturen je neu entsteht.³⁷ Unter diesen Voraussetzungen operieren Morungens Texte mit Ausdruckselementen und poetischen Verfahren aus unterschiedlichen rhetorischen und theologisch-spekulativen Wissenstraditionen (descriptio, Lichtästhetik), und die Effekte, die Kombination und Kontrast dieser durchaus heterogenen sprachlichen Mittel erzeugen, bestimmen wesentlich das stilistische Profil seiner Lieder. In dem damit skizzierten Problemzusammenhang nimmt Morungens Freudenlied In sô hôher swebender wunne³⁸ aus zwei Gründen eine Sonderstellung ein: Zum einen ist sie darin begründet, dass das Lied zu den ganz wenigen des klassischen Minnesangs gehört, die von gegenseitiger Liebe handeln. Ob das Ich in Morungens Lied „in der Erwartung eines von der Dame in Aussicht gestellten Schäferstündchens“³⁹ spricht, ist allerdings wenig wahrscheinlich. Kaum zufällig ist im Text nur davon die Rede, dass daz wort gie von ir munde, / daz dem herzen mîn sô nâhen lac (MF 126,3  f.). Es könnte also auch nur ein Gruß oder die Annahme des Minnedienstes gemeint sein, doch bleibt wie in den Strophen zuvor auch hier das als höchstes Glück erfahrene Ereignis auffallend unbestimmt. Das Lied bezieht seine Wirkung wesentlich aus einem sprachlichen Gestus, der zwar wiederholend und steigernd den Glückszustand des Ich evoziert, Anlass und Grund für diese Erfahrung jedoch nur umschreibend und vage andeutet. Im Unterschied zum Minnelied sonst verschiebt sich bei Morungen damit aber die sprachliche Gestaltung von präzise sachlichen und argumentativen

36 Christoph Huber: Ekphrasis-Aspekte im Minnesang. Zur Poetik der Visualisierung bei Heinrich von Morungen mit Blick auf die Carmina Burana und Walther von der Vogelweide. In: Der Tod der Nachtigall. Liebe als Selbstreflexivität von Kunst. Hrsg. von Martin Baisch/Beatrice Trînca, Göttingen 2009 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 6), S. 83–104, hier S. 104; vgl. dazu weiterhin: Christopher Young: Vision and discourse in the poems of Heinrich von Morungen. In: Blütezeit. Fs. für L. Peter Johnson. Hrsg. von Marc Chinca/Joachim Heinzle/Christopher Young, Tübingen 2000, S. 29–51. 37 Vgl. Bleumer (Anm. 35). 38 Heinrich von Morungen Lied Nr. IV, MF 125,19. 39 Hübner (Anm. 33), Bd. 2, S. 454, Anm. 60.

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Differenzierungen auf konnotative Sprachqualitäten und Assoziationskontexte. Zum anderen macht der Ton „ekstatischer, hymnisch gepriesener Freude“⁴⁰ die Besonderheit des Liedes aus. So findet der Text Möglichkeiten, den Zustand höchsten Glücks, den das Ich erfährt, durch den Rekurs auf religiöse Ausdruckselemente und Modelle zu artikulieren und hyperbolisch zu überhöhen. Doch so bestimmt die konnotativ hergestellten Bezüge erscheinen: Auch weil man das Lied nicht geradezu als „Kontrafaktur eines religiösen Hymnus“⁴¹ verstehen kann, stellt sich das Problem, wie im Text weltliches und religiöses Sprechen enggeführt werden und wie das Ineinander von Redeformen aus höfisch-weltlicher und geistlicher Tradition konstruiert ist: In sô hôher swebender wunne sô gestuont mîn herze ane vröiden nie. ich var, als ich vliegen kunne, mit gedanken iemer umbe sie, Sît daz mich ir trôst enpfie, der mir durch die sêle mîn mitten in daz herze gie. (MF 125,19–25)⁴²

Mit ganz anderem Ton als Lieder der Hohen Minne sonst setzen die Eingangsverse gleich im Aufgesang den Jubel des Ich über das erwartete Liebesglück so emphatisch wie kunstvoll variierend in Szene. Hervorgehoben ist das unvergleichliche Glücksgefühl, eines, wie es das herze noch nie erfahren hat. Bereits in dieser Redegeste zeigt sich auch die dichte Textur des Liedes, einmal weil die so nachdrücklich herausgestellte Vokabel wunne (1,1) zusammen mit vröide und liebe zu einem Geflecht von Leitwörtern⁴³ gehört, das durch Responsionen auch klanglich verstärkt wird, zugleich aber auch, weil beide Stollen des Aufgesangs durch die Metaphorik des Fliegens und Schwebens stilistisch wie semantisch korrespondieren. Damit eröffnen sie die Rede des liebenden Ich, das sein Glücksgefühl wiederholend in verschieden gerichtete Vorstellungen räumlicher Bewegungen – das hochfliegende Glück des Herzens, das

40 Dagmar Hirschberg: Morungens Konzept der herzeliebe. Zu einem Element der hochhöfischen Minnesangdiskussion. In: Fragen der Liedinterpretation. Hrsg. von Hedda Ragotzky/Gisela Vollmann-Profe/Gerhard Wolf, Stuttgart 2001, S. 40–56, hier S. 45. 41 Heinrich von Morungen, Lieder. Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch. Text, Übers. und Kommentar von Helmut Tervooren, 3. Aufl., Stuttgart 2003 (RUB 9797), S. 151. 42 Überliefert ist das Lied in zwei Fassungen als mehrstrophige Kanzone in B, C und Ca und als Einzelstrophe (= MF 125,19) in A. Offenkundig bewahren beide Textzeugen die Sprachgestalt zuverlässig, wobei A nicht unbedingt einen unfertigen oder fehlerhaften Textzustand darstellt; vgl. Nikolaus Henkel: Vagierende Einzelstrophen in der Minnesang-Überlieferung. Zur Problematik von Autor- und Werkbegriff um 1200. In: Fragen der Liedinterpretation (Anm. 40), S. 13–30, hier S. 13–15. Nach Henkel umfasst die einzeln überlieferte Strophe „in inhaltlicher Geschlossenheit, gerundet und argumentativ die zentrale Aussage des gesamten vierstrophigen Liedes“ (S. 15). 43 Vgl. die Beobachtungen bei Dieter Fortmann: Studien zur Gestaltung der Lieder Heinrichs von Morungen, Tübingen 1966, S. 58–61.

Stildifferenz im Minnelied 

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kreisende Umfliegen der Frau in Gedanken – übersetzt.⁴⁴ Der Abgesang, in ihm wird der Grund für das Glücksgefühl eher abstrakt benannt, führt eine weitere Raumdimension ein, indem nun davon die Rede ist, dass ihre Zuwendung (ir trôst) durch die Seele in das Herz gelangt ist. Ob mit der Raummetaphorik, die hier das innere Bewegt- und Ergriffensein des Ich bezeichnet, zugleich Anklänge an das Magnificat ins Spiel kommen,⁴⁵ ist zwar nicht sicher zu entscheiden, doch legen der Text, sein Ton und seine Redeweise einen solchen Bezug durchaus nahe. Auffallend ist zudem von Beginn an, dass wunne und vröide des Ich mit der imaginativ kaum einzuholenden Vorstellung eines dynamischen Innenraums verbunden sind, der, frei von jeglicher Ambivalenz, als Ort innerweltlich erfahrenen Heils⁴⁶ gedacht ist. Jede der vier Strophen des Liedes umkreist das Glücksgefühl des Ich, ohne dass die Semantik der Freude in eine leidvolle Liebe umschlägt. Durchgespielt in wechselnden Figurationen, wird die evozierte Glücksfülle wiederholend und überbietend gesteigert: Swaz ich wunneclîches schouwe, daz spile gegen der wunne, die ich hân. luft und erde, walt und ouwe suln die zît der vröide mîn enpfân. Mir ist komen ein hügender wân und ein wunneclîcher trôst, des mîn muot sol hôhe stân. Wol dem wunneclîchen maere, daz sô suoze durch mîn ôre erklanc, und der sanfte tuonder swaere, diu mit vröiden in mîn herze sanc, Dâ von mir ein wunne entspranc, diu vor liebe alsam ein tou mir ûz von den ougen dranc. (MF 125,26–39)

Wenn das Ich in der zweiten Strophe sowohl an die von Gott geschaffene Welt (2,3 luft und erde) wie die amöne Natur (walt und ouwe) appelliert, sein Liebesglück freudig 44 Ähnlich angelegt ist diese Raummetaphorik schon in den Eingangsversen des Lügenliedes Berngers von Horheim: Mir ist alle zît, als ich vliegende var / ob al der welte und diu mîn alliu sî. / swar ich gedenke, vil wol ich sprunge dar. (MF 113,1–3). Vgl. zur „Positivität der imaginären Höhe“ in Morungens Lied die Hinweise bei Stephan Fuchs-Jolie: ungeheuer oben. Semantisierte Räume und Raummetaphorik im Minnesang. In: Außen und Innen. Räume und ihre Symbolik im Mittelalter. Hrsg. von Nikolaus Staubach/Vera Johanterwage, Frankfurt a. M. 2007 (Tradition, Reform, Innovation 14), S. 25–42, hier S. 35  f. 45 Gemeint sind die Verse Lk 1,45–47: Et ait Maria: / Magnificat anima mea Dominum: / Et exsultavit spiritus meus in deo salutari meo. Vgl. Peter Kesting: Maria-Frouwe. Über den Einfluß der Marienverehrung auf den Minnesang bis Walther von der Vogelweide, München 1965 (Medium aevum 5), S. 98. 46 Vgl. dazu mit Blick für mittelalterliches Utopie-Denken Tomas Tomasek: Die Utopie im Tristan Gotfrids von Straßburg, Tübingen 1985 (Hermaea N. F. 49), S. 32  f.

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zu spiegeln und daran teilzuhaben, blendet der Text in knappen Anspielungen geistliche und weltlich-höfische Naturvorstellungen ineinander: die Anrufung der Natur, für die das Modell der kirchliche Osterhymnus ist,⁴⁷ und versatzstückhaft inserierte Motive des Natureingangs, die Morungen nur äußerst selten verwendet. Eröffnet ist damit ein Anspielungshorizont, mit dem sich, folgt man den im Text signalisierten Bezügen, „der Raum um das sein Hochgefühl feiernde Ich wie in einem Schöpfungspreis weitet“,⁴⁸ ohne dass die Verweise allerdings einen systematischen und in sich kohärenten Vorstellungszusammenhang evozieren. Ganz deutlich wird dies, wenn in der dritten Strophe von dem wunneclîchen maere die Rede ist, daz sô suoze durch mîn ôre erklanc (3,1  f.). Für das Ich sind die Worte der Frau also die Botschaft, die inneres Entzücken und Tränen der Freude bewirkt; und lesbar ist dies einerseits nun als Verweis auf die Verkündigung der biblischen Maria-Gabriel-Szene, andererseits aber auch auf das dem Mittelalter als theologisches Wissen vertraute Bild der Empfängnis durch das Ohr, mit dem sich die Vorstellung der lebensschaffenden und lebenserneuernden Kraft des göttlichen Wortes verbindet.⁴⁹ In wie hohem Maße Sprachgestaltung und Sinnbildung des Liedes verdichtet sind, zeigt sich im Blick auf das Verhältnis von iterativer Ich-Rede und jedes Mal nur assoziativ angedeuteten Bezugskontexten. Intensität gewinnen die jubilierenden Äußerungen des Ich nicht zuletzt durch Klangeffekte, wie sie insbesondere alliterierende Wortwiederholungen – wunne und trôst (1,1 und 5), hügender wân und wunneclîcher trôst (2,5  f.), vröide, wunne und liebe (3,4–6) – erzeugen. In den Seligpreisungen, die als Eingangsverse die vierte Strophe rhetorisch und klanglich eröffnen, ist das noch einmal gesteigert: Saelic sî diu süeze stunde, saelic sî diu zît, der werde tac, dô daz wort gie von ir munde, daz dem herzen mîn sô nâhen lac, Daz mîn lîp von vröide erschrac, und enweiz von liebe joch, waz ich von ir sprechen mac. (MF 126,1–7)

Stilfiguren wie Anapher, Parallelismus und Alliteration (Saelic sî diu süeze stunde, / saelic sî) leiten die Strophe rhetorisch so wirkungsvoll ein, dass sich die emotionale Intensität des erfahrenen Glücks im zunehmend intensivierten Klang der Worte vermittelt. Kaum zufällig erinnern der repetitive Stil und die sich steigernde Klanglichkeit der Verse an den gerade für hymnisches Sprechen konstitutiven Überbietungsgestus, und sie rufen konnotativ wohl auch Vorstellungen aus der Semantik des paschale 47 Vgl. den knappen Hinweis bei Tervooren (Anm. 41), S. 151. 48 Hirschberg (Anm. 40), S. 45  f. 49 Vgl. die Nachweise bei Kesting (Anm. 45), S. 96  f.; für den theologischen Wissenskontext die Darstellung bei Klaus Schreiner: Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München, Wien 1994, S. 40–42.

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gaudium auf, wie sie im Mittelalter mit dem die erlösende Kraft der Auferstehung und das erneuerte irdische Leben preisenden Osterhymnus Salve, festa dies⁵⁰ verbunden sind. Auch dass das Mittelalter mit dem lateinischen Gesang aus kirchlicher Liturgie und dem österlichem Prozessionskult vertraut war, spricht dafür, den Hymnus als Assoziationskontext in Betracht zu ziehen.⁵¹ Bezogen ist er im Lied auf den Augenblick, dô daz wort gie von ir munde, / daz dem herzen mîn sô nâhen lac (4,3  f.), auf die Worte der Frau, deren Wirkung damit geradezu als heilbringendes Ereignis überhöht wird. Ob und inwieweit mit der Wendung vom Wort aus dem Munde der geliebten Frau zugleich die Verkündigung an Maria evoziert und sogar in ihren Grundzügen nachgebildet ist,⁵² wäre erst noch näher zu erörtern. Wie jedoch explizit gesagt ist, hat das Wort der Frau das freudige Erschrecken des Ich und bis in die Gegenwart der Redesituation sein Verstummen bewirkt (4,5–7), so dass zuletzt die Kommunizierbarkeit der Liebe zum Problem wird. Obwohl sich die Ich-Rede in Morungens Lied mit einer iterativen Dynamik vollzieht, die wiederholend und steigernd die Intensität höchsten Glücks sprachlich einzuholen versucht, gelangt der Text am Ende an die Grenze dessen, was als innere Erfahrung und Emotion im Medium der Sprache sagbar und mitteilbar ist. Bei aller Kunst der sprachlichen Formgebung und aller Fülle der im Anspielungshorizont des Liedes aufgerufenen Kontexte zeichnet sich damit die Perspektive ab, die iterative Rede des Liedes in ihrer kommunikativen Begrenztheit auszustellen und zu reflektieren. Wie man längst weiß, öffnet Morungen diese Perspektive in seinen Liedern auch sonst. Der für sein Freudenlied konstitutive Redegestus zeigt aber auch, dass so eine Figuration der Rede gefunden ist, in der sich weltliches und geistliches Sprechen über Liebe berühren, überschneiden und sogar als untrennbar erweisen. Man wird daher auch noch fragen müssen, ob diese eindeutig hierarchisiert sind oder die Spannung zwischen den heterogenen Redeformen nicht doch in erstaunlichem Maße offen und virulent gehalten wird.⁵³ Dass die Verweise auf den religiösen Anspielungshorizont stets konnotativ erzeugt werden, gehört dabei zum Redegestus und seinem

50 Analecta hymnica medii aevi. Hrsg. von Clemens Blume/Guido Maria Dreves. Bd. 50, Leipzig 1907, Nr. 69, S. 79. 51 Vgl. Johannes Janota: Salve fest dies. In: 2VL, Bd. 8 (1992), Sp. 549  f.; ders.: Studien zu Funktion und Typus des deutschen geistlichen Liedes im Mittelalter, München 1968 (MTU 23), S. 188–191. 52 Vgl. neben Kesting (Anm. 45), S. 97, insbesondere Fortmann (Anm. 43), S. 64  f. Abweichend von diesen Deutungen erklärt Henkel (Anm. 42), S. 14  f., Anm. 4, die Wendung als gängige biblische Sprachformel. 53 Der Zusammenhang von iterativer Rede und Konnotativität wäre im Rekurs auf Rainer Warnings speziell für Stilanalysen noch wenig genutztes Konzept der ‚konnotativen Ausbeutung‘ weiter zu diskutieren; vgl. Warning (Anm. 30), S. 134–156; dazu auch Irler (Anm. 31), S. 246–254. Einbeziehen muss man dabei die im wiederholten Gebrauch der Vokabel süeze ausgestellte und reflektierte Ästhetik des Wortes, auf die schon Friedrich Ohly nachdrücklich hingewiesen hat; vgl. ders.: Süße Nägel der Passion. Ein Beitrag zur theologischen Semantik, Baden-Baden 1989 (Saecula spiritalia 21), S. 89 und S. 91.

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 Manfred Eikelmann

stilistischen Gestaltungspotential. Denn obwohl immer wieder Ausdruckselemente aus der geistlichen Liebessprache anklingen, wird die Differenz zwischen weltlichem und geistlichem Sprechen nie explizit markiert. Gerade auch Minnelied und Hymnik kommen so in eine produktive Konfiguration, die das Entstehen neuer und auch stilistisch distinkter Sprach- und Denkformen ermöglicht.

Almut Suerbaum

‚Mystischer‘ Stil als kulturelle Praxis? Interferenzen zwischen geistlicher und weltlicher Lyrik in Hadewijchs ‚Strophischen Liedern‘* ¹

I Style over substance? Anglo-deutsche Forschungsdiskussion Stil ist überall und dennoch schwer fassbar; zugleich ein Phänomen jeder menschlichen Handlungsform und genuin sprachlich; eine der Anschlusskategorien interdisziplinärer Diskurse und doch spezifisch für literaturwissenschaftliche Auseinandersetzungen. Angesichts solcher in der Verschiedenheit wissenschaftlicher Konzeptualisierungen der Kategorie ‚Stil‘ begründeten Paradoxien will dieser Beitrag Positionen der jüngeren Stildiskussion auf ihre Anwendbarkeit für die spezifischen Gegebenheiten mittelalterlicher Literatur befragen, die besondere Spannung mediävistischer Stilbegriffe zwischen Individualstil und kollektiver Praxis beschreiben, um diese schließlich an einem Fall zu diskutieren. Hadewijchs ‚Strophische Lieder‘ verbinden in einzigartiger, dennoch aber für die Problemstellung aufschlussreicher Weise liturgische Praxis mit dem Sprachgestus höfischer Lyrik. Sie gelten als Ausweis ungewöhnlicher sprachlicher Komplexität, sind aber zugleich nur im Kontext kultureller Praktiken der Selbstreflexion und Selbstverleugnung zu sehen und stehen damit in einem in den Liedern selbst thematisierten Spannungsbogen zwischen Subjektivität und Selbstüberschreitung, aber auch zwischen Sprachlichkeit und performativem Vollzug; sie sollen daher hier exemplarisch darauf untersucht werden, ob ‚Stil‘ eine angemessene Kategorie sein kann, diese Spannungen in ihrer spezifisch literarischen Manifestation zu beschreiben.

* Der Beitrag ist aus einem anglo-deutschen Gedankenaustausch mit Manfred Eikelmann entstanden, bei dem es uns um die Frage ging, inwiefern sich Stilphänomene aus interkulturellen Austauschbeziehungen erklären. Diese Überlegungen haben wir auf der Bensberger Tagung auf Wunsch der Veranstalterinnen in einem gemeinsamen Vortrag zur Diskussion gestellt. Für den Druck bot sich dann eine separate Präsentation an, um über unsere korrespondierende Fragestellung hinaus Unterschiede in der Stilkonzeption zu profilieren. Vgl. den Beitrag von Manfred Eikelmann in diesem Band.

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 Almut Suerbaum

Stil gehört, so Paul Zumthor, zum eigentlichen Wesen der menschlichen Sprache und geht ontologisch all unseren Formen der Verschriftlichung voraus. Er bildet sich in der und durch die Bewegung, durch welche die Sprache sich als Ritual, Mythos – als Poesie – zu erkennen gibt.¹

Obwohl Zumthors Definition Stil damit zur ontologischen Kategorie macht, nimmt sie eine wesentliche Eingrenzung vor, denn die Fokussierung auf Sprachlichkeit bedeutet eine Abgrenzung von anderen Stildiskursen, wie sie die Anthropologie, Kulturwissenschaft oder Soziologie vertreten. Dort ist Stil zwar ebenfalls eine in ihrer Definitionsbreite umstrittene Kategorie, gilt aber in aller Regel als eine von der Funktion des Objekts unabhängige Größe.² Wo Sprache das Objekt stilkritischer Untersuchung ist, wird diese Unterscheidung dagegen problematisch, sofern in der Tradition der klassischen Rhetorik über den Begriff des aptum gerade Situationsangemessenheit und damit funktionale Aspekte sprachlicher Kommunikation als zentrale Kategorien der Stilanalyse gelten.³ Stil und Stilisierung sind daher nicht nur menschliche Universalien, sondern auch Differenzkriterien von Literatur. Zumthors Formulierung grenzt sich nicht nur von Nachbardisziplinen ab, sondern zugleich auch von älteren Auffassungen, denen Stil als Ausdruck individueller Autorintentionalität, also ‚Personalstil‘, gilt. Gegen eine solche Interpretation, in der Stil allein der subjektiven Ästhetik des einzelnen Künstlers zuzuschreiben ist, insistiert Zumthors Formalismus darauf, dass literarische Texte grundsätzlich überdeterminiert sind und Bedeutung nur über einen zirkulären Prozess der Partizipation an Traditionen erhalten.⁴ Stil ist, und das ist charakteristisch für Zumthors Position, ein Phänomen der Sprache als kollektivem System, nicht des individuellen Autors.

1 Paul Zumthor: Mittelalterlicher ‚Stil‘. Plädoyer für eine anthropologische Konzeption. In: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1986 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 633), S. 483–496, hier S. 495. 2 Margaret Selting: Stil – in interaktionaler Perspektive. In: Perspektiven auf Stil. Hrsg. von Eva Maria Jakobs/Annely Rothkegel, Tübingen 2001 (Reihe Germanistische Linguistik 226), S. 3–20, bes. S. 9  f., zur Bedeutung nicht-sprachlicher Elemente vgl. auch Ulla Fix: Textstil und KonTextstile. Stil in der Kommunikation als umfassende Semiose von Sprachlichem, Parasprachlichem und Außersprachlichem. In: Stil und Stilwandel. Fs. für Bernhard Sowinski. Hrsg. von Ulla Fix/Gotthard Lerchner, Frankfurt a. M., Berlin, Bern 1996, S. 106–123. 3 K. Ludwig Pfeiffer: Produktive Labilität. Funktionen des Stilbegriffs. In: Stil (Anm. 1), S. 685–725, konstatiert die paradoxe Spannung: auch wenn die Vagheit des Begriffs allgemein zugestanden wird, ist er nur schwer abzuschaffen. 4 Paul Zumthor: Essai de poétique médiévale, Paris 1972; anders Sarah Kay: Subjectivity in Troubadour Poetry, Cambridge 1990 (Cambrigde Studies in French 31), hier S. 6  f., die eine stärkere historische Differenzierung zwischen der über ein Jahrhundert hin fast unverändert auf bestimmte Muster zurückgreifenden Trouvère-Dichtung des französischen Nordens, auf die Zumthor sich vornehmlich

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Mit dem Verweis auf kollektive Ordnungen stellt sich allerdings auch die Frage, auf welcher Ebene des Systems Stilphänomene beobachtbar und beschreibbar sind. Schon das Exposé der Tagung hatte darauf aufmerksam gemacht, dass Stil in dieser Hinsicht nicht nur ein terminologisch schillerndes, sondern oft auch ambivalent bewertetes Phänomen ist. Im Deutschen wie Englischen kann man Stil haben. Dann ist mit Stil ein ,Habitus‘ im Sinne Bourdieus gemeint, der im Kräftefeld des sozialen Lebens seine Wirkung gewinnt, so dass Lebensform und Ausdruck zusammenfallen.⁵ Wenn man auf diese Weise Stil als Resultat einer Habitualisierung ansetzt, hat das allerdings auch zur Folge, dass Entscheidungen über die Wahl bestimmter Stilmerkmale nicht dem freien Willen des auswählenden Subjekts zugerechnet werden, sondern vielmehr Produkt eines komplexen Prozesses sind, dessen Ziel es ist, die Spuren dieses Prozesses unsichtbar zu machen. Übung, nicht Entscheidung, wird in diesem Entwurf zur Leitkategorie der Selbstperfektionierung.⁶ Doch gerade im Englischen gibt es auch negativ konnotierte Verwendungsweisen: Wenn alltagssprachlich vom triumph of style over substance gesprochen wird, so deutet dies auf ein Verständnis von Stil, dem man seine Ursprünge in der antiken Rhetorik noch unmittelbar ansehen kann, mit allen Vorbehalten, die daraus folgen. Stil wird in solchen Formulierungen verstanden als Oberflächenphänomen, positiv als Ausweis von Kunstfertigkeit, Technik und Regelhaftigkeit, negativ als Ausdruck der Beschäftigung mit dem ‚nur‘ Äußerlichen. Diese alltagssprachlichen Formulierungen thematisieren Positionen, mit denen sich der Versuch einer literatur- wie kulturwissenschaftlichen Diskussion stütze, und der Troubador-Dichtung einfordert, deren differenzierte literarische Praxis und polemische Zersplitterung in Faktionen Zumthors Modell objektiver Intertextualität unterschätze. 5 Pierre Bourdieu: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Übers. von Achim Russer, Frankfurt a. M. 2001, S. 177, situiert in einem späten Rückblick auf sein Werk den Habitusbegriff in der Tradition scholastischen Denkens und versteht ihn als Versuch, sowohl mechanistische wie auch finalistische Auffassungen von Handeln in Frage zu stellen: „Der praktische Sinn ermöglicht zu handeln comme il faut (hôs dei, wie Aristoteles sagte), ohne ein (Kantsches) ,Sollen‘, eine Verhaltensregel, aufzustellen oder anzuwenden.“ Kritisch zur suggestiven, oft aber kaum nachweisbaren kausalgenetischen Beziehung Bernd Roeck: Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit. Von der Renaissance zur Revolution, Göttingen 2004, hier S. 57: „Ein Haupteinwand lautet, daß sich für die von Panofsky behaupteten Kausalbeziehungen so gut wie keine positiven Quellenbefunde anführen lassen. So überrascht es nicht, daß Panofskys Modell nicht direkt auf die Geschichtswissenschaft gewirkt hat. Allerdings fand es sozusagen durch die Hintertür, nämlich über das Habitus-Konzept Pierre Bourdieus, doch Eingang in den historiographischen Diskurs der Gegenwart.“ Dennoch gesteht auch Roeck die Faszination der von Panofsky zuerst formulierten Fragen ein: „Sie zielen auf habituelle Eigenheiten kreativer Eliten und auf ihre gemeinsamen Voraussetzungen, auf die Existenz eines tertium comparationis von Stilen in unterschiedlichen Kunstgattungen.“ (S. 57). Zum Einfluss Panofskys auf Bourdieu vgl. Roeck, S. 73–78; und Katharine Breen: Imagining an English Reading Public, 1150–1400, Cambridge 2010 (Cambridge Studies in Medieval Literature 79), S. 6–8. 6 Solche „Abblendungsdynamiken“ innerhalb einer Poetik normativer Habitualisierung untersucht Bent Gebert: Poetik der Tugend. Zur Semantik und Anthropologie des Habitus in höfischer Epik. In: Text und Normativität im deutschen Mittelalter. XX. Anglo-German Colloquium. Hrsg. von Elke Brüggen/Sebastian Coxon/Franz-Josef Holznagel, Berlin, Boston 2012, S. 143–168, hier S. 168.

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über Stil in der Mediävistik auseinandersetzen müsste: das Verhältnis zwischen Stil und Oberfläche in der Tradition der klassischen Rhetorik; die Verbindung zwischen Stil und Norm, wenn Stil im Sinne der Musterbildung verstanden wird;⁷ schließlich die Frage danach, auf welcher Ebene die allen Stilbegriffen gemeinsame Annahme einer Wahlmöglichkeit zwischen unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten anzusiedeln sei. Verbreitet ist die Annahme, dass Stil ein Element des sprachlich-künstlerischen ornatus sei, das sich in seinen Manifestationen beschreiben und nach MerkmalClustern größeren Mustern zuordnen lässt. Ihre Ursprünge hat diese Ansicht in der antiken Rhetorik, die in einer dem Mittelalter vergleichbaren Weise Formen der Verschriftlichung in Situationen entwickelt, in denen Mündlichkeit und Stimme präsent bleiben.⁸ Ob die Rhetorik ihre Aufgabe, „die Formulierung eines geordneten Zusammenhangs zwischen Sache, Sprache und Wirkung“, dabei löst oder je lösen kann, ist umstritten;⁹ oft wird sie, trotz der kontroversen Diskussion um Verbindlichkeit in der Antike, auf Kataloge normativer Vorschriften reduziert und liefert so andererseits die Basis für Merkmalsbeschreibungen.¹⁰ Die auf rhetorische Tropen und Figuren zurückgehende Analysemethode ist damit ein Prototyp strukturalistischer Modellbildung; sie lässt sich auf sprachliche Formen der Lexis, Syntax und Metrik genauso anwenden wie auf Elemente der narrativen und argumentativen Makrostruktur, aber eben auch auf musikalische Elemente, Aspekte der Flächen- und Liniengestaltung in der bildenden Kunst, oder Rocklängen und Farbpaletten der Mode. Das oben skizzierte vorwissenschaftliche Verständnis von Substanz und Oberfläche ist weit verbreitet, bleibt auch für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen ‚Stil‘ lange wirksam, doch wird es seit Beginn des 20. Jahrhunderts aus unterschiedlichen Forschungsdisziplinen heraus problematisiert. Vor allem die Kunstwissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts widmet sich im Zuge der Rechtfertigung als wissenschaftliche Disziplin dezidiert dem Problem, nach welchen Kriterien und Merkmalen Stil beurteilt werden könne. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wird zudem die Linguistik zur Leitwissenschaft der Diskussion von Stil und Stilistik, wobei

7 Gert Hübner: Rhetorische und stilistische Praxis des deutschen Mittelalters / Applied rhetoric and stylistics in the German Middle Ages. In: Rhetorik und Stilistik / Rhetoric and Stylistics. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung / An International Handbook of Historical and Systematic Research. Hrsg. von Ulla Fix/Andreas Gardt/Joachim Knape, 2 Bde, Berlin, New York 2008 und 2009 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 31,1–2), Bd. 1 (2008), S. 348–369, hier S. 351. 8 Pfeiffer (Anm. 3), S. 687, unter Verweis auf George A. Kennedy: Classical Rhetoric and its Christian and Secular Tradition from Ancient to Modern Times, London 1980, hier S. 109–115. 9 Pfeiffer (Anm. 3), S. 696. 10 Kritisch dazu Hübner (Anm. 7), S. 350, der dies als mikrostilistische Ebene bezeichnet und unter Bezug auf Bernhard Sowinksi: Stilistik. Stiltheorien und Stilanalysen, 2., überarb. und aktual. Aufl., Stuttgart 1999 (Sammlung Metzler 263), eine Erweiterung auf makrostilistische Formen der Textebene einfordert.

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Thomas Sebeok und Stephen Ullmann den interdisziplinären Charakter jeder Auseinandersetzung mit Stil hervorheben, gleichzeitig aber die Besonderheit sprachgebundener Stilphänomene betonen und eine Anbindung an Saussuresche Methoden der Differenzierung fordern.¹¹ Wo zunächst strukturalistische Ansätze solche Cluster von Stilmerkmalen zu bewerten und systematisieren suchten, zeichnet sich, verbunden mit dem Begriff der ‚Oberfläche‘, auch in der Sprachwissenschaft die Wendung hin zum sinnlich und physisch greifbaren Erscheinungsbild der sprachlichen Gestalt ab, d.  h. zu einer grundsätzlichen Aufmerksamkeit für die veränderliche materiale Seite von Sprache: Stil als Phänomen der Oberfläche, als signifikante Form von (sprachlichen) Handlungen, ist [dabei] das Medium, in dem sozial- wie kulturspezifische Prägungen von Wahrnehmung, Erfahrung, Deutung und Wissen ihre materielle Resonanz haben und ihren zeichenhaften Ausdruck finden.¹²

Schließlich hat die angelsächsische Mediävistik der letzten zwanzig Jahre prominent hervorgehoben, welche Bedeutung die Materialität der Überlieferung für Phänomene von Identitätsstiftung hat.¹³ Das betrifft nicht allein die in der New Philology zum Programm erhobene Abwendung von der Kategorie ‚Autor‘ und ihre Konsequenzen für die Editionsphilologie, sondern vor allem auch die damit erneut in den Blick rü-

11 Style in Language. Hrsg. von Thomas A. Sebeok, New York, London 1943, war das Resultat einer Forschungskollaboration zwischen Linguistik und Psychologie, deren ausdrückliches Ziel es war, Grenzen zwischen geistes- und naturwissenschaftlichen Zugängen zum Phänomen Stil zu überschreiten: „In our conference, and in this book which embodes its results, a deliberate and self-conscious attempt was made to initiate a departure from the perpetual humanistic engagement in the solution of an subtle and elusive puzzle – the fluid and dissonant nature of style – by offering an opportunity for experts in philosophic speculation to commingle (if not outrightly collaborate) with men of scientific temperament.“. Stephen Ullmann: Meaning and Style. Collected Papers, Oxford 1973, hier S. 91  f., situiert literaturwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Phänomen Stil als Parallele zur Saussureschen Sprachwissenschaft, besonders in Hinsicht auf das Verhältnis zwischen Semasiologie und Onomasiologie: „The linguist and the literary critic may have to separate the two components but they must never lose sight of their essential unity and interpenetration.“; er verweist auf Flaubert als einen frühen Gegner der verbreiteten Ansicht, Stil sei äußerlich und ornamental: „At one time it was customary to regard style as something external and ornamental: Lord Chesterfield defined it as ‚the dress of thoughts‘. Flaubert protested vigorously against this view: ‚Ces gaillard-là s’en tiennent à la vieille comparaison: la forme est un manteau. Mais non! la forme est la chair même de la pensée, comme la penseé est l’âme de la vie.‘ Nor could this be otherwise if style is regarded as a unique and idiosyncratic mode of vision or, as Flaubert himself put it, ‚unie manière absolue de voir les choses‘.“ 12 Angelika Linke/Helmuth Feilke: Oberfläche und Performanz. Zur Einleitung. In: Oberfläche und Performanz. Untersuchungen zur Sprache als dynamischer Gestaltung. Hrsg. von Angelika Linke/Helmuth Feilke, Tübingen 2009 (Reihe Germanistische Linguistik 283), S. 3–17, hier S. 7. 13 Vgl. Caroline Walker Bynum: Christian Materiality. An Essay on the Late Medieval Religion, New York 2011, zur Bedeutung dessen, was sie ‚stuffness‘ nennt, für mittelalterliche spirituelle Praxis.

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ckende Bedeutung der Schriftlichkeit und ihre komplexe Vermittlungsposition zwischen Stimme und Schrift. Problematisiert wird in der jüngeren Forschung zudem das Verhältnis von Norm und Praxis. Während die Pragmatisierung antiker Rhetorik in strukturalistischen Ansätzen gelegentlich zum bloßen Ordnungssystem sprachlicher Formeln gerät, insistiert vor allem die neuere linguistische Diskussion darauf, dass Sprachhandeln nicht ohne Einbezug der pragmatischen Dimension zu beurteilen sei. Das führt zu einer Verschiebung der Kriterien: Stil, so die fast unumstrittene These moderner Linguistik und Ästhetik, ist grundsätzlich relational, d.  h. nicht als vorgegebene Eigenart des Gegenstandes, sondern allein als Differenz, die im Verhältnis zwischen Typisierung und Individualisierung oder zwischen Hintergrund und besonderer Figur wahrnehmbar ist. Wenn damit Stil Gestaltungsmittel von Gesprächen und Texten ist, ist er zugleich Teil des sozialen Handelns.¹⁴ Dabei stellen allerdings mittelalterliche volkssprachige Texte eine besondere Herausforderung dar, da wir institutionell gebundene Formen der Reflexion über Sprachnormen fast nur im Lateinischen greifen können.¹⁵ Dort ist sowohl aus der Artes-Ausbildung der Universitäten wie aus den artes praedicandi nachweisbar, dass Einübung sprachlicher Modelle und die Imitation wichtiger Vorbilder zum Alltag rhetorischer Praxis gehören.¹⁶ Wie weit man für volkssprachige Texte Kenntnis solcher Diskurse voraussetzen kann, wird weiterhin kontrovers beurteilt, vor allem in Auseinandersetzungen mit dem höfischen Roman und seinen Sprachidealen; auch die vielleicht prominenteste mittelalterliche Äußerung zum Verhältnis zwischen Latein und Volkssprache, Dantes Einleitung zu De vulgari eloquentia, sieht den entscheidenden Unterschied zwischen volkssprachiger Sprechfähigkeit und lateinischer Beredsamkeit darin, dass lateinische Grammatik als Metasprache nicht mit der Muttermilch gleichsam natürlich aufgesogen, sondern vielmehr nur über einen langandauernden Prozess der Übung als habitus angeeignet werde.¹⁷ Allerdings gibt

14 Barbara Sandig: Stil ist relational! Versuch eines kognitiven Zugangs. In: Perspektiven auf Stil (Anm. 2), S. 21–33, hier S. 21; Roeck (Anm. 5), S. 74, zur Leistung des Bourdieuschen Habitus-Konzepts: „Das Modell bringt die Dialektik zwischen ,Stil‘ als einem Kollektivphänomen und individueller Kunstproduktion auf den Begriff. Der künstlerische Stil realisiere sich nicht aus einer im Kern originellen Eingebung, sondern er werde in der Dialektik von Objektivierungsabsicht und bereits objektivierter Absicht ständig definiert und umdefiniert.“ 15 Vgl. zu den methodischen Problemen Hübner (Anm. 7), S. 350. 16 Frank Bezner: Rhetorische und stilistische Praxis des lateinischen Mittelalters / Applied rhetoric and stylistics in the Latin Middle Ages. In: Rhetorik und Stilistik (Anm. 7), Bd. 1 (2008), S. 326–348, hier S. 329. 17 Meilensteine dieser Debatte sind Franz-Josef Worstbrock: Dilatatio materiae. Zur Poetik des Erec Hartmanns von Aue. In: FmSt 19 (1985), S. 1–30; und Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, 2., überarb. und erw. Aufl., Darmstadt 1992. Zu Dantes Habitus-Konzept der Sprache als ethisch überformter Haltung und seiner Konstruktion einer habituell angeeigneten Volkssprache zweiter Ordnung Breen (Anm. 5), S. 1–3 und S. 85–91.

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es auch in der Volkssprache Diskurse, in denen die Rolle literarischer Muster und ihre Verbindlichkeit Gegenstand expliziter Reflexion sind: vornehmlich im Minnesang, dessen Oszillieren zwischen Musterbildung und Normüberschreitung schon Hugo Kuhn als ‚Variationskunst‘ bezeichnet hatte,¹⁸ aber auch in der mystischen Literatur, für die Performativität zur zentralen Kategorie von Sprachlichkeit wird.¹⁹ Hadewijchs geistliche Lieder in ihrer Transformation subjektivierender Liebeslyrik in mystische Diskurspraxis sind daher ein besonders interessanter Grenzfall solcher Interferenzphänomene. Wenn Stil damit methodisch zu einer Differenzkategorie wird, mit Hilfe derer sich ein Einzeltext auf ein Repertoire sprachlicher Möglichkeiten bezieht, dann stellt sich neben der Frage nach den sozialen Institutionen und Kontexten, in denen eine solche Normativität vermittelt wird, auch die Frage nach dem Vorgang der Auswahl. Kontrovers ist dabei, auf welcher Ebene eine solche Wahl anzunehmen sei: ob in der Tradition des Idealismus auf der Ebene des individuellen Autors, dessen subjektive Entscheidung ästhetische Qualität garantiere, oder aber als Teil kollektiver kultureller Praxis, wie es Frank Bezner für die rhetorische Praxis des lateinischen Mittelalters konstatiert.²⁰ Während Bezner die „epochalen, medialen und gattungsmäßigen Bedingungen der jeweiligen Texte“ für die Auswahl aus dem „Repositorium normierter bzw. kanonisierter sprachlicher Gestaltungsmittel“ verantwortlich sieht und damit auf den Produktionsprozess fokussiert,²¹ ist ein solcher Umgang mit Konzepten aus der Rhetorik in der rezeptionsästhetisch orientierten angelsächsischen Mediävistik seit längerem prominent. Mary Carruthers etwa hat für das lateinischsprachige monastische Milieu nachgewiesen, dass kollektive Prozesse auch auf der Ebene der Rezeption die mittelalterliche Literatursituation wesentlich bestimmen, da der rhetorische ductus als eine Form der Bewegung und Kanalsierung zu sehen sei, in der mithilfe stilistischer Figuren die Leser durch ein literarisches Werk geführt werden.²² An dieser Stelle sollen die folgenden Überlegungen ansetzen und einen Beitrag dazu leisten, die Bedeutung spezifischer sprachlicher Ausdrucksformen zwischen individueller poetischer Praxis und kollektiver Kultur als Spezifikum mittelalterlicher Literarizität ernstzunehmen. Die Spannung zwischen diesen beiden Polen ist bereits in einer der richtungsweisenden Kontroversen um den Begriff ‚Stil‘ spürbar: Erwin Panofsky, der das Zusammenspiel von Geschichte und Forschungsparadigmen verkörpert, äußerte bereits in seinem 1915 verfassten Vortrag „Das Problem des Stils in der bildenden Kunst“ methodische Skepsis an der Dichotomie, die Heinrich Wölfflin in einem schnell

18 Hugo Kuhn: Minnesangs Wende, 2., verm. Aufl., Tübingen 1967 (Hermaea N. F. 1). 19 Burkhard Hasebrink: Formen inzitativer Rede bei Meister Eckhart. Untersuchungen zur literarischen Konzeption der deutschen Predigt, Tübingen 1992 (Texte und Textgeschichte 32). 20 Bezner (Anm. 16), S. 328. 21 Bezner (Anm. 16), S. 345  f. 22 Mary Carruthers: The Craft of Thought, Cambridge 1998, bes. S. 116–135.

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rezipierten und lange wirksamen Vortrag entwickelt hatte. Wölfflin, so Panofsky, unterscheide „zwei prinzipiell verschiedene Wurzeln des Stiles, nämlich eine psychologisch bedeutungslose Anschauungsform und einen ausdrucks-mäßig interpretierbaren Stimmungsgehalt“.²³ Panofsky hält diese Unterscheidung auf zweifache Weise für problematisch. Die Lehre von einer doppelten Wurzel des Stils kann also  […] nicht wohl aufrecht erhalten werden. Das individuelle Ausdrucksstreben, das den einzelnen Künstler zu einer nur ihm eigentümlichen Formgebung und zu einer persönlichen Auffassung oder Bestimmung des Gegenstandes führt, äußert sich zwar in allgemeinen Formen, aber diese selbst sind ihrerseits nicht weniger aus einem Ausdrucksstreben hervorgegangen: als einem der ganzen Epoche gewissermaßen immanenten Gestaltungs-Willen, der in einer grundsätzlich gleichen Verhaltensweise der Seele, nicht des Auges, begründet ist.²⁴

Panofsky insistiert damit auf der Notwendigkeit, Elemente eines als epochentypisch wahrgenommenen Stils innerhalb ihrer kulturellen Kontexte zu verstehen und diese nicht bereits als gegebene Erklärungskategorien zu betrachten.²⁵ Er bezieht sich damit auf den Status der Kunstgeschichte am Beginn des 20. Jahrhunderts, und das Beispiel, anhand dessen er seine Kritik artikuliert, ist geprägt von der für die Warburgschule zentralen Auseinandersetzung mit der Bedeutung Dürers und der Kunst der Renaissance, für welche die Spannung zwischen Individualität und Konvention zum zentralen Punkt wird. Obschon Panofskys Kritik in ihrer Postulierung eines überpersönlichen, epochentypischen Gestaltungswillens zeitgebunden ist und über ihre Fokussierung auf die Renaissance ihrerseits auf problematische Weise mittelalterliche Kultur als Gegenfolie zur Aufklärung projiziert, thematisiert sie zwei Fragenkomplexe, denen der Beitrag am Beispiel Hadewijchs nachgehen möchte; sie dürften, so die These, zentral sein für die Entwicklung eines mediävistischen Stilbegriffs. Mediävistische Auseinandersetzungen mit dem Phänomen ‚Stil‘ müssten erstens der besonderen medialen Situation gerecht werden. Schon Zumthor, für den Stil zwar Normsetzung wie Normverletzung impliziert, sich aber immer auf ein System bezieht, hatte an die mediale Besonderheit mittelalterlicher Literatur im Zwischenfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit erinnert und eingefordert, dass jede Beschäftigung mit mittelalterlichen Werken die Qualität der Stimme und nicht allein die Regeln lateinischer

23 Erwin Panofsky: Das Problem des Stils in der bildenden Kunst (1915). In: Erwin Panofsky: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Hrsg. von Hariolf Oberer/Egon Verheyen, 2., erw. und verb. Aufl., Berlin 1974, S. 19–27, hier S. 19. 24 Panofsky (Anm. 23), S. 25. 25 Zur Problematik eines Versuchs, „eigentliche Bedeutung“ von Kunstwerken mittels der ikonologischen Analyse zu ermitteln, Roeck (Anm. 5), S. 48  f.

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Rhetorik zu berücksichtigen habe.²⁶ Dies ist in der Forschung besonders intensiv für lyrische Texte diskutiert worden, die im Folgenden im Mittelpunkt stehen sollen.²⁷ Zweitens bedarf der Zusammenhang zwischen Stil und literarischer Normvorstellung der Reflexion. Wenn mittelalterliche Lyrik in hohem Grade Variationskunst ist, in der jeder Einzeltext Gattungsnormen aktualisiert und gleichzeitig transformiert,²⁸ dann stellt sich die Frage nach der in soziologischen Stildiskussionen erörterten Spannung zwischen Inklusion und Exklusion auch auf literarischer Ebene  – dies allerdings, anders als in der von Aleida Assmann skizzierten Diskussion der englischen Frühaufklärung, nicht im Kontext einer „Umwandlung von einer sozialen in eine personale Identität“, sondern eher als Ausdifferenzierung einer wesentlich gesellschaftlich geprägten Form von Existenz, in der Zugehörigkeit zu einer Gruppe über formale Kriterien etabliert, aber auch signalisiert wird.²⁹ Dies gilt für die aus der Spannung zwischen einzelnem Ich und Gemeinschaft konturierte Sprecherrolle des Minnesangs, aber auch für die vom kollektivem Wir geprägte liturgische Rezitation.

26 Zumthor (Anm. 1), S. 489  f.; vgl. Niklas Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, überarbeiteter Wiederabdruck der Fassung 1986. In: Niklas Luhmann: Schriften zur Kunst und Literatur. Hrsg. von Niels Werber, Frankfurt a. M. 2008 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1872), S. 139–189, hier S. 155, Anm. 34, zum Begriffszusammenhang von ‚style‘ und ‚mannerʻ bei Shaftesbury und der Vermutung, „daß der Stilbegriff das Suspektwerden, den zunehmend pejorativen Gebrauch von ‚maniera‘ / ‚manner‘ im 17. Jahrhundert abfängt.“ 27 Sylvia Huot: From Song to Book. The Poetics of Writing in Old French Lyric and Lyrical Narrative Poetry, Ithaca, London 1987. Zu den Layout-Unterschieden zwischen narrativen und lyrischen Texten in französischen Chansonniers des 13. Jahrhunderts, in denen die Organisation der Handschrift, von der Ordnung nach Autor-Œuvres bis hin zum Layout in Strophen beziehungsweise Zeilen, vom Genre abhängt, vgl. hier S. 47: „Evidently the line of narrative verse was considered a meaningful unit, but for songs, the meaningful unit was the stanza. This difference may reflect the musical quality of the song: the unit of performance is certainly the sung stanza, which revolves around a configuration of rhyming words but does not correspond to a visual shape.“ Vgl. Jürgen Spitzmüller: Typographisches Wissen. Die Oberfläche als semiotische Ressource. In: Oberfläche und Performanz (Anm. 12), S. 459–486, zu vergleichbaren Phänomenen in der Druckkultur. Zu untersuchen wäre auf der Ebene der Texte außerdem das Phänomen Klang und seine Bedeutung für eine Ästhetik des Klangs; erste Ansätze zu einer begrifflichen Klärung dieser Ebene liefert Almut Schneider: er liez ze himel tougen erhellen sîner stimme dôn. Sprachklang als poetische Fundierung normativen Sprechens. In: Text und Normativität (Anm. 6), S. 199–216. 28 Panofsky (Anm. 23), S. 25: „Die besondere (Individual)-Form ist also sozusagen die Aktualisierung und Differenzierung der allgemeinen.“ 29 Vgl. Aleida Assmann: „Opting in“ und „opting out“. Konformität und Individualität in den poetologischen Debatten der englischen Aufklärung. In: Stil (Anm. 1), S. 127–142, hier S. 129; Hans-Georg Soeffner: Stil und Stilisierung. Punk oder die Überhöhung des Alltags. In: Stil (Anm. 1), S. 317–341.

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II Geistliche Lyrik in weltlicher Form: Hadewijchs ‚Strophische Lieder‘ Hadewijchs um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstandenen ,strophischen Gedichte‘ sind für die hier entwickelten Fragestellungen wichtig, da sie auf besondere Weise Elemente kombinieren, die wir gewöhnlich unterschiedlichen Diskursen zuordnen – sie präsentieren viktorinisch inspirierte mystische Theologie in der Form weltlicher Minnekanzonen.³⁰ Formal sind dabei die Parallelen zu Sammlungen weltlicher Liebeslieder sehr deutlich, und zwar sowohl im Textcorpus wie in der Materialität der Überlieferung. Die 45 strophischen Gedichte sind Teil eines umfangreichen und literarisch wie theologisch komplexen Œuvres, das ähnlich wie der mittelhochdeutsche Minnesang erst mit zeitlichem Abstand zur Entstehung überliefert ist. Die erhaltenen Handschriften stammen aus dem 14. Jahrhundert und präsentieren diese lyrischen Gedichte als Teil eines Autorœuvres, das sich über ganz verschiedene Gattungen erstreckt und Prosavisionen, Briefe sowie didaktische Paarreim-Gedichte enthält.³¹ Trotz der Unterschiede in der Form gibt es innerhalb dieses Œuvres deutliche Kohärenzen, da allen Texten gemeinsam ist, dass sie sich mit theologischen Vorstellungen der Gottesliebe und der Möglichkeit mystischer Einheit auseinandersetzen. Unge-

30 Hadewijchs Lieder werden hier zitiert nach der kritischen Ausgabe: Hadewijch. Strofische gedichten. Middelnederlandse tekst en omsetting in modern Nederlands. Met een inleiding door Norbert de Paepe, Leiden 1983; zum Vergleich herangezogen werden außerdem die auf de Paepes Edition beruhende, allerdings lesefreundlicher interpungierte Ausgabe von Herman Vekeman: Hadewijch. Het boek der liederen, 2 Bde, Damon 2005; und die Neuausgabe mit Kommentar: Hadewijch, Liederen. Hrsg., eingel., übers. und erl. von Veerle Fraeters/Frank Willaert, met een reconstructie van de melodieën door Louis Peter Grijp, Groningen 2009, mit einer Übersetzung ins moderne Niederländisch. Die textnahe englische Übersetzung Hadewijch: The Complete Works. Übers. und eingel. von Mother Columba Hart. Vorwort von Paul Mommaers, New York 1980 (The Classics of Western Spirituality), hilft beim Verständnis der oft komplexen Sprachbilder, wird allerdings der ästhetischen Dimension der Texte nicht gerecht. Deutsche Übersetzungen sind, sofern nicht anders angegeben, von der Verfasserin. 31 Vgl. zum Überlieferungskontext Frits van Oostrom: Stemmen op schrift. Geschiedenis van de Nederlandse literatuur vanaf het begin tot 1300, Amsterdam 2006 (Geschiedenis van de Nederlandse literatuur 1,1), S. 419–443. Wybren Scheepsma: Hadewijch und die ‚Limburgse sermoenen‘. Überlegungen zu Datierung, Identität und Authentizität. In: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998. Hrsg. von Walter Haug/Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen 2000, S. 653–682, hatte dafür plädiert, Datierung und Lokalisierung in der Nähe der handschriftlichen Überlieferung zu suchen, also von einer Autorin des 14. Jahrhunderts im städtischen Milieu Brüssels auszugehen, doch sprechen sowohl die in allen Handschriften überlieferte ‚Lijst van volmaakten‘, eine Zusammenstellung von perfecti, die von Maria und Johannes dem Täufer bis zu identifizierbaren und als Zeitgenossen dargestellten Männern und Frauen aus der Rheinregion reicht, wie auch die theologischen Bezugspunkte in der viktorinischen Mystik gegen eine solche Spätdatierung; vgl. van Oostrom, S. 441–450.

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wöhnlich ist dabei nicht nur die Breite des literarischen Spektrums, sondern auch die Kontur der Autorinstanz Hadewijch. Wir besitzen, ähnlich wie im Fall vieler minnelyrischer Texte, keinerlei feste Anhaltspunkte auf die historische Person, auch wenn sich Konturen eines kulturellen Horizonts und damit eines sozialen Milieus ausmachen lassen.³² Strenggenommen ist daher nicht sicher, dass die in vielen Liedern dezidiert weiblich gestaltete Sprechinstanz auch auf weibliche Autorschaft verweist. Doch es gibt andererseits keine Indizien für eine Form symbiotischer Autorschaft, wie wir sie sonst in ganz unterschiedlich gelagerten Konstellationen zwischen Visionärinnen und ihren Beichtvätern, Schreibern oder Redaktoren kennen, sei es Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg oder Beatris von Nazareth.³³ Umso bemerkenswerter ist die Kohärenz des Überlieferungsbefundes, denn in den Handschriften präsentiert sich uns Hadewijch als eine Figur, die zu vergleichen ist mit der um den Autor zentrierten Wolfram-Überlieferung der Münchener Handschrift, der Inszenierung Walthers von der Vogelweide oder aber der von Hausmann beschriebenen Autorrolle der Reinmar-Überlieferung.³⁴ Was die Überlieferung spiegelt, ist damit Teil einer auch sonst aus der volkssprachigen weltlichen Literatur bekannten Kohärenzstiftung um eine aus der Textzusammenstellung konstituierten Autorfigur. Signifikant dürfte allerdings auch sein, und darauf werde ich in der Diskussion der Textbeispiele zurückkommen, dass die über die Corpusüberlieferung gestiftete Fokussierung auf die Autorfigur damit den Blick auf die in ihrer Referenz schwierige Ich-Rolle der Texte lenkt.

32 van Oostrom (Anm. 31), S. 420, zum intellektuellen Milieu, das sowohl Vertrautheit mit lateinischer Terminologie wie nordfranzösischer bzw. provençalischer Liebeslyrik voraussetzt. Schon Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, 4 Bde, München 1990–1999, Bd. 2 (1993): Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit, S. 82, verweist auf ein „verzweigtes Netz von Beziehungen über Landes- und Sprachgrenzen hinaus“; vgl. Jeffrey F. Hamburger: The Rothschild Canticles. Art and Mysticism in Flanders and the Rhineland circa 1300, New Haven 1990. Die Möglichkeit, dass Eckhart Hadewijch gekannt habe, diskutiert Saskia Murk Jansen: Hadewijch and Eckhart. Amor intellegere est. In: Meister Eckhart and Beguine Mystics. Hadewijch of Brabant, Mechtild of Magdeburg and Marguerite Porete. Hrsg. von Bernard McGinn, New York 1994, S. 17–30; Bernard McGinn: The Mystical Thought of Meister Eckhart. The man from whom God hid nothing, New York 2001, S. 181. 33 Vgl. John W. Coakley: Women, Men, and Spiritual Power. Female Saints and Their Male Collaborators, New York 2006, bes. S. 193–210; Gendered Voices. Medieval Saints and Their Interpreters. Hrsg. von Catherine M. Mooney. Mit einem Vorwort von Caroline Walker Bynum, Philadelphia 1999; Almut Suerbaum: O wi gar wundirbar ist dis wibes sterke. Discourses of Sex, Gender, and Desire in Johannes Marienwerder’s Life of Dorothea von Montau. In: Dorothea von Montau and Johannes Marienwerder. Constructions of Sanctity. Hrsg. von Almut Suerbaum/Annette Volfing, Oxford 2010 (Oxford German Studies 39), S. 181–197. 34 Zum Überlieferungsbefund des Autorœuvres bei Hadewijch siehe van Oostroom (Anm. 31), S. 419–443; vgl. Ricarda Bauschke: Die ,Reinmar-Lieder‘ Walthers von der Vogelweide. Literarische Kommunikation als Form der Selbstinszenierung, Heidelberg 1999 (GRM-Beiheft 15); und Albrecht Hausmann: Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität, Tübingen 1999 (Bibliotheca Germanica 40).

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Innerhalb dieses theologischen Œuvres nehmen die ,strophischen Gedichte‘ nochmals eine Sonderstellung ein, die sie für die Frage nach Stilphänomenen besonders interessant macht, denn sie experimentieren auf ziemlich einmalige Weise mit der Transposition literarischer Formelemente. Alle 45 Lieder benutzen komplexe strophische Formen, und zwar mehrheitlich solche, für die sich direkte Parallelen in der nordfranzösischen, in einigen Fällen auch in der provenzalischen Dichtung beobachten lassen. Wir haben es also mit einem sonst nicht nachgewiesenen Fall zu tun, in dem mystische Lyrik in der Form weltlicher Liebeslieder präsentiert wird.³⁵ Das ist auf doppelte Weise ungewöhnlich, denn anders als die aus dem Umfeld der südwestdeutschen Frauenkonvente bekannten, oft metrisch einfach gebauten mystischen Lieder benutzt Hadewijch strophische Formen, die nicht nur sangbar sind, sondern den komplexen metrisch-melodischen Anforderungen weltlicher Liebeslyrik entsprechen.³⁶ Es handelt sich also im musikalischen Sinn um Kontrafakte, die sprachlich zudem einen Transfer aus dem Französischen in die Brabanter Volkssprache vornehmen.³⁷ Dennoch unterscheiden sich Hadewijchs Lieder von den uns sonst bekannten geistlichen Kontrafakturen weltlicher Lieder durch ihre hohe thematische Kohärenz, denn sie benutzen nicht nur die musikalischen Formen der nordfranzösischen Trouvère- und Troubadorstrophen, sondern mit der Fokussierung auf Minne und Minneparadoxie auch deren Diktion und Thematik. Da es kaum Vergleichbares gibt, fällt die Bewertung der zu beobachtenden Transferphänomene nicht leicht, und in der Forschung gibt es divergierende Standpunkte: wo die erste Generation der jesuitischen Herausgeber die Nähe zur lateinisch-theologischen Literatur hervorhob und damit umstandslos die vielen Liedern eigene Personifikation der Liebe mit Gott gleichsetzte,³⁸ hat die neuere niederlandistische Forschung die literarische Qualität

35 Für Mechthild von Magdeburg wird ein solcher Bezug auf den Minnesang zwar immer wieder behauptet, ohne dass es dafür aber in konkreten Formulierungen des Fließenden Lichts der Gottheit Anhaltspunkte gäbe, die über einige auch im Hohenlied belegbare Motive hinausgingen. Zwar verhandelt der Text Fragen der Sag- und Sangbarkeit sowie der Präsenz des Absenten, also zentrale Momente dessen, was man lyrisch nennen könnte, doch geschieht dies über eine Auseinandersetzung mit Denkstrukturen, die denen des Minnesangs vergleichbar sind, nicht jedoch über einen Bezug zu formal-sprachlichen Elementen; vgl. dazu Hartmut Bleumer: Minnesang als Lyrik? Desiderate der Unmittelbarkeit bei Heinrich von Morungen, Ulrich von Liechtenstein und Johannes Hadlaub. In: Wolfram-Studien 21 (2013), S. 165–201; und Almut Suerbaum: Gedenke ûf scheiden! Transformationen des Tagelieds im 13. Jahrhundert. In: Wolfram-Studien 21 (2013), S. 231–249. 36 Einen Überblick über die außerordentlich breite Überlieferung solcher Lieder bietet Judith Theben: Die mystische Lyrik des 14. und 15. Jahrhunderts. Untersuchungen – Texte – Repertorium, Berlin, New York 2010 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 2); der von Theben verwendete Lyrikbegriff ist sehr breit und bezieht alle Verstexte ein, die „von der Form her im Prinzip sangbar sind“ (S. 19). 37 Zum Phänomen geistlicher Kontrafakturstrophen Hermann Apfelböck: Tradition und Gattungsbewußtsein im deutschen Leich. Ein Beitrag zur Gattungsgeschichte mittelalterlicher musikalischer discordia, Tübingen 1991 (Hermaea N. F. 62). 38 Saskia Murk Jansen: The Measure of Mystic Thought. A Study of Hadewijch’s Mengeldichten, Göppingen 1991 (GAG 536), hier S. 15, resümiert die Position der älteren Forschung: „Van Mierlo con-

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der Lieder und ihre Beherrschung weltlicher Formkunst hervorgehoben.³⁹ Ästhetische Werturteile über den literarischen Rang der Texte bezwecken in beiden Fällen, die Lieder in eine literarische Traditionsreihe zu stellen und so ihre Dignität über den Status der jeweiligen Texttradition zu begründen. Stil dient in beiden Argumentationsmustern als Kriterium für literarische Kohärenz, und oft werden in der Forschung dabei zwei Beobachtungen gegeneinander ausgespielt: einerseits die thematische Nähe vieler Lieder zu dem, was in den Prosavisionen und Briefen verhandelt wird,⁴⁰ andererseits die Eigenständigkeit der Diktion in den ,strophischen Liedern‘, die sich in Lexis und Syntax von denen der Prosawerke unterscheidet.⁴¹ Wenn man die Lieder als Teil eines theologisch kohärenten, aber formal divergierenden Œuvres liest, dann wird die Verwendung weltlicher Formen in den ‚Strophischen Liedern‘ zu einer revocatio, so dass die Radikalität der Zurückweisung menschlicher Inhalte gegen eine allumfassende Gottesliebe gestellt wird. Sieht man die Lieder dagegen als Rezeptionszeugnis höfischer Liedkunst, gerät die Anpassung theologischer Inhalte an ein vorgegebenes Liedmuster in die Nähe eines literarischen Formspiels. Doch geht es, so möchte ich zeigen, in Hadewijchs Liedern um eine weit radikalere Auseinandersetzung mit dem Phänomen eines wechselseitigen Transfers von geistlicher und weltlicher Sphäre. Prägnant markiert dies die Eingangsstrophe des ersten Liedes, das an überlieferungsgeschichtlich hervorgehobener Stelle Themen entwickelt, die für die Sammlung insgesamt als Leitkategorien gelten, und die daher hier als Paradigma gelten kann. Sie eröffnet die Liedersammlung mit einem Gestus der Klage: Ay, al es nu die winter cout, Cort de daghe end ede nachte langhe, Ons naket saen een somer stout, Die ons ute dien bedwanghe Sciere sal bringhen. Dar es in scine Bi desen nuwen jare: Die hasel bringhet ons bloemen fine, Dat es een teken openbaare. – Ay, vale, vale milies –

         

cludes his argument with a discussion of the tone of the Mengeldichten. He remarks that the language, tone and style of the Mengeldichten are entirely different from those of Hadewijch. He later observes that the style and rhythm of the author of the Strofische gedichten, the Brieven and the Visioenen is so characteristic that it can immediately be identified.“ 39 Norbert de Paepe: Hadewijchs Strofische Gedichten. Een studie van de minne in het kader der 12e en 13e eeuwse mystiek en profane minnelyriek, Gent, Leuven 1967; Frank Willaert: De poëtica van Hadewijch in de Strofische Gedichten, Utrecht 1984; Geert Warnar: Ruusbroec. Literature and Mysticism in the Fourteenth Century, Leiden 2007, bes. S. 71–73. 40 Rob Faesen: Begeerte in het werk van Hadewijch, Leuven 2000 (Antwerpse studies iver Nederlandse literatuurgeschiedenis 4), S. 66–100. 41 de Paepe (Anm. 39), S. 335.

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 Ghi alle die nuwen tide  – si dixero, non satis est –  Omme minne wilt wesen blide. Ach, wenn jetzt der kalte Winter herrscht Mit kurzen Tagen und langen Nächten, So nähert sich doch bald der herrliche Sommer, Der uns aus dieser Bedrängnis Bald befreien wird. Das ist erkennbar Am Neuanfang des Jahres: Der Haselstrauch trägt schöne Blüten. Das ist ein sichtbares Zeichen – Leb wohl, leb wohl; tausendmal für alle, die im Frühling – mag ich es sagen: es ist nie genug Der Liebe willen froh sein wollen.

               

Zweierlei ist an diesem Liedeingang bemerkenswert: Er benutzt erstens das formale Repertoire einer verbreiteten nordfranzösischen Strophenform mit Refrain und Natureingang. Für die Refrainform gibt es Parallelen bei Gautier de Coinci;⁴² der Natureingang wird bei Hadewijch dagegen mit einer Publikumsanrede verbunden, was die Stellung des Liedes am Anfang eines durchgängig publikumsorientierten Œuvres unterstreicht. Zugleich aber führt das Lied eine ebenfalls die gesamte Sammlung durchziehende Thematik ein, indem es minne aus der zentralen Paradoxie von Freude und Leid konzipiert.⁴³ Sowohl Thematik und Lexis wie auch die lyrische Form nehmen damit eindeutig auf die weltliche Liebesdichtung Bezug, dennoch aber wird dieser mit den Eingangszeilen gesetzte Referenzrahmen bereits mit dem Refrain gesprengt, der aus zwei durch das mittelniederländische Reimpaar getrennten lateinischen Zeilen besteht. Die genaue Quelle dieser lateinischen Elemente ist unbekannt, auch wenn ähnliche Formulierungen in lateinischen Marienliedern nachweisbar sind.⁴⁴ Wichtig ist, dass der Bezug auf einen lateinischsprachigen Diskurs im Lied selbst durch die Beibehaltung der sprachlichen Differenz ausgestellt wird.⁴⁵ Damit stellt 42 Willaert (Anm. 39), S. 244; vgl. Silvia Ranawake: Höfische Strophenkunst. Vergleichende Untersuchungen zur Formentypologie von Minnesang und Trouvèrelied an der Wende zum Spätmittelalter, München 1976 (MTU 51), S. 105–120, zu Reihenstrophen in romanischer Lyrik. 43 Fraeters/Willaert (Anm. 30), S. 64–71 und S. 392  f.; Frank Willaert: Registraliteit en intertexualiteit in Hadewijchs Eerste Stropfische Gedicht. In: Vertien listen voor de literatuur. Huldeboek aangeboden aan Clem Neutjens. Hrsg. von Luc Herman/Geert Lernout/Paul Pelckmans, Kapellen 1993, S. 165–190; Faesen (Anm. 40), S. 46–54. 44 Fraeters/Willaert (Anm. 30), S. 392. 45 Auch die Strophenform ist unter Umständen nicht nur als Adaptation weltlicher Trouvère-Muster erklärbar, wenn man Fraeters folgt, die auf Gautier de Coinci verweist, dessen formgleiche Strophe des Liedes ‚De sainte Leocade‘ ihrerseits eine Kontrafakur des Perotin-Conductus Beata viscera darstellt; vgl. Fraeters/Willaert (Anm. 30), S. 246  f.; van Oostrom (Anm. 31), S. 428  f. Zur Übernahme einer wohl aus der lateinischen Hymnik verbreiteten Strophenform in den Liedern XXXIII und

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sich die Frage nach dem Referenzrahmen noch einmal neu: Weltliche Lieddichtung und lateinische liturgische Gesänge werden miteinander verschränkt, und dies in einem Lied, das seine exponierte Stellung am Anfang der Sammlung auf mehrfache Weise markiert.⁴⁶ Programmatisch führt das Eingangslied damit vor, was jedes einzelne Lied in variierender Form durchspielt: die Evozierung von Liebesbegehren, das zugleich am literarisch-weltlichen Diskurs der adligen Höfe Nordfrankreichs wie an der theologischen Debatte um die Liebesvereinigung mit Gott partizipiert.⁴⁷ Barbara Newman hat für dieses Phänomen den Begriff des dolce stil religioso geprägt, mit dem sie das literarische Niveau des einzigartigen Formexperiments würdigt.⁴⁸ Newman positioniert mit diesem Begriff die von Frauen getragene Bewegung theologisch ambitionierter, sprachlich formvollendeter Liedkunst in der Volkssprache als Pendant zu Dante und markiert damit ihren literarischen Rang. Gleichzeitig aber suggeriert der so verwendete Stilbegriff eine Einheitlichkeit, die Lied 1 gerade verweigert, und in diesem Offenlegen der Differenz scheint mir die Besonderheit Hadewijchs zu liegen. Indem Lied 1 die Interferenz zwischen höfischem Liebesdiskurs und theologischer Weltabsage explizit macht, bringt es die Spannung eines literarischen wie spirituellen Habitus auf den Punkt, denn erst in der poetischen Praxis höfischer Liebeslyrik lässt sich Weltabsage als Habitus performativ vollziehen, ohne dass darüber doziert werden müsste.⁴⁹ Diese Transposition führt auf andere Weise auch das Schlusslied der Sammlung, Lied 45, vor, weswegen ich es abschließend kurz vorstellen möchte. Anders als die meisten Lieder der Sammlung hat es kein weltliches Vorbild, sondern stellt eine Kon-

XXXVII, für die es keine occitanischen, wohl aber nordfranzösische sowie mittelhochdeutsche Parallelen gibt, vgl. Willaert (Anm. 39), S. 246. 46 van Oostrom (Anm. 31), S. 431–433, verweist auf die in diesem Anfangslied exponiert dargestellte, die gesamte Liedsammlung durchziehende Thematisierung des Begriffs nuwe, der in den Liedern sowohl auf die Liebe wie auf ein Leben in der Liebe bezogen wird. Vgl. Joris Reynaert: De beeldspraak van Hadewijch, Antwerpen 1981 (Studiën en tekstuitgaven van Ons geestelijk erf 21), S. 392–401, der eine Beeinflussung durch franziskanische und dominikanische Hymnen wie Novum sidus emicuit (A. H. 52, 169–170) und Sanctitatis nova signa (A. H. 55, 153–154) erwägt und auf Parallelen bei Mechthild von Magdeburg und im Paradius anime intelligentis hinweist. 47 Vgl. Almut Suerbaum: Between Unio and Alienation. Expressions of Desire in the Strophic Poems of Hadewijch. In: Desire in Dante and the Middle Ages. Hrsg. von Manuele Gragnolati u.  a., Oxford 2012, S. 152–163. 48 Barbara Newman: From Virile Woman to Woman Christ. Studies in Medieval Religion and Literature, Philadelphia 1995; vgl. bereits de Paepe (Anm. 39), S. 331–335, der darauf verweist, wie wichtig die Ich-Konstruktion der höfischen Lyrik für die ‚Strophischen Gedichte‘ ist, gleichzeitig aber die Differenzen aufzeigt, die er vor allem in der Konzeption der Hörerinstanz sieht. 49 Zur Paradoxie einer Weltabsage innerhalb von Strukturen, die diese ihrerseits zur Grundlage einer kulturellen Ordnung machen, Burkhard Hasebrink: sich erbilden. Überlegungen zur Semantik der Habitualisierung in den Rede der underscheidunge Meister Eckharts. In: Meister Eckhart in Erfurt. Hrsg. von Andreas Speer/Lydia Wegener, Berlin, New York 2005 (Miscellanea Medievalia 32), S. 122–136.

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trafaktur der lateinischen Sequenz Mariae praeconio (Anal. Hymn. 54:392) dar.⁵⁰ Wie im Fall von Lied 1 stiftet also die vorgängige, aus anderssprachiger Überlieferung bekannte Melodiestruktur die formale Beziehung zwischen den Texten. Während Lied 1 diese melodische Struktur frei nutzt, um über das Evozieren höfischer Elemente deren gleichzeitige Infragestellung in der revocatio zu vollziehen, entwickelt Hadewijchs Leich Formen, in denen neben der Melodie- und damit Zeilenstruktur auch die Formulierungen der lateinischen Sequenz präsent bleiben. Die formalen Schwierigkeiten eines solchen poetischen Verfahrens sind nicht zu unterschätzen. Versikel für Versikel setzt der volkssprachige Text die lateinischen Reflexionen in ein neues sprachliches Medium um; ich mache die Entsprechungen sichtbar, indem ich dem volkssprachigen Text die lateinische Sequenz gegenüberstelle: Ay, in welken soe verbaerd de tijt, en es in al de werelt wijt, dat mi gheven mahc delijt dan verus amor.

Mariae praeconio serviat cum gaudio fervens desiderio verus amor.

Ay minne, op trouwe, want gi al sijt, miere zielen joie, mier herten vlijt, ontfaermt der noet, siet ane den strijt, hort cordis clamor.

Amoris suffragio presentetur filio matris in obsequio cordis clamor.

Ay, wat ic mijn wee roepe ende clage, de minne doe met mi hare behaghe. Ic wille hare gheven al mine daghe laus et honor.

Ave salus hominum, virgo decus virginum, te decet post dominum laus et honor.

Ay minne, ochte trouwe uwe oghe anezaghe! Want mi maect coene dat ics ghewage. Want mi ierst up uwe hoghe staghe Uwe traxit odor.

Tu rosa, to lilium cuius Dei filium carnis ad connubium traxit odor.⁵¹

Wie viele Hymnentexte stellt die lateinische Vorlage eine gewisse Herausforderung dar, da sie eine Fülle an terminologisch festgelegten theologischen Begriffen enthält. Die Übertragung meistert diese mit einiger Finesse, wenn abstrakte theologische Konzepte wie gratia oder Maria als carens carie konzise übertragen werden. Gleichzeitig aber ist diese Übertragung nicht nur theologisch angemessen, sondern auch

50 Fraeters/Willaert (Anm. 30), S. 320–323; Rob Faesen: Lichaam in lichaam, ziel in ziel. Christusbeleving bij Hadewijch en haar tijdgenoten, Gent 2003, S. 80–83. Vgl. van Oostrom (Anm. 31), S. 433, zur Vorgängigkeit der Melodie und der Bedeutung von Sangbarkeit für den Publikumsbezug insbesondere des Refrains. 51 De Paepe (Anm. 30), S. 237  f.; vgl. Fraeters/Willaert (Anm. 30), S. 411  f.; Faesen (Anm. 40), S. 55  f. Lateinischer Paralleltext der Sequenz Mariae praeconio nach Analecta hymnica medii aevi. Hrsg. von Guido Maria Dreves/Clemens Blume, Bd. 54, Leipzig 1915, S. 391–393.

‚Mystischer‘ Stil als kulturelle Praxis? 

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metrisch mit der Vorlage identisch und damit, wie der Musikologe Grijp nachgewiesen hat, sangbar  – und dies gut zweihundert Jahre vor den Versuchen eines Mönchs von Salzburg oder Oswalds.⁵² Dennoch handelt es sich nicht um eine einfache Übersetzung, denn die Mariensequenz wird transponiert in eine Apostrophe an minne. Damit wird aus dem reinen Formspiel der Übertragung in die Volkssprache ein komplexes theologisches Experiment, denn wo Hörerinnen beziehungsweise Leserinnen des Hadewijch’schen Liedes die Mariensequenz als Melodie sozusagen im Ohr haben, wird der Begriff der minne als Personifizierung emphatisch, da er an die Stelle Mariens rückt. In einem Œuvre, das mit explizit brautmystischen Motiven sehr sparsam umgeht, rückt diese Verschiebung die Rolle des Sprecher- bzw. Sänger-Ichs damit nah an Formulierungen des Hohenliedes, auf dessen trahe me, post te curremus in odorem unguentorum tuum (Cant. cant. 1,3) die Sequenz anspielt.⁵³ Obwohl gelegentlich in Frage gestellt worden war, ob wir es bei Hadewijchs ,Strophischen Gedichten‘ mit ‚echten‘, also gesungenen Liedern zu tun haben oder aber mit einer Form von Leselyrik, in denen Singen Metapher einer bereits stark verinnerlichten Haltung ist, deutet das Schlusslied damit auf eine dem Singen noch recht nahe Praxis.⁵⁴ Dies dürfte auch für die Bezüge zu Trouvère- und Troubadormelodien gelten, denn benutzt werden offenbar in der Regel populäre Trouvèremelodien, wobei eine solche Popularität unter anderem am Vorhandensein geistlicher Kontrafakte, etwa in der Form von Marienliedern, festzumachen ist.⁵⁵ Wichtig ist dies nicht nur für die Rekonstruktion einer historischen Aufführungspraxis, sondern auch für die Konzeption der Ich-Rolle. Hadewijch ist ungewöhnlich darin, dass die Transformation geistlich liturgischer Gesangsformen in volkssprachige Lyrik und zurück sprachlich markiert wird, so dass die Bezugnahme sichtbar  – vermutlich auch: hörbar  – bleibt. Es geht daher nicht allein um die Evokation gelehrt-lateinischer Diskurse, sondern um die Anbindung

52 Louis Peter Grijp: De zingende Hadewijch. Op zoek naar de melodieën van haar Strofische Gedichten. In: Een zoet akkoord. Middeleeuwse lyriek in de Lage Landen. Hrsg. von Frank Willaert u.  a., Amsterdam 1992, S. 72–92 und S. 340–343, weist nach, dass Lied 45 eine Kontrafaktur der Sequenz Mariae praeconia ist, und schließt daraus, dass Lied 45 damit zur gleichen Melodie singbar gewesen sein muss; so ebenfalls Faesen (Anm. 40), S. 80. Anikó Daróczi: Groet gheruchte van dien wondere. Spreken, zwijgen en zingen bij Hadewijch, Leuven 2007 (Antwerpse studies over Nederlandse literatuurgeschiedenis 14), bes. S. 183–190, untersucht die Distribution der volkssprachigen Silbengruppen auf die der lateinischen Sequenz unterlegte Melodie. 53 Hart (Anm. 30), S. 257; Faesen (Anm. 40), S. 81. 54 Zur Debatte um den Liedbegriff Tanis M. Guest: Some Aspects of Hadewijch’s Poetic Form in the ‚Strofische Gedichten‘, Den Haag 1975 (Bibliotheca needlandica extra muros 3), S. 84–87; ähnlich Willaert (Anm. 39), S. 285–296. 55 Fraeters/Willaert (Anm. 30), S. 338; Hans Tischler: Trouvère lyrics with melodies: complete comparative edition, revised, Ottawa 2006; Huot (Anm. 27), S. 64–66; Burghart Wachinger: Autorschaft und Überlieferung. In: Autortypen. Hrsg. von Walter Haug/Burghart Wachinger, Tübingen 1991 (Fortuna Vitrea 5), S. 1–27, hier S. 17.

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an eine kollektive Form spiritueller Praxis.⁵⁶ Damit ist allerdings auch deutlich, dass die Transformation der aus der weltlichen Liebeslyrik übernommenen prominenten Ich-Rolle nicht Element ‚persönlicher‘ oder gar ‚gefühlvoller‘ Individualität ist. Vielmehr besitzt das Einmünden der Lieder in kollektive liturgische Praxis beträchtliche theologische Sprengkraft, da die intendierte Hörerschaft weder die aristokratische Gemeinschaft Gleichgesinnter am Hof ist, zu deren Selbstversicherung höfische Lyrik die Rollenmodelle liefert, noch die über die liturgische Praxis gestiftete monastische Gemeinschaft. Die den Liedern eingeschriebenen Adressatinnen konstituieren sich als Gruppe über die ihnen vertraute literarische Diktion, erheben damit aber gleichzeitig Anspruch auf eine Unmittelbarkeit der Beziehung zu Gott, wie sie sonst nur über die kollektive Praxis monastisch-lateinischer Liturgie artikulierbar war.⁵⁷

III Stil als kulturelle Praxis Formale Elemente und ihre Beurteilung spielen, wie gezeigt, eine wesentliche Rolle bei der Interpretation der Hadewijch-Lieder. Stilphänomene helfen uns erstens, das literarische Umfeld zu verorten, da sie demonstrieren, wie stark die Lieder ein Publikum voraussetzen, das nicht nur mit Themen, sondern auch mit Formdiskussionen vertraut ist. Ästhetische Formelemente dienen also dazu, eine über den Einzelnen hinausweisende Gemeinschaft zu konstituieren, die sich nicht über eine wie immer geartete ‚Botschaft‘ ergibt.⁵⁸ Bei Hadewijch ist allerdings auch zu konstatieren, dass diese Einschreibung in liturgische Traditionen zugleich Momente der Differenz artikuliert, da die Sprachlichkeit der Lieder die Differenz zwischen Volkssprache und Latein ausstellt. Außerdem aber demonstrieren die Beispiele aus Hadewijchs Liedern, dass das Ineinandergreifen weltlicher und geistlicher Elemente nicht nur Übertragungsphänomen im Sinne einer Kontrafaktur ist, sondern funktional eingesetzt wird, um eine ganz eigene Position des Subjekts zu markieren. Sprache und auch Texte der lateinischen Hymnik sind für Hadewijch wie die von den Liedern imaginierten Hörerinnen verfügbar; der Zugriff auf die mit diesen Texten präsent gemachte liturgische Praxis erlaubt damit das, was für Morungen ‚Überhöhung‘ genannt worden war – ein Zugriff also, mit dem die Dignität des liturgischen Gebrauchs für das Sprechen in der Volkssprache in Anspruch genommen wird. Der Blick auf Hadewijch zeigt andererseits, dass moderne Konzeptionen individuellen Stilwillens für mittelalterliche geistliche Texte ebenso unzureichend sind, denn die beobachteten Formelemente lassen

56 Vgl. Almut Suerbaum: Die Paradoxie mystischer Lehre im St. Trudperter Hohenlied und im Fließenden Licht der Gottheit. In: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Henrike Lähnemann/Sandra Linden, Berlin, New York 2009, S. 27–40. 57 Newman (Anm. 48). 58 Vgl. Soeffner (Anm. 29), S. 336.

‚Mystischer‘ Stil als kulturelle Praxis? 

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sich, das dürfte deutlich geworden sein, in ihrem Gestus der gleichzeitigen Abgrenzung in der Einzigartigkeit und der Einbindung der Hörer in gemeinsamen Vollzug nicht als rein literarische Kunstelemente lesen, sondern sind gebunden an kulturelle Praxis. Innerhalb dieser aus den Traditionen monastischer lectio divina gespeisten Praxis des Sprechens ist daher die grammatische Spaltung in Ich und Wir nicht reduzierbar auf ein kollektives Wir und ein subjektivierendes Ich, sondern überkreuzt die Diskursmodelle solcherart, dass über das wesentlich, wenn auch spannungsgeladen gemeinschaftsgebundene Ich des höfischen Liebesliedes eine Intensivierung der Gottesbindung im zugleich vereinzelten wie kollektiv gebundenen Ich der ‚unio‘Erfahrung performativ vollzogen wird. An Stelle einer Rhetorik der Übernahme, in der das Potential geistlicher Formen aufgerufen und zum Zweck der Authentisierung funktionalisiert, aber auch relegiert wird, entwerfen die ‚Strophischen Lieder‘ Heterologien des Anderen, in denen Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit, Autonomie und Selbstaufgabe paradox miteinander verschränkt werden.⁵⁹ Wo Morungens Bezug auf liturgische Formen im Rahmen hierarchisierter, wenn auch zugunsten der Volkssprache invertierter Überbietungsstrategien zu sehen ist, halten Hadewijchs Lieder die Spannung zwischen Weltbezug und Weltabwendung in der Artikulation des Begehrens transparent.

59 Der Begriff der Heterologie entstammt der englischen Zusammenstellung von Michel de Certeaus Aufsätzen zum „Sprechen vom Anderen“: Michel de Certeau: Heterologies. Discourse on the Other, übers. von Brian Massumi, Einleitung von Wlad Godzich, Manchester 1986 (Theory and History of Literature 17). de Certeau bezieht sich in seiner Analyse mystischen Sprechens im 16. Jahrhundert auf Hadewijch und Eckhart als Initiatoren; mystischer Stil manifestiert sich für ihn in der Form des Schreibens so wie die Göttin Vergils in ihrem Gang (S. 82). Anders als Bourdieu thematisiert de Certeau die Bedeutung von Gender-Rollen in den von ihm untersuchten Diskursen am Beispiel Ingeborg Bachmanns, nicht Hadewijchs. Vgl. Burkhard Hasebrink: Sprechen vom Anderen her. ‚Heterologieʻ mystischer Rede als epistemischer Fluchtpunkt mittelalterlicher Literarizität. In: Germanistik in und für Europa. Faszination – Wissen. Texte des Münchener Germanistentages 2004. Hrsg. von Konrad Ehlich, Bielefeld 2006, S. 391–399.

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 Almut Suerbaum

Annette Gerok-Reiter

Die ,Kunst der vuoge‘: Stil als relationale Kategorie Überlegungen zum Minnesang

Das Dilemma des Stilbegriffs Der Begriff des ‚Stils‘ als heuristische Kategorie führt die gegenwärtige literaturwissenschaftliche Mediävistik zweifelsohne in ein Dilemma hinein: Zum einen scheint die Rückkehr zu Fragen, die die „Oberfläche sprachlicher Darstellung“¹ betreffen, der (zurückgedrängten) Lust des Literaturwissenschaftlers an der ästhetischen Qualität seines Gegenstandes entgegenzukommen und diese Lust wieder ernsthaft als Grundlage des wissenschaftlichen Diskurses ins Spiel zu bringen. Mit Jens Haustein formuliert: „[N]achdem der Kreis kulturwissenschaftlich-mediävistischer Zugriffe auf Texte […] abgeschritten scheint“, ist „eine epistemologische Lücke entstanden […], in die der Stilbegriff (wieder) einziehen könnte“.² Zum anderen jedoch droht der Begriff des Stils dem modernen Interpreten im ,Munde‘ zu zerfallen ,wie modrige Pilze‘, sobald die Ebene rhetorisch-stilistischen Handbuchwissens verlassen und nach den Ursachen der einzelnen stilistischen Elemente gefragt wird, nach dem, was ,Stil‘ von Stiltechniken unterscheidet, was ,Stil‘ als (mögliches) Konzept sein könnte. Auch diese andere Seite, das ‚Unbehagen‘ an einem umfassenden Stilbegriff, hat Haustein klar hervorgehoben und zweifach begründet. So verweist er einerseits darauf, dass Erklärungen auf die Frage, was ‚Stil‘ sei, in der Regel „ins Metaphorische“ abgleiten oder verweigert werden (S. 44). ‚Stil‘ sei daher ein „weiche[r], unscharfe[r] Begriff“ (S. 50), wie es auch treffend Ludwig Pfeiffer gefasst habe: „Der Stilbegriff stellt sich überall da ein, wo andere Begriffe zu versagen drohen. Er verschwindet umgekehrt immer dann, wenn wissenschaftliche Theorien das Erklärungspotential härterer Begriffe […] höher einschätzen.“³ Andererseits nennt Haustein zu Recht die ,Athetesen-Hypothek‘ des Stilbegriffs, die aus jenem fragwürdigen Verfahren der Vor1 Wilhelm Wackernagel: Poetik, Rhetorik und Stilistik. Academische Vorlesungen. Hrsg. von Ludwig Sieber, Halle 1873, S. 311. 2 Jens Haustein: Mediävistische Stilforschung und die Präsenzkultur des Mittelalters. Mit einem Ausblick auf Gottfried von Straßburg und Konrad von Würzburg. In: Textprofile stilistisch. Beiträge zur literarischen Evolution. Hrsg. von Ulrich Breuer/Bernhard Spies, Bielefeld 2011 (Mainzer historische Kulturwissenschaften 8), S. 43–60, hier S. 46; vgl. auch S. 50. 3 K. Ludwig Pfeiffer: Produktive Labilität. Funktionen des Stilbegriffs. In: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht/ K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1986 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 633), S. 685–725, hier S. 711.

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kriegsgermanistik, insbesondere der Mediävistik, resultiere, ‚Autor- und Werkstile‘ zu hypostasieren und normativ gegen Überlieferungszusammenhänge mit oft weitreichenden Konsequenzen auszuspielen. Faszination und Ratlosigkeit  – das Dilemma lässt sich schwerlich lösen, allenfalls in seinen Ursachen genauer beschreiben, wenn man historische Stildiskurse in die Überlegungen mit einbezieht. Vergleicht man die „Paradigmendifferenzen in der Diskursgeschichte“⁴ des textbezogenen Stilbegriffs,⁵ d.  h. der vormodernen rhetorischen, der seit dem 18. Jahrhundert prägenden ästhetischen und der modernen linguistischen Stilauffassung,⁶ wird deutlich, weshalb ein Stilbegriff für vormoderne volkssprachige literarische Texte trotz möglicher Anknüpfungspunkte letztlich durch die Maschen der drei konstitutiven Stildiskurse fallen muss. Der linguistische Stilbegriff, der Stil sprachsystematisch als Texteigenschaft fasst,⁷ zugleich jedoch an ein kulturell differierendes Praxiswissen der Rezipienten bindet, erweist sich für die Anwendung auf vormoderne Texte als sperrig, da er in erster Linie synchron operiert. Der ästhetische Stilbegriff erscheint im Bezug auf vormoderne Texte problematisch, da er von einem atechnisch-subjektbezogenen⁸ und damit für vormoderne Texte inadäquaten Ansatz aus gedacht wird. Das Manko des vormodernen rhetorischen Stilwissens,⁹ das in seinen genauen Form-Funktionsrelationen ein technisches Anleitungswissen zur „Optimierung von Persuasionserfolgen“¹⁰ darstellt, besteht schließlich in der mangelnden Spezifik für poetische Texte. Will man nicht an diesem Punkt 4 Gert Hübner: Historische Stildiskurse und historische Poetologie, in diesem Band. 5 Einen weiteren Stilbegriff setzt etwa Hans Ulrich Gumbrecht an: Stil. In: RLW (2003), S. 509–513, hier S. 509: „Stil nennt man rekurrente Formen der Manifestationen menschlichen Verhaltens im allgemeinen.“ 6 Vgl. die grundlegende Unterscheidung in der Einleitung sowie bei Hübner (Anm. 4) mit ausführlicher Explikation. 7 So übergreifend etwa auch Hans-Werner Eroms: Stil und Stilistik. Eine Einführung, Berlin 2008 (Grundlagen der Germanistik 45), S. 13 und S. 55, ein Ansatz, den Metzlers Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie erstaunlicherweise als einzigen noch anführt: Thomas Rommel: Stilistik / Stilanalyse / Stilkritik. In: Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze  – Personen  – Grundbegriffe. Hrsg. von Ansgar Nünning, 3. aktualisierte und erw. Ausgabe, Stuttgart, Weimar 2004, S. 628–630. 8 In dieser Tradition steht z.  B. deutlich die Erklärung bei P. Beyer: Stil. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. Hrsg. von Paul Merker/Wolfgang Stammler, Berlin 1928/29, S. 299–302, hier S. 300: „St. ist die Summe der einheitlich geregelten Ausdrucksmittel eines Werkes, in denen sich die ästhetische Auffassung und die Gestaltungskraft eines Schaffenden kundgibt.“ Noch enger bindet Günther Binding den ,Individualstil‘ an die „Eigenheit einer Künstlerpersönlichkeit“: Stil. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 8. Hrsg. von Robert Auty u.  a., Stuttgart 1999, Sp. 183  f., hier Sp. 183. 9 Vgl. dazu auch Gert Hübner: Rhetorische und stilistische Praxis des deutschen Mittelalters / Applied rhetoric and stylistics in the German Middle Ages. In: Rhetorik und Stilistik / Rhetoric and Stylistics. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung / An International Handbook of Historical and Systematic Research. Hrsg. von Ulla Fix/Andreas Gardt/Joachim Knape, 2 Bde, Berlin, New York 2008 und 2009 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 31,1–2), hier Bd. 1 (2008), S. 348–369. 10 Hübner (Anm. 4).

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gänzlich aufgeben, ist der Blick nicht auf die drei maßgeblichen Stilkonzepte insgesamt, sondern auf Einzelaspekte innerhalb dieser drei Angebote zu richten, um diese nach pragmatischen Gesichtspunkten in Hinblick auf vormoderne Texte neu zu korrelieren: Zweifelsohne bleibt – als Anleihe beim rhetorischen Stilbegriff – die Frage nach der Relation von Form und Funktion von zentralem Interesse. Weiterführend dürften – als Anleihe beim ästhetischen Stilbegriff – für das Verständnis eines spezifisch poetischen Stils die Kriterien der Anschaulichkeit und der Affekterregung sein. Und schließlich erscheint es hilfreich – als Anleihe beim linguistischen Stilbegriff – zunächst von dem kulturellen ars-Wissen der jeweilig untersuchten Zeit auszugehen, um von hier aus Stil als ‚Texteigenschaft‘ adäquat spezifizieren zu können. Die folgenden Ausführungen gelten dem Versuch, sich einem über das rhetorische Angebot hinausgehenden, konzeptuell begründeten Zugang zu stilistischen Analysen vormoderner poetischer Texte zu nähern. Hierfür werden im Folgenden alle drei Aspekte aufgegriffen. So sind zunächst zentrale Vorgaben des ars- und artificiumVerständnisses als Rahmenbedingung einer historisch differenzierteren Stilanalyse poetischer vormoderner Texte zu diskutieren. Als vermittelnder Begriff aus der Kunstpraxis wird dabei der mhd. Begriff vuoge vorgeschlagen.¹¹ Die anschließenden Argumentationsschritte versuchen die Semantik von vuoge als kunstpraktischem Begriff durch ausgewählte Beispiele zu stützen und von hier aus heuristisch aufschlussreiche Kriterien einer Stilanalyse für die ‚ästhetische‘ Textformation des Minnesangs zu entwickeln. Erprobt werden die gewonnenen Kriterien anschließend in einer vergleichenden Stilanalyse von Liedern des Kürenbergers sowie Morungens. Es wird somit eine Verfahrensweise gewählt, „die ihren reflexiven Horizont nicht von vorgegebenen Modellen – oder einem Ansatz – bezieht, sondern problembezogen generiert, um der Komplexität ihres spezifischen Gegenstandes gerecht zu werden“.¹² Eine solche Verfahrensweise muss notwendig experimentell bleiben.

11 Zum Problem einer fehlenden literaturtheoretischen Begrifflichkeit für volkssprachige Texte vgl. Walter Haug: Historische Semantik im Widerspruch mit sich selbst. Die verhinderte Begriffsgeschichte der poetischen Erfindung in der Literaturtheorie des 12./13. Jahrhunderts. In: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Hrsg. von Gerd Dicke/Manfred Eikelmann/Burkhard Hasebrink, Berlin 2006 (Trends in Medieval Philology 10), S. 49–64. Der Begriff vuoge füllt diese Lücke nicht, d.  h. er wird im Folgenden keineswegs als bewusst gesetzter literaturtheoretischer Begriff verstanden, sondern als Gebrauchsbegriff der Kunstpraxis, dem jedoch literaturtheoretisches Potential inhärent ist. 12 Frank Bezner: Latet Omne Verum. Mittelalterliche ‚Literatur‘-Theorie interpretieren. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450. Hrsg. von Ursula Peters, Stuttgart 2001 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 23), S. 575–611, hier S. 576. Wichtig ist – und ganz im Sinn der obigen Ausführungen – auch der erläuternde Zusatz: „[U]nter ,Ansatz‘ verstehe ich in einem spezifischen Sinne jede ,extern‘ entwickelte Konzeption, welche als konstitutive Begründungsebene historischer Analyse zugezogen wird, um Gegenstand, Perspektiven oder methodische Voraussetzungen historischer Analyse zu klären, also etwa ,M. Foucault‘, ,New Historicism‘, das ,habitus-Konzept P. Bourdieus‘ etc.“

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Kunst ohne Kunst „Kunst ohne Kunst?“ – so hat Andreas Speer einen Aufsatz überschrieben, der sich Sugers Schriften zur Abteikirche von St. Denis widmet.¹³ Der paradoxe Titel zielt auf eine Auseinandersetzung mit der älteren Forschung zu Suger, die  – von Panofsky bis zu Bourdieu  – Suger als ‚Schöpfer‘ des neuen bahnbrechenden Stils gotischer Kathedralkunst gefeiert hat. Insofern mit dem „kunstgeschichtlichen Paradigma[ ] einer Stilgeburt“ (S. 204) die epochemachende Tat eines genialischen Creators in den Blick zu treten schien und zugleich diese Leistung unter dem Einfluss Pseudo-Dionysischer Lichtmetaphorik sich als „Lichtarchitektur“ (S. 204) und damit als „schöne Kunst“ (S. 212) präsentierte, waren in emphatischer Weise jene zwei Grundpfeiler der Ästhetik des späten 18. und des 19. Jahrhunderts aufgerufen, die in direktem Schulterschluss zu Hegels „Philosophie der schönen Kunst“ den Begriff der ,Ästhetik‘ in mittelalterlichem Kontext zu rechtfertigen schienen,¹⁴ ja die Basis bildeten, um von einer vormodernen, einer ,mittelalterlichen Ästhetik‘ als ,Theorie des Schönen‘ sprechen zu können.¹⁵ Gegen beide Pfeiler und damit zugleich gegen einen auf diesen Pfeilern aufruhenden emphatischen Kunst- und Stilbegriff wendet sich Speer, indem er nachweist, dass Suger sich in keiner Weise als Schöpferfigur stilisiere. Statt vom Schöpfer spreche Suger vom artifex, verstanden als versiertem Handwerker, den Kunstfertigkeit (industria artis) und Gestaltungsfähigkeit (elegantia) auszeichnen würden. Entsprechend verstehe er seine Tätigkeit nicht als kreatives und autonomes Entwerfen, sondern als Umsetzung und Übersetzung des spirituellen Funktionszusammenhangs der Liturgie in die Sprache des Raums und des Lichts, ein Übertrag, der im Dienst der Liturgie optimal zu leisten sei; die Liturgie, nicht die Kunst sei daher Maßstab, Richtwert und Ziel. Und statt von ‚Schönheit‘ spreche Suger basaler von dem jeweils verwendeten Material, bei dem er auf höchste materielle Kostbarkeit Wert lege, denn nur diese entspreche dem liturgischen Gegenstand.¹⁶ Die Kunst als Baukunst gehört bei Suger somit noch weitgehend in den Bereich der artes mechanicae. Dennoch spricht er diesem handwerklich Gefertigten, diesem spezifischen Artefakt keineswegs ab, sich von alltäglichen Dingen abheben zu können. Nicht jedoch durch die Novität und auch nicht durch den Anspruch der Schönheit gelingt die „Transfiguration of the

13 Andreas Speer: Kunst ohne Kunst? Interartifizialität in Sugers Schriften zur Abteikirche von Saint-Denis. In: Interartifizialität. Die Diskussion der Künste in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Susanne Bürkle/Ursula Peters. ZfdPh 128 (2009), Sonderheft, S. 203–220. 14 Speer (Anm. 13), S. 212 und S. 219. 15 Dazu ausführlich Andreas Speer: ,Kunst‘ und ,Schönheit‘. Kritische Überlegungen zur mittelalterlichen Ästhetik. In: Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter. Hrsg. von Ingrid CraemerRuegenberg/Andreas Speer, 2. Halbbd., Berlin, New York 1994 (Miscellanea Mediaevalia 22/2), S. 945–966, hier S. 945–949. 16 Speer (Anm. 13), S. 205 und S. 210  f.

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Commonplace“,¹⁷ sondern durch den Anspruch der Kostbarkeit in der Ausführung wie auch im Material.¹⁸ Damit aber fußt das, was wir heute als epochemachende ,Stilgeburt‘ werten möchten, zunächst praxisorientiert auf der kunstfertigen Ausführung, der sorgfältigen Zusammenfügung der Bauelemente, der Strukturen wie der ausgewählten Materialien, im Dienst und in Rekurs auf eine spezifische, die Materialität je übersteigende Funktion. Der zeitgenössische Kontext favorisiert somit einen Erklärungszusammenhang, der dezidiert das jeweilige ,Wie‘ der Her- und Darstellung, die Gemachtheit, die Fertigkeit in den Fokus des ars-Verständnisses stellt.¹⁹ Andreas Speer hat mit seinen „kritischen Überlegungen zur mittelalterlichen Ästhetik“ auch bei den Schriften des Thomas von Aquin angesetzt, insofern diesem „in beinahe allen Studien einer mittelalterlichen Ästhetik eine Schlüsselrolle“²⁰ für eine Theorie des Schönen zugewiesen werde. Aber ebenso wie Speer Suger vom idealistischen Kopf auf handwerkliche Füße stellt, dekonstruiert er auch diese These als Resultat eines neuzeitlichen Ästhetikverständnisses: Denn bei allen Differenzen zu Suger (S. 964) bleibt deutlich, dass auch bei Thomas Kunst nicht als ervinden oder kreatives Handeln begriffen wird, sondern als Hervorbringung im Sinn von herstellen (facere):²¹ „Insofern die ars im Unterschied zur Klugheit (prudentia) kein Handlungswissen (recta ratio agibilium), sondern allein ein Herstellungswissen (recta ratio factibilium) beinhaltet, ist sie im Verständnis des Thomas primär technischer Natur, wie etwa das Bauen oder das Operieren“ (S. 955); noch deutlicher als bei Suger bleibt der artifex dabei an die „Vorgabe der Materie wie der substantiellen Formen gebunden“ (S. 953). Und auch in jener entscheidenden Stelle, in der man vielfach eine Definition des Schönen sehen wollte: Pulchra enim dicuntur, quae visa placent (S. th. I q 5 a 4 ad1), gehe es nicht, so wendet Speer ein, um eine Definition des Schönen im Sinn seines „autonomen Erscheinens“ (S. 950). Vielmehr würde hier die Funktion des Schönen im Erkenntnisprozess reflektiert: Gefragt werde danach, „was die vis cognoscitiva 17 Arthur C. Danto: The Transfiguration of the Commonplace. A Philosophy of Art, Cambridge, Mass. 1981; dt. Übers.: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Aus dem Englischen übers. von Max Looser, Frankfurt a. M. 21992. 18 Speer (Anm. 13), S. 212. 19 Dies ist vielfach als Differenzphänomen zur Moderne diskutiert worden: Rüdiger Brandt: Kleine Einführung in die mittelalterliche Poetik und Rhetorik. Mit Beispielen aus der deutschen Literatur des 11. bis 16. Jahrhunderts, Göppingen 1986 (GAG 460), hier insbes. S. 2  f.; die technai-artes-Parallelisierung mit kritischen Anmerkungen resümierend Susanne Bürkle: Einleitung. In: Interartifizialität (Anm. 13), S. 1–16, hier S. 2–5; den Begriff der Ästhetik wieder neu zur Diskussion stellend: Manuel Braun: Kristallworte, Würfelworte. Probleme und Perspektiven eines Projekts ‚Ästhetik mittelalterlicher Literatur‘. In: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Manuel Braun/Christopher Young, Berlin, New York 2007 (Trends in Medieval Philology 12), S. 1–40. 20 Speer (Anm. 15), S. 949; Forschung S. 949  f.; vgl. auch Andreas Speer: Thomas von Aquin und die Kunst. Eine hermeneutische Anfrage zur mittelalterlichen Ästhetik. In: Archiv für Kulturgeschichte 72 (1990), S. 323–345, hier S. 324  f. mit Literatur. 21 Vgl. Speer (Anm. 15), S. 952–958, insbes. S. 953.

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auf der Ebene der Sinne (sensus), d.  h. des ersten unmittelbaren Beeindruckt- und Angezogenwerdens von einem Erkenntnisgegenstand, zu eben diesem hinzieht und wodurch sodann, noch immer auf der Ebene der Sinneserkenntnis, eine erste Form des Erkennens (cognitio) zustandekommt“ (S. 950); was die Sinne aber auf dieser ersten Ebene beeindruckt, so wird weiter ausgeführt, „ist die Wohlproportioniertheit (debita proportio) des jeweiligen Erkenntnisgegenstandes, sei er natürlich oder artifiziell“ (S. 950). Diese angemessene Proportioniertheit wird als Ordnungskonstellation, als „Form“ begriffen. In seinem Aufsatz „Thomas von Aquin und die Kunst“ führt Speer diesen Gedanken noch weiter aus: „Die Wahrnehmung und Erkenntnis eines Gegenstandes ist also die Wahrnehmung und Erkenntnis der Form dieses Gegenstandes“; diese wohlgeordnete Form aber bürge für seine claritas.²² Auch hier wird man also als Kennzeichen des Artefaktum auf den Konstruktionscharakter, seine geordnete Gemachtheit zurückgeworfen. Seine herausragende Qualität, verstanden als pulchrum, als das, was die Sinne affiziert, erreicht das so verstandene Artefaktum – bei Thomas deutlicher als bei Suger – in der richtigen, der Sache geschuldeten ,Proportioniertheit‘²³ der sinnlich wahrnehmbaren Formelemente. Eine Kunst ohne Kunst wäre also, nach Suger und Thomas, eine Kunst der Kostbarkeit in der Ausführung, der Verwendung des Materials wie den Proportionen nach, wobei Suger stärker das Kriterium des aptum, Thomas stärker das Kriterium der Wirkung auf den Rezipienten mit einbezieht. Das artificium wäre nach diesem Ansatz somit durch vier Aspekte bestimmt. Es wird aufgefasst als ein Gemachtes, Gefertigtes, Konstruiertes, das durch seine Proportionen eine Ordnungskonfiguration darstellt, die wiederum der Sache, dem Kontext, seiner Funktion angemessen zu sein hat (vor allem Suger), zugleich jedoch sinnlich affizierend auf den Betrachter wirken soll (Thomas). Erst durch den dritten und vierten Aspekt würde jener Überschuss ins Spiel kommen, der die Kunst vom Handwerk trennt: Entweder erfolgt die Nobilitierung durch die Sache, den Kontext – bei Suger: die Epiphanie des Göttlichen in der Liturgie –, oder die Nobilitierung wird greifbar in der spezifischen sinnlichen Attraktivität, die eine erste Form der Erkenntnis evoziert (Thomas). Für diese vier Aspekte steht nun im deutschsprachigen Bereich ein Begriff zur Verfügung, der als immer wieder auftauchender Index mittelalterlicher Kunstpraxis bisher zu wenig Aufmerksamkeit gefunden hat – möglicherweise weil er im Kontext ästhetischer Fragen gemeinhin im vereinnahmenden Schatten des ahistorisch-generalisierten Schönheitskriteriums stand – und der durch seine Konnotationsfelder der handwerklichen Gemachtheit sowie der hiermit korrelierten Funktion und Wirkung durchaus geeignet scheint, bei einer historisch orientierten Stilanalyse weiterzuhelfen: der Begriff der ,vuoge‘. Mit dem Verb vüegen ist ein Herstellen als ,zusam22 Speer (Anm. 20), S. 327  f.: claritas meint hier bezeichnenderweise nicht ,Verklärung‘, sondern ,Klarheit‘. 23 Wichtig erscheint, dass proportio auch durch den Begriff der consonantia ersetzt werden kann: Speer (Anm. 20), S. 328.

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menfügen‘, ,verbinden‘, ,konstruieren‘ (ars als gemachtes compositum) anvisiert; das Substantiv vuoge zielt auf eine Ordnungsbeschreibung, der das Kriterium der Angemessenheit (auch im Sinn von consonantia) inhärent ist; die (An-)Ordnung der vuoge wiederum muss dem Anspruch der Sache gerecht werden (Funktionalität in der Sache); ebenso kann sie als Anspruch angemessenen Verhaltens sich auch auf den Rezipienten beziehen (Funktionalität in der Wirkung). Um den Begriff der ,vuoge‘ in seinen vier Aspekten als Begriff der Kunstpraxis und von hier aus der Stilpraxis plausibel zu machen, sollen im Folgenden einige der wichtigsten Belege für den Bezug zur künstlerischen Praxis vorgeführt werden.

Die Kunst der vuoge Mhd. vüegen, vuogen meint in seiner Grundbedeutung „tr. passend zusammen-, hinzufügen, verbinden […]; passlich gestalten […], bewerkstelligen, schaffen […], intr. füglich sein, sich passen, schicken, anstehn“.²⁴ Die Semantik zielt somit auf die Relation unterschiedlicher Bereiche: ‚zusammen‘-fügen, unter positiven Vorzeichen: ,passend, passlich‘. Die Grundbedeutung des verbum bestimmt auch die Semantik des Substantivs vuoge: „zusammenfügung, feste vereinigung“; hierbei kann die Markierung der Zusammenfügung gemeint sein: die „fuge“; ebenso kann aber auch das Ergebnis auf abstrakter Ebene in den Blick treten: „passlichkeit, schicklichkeit […], gebührende weise“, wobei die „passlichkeit“ sowohl als moralische wie auch als kulturelle Stimmigkeit verstanden werden kann: „wohlanständigkeit“; schließlich zielt der Begriff auch auf den Vorgang des ,passlich Machens‘ und seine Voraussetzungen: „geschicklichkeit […], zutun“, insbesondere im Bereich der ars: „kunstfertigkeit, kunstgeschick“.²⁵ Wendet man sich dem jeweiligen Gebrauch von vuoge und seinem Wortfeld zu,²⁶ wird deutlich, dass die Semantik der moralischen und kulturellen Stimmigkeit vorherrscht.²⁷ 24 Siehe s.  v. vüegen, vuogen: Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, Stuttgart 36 1981, S. 300  f. Entsprechend auch ge-vüegen, ebd., S. 70. 25 Siehe s.  v. vuoge Lexer (Anm. 24), S. 302. Entsprechend auch ge-vuoge, ebd., S. 70; bzw. das gesamte Wortfeld: ge-vüege/ge-vuoge (adj., adv.), ge-vuoc (adj.), vüegen-lich/ge-vuoclich/-lîche (adj., adv.), ge-vuocheit (stf.) etc. 26 Textgrundlage sind die unter dem Wortfeld von vuoge, vüegen etc. aufgerufenen Beispiele der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank. Die Ergebnisse sind vorläufig. Eine genauere Erhebung und Auswertung müsste sich anschließen. 27 Moralische Stimmigkeit etwa wird aufgerufen, wenn der Sprecher in Walthers Strophe 47,36 seine [z]wô fuoge darin sieht, dass er sich nicht unmære verhalte wie manige[ ] (48,9), sondern mit den Fröhlichen fröhlich sei und bei den Traurigen nicht lache. Moralisch zu verstehen wäre etwa auch: Aller werdekeit ein füegerinne, / daz sît ir zewâre, frowe Mâze (46,32), insofern die Mâze ein Verhalten vermittelt, dessen man sich weder ze hove noch an der [strâze schamen] (46,36) müsse (zitiert nach:

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Doch auch die auf den handwerklich-künstlerischen Prozess bezogenen semantischen Belege von vuoge bzw. vüegen tauchen durchaus prononciert auf. Dabei lassen sich drei semantische Felder mit zunehmender Spezifizierung in systematischer Hinsicht unterscheiden, auch wenn in den Texten selbst die Scheidelinien oft nicht scharf verlaufen: zum einen vuoge/vüegen als Vergleichsglied zwischen handwerklicher und sprachlicher Könnerschaft, zum anderen vuoge als herausgehobene Beschreibungsvokabel insbesondere der Liedkunst, schließlich vuoge als Begriff, der die Art und Weise der Darstellung innerhalb der Liedkunst besonders akzentuiert. vuoge als Vergleichsglied zwischen handwerklicher und sprachlicher Könnerschaft tritt besonders prägnant in Otfrids von Weißenburg Evangelienbuch zutage:²⁸ ougdun iro wisduam, ougdun iro cleini  in thes tihtonnes reini. Iz ist al thuruh not  so kleino giredinot (iz dunkal eigun funtan,  zisamane gibuntan), […] Sar Kriachi job Romani  iz machont so gizami, iz machont sie al girustit,  so thih es wola lustit; Sie machont iz so rehtaz  joh so filu slehtaz, iz ist gifuagit al in ein  selp so helphantes bein. (I, 1,5–16)

Die Übersetzung von Otfrids vieldiskutierten Versen gibt im Detail durchaus Schwierigkeiten auf.²⁹ Deutlich ist jedoch in jedem Fall, dass die Verse die antike Dichtung loben, indem sie ihr zusprechen, wie eine Elfenbeinarbeit gifuagit zu sein und zwar: al in ein (V. 16). Nicht also die Kostbarkeit oder der Darstellungsreichtum einer Elfenbeinarbeit, die auf engstem Raum mehrere Figuren, ganze Szenerien oder Szenenfolgen darzustellen vermag, dient als tertium comparationis, sondern das Spezifikum der Elfenbeinarbeiten, aus einem Stück gearbeitet zu sein. Während die Kunstfertigkeit der Elfenbeinarbeit darin besteht, aus dem einen zugrundeliegenden Elfenbeinstück eine Vielfalt an Figuren oder Ornamenten minutiös hervorzubringen, wird der Dichtung nun umgekehrt aufgegeben, aus ihren (offenbar) heterogenen Elementen eine

Walther von der Vogelweide. Leich. Lieder. Sangsprüche. 14., völlig neubearb. Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner. Hrsg. von Christoph Cormeau, Berlin, New York 1996). Für den Inbegriff höfischer vuoge steht etwa das Wunderkind Tristan: Seine höfische Könnerschaft auf allen Gebieten wird zum Objekt des Begehrens, wo immer er hinkommt: da begunde sich manc herze senen / nach Tristandes vuoge (V. 3704  f.; zitiert nach: Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hrsg. von Friedrich Ranke, Zürich, Berlin 141969). 28 Zitiert nach: Otfrids Evangelienbuch. Hrsg. von Oskar Erdmann, 6. Aufl. besorgt von Ludwig Wolff, Tübingen 1973 (ATB 49). 29 Vgl. Braun (Anm. 19), S. 15, mit Übersetzungsvorschlägen der Forschung, S. 15, Anm. 56. Besonders plausibel erscheint mir die Übersetzung von Manuel Braun, da er sich dezidiert davon distanziert, dass sich „Otfrids Begrifflichkeit […] genau auf einzelne rhetorische Termini abbilden [lasse]“ (ebd.).

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solche Einheit, eine geschlossene und verständliche Textur, allererst herzustellen. Das Ziel der Einheitlichkeit markiert der Begriff ‚rein‘. Ist dieses Ziel erreicht, stellt sich beim Rezipienten eine positive Wirkung ein: es wola lustit (V. 14). Der Weg zu diesem Ziel aber besteht im ‚Zusammenfügen‘ (zweifach betont: zisamane gibuntan, V. 8; gifuagit, V. 16) – unter bestimmten Vorgaben: Das ‚richtige‘ Zusammenfügen ist das ‚geordnete‘ Zusammenfügen, d.  h. dasjenige, was Angemessenheit, Passgenauigkeit herstellt (gizami, V. 13; slehtaz, V. 15). Die Qualität, die das durchaus ästhetisch zu verstehende Wohlgefallen hervorruft, besteht somit nicht in der Schönheit,³⁰ sondern in der stimmigen Zusammenfügung der sprachlichen Mittel. Auch in dem zweiten Beispiel, einem Ausschnitt aus der Sattelbeschreibung in Hartmanns Erec,³¹ gründet sich die Kunstfertigkeit (gevuoge, V. 7541) auf ein Zusammenfügen, hier nun auf den adäquaten Verbund unterschiedlicher Materialien: von disen mâterjen drin sô hâte des meisters sin geprüevet diz gereite mit grôzer wîsheite. er gap dem helfenbeine und dâ bî dem gesteine sîn gevellige stat, als in diu gevuoge bat. er muosete dar under den goltlîm besunder, der muoste daz werc zesamene haben. (V. 7534–7544)

Zu einem werc (V. 7544) kommt es erst durch die gelungene Kombination von Elfenbein, Edelsteinen und Gold. Dass jedes Material sîn gevellige stat (V. 7540) erhält, ist Voraussetzung. Eben deshalb bittet hierum die gevuoge (V. 7541). Die Kunst der vuoge, des richtigen Zusammenfügens des Materials, erweist sich damit auch hier, sofern die Sattelbeschreibung zugleich als Selbstreflexion des Dichters und seines Tuns gelten kann,³² als das ausschlaggebende Qualitätsmerkmal, das Kunsthandwerk und Sprachkunst zusammenbindet. Die herausragende Stellung handwerklicher Materialverarbeitung unter dem Aspekt einer sinnvollen Ordnung dürfte dabei, wie Barbara

30 Vgl. Braun (Anm. 19), S. 16: „Der Begriff der Schönheit freilich wird hier bewusst ausgespart, er fällt erst dort, wo es um die Qualität christlicher Dichtung in fränkischer Sprache geht.“ 31 Zitiert nach: Hartmann von Aue: Erec. Mhd./Nhd. Hrsg., übers. und komm. von Volker Mertens, Stuttgart 2008 (RUB 18530). 32 Vgl. Barbara Haupt: Ornament und vuoge. In: Interartifizialität (Anm. 13), S. 113–135, hier S. 126: „Während die lateinischen Poetiken der Zeit sich in die Tradition der antiken Rhetorik stellen (ars dictandi) und damit das Tun des Dichters den artes liberales zuzuordnen wäre, präsentiert Hartmann […] hier das Tun des Dichters als Handwerkskunst. Die Produktion des literarischen Künstlers als artifex ist somit den artes mechanicae zugeordnet. Die ars auch des Wortkünstlers zielt auf das bonum operis, auf das gelungene werc.“

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Haupt überzeugend gezeigt hat, nicht nur auf die positive Wertung manueller Tätigkeiten in der für das 12. Jahrhundert zentralen Schrift De diversis artibus des Theophilus Presbyter (1122/1123) zurückzuführen sein,³³ sondern gründet sich vor allem in der Auffassung des Schöpfergottes als opifex, dessen „ordnende Tätigkeit“ im Liber Sapientiae 11,21 festgehalten werde: omnia in mensura et numero et pondere disposuisti; die dem Werk inhärente „wohlgefügte Ordnung“ erlaube es, „das Werk des bildenden Künstlers ebenso wie das Werk des Wortkünstlers in Analogie zum Werk des Schöpfergottes zu verstehen“.³⁴ vuoge, bezogen auf den künstlerischen Bereich, findet sich besonders häufig auch in Gottfrieds Tristan. Denn der Kern höfischer vuoge³⁵ liegt – dies machen die im Tristan ungewöhnlich zahlreichen Beispiele deutlich – im künstlerischen Feld und hier nun gerade im Bereich des Instrumentenspiels und des Gesangs. So erzählt der totkranke Tristan bei seiner Ankunft in Irland: ,ich was ein höfscher spilman und kunde genuoge höfscheit unde vuoge: sprechen unde swigen, liren unde gigen, harpfen unde rotte‘ (V. 7560–7565)

Ein pfaffe, so heißt es weiter, sine vuoge vernam / an handen unde an munde (V.  7698  f.)³⁶ und empfiehlt ihn als Lehrmeister für die junge Isolde. Da sie bereits suoze unde wol von munde (V. 7997) singt, sind ihr sowohl schœne vuoge als auch höfscheit genuoge / mit handen und mit munde (V. 7981–7983) bekannt. Eben dieses Vorwissen nutzt ihr nun durchaus bei ihrem neuen Lehrer: und swazs e vuoge kunde, / da kam si do ze vrumen an (V. 7998  f.). Die Semantik changiert in den letzten Beispielen zwischen vuoge als Kunstfertigkeit und vuoge als Synonym für das Lied selbst, das aufgrund seiner Vortrefflichkeit vröude (V. 7524) hervorruft und als suoze (V. 7997)

33 Haupt (Anm. 32), S. 116–118. 34 Haupt (Anm. 32), S. 128  f. Haupt verweist in diesem Zusammenhang darüber hinaus zu Recht auch auf die „Häufung von Ausdrücken aus dem Wortfeld von werc / wirken […], denn diese Ausdrücke entsprechen sowohl dem biblischen creare (Gn 1,1 u. 1,27) als auch dem opus facere bzw. operari (Gn 2,2  f.; 15 u. ö.)“; während „in der Schule von Chartres zumeist klar unterschieden wird zwischen der creatio ex nihilo des Schöpfers und dem Werk des menschlichen artifex“, verwische Hartmann mit diesem Bezug die Grenzen und deute „damit die Möglichkeit an, das Werk des menschlichen Künstlers als eine creatio sui generis zu verstehen“ (S. 129  f.). Handwerkskunst und schöpferische Kunst wären damit noch enger aneinandergerückt. 35 Spezifisch hierfür ist die Doppelformel höfscheit unde vuoge: neben V. 7562 etwa auch V. 3918  f.; V. 7705; V. 7981  f. 36 Als Grundlage des Interesses wird expliziert: wan er ouch selbe kunde / list unde kunst genuoge, / mit handen manege vuoge / an iegelichem seitspil / und kunde ouch vremeder sprache vil. / an vuoge unde an höfscheit / hæter gewendet unde geleit / sine tage und sine sinne (V. 7700–7707).

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gelobt wird. Auffallend ist dabei die stereotype Formulierung der vuoge mit handen und mit munde, die wohl wiederum auf die Korrelation von handwerklichem (von hande) und sprachlichem (von munde) Können abzielt,³⁷ wobei hier nun – anders als zuvor – dezidiert die lyrische Gattung des Liedes im Zentrum steht. Auch für die spezifische Korrelation von vuoge und Lied könnten weitere Beispiele angeführt werden, etwa  – mit interessanter Debatte der Hierarchisierung künstlerischer vuoge und der (Nicht-)Erlernbarkeit des Gesangs  – innerhalb von Konrads Spruchdichtung.³⁸ Expliziert wird schließlich in Walthers Lied 48,12, dass es zur künstlerischen vuoge auch gehört, zu erkennen, wie man singen solte (48,23  f.). Dass sich das ‚Wie‘ nicht nur auf den rechten Publikumsbezug, etwa in der Anpassung des Sängers an die freudvolle oder traurige Haltung seiner Zuhörer beziehen lässt, sondern auf die Gesangsqualität als solche, d.  h. die spezifische Gemachtheit des Singens in seiner jeweiligen Art und Weise, wird besonders deutlich in Lied 64,31 Owê, hovelîchez singen. Hier wird erläutert, was daz rehte singen (65,9) ‚stört‘. Die Darlegung erfolgt über ein Oppositionsfeld: Dem rehte[n] singen kontrastieren ungefüege dœne (64,32). Letztere riuschen[  ] (65,14) wie der Mühlstein, sie ergeben weder Wohllaut noch Sinn und sind zu vergleichen mit dem schrîen von Fröschen (65,21  f.), weshalb sie letztlich zu den gebûren (65,31) gehören. Das rehte singen bedeutet dagegen hovelîchez singen (64,31). Es verursacht fröide […], diu rehte und gefüege (65,1  f.) ist, und gleicht dem Singen der nahtegal (65,23). Nicht jeder Gesang also untersteht der vuoge. Es kommt offensichtlich auf die jeweilige Machart an, das ‚Wie‘ des Klang-Sprach-Gebildes, das jedoch nicht Selbstzweck ist, sondern hovelîche[n] muot (65,5) hervorruft. Ästhetische Stimmigkeit ist dabei also, wie so oft bei Walther, von moralischer und höfisch-kultureller Stimmigkeit nicht zu lösen.

Relationale Stilkategorien: Bildevokation und Tektonik Die drei grundlegenden Bedeutungen von vuoge im Kontext der Kunstpraxis – vuoge als Kunstfertigkeit, die darauf abzielt, das zugrundeliegende Material in richtiger

37 Die Zuordnung hande zum Instrumentalspiel, munde zum Gesang wäre Tristan-spezifisch. Sie ist im Text nicht immer ganz scharf, scheint aber zumindest dort, wo die Doppelformel mit handen und mit munde verwendet wird, plausibel. 38 Für alle fuoge ist edel sang getiuret und gehêret, / darumbe daz er sich von nihte breitet unde mêret. / elliu kunst gelêret / mac werden schône mit vernunst, / wan daz nieman gelernen kan red und gedœne singen; / diu beidiu müezen von in selben wahsen unde entspringen: / ûz dem herzen clingen / muoz ir begin von gotes gunst. Spruch 32, 301–308, zitiert nach: Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg. Bd. 3: Die Klage der Kunst. Leiche, Lieder und Sprüche. Hrsg. von Edward Schröder, Berlin 41970, S. 66.

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Weise zusammenzufügen und einzusetzen, vuoge als Beschreibungsvokabel insbesondere der Liedkunst und vuoge als Begriff, der das ‚Wie‘ der Darstellung betont, auch und gerade um bestimmte Reaktionen hervorzurufen – lassen in der Betonung des Handwerklichen, in der Auffassung des artificium als compositum, das durch seine proportiones zur Stimmigkeit (consonantia) geführt wird, die wiederum den Rezipienten affektiv ansprechen soll, auffallende Korrespondenzen zum ars-Wissen der eigenen Zeit erkennen. Grundlegend ist für beide Semantiken der Gedanke eines Herstellens, das auf einem (handwerklich gekonnten) Zusammenfügen der Materialien beruht. Da beide Semantiken aus ganz unterschiedlichen Diskursbereichen stammen, dem lateinisch-theologischen einerseits, dem volkssprachigen andererseits, ist diese Parallelität in besonderer Weise bemerkenswert und lässt ein diskursübergreifendes Einvernehmen in Bezug auf die basalen Bedingungen eines Artefakts vermuten. Für die Frage des Stils ergeben sich aus diesem Ansatz zwei weitreichende Konsequenzen: Zum einen: Wenn man im dargestellten Sinn vom artificium als ,Kunst der vuoge‘ ausgeht, lässt sich Stil – auf der Basis des handwerklichen vüegens – nun gleichsam als jeweilige Umsetzung der ,Kunst der vuoge‘ fassen, als der Praxisaspekt des facere/vüegen, ausgehend von der jeweiligen Materialität. Stil wäre von diesem konstruktiven Ansatz her dann jedoch keineswegs nur ein ‚Oberflächenphänomen‘, sondern würde die Substanz des jeweiligen Artefakts (mit)betreffen. Zum anderen: Indem das Zusammen-Fügen den Kern jeglichen ars-Schaffens ausmacht, kann der Stil nicht durch die Beschreibung einzelner Stilfiguren, Tropen etc. und auch nicht als Subjektausdruck eingeholt werden. Zentral für den Stil ist vielmehr der Bezug der ‚Bauelemente‘ untereinander, die angestrebten proportiones, die jeweiligen Relationen, die consonantia. In diesem Sinn erweist sich Stil als Beschreibungskategorie von Bezügen, ist vom Ansatz her relationale Kategorie. Versteht man Stil als relationale Kategorie des jeweiligen Gefügtseins, so hat sich eine Stilanalyse zunächst auf die internen Relationen und Proportionen des artificium zu richten. Aus der Vielfalt der Elemente ist dabei eine Auswahl zu treffen. Nicht alle Relationen bilden gleichsam ‚tragende Bauelemente‘. Was als ‚tragendes‘ Element zu gelten hat, ist vielmehr vom Funktionszusammenhang bzw. – beim sprachlichen artificium – von der Textsorte abhängig. Da der Ansatz im Folgenden an der Lyrik des 12. Jahrhunderts erprobt werden soll, werden als ‚tragende‘ Elemente sowohl die Art des Bildgebrauchs als auch die formale Tektonik des jeweiligen Liedes vorgeschlagen. Der Ansatz bei der Art des Bildgebrauchs verdankt sich den Zuschreibungen des ästhetischen Stilbegriffs. Dieser hatte als Kennzeichen eines spezifisch poetischen Stils, den der vormoderne rhetorische Stilbegriff nicht zu fassen wusste, die Kriterien der Anschaulichkeit und der Affekterregung hervorgehoben.³⁹ Beide Kriterien 39 Vgl. etwa Johann Christoph Adelung: Ueber den Deutschen Styl. Erster Theil, Berlin 1785. Zweyter und dritter Theil, Berlin 1785, Repr. Hildesheim, New York 1974, hier: Zweyter Theil: Besondere Arten des Styles, S. 66: Der ‚poetische Styl‘ setze sich aus ‚bildlichem‘ und ‚gemütsbewegendem Styl‘ zusammen.

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werden theoretisch zwar nicht für vormoderne Texte als Poetizitätsindizes verhandelt, sind aber in den Rhetoriken sowie in den Texten (und für ihre Wirkungen) selbst zweifelsohne von hoher Bedeutung. So wird in den Rhetoriken eine ganze Palette an Praktiken angeführt, die dazu anleiten sollen, Anschaulichkeit herzustellen.⁴⁰ Die Anschaulichkeit wiederum, insbesondere die evidentia, dient der Affekterregung.⁴¹ Der Fokus der Bildlichkeit ist darüber hinaus begründet im Angebot der zu untersuchenden Autorcorpora: Sowohl der Kürenberger als auch Morungen weisen eine deutliche Bildsprache auf. Dabei gehe ich nicht von einem engen Bildbegriff aus, der sich allein auf die Nomenklatur der Tropen bezieht, sondern von einem breiteren, wie ihn vor kurzem Christoph Huber diskutiert hat: Bildlichkeit wird „als Visualisierung“ angesetzt, „die sich im Bewusstsein des Rezipienten herstellt“.⁴² Zu Recht muss Huber bei dem Ansatz des breiteren Bildbegriffs jedoch einwenden, dass so nicht „von vornherein klar [ist], welche Textelemente als bildhaft einzuschätzen sind und welche nicht, bzw. wie man das Bildinventar […] zu klassifizieren hätte“.⁴³ Dieser Schwierigkeit sehen sich auch die folgenden Ausführungen ausgesetzt. Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass jedem Signifikant, dessen Signifikat beim Rezipienten eine konkrete Vorstellung hervorruft, Bildqualität zukommt. Konkreta (wie z.  B. der Begriff ‚Dorn‘), aber auch etwa räumlich evokative Signifikantengruppen (wie z.  B. ‚alleine stehen‘), sind hier von besonderem Interesse. Gefragt wird dabei jedoch – entsprechend meinem Ansatz – weniger nach den evozierten Bildqualitäten an und für sich, sondern vor allem nach den Relationen unterschiedlicher Bildevokationen untereinander. Um den konstruktiven Aspekt der vuoge noch stärker einzubeziehen, wähle ich als ergänzendes Kriterium diejenigen Konstitutiva, die die Textsorte Minnesang tektonisch wesentlich bestimmen: die Liedeinheit, die Stropheneinheit, die Verseinheit, Rhythmus und Reim. Diese tektonischen Konstitutiva bilden den Bezugsrahmen, dem nicht nur eine eigene affektive Wirkung zukommt, sondern der auch die Wirkung der Bildevokationen in ihren Relationen maßgeblich mitbegründet. Die Analyse fokussiert demnach vorrangig die Verfugung der Bildevokationen untereinander sowie die Verfugung der Bildevokationen mit formalen Kriterien. Sollte sich hier eine durchgehende Spezifik erkennen lassen, kann von ‚Stil‘ gesprochen werden. Dabei geht es nicht um einen weiteren zweifelhaften Versuch, einen

40 Vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 31990, insbes. § 552  f. und § 810–813. 41 Vgl. Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 331  f. 42 Christoph Huber: Zur Bildlichkeit in Morungens Narzisslied. In: beste wunne  – niuwe klage. Das Narzisslied Heinrichs von Morungen als Paradigma des Minnesangs. Hrsg. von Cyril Edwards/ Christoph Huber/Manfred Kern (Salzburger Beiträge zur interdisziplinären Mediävistik) [Manuskript; erscheint vorauss. 2014]. 43 Huber (Anm. 42).

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 Annette Gerok-Reiter

Personal- oder Werkstil ausfindig zu machen. Es geht allein darum, den vorgestellten Ansatz zu überprüfen, d.  h. zu klären, ob eine Analyse aufgrund der genannten Kriterien eine aussagekräftige stilistische Differenzierung zwischen zwei Liedern unterschiedlicher Verfasser erlaubt.

Exemplarische Analysen Beispiel 1: Der von Kürenberg, Swenne ich stân aleine (MF 8,17) ‚Swenne ich stân aleine in mînem hemede, unde ich gedenke an dich, ritter edele, sô erblüet sich mîn varwe, als der rôse an dem dorne tuot, und gewinnet daz herze vil manigen trûrigen muot‘.⁴⁴

Die Strophe des Kürenbergers⁴⁵ ist über zwei semantische Felder aufgebaut, die unterschiedliche Bildevokationen hervorrufen. Das erste – dominante – Feld gruppiert sich um ein Sprecher-Ich (Swenne ich), das, alleine dastehend, an einen ritter edele, offensichtlich den Geliebten, denkt und insofern als weiblich markiert ist. Es errötet (V. 3), sein Herz füllt sich mit Traurigkeit (V. 4). Das zweite semantische Feld ist durch Rose und Dorn natural markiert (V. 3). Beide semantischen Felder und ihre Bildevokationen sind über den Vergleich als eng miteinander verfugt. Die Sparsamkeit der Hinweise, die keine entfaltete descriptio bieten, sondern lediglich knappe Personal-, Substantiv- oder Verbindizes (ich, dich, gedenken an, herze, trûriger muot, varwe, rose, dorn), lässt den Eindruck entstehen, dass hier bereits auf Versatzstücke einer topischen Lexik, Semantik und Bildlogik zurückgegriffen wird. In jedem Halbvers werden ein, allenfalls zwei sorgfältig pointierte Versatzstücke aufgerufen, die Summe ergibt die Textur. Und doch nicht ganz: Ein Signifikant fällt aus diesem topisch wirkenden Versatzpuzzle heraus, indem sich das Sprecher-Ich vorstellt als alleine dastehend: in mînem hemede. Die fast merkwürdige Alltagskonkretion des Details hemede sticht aus den weiteren Beschreibungen, die die Strophe nach und nach gibt, deutlich heraus, insofern hinter ihr keine zur Topik geronnene Symbolik zu stehen scheint, vielmehr ein Wechsel von der topischen Chiffrensprache zum ,unbeschriebenen‘ concretum oder – von rhetorischen Beschreibungskategorien her gesehen – ein Wechsel der Stilebenen vom stilus gravis zum stilus mediocris vorliegt. Diese unterschiedliche Qualität der Bildevokation fokussiert die Aufmerksamkeit. Zu Recht hat Manuel Braun dabei 44 Text nach MF. 45 Zur Strophe vgl. Manuel Braun: Spiel  – Kunst  – Autonomie. Minnesang jenseits der PragmaParadigmen, Habilitationsschrift München 2007 [Manuskript], Kap. 2.3: Stilgestus, hier auch weiterführende Literatur.

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hervorgehoben, dass das Bild der im Hemd dastehenden Frau „nicht nur einen Präsenzeffekt [erzeugt], sondern auch unterschiedliche Bedeutungsgehalte [transportiert]  – etwa Einsamkeit, Privatheit, Einfachheit, Schutzlosigkeit und Verwundbarkeit, Trauer, aber auch erotische Bereitschaft“.⁴⁶ Die Bildevokation erscheint somit zunächst polyvalent, wird zu einem „Strebepfeiler für die Imagination“⁴⁷ des Rezipienten. Oder anders formuliert: Eben weil das Bild zunächst enigmatisch bleibt und zugleich affektiv anspricht, ist der Rezipient in besonderer Weise aufgefordert, das semantische Konnotationsfeld abzutasten und die Leerstellen durch eigene Imaginationstätigkeit zu füllen. Dabei unterstützen die chiffrenartigen Versatzstücke der umgebenden Halbverse diesen Imaginationsprozess, indem sie die Bedeutungsvielfalt, die das Bild der allein im Hemd dastehenden Frau evoziert, vorbereiten, aufgreifen und Deutungsmöglichkeiten anbieten: Die Deutungsoption ,Einsamkeit‘ wird durch das vorlaufende aleine stimuliert, die Deutungsoption ,Intimität‘ durch das Denken an den Geliebten, die erotische Bereitschaft und die Hoffnung durch das Erblühen der Farbe, die Verletzbarkeit durch das Konnotationsfeld des Dorns usw. Doch die umgebenden semantischen Hinweise legen das enigmatische Bild nicht restlos aus. Indem sie es lediglich umspielen, behält es einen unerklärten Rest, einen Überschuss – und genau von diesem aus kommt es dann auch zu einer umgekehrten Bewegung, laden sich die zuvor lediglich topisch anmutenden Chiffren von Ich, Du, Dorn, Herz und Traurigkeit auf, gewinnen im gegenseitigen Wechselbezug der Ausleuchtung jene Spannung, die einen dichten Emotionsraum aufzuspannen vermag. Stilistisch ist somit in Bezug auf die Bildevokationen von einem Gefälle, einer dis-proportio, einer ungevuogen vuoge zwischen topischem und nicht-topischem Sprechen auszugehen. Diese dis-proportio markiert eine Differenz der evozierten Bildqualitäten. Zugleich entfaltet sie jedoch notwendig aus dem Gefälle heraus den Wechselbezug der Bedeutungsspiegelungen und -aufladungen über die Differenz hinweg. Dabei kann die Differenz der Bildqualität nivelliert, nicht jedoch aufgehoben werden. Das stilistische Verfahren auf der Ebene der Bildevokation bleibt somit in sich gegenläufig. Dieser Gegenläufigkeit arbeitet nun aber die Tektonik der Langzeilenstrophe durch ihre ebenfalls in sich gegenstrebige Struktur zu: Zum einen bietet die vierzeilige Langzeilenstrophe mit ihrer statischen Paarreimstruktur einen äußerst eng umgrenzten, blockhaften Rahmen. Innerhalb dieses engen und überschaubaren Rahmens sind die einzelnen Signifikanten und ihre Bildevokationen in extremem Maß in ihrer Deutung aufeinander angewiesen; d.  h. der Rahmen unterstützt, ja er provoziert gerade durch seine Enge das Spiegelarrangement der Deutungsoptionen: Er wirft die eine Bildevokation in ihrer Deutung auf die andere zurück. Zum anderen steht diesem

46 Braun (Anm. 45), Kap. 2.3: Stilgestus. 47 Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin, New York 2007, S. 50.

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wechselseitigen Austausch jedoch die Tektonik der Halbvers- und Verseinschnitte entgegen, die unablässig Zäsuren setzt und die rhythmische Fuge zum Prinzip erhebt. Wegen der Zäsuren können die einzelnen Bilder trotz der Enge auf kleinstem Raum letztlich nicht miteinander verschmelzen, insofern sie, gleichsam gebannt in den jeweiligen Halbvers, die Zäsur nicht aufzuheben vermögen. Es ist diese statische Grundsubstanz der Langzeilenstrophe und ihrer Vers- wie Halbversfugen, die die einzelnen Bilder einander annähert und sie zugleich doch auf klar geschiedener Distanz hält.⁴⁸ Eben dadurch erscheint der affektive Impuls, der von den Bildevokationen ausgeht, in einem enigmatischen Tableau stillgestellt. Die gegenseitigen Bedeutungsspiegelungen über das Gefälle disproportionaler Bildqualitäten führen somit erst in der Relation zum tektonisch engen Spiegelkabinett der Langzeilenstrophe mit ihren dominanten Halbvers- und Verszäsuren zu jenem aufgeladenen enigmatisch-affektiven Tableau, das den Gesamteindruck der Strophe bestimmt. Stilistisch lassen sich somit für die Strophe folgende Merkmale festhalten: Es entsteht ein enigmatischer Stil, produziert insbesondere durch die ungleiche Qualität der Bildevokationen, d.  h. durch das Gefälle zwischen topischen Chiffren und nicht-topischem, konkretem Detail. Das Gefälle führt zu einem Spiegelarrangement zwischen concretum und Chiffren, die sich selbst deuten und zugleich das nicht-topische, konkrete Detail mit Bedeutung aufladen, dennoch aber den enigmatischen ,Bildkern‘ des concretum nicht restlos enträtseln. Unterstützt wird diese Gegenläufigkeit von Deutung und Differenz durch die formale Struktur der vier Langzeilen mit ihrer jeweils klaren Zäsur, die die unterschiedlichen Bildevokationen in einem emotionalen Tableau sowohl zusammenfügt als auch trennt und damit ähnlich gegenstrebig wie die Bildevokationen verfährt. Der enigmatische Stil der Strophe erscheint damit als ein Stil der ungevuogen vuoge. Beispiel 2: Heinrich von Morungen, Sach ieman die vrouwen (MF 129,14) I Sach ieman die vrouwen, die man mac schouwen in dem venster stân? diu vil wolgetâne diu tuot mich âne sorgen, die ich hân. Si liuhtet sam der sunne tuot gegen dem liehten morgen. ê was si verborgen. dô muost ich sorgen. die wil ich nu lân.

48 Will man nicht von einer Langzeilenstrophe ausgehen, bleibt das Verfugungsarrangement bestehen, wenngleich in einer etwas stärker dynamisierten Struktur.

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II Ist aber ieman hinne, der sîne sinne her behalten habe? der gê nâch der schônen, diu mit ir krônen gie von hinnen abe; Daz si mir ze trôste kome, ê daz ich verscheide. diu liebe und diu leide diu wellen mich beide vürdern hin ze grabe. III Wan sol schrîben kleine reht ûf dem steine, der mîn grap bevât, wie liep sî mir waere und ich ir unmaere; swer danne über mich gât, Daz der lese dise nôt und ir gewinne künde, der vil grôzen sünde, die sî an ir vründe her begangen hât.

Ich konzentriere mich wieder zunächst auf die aufgerufenen semantischen Felder und ihre Bildevokationen.⁴⁹ Bereits die Signifikanten venster und wolgetâne vrouwe, sunne, liehter morgen und krône, grap und steine machen in ihrem Ablauf den weiten Bogen deutlich, den die Bildevokationen von ihnen aus nehmen. Ihre Semantik unterstützt die Visualisierung der Dame in der ersten Strophe, deren Verschwinden in der zweiten und umkreist schließlich das Leid des Ich in der dritten Strophe. Offensichtlich wird den luziden, das Irdische transzendierenden Bildern, die sich um die Dame gruppieren (Str. I und II), die blanke Materialität und Schwere des Grabsteines (Str. III) gegenübergestellt: ein Kontrast, wie er auf der Bildebene kaum größer sein könnte. Die Forschung hat in jüngster Zeit wiederholt auf die extrem heterogene Bildlichkeit der Lieder Morungens unter verschiedenen Perspektiven hingewiesen. Insbesondere Christoph Huber hat anhand der Verfahrensweisen der descriptio der vrouwe

49 Zum Lied insgesamt vgl.: Heinrich von Morungen: Lieder. Mhd./Nhd. Text. Hrsg., Übers. und Kommentar von Helmut Tervooren, Stuttgart 32003 (RUB 9797), S. 156–158, und: Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Edition der Texte und Kommentare von Ingrid Kasten, Übersetzungen von Margherita Kuhn, Frankfurt a. M. 2005 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 6), S. 765  f., mit weiterführender Literatur.

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zwei unterschiedliche Darstellungstechniken aufgezeigt, deren Funktion auch die am Lied Sach ieman die vrouwen aufgezeigte Opposition von Luzidität und Materialität begründen kann.⁵⁰ So werde einerseits bei den descriptiones der Dame auf die Kataloge der „rhetorischen Personenbeschreibung, die seit der Antike qualitates corporis und animi kombinieren“, zurückgegriffen, andererseits würden die „geistigen, dem leiblichen Auge grundsätzlich nicht fassbaren Elemente […] über das Licht visualisiert“ (S. 88), wobei Huber zu Recht betont, dass das „poetologisch Bemerkenswerte“ dabei die „keineswegs spannungslose Kombination der zwei unterschiedlichen Verfahren descriptio personae und Lichtästhetik“ sei (S. 89): keineswegs spannungslos, da das eine Verfahren auf Körperlichkeit und Materialität, das andere auf die Aufhebung eben dieser Körperlichkeit ziele. So richtig es ist, die „heterogenen Potentiale“ (S. 98) in Morungens Liedern herauszustellen, die Doppelung von „Erscheinung und Entzug, Visualität und Abstraktion, Reden und Schweigen“ (S. 104), so sehr muss jedoch weiter gefragt werden, ob mit den zwei unterschiedlichen rhetorischen Verfahrensweisen der descriptio bzw. der heterogenen Grundsubstanz bereits der Stilgestus erfasst ist. Eben hierfür scheint es – so meine These – entscheidend, auf die Art und Weise der jeweiligen Relationierung, auf die Verfugungspraxis des Bildmaterials zu sehen, die gegenseitigen proportiones. Wenn Huber festhält, dass die heterogenen Potentiale „gegeneinander antreten“ (S. 98) bzw. ein „Bündel von dialektisch-antithetischen Bezügen“ (S. 104) ergeben, das letztlich in ein „poetologisches Dilemma“ (S. 98) führe, so trifft dies auf der Ebene der genutzten Beschreibungstechniken und ihrer Traditionen sowie für die Ausgangslage des Bildmaterials durchaus zu. Der stilistische Gestus erfüllt sich jedoch gerade nicht in der „ästhetischen Differenz“ (S. 98), sondern spielt, gespeist von der „Energie“ (S. 98) der Oppositionen, dezidiert über sie hinweg. Er arbeitet mit changierenden Übergängen, mit der Auflösung von Oppositionen im syntagmatischen Gefälle, mit einem Fluidum an Transformationen statt mit Dialektik. Semantik und Bildevokationen erscheinen durch diesen stilistischen Ansatz von vornherein gegeneinander porös und indizieren eben dadurch ihre Affinität. Oder anders formuliert: Dass trotz des heterogenen Ausgangsmaterials, das häufig sogar in Oppositionen auftritt, der Eindruck eines changierenden Fluidums erweckt wird, ist Leistung des stilistischen Verfahrens. Zeigen lässt sich dies wieder anhand der spezifischen Verfugung der semantischen Felder und ihrer Bildevokationen wie der Bild-Form-Verfugung und dies insbesondere auf der syntagmatischen Ebene des Liedes. Dass sich die Abfolge der semantischen Felder venster, wolgetâne frouwe, liuhten, sunne, morgen, ja selbst noch die krône, aufgefasst als Strahlenkranz,⁵¹ als konse-

50 Christoph Huber: Ekphrasis-Aspekte im Minnesang. Zur Poetik der Visualisierung bei Heinrich von Morungen mit Blick auf die Carmina Burana und Walther von der Vogelweide. In: Der Tod der Nachtigall. Liebe als Selbstreflexivität von Kunst. Hrsg. von Martin Baisch/Beatrice Trînca, Göttingen 2009 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 6), S. 83–104. 51 Tervooren (Anm. 49), S. 156.

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quente Steigerung bis zum fast Hyperbolischen fassen lässt, ist deutlich. Fast gleichzeitig damit setzt jedoch bereits in der ersten Strophe die Gegenbildlichkeit an, die das Leid des Sprecher-Ich aufruft. So heißt es zunächst im Abgesang der ersten Strophe in vergleichend-zeitlicher Rückschau: Damals, als die Dame noch nicht epiphanisch in Erscheinung getreten war, habe das Ich sich sorgen müssen (I,9–11). In der zweiten Strophe verursacht das Entschwinden der Dame nun dezidiert leide (II,9) und eben die Zerrissenheit zwischen Liebe und Leid generiert dann konsequent den (topischen) Gedanken an den Tod, verbildlicht im Grab, das der letzte Vers der zweiten Strophe bereits semantisch aufruft und damit zur dritten Strophe überleitet, in der nunmehr das Bild des Grabsteins in den Fokus tritt (III,2–11). Die beiden Bildfelder – die Sichtbarkeit der Dame und ihr Entschwinden, Freude und Leid – werden somit von Anfang an, wenn auch mit unterschiedlicher Dominanz, aufgerufen und jeweils zueinander in direkten Bezug gesetzt. Sie fungieren als zwei untrennbare Themen, wobei jedoch zunächst dem ersten, dann dem zweiten Thema der Rang der ersten Stimme zukommt  – in einem modulierenden Übergang. Dass sich der Wechsel der ersten Stimme sogar da capo fortsetzen könnte, bleibt am Schluss angedeutet. Denn die Materialität des Grabsteins scheint sich zu ‚lichten‘ durch den performativen Akt des Schreibens selbst (Wan sol schrîben kleine / reht ûf dem steine, III,1  f.), der die memoria der minne in ihrer Intensität zum Inhalt hat – wie liep sî mir waere (III,4) – und eben damit in den positiven Emotionsraum des Liedanfangs zurückführt. Dieses fortlaufende Generieren des einen Themas aus dem anderen im syntagmatischen Liedverlauf wird zusätzlich unterstützt durch Reim und Rhythmus. So korrespondiert der Reim des letzten Verses jeder Strophe mit den jeweils letzten Versen der beiden Stollen – eine Reprise, die die Verflochtenheit des Differenten auf Klangebene widerspiegelt. Vor allem aber sorgen die daktylischen Einlagen  – mit Tervooren Vers 1, 2, 4, 5, 9, 10 (S. 156) – für jene suggestive Dynamisierung, die die Versfugen immer wieder von neuem überspielt und somit selbst als jene energeia erscheint, die das eine Bild aus dem anderen hervortreibt: der Ton als Generator der Bilder. Dazu passt, dass am Ende die Visualisierung, die Bildlichkeit sich in der Bewegung des Schreibens verflüchtigt, das (einst) Geschriebene jedoch als Grundlage des gerade gesungenen Liedes imaginiert werden kann. Das Schauen übersetzt sich in Singen, in Hören, in Ton – und umgekehrt, ein poetisches Verfahren der Emergenz, auf das insbesondere Hartmut Bleumer⁵² hingewiesen hat. Es ist somit jenes Fluidum der weichen, modulierenden Übergänge, das dem Lied  – ausgehend von dem heterogenen Material  – jenen Firnis verleiht, der nicht mehr entscheiden lässt, ob der produzierte Glanz ein Glanz der Materie oder des Unverfügbaren, des schönen Scheins oder des transzendenten Erscheinens ist. Genau auf diese Schneide des Glanzes hin ist die stilistische Gestaltung ausgerichtet auf

52 Hartmut Bleumer: Das Echo des Bildes. Narration und poetische Emergenz bei Heinrich von Morungen. In: ZfdPh 129 (2010), S. 321–345.

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der Basis eines Verfahrens, das zwar von äußerst heterogenen semantischen Feldern und ihren Bildevokationen ausgeht, nicht jedoch die disproportio unterschiedlicher Bildqualitäten aufweist. Hergestellt wird denn auch durch Parallelisierung und modulierende Übergänge im syntagmatischen Verlauf des Liedes eine kaum auseinander zu dividierende Affinität zwischen den unterschiedlichen Bildbereichen. Zur Dynamisierung und zum ständigen Überspielen der Versfuge werden  – hieran anschließend – auch der Rhythmus (mit vielfach synaphischer Fugung) und der Reim eingesetzt. Was entsteht, ist ein Stil, der die Spuren des Gefügtseins brillant überspielt, ein Stil der vuoge, die die vuoge tilgt.

Stil als ,Kunst der vuoge‘ Was leistet eine Stildefinition, so ist abschließend zu fragen, die Stil als jeweilige ‚Kunst der vuoge‘ versteht? 1. Deutlich wird, dass Stilbeschreibungen, bezogen auf die mittelalterlichen Texte (und wohl nicht nur auf diese), nicht nur die Häufigkeit oder die Art und Weise der Verwendung eines einzelnen Darstellungselementes, etwa der Evokation von Bildern, oder auch mehrerer Darstellungselemente zu verfolgen haben, sondern letztlich immer erst in der Analyse der Relation der dominanten Elemente untereinander, ihrer jeweiligen Verfugung im Textkontext, Prägnanz gewinnen. Die einzelnen Stilmittel des rhetorischen Repertoires, tropi, figurae, genera elocutionis etc., sind damit nicht Ziel der Stilanalyse, wohl aber notwendige Analyseinstrumente als Vorstufe der Relationsbeschreibungen. Stil, verstanden als ‚Kunst der vuoge‘, betont diesen relationalen Gesichtspunkt. 2. Der relationale Gesichtspunkt korreliert mit der Auffassung von ars als (primär handwerklich) Gemachtem, als Hergestelltem, als artificium, das in der Regel als compositum gedacht ist. Insofern kann der relationale Aspekt des Stils besonders gut vom Paradigma mittelalterlicher ars her entwickelt werden. Der intratextuellen Relationalität des Stils sollte auf jeden Fall von hier aus ein größeres Gewicht in den einschlägigen Handbüchern zukommen. 3. Indem Stil als jeweilige ‚Kunst der vuoge‘ verstanden wird, ist ein handwerklich-technischer Begriff anvisiert, kein ästhetischer Wertbegriff. Diese offen-neutrale Perspektive, die nicht die Wertung ‚schön‘, sondern zunächst den rein mechanischen Vorgang der jeweiligen Verfugung ins Zentrum des Interesses rückt, scheint besonders ertragreich. Stilistisch gelungen ist dann nicht, was harmonisch-reibungslos, sondern was ‚richtig‘, ‚adäquat‘, ‚angemessen‘ in seinen Darstellungselementen verfugt ist. Die ‚Kostbarkeit der Ausführung‘, die ebenso das Material wie die Sorgfalt der Verarbeitung meint, zielt auf diese Angemessenheit. Ästhetische Kategorien wie ‚Schönheit‘ lassen sich daran anschließen, sind jedoch nicht als Selbstzweck, sondern nur als mögliche Folge der ‚Kostbarkeit der Ausführung‘ zu verstehen.

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4. Die Angemessenheit erfüllt sich – über die intratextuellen Relationen hinaus – auch in der funktionalen Relation zu ihrem Gegenstand und knüpft hierin – ein weiterer Vorteil  – an die rhetorische Forderung des aptum an. Ästhetisch gelungene Darstellung und pragmatische Funktionalität stehen somit nicht, wie es der Stildiskurs des 18. Jahrhunderts nahelegt, im Widerspruch. Die Angemessenheit zum Gegenstand kann dabei auf unterschiedlichen Wegen erreicht werden: Sie kann sich im Anspruch der claritas erfüllen, ebenso jedoch auch im Anspruch der variatio, der harten Fügung, der bickelworte. So lässt sich annehmen, dass die stilistische vuoge der Strophe des Kürenbergers sowie des Liedes von Morungen eben deshalb deutlich unterschiedlich ausfällt, weil beide Zeugnisse zu unterschiedlichen Zeiten adäquat im Sinn des aptum zu sein hatten: Die disparaten und enigmatischen Bildqualitäten in der Strophe des Kürenbergers sind möglicherweise als Zeitspuren des Frühen Minnesangs und seines experimentellen Anfangs zu lesen. Sie bezeugen, dass der Kürenberger sich aus einem außerordentlich heterogenen Angebot von Tanzlied, Spruch oder französischer Trobadorlyrik eine Sprache und damit ein ‚Was‘ der Minne erst experimentierend und d.  h. keineswegs einheitlich zusammenstellen muss. Umgekehrt bringt Morungens stilistisches Verfahren vor dem Hintergrund einer bereits versierten und etablierten Lyrikkultur das ‚Zugleich‘ von epiphanischem Glanz und Abgründigkeit der Minne mit einer Intensität zur Sprache, der sich nicht zu entziehen ist und die sich zugleich jeder Institutionalisierung entzieht. 5. Schließlich stellt Stil als ‚Kunst der vuoge‘ durch den Aspekt der sinnlichen Affizienz als Folge der rechten proportiones (so Thomas) auch eine ‚Verfugungsmöglichkeit‘ mit dem Rezipienten her, d.  h. den affektiven Seiten des Stils wird mit diesem Ansatz durchaus Rechnung getragen. Dabei ist entscheidend zu sehen, dass die tektonischen Bauelemente an der ‚Oberfläche der Texte‘ wie Reimordnung, Verszäsuren, Enjambement oder syntaktische Strukturen zugleich körperlich erfahrbare Klangund Rhythmuseffekte darstellen. Die Fugen des Kürenbergers sind rhythmisch wie akustisch ‚spürbar‘ und bestimmen das affektive Tableau der Strophe deutlich mit. Die Reimordnungen bei Morungen ergeben zusammen mit dem Netz von Assonanzen und Alliterationen, den rhythmischen Valeurs sowie den colores der Bilder einen synästhetischen Bild-Klang-Körper, der den Rezipienten affizieren, d.  h. affektiv ergreifen soll. Nichts könnte deutlicher machen, dass die Trennung von Oberflächentextur, inhaltlichem Arrangement und affektiver Funktion nicht wirklich für poetische, insbesondere lyrische Texte trägt. Stil als ‚Kunst der vuoge‘ geht von dieser Differenz gerade nicht aus und bietet deshalb möglicherweise auch direktere Anschlussstellen an mediale und materiale Aspekte einer Stilbeschreibung. 6. Sollte man also bei der Strophe des Kürenbergers von enigmatischem Stil, bei Morungens Lied von modulierendem Stil sprechen? Dies erschiene handbuchtauglich, greift jedoch, wie die Analysen zeigen, zu kurz. Denn erst das Nachzeichnen der komplexen Verfugung von Bild und Bild, von Bild und formaler Struktur konnte den Stil in seinen jeweiligen intratextuellen Nuancen, seinem aptum sowie seiner Wirkung für den Rezipienten deutlich machen. Ein etikettierender Begriff kann die

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Analysen im Detail nicht ersetzen. Zugleich folgen diese den heuristischen Vorgaben einer Interpretation. Zu beschreiben, was der Stil eines Liedes ist, heißt also zu beschreiben, was das Lied ist. „Das ‚Stilfaktum‘ ist der Diskurs selbst“ – so resümiert Genette seine Überlegungen in „Stil und Bedeutung“.⁵³ In der Konsequenz: Ist die Beschreibung dessen, was das Lied ist, also grundsätzlich eine ‚Stilbeschreibung‘? Und schon ist jenes Unbehagen wieder da, mit dem ich meine Ausführungen begonnen habe. Es ist wie mit der Tristanschen Leimrute: Je mehr man versuchen mag, dem Stilbegriff vom historischen Kontext her eine präzise Kontur zu geben, umso mehr wird deutlich, dass er – sobald er aus dem Erklärungszusammenhang entlassen wird – wieder in seinen Status des ,Ungefähren‘ oder historisch Nicht-Adäquaten zurückfällt. Angesichts dieser hartnäckigen Problematik erscheint es dann aber heuristisch angebracht zu erwägen, den Begriff des ‚Stils‘ ganz aufzugeben und stattdessen – zumindest in Bezug auf mittelalterliche Texte – historisch präziser von der ‚Kunst der vuoge‘ zu sprechen.

53 Gérard Genette: Stil und Bedeutung. In: ders.: Fiktion und Diktion, München 1992, S. 95–151, hier S. 151.

Susanne Bürkle

Der Meister-Diskurs in der volkssprachlichen Literatur um 1200 Handwerkliche Kompetenz und artistische Valorisierung Swer siner kunst meister ist der hat gewalt an siner list. (Herbort von Fritslâr, Liet von Troye, V. 1  f.)¹

Vor vielen Jahren hat Hugo Kuhn mit der instruktiven Begriffsprägung des ‚artistischen Meistertums‘² auf ein bedeutsames Phänomen der literarischen Kommunikation im Bereich der höfischen Kultur aufmerksam gemacht und hat es in den verschiedensten Zusammenhängen punktuell angesprochen und umkreist, ohne es in letzter Konsequenz zu profilieren. Einerseits konstatierte Kuhn bei seiner überlieferungsgeschichtlichen Untersuchung der Manesseschen Liederhandschrift um 1230 als Folge eines medienhistorischen Umbruchs von der ‚Aufführung‘ zur ‚Schriftlichkeit‘ für die „deutsch-literarische Gebrauchskunst der Laien“ (Epik, Spruchsang, Minnelied), die bis dahin „noch ganz […] für die Aufführung“ gelebt und „ein irdisches Heil für das irdische Laienleben“ diskutiert habe, ein neues „Kunstbewusstsein mit neuer soziologischer Funktion: des Meistertums.[…] [G]anze Künstler-Generationen“ hätten sich von da an als Nachfolger, als „‚Nach-meister‘“ der „Meister-Künstler Gottfried von Straßburg, Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide“ empfunden und „statuierten eben damit erst ihre Vorbilder zu Autoritäten, zu Klassikern, zu ‚Meistern‘“.³ Andererseits wandte er sich mit der Betonung artistischer Meisterschaft in seinem programmatischen, jedoch äußerst verdichteten Aufsatz „Determinanten der Minne“ gegen die damals virulenten anachronistischen Verabsolutierungen sozialgeschichtlicher Deutungen, die die höfische Literatur insgesamt als „naturalistische Abbildung“ begriffen oder an ihren Autoren eine „sozialpsychologische Mechanik“ festgemacht

1 Herbort von Fritslâr: Liet von Troye. Hrsg. von Georg Carl Frommann, Quedlinburg, Leipzig 1837 (Bibl. d. ges. dt. Nat.-Lit. 5). 2 Hugo Kuhn: Determinanten der Minne. In: LiLi 26 (1977), S. 83–95, hier S. 86. Zum Meistertum schon ders.: Minnesangs Wende, 2. Aufl., Tübingen 1967 (Hermaea, N. F. 1), S. 145. Ders.: Entwürfe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters, Tübingen 1980, S. 16; S. 41; S. 48  f. 3 Hugo Kuhn: Die Voraussetzungen für die Entstehung der Manesseschen Handschrift und ihre überlieferungsgeschichtliche Bedeutung (1980). Wieder in: Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung. Hrsg. von Hans Fromm, 2 Bde, Darmstadt 1961 und 1985 (Wege der Forschung 15; 608), Bd. 2 (1985), S. 35–76, hier S. 63.

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hätten.⁴ Da weder die Texte die Herrschaftsstrukturen der adligen Oberschicht als Realität reproduzierten noch die Autoren ständespezifisch eindeutig zugeordnet werden könnten, vielmehr Texte wie Lebenswelt das Beherrschen von „den artes liberales der lateinischen Kirche“ analogen, man könnte sagen, höfischen ‚Künsten‘⁵ einforderten, wie „ein Heer führen, […] Recht sprechen, aber auch Fechten, Reiten, Jagen, Fischen, Tischzucht […], Tanzen, Singen, literarische Unterhaltung“, sei die geburtsständische Struktur von Herrschaft und Dienstbarkeit „überdeckt durch […] die freie Konkurrenz der ‚artistischen‘ Kompetenz, eine Interaktion von Meisterschaft und Schülerschaft“.⁶ Im Blick auf die ‚schönen Künste‘ behielten diese, wie die höfische Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts, zwar „im aristokratischen Gebrauch den systemerhaltenden Luxus-Charakter“ bis weit in die Neuzeit hinein und stabilisierten als „Luxus-Kunst“ die Herrschaftsstrukturen des Adels, doch auch hier, wie schon bei den ‚höfischen artes‘, setze „die freie Konkurrenz im ‚artistischen‘ Meistertum eine wenn auch vage Autonomie der ‚Kunst‘ frei“.⁷ Produzent solcher Kunst könne „jeder sein, der die ‚artistische‘ Kompetenz für aristokratische Privilegien besitzt […], d.  h. ihre Techniken, in der Kunst also bildnerische, musikalische, literarische Techniken, praktisch beherrscht“.⁸ Meisterschaft impliziert demnach hier zunächst einmal Könnerschaft und ist, auch wenn Kuhn gelegentlich zwischen adligen Laien- und Berufsmeistern, ja sogar bürgerlichem Meistertum⁹ differenziert, gerade nicht sozial fixiert. Das Können zählt, nicht etwa Geburt oder Herkunft, und dies verbindet oder trennt die Meister der jeweiligen ars und könnte als Ferment einer Art Gruppenidentität jenseits der eingespielten Ordnungen gedeutet werden. Dass Meisterschaft keineswegs exklusiv für die Dichtkunst reserviert, sondern in den verschiedenen, historisch variierenden artes-Reihen verankert ist, die Kuhn quasi um die Reihe genuin höfischer artes erweitert, bringt die Wendung ‚artistische Meisterschaft‘ prägnant auf den Begriff. Er bezeichnet, so könnte man sagen, die noch systemische Ungeschiedenheit bei gleichzeitiger Ausdifferenzierung der Ordnungen des Wissens, der artes und der später, in der Neuzeit, als ‚schön‘ bezeichneten Künste. Kuhns Überlegungen zur artistischen Meisterschaft sind eingespannt und gewissermaßen ein Baustein seiner forschungsgeschichtlich so

4 Kuhn, Determinanten (Anm. 2), S. 84. Die kritisierte „sozialpsychologische Mechanik“ bezieht sich wohl auf die These einer aufstiegsambitionierten Ministerialität, die in der damaligen sozialgeschichtlichen Forschung intensiv diskutiert wurde. 5 Vgl. dazu auch Margreth Egidi: Implikationen von Literatur und Kunst in Flore und Blanscheflur. In: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Hrsg. von Beate Kellner/Peter Strohschneider/Franziska Wenzel, Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 190), S. 163–186, hier S. 164. 6 Kuhn, Determinanten (Anm. 2), S. 85. 7 Kuhn, Determinanten (Anm. 2), S. 86. 8 Kuhn, Determinanten (Anm. 2), S. 87. 9 Kuhn, Determinanten (Anm. 2), S. 88; ders., Entwürfe (Anm. 2), S. 16; ders., Minnesangs Wende (Anm. 2), S. 145.

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wirkungsmächtigen Theoreme zur höfischen Literatur und ihrer Funktion für die sich etablierende höfisch-laikale Kultur und Emanzipation der Laien aus der Deutungshoheit der Kirche. Mit der Ablösung der höfischen Dichtung aus ihrer unmittelbaren Gebrauchssituation und den praktischen Lebensvollzügen und mit der allmählich sich stabilisierenden Interaktion von Meisterschaft und Schülerschaft scheint sich für Kuhn ‚Literatur‘ in Richtung auf einen emphatischen Begriff von ‚Kunst‘ zu wandeln. Ihr kulturhistorischer Status hätte sich damit entscheidend verändert: Von der ‚Literatur vor der Literatur‘,¹⁰ so könnte man es mit einem Schlagwort der gegenwärtigen Diskussion reformulieren, würde sie allmählich zum sozialen System und zum ästhetischen Artefakt umfunktioniert. Diese sich anbahnende funktionale und strukturelle Differenz¹¹ zwischen einer höfischen Literatur und den praktischen Vollzügen von Herrschaft und Dienst wird nicht zuletzt auch durch eine sich verselbstständigende und Kontinuitäten stiftende Meisterschaft kompetenter und konkurrierender Experten der Wortkunst begründet. Hugo Kuhn hat, so meine ich, mit artistischer Meisterschaft auf eine zentrale kulturelle Formation für die Dichtkunst und die artes des Mittelalters aufmerksam gemacht, und seine Ausführungen können als Versuch gelesen werden, Ansätze eines Institutionalisierungsprozesses der profanen Literatur der Vormoderne zu beschreiben und über die Kategorie der Meisterschaft zu erfassen, die dann als ein bedeutsamer Aspekt der Kommunikation in oder über Literatur und ihrer Urheber zu verstehen wäre. Derart kommentiert auch Rainer Warning: „Man kann also Kuhns Hinweis auf das Interaktionsverhältnis von Meisterschaft und Schülerschaft im Minnesang als die historische Applikation und Konkretion einer Fundamentalkategorie fassen, über die sich Kunst generell als soziale Institution ausdifferenziert.“¹² Freilich wird man Kuhns weitreichende und vielschichtige Überlegungen zuallererst am Material verifizieren, aber auch kritisch hinterfragen müssen. Das betrifft nicht nur die großen, allerdings von ihm nur angedeuteten Thesen zu ‚Autonomie‘ und ‚Kunst‘, sondern weit bescheidener seine literarhistorischen Prämissen. Problematisch erscheinen mir sowohl die zu strikte Dichotomisierung volkssprachlich

10 Vgl. dazu Ursula Peters Forschungsüberblick (‚Texte vor der Literatur‘? Zur Problematik neuerer Alteritätsparadigmen der Mittelalter-Philologie. In: Poetica 39 [2007], S. 59–88, besonders S. 77  f.), der auch die Wirkungsmächtigkeit der Thesen Hugo Kuhns zeigt. 11 Vgl. Egidi (Anm. 5), S. 164–167. Auch Egidi bezieht sich auf Kuhn und versteht Meisterschaft als „das Differenzkriterium der Institutionalisierung des Höfischen“ und zugleich der höfischen Literatur, da Kuhn „die Relation zwischen höfischer Literatur und dem Höfischen“ (S. 165) in der Schwebe lasse. Legitimation erfahre Meisterschaft, so Egidi (S. 166), im Anschluss an Kuhn, Determinanten (Anm. 2), S. 89, über die höfische Liebe und das höfische Fest. 12 Rainer Warning: Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hrsg. von Christoph Cormeau, Stuttgart 1979, S. 120–159, hier S. 129; vgl. auch Beate Kellner/Franziska Wenzel: Einleitung. In: Geltung der Literatur (Anm. 5), S. VII-XX; zur Institutionalität vgl. auch Peters (Anm. 10), S. 78–82.

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laikaler versus lateinisch klerikaler Kultur, die, und zwar nicht allein im Blick auf Meisterschaft, die Abtrennung eines relativ engen Bereichs weltlicher Dichtung¹³ aus der mittelalterlichen Textpraxis und literarischen Kommunikation bedeutet, als auch die kultur- und literarhistorischen Implikationen des Kuhnschen Konzepts. Artistische Meisterschaft ist bereits Signum der höfischen Kultur und Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts, sie markiert jedoch darüber hinaus literarhistorisch auch eine Art ‚Epochenschwelle‘, die am Übergang von der Aufführung zur Schrift, aber auch an der allmählichen Herauslösung der laikalen Literatur aus der lateinischen Schriftund Überlieferungskultur festgemacht wird.¹⁴ Artistische Meisterschaft mutiert zur Meisterschaft der sog. ‚neuen kunstmeisterlichen‘ Literaten.¹⁵ Als solche setzt Kuhn sie erst eigentlich in der Mitte des 13. Jahrhunderts an und situiert sie vornehmlich auf der laikalen Seite und vernachlässigt derart, zumindest in seinen mir bekannten, verstreuten Äußerungen, eine ganze Reihe von Texten geistlicher oder aber ‚gelehrter‘ Provenienz, die elaboriert am Meisterschaftsdiskurs partizipieren.¹⁶ Der Begriff und Status von Meisterschaft, aber auch der Gegenstand seiner Überlegungen bleiben mithin vage: Ist es eine generalisierend eingesetzte und einsetzbare Metapher für Exklusivität und Können, eine spezifische Reihe an Texten oder das Lexem Meister in der höfischen Literatur, woraus Kuhn die artistische Meisterschaft der Literaten ableitet? Changierend zwischen verschiedenen Ebenen begreift er sie nämlich einerseits im Sinne einer besonderen Formkunst, als „artistische Brillanz“ verstanden als „‚Technik‘“¹⁷, oder als „stilistische[s] Experimentieren“, also als Stilkategorie zu

13 Vgl. dazu Peters (Anm. 10), S. 77. 14 Kuhn, Determinanten (Anm. 2), S. 87  f., unterscheidet zwischen den „Produzenten der höfischen Erzählkunst“ und den „Minnesängern“ und setzt für Autoren wie Hartmann und Gottfried ‚noch‘ die Integration in die Institutionen der lateinischen Schriftkultur voraus und deshalb den lateinisch orientierten, „schriftliterarischen Berufs-Meister“ (magister) – auch im Gegensatz zu Wolfram, dem „Laien-‚Meister‘“. 15 Kuhn (Anm. 3), S. 64. 16 Vgl. etwa die Meisterbelege in Kontexten der ‚literarischen Praxis‘: Konrad von Fussesbrunnen: Die Kindheit Jesu. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Hans Fromm/Klaus Grubmüller, Berlin, New York 1973, V. 98: meister Heinrîch; Konrad von Heimesfurt: Diu urstende. In: ders.: Unser vrouwen hinvart und Diu urstende. Mit Verwendung der Vorarbeiten von Werner Fechter hrsg. von Kurt Gärtner/Werner J. Hoffmann, Tübingen 1989 (ATB 99), V. 29  f.: sîne chunst lâzen sehen / und deheiner meisterschefte jehen; Ebernand von Erfurt: Heinrich und Kunegunde. Zum ersten Male nach der einzigen Handschrift hrsg. von Reinhold Bechstein, Quedlinburg u.  a. 1860, Nachdruck Amsterdam 1968, V.  4493: ir meister tihtêre. Hugo von Langenstein: Martina. Hrsg. von Adelbert von Keller, Stuttgart 1856 (StLV 36), V. 290,13: Und bitte die meister gar / Die getihtes nement war; vgl. auch die in der Forschung umstrittene Meistertitulatur im Prolog der A-Fassung des Lucidarius: Der deutsche Lucidarius. Hrsg. von Dagmar Gottschall/Georg Steer, 4 Bde, Tübingen 1994–2011 (Texte und Textgeschichte 35–38), Bd. 1: Kritischer Text nach den Handschriften, S. 104*  V. 1. 17 Kuhn, Determinanten (Anm. 2), S. 86.

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Zeiten von „Minnesangs Wende“,¹⁸ andererseits als ‚soziologische‘ und insofern auch als soziale Praxis. Dagegen ist einzuwenden, dass Meisterschaft zunächst einmal als eine diskursive Formation der mittelalterlichen Texte und nur als solche zu betrachten ist. Dieser textimmanente Meisterschaftsdiskurs dürfte auch Hugo Kuhn zu seinen Meisterschaftsüberlegungen inspiriert haben, insbesondere die spätmittelalterliche Lyrik und Spruchdichtung,¹⁹ auch wenn er auf frühe Meistertitulaturen etwa bei Hartmann von Aue, Gottfried von Straßburg oder Wolfram von Eschenbach gelegentlich hinweist.²⁰ Literarhistorisch, forschungsgeschichtlich und gattungsspezifisch ist es in erster Linie die spätere Spruchdichtung, die mit dem Begriff des meisters und der meisterschaft assoziiert wird und die, so Karl Stackmann, auf dem Wege zur meisterlichen kunst sei. Bereits Stackmann wollte dann auch bei seiner summarischen Sichtung der Meisterbelege spruchdichterischer Texte in der „Übernahme des Wortes meister“ geradezu das erkennen, was unhistorisch heute als Spruchdichter, also als Verfasser spruchhafter Strophen, bezeichnet werde, warnte jedoch zugleich vor der vereindeutigenden, letztlich abwertenden Gleichsetzung von Meisterschaft mit den „meistersingerische[n] Schulgesetze[n]“, im Sinne einer „pedantischen Befolgung mechanisch anwendbarer Dichtregeln“.²¹ Im Gebrauch des „Fachwortes“ ,Meister‘ zeige sich allerdings eine historische Verschiebung: Meisterschaft komme erst im Laufe des 13. Jahrhunderts, nach Walther, in den Blick, bedeute zunächst ausschließlich – und das hat vor kurzem noch einmal Klaus Grubmüller betont – die legitimatorische Partizipation an der Autorität „der anderen“ und werde erst im Laufe des 14. Jahrhunderts zu einem Begriff der „Selbstermächtigung des Dichters“.²² Die Kuhnsche Schwelle zur Meisterschaft scheint sich im Kontext der Spruchdichtung zu bestätigen.

18 Kuhn, Minnesangs Wende (Anm. 2), S. 145: In Bezug auf den „Formalismus“ von Hohenfels, Neifen, Winterstetten meine Meistertum „[d]ieses stilistische Experimentieren“, was „‚Kunst‘ in neuem Sinn“ bedeute, „ein gelehrtes, bewußt systematisiertes formales Können“. Das habe nichts zu tun mit bürgerlichem Meistertum, „wie z.  T. die Spruchdichtung; zeigt auch nichts von Puy, dem auf Regeln gestellten, nach Regeln bewerteten innungshaften Kunstbetrieb, den in Deutschland die ‚Fehden‘ der Spruchdichter und der Wartburgkrieg wenigstens literarisch bezeugen“. 19 Kuhn, Entwürfe (Anm. 2), S. 48: Die Spruchdichtung nach Walther werde zum „Hauptfeld“ des „neuen inhaltlichen Meistertums“. Bei der „Entwicklung des Spruch-Meistertums“ zeigten sich „die Herkünfte des ‚Wissens‘ und ‚Könnens‘ als seiner neuen inhaltlichen Grundlage, damit zusammenhängend des neuen Stils“. 20 Siehe oben, Anm. 14. 21 Karl Stackmann: Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln. Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualität, Heidelberg 1958 (Probleme der Dichtung 3), S. 94–98, Zitate S. 96  f.; schon Stackmann bezieht sich auf Julius Schwietering: Die Demutsformel mittelhochdeutscher Dichter, Berlin 1921. Wieder in: ders.: Philologische Schriften. Hrsg. von Friedrich Ohly/Max Wehrli, München 1969, S. 140–215, hier S. 183–199. 22 Klaus Grubmüller: Autorität und meisterschaft. Zur Fundierung geistlicher Rede in der deutschen Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittel-

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Es ist deshalb kaum erstaunlich, dass etliche Studien, die in jüngster Zeit Meisterschaft in den Mittelpunkt rückten oder mit Meisterschaft argumentierten, sich auf die Lyrik oder die Spruchdichtung des Spätmittelalters konzentrieren. In der Applikation der Meisterterminologie als Analyseinstrument zeichnet sich freilich auch hier, wie schon bei Kuhn, eine gewisse Unschärfe, Verselbstständigung oder Ausweitung ab. Unabhängig vom faktischen Gebrauch des Wortes meister in den Texten oder nur noch in Anlehnung daran wird literarische Meisterschaft in aller Regel generalisierend für Kunstfertigkeit, metaphorisch für formal-rhetorische Versiertheit eingesetzt oder steht für ein spezifisch poetisches oder stilistisches Konzept.²³ Wenn inzwischen Meisterschaft zum ‚Schlüsselbegriff‘ für die Literatur des Spätmittelalters avanciert, so gilt das nicht nur für Minnesang und Spruchdichtung, sondern evidentermaßen auch für die Epik, in der, wie etwa in den ambitionierten Prologen Konrads von Würzburg oder Rudolfs von Ems,²⁴ metapoetisch die eigene Dichtkunst in Relation zu anderen artes oder meistern reflektiert und verhandelt wird. Und wenn also über Meisterschaft „die Dichter ihr Selbstverständnis bestimmen“,²⁵ stellt sich im Blick auf die vorausgegangenen Perioden der volkssprachlichen Texte die Frage, in welcher kulturellen Formation der sich im 13. Jahrhundert zunehmend ausdifferenzierende Meisterschaftsdiskurs verankert ist und seinen Anfang genommen hat und welche Konzepte und Geltungsansprüche in der frühen Textpraxis, v.  a. der höfischen Epik, sich mit dem Lexem Meister verbinden. Methodisch sollte dabei vom konkreten literarischen Verwendungszusammenhang der Meisterbelege ausgegangen werden, um so strikt den Logiken und Semantiken der Selbstbeschreibungen der literarischen Texte zu folgen.

alter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006. Hrsg. von Peter Strohschneider, Berlin, New York 2009 (Germanistisches Symposion 27), S. 689–711, hier S. 710  f. 23 Vgl. etwa: Franziska Wenzel: Meisterschaft und Transgression. Studie zur Spruchdichtung am Beispiel des Langen Tons der Frauenlob-Überlieferung. In: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Manuel Braun/Christopher Young, Berlin, New York 2007 (Trends in Medieval Philology 12), S. 309–334; Beate Kellner/Peter Strohschneider: Poetik des Krieges. Eine Skizze zum Wartburgkrieg-Komplex. In: Das fremde Schöne, S. 335–356. 24 Vgl. die Prologe: Konrad von Würzburg: Der trojanische Krieg. Nach den Vorarbeiten Karl Frommanns und Friedrich Roths zum ersten Mal hrsg. durch Adelbert von Keller, Stuttgart 1858 (StLV 44), V. 1–325; ders.: Partonopier und Meliur. Aus dem Nachlasse von Franz Pfeiffer hrsg. von Karl Bartsch, Wien 1871, Nachdruck Berlin 1970, V. 1–232; Rudolf von Ems: Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts. Zum ersten Male hrsg. von Victor Junk. 2 Bde. Unveränd. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1928/29, Darmstadt 1970 (StLV 272; 274), V. 3063–3298; ders.: Willehalm von Orlens. Hrsg. aus dem Wasserburger Codex der fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen von Victor Junk, Berlin 1905 (DTM 2), V. 2143–2334. 25 Beate Kellner: Meisterschaft. Konrad von Würzburg – Heinrich von Mügeln. In: Interartifizialität. Die Diskussion der Künste in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Susanne Bürkle/Ursula Peters. ZfdPh 128 (2009), Sonderheft, S. 137–162, hier S. 138.

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Zur Semantik der Bezeichnung ‚Meister‘ Die Meisterbelege vor allem der frühen volkssprachlichen Texte haben bislang in der Forschung nur wenig Beachtung gefunden, obgleich man auf einen Terminus trifft, der wie schrift, rede, buoch, hoeren, lesen zu jenen im ‚Wortfeld des Textes‘²⁶ zu gehören scheint, über die die volkssprachliche Literatur ihre Praktiken von Produktion, Rezeption und Distribution thematisiert und reflektiert, vor allem aber Anspruch und Geltung des Literarischen programmatisch einfordert und ausstellt. Wie für jene wurde auch für das Lexem meister, meisterschaft, meisterlich eine „diffuse Semantik“ konstatiert, die, so Kurt Gärtner, eine bloße eins zu eins Übertragung von meister ins Neuhochdeutsche verunmögliche, da die Semantik des Lehnwortes – von lat. magister – zwischen Lehrer, Gelehrtem und Verfasser oszilliere.²⁷ Dementsprechend überging die Forschung häufig stillschweigend die volkssprachlichen Meistertitulaturen, klopfte sie allenfalls je nach der situativen Verortung der Texte sozial-ständisch fest. Beim prominentesten Beispiel, Meister Gottfried von Straßburg, der – ganz im Gegensatz zu Wolfram von Eschenbach – in den metapoetischen Vorläuferberufungen etwa Rudolfs von Ems, Konrads von Würzburg, Konrads von Stoffeln, Heinrichs von Freiberg²⁸ nahezu ausnahmslos als Meister tituliert wird, wollte die ältere Forschung darin den gelehrten Magister oder aufgrund der vermuteten stadtbürgerlichen Herkunft sogar den Handwerksmeister erkennen. Die neuere Forschung betont hingegen, dass das Meister-Attribut „in einen Diskurs über den Rang“ Gottfrieds und über ihn „als Leitfigur“ der höfischen Dichtung platziert sei.²⁹ Die semantische Unschärfe von Meisterschaft oder eigentlich besser ihr offenes Referenzpotential scheint in der Tat ein intrikates Problem zu sein. Doch ist diese vermeintliche ‚Schwäche‘ des Lexems womöglich geradezu seine Stärke.

26 Vgl. Gerd Dicke/Manfred Eikelmann/Burkhard Hasebrink: Historische Semantik der deutschen Schriftkultur. Eine Einleitung. In: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Hrsg. von Gerd Dicke/Manfred Eikelmann/ Burkhard Hasebrink, Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10), S. 1–12, hier S. 3–6. 27 Kurt Gärtner: Zu den mittelhochdeutschen Bezeichnungen für den Verfasser literarischer Werke. In: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995. Hrsg. von Elizabeth Andersen/Jens Haustein/Anne Simon, Tübingen 1998, S. 38–45, hier S. 41. 28 Rudolf von Ems, Alexander: der wîse Gotfrit von Strâzburc (V. 3153  f ), der wîse meister Gotfrit (V. 20621); ders., Willehalm von Orlens: maister Goetfrides kunst (V. 2185); für die anderen Nachfolger verweise ich aus Platzgründen auf die Angaben bei: Dichter über Dichter in mittelhochdeutscher Literatur. Hrsg. von Günther Schweikle, Tübingen 1970 (Deutsche Texte 12): von Strâzburc meister Gotfrit (Konrad von Würzburg, S. 55  f.); meister Gotfrit (Konrad von Stoffeln, S. 59); meister Gotfrit von Strâzburc (Heinrich von Freiberg, S. 67); awe zarter maister clar, / genender Strazburger, / Goͤtfrid ein guͦt tihter (Johann von Würzburg, S. 69). 29 Tomas Tomasek: Gottfried von Straßburg, Stuttgart 2007 (RUB 17665), S. 26  f., auch zu ,Magister‘ und ,Handwerksmeister‘.

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Sichtet man die frühen bereits signifikant häufig vorkommenden³⁰ Meisterbelege und zieht die älteren, freilich noch immer einschlägigen Studien³¹ heran, zeigt sich, angefangen bei den althochdeutschen Texten, eine sukzessive Extension der Meisterbezeichnungen im 12. Jahrhundert: Ist im Althochdeutschen in Anlehnung an die biblische Verwendung die Bezeichnung nahezu ausschließlich für Magister/Lehrer/ Herr/Christus reserviert, erstreckt sie sich in zunehmender Erweiterung im Mittelhochdeutschen und in der höfischen Literatur um 1200 auf alle artes-Reihen. Symptomatisch dafür scheint Gottfrieds Tristan zu sein, in dem das Wort Meister ebenso auf einen Dichter wie auf den Erzieher und Lehrer, den Harfner und Musiker, den Jägermeister, Waffenmeister, Schiffsmeister und auf die Heilkundige appliziert wird. Meisterschaft hat artes-übergreifende Relevanz und Geltung. Der Terminus erweist sich somit als flexibel und anpassungsfähig an die jeweiligen pragmatischen Situationen und kann die verschiedensten, auch sozialen Konnotationen eingehen, grundsätzlich aber, und das ist das Entscheidende‚ bringt er Übertreffen, Überlegensein und damit Autorität zum Ausdruck. Das trifft für den gelehrten Magister ebenso zu wie für die etwa bei Konrad von Würzburg im späten 13. Jahrhundert zitierten Meister anderer artes und Handwerke.³² Ihnen wird Können, Kompetenz und Rang attestiert, mithin eine verbindliche auctoritas zugebilligt, d.  h. eine „absolut höchste Überlegenheit, die jemand in seinem Umfeld erreichen kann […], den obersten Punkt der Hierarchie“,³³ und damit auch ein Qualitätsurteil über ihre Artefakte getroffen. Deshalb sollte man auch in ‚Kunstkontexten‘ Meisterschaft weder einseitig mit Gelehrtheit noch allein mit dem Handwerk und dessen technischen Fertigkeiten verrechnen, sondern mit der

30 Vgl. hierzu die umfangreichen Einträge und Lemmata zum Lexem meister der inzwischen online verfügbaren Wörterbücher BMZ (Bd. II, 113b-119b) und Deutsches Rechtswörterbuch (DRW). 31 Schwietering (Anm. 21) und Siegfried Grosse (Der Gebrauch des Wortes meister in Gottfrieds Tristan. In: Sprache, Literatur, Kultur. Studien zu ihrer Geschichte im deutschen Süden und Westen. Fs. für Wolfgang Kleiber. Hrsg. von Albrecht Greule/Uwe Ruberg, Stuttgart 1989, S. 291–299) haben schon vor langer Zeit an unterschiedlichen Gegenstandsbereichen eine erste Sichtung der Meisterbelege vorgenommen. Grosse konzentrierte sich ausschließlich auf Gottfrieds Tristan und durchforstete den Text auf alle Meisterbezeichnungen hin, Schwietering hingegen bot im Zusammenhang seiner Untersuchung zur Demutstopik mittelalterlicher Texte eine Zusammenschau und Auswertung für die höfische Literatur. Diese Studien sind noch immer einschlägig und äußerst informativ für die Auseinandersetzung mit Meisterschaft. Vgl. dazu auch Bruno Boesch: Die Kunstanschauung in der mittelhochdeutschen Dichtung von der Blütezeit bis zum Meistergesang, Bern, Leipzig 1936, S. 173–205; Susanne Bürkle: ‚Kunst‘-Reflexion aus dem Geiste der descriptio. Enites Pferd und der Diskurs artistischer meisterschaft. In: Interartifizialität (Anm. 25), S. 143–170, hier S. 151–153. 32 Konrad von Würzburg im Prolog zum Trojanerkrieg legitimiert die Dichtkunst der meister […] / die singen oder sprechen wol (V. 6  f.) über ihre göttliche Privilegierung vor den anderen artes, weil sie im Gegensatz zu diesen keine Hilfsmittel zum Ausüben benötige, wan zungen unde sinnes (V. 135). 33 Grosse (Anm. 31), S. 291–294. Er bietet neben den „[f]ünf Hauptbedeutungen“ (S. 292) einen kurzen Überblick von der Entlehnung aus dem lateinischen magister über den Gebrauch im Althochdeutschen bis zum breiten Bedeutungsspektrum im Mittelhochdeutschen (S. 293  f.).

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Fusion beider Momente, wie auch die zeitgenössischen Diskurse dem artifex durchaus göttlich inspirierte sapientia und ars gleichermaßen bescheinigen.³⁴ Ausgehend von diesem der Meisterschaft inhärenten Qualifizierungsdiskurs, mit dem zugleich unterschiedlich semantisierte Normierungs-, aber vor allem auch Abgrenzungsvorgänge und damit in personaler Konkretisierung auch Rangstreit und agonale Strukturen einhergehen, zeichnen sich meiner Ansicht nach zwei Aspekte ab, die bereits für die Meisterdiskussion der volkssprachlichen Texte vor und um 1200 konstitutiv und für das Potential des Wortes und des Konzepts von Meisterschaft distinkt sind. Zum einen der für das Medium des Literarischen zentrale Aspekt: Meisterschaft als Akt der Zuschreibung und Valorisierung, worüber sich Meisterschaft als grundlegender Terminus textueller Praktiken erweist. Zum anderen: Meisterschaft und die artes, d.  h. der interartifizielle Aspekt, bei dem der Diskurs der ‚Künste‘ in der volkssprachlichen Literatur im Vordergrund steht. So gesehen, reiht sich die Dichtkunst oder die ars versificatoria, die in der gelehrten Wissensordnung traditionell Grammatik und Rhetorik der septem artes zugeschlagen wird, also keinen genuinen systematischen Ort hat, seit dem 12. Jahrhundert in das weite Feld der artes ein. Die ‚weiteren‘ artes werden zudem in den variierenden Reihen der artes mechanicae sowie der artes magicae systematisiert,³⁵ womit die Abgleichung ihrer jeweiligen Vermögen und Kriterien provoziert, zuvorderst aber der artes-Charakter der Dichtkunst profiliert und Meisterschaft offenkundig artistisch konnotiert wird.

Meisterschaft und die artes – der interartifizielle Aspekt Der Gottfriedsche Tristan mit seinem Aufgebot an Meistern der artes, die in ihrer Auffächerung das weite Spektrum der artes-Reihen nahezu abdecken und teils wie etwa Musik oder Jagdkunst in praxi vorgeführt werden, ist um 1200 sicherlich singulär und

34 Der Zusammenhang von Meisterschaft und wîsheit ist verschiedentlich gesehen worden: Boesch (Anm. 31), S. 174–205; Burghart Wachinger: Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts, München 1973 (MTU 42), S. 172: „Denn das Wort meister, zunächst nur einen allgemeinen Rang ausdrückend und manchmal fast synonym mit wîse, verfestigt sich semantisch im Lauf des 13. Jahrhunderts so weit, dass es geradezu terminus technicus für den berufsmäßigen Literaten sein kann“; Schwietering (Anm. 21), S. 186, warnte sogar vor der einseitigen Ableitung des Meistertitels aus dem „Gelehrtendünkel des Magister-Scholasticus“; vgl. auch Hans-Jürgen Scheuer: wîsheit. Grabungen in einem Wortfeld zwischen Poesie und Wissen. In: Im Wortfeld des Textes (Anm. 26), S. 83–106, und unten Anm. 52. 35 Im Überblick: Douglas Kelly/Lisa Gondos: Ars versificatoria. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik Bd. 1 (1992), Sp. 1071–1080, hier Sp. 1071; Für die artes in der volkssprachlichen Literatur: Bernhard Dietrich Haage/Wolfgang Wegner: Deutsche Fachliteratur der Artes in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin 2007 (Grundlagen der Germanistik 43); vgl. auch unten Anm. 43.

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stellt in der mhd. Literatur ein Novum dar, so dass Meisterschaft und Artifizialität geradezu als zentrales Thema des Textes betrachtet werden können, das bislang in der Forschung allenfalls unter dem emphatisch aufgeladenen Signum ‚Tristan als Künstler‘ Beachtung fand. Die Präsentation von Künsten im Medium des Literarischen ist jedoch kein Spezifikum des Tristan; spezifisch für diesen Text ist der forcierte Diskurs von Meisterschaft und artes, der in der Figur Tristans kulminiert. Vernachlässigt man einmal die gattungstypologischen Differenzen und die in den literarischen Texten auch durch ihre Stoffe und Vorlagen bedingten imaginierten Welten, die spezifische Themenbereiche favorisieren, zeigt sich im 12. Jahrhundert zunächst eine Präferenz für die im weitesten Sinne ‚bildnerischen Künste‘ mit ihren materialisierten Objekten, die mehr oder weniger ausführlich thematisiert und beschrieben werden: zuvorderst die Kleinkunst, u.  a. mit Textilien oder Goldschmiede-, überhaupt Schmiedekunst, dann Architektur und schließlich Malerei, Bildhauerei.³⁶ Man hat solche im Medium Literatur simulierten ‚Kunstobjekte‘ bereits ausführlich diskutiert, und zwar im Kontext von descriptio und Ekphrasis, von Präsenz- und Visualisierungsstrategien.³⁷ Im Zusammenhang solcher Artefakte trifft man dann auch auf die signifikante Verbindung von ars und Meisterschaft. Diese Koinzidenz unterstreicht den ars-Charakter, fungiert als Auszeichnung und Valorisierung und akzentuiert in personaler Konkretion der Bindung eines Werks an seinen Urheber, einen Meister, den Akt der Kreation oder Herstellung. Eine solche Koinzidenz von Meisterschaft und ‚Bildkunst‘ findet sich bereits in der Kaiserchronik.³⁸ Semantisch bewegt sich der Text mit seiner Fülle an Meisterbelegen bis auf wenige Stellen noch in den Konventionen des Althochdeutschen. In der umcodierenden Relektüre einer seit der Antike vielfach variierten Erzählung ‚vom ehernen Stier‘ des Tyrannen Phalaris und dem Künstler Perillus jedoch, die in der Kaiserchronik dem römischen König Nerva (96–98 n. Chr.) zugeschrieben ist, wird ein listwurchære

36 Hans-Joachim Hock: Die Schilderung von Bildwerken in der deutschsprachigen Epik von 1100– 1250. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte der bildenden Künste im Mittelalter, Diss. masch., Heidelberg 1958, S. 24  f. 37 Vgl. zur Forschung zu Präsenz- und Visualisierungsstrategien Peters (Anm. 10), S. 65  f.; zu descriptio und Ekphrasis im Überblick: Haiko Wandhoff: Ekphrasis: Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters, Berlin, New York 2003 (Trends in Medieval Philology 3); Bürkle (Anm. 31); zum Material u.  a. Hock (Anm. 36). 38 Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. Hrsg. von Edward Schröder, Hannover 1892, Nachdruck Dublin, Zürich 1969 (MGH, Dt. Chroniken I,1), V. 5685–5830. Zu den verschiedenen Versionen dieser Episode vgl. Ernst Friedrich Ohly: Sage und Legende in der Kaiserchronik. Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung, Münster 1940, 2., unveränd. Aufl., Darmstadt 1968 (Forschungen zur deutschen Sprache und Dichtung 10), S. 113–119. Nach Ohly werde in der Kaiserchronik „zum ersten Mal […] eine Szene eingeflochten, welche die Entstehung des Kunstwerkes umständlich schildert“ (S. 116).

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(V. 5686)³⁹ – ein Artifex –, und zwar eines pildes maister (V. 5772), thematisiert, der in einem speziell dafür eingerichteten unmâzen michel gadem (V. 5717) mit werchliute[n] (V. 5728) gemeinsam ein werch (V. 5732), hier ein automatenartiges, gusseisernes Pferd, erschafft. Zwar stehen in der Kaiserchronik die ars und der Artifex unter dem negativen Vorzeichen der crudelitas, weshalb das Werk und des listes meister schlussendlich verbrannt werden; dennoch wird der Herstellungsprozess eines Artefakts in durchaus einschlägiger Terminologie detailliert geschildert und dem in der Kaiserchronik namenlos bleibenden Meister ausdrücklich maisterscaft (V.  5789) im Sinne einer urmære list / [die] noh hiute unrefunden ist (V. 5827  f.), attestiert. Meisterschaft impliziert hier das auch  – arkane  – Herstellungswissen und die praktische Ausführung dieser wunderlîchen list (V. 5688), die allerdings ebenso wie ihr Urheber dem Untergang geweiht ist. Im Zuge der Extension von Meisterbezeichnungen auf weitere und andere artes in den frühen höfischen Epen⁴⁰ kommt Meisterschaft, anders als etwa in der Kaiserchronik, dann auch zunehmend für die Dichtkunst in den Blick und fungiert als verbindendes – interartifizielles – Moment zwischen den Künsten. Heinrichs von Veldeke Eneas⁴¹ kann als eines der frühesten Beispiele dafür gelten. Am Werke sind dort drei namentlich ausgewiesene Meister,⁴² die das ganze Feld der artes besetzen:⁴³ der prominente Schmiedgott Volcân,⁴⁴ der die Rüstung des

39 Vgl. auch Kaiserchronik, V. 5531–5539, zwelf listwurchære, die eine eherne Säule mit der goldenen Inschrift ihrer Namen errichten. 40 Meister der Dichtkunst und Meister anderer artes finden sich etwa, um nur zwei Beispiele zu zitieren, im Straßburger Alexander (Pfaffe Lambrecht: Alexanderroman. Mhd./Nhd. Hrsg., übers. und komm. von Elisabeth Lienert, Stuttgart 1997 [RUB 18508]), V. 33 meister Elberîch; V. 5521; V. 5657 den meisterde Candacis (Artefacte der Königin Candacis); in Hartmanns Erec (Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. von Albert Leitzmann/Ludwig Wolff, 7. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 2006 [ATB 39]), V. 2155  f. dâ was aller künste kraft, / von allen ambeten meisterschaft; die Meister in der descriptio von Enites Pferd V. 7290–7767. Dazu Bürkle (Anm. 31), S. 153–169, und neuerdings Joachim Hamm: Meister Umbrîz. Zur Beschreibungskunst und Selbstreflexion in Hartmanns Erec. In: Vom Verstehen deutscher Texte des Mittelalters aus der europäischen Kultur. Hommage à Elisabeth Schmid. Hrsg. von Dorothea Klein, Würzburg 2011 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 35), S. 192–218. 41 Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mhd./Nhd. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Nhd. übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke. Durchges. und bibliogr. erg. Ausgabe, Stuttgart 1997 (RUB 8303); vgl. auch Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift mit Übersetzung und Kommentar. Hrsg. von Hans Fromm, Frankfurt a. M. 1992 (Bibliothek des Mittelalters 4); und: Le Roman d’Eneas. Übers. und eingel. von Monica SchölerBeinhauer, München 1972 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters 9). 42 Andere Meister in Heinrichs Eneasroman bezeichnen in der Regel Götter, vgl. V. 2986; V. 3599; V. 3788. 43 Ich beziehe mich hier auf das System der artes Hugos von St. Victor, vgl. dazu auch den Überblick von Günther Binding: Der früh- und hochmittelalterliche Bauherr als sapiens architectus, Darmstadt 1996, S. 203–213. 44 Volcân/Vulcans werden zur Unterscheidung des deutschen und französischen Textes eingesetzt. Zu Vulcanus in der mhd. Literatur vgl.: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters. Hrsg. von Manfred Kern/Alfred Ebenbauer, Berlin, New York 2003, S. 672–675.

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Eneas herstellt (V. 5595–5830) und die armatura (Waffenschmiedekunst) der artes mechanicae vertritt, der ‚sapiens architectus‘ Gêometras (V. 9385–9574), der das Grabmal der Königin Camilla verantwortet und gleichermaßen der armatura (Architektur) wie dem Quadrivium zugehört, und schließlich, im Epilog (V. 13429–13528), der für das Trivium zuständige Meister des Buches, Heinrîch, / derz ûzer welschen bûchen las, / da ez von latîne getihtet was […] diu bûch heizent Êneide, / diu Virgiljûs dâ von screib (V. 13506–13511). Zudem finden sich noch zwei Meisterinnen, die beiden ironisch relativierten Göttinnen Pallas und Arachne, die einst im Rangstreit beim Weben der Fahne, die Venus ihrem Sohn überließ, um die meisterschaft (V. 5811) konkurrierten. Den Meisterdiskurs hat in den entsprechenden Passagen, die den artes mechanicae zuzurechnen sind, bereits die altfranzösische Vorläuferversion, der Roman d’Eneas, eingeführt. Der deutsche Text jedoch setzt auch im Blick auf Meisterschaft etwas andere Akzente. Wie in der Vorlage ist zwar auch Volcân zugleich Gott und meister (V. 5603; V. 5797), im französischen Text sogar explizit ein maistre del mestier (V. 4359). Allerdings sind der die descriptio im Roman d’Eneas dynamisierende⁴⁵ Herstellungsprozess von Rüstung, Schwert und Schild in der Schmiedewerkstatt und die Erprobung der Schlagkraft des Schwertes auf dem Amboss bei Veldeke in seiner nun straffer strukturierten und am Detail orientierten Beschreibung nur noch angedeutet. Nicht dass die Werkherrschaft des göttlichen Meisters etwa zurückgedrängt würde, seine Vermögen sind vielmehr geradezu magisch umgelenkt in die einzelnen Teile der Rüstung. Im Roman d’Eneas inskribiert Vulcans sogar auf das Schwert in goldenen Lettern Merkzeichen und seinen Namen, hinterlässt also zugleich magisch seine Kraft qua Graphie und eine Signatur, die die Werkurheberschaft markiert. Dennoch liegt bekanntermaßen das Augenmerk in beiden descriptiones auf der unmittelbaren Präsenz der Gegenstände in ihrer materialen Kostbarkeit und ihrer funktionalen Bedeutung für die Unbezwingbarkeit des Helden.⁴⁶ Das Werk des Volcân, die außergewöhnliche Rüstung, rückt in den Mittelpunkt. Sie hebt sich deutlich von einer gewöhnlichen ab, indem sie funktional wie ‚ästhetisch‘ valorisiert erscheint und insofern auch zum Artefakt aufgewertet wird. Anders hingegen Meister Gêometras: Auch bei dem monumentalen, paganen Grab-Mirabilium der Königin Camilla liegt wie bei Vulcanus der Fokus zunächst auf der in Anlage und Proportionen äußerst genauen descriptio des architektonischen Artefakts.⁴⁷ Gegenüber dem Roman d’Eneas, der mit auszeichnender Funktion an

45 Dazu Wandhoff (Anm. 37), S. 61. 46 Vgl. dazu Elisabeth Lienert: Das Schwert des Vulcanus und die êre des Eneas. Zur Heldenkonzeption bei Heinrich von Veldeke. In: vorschen, denken, wizzen. Vom Wert des Genauen in den ‚ungenauen Wissenschaften‘. Fs. für Uwe Meves. Hrsg. von Cord Meyer/Ralf G. Päsler/Matthias Janssen, Stuttgart 2009, S. 67–76, hier S. 69. 47 Vgl. zum Vergleich mit der Vorlage und der handschriftlichen Überlieferung Gabriela Schieb: Veldekes Grabmalbeschreibungen. In: PBB 87 (1965), S. 201–243, hier S. 215–222. Vgl. auch Corinna Laude: Quelle als Konstrukt. Literatur- und kunsttheoretische Aspekte einiger Quellenberufungen im

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mehreren Stellen die maistrie⁴⁸ als abstrakte Größe postuliert, die Beschreibung aber aus dem Blickwinkel der Herstellung des Bauwerks präsentiert,⁴⁹ personifiziert der deutsche Text Meisterschaft und Fabrikation in der Figur eines Meisters und macht das exorbitante Grabmal zu seinem Werk. Doch hier wird in der Personifikation nicht nur ein Abstraktum belebt, sondern auch das allgemeine Meisterschaftspostulat konkretisiert zur ‚Funktionsbezeichnung‘ des werkes meister (V. 9428),⁵⁰ der in der zeitgenössischen Architekturterminologie genau dem magister operis, dem technischen Leiter einer Baustelle, entspricht⁵¹ und dazu noch mit dem biblisch konnotierbaren und ebenso in diesem Kontext belegten Attribut wîse⁵² versehen ist, so dass in Veldekes Text Funktionsbezeichnung und Auszeichnungsfunktion sich schillernd verbinden. Die deutsche Version geht indes noch ein Stück weiter, indem sie den Meister namentlich identifiziert, von den Entstehungsumständen des noch zu Lebzeiten der Königin initiierten⁵³ Bauwerks berichtet, die Beauftragung und Entlohnung des Meisters sowie den durch sein Artefakt erlangten Ruhm, aber auch seine Selbstgewissheit herausstellt: ob ez lobeten diez gesâgen: / der meister lobetez selbe (V. 9462  f.). Des Meisters Namen – Gêometras – gemäß dem für die Baukunst notwendigen Quadriviumfach der Geometrie bezeichnet nun genau, nomen est omen, jene technischen und rechnerischen Fertigkeiten, welche die descriptio mittels exakter Maß- und Zahlenangaben für die bauliche Konstruktion illustriert. Auf jeden Fall gehört deshalb die bautechnische Ausführung zu den Aufgaben des Meisters. Nicht zuletzt lassen die namentlich eingeschriebene und ihm dazu noch attestierte list von gêometrîen (V. 9409), aber auch die mit dem Wirken (worhte, V. 9429) des Meisters verbundene komplexe Gesamtkonstruktion den Schluss zu, dass neben Ausführung auch Konzept

Eneasroman und im Erec. In: Quelle. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion. Hrsg. von Thomas Rathmann/Nikolaus Wegmann, Berlin 2004 (ZfdPh-Beiheft 12), S. 209–240, hier S. 233–240; Hamm (Anm. 40), S. 214–217, liest Gêometras mit Laude (S. 239) als Verweis auf die konzeptionelle Leistung des Poeta. 48 Roman d’Eneas, V. 7546; V. 7672; vgl. auch V. 7541; V. 7596 (maistrement). 49 Im Roman d’Eneas, V. 7531–7560, wird aufgestellt, gegossen, rund gehauen, verbreitert etc. 50 Vielleicht identisch mit dem werkman (V. 9491), Hock (Anm. 36), S. 229, aber sieht darin nicht Gêometras. 51 Binding (Anm. 43), S. 264, „Der Begriff magister operis oder später in deutschsprachigen Quellen Werkmeister und Paumeister bezeichnet sowohl den die Baumaßnahme verwaltenden Kleriker […] als auch den handwerklich geschulten, praktisch auf der Baustelle mitarbeitenden Bauleiter, den artifex“, in der Regel ein Maurer oder Steinmetz (S. 268  f.). 52 Paulus in 1. Cor 3,9–17; zur Auslegung der Paulusstelle Binding (Anm. 43), S. 237–336. Der Kernsatz ut sapiens architectus fundamentum posui (3,10  f.) werde in mittelalterlichen Quellen einerseits auf die Kirchengründer, andererseits auf die kenntnisreichen Maurer, die die Fundamente der ecclesia materialis legen, bezogen. 53 V. 9398  f., des hete si sich berâten / selbe bî ir lebene. Die Textstelle wird verschieden interpungiert und gedeutet, dazu Kartschokes Kommentar (Anm. 41): Camilla habe den Bau geplant (Frings/ Schieb) oder initiiert, so Kartschokes Übersetzung, oder errichten lassen (Schieb [Anm. 47], S. 225, und die Übersetzung von Fromm [Anm. 41]).

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und Planung in den Kompetenzbereich des Meisters fallen. Veldekes descriptio führt das komplette Entstehungsszenario eines Bauwerks vor Augen: von der Idee zum Vorhaben über den Auftrag der königlichen Bauherrin bis hin zu Konzept und Durchführung des Baumeisters. Am Ende aber steht ein perfektes Werk aus dem Bereich der artes mechanicae als Ergebnis meisterlicher ‚Kunst‘. All diese Momente, die Valorisierung des Werks wie die den Urheber auszeichnende Meisterschaft, vereinigen sich nun beim dritten Meister: meister Heinrîch. Der variantenreich, allerdings in allen vollständigen Handschriften überlieferte, trotzdem noch immer umstrittene Eneas-Epilog⁵⁴ lässt sich bekanntlich auf unterschiedliche Weise lesen: als Buchentstehungsfabel, in deren Mittelpunkt der Diebstahl eines halbfertigen Textes steht, mit womöglich realhistorischen Anspielungen;⁵⁵ als Repräsentation gesteigerter mäzenatischer Literaturinteressen, indem die gesamte Thüringische Landgrafenfamilie, deren Geschlecht agnatisch aufgefächert wird,⁵⁶ in Verlust, Wiederfinden und Vollendung des Buches involviert ist;⁵⁷ aber schließlich auch als Demonstration artistischer und hier nun literarischer Meisterschaft von Buch und Dichter, wie dies vor kurzem auch Silvia Schmitz⁵⁸ eindrucksvoll demonstriert hat. Bereits die Epilogeröffnung signalisiert mit Nû solen wir enden diz bûch. / ez dûht den meister genûch (V. 13429  f.), worauf der erste Teil des an sich zweiteiligen Epilogs den Fokus legt: der meister,⁵⁹ sein Buch und, wie es an späterer Stelle heißt, daz getihte meisterlîch (V. 13479), das offenbar schon vor seiner Fertigstellung eine Art ‚Textbegehren‘ auslöste. Darum ranken sich der Buchdiebstahl und das Gönnerlob. 54 Der Epilog fehlt in der Berliner Hs., vgl. Fromm (Anm. 41), S. 746 und S. 903  f., der sich gegen dessen ‚Echtheit‘ ausspricht. Dagegen Joachim Bumke: Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland. 1150–1300, München 1979, S. 24 und Anm. 56; S. 468 bietet er für V. 13429–13490 einen Variantenapparat. Zum Meisterbegriff bei Veldeke vgl. Kartschoke (Anm. 41), S. 842  f. 55 Zur Lektüre als Faktum vgl. etwa Bumke (Anm. 54), S. 113–118; Reinhard Hahn: unz her quam ze Doringen in daz lant. Zum Epilog von Veldekes Eneasroman und den Anfängen der höfischen Dichtung am Thüringer Landgrafenhof. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 237, Jg. 152 (2000), S. 241–266. Kritisch bereits Bernd Bastert: Dô si der lantgrâve nam. Zur „Klever Hochzeit“ und der Genese des Eneas-Romans. In: ZfdA 123 (1994), S. 253–273. Zum Konstruktcharakter: Tina Sabine Weicker: Dô wart daz buoch ze Cleve verstolen. Neue Überlegungen zur Entstehung von Veldekes Eneas. In: ZfdA 130 (2001), S. 1–18. 56 Der 1. Teil des Epilogs konzentriert sich auf das landgräfliche Geschlecht, zu Beginn des 2. Teils findet sich dann das literarisch verbürgte, genealogische Pendant: Ich hân gesaget rehte / des hêren Enêê geslechte (V. 13491  f.). 57 Ursula Peters: Fürstenhof und höfische Dichtung. Der Hof Hermanns von Thüringen als literarisches Zentrum (1981). Wieder in: dies.: Von der Sozialgeschichte zur Kulturwissenschaft. Aufsätze 1973–2000. Hrsg. von Susanne Bürkle/Lorenz Deutsch/Timo Reuvekamp-Felber, Tübingen 2004, S. 37–58, hier S. 45. 58 So schon Schwietering (Anm. 21), S. 192  f.; Silvia Schmitz: Die Poetik der Adaption. Literarische inventio im Eneas Heinrichs von Veldeke, Tübingen 2007 (Hermaea N. F. 113), S. 72–104. 59 Zum Lexem ,Meister‘ im Epilog: V. 13430; V. 13465; V. 13479; handschriftliche Varianten: V. 13462 im] meister M G H.

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Während die Geschichte über den topische neun Jahre andauernden Diebstahl das Buch durch die präzisen Angaben zu Ort und Zeitpunkt des Geschehens, aber auch zum Dieb, den sie sogar namentlich dechiffriert,⁶⁰ zum gesellschaftlichen und damit auch zum literarischen Ereignis stilisiert, verschaffen sich Meister Heinrich und das Grafengeschlecht wechselseitig Geltung. Das mit genau markierter Stelle⁶¹ abgebrochene mâre, das während der neunjährigen Trennung vom Meister wart gescriben anders (V. 13461  f.), kann offenkundig nur vom Meister vollendet werden. Die Möglichkeit zur Vollendung,⁶² und darum geht es dieser Gönnerpassage, bot der landgräfliche Auftrag. Die Anerkennung der Überlegenheit des Meisters erweist zugleich den Auftraggeber – Hermann I. von Thüringen – als Kenner und Experten ambitionierter Dichtkunst. Ein Meisterwerk bedarf eines Meisterdichters wie dieser wiederum eines kongenialen Mäzens. Der Diebstahl inszeniert das Buch als Faszinosum, dessen Einzigartigkeit und dessen Wertschätzung durch den prominenten Gönner und bindet das Werk unhintergehbar an seinen Urheber, der allein die konzeptionelle Vollendung des Artefakts zu garantieren vermag. Diebstahlgeschichten über Bücher setzte bereits die antike Literatur topisch zur Auratisierung von Autor und Werk ein,⁶³ und die in Thüringen endende ‚Irrfahrt‘ der Eneide (V. 13510) könnte eine Reminiszenz und eine Art von Referenz an den Stoff und seine antike Herkunft sein. Die Präsentation unterschiedlicher artes im Eneasroman verdeutlicht ihre Gleichrangigkeit. Gemeinsam ist ihnen der Meisterdiskurs, der sie als solche formiert und dadurch auch der Dichtkunst sozusagen einen eigenen, von den artes liberales unabhängigen Ort verleiht. Ihnen gemeinsam ist auch die Profilierung singulärer ‚Künstlerinstanzen‘, die als Meister nicht nur die Herstellung eines Artefakts, sondern durchaus auch den kreativ-konzeptiven Prozess verantworten. Man könnte in diesem Zusammenhang die alten Überlegungen von Julius Schwietering aufgreifen, dass die Meistertitulaturen der Literatur als eine Art Ausstrahlungseffekt von den bereits relativ formierten Bereichen der artes mechanicae und der für diese schon einschlägigen Magister/Meisterterminologie ausgegangen seien.⁶⁴ Mit den Ausführungen von Barbara Haupt zur „Aufwertung des Kunsthandwerks durch Theophilus Presbyter“⁶⁵ und von Joachim Hamm, der die Relevanz der poeta faber-Metaphorik für die Selbstbeschreibung der deutschsprachigen Texte betont,⁶⁶ erscheint Schwieterings Position bestätigt. Doch ist die applizierte Meisterbegrifflichkeit im literarischen Diskurs

60 V. 13458: Graf Heinrich; Hss. G; H: grauen heinrich von swartzburg, dazu Bastert (Anm. 55), S. 261–265. 61 in tûsche berihtet, / unz daz der hêre Ênêas / frowen Lavînen brief gelas (V. 13438–13440). 62 Viermal wird das volmachen erwähnt (V. 13470; V. 13472; V. 13475; V. 13480), so Schmitz (Anm. 58), S. 88. 63 Vgl. zusammenfassend Weicker (Anm. 55), S. 15–17. 64 Schwietering (Anm. 21), S. 186. 65 Barbara Haupt: Ornament und vuoge. In: Interartifizialität (Anm. 25), S. 113–135, hier S. 126. 66 Hamm (Anm. 40), S. 212  f.; S. 216.

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kaum auf das bloß ‚Handwerkliche‘ zu reduzieren, sie erfolgt immer mit der eindeutigen Wendung zur Normierung oder Auszeichnung. In diesem Sinne hat die Meistertitulatur Heinrichs von Veldeke schon sehr bald zu ersten Kanonisierungseffekten geführt, wie bekanntermaßen in Gottfrieds ‚Literaturexkurs‘ im Tristan. Darin wird Heinrich von Veldeke ebenso wie den anderen Epikern zwar nur indirekt der Meistertitel zugeschrieben, doch erlangt er dort Geltung als ‚Begründer‘ der Literatur der Meister und fungiert insofern künftig als normative Instanz, mithin als Autorität, was die allseits bekannte Textstelle verdeutlicht: nu hœre ich aber die besten jehen, die, die bî sînen jâren und sît her meister wâren, die selben gebent im einen prîs: er inpfete daz êrste rîs in tiutscher zungen. (V. 4734–4739)⁶⁷

Veldeke bildet im hier als Ordnungssystem evozierten Baum der Dichtung den – relativen – Anfang der Literatur in der Volkssprache. Für die deutsche Dichtung markiere er deshalb einen „Neueinsatz“, aber keine „Gründerrolle“,⁶⁸ so Silvia Schmitz im Rekurs auf Ursula Schulze. Viel genereller aber scheint mir in dieser Passage der Aspekt der meisterlichen Dichtkunst akzentuiert. Auch bedeutet das gartenbauliche, einen künstlichen Vorgang ins Bild setzende Pfropfen eigentlich weder Ursprung noch Neueinsatz, sondern eine veritable Schnittstelle⁶⁹ zwischen Tradition und Innovation der Literatur der Meister, die im Exkurs im Blick auf die Nachmeister über die stilistisch-rhetorischen Kriterien der perspicuitas und obscuritas ausgehandelt wird. Als Figur eines ‚aufgepflanzten‘ Übergangs von Altem zu Neuem bringt es zwischen den – auch antiken – Vorläufern und Nachfolgern das Prinzip der Meisterschaft exakt auf den Punkt, nämlich Aufgreifen, Perfektionieren und Überbieten, das der meister Heinrîch mit seinem – auch – nach antiken Vorgaben gedichteten Text kongenial verkörpert.

67 Der Text wird zitiert nach: Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hrsg. von Walter Haug/ Manfred Günter Scholz. Mit dem Text des Thomas, hrsg., übers. und komm. von Walther Haug, 2 Bde, Berlin 2011 (Bibliothek des Mittelalters 10; 11); herangezogen habe ich auch: Gottfried von Straßburg: Tristan. Hrsg. von Karl Marold. 3. Abdruck mit einem durch Friedrich Rankes Kollationen erw. und verb. Apparat. Besorgt und mit einem Nachwort versehen von Werner Schröder (1969), Berlin 2004. 68 Schmitz (Anm. 58), S. 93. 69 Vgl. Uwe Wirth: Zitieren Pfropfen Exzerpieren. In: Kreativität des Findens. Figurationen des Zitats. Hrsg. von Martin Roussel, unter Mitarbeit von Christina Borkenhagen, München, Paderborn 2012 (Morphomata 2), S. 79–98, hier S. 86.

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Meisterschaft als Zuschreibung und Valorisierung In den volkssprachlichen Texten ist Meisterschaft vorrangig ein Akt der konkreten Zuschreibung und zumindest vordergründiger Valorisierung oder markiert eine abstrakte Normeninstanz (der/die meister), die überwiegend der Absetzung dient. Als Zuschreibungsphänomen ist Meisterschaft den Konstitutionsprozessen von Autorschaft in mittelalterlichen Texten vergleichbar und kann einen engen Konnex zu Autorschaft oder in anderen artes-Kontexten zu Werkurheberschaft eingehen, indem sich der Meistertitel mit Autornamen verbindet und darüber hinaus zur Profilierung der literarischen Autorschaftsentwürfe beiträgt. Im Verbund mit den Autornamen stellt die Meistertitulierung auch einen Bestandteil oder eine Form der „Künstlersignatur“ dar, so Schwietering, und es lassen sich quasi „Eigen- und Fremdsignaturen“ der Meister unterscheiden.⁷⁰ Denn mehrheitlich sind es um oder vor 1200 in den topischen Quellenberufungen die literarischen Vorläufer, jedoch auch die Hersteller anderer Artefakte, die zum Meister deklariert werden. Die selbstreferenziellen Meistertitulaturen will Schwietering allerdings definitiv erst für das späte 13. Jahrhundert gelten lassen, da sie ein Verständnis von selbstbewusster Meisterschaft voraussetzten und der lange Zeit vorherrschenden Logik der Selbstbescheidung widersprächen. Meisterlich „ist der klassische Ausdruck, mit dem man die vorbildhafte Dichtung anderer rühmend hervorhebt“.⁷¹ Das ‚selbstzweckhafte Eigenlob‘ des meisters Heinrîch im Eneas-Epilog könne deshalb nicht auf Heinrich von Veldeke zurückgehen, sondern sei ein sekundäres Produkt der Überlieferung.⁷² Schwietering unterstellt den literarischen Meistersignaturen offensichtlich eine kontinuierliche Entwicklung von der demütigen Selbstbescheidung zur meisterlichen Selbstinszenierung. Allerdings verlaufen die Prozesse solcher Textstrategien wohl kaum nach evolutionären Mustern. Man wird gerade bei den literarischen Meistersignaturen mit Diskontinuitäten, Brüchen, vor allem aber mit kontextgebundener Stilisierung und intertextuellen Allusionen rechnen müssen. Insbesondere aber verschränken sich in der literarischen Inszenierung die dialektisch aufeinander bezogenen Entwürfe von Demut und Ermächtigung. Sie stehen in einem fragilen Spannungsverhältnis, das in den höfischen Texten subtil ausgespielt werden kann. Im Prolog zu Gottfrieds Tristan ist der Meistertitulatur des Vorläufers, Thômas von Britanje, eine solche Spannung eingeschrieben. 70 Termini bei Thomas Bein: Zum ‚Autor‘ im mittelalterlichen Literaturbetrieb und im Diskurs der germanistischen Mediävistik. In: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hrsg. von Fotis Jannidis u.  a., Tübingen 1999 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 71), S. 303–320, hier S. 307–312. Zu den Autornamen nun auch Monika Unzeitig: Autorname und Autorschaft. Bezeichnung und Konstruktion in der deutschen und französischen Erzählliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts, Berlin, New York 2010 (MTU 139), S. 50–74. 71 Schwietering (Anm. 21), S. 194. 72 Schwietering (Anm. 21), S. 192–194, lehnt die Selbsttitulierung ab; der gebrauchte Meistertitel aber habe nichts mit dem gelehrten Magister zu tun, sondern bedeute, dass „Veldeke ein Meisterdichter, ein Meister der Dichtkunst ist“ (S. 192).

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Im Gottfriedschen Tristan ist für den Texturheber weder eine Autor- noch eine Meistersignatur überliefert. Nur eine versteckte, aber hoch artistische Anspielung auf den Autornamen vermutet man im Akrostichon der Vierreimstrophen.⁷³ Der Prolog allerdings profiliert zumindest eine vertextete Autorfigur, die ihre Selbstermächtigung im Rekurs auf die Meisterschaft des Vorläufers durch eine latente Überbietung gewinnt. Ich weiz wol, ir ist vil gewesen, die von Tristande hânt gelesen; und ist ir doch niht vil gewesen die von im rehte haben gelesen. Tuon aber ich diu gelîche nuo und schepfe mîniu wort dar zuo, daz mir ir iegelîches sage von disem mære missehage, sô wirbe ich anders, danne ich sol. ine tuon es niht: sî sprâchen wol und niuwan ûz edelem muote mir unde der werlt ze guote. […] aber als ich gesprochen hân, daz si niht rehte haben gelesen, daz ist, als ich iu sage, gewesen: si’n sprâchen in der rihte niht, als Thômas von Britanje giht, der âventiure meister was und an britûnschen buochen las aller der lanthêrren leben und ez uns ze künde hât gegeben. als der von Tristande seit, die rihte und die wârheit begunde ich sêre suochen in beider hande buochen walschen und latînen und begunde mich des pînen, daz ich in sîner rihte rihte dise tihte. sus treip ich manege suoche, unz ich an eime buoche alle sîne jehe gelas, wie dirre âventiure was. (V. 131–166)

73 Vgl. Tomasek (Anm. 29), S. 90  f. (nach Bernd Schirok). Ob das Akrostichon die Autorsignatur ‚ersetzt‘ oder das Fehlen der Signatur und vielleicht sogar der Meistertitulatur, die ja für die späteren Berufungen auf Gottfried signifikant ist (s.  o. Anm. 28), durch den Fragmentcharakter des Textes oder die Überlieferung bedingt oder aus wie auch immer motivierten Gründen der Bescheidenheit unterblieben ist, muss dahingestellt bleiben.

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Die Quellenberufung erzählt erneut eine Buchentstehungsgeschichte, nämlich die des Gottfriedschen Tristan, aber auch diejenige der bereits davor geschriebenen Tristangeschichten als einen kontinuierlichen, permanent andauernden Lektürevorgang. Rezeption und Produktion bedingen sich gegenseitig. Der neue Text entsteht aus den Lektüren der Vorläufer, entsteht mit und gegen ihre Versionen. Eingeklagt wird deshalb die richtige Lektüre (rehte haben gelesen) und damit zugleich die adäquate Fassung der Tristangeschichte. Die rihte⁷⁴ – die Spur, die Richtung – dafür hat Thômas von Britanje vorgegeben. Der Kritik ausgesetzt sind die vielen anderen, die zwar in guter Absicht⁷⁵ und wohl formuliert (sprâchen wol) gedichtet, aber nicht dessen Richtung eingeschlagen haben. Meisterschaft wird hier ausschließlich Thômas zugeschrieben. Er ist durch seine maßgebliche Version der âventiure meister, der Meister der Tristanstangeschichte, der, so könnte man sagen, die Diskurshoheit über diesen Stoff besitzt. Auch der überlegene Meister Thômas war zunächst einmal ein Leser. Die britûnschen Bücher seiner Lektüre, und mithin sein Text, werden hier freilich eher den res factae, der Geschichtsschreibung, zugeordnet, die von der lanthêrren leben […] künde geben. Sie garantieren die rihte und die wârheit und bilden legitimatorisch das Fundament für die Relektüre (mîn lesen, V. 167) der Autorfigur Gottfrieds. Zweifellos fungieren hier der meister und sein Buch vorerst als personale und mediale Konkretionen der Autorität. Diese Relektüre begnügt sich allerdings nicht mit der vermeintlich richtigen Version, sondern treibt die Lektüre weiter, ergänzt und überprüft sie durch weitere Lektüren und ein vergleichendes Quellenstudium, unz ich an eime buoche / alle sîne jehe gelas, / wie dirre âventiure was, das die Fakten zu bestätigen scheint. Bestätigen und Weitertreiben scheint hier zunächst eine Grundfigur der Textproduktion zu sein. Damit weist die Quellenberufung Gottfrieds deutlich über die des Vorläufers, Thomas d’Angleterre, hinaus, auf die er sich erwiesenermaßen bezieht und wo es heißt, dass viele verschieden von Tristan erzählten, „aber sie erzählten es nicht Breri entsprechend, der die Taten und die Erzählungen von allen Königen […] wusste, die in der Bretagne gelebt haben“.⁷⁶ Bei Thomas wird demnach das Weitererzählen als Wiedererzählen von Breri arretiert. Breri ist die autoritative Vorlage. In der Interferenz der beiden Quellenberufungen wird bei Gottfried allerdings nicht nur eine Genealogie der Bücher entworfen, die zu ihrem Ursprung, eime buoche (V. 164), führt,

74 Vgl. zur Quellenberufung Beate Kellner: Eigengeschichte und literarischer Kanon. Zu einigen Formen der Selbstbeschreibung in der volkssprachlich-deutschen Literatur des Mittelalters. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von Beate Kellner/Ludger Lieb/Peter Strohschneider, Frankfurt a. M. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 153–182, hier S. 172–174; Kellner weist auf das Prinzip der aemulatio hin. 75 Kellner (Anm. 74), S. 173. 76 Nel dient pas sulun Breri / Ky solt les gestes e les cuntes / De tuz les reis, de tuz les cuntes / Ki orent esté en Bretaingne (V. 2120–2123). Thomas [d’Angleterre]: Tristan. Eingel., textkritisch bearb. und übers. von Gesa Bonath, München 1985 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters 21).

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sondern auch das Prinzip der Nachfolge in personaler Konstellation quasi als Abfolge von Schülern und Meistern umgesetzt: Breri (vermittelt über Thomas)  – Thomas  – Gottfried bzw. sein ‚auktoriales‘ Pendant. Die Logik einer solchen Konstruktion ist deshalb einerseits die Rückwendung zum Ursprung der autoritativen Version, andererseits aber diejenige der Perfektionierung und durchaus auch hierarchisch gedachten Überbietung: Die Gottfriedsche Autorfigur ist vorerst das letzte Glied in einer unabgeschlossenen Reihe von Lesern und Meistern der Wortkunst. Die Selbstermächtigung des Gottfriedschen Autors reicht indessen noch ein Stück weiter. Denn das eine Buch (V. 164), das als Grundlage für das senemære (V. 168)  – d.  h. res fictae  – angegeben wird, ist entgegen der Forschung⁷⁷ weder das Thomassche noch das des Breri. Das eine Buch, das nur der Gottfriedsche Autor kennt, bleibt eine Leerstelle. Wir treffen mit dem einen Buch auf eine Art ‚Kyotkonstruktion‘, wie in Wolframs Parzival auf eine fingierte Quelle, die Gottfried als Metonymie der Übertrumpfung latent gegen Thomas ausspielt. Aber anders als diese dezidiert schriftliterarische Konstruktion von Meisterschaft Gottfrieds bringt Wolframs Parzival in der Potenzierung solcher Konstellationen gegen die Meister der Schrifttexte, gegen meister Cristjân und sogar gegen meister Kyôt,⁷⁸ schlussendlich Frau Aventiure in Stellung – eine Figur der Mündlichkeit und des Imaginären, die zu Beginn des 9. Buchs in das Herz des Erzählers dringen und ihn ‚erleuchten‘ soll. Über solche Zuschreibungsdiskurse von Meisterschaft werden nicht nur Rang und Können, Kompetenz und Konkurrenz mittelalterlicher Dichter ausgehandelt und in Szene gesetzt, sondern ebenso kulturelle Auszeichnung und normative Konzepte der literarischen Artefakte. Insofern sind dem Meister-Diskurs ganz entscheidend auch Aspekte der Valorisierung inhärent, die innerliterarisch, wie es sich an den Beispielen zeigte, ganz verschieden ausdifferenziert werden: sei es der adäquate Umgang 77 Zur opinio communis vgl. Haug, Kommentar zu V. 155–166 (Anm. 67); auch Kellner (Anm. 74), S. 173; Walter Haug: Autorität und fiktionale Freiheit (2001). Wieder in: ders.: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 115–127, hier S. 121, deutet bereits Zweifel an, um dann auf Wolframs „ominösen Kyot“ zu sprechen zu kommen. Neuerdings Bruno Quast: als Thômas von Britanje giht. Narratologische Überlegungen zur Funktion des Autornamens in der höfischen Epik am Beispiel des Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: Autorschaft. Ikonen – Stile – Institutionen. Hrsg. von Christel Meier/Martina Wagner-Egelhaaf, Berlin 2011, S. 133–144, hier S. 141  f., der das Buch als „eine bestimme TristanAuffassung“ verstehen will. 78 Wolfram von Eschenbach: Parzival. Text und Übersetzung. Mhd. Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann. Übers. von Peter Knecht. Mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin, New York 2003: 434,1–434,7 (zu frou âventiure); und 453,5  f. (mich batez helen Kyôt, / wand im diu âventiure gebôt); im Epilog: 827,1  f. (Ob von Troys meister Cristjân / disem mære hât unreht getân); 827,14 (dort der meister sprach = Kyot). Die komplexen Zusammenhänge können hier nur angedeutet werden. Stellvertretend für die Forschung hier Schirok, S. CXIV-CXVIII, und Haug (Anm. 77), S. 123, der Kyot mit Frau Aventiure als „Masken derselben Autorität“, d. i. die Fiktion, identifiziert.

Der Meister-Diskurs in der volkssprachlichen Literatur um 1200 

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mit der materia, wie im Tristan-Prolog, seien es die stilistischen Kriterien und sprachschöpferischen Vermögen der Dichter und damit die ‚Literarizität‘ ihrer hergestellten ‚Werke‘, so im Literaturexkurs Gottfrieds‚ oder die Ausstellung des Wertes und der Bedeutung eines noch unfertigen Buches und seines Autors als Meisterautor eines Meisterwerks, wie bei Veldeke. Analog zur ‚Funktion Autor‘ könnte man im Anschluss an Foucault⁷⁹ von einer ‚Funktion Meister‘ sprechen. Meisterschaft übernimmt einerseits diskursive Ordnungsfunktionen, indem sie historische oder rhetorische Bezüge der Texte untereinander herstellt und historische Zusammenhänge zwischen Autoren stiftet. Andererseits hat Meisterschaft eine klassifikatorische Funktion, indem sie über Namen und Spitzenstellung, Aus- und Eingrenzungen, aber auch Über- und Unterordnungen, also Abgrenzungen vornimmt oder Differenzen einzieht, die ihrerseits Normierungen erzeugen, langfristig sogar kanonbildend wirken können. In diesem Sinne scheint Meisterschaft ein zentraler Terminus der literarischen Selbstbeschreibung mittelalterlicher Texte zu sein, über den systemische und poetologisch-stilistische, vielleicht sogar soziale Ordnungen, aber auch Kommunikations- und Interaktionsformen des Literarischen zur Sprache kommen, womit schließlich die ‚Eigengeschichte‘⁸⁰ der Dichtkunst thematisiert und zunehmend auf Dauer gestellt wird, also Institutionalisierungsprozesse in Gang gesetzt werden. Von vornherein aber ist dem Meisterschaftsdiskurs die Logik der auch agonalen Überbietung implizit. Im Augenblick der Zuschreibung wird sie zugleich in Frage gestellt.

79 Michel Foucault: Was ist ein Autor? (1969). In: ders.: Schriften zur Literatur. Aus dem Französischen von Karin von Hofer/Anneliese Botond, Frankfurt a. M. 1988, S. 7–31. 80 Terminus von Beate Kellner (Anm. 74), S. 153  f.

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Poetologien der Oberfläche: Das Beispiel der mittelhochdeutschen Antikenepik Mit einigen Bemerkungen zum New Formalism

I Stil und ‚Neuer Formalismus‘ In der Diskussion um mittelalterliche Poetik und Poetologie haben Stilfragen in den letzten Jahren kaum eine Rolle gespielt. Dies liegt sicher daran, dass der Stilbegriff in der Literatur- und Kulturwissenschaft keine Konjunktur hat.¹ Als zu unscharf kritisiert und theoretisch als überholt angesehen,² wurde er in den Literaturwissenschaften selbst in den jüngeren Debatten um den sogenannten New Formalism sehr selten und nur am Rande benutzt.³ Kulturtheoretische Ansätze haben immer wieder, wenngleich ebenfalls eher beiläufig, erweiterte Stilbegriffe ins Spiel gebracht, die sich nicht nur auf Rede- oder Literaturstile bezogen, sondern Lebens-, Alltags- und Gebrauchsstile in den Blick nahmen, so etwa bei Jurij Lotman,⁴ Michel de Certeau⁵ oder auch Michel Foucault⁶. Allerdings erwiesen sich für diese Lebens-, Alltags- und Gebrauchsstile 1 Dazu die fast resignierte Bestandsaufnahme zur „Marginalisierung der Stilforschung“ bei Johannes Anderegg: Literaturwissenschaftliche Stilauffassungen / Concepts of style in literary studies. In: Rhetorik und Stilistik / Rhetoric and Stylistics. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung / An International Handbook of Historical and Systematic Research. Hrsg. von Ulla Fix/Andreas Gardt/Joachim Knape, 2 Bde, Berlin, New York 2008 und 2009 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 31,1–2), Bd. 1 (2008), S. 1076–1092, hier S. 1087–1089. 2 Anderegg (Anm. 1), S. 1087  f. 3 Siehe die Überblicke bei Susan Wolfson: Reading For Form. In: MLQ 61 (2000), S. 1–16; und Marjorie Levinson: What is New Formalism? In: PMLA 122 (2007), S. 558–569. Eine gewisse Ausnahme stellt hier Marshall Brown dar; er wird allerdings wiederum eher am Rande rezipiert. Siehe Marshall Brown: Why Style Matters. In: ders.: Turning Points: Essays in the History of Cultural Expressions, Stanford 1997, S. 33–87. 4 Jurij Lotman: The Poetics of Everyday Behavior in Russian Eighteenth Century Culture. In: ders.: The Semiotics of Russian Culture. Übers. von Ann Shukman, Ann Arbor 1984, S. 231–256; ders.: The Decembrist in Daily Life, ebd., S. 71–123; siehe dazu Jonathan H. Bolton: Writing in a Polluted Semiosphere: Everyday Life in Lotman, Foucault, and de Certeau. In: Lotman and Cultural Studies. Encounters and Extensions. Hrsg. von Andreas Schönle, Madison, Wisconsin 2006, S. 319–344, hier bes. S. 323. 5 Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Übers. von Ronald Voullié, Berlin 1988 (Internationaler Merve Diskurs 140), S. 78  f. (zu Handlungsstilen), S. 192–197 (zu Gebrauchsstilen). 6 Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit, aus dem Franz. von Ulrich Raulff/Walter Seitter, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1986, S. 18; zu den Praktiken, mit denen sich die Menschen „in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht“.

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andere Termini als nachhaltiger. Zu denken wäre an Pierre Bourdieus Habitusbegriff  ⁷ und das Schlagwort self-fashioning, das im Zuge des New Historicism zu einer Signal-Formel nicht nur für die Renaissance aufgebaut wurde.⁸ Eine solche Präferenz für Alternativbegriffe, deren Gebrauch den Stilbegriff zwar nicht ausschließt, aber marginalisiert, kann man genauso in der engeren Literaturwissenschaft beobachten. Wissenschaftsgeschichtlich liegt es nahe, den Grund für die Marginalisierung des Stilbegriffs weniger in seiner Unschärfe zu suchen⁹  – in der literaturwissenschaftlichen Methodenreflexion und Theoriebildung gibt es viele Erfolgsgeschichten notorisch unscharfer Begriffe –, als in der semiotisch-linguistischen Wende der sechziger Jahre auf der einen Seite und dem Erfolg ‚symptomatischer‘, also etwa sozialgeschichtlicher, psychoanalytischer, diskursanalytischer oder dekonstruktiver Lektüreschulen auf der anderen. Einhergehend mit einem Misstrauen gegenüber Hypostasierungen eines ‚Individual-‘, ‚Gattungs-‘ oder ‚Epochenstils‘ verlagerten sich Analysen textueller Details z.  B. in die Narratologie, die ein rigoroseres Analyse-Instrumentarium entwickelte und dadurch ‚objektivere‘ Ergebnisse versprach. Gerade in der deutschen literaturwissenschaftlichen Praxis (in der Neu- wie Altgermanistik) finden aber formale Bedingungen des Ausdrucks weiterhin viel Beachtung, und auch in den nordamerikanischen Literaturabteilungen (dort vor allem in der Anglistik) ist im Zeichen des New Formalism eine heftige Diskussion darüber ausgebrochen, ob es nicht Zeit sei, wieder den primär auf die Form zielenden Lektüren in Forschung und Lehre zu stärkerem Recht zu verhelfen.¹⁰ Reading for form¹¹ erlangt auf diese Weise sowohl für wertkonservative Verteidiger eines kulturellen Sonderstatus kanonischer literarischer Werke als auch für die Verfechter einer stärkeren Aufmerksamkeit gegenüber den historischen Formbedingungen des literarischen Ausdrucks neue Dringlichkeit.¹² In der anglistischen Mediävistik stehen dabei

7 Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M. 1970; ders.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1982; zum Habitusbegriff Bourdieus siehe Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist 2000, S. 323–346, zu Habitus und ‚Lebensstil‘ S. 333 und S. 339–343. 8 Stephen Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago 1980. 9 Diese Erklärung führt Anderegg (Anm. 1), S. 1087, unter anderem an und versucht sie zu entkräften. 10 Wolfson (Anm. 3); Ellen Rooney: Form and Contentment. In: MLQ 61 (2000), S. 17–40, Levinson (Anm. 3); Samuel Otter: A Different Kind of Formalism. In: Novel 43 (2010), S. 350–353. Auch in der anglistischen Mediävistik wird dies verstärkt diskutiert: siehe den Forschungsbericht von Helen Marshall/Peter Buchanan: New Formalism and the Forms of Middle English Literary Texts. In: Literature Compass 8,4 (2011), S. 164–172; und besonders auch Christopher Cannon: Form. In: Middle English. Hrsg. von Paul Strohm, Oxford 2007 (Oxford Twenty-First Century Approaches to Literature), S. 177–190; und Arthur Bahr/Alexandra Gillespie: Medieval English Manuscripts: Form, Aesthetics, and the Literary Text. In: The Chaucer Review 47,4 (2013), S. 346–360. 11 So der programmatische Titel des Aufsatzes von Wolfson (Anm. 3): „for“ ist hier im Doppelsinne gemeint: „as attention to [form] and as advocacy for such attention“ (S. 9). 12 Dazu einführend der Forschungsbericht von Levinson (Anm. 3). Ein weiterer Begriff, der eine immer größere Rolle in der Debatte spielt, ist der wenig trennscharfe Terminus des surface reading;

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unter anderem „the emerging relationship between formal analysis and book history“ sowie die Frage nach dem „way in which formalist approaches intersect with trends in English literary manuscript studies“ im Blickpunkt.¹³ Es verbinden sich also formale Analysen mit Mediengeschichte und Material Culture. Wenig beachtet wurde allerdings, dass die Forderung nach einer neuen Aufmerksamkeit gegenüber Oberfläche und eines reading for form auch zu einer Neubewertung von historischen Poetologien der Oberfläche führen könnte, wie sie vor allem in Diskussionen und Modifikationen der traditionellen rhetorischen Dichotomie zwischen der materia und ihrer sprachlichen Formung in den mittelalterlichen Poetiken und der mittelalterlichen lateinischen wie volkssprachlichen Epik reflektiert werden.¹⁴ Dabei ist gleich vorauszuschicken, dass die Begrenztheit solcher Modelle und überhaupt der Terminologie zur Selbstbeschreibung dichterischen Tuns in den mittelhochdeutschen Epen so deutlich ist, dass man eine Poetik kaum auf sie gründen wollte. Im Erzählen selbst scheint mehr implizite Information über eine Erzählpoetik zu liegen als in den terminologisch kaum ausdifferenzierten Bezeichnungen, die auf dieses Erzählen angewendet werden. Anders gesagt: Das von mittelalterlichen Poetiken angebotene Modell der materia, die im aktuellen Text zu gestalten sei (tractare, dilatare),¹⁵ ist in vielen Fällen als heuristisches Modell von begrenztem Nutzen, um die Poetiken der Texte zu beschreiben oder zu erforschen. Mittelhochdeutsches Erzählen ist komplexer als die zeitgenössischen Möglichkeiten seiner expliziten Be-

dazu Stephen Best/Sharon Marcus: Surface Reading. An Introduction. In: Representations 108 (2009), S. 1–21; und, in kritischer Absetzung, Crystal Bartolovich: Humanities of Scale: Marxism, Surface Reading  – and Milton. In: PMLA 127 (2012), S. 115–121. In der germanistischen Mediävistik kommt vom in der Einleitung formulierten Anliegen her der Ästhetik-Band von Manuel Braun und Christopher Young dem New Formalism nahe, ohne aber auf ihn explizit Bezug zu nehmen: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Manuel Braun/Christopher Young, Berlin, New York 2007 (Trends in Medieval Philology 12), darin bes. Manuel Braun: Kristallworte, Würfelworte. Probleme und Perspektiven eines Projekts ‚Ästhetik mittelalterlicher Literatur‘, S. 1–40. Beiden Anliegen gemeinsam ist die auffällige Kombination von ‚retrotheoretischem‘ und avanciertem Gestus – und ihr Rückgriff auf die idealistische Ästhetik. Diese Kombination stellt Bent Gebert, allerdings ebenfalls ohne Bezug auf den New Formalism, in seiner Rezension des Bands von Braun/Young heraus: „Zu den aktuellen Zügen literaturtheoretischer Forschung gehört die Wiederkehr von Fragestellungen, die zugleich avanciert und ,retrotheoretisch‘ anmuten: Im Windschatten des kulturwissenschaftlichen Paradigmas ist so die Frage nach dem ‚ästhetische[n] Überschuss‘ (S. 22) literarischer Rede und ihrer Differenzqualität wieder aufgetaucht – und mit ihr eine Renaissance von Konzepten und Begriffen der idealistischen Ästhetik.“ In: Arbitrium 28 (2010), S. 25–32, hier S. 25  f. Die Aussage ließe sich auch auf viele Vertreter des New Formalism anwenden. 13 Marshall/Buchanan (Anm. 10), S. 164. 14 Dazu zusammenfassend Joachim Knape: Rhetorik und Stilistik des Mittelalters / Rhetoric and stylistics in the Middle Ages. In: Rhetorik und Stilistik (Anm. 1), Bd. 1 (2008), S. 55–73. 15 Dazu Joachim Bumke: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, besonders in der höfischen Epik. In: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Joachim Bumke/ Ursula Peters. ZfdPh 104 (2005), Sonderheft, S. 6–46, hier S. 10  f.

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schreibung. Wenn sie, wie vielleicht im Falle Wolframs, der Komplexität ihres Gegenstandes gerecht wird, dann verabschiedet sie sich sogleich augenzwinkernd in Dunkelheiten, die eben gerade nicht terminologische Schärfe, sondern spielerische Unschärfe bieten (und in diesem Sinne der Eigenbeschreibung vielleicht gerechter werden).¹⁶ Dennoch haben die Reflexionen auf das eigene poetische Tun gerade für die historische Beurteilung des Inhalt-Form-Verhältnisses großen Aussagewert. In den poetologischen Aussagen sind ästhetisches Wissen, überpersönliche literarische Normativitätstypen und ein in Affirmation oder Abgrenzung stabilisiertes AussageIch korreliert. Dies gilt selbst für vermeintlich einfache und banale poetologische Aussagen. Außerdem kommen in der kritischen Absetzung oder traditionsstiftenden Bestätigung der Stilentscheidungen anderer, die dieselbe Materie bearbeiten, sich derselben Gattung zuordnen oder Schreibweise bedienen, Diskussionen um das aptum ins Spiel, die relevante poetologische Informationen liefern können.¹⁷

II Griffel, Zügel und angemessener Stil Am Ende des 14. Jahrhunderts verfasste der Geistliche Gerhard von Lüttich einen mittellateinischen Trojatext, den er als Compendium Historiae Troianae bezeichnete und mit einer Stildiskussion zur antiken und mittelalterlichen Tradition des Erzählens über Troja einleitete. Der Prolog ist ein gutes Beispiel dafür, wie mittelalterliche Autoren die Eignung gewisser Ausdrucksweisen und Gestaltungsformen in der Behandlung der antiken Stoffe und ihrer historischen Wahrheit auszuhandeln versuchten. Aufschlussreich ist Gerhards Diskussion des Trojatextes von Guido de Columnis, der ein Jahrhundert vor seinem eigenen verfasst wurde (nicht ein halbes Jahrhundert, wie Gerhard sagt): Alius quoque dictus Guido quinquaginta forsan ante nostros annos bonum opus huius hystorie composuit, sed dum multum intenderet ornatui verborum in figuris et coloribus, in methaphoris, apostrophis, exclamationibus et digressionibus non necessariis, contigit sibi, ut iuxta rei exigenciam stilo nimis laxam daret habenam. Ornavit, ymmo oneravit, ita materiam, ut vix procedere possit in palam.¹⁸

16 Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausgabe von Karl Lachmann rev. und komm. von Eberhard Nellmann, 2 Bde, Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8), V. 1–22. 17 Es ist zum Beispiel eben nicht die sprachliche Klarheit als abstrakter Wert, sondern als wahrgenommene Qualität der Sprache eines Vorgängers, Hartmanns von Aue, die zu Gottfrieds von Straßburg Qualifikation der cristallînen wortelîn führt: Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hrsg. von Walter Haug/Manfred Günter Scholz. Mit dem Text des Thomas, hrsg., übers. und komm. von Walter Haug, 2 Bde, Berlin 2011 (Bibliothek des Mittelalters 10; 11), V. 4629; zu Verbindungen zur antiken Rhetorik siehe auch den differenzierenden Kommentar ebd., Bd. 2, S. 366, mit weiterer Literatur. Zur perspicuitas siehe auch unten mit Anm. 23. 18 Gerhard von Lüttich: Compendium Hystoriae Troianae (1376), Prolog; zit. nach Thomas Haye: Der

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Man sieht, wie Gerhard zunächst noch wohlwollend das Werk des Vorgängers lobt, dann aber zum Schlag gegen den Überfluss seines Wortschmucks ausholt. Bestimmt von der traditionellen Dichotomie von Materie und Gestaltung (Form, Stil), fördern vor allem das Wortspiel ornavit / oneravit und die Rede von der Schwierigkeit der Materie, unter dem belastenden Schmuck überhaupt zu Tage zu treten, nicht unübliche räumliche Assoziationen: Der unnötige Überfluss an Ornat überlädt die Materie (onerare) und verdeckt sie dadurch. Wie Thomas Haye zeigt, setzt Gerhard von Lüttich diese Diskussion in einem auch an geistlichen Beziehungen reichen Bild fort: dem der Braut, deren jungfräuliche Schönheit durch ihre überreiche Kleidung so verdeckt wird, dass diese Schönheit nicht mehr erkannt werden kann.¹⁹ In der Argumentation Gerhards von Lüttich finden sich mehrere thematische Linien verschränkt, die für die Beurteilung von rhetorischem Schmuck relevant sind. Diese Beurteilung ist repräsentativ für die historische Diskussion über die Frage, wie die Textoberfläche zu gestalten sei. Die Erwähnung des stilus nutzt, wie dies schon seit der Antike oft der Fall ist,²⁰ das Oszillieren zwischen der Materialität des Bildspenders, des Griffels und des habitualisierten Bildempfängers, der Schreibweise, aus.²¹ Die Materialität des stilus schwingt aber wohl immer mit,²² und damit wird auch stets die Technik der oberflächlichen Aufbringung von Schriftzeichen mit aufgerufen. Die Kontamination zweier Bildspender-Bereiche (stilus ‚Griffel‘ und habena ‚Zügel‘) führt auf die hauptsächliche Zielrichtung der Aussage zu. Wie Wagen und/ oder Pferd benötigt der stilus einen geübten Lenker, um das Ziel zu erreichen. Der Schmuck der ‚Oberfläche‘ ist dabei zwar nicht direkt dem stilus zugeordnet, hängt aber eng mit diesem zusammen. Den stilus kontrolliert zu verwenden, ist Aufgabe des Autors: In dieser normativen Formulierung spielen Fragen von Schmuck, aber auch Länge und Kürze des Ausdrucks eine entscheidende Rolle. Wie hier sind es oft Fragen der Oberflächengestaltung, welche die poetologische Diskussion historisch besonders beschäftigen.

Krieg um Troja als Kampf der literarischen Methoden. Eine historische und poetologische Analyse des Gerhard von Lüttich aus dem Jahr 1373. In: Sacris Erudiri 45 (2006), S. 457–479, hier S. 478  f.; „Ein anderer, mit Namen Guido, hat vielleicht vor fünfzig Jahren ein gutes Werk auf der Grundlage dieser Geschichte geschaffen, aber noch eine große Menge an Wortschmuck in rhetorischen Figuren und Färbungen, in unnötigen Metaphern, Apostrophen, Ausrufen und Abschweifungen hinzugefügt. So passierte es ihm, dass er seinem Griffel ohne Unterschied der Dringlichkeit des Gegenstands allzu laxe Zügel gab. Er schmückte, nein: beschwerte die Materie so, dass sie kaum zu Tage treten konnte.“ (M. S.). 19 Haye (Anm. 18), S. 471. 20 Hans Ulrich Gumbrecht: Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des Stilbegriffs. In: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1986, S. 726–788, hier S. 726–729; ders.: Stil. In: RLW 3 (2003), S. 509–513, hier S. 509  f. 21 Zum mittelalterlichen Gebrauch von stilus siehe den Beitrag von Michael Stolz in diesem Band. 22 Dazu Michael Stolz in diesem Band.

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Rhetorischer Ornat erscheint in dieser normativen Polemik emphatisch als Oberfläche. Seine unangemessene Anwendung kann dazu führen, dass die materia, ihre Schönheit und Wahrheit nicht hervortreten können. Dem Autor wird dabei eine entscheidende Rolle zugeschrieben. Da Guido in Gerhards Augen bei der Führung seines Griffels (stilus) die habena, den Zügel, locker lässt, kann die das aptum verletzende Ausdrucksweise eine Dominanz erlangen, die der materia ein Hervortreten kaum mehr erlaubt. So wird der falsche Ausdruck zur Belastung für die Sinnkonstitution (perspicuitas schwingt als Ideal hier unausgesprochen mit).²³ Weder die übertriebene abbreviatio anderer Autoren,²⁴ noch die superfluitas von Guido (so Gerhard) führen zum Ziel; vielmehr zielt Gerhards Programm auf einen idealen Mittelweg zwischen beiden.²⁵ Hier sind Marken im Spiel, die auch die volkssprachliche deutsche poetologische Diskussion nicht nur für die Antikenepen bestimmen: Stabilisierung eigener Register-Selektionen durch die (abwertende oder affirmative) Einschätzung der Selektionen der Vorgänger; und ein normatives Programm, das unnötige Sprachornamente (einschließlich amplificatio und dilatatio) als einer angemessenen Sinnstiftung abträglich ansieht. Dass sich ähnliche Positionen im volkssprachlichen Umgang mit antikem Material finden, lässt sich aus dem benachbarten Stoffgebiet der Alexanderdichtungen zeigen, etwa beim zeitlich nahestehenden Seifrit (um 1350) und seinem Verhältnis zu Ulrich von Etzenbach (um 1280). Die Diskussionslinien sind dabei deutlich. Es geht um die Manipulationen der Textur des Sagens, aber auch um Manipulationen der Textur des Verschweigens. Soweit sie den Ausdruck betreffen, werten diese Selbstreflexionen auch hier rhetorischen Ornat und die Amplifikation ab und sprechen sich emphatisch für Schlichtheit aus. Dabei werden Figuren der Auslassung hervorgehoben: Paralepse oder praeteritio, Unwissenheits- und Kürzungsformeln sowie abbreviatio und der fastidium-Topos spielen hier ein wichtige Rolle.²⁶ Auf der anderen Seite stehen allerdings Positionen, die rhetorisch gesuchten Schmuck emphatisch bejahen und damit teilhaben an jener gesteigert ornamentalen Schreibweise, die ein Charakteristikum der Epik des 13. Jahrhunderts ist. Wir greifen hier also eine explizite Thematisierung eines Gegensatzes, der in der Vorstellung einer blümenden Schreibweise im 13. Jahrhundert gegenüber neuen Formen einer gerafften chronikalischen Schreibweise des 14. Jahrhunderts einen sicherlich stark vereinfachten Niederschlag

23 Zur perspicuitas als Stilideal in hochmittelalterlicher deutscher Dichtung, v.  a. bei Gottfried von Straßburg, siehe Manfred Günter Scholz: Perspicuitas  – Gottfrieds Stilideal? In: Mittelalterliche Poetik in Theorie und Praxis. Fs. für Fritz Peter Knapp. Hrsg. von Thordis Hennigs u.  a., Berlin, New York 2009, S. 257–269, und die Beiträge von Klaus Grubmüller und Christoph Huber in diesem Band. 24 Diese weist Guido der Fassung des Cornelius Nepos zu; siehe Haye (Anm. 18), S. 468. 25 Haye (Anm. 18), S. 474. 26 Dies wurde bes. hervorgehoben von Hartwig Mayer: Topoi des Verschweigens und der Kürzung im höfischen Roman. In: Getempert und gemischet. Fs. für Wolfgang Mohr. Hrsg. von Franz Hundsnurscher/Ulrich Müller, Göppingen 1972 (GAG 65), S. 231–249.

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in literaturgeschichtliche Verlaufsordnungen gefunden hat, der aber trotz dieser Simplifizierung heuristischen Wert hat und sich, wie ich zeigen will, auch in den metapoetischen Kommentaren der Texte selbst nachvollziehen lässt.

III slehtez tihten gegen zâfen Diskussionen um die angemessene Ausdrucksweise, um abbreviatio und amplificatio oder dilatatio, bestimmen die Poetologie der mittelhochdeutschen Antikenepen wie auch die vieler anderer mittelhochdeutscher Epen und Romane.²⁷ Es ist also nicht der Fall, dass sich diese Epen im Sinne einer Gattungspoetologie von anderen mittelhochdeutschen Epen absetzen. Allerdings beziehen sie sich in ihren Diskussionen auf andere Texte des gleichen Stoffs und bilden so, mehr noch innerhalb der Reihe der Alexander- als der Trojaepen, Diskussionszusammenhänge aus. Ich werde eine solche Diskussion zunächst in einem intertextuellen Zusammenhang nachzeichnen, der von Seifrits Alexander auf Ulrichs von Etzenbach Alexander und letztlich auf Wolfram von Eschenbach zurückführt. Metaphorik und Gehalt der hier wichtigen Passagen werden im Sinne einer Poetologie der Oberfläche relevant. Es finden sich in der mittelhochdeutschen Antikenepik aber auch Modelle, die diese sehr einfachen poetologischen Erwägungen hinter sich zurücklassen. Dies gilt für Rudolfs von Ems historiographisch-quellenkritisches Argument in seinem Alexander und für das poetologische Modell im Prolog von Konrads von Würzburg Trojaroman, das die Tiefe der materia und die Notwendigkeit ihrer sprachlichen Ausschmückung in ein neues ästhetisches Verhältnis setzt. In Konrads Entwurf von meisterschaft und kunst lässt sich ein auffällig abgesetztes ästhetisches Modell entdecken: die Formulierung seiner Arbeit zwischen Autonomie und Heteronomie, Formeln von der geblüemten rede, die das Dichten emphatisch an die Notwendigkeit rhetorischer Schmückung anbinden, vor allem aber seine poetologische Umformung der Metaphorik von Tiefe und Oberfläche, die hier aber ganz neu gefasst und in ihrer Zielrichtung verändert ist. Zunächst zu einem einfacheren Fall: Seifrit, der wahrscheinlich österreichische Verfasser einer dem Lateinischen nacherzählten und 1352 vollendeten deutschen Alexanderdichtung, setzt an einer entscheidenden Stelle des Textes zu einem kurzen metapoetischen Kommentar an. Es geht um das von antiken und mittelalterlichen Autoren gerne zur großen literarischen Heerschau genutzte entscheidende Zusammentreffen des makedonischen und persischen Heeres. Seifrit gibt in sehr wenigen Versen kurze

27 Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, 2., überarb. und erw. Aufl., Darmstadt 1992; Franz Josef Worstbrock: Dilatatio materiae. Zur Poetik des Erec Hartmanns von Aue. In: FmSt 19 (1985), S. 1–30.

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Zahlenangaben zu den Heeren der Perser und Makedonen (Seifrit, Alexander, V. 2660– 2668).²⁸ Dann fährt er fort: das ich vil saget von der diett, wie vil yeglicher schar hiet, wie sich yeglicher hiet berait, oder wer yglichew schar laitt als Wolfram tet von Eschenpach, da prich ich mich nit nach, es wuerd zu lang und wer enwicht; ir erchennet doch chainen nit. (V. 2669–2676)

Der Kontext dieser Passage ist bedeutsam: Sie präludiert den ersten großen Kampf der griechischen gegen die persischen Armeen, der die translatio imperii von Darius auf Alexander einleiten wird, ein zentraler Punkt in der ideologischen Fundierung der Alexandergeschichte bei Seifrit.²⁹ Die auf den ersten Blick unscheinbare metapoetische Einlassung steht also an herausgehobener Stelle, ist aber bei näherem Hinsehen auch aufgrund ihres Aussagewerts für Fragen der formalen Materialpräsentation bemerkenswert. Zunächst ist sie eine eher konventionelle Selbstverpflichtung zur brevitas und ein Plädoyer gegen die Übermittlung von Information, mit der das in der zweiten Person Plural apostrophierte Publikum (ir) ohnehin nichts anfangen könne; aufgerufen wird also der fastidium-Topos.³⁰ Gleichzeitig aber, was viel wichtiger ist, enthält sie eine Kritik an Wolfram von Eschenbach als Vertreter der hier abgewiesenen Schreibweise. Auch wenn diese Kritik ebenso auf Wolframs Willehalm angewendet werden könnte, kann eigentlich kaum Zweifel bestehen, dass Seifrit sich hier auf den Alexanderroman Ulrichs von Etzenbach bezieht, weniger vielleicht aufgrund einer Verwechslung, wie Reinhard Pawis vermutet,³¹ als vielmehr weil er eine Handschrift der sogenannten schwäbischen Redaktion meint,³² in welcher Verweise auf Ulrich getilgt sind und der ohnehin als Stilvorbild bei Ulrich präsente Wolfram als ich Wolfrat von Eschenbach³³ zum Autor erklärt wird. Seifrits Distanzierung von einer Leitfigur der höfischen Epik korrespondiert mit dem in seiner var redt (Vorrede) dargelegten Minimalprogramm: In seinem Bemühen, seine Hauptquelle in deutschew wart zu tichten / und zu reym richten (V. 13  f.), verspricht Seifrit als ein getrewer ausleger (V. 26) nichts wegzulassen oder hinzuzufügen

28 Zitiert wird nach Seifrits Alexander. Aus der Straßburger Handschrift hrsg. von Paul Gereke, Berlin 1932, Nachdruck Hildesheim 2005 (DTM 36). 29 Rüdiger Schnell: Seifrits Alexander und die Reichspublizistik des späteren Mittelalters. In: DVjs 48 (1974), S. 448–477. 30 Zur Kürze als Ideal bei Seifrit siehe bes. Robert Schöller: Seifrits Alexander. Form und Gehalt einer historischen Utopie des Spätmittelalters, Wien 1997, S. 83–88. 31 Reinhard Pawis: Seifrit. In: 2VL 8 (1992), S. 1050–1055. 32 So auch Schöller (Anm. 30), S. 24, Anm. 6. 33 So in der Handschrift der Universitätsbibliothek Heidelberg, cpg 333.

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(V. 25). Der Prolog endet auf einer spezifischeren Note, in der er ebenfalls eine dunkle, ornat-orientierte Schreibweise ablehnt: ich wil auch mit spruchen spechen mein red alhie nit verwechen, ich will nichts darczue legen, nuer ains slechten tichtens phlegen. (V. 51–54)

Seifrit verpflichtet sich also einem Ideal des slechten tichtens und bringt slechte in Opposition zu den spruchen spechen, also der gesucht schwierigen Bildlichkeit (spæhe rede), die im 13. Jahrhundert, nicht zuletzt im Rahmen einer extensiven Wolfram-Rezeption, in Lyrik und Epik üblich ist und programmatisch begründet wird.³⁴ Seifrit lehnt sie ab, da sie die Rede verunstalte (verwæhen): Der semantische Gestus des Textes wird so vom Beginn an als der einer Chronik gekennzeichnet. Dazu passt die Bibelberufung in der Vorrede (die Alexandergeschichte kann wegen der einschlägigen Anspielung auf Alexander im Makkabäerbuch biblisch abgestützt werden: die wibel von im sait, V. 30). Indem er Ornament, Digression und Amplifikation ablehnt, stabilisiert sich der Text auch als Gegner der Gestaltung deutscher Vorgängertexte: chronikalische Knappheit wird gegen die amplifizierende Konstruktion und den schmückenden Gestus der höfischen Epik des 13. Jahrhunderts ausgespielt. Auch Ulrich von Etzenbach, auf dessen Text sich Seifrit wohl, wenngleich unwissentlich, bezieht, fundiert seine eigene Kunst im (allerdings emphatisch positiven) Bezug auf die Vorgänger. Ulrich entwickelt in seinen Prologen ein Inspirationsmodell, das dem Vorbild Wolframs im Willehalm-Prolog folgt, aber ein entscheidendes Element hinzufügt: Ulrich hofft auf Inspiration durch Gott und Wolfram von Eschenbach, schreibt sich daher in metapoetischen Kommentaren, aber auch durch seine allgemeine Technik in die deutsche Tradition ein und erklärt Wolfram unter anderem unter Verwendung des topischen leien munt gesprach nie baz (Ulrich von Etzenbach, Alexander, V. 127) zum Vorbild.³⁵ Auch wenn er keine explizit rhetorische Theorie dazu ausschreibt, ist Ulrichs 28.000 Verse langer Text von Amplifikation und der extremen Inklusion von Material geprägt.³⁶ Wenngleich Seifrits Kritik sich gegen Wolfram richtet und natürlich auch dessen überbordende Kämpfer-Kataloge im Wille-

34 Erich Kleinschmidt: Literarische Rezeption und Geschichte. Zur Wirkungsgeschichte von Wolframs Willehalm im Spätmittelalter. In: DVjs 48 (1974), S. 585–649. 35 Zitiert wird nach Ulrich von Eschenbach: Alexander. Hrsg. von Wendelin Toischer, Tübingen 1888 (StLV 183). 36 Markus Stock: Vielfache Erinnerung. Universaler Stoff und partikulare Bindung in Ulrichs von Etzenbach Alexander. In: Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbestimmung im Kontext literarischer Beziehungen. Hrsg. von Jan Cölln/Susanne Friede/Hartmut Wulfram, Göttingen 2000 (Literatur und Kulturräume im Mittelalter 1), S. 407–448; Elisabeth Lienert: Deutsche Antikenromane des Mittelalters, Berlin 2001 (Grundlagen der Germanistik 39), S. 62.

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halm im Blick haben könnte, rekurriert sie doch in einem spezifischeren Sinne auf Ulrichs Text. Seifrit bezieht sich hier nämlich ziemlich sicher auf denselben Ort im Handlungsfortgang in Ulrichs Alexander, also auch auf die Vorbereitungen zur Issos-Schlacht, konkret auf die Beschreibung der Schlachtenaufstellung bei Ulrich, die ein besonders pointiertes Beispiel der Amplifikation Ulrichs darstellt, ja fast 200 Verse einnimmt, wo Seifrit Schweigen für angemessener erklärt. Ulrichs Gestaltung zählt die Heerscharen auf und benennt die Anführer, Vasallen und deren spezielle Merkmale und Fähigkeiten in einer Weise,³⁷ die es leicht macht, die Aussage Seifrits direkt auf die parallele Stelle in Ulrichs/Wolframs von Etzen-/Eschenbach zu beziehen. Seifrits fast spöttische Wiederholung von yeglicher mit kleiner grammatischer Variation evoziert die wahrgenommene überflüssige Iteration der Rede. So disqualifiziert Seifrit die Aufzählung von jeglichem, von allem und jedem. Ulrich aber versteht seine literarische Technik als schmückende Amplifikation, wie in einer kleinen, aber bedeutsamen metapoetischen Digression deutlich wird. Im vorderen Teil seiner langen Aufzählung unterbricht er sich, um diese Technik zu benennen: diz mære wil ich noch zâfen / mit den werden, der ich wil nennen mêr (V. 4662  f.). Der Text akzentuiert die Vermehrung der genannten Adligen als schmückenden Zusatz: Es ist dies ein Beispiel des oft zu beobachtenden mittelhochdeutschen Verfahrens, dass Bezeichnungen ad hoc poetologisch aufgeladen werden können, auch wenn sie vor allem und dominant in nicht-poetologischen Zusammenhängen gebraucht werden. Es lohnt sich, etwas bei der von Ulrich von Etzenbach gewählten Bezeichnung zu bleiben. Der Vorsatz, mêr zu nennen, zielt darauf, ein Mehr an Information zu bieten, zu erweitern. zâfen allerdings weist diese Amplifikation als Schmuck aus: ‚oberflächlich schmücken‘, ‚zieren‘ ist die Kernsemantik dieses Wortes.³⁸ Meines Wissens ist dies der einzige Beleg dieses Wortes im poetologischen Kontext: Im Versuch, seine poetische Tätigkeit darin zu begründen, dass er alles, was über Alexanders Geschichte wissenswert sein könnte, einbezieht, greift Ulrich zu einem Wort für ‚schmücken‘, das sonst vor allem in der materialen Ausstattung von Menschen, besonders im Bereich der Kleidung, benutzt zu werden scheint. So zeigt sich vielleicht auch in der Wahl des kurzzeitig poetologisch aufgeladenen Wortes zâfen, dass Ulrich seine Inklusionstechnik auch als Schmuck, als Wort-Ausstattung versteht.

37 Ulrich von Etzenbach, Alexander, V. 4591–4770. 38 Der historischen Semantik von zâfen müsste weiter nachgegangen werden. Die Belege zeigen eine häufige Verbindung zu Kleidung und schmückender Ausstattung (siehe etwa die Verwendung bei Heinrich dem Teichner: Die Gedichte Heinrichs des Teichners. Hrsg. von Heinrich Niewöhner, 3 Bde, Berlin 1953–1956 [DTM 44; 46; 48]; die Belegstellen sind über das Register, Bd. 3 [1956], S. 421, leicht zu ermitteln); historisch ist also von einer Assoziationsnähe zu oberflächlichem Schmuck auszugehen.

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IV Komplexere Stilprogramme in der deutschen Antikenepik: Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg bieten vergleichsweise komplexere Modelle. Rudolfs Prologprogramm ruht auf drei Pfeilern.³⁹ In einem Katalog deutscher Epiker (zu Beginn des zweiten Buches, V. 3062–3298)⁴⁰ versichert er sich der deutschen Epentradition, die er sehr positiv darstellt und in die er sich mit eigenen Werktiteln einschreibt. Eine ziemlich genaue und akkurate Quellenkritik zu lateinischen Alexandertexten zeigt ein klares Bewusstsein über die Multiplizität des Traditionsfeldes und begründet in den Prologen zu Buch III und IV den Anspruch, in der Übertragung der Alexandervita modellbildend zu sein.⁴¹ Eine Kritik an früheren Bearbeitungen sowie Ratschläge an einen offenbar zeitgenössischen deutschen Überträger leiten Buch V ein: Deutsche Alexander-Bearbeiter werden aufgrund stilistischer Erwägungen und ihrer Lückenhaftigkeit disqualifiziert: so bezeichnet Rudolf die Dichtung des ersten bekannten deutschen Bearbeiters, Lamprecht, als nâch den alten sitn / stumpflîche, niht wol besnitn (V. 15783  f.). Einen dritten, Biterolf (nicht erhalten), kennt er nur vom Hörensagen und rät ihm, sich ähnlich wie er selbst mit den Quellen zu beschäftigen, das heißt, er empfiehlt sein eigenes Modell der Quellenbehandlung dem Verfasser einer zeitgenössischen, vielleicht konkurrierenden Alexander-Vita. Auch darin drückt sich der Anspruch auf Modellhaftigkeit aus. Er kritisiert weiterhin, dass es den Vorgängern auch an Vollständigkeit mangelt.⁴² Diese drei Pfeiler ermöglichen es Rudolf, sein Selbstverständnis zu formulieren: wan ich in tiutscher zungen wil / ein urhap dirre mære wesn (V. 15804  f.). Erwägungen der sprachlichen Gestaltung spielen bei Rudolf also eine Rolle, wichtiger aber ist, wie mit der Fülle der materia umzugehen sei: Eine philologisch-kritische Methode avant la

39 Ich fasse hier den Forschungsstand lediglich zusammen. Siehe bes. Silvia Schmitz: Die ‚Autorität‘ des mittelalterlichen Autors im Spannungsfeld von Literatur und Überlieferung. In: Autorität der/ in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Vorträge des Bonner Germanistentages 1997. Hrsg. von Jürgen Fohrmann/Ingrid Kasten/Eva Neuland, 2 Bde, Bielefeld 1999, Bd. 2, S. 465–483, hier S. 472–478; Stefanie Schmitt: Autorisierung des Erzählens in Romanen mit historischen Stoffen? Überlegungen zu Rudolfs von Ems Alexander und Konrads von Würzburg Trojanerkrieg. In: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Hrsg. von Beate Kellner/ Peter Strohschneider/Franziska Wenzel, Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 190), S. 187–201, hier S. 189–195. 40 Zitiert wird nach Rudolf von Ems: Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts, Hrsg. von Victor Junk, 2 Bde, Leipzig 1928 und 1929, Nachdruck Darmstadt 1970 (StLV 272; 274). 41 Die Argumentation wird über mehrere Buchprologe hinweg aufgebaut. 42 Dies ist auf Lamprecht (V. 15787) und Berchtolt von Herbolzheim (nicht erhalten) bezogen (V. 15779–15782).

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lettre soll sicherstellen, dass die durch Augenzeugenschaft beglaubigte Fassung die ihrem Wahrheitsgehalt entsprechende Rolle spielt. Konrads von Würzburg Trojanerkrieg geht einen anderen Weg.⁴³ Der im Prolog formulierte Anspruch des Textes, ein Herr aller Stoffe und aller Geschichten zu sein, ist sowohl begründet in der Exklusivität der Wortkunst – in wol gebluomter rede (V. 12) und im breiten (V. 303) des Stoffs – als auch in der Inklusivität des Quellenmaterials.⁴⁴ Während die Exklusivität im Prolog des fast 40.000 Verse zählenden Fragments explizit und in gesuchter Metaphorik ausgefaltet wird, gesteht der Autor der QuellenInklusivität keine solche ausdrückliche Würdigung zu: Er spricht allgemein von einer griechischen Quelle, der des Dares, von einer welschen und lateinischen Übersetzung dieses Augenzeugentextes (die Augenzeugenschaft ist spätantike Fiktion). Zentralen Stellenwert im Prolog hat die folgende metaphernreiche poetologische Passage: mîn sin der spannet unde dent dar ûf mit hôhem flîze, daz ich vil tage verslîze ob einem tiefen buoche, dar inne ich boden suoche, den ich doch vinde kûme. z’eim endelôsen pflûme, dar inne ein berc versünke wol, gelîchen man diz mære sol, des ich mit rede beginne. wil ich den grunt dar inne mit worten undergrîfen, sô muoz ich balde slîfen hie mîner zungen enker. mîn lob daz würde krenker, ob ich des hie begünde, daz ich mit rede niht künde z’eim ende wol gerihten. ich wil ein mære tihten, daz allen mæren ist ein her.

43 Zu seinem Prologprogramm bes. Elisabeth Lienert: Geschichte und Erzählen: Studien zu Konrads von Würzburg Trojanerkrieg, Wiesbaden 1996 (Wissensliteratur im Mittelalter 22), S. 17–29; Beate Kellner: daz alte buoch von Troye […] daz ich ez welle erniuwen. Poetologie im Spannungsfeld von ‚wiederholen‘ und ‚erneuern‘ in den Trojaromanen Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg. In: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Hrsg. von Gerd Dicke/Manfred Eikelmann/Burkhard Hasebrink, Berlin, New York 2006, S. 231–262, hier S. 246–261. 44 Zitiert wird nach: Konrad von Würzburg: Der Trojanische Krieg. Nach den Vorarbeiten K. Frommanns und F. Roths zum ersten Mal hrsg. durch Adelbert von Keller, Stuttgart 1858 (StLV 44). breiten bezieht sich hier wahrscheinlich auf amplificatio (‚ausbreiten‘; siehe Lienert [Anm. 43], S. 23), könnte aber auch ‚verbreiten‘ bedeuten; zu dieser Bedeutung siehe MWB I, Sp. 987.

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als in daz wilde tobende mer vil manic wazzer diuzet, sus rinnet unde fliuzet vil mære in diz getihte grôz. ez hât von rede sô wîten vlôz, daz man ez kûme ergründen mit herzen und mit münden biz ûf des endes boden kan. (V. 216–243)

Der Prolog evoziert hier das Bild des einsamen Dichters, der ob einem tiefen buoche (V. 219) seine Tage verschleiße. Es sollte bemerkt werden, dass von einem Buch die Rede ist, nicht von vielen Büchern, wobei Konrad in produktiver Unschärfe belässt, ob buoch hier einen Quellentext (dar inne ich boden suoche, V. 220, scheint darauf hinzudeuten) oder sein eigenes Werk meint. Wenig später wird die Metaphorik der Tiefe direkt auf das eigene Gedicht bezogen. Gleichzeitig aber beschreibt er sein getihte im Prolog als mer, in das vil mære rinnet unde fliuzet (V. 236–239). Dies impliziert Multiplizität der hier im Wortsinne als Zuflüsse verstandenen Quellen. Ein ähnliches Bild findet sich noch einmal am Ende des Prologs, wenn Konrad das erniuwen (V.  274) der Trojageschichte als ein Zusammenleimen eines alten, gebrochenen Buches ankündigt: den schranz (V. 276), also ‚Bruch‘, könne der Dichter mit rîmen (V. 278) wol gelîmen (V. 277). In der Tat, blickt man nun von der Programmatik zur Produktion, dann sieht man vor allem dies, Multiplizität der Quellen, die zusammengezogen und amalgamiert werden. Diesen Stücken stellt Konrad eine komplexe Kunstprogrammatik voran: Diese beginnt mit einer Zeitklage (Dichtkunst als Rarität, die nicht mehr gewürdigt werde) und einer vergleichenden Evaluierung der Dichtkunst gegenüber den Handwerken einschließlich des Ritterhandwerks. „Konrad führt den Trojanerkrieg primär als Formkunstwerk, nicht etwa als Geschichtsdarstellung ein.“⁴⁵ Er vergleicht sich mit der Nachtigall, die singt, ob sie jemand hört oder nicht: ob nieman lepte mêr, denn ich, doch seite ich unde sünge, dur daz mir selben clünge mîn rede und mîner stimme schal. (V. 188–191)

Dann führt Konrad das Thema des isoliert schaffenden Dichters in V. 216–221 weiter fort (siehe die weiter oben zitierte Passage). Das Bild des Dichters, der seine Tage über einem tiefen buoche verschleiße (V. 219), steht in direktem Zusammenhang mit der vorher beklagten Missachtung der Kunst und der (im Konjunktiv inszenierten) Autonomieerklärung des Künstlers in einer ihn umgebenden menschen- und damit

45 Lienert (Anm. 43), S. 28.

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publikumsleeren Welt. Die Isolierung des Dichters in seinem Tun ist hier wenigstens implizit angedeutet und stellt eine Parallele zum Singen ohne Publikum dar. Konrads Antwort auf die materia-Lage geht einen ganz anderen Weg als die Rudolfs für die nicht unähnlich gelagerte Situation in der Alexandertradition. Die Meermetapher ruft zunächst, worauf Elisabeth Lienert hingewiesen hat, das mare historiarum als chronistische Technik auf, in der Fülle der Geschichte aus einer Fülle von Geschichten erzeugt wird.⁴⁶ Beate Kellner ergänzt: Im Bild fungiert das Wasser als Substrat der Kontinuität und als Medium der Entgrenzung […]. Die gesamte Geschichte wird zu einem tiefen buoche (V. 219), das es zu ergründen gilt. Die Metapher von der Entgrenzung der Tradition im Meer der eigenen Geschichte passt zu dieser Poetik der Tiefe, gehört mit ihr zusammen.⁴⁷

Es geht hier, anders als bei Rudolf, nicht um Scheidung der Quellen, nicht um ihre Kritik. Wie verhält sich nun die Gestaltung der sprachlichen Oberfläche zu diesem Amalgamat, wie tut dies z.  B. die im Prolog vorher zur Selbstbeschreibung verwendete Bezeichnung der gebluomten rede, die terminologisch zwar nicht festgefügt ist, aber Signalwirkung aufweist? Lienert hat darauf hingewiesen: auch in der Ausführung verspricht er [Konrad] von rede sô wîten vlôz (V. 240). Summe der Geschichten – Welthaltigkeit der materia – und Fülle der rede – dilatatio der materia – sind im Grunde Voraussetzungen für Anspruch und Rang von Konrads getihte grôz (V. 239).⁴⁸

Der Prolog setzt mit zieren (V. 256), gebluomte rede (V. 12), breiten (V. 303) wichtige poetologische Marken, deren Wirkung sich auch im Text niederschlägt. Mit der Betonung der spæhe (V. 46) nimmt Konrad eine poetologische Position ein, die sich mit der Selbstisolierung des Dichters, aber genauso mit der gesuchten, ausgefallenen Bildlichkeit der blümenden Rede in Verbindung bringen lässt. Alle diese, und darauf kommt es mir an, sind poetologische Bezeichnungen, die eben gerade nicht eine Poetologie der Tiefe, sondern eine Poetologie der Oberfläche andeuten. Wie also ist das Verhältnis von Oberfläche und Tiefe, das hier bei Konrad so allusiv entworfen wird? Die ganz eigene Metaphorik verortet den Dichter an der Oberfläche des endelosen mære-Meeres, das sich kûme (V. 221) ergründen lässt: Die zentrale Metapher ist hier, dass er seine Zunge wie einen Anker schleifen lässt, um diesen superlativen Stoff, das aller grœste wunder, / daz von strîte ie wart vernomen (V. 13070  f.) zu undergrîfen (V. 227). Das deutet auf ein integrales Verständnis vom Verhältnis der Materie zur sprachlichen Verfasstheit im konkreten Text hin: es bedarf der außergewöhn-

46 Lienert (Anm. 43), S. 20  f. und S. 21, Anm. 122, mit weiterer Literatur. 47 Kellner (Anm. 43), S. 250. 48 Lienert (Anm. 43), S. 28.

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lichen sprachlichen Behandlung, um mit diesem qualitativ und quantitativ außergewöhnlichen Stoff umzugehen. Dabei geht es weniger um ein allenfalls potentielles „Problem der narrativ-prozessualen Sinnkonstitution angesichts eines überkomplexen Geschehens“.⁴⁹ Vielmehr artikuliert (und zeigt) Konrad Meisterschaft gerade in der Fähigkeit, dem endelôsen pflûme (V. 222), dem wunder […] von strîte (V. 13070  f.) mit einem Rede-Wunder entgegenzutreten. Diese Fähigkeit reflektiert Konrad poetologisch und setzt sie poetisch um. Er bedient sich bei der Formulierung des rhetorischen Oberflächen-Tiefen-Modells, das die Tradition vorgibt, deutet es aber in so origineller Metaphorik um, dass er neue poetologische Ausdrucksmöglichkeiten erschließt und in der poetologischen Sprache selbst die Leistungsfähigkeit spæher rede unter Beweis stellt.

V Form, Oberfläche und Metapher Die poetologischen Entwürfe, die im Zentrum dieser Fallstudie standen, sind historische Zeugnisse eines reading for form in ebenjenem Doppelsinne, den der New Formalism anpeilt: als auf die Form zielende Rede und als Sorge um die Form. In allen Fällen bedienen sich die mittelalterlichen Autoren der traditionellen Dichotomie von Form/Oberfläche gegenüber materia/Tiefe/Wahrheit. Dieser Befund kann für sich genommen kaum überraschen. Bedeutsamer dagegen ist, wie sich auf der Grundlage dieser Dichotomie teilweise ad hoc volkssprachliche Metaphoriken der Form herauskristallisieren, die noch nicht terminologisch verfestigten Charakter haben, also noch keine ‚Begriffe‘ sind, aber doch mehr als lediglich ‚Bezeichnungen‘.⁵⁰ Hier deutet sich ein Projekt an, das man in Anlehnung an Hans Blumenberg⁵¹ als eine ‚Historische Metaphorologie poetologischer Entwürfe‘ bezeichnen könnte. Denn eine solche Metaphorologie könnte den Blick einer historischen Textwissenschaft genau auf die Lücke zwischen Bezeichnung und Begriff sowie zwischen poetischer Sprache und metapoetischer Aussage lenken. Ein solches Projekt könnte die Spannungen zwischen dem bezeichnenden und dem begrifflichen Charakter einer ad hoc auftretenden metapoetischen Verwendung von Worten wie zâfen ausloten. Es könnte auch den irreduziblen Charakter komplexerer poetologischer Metaphernfelder wie z.  B. des Meeres im Prolog des Trojanerkriegs von Konrad von Würzburg erfassen, ohne zu unterschlagen, dass es genau das Rede-wunder und die Wortkunst sind, die es einer

49 Hartmut Bleumer: Zwischen Wort und Bild: Narrativität und Visualität im Trojanischen Krieg Konrads von Würzburg (Mit einer kritischen Revision der Sichtbarkeitsdebatte). In: Zwischen Wort und Bild. Wahrnehmungen und Deutungen im Mittelalter. Hrsg. von Hartmut Bleumer u.  a., Köln, Weimar, Wien 2010, S. 109–156, hier S. 112. 50 Wichtige Beiträge zu dieser Forschungsfrage bietet der Band „Im Wortfeld des Textes“ (Anm. 43). 51 Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a. M. 1997.

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solchen Poetologie überhaupt ermöglichen, eine Selbst-Beschreibung der Poetik zu liefern. Doch ‚Beschreibung‘ wäre hier bereits schon zu ‚logisch‘: man könnte eher von einer metaphorisch-poetologischen ‚Begleitung‘ des Trojanerkriegs sprechen.

Esther Laufer

Das Kleid der triuwe und das Kleid der Dichtung mære erniuwen als Verfahren stilistischer Erneuerung bei Konrad von Würzburg Das Verb (er)niuwen wird in der Forschung immer wieder als poetologische Programmvokabel mittelalterlicher Retextualisierungspraxis aufgerufen.¹ Sowohl in der Form erniuwen als auch in der Variante niuwen bezieht es sich notwendig auf ein Akkusativobjekt, so dass ihm die zweipolige Spannung zwischen etwas Vorgängigem bzw. Altem und dem daraus erzeugten Neuen, im Sinne einer wechselseitigen Implikation von Wiederholung und Transformation, Identität und Differenz bereits inhärent ist. Damit ist der Begriff des Erneuerten grundsätzlich vom Begriff des Neuen in einem absoluten, originalen Sinne unterschieden und scheint daher besonders geeignet, Prozesse des Wiedererzählens, der Neufassung vorgegebener Stoffe oder bestimmter Textvorlagen zu bezeichnen. Diese poetologische Bedeutung erhält das vorwiegend in anderen Zusammenhängen verwendete Verb jedoch nur dann, wenn es sich auf das Akkusativobjekt mære bezieht.² Akustisch ähnelt dieser Verbund dem mit großem Abstand häufigeren Phraseologismus des niuwen mære bzw. dem Kompositum niumaere, unterscheidet sich von diesen aber essentiell in Bezug auf die oben beschriebene Differenz zwischen dem absolut Neuen und dem Erneuer-

1 Siehe z.  B. Dorothea Klein: Zwischen Abhängigkeit und Autonomie: Inszenierungen inspirierter Autorschaft in der Literatur der Vormoderne. In: Inspiration und Adaptation. Tarnkappen mittelalterlicher Autorschaft. Hrsg. von Renate Schlesier/Beatrice Trînca, Hildesheim 2008 (Spolia Berolinensia 29), S. 15–39, hier S. 16: „das programmatische Leitwort für die Neugestaltung überkommener Sujets ist erniuwen“; außerdem Franz Josef Worstbrock: Dilatatio materiae. Zur Poetik des Erec Hartmanns von Aue. In: FmSt 19 (1985), S. 1–30, hier S. 1. Unter dem Stichwort des „Erneuerns“ diskutiert das Thema des Wiedererzählens auch Burkhard Hasebrink: Die Ambivalenz des Erneuerns. Zur Aktualisierung des Tradierten im mittelalterlichen Erzählen. In: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Fs. für Jan-Dirk Müller. Hrsg. von Ursula Peters/Rainer Warning, München 2009, S. 205–217. Zum Terminus der „Retextualisierung“ als wertfreiem Oberbegriff für die sehr heterogenen Phänomene literarischer Bearbeitung von Vorgängigem im Mittelalter siehe die Einleitung in: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Joachim Bumke/Ursula Peters. ZfdPh 124 (2005), Sonderheft, S. 1–5. 2 Besonders häufig wird das Verb gebraucht, um das erneute bzw. wiederholte Aufbrechen alter, so gut wie immer negativer Emotionen (kumber, jâmer, trûren, clagen, [herze-]leit, haz) oder das Wiedererstarken von Kampfeskraft auszudrücken. Daneben bezeichnet es auch Prozesse religiöser Erneuerung, etwa durch Taufe oder Beichte. Dies sind auch Verwendungskontexte, in denen alternativ das Adjektiv niuwe gebraucht wird. Vgl. die Belege (erniuwen, niuwe) der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank.

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ten.³ Dabei ist vorstellbar, dass die seltenere Konstruktion sich auf die ältere und geläufigere bezieht, um eben diesen Unterschied zu akzentuieren. Abgesehen von der Grundbedeutung des literarischen Erneuerns eines präexistenten Stoffes oder einer bestimmten Vorlage, die das Wort (er)niuwen in Bezug auf mære bekommen kann,⁴ fällt es allerdings schwer, seinen semantischen Gehalt im Sinne eines bestimmten Retextualisierungsverfahrens weiter zu spezifizieren. Der erste Beleg in einem poetologischen Kontext findet sich in Wolframs Parzival-Prolog. Dort heißt es: ein mære wil i’u niuwen, daz seit von grôzen triuwen, wîplîchez wîbes reht, und mannes manheit alsô sleht, diu sich gein herte nie gebouc. (4,9–13)⁵

Es wäre nun sicherlich unangemessen, die Bedeutung von niuwen mit dem durch Quellenforschung (noch immer nicht abschließend) rekonstruierten tatsächlichen Retextualisierungsverfahren Wolframs gleichzusetzten.⁶ Gerade am Beispiel der pro-

3 niuwe mære bezeichnet gewöhnlich eine Neuigkeit auf Ebene der histoire. In seltenen Fällen kann der Ausdruck aber auch poetologisch selbstreflexiv gebraucht werden, in Dietrichs Flucht vermutlich in programmatischer Abgrenzung zu den alten mæren des Nibelungenlieds: Welt ir nu hoͣren wuͦnnder, / so verkúnde ich euch besonder / die starchen newen maͣre. / Last euch nicht wesen schwaͣre, / ob ich euch sage die warhait / (das habt nicht verlait) (Dietrichs Flucht. Textgeschichtliche Ausgabe. Hrsg. von Elisabeth Lienert/Gertrud Beck, Tübingen 2003 [Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 1] V. 1–6). Anders als das mære erniuwen wirft der poetologische Gebrauch von niuwe mære allerdings Fragen in Bezug auf den Wahrheitsanspruch der so bezeichneten Erzählung auf. So zieht Elisabeth Lienert: Dietrich contra Nibelungen. Zur Intertextualität der historischen Dietrichepik. In: PBB 121 (1999), S. 23–46, hier S. 33, in Erwägung, „ob die niuwen maere […] nur neu hinzuerfundene, nicht durch Sagentradition abgedeckte Fabeln meinen“. Auch die poetologische Verwendung von niwe mær bzw. sage durch Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich. Hrsg. von Ernst Regel, Berlin 1906 (DTM 3), V. 975–983; V. 3697; V. 18663, vgl. auch V. 1451 und V. 1507, ist in dieser Hinsicht interessant. Zur Selbstdarstellung Johanns, der historische Elemente sehr frei mit literarischen Motiven zu einer neuen Geschichte kombiniert, siehe Cora Dietl: Minnerede, Roman und historia. Der Wilhelm von Österreich Johanns von Würzburg, Tübingen 1999 (Hermaea N. F. 87) S. 93–111, die argumentiert, Johann präsentiere sich in vielen Erzählerbemerkungen nicht nur als Bearbeiter, sondern auch als Erfinder der âventiure. 4 Dies ist keineswegs die einzige Bedeutung, die dieser Ausdruck hat. Wenn Heinrich von dem Türlin ankündigt: Die mere ich ùch hernùwen wil, / Da von ich vor han geseit (Die Krone [V. 12282–30042]. Nach der Handschrift Cod. Pal. germ. 374 der Universitätsbibliothek Heidelberg nach Vorarbeiten von Fritz Peter Knapp und Klaus Zatloukal hrsg. von Alfred Ebenbauer/Florian Kragl, Tübingen 2005 [ATB 118], V. 12611  f., vgl. auch V. 13021  f.), bezeichnet er damit nicht etwa ein Verfahren der Retextualisierung, sondern das Wiederaufgreifen eines Erzählstrangs. 5 Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns rev. und komm. von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, 2 Bde, Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8,1–2). 6 Einen Überblick der Forschungsgeschichte mit Auswahlliteratur liefert Joachim Bumke: Wolf-

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blematischen Quellenberufungen des Parzival zeigt sich ja bekanntermaßen, dass grundsätzlich immer mit erheblichen Differenzen zwischen der eigentlichen Praxis der Retextualisierung und den poetologischen Selbstaussagen der Dichter zu rechnen ist. Ebenso wenig kann es an dieser Stelle darum gehen, die vieldeutige und schwer verständliche poetologische Metaphorik Wolframs im Sinne einer differenzierten Beschreibung seines Retextualisierungsverfahrens zu interpretieren. Es wäre auch verfehlt, das Bild des hakenschlagenden Erzählens im Prolog mit den weitverstreuten Äußerungen zu Erzählweise und zum Vorlagenbezug im gesamten Text, mit dem Bogengleichnis (241,8–30), dem parrierten Erzählen (281,21  f.), dem geheimnisvollen Gewährsmann Kyot und der polemischen Wendung gegen die Buchgelehrsamkeit (115,21–116,4) zu einer Theorie der Retextualisierung zusammenzustellen, um diese dann retrospektiv als Bedeutung von mære niuwen anzusetzen. Ganz im Gegenteil geht es Wolfram, der im Prolog weder seinen eigenen Namen noch die Quellen seines mære nennt, offensichtlich gerade nicht um feste Bestimmungen, die sich etwa an die gelehrte Terminologie der lateinischen Poetiken anschließen ließen.⁷ Das bedeutet keinesfalls, dass das semantisch relativ offene Wort durch Wolframs Metaphern nicht gefüllt würde. Durch den vielschichtigen und bildhaften Prolog gewinnt der Rezipient sicherlich einen gewissen Eindruck, auf welche Art erneuernden Erzählens er sich einzustellen hat,⁸ allerdings bleibt diese Darstellung assoziativ und gewinnt keine deskriptive Schärfe, die sich als spezifische Methode des Wiedererzählens in bestimmten Bearbeitungsschritten identifizieren ließe. In diesem Sinne erweist sich gerade die semantische Offenheit des Verbs niuwen für Wolfram als produktiv, insofern sie solchen assoziativen Bedeutungsaufladungen Raum bietet.⁹ Mit Blick auf die

ram von Eschenbach. 8., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart, Weimar 2004 (Sammlung Metzler 36), S. 237–247. 7 Vgl. dazu Bumke (Anm. 6), S. 204. Siehe außerdem die Diskussion der poetologischen Aussagen im Parzival bei Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. 2. überarb. und erw. Aufl., Darmstadt 1992, S. 159–178, der die interpretatorischen Schwierigkeiten reflektiert, ohne den „sich überstürzenden Bildern“ (S. 164) ihre Aussagekraft und kohärente Deutbarkeit grundsätzlich abzusprechen. Zu Wolframs intrikatem Spiel mit Quellenberufungen und weiteren poetologischen Äußerungen siehe außerdem Beate Kellner: ein mære wil i’u niuwen. Spielräume der Fiktionalität in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters (Anm. 1), S. 175–203, die diese als Fiktionalitätssignale interpretiert, durch die Wolfram die Kategorie des Wiedererzählens aufruft, um sie dann jedoch zu konterkarieren. 8 Bumke (Anm. 6), S. 205: „Das sprunghafte Erzählen im Parzival, von dem im Prolog die Rede war, kann als ein Gegenprogramm zur Stillehre der Schulpoetik verstanden werden.“ Siehe außerdem Kellner (Anm. 7), die sowohl die Äußerungen im Prolog als auch das Bogengleichnis als Verweise auf Wolframs paradigmatische Erzähltechnik, das komplizierte Geflecht von Korrespondenzen, das den linearen Erzählverlauf überlagert, liest. 9 Vgl. dazu Beate Kellner: daz alte buoch von Troye […] daz ich ez welle erniuwen. Poetologie im Spannungsfeld von ‚wiederholen‘ und ‚erneuern‘ in den Trojaromanen Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg. In: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von

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weitere poetologische Karriere des Wortes lässt sich außerdem feststellen, dass Wolframs okkasionelle und assoziative semantische Aufladung, so bekannt die Textstelle auch gewesen sein mag, sicherlich zu sperrig ist, um eine weiterhin verbindliche Terminologisierung von niuwen zu bewirken. Die poetologische Grundbedeutung von mære (er)niuwen ,eine vorgegebene Geschichte literarisch erneuern‘ wird nicht weiter spezifiziert. Das zeigt sich auch am zweiten poetologischen Beleg im Prolog von Strickers Karl, wo das Verb, hier in der Variante erniuwen, ganz anders gefüllt wird. Im Gegensatz zur Verwendung im Parzival-Prolog ist es hier eng mit der Selbstnennung des Strickers verbunden. Zudem wird die dem Verb implizite Zweipoligkeit durch die Charakterisierung des mære als alt deutlich akzentuiert: Diz ist ein altez mære. nu hât ez der Strickære erniuwet durch der werden gunst, die noch minnent hovelîche kunst: den sol hie mite gedienet sîn. (V. 115–119)¹⁰

Der Stricker verfasst seine Dichtung auf Grundlage des Rolandslieds des Pfaffen Konrad, das er stilistisch durch reine Reime, gleichmäßigere Verse sowie einen „flüssigeren Sprachstil“ modernisiert bzw. „nach dem Muster der höfischen Epik“ umformt.¹¹ Darüber hinaus verändert er die Darstellung von Christen und Heiden, kürzt einige Motive und Szenen heraus und ergänzt weitere Motive aus der Karls- und Rolandssage, die in seiner Hauptquelle nicht enthalten sind.¹² Mit seinen Einlassungen im Prolog stimmt diese Bearbeitungsweise, die durchaus mit den Lizenzen der Retextualisierung (vs. Erfindung) vereinbar ist, nur teilweise überein. Er erklärt, dass der Stoff der Heldentaten Karls so umfangreich sei, dass man ein Buch, das sie alle enthielte, selbst in einem halben Jahr nicht vorlesen könnte. Aus diesem Grund möchte er selbst nur eine kurze Darstellung verfassen (V. 51–69). Er richtet sich an ein Publikum, das hovelîche kunst zu schätzen weiß, was als Ankündigung einer Erneuerung im oben

Rede und Schrift im Mittelalter. Hrsg. von Gerd Dicke/Manfred Eikelmann/Burkhard Hasebrink, Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10), S. 231–262, hier S. 240, die ein ähnliches Argument in Bezug auf die Offenheit mittelhochdeutscher poetologischer Begriffe am Beispiel der Verwendung von sin durch Herbort von Fritzlar entwickelt: „Jene semantische Beweglichkeit können sich […] gerade poetische Texte zunutze machen, da sie ihre Themen nicht nach Art von Traktaten entfalten und fertige Lösungen anbieten, sondern vielfach in Aporien münden und Probleme in der Schwebe halten.“ 10 Der Stricker: Karl der Große. Hrsg. von Karl Bartsch, Quedlinburg, Leipzig 1857 (Bibl. d. ges. dt. Nat.-Lit. 35); siehe auch die Edition des Prologs von Johannes Singer: Der Eingang von Strickers Karl dem Grossen. Text und Anmerkungen. In: ZfdPh 93 (1974), S. 80–107, der zufolge Hs. C. der Tihtaere statt der Strichere hat (Hs. K). 11 Karl-Ernst Geith/Elke Ukena-Best/Hans-Joachim Ziegeler: Der Stricker. In: 2VL 9 (1995), Sp. 417–449, hier Ziegeler, Sp. 420. 12 Zu den weiteren Quellen siehe Ziegeler (Anm. 11), Sp. 421.

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beschriebenen höfischen Stil verstanden werden könnte, unter Ausblendung des Wissens um die tatsächliche Form der Bearbeitung allerdings ebenso gut als Charakterisierung des zu Grunde liegenden alten mære gelesen werden kann. Ob der Stricker sein niuwen als Bearbeitung einer bestimmten Vorlage oder als Bearbeitung des in mehreren Quellen überlieferten Karlsstoffes versteht, muss auf Grund der Polysemie von mære ebenfalls offen bleiben.¹³ Mit diesen beiden Positionen ist die Geschichte von (er)niuwen als Bezeichnung eines Retextualisierungsverfahrens vor Konrad von Würzburg bereits vollständig.¹⁴ Die poetologische Bedeutung ergibt sich bei beiden Belegen jeweils okkasionell aus dem syntaktischen Bezug auf mære und wird durch den weiteren pragmatischen Kontext auf jeweils unterschiedliche Weise semantisiert. In keinem der Fälle kann man dabei von einer definitorischen Semantisierung im Sinne eines spezifischen Retextualisierungsverfahrens sprechen. Allein die Seltenheit der Belege für die Verbindung mit mære spricht schon dagegen, dass es sich bei (er)niuwen um ein Wort mit usueller und fest umrissener poetologischer Bedeutung handelt. Eine solche Terminologisierung wäre zudem auch im Spektrum anderer mittelhochdeutscher poetologischer Worte ungewöhnlich, da diese sich ins-

13 Laut Christoph Huber: Wort- und Bildnetze zum Textbegriff im nachklassischen mittelhochdeutschen Roman (Rudolf von Ems, Konrad von Würzburg). In: Im Wortfeld des Textes (Anm. 9), S. 263–285, hier S. 269, bewegt sich mære im Begriffsfeld „zwischen Geschehen und Geschichte, zwischen Stoff und konkretem Erzähltext, zwischen Erzähltradition und bestimmter Quelle, ja materialer Vorlage“. Zwar bezieht sich der Stricker einige Verse zuvor auf diu buoch, die von Karls Heldentaten erzählen, aber es wird nicht deutlich, ob er damit auf die Vielzahl seiner Vorlagen Bezug nimmt, zumal die Verwendung von Plural bei buoch nicht immer aussagekräftig ist. Vgl. dazu Klaus Grubmüller: Das buoch und die Wahrheit. Anmerkungen zu den Quellenberufungen im Rolandslied und in der Epik des 12. Jahrhunderts. In: bickelwort und wildiu mære. Fs. für Eberhard Nellmann. Hrsg. von Dorothee Lindemann/Berndt Volkmann/Klaus-Peter Wegera, Göppingen 1995 (GAG 618), S. 37–50. 14 Auch denkbare Formulierungsvarianten des Konzepts literarischer Erneuerung unter Verwendung des Adjektivs niuwe spielen kaum eine Rolle in den poetologischen Äußerungen der mittelhochdeutschen Epik. Die wenigen mir bekannten Ausnahmen werden in diesem Aufsatz berücksichtigt. Zu nennen sind außerdem noch Heinrich von Neustadt, der seine Anticlaudianus-Adaptation folgendermaßen vorstellt: Diz buch sol nach nuͦwer hant / ‚Gotes zukuͦnft‘ sin genant (Heinrich von Neustadt: Apollonius von Tyrland nach der Gothaer Handschrift, Gottes Zukunft und Visio Philiberti nach der Heidelberger Handschrift. Hrsg. von Samuel Singer, Berlin 1906 [DTM 7], V. 61  f.), sowie die poetologische Verwendung des Wortes niuwe in der Frauenehre des Strickers. Dort beklagt der Dichter sich in einem Dialog mit dem eigenen Herzen, dass das niugerne Publikum ein mære bereits nach zwei- bis dreimaligem Hören satt habe und es ihm alt und ungenæme erscheine. Das Herz deutet diese Neuigkeitssucht dann als Vorteil um, der es dem Dichter erlaube, auch angesichts einer unüberbietbaren literarischen Tradition weiter zu dichten. Zuletzt schlägt es ihm vor, sich das alte und vielfach variierte Thema des Frauenpreises vorzunehmen (Strickers Frauenehre. Überlieferung, Textkritik, Edition, literaturkritische Einordnung. Hrsg. von Klaus Hofmann, Marburg 1976, V. 1–180). Auch in der Liedlyrik wird das Adjektiv niuwe auf poetologische Weise gebraucht, die ebenfalls Strukturen von Wiederholung und Variation impliziert, allerdings führt diese Verwendung doch in andere Zusammenhänge und soll daher in diesem Beitrag ausgeklammert bleiben.

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gesamt eher durch eine vortheoretische Unschärfe auszeichnen, was allerdings, wie gesagt, nicht als Defizit gewertet werden sollte.¹⁵ Auch lassen sich aus dem überaus breiten Spektrum der tatsächlichen Retextualisierungsverfahren der mittelhochdeutschen Dichter keine allgemeingültigen Regeln im Sinne verbindlicher Arbeitsschritte ableiten.¹⁶ Selbst die lateinischen Poetiken setzen unterschiedliche Schwerpunkte für die Bearbeitung der materia.¹⁷ Im weiteren Verlauf dieses Aufsatzes soll es nun darum

15 Siehe dazu auch die Beiträge in dem Band „Im Wortfeld des Textes“ (Anm. 9), insbesondere die Einleitung der Herausgeber, S. 1–12. Zur allgemeinen Problematik einer mittelalterlichen, volkssprachlichen Literaturtheorie siehe Rüdiger Brandt: Konrad von Würzburg, Darmstadt 1987 (Erträge der Forschung 249), S. 196, der davor warnt, einzelne poetologische Äußerungen mittelhochdeutscher Dichter über den jeweiligen Werkkontext hinaus zu generalisieren und zu einer Literaturtheorie zusammenzustellen; Christian Kiening: Freiräume literarischer Theoriebildung. Dimensionen und Grenzen programmatischer Aussagen in der deutschen Literatur des 12. Jahrhunderts. In: DVjs 66 (1992), S. 405–449, hier S. 406  f., stellt klar, er benutze die Bezeichnung „Literaturtheorie“ in Bezug auf das 12. Jahrhundert nicht im Sinne einer „systematische[n] Diskursform“, sondern lediglich „im Sinne unsystematischer poetologischer Aussageformen im Medium der Dichtung selbst“ und warnt davor, sie ins System zeitgenössischer lateinischer Poetik und Rhetorik zu zwingen; außerdem Sabine Obermaier: Von Nachtigallen und Handwerkern. ‚Dichtung über Dichtung‘ in Minnesang und Sangspruchdichtung, Tübingen 1995 (Hermaea N. F. 75), S. 15, die die Eigenart volkssprachlicher Poetologie ähnlich charakterisiert und zudem betont, dass ihre Besonderheit gerade im freien Umgang mit metaphorischen Ausdrucksweisen liege. 16 Zur Bandbreite mittelhochdeutscher Retextualisierungspraxis, die von Übersetzung (Prosa-Lancelot) über konzeptionelle, stilistische und strukturelle Umarbeitung (Wolfram von Eschenbach: Willehalm) und Kompilation aus verschiedenen Quellen eines Stoffkreises (Rudolf von Ems: Alexander; Konrad von Würzburg: Trojanerkrieg) bis zur Neudichtung aus bekannten Motivversatzstücken (Der Stricker: Daniel; Ulrich von dem Türlin: Arabel) reicht, siehe Joachim Bumke: Retextualisierungen in der mittelalterlichen Literatur, besonders in der höfischen Epik. Ein Überblick. In: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur (Anm. 1), S. 6–46, der auch weitere Bearbeitung durch Redaktoren, Bearbeiter, Fortsetzer etc. berücksichtigt. 17 Galfred von Vinsauf eröffnet seine einflussreiche Poetria nova mit einem kurzen Kapitel über die Anordnung des Stoffes (dispositio) auf chronologische (ordo naturalis) oder die von ihm bevorzugte künstliche Weise (ordo artificialis), bevor er sich seinen sehr viel ausführlicheren Erklärungen zur sprachlich-stilistischen Gestaltung des Stoffes (elocutio) zuwendet, zu der auch die Mittel der amplificatio und abbreviatio gezählt werden können. Sein Vorgänger Matthäus von Vendôme hingegen beschäftigt sich zu Beginn seiner Ars versificatoria lediglich mit der Art des angemessenen Texteingangs, für die er unterschiedliche rhetorische Figuren (Zeugma, Hypozeuxis, Metonymie) oder den Einstieg über ein Sprichwort empfiehlt. Er warnt sowohl vor einem zu einfachen als auch vor übermäßig pompösem Stil und bespricht Aspekte von Tempus und Syntax, ohne sich Fragen der makrostrukturellen Textgliederung zu widmen. Beide Poetiken in: Les Arts Poétiques du XIIe et du XIIe siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du Moyen Âge. Hrsg. von Edmond Faral, Paris 1924. Zum unsicheren Status des officiums der dispositio, das in Bezug auf seinen konzeptionellen Status häufig als Unterkategorie der inventio oder in Bezug auf die Satzordnung (compositio) auch als Teilbereich der elocutio verstanden wurde, und dessen theoretische Behandlung im Vergleich zur inventio und elocutio eine untergeordnete Rolle spielte, siehe L. Caboli Montefusko u.  a.: Dispositio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding, 10 Bde, Tübingen 1992–2012, Bd. 2 (1994), Sp. 831–866.

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gehen, zu analysieren, welches Konzept von Retextualisierung sich bei Konrad von Würzburg mit dem Ausdruck mære erniuwen verbindet. Die These lautet, dass der semantisch relativ offene Ausdruck sowohl im Prolog des Engelhard als auch im Prolog des Trojanerkriegs okkasionell und jeweils implizit mit der Bedeutung einer primär stilistisch-elokutionären Erneuerung eines alten Stoffes bzw. einer alten Vorlage aufgeladen wird. Ich orientiere mich in diesem Beitrag also an einem rhetorischen Stilbegriff, der sich auf die sprachliche Gestaltung eines Inhalts bzw. das officium der elocutio bezieht.¹⁸ Eine allgemeinere Definition von Stil als Form einer dichterischen Äußerung gegenüber ihrem Inhalt wäre für meine Zwecke nicht praktikabel. Denn obwohl dem Mittelalter solche Trennungen, die sich beispielsweise in der Opposition materia  – artificium fassen lassen, die in etwa der modernen Unterscheidung von histoire und discours entsprechen, bekannt sind,¹⁹ sind sie nicht geeignet, um unterschiedliche Aspekte der Retextualisierung einer materia, etwa die dispositio und die elocutio, zu differenzieren.

I Engelhard Der Begriff des Erneuerns wird prominent bereits in den ersten beiden Versen des Engelhard eingeführt. Schon dort verbindet er sich mit dem Leitthema des gesamten Romans zu der markanten Reimformel triuwe  – niuwe, die im weiteren Verlauf des Prologs und am Einsatz der Handlung auf programmatische Weise wiederholt und variiert wird. Zudem wird die Erneuerung der zentralen Tugend bereits in diesen Versen aufs Engste mit ihrer literarischen Vermittlung verknüpft: Ein mære wære guot gelesen, / daz Triuwe niuwe möhte wesen (V. 1  f.).²⁰ Der Statusverlust der personifizierten triuwe, der durch die Missachtung der Gesellschaft für den von ihr verkörperten Wert begründet ist, manifestiert sich darin, dass ihr vormals prächtiges Gewand seinen Glanz verloren hat: ir liehten kleider leider blint durch valschen orden worden sint.

18 Vgl. dazu beispielsweise Heike Mayer: Stillehre, Stilistik A. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik (Anm. 17), Bd. 9 (2009), Sp. 1–7. Zur Kategorie des Stils in mediävistischer Perspektive siehe außerdem Jens Haustein: Mediävistische Stilforschung und die Präsenzkultur des Mittelalters. Mit einem Ausblick auf Gottfried von Straßburg und Konrad von Würzburg. In: Textprofile stilistisch. Beiträge zur literarischen Evolution. Hrsg. von Ulrich Breuer/Bernhard Spies, Bielefeld 2011 (Mainzer historische Kulturwissenschaften 8), S. 43–60. 19 Vgl. Gert Hübner: evidentia. Erzählformen und ihre Funktionen. In: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland/Matthias Meyer, Berlin, New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 119–147, hier S. 121. 20 Konrad von Würzburg: Engelhard. Hrsg. von Ingo Reiffenstein, 3., neubearb. Aufl. der Ausgabe von Paul Gereke, Tübingen 1982 (ATB 17).

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ûz wünneclicher wæte, die si vor zîten hæte, gezogen ist diu stæte durch valscher liute ræte. (V. 3–8)

Das entstellte Gewand einer Personifikation als Metapher für den Missbrauch oder die Missachtung des durch sie repräsentierten Werts entstammt der gelehrten Tradition. So hat das kostbare Kleid der Philosophie in Boethius’ Consolatio seinen Glanz verloren und wurde von den Händen der anmaßenden Epikureer und Stoiker zerrissen, die das Erbe des Sokrates antreten und sich unberechtigterweise mit dem Kleid der Philosophie schmücken wollten.²¹ Im Engelhard zeigt sich der Verlust an Achtung für die triuwe allerdings auch unmittelbar am Körper der Personifikation. Ihre vormals rosigen Wangen sind nun blass, ihre glänzende Schönheit ist dahin: ir varwe garwe siuberlich von swachen sachen trüebet sich. ir lop kan üeben trüeben glast: si wil ûf erden werden gast. ir rœselehten wangen mit bleiche sint bevangen. wen sol nâch ir belangen? ir schœne ist gar zergangen. (V. 9–16)

Sichtbar ausgehungert bettelt sie um minderwertiges Brot und muss sich auf der Straße herumtreiben, da niemand ihr mehr Unterkunft geben möchte (V. 130–137).²² Das erklärte Ziel Konrads ist es nun, die triuwe wieder in den ihr angemessenen Stand hoher Würde zu versetzen: künd ich ir lobes trüeben schîn ze liehte wider bringen, dar nâch sô wolte ich ringen alsam ein triuwe gernder man. (V. 144–147)

21 Anicius Manlius Severinus Boethius: De consolatio philosophiae. Opuscula theologica. Hrsg. von Claudio Moreschini, München, Leipzig 2000 (Bibliotheca Teubneriana), I, P1, P3. Vgl. auch die Aufnahme des Motivs durch Alanus ab Insulis: De planctu natura. Hrsg. von Nikolaus M. Häring. In: Studi Medievali 19 (1978), S. 797–879, VIII, P4. Konrad selbst verwendet das Motiv auch in seiner Klage der Kunst (12,7–13,8). In: Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg. Hrsg. von Edward Schröder, Bd. 3 (Die Klage der Kunst – Leiche, Lieder und Sprüche), Berlin 1926. 22 Für diese Beschreibung hat nun ganz unzweifelhaft Gottfrieds Darstellung der von seinen Zeitgenossen falsch verstandenen und geschändeten Minne Pate gestanden (Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke, neu hrsg., ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, 3 Bde, 6., überarb. Ausgabe, Stuttgart 1993 [RUB 4471; 4472; 4473], V. 12217–12357).

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Von Anfang an wird der Zustand der triuwe mit dem Konzept poetischer Wertschätzung enggeführt. Vor der Absichtsbekundung des Dichters, den verlorenen Glanz ihres Lobes wieder zum Strahlen zu bringen, war bereits zwei Mal vom getrübten Glanz ihres Lobes die Rede (V. 11; V. 30). Nun kann das mittelhochdeutsche lop auch das abstrakte, gesellschaftliche Ansehen bezeichnen und muss sich nicht unbedingt primär auf dessen sprachlichen Ausdruck beziehen, doch die missliche Lage der triuwe wird auch ganz explizit mit einem Mangel an verbalem, ästhetisch gestaltetem Lobpreis in Verbindung gebracht: vil selten man si rüemet: ir name ist gar vertüemet, der wîlen stuont geblüemet und schône was gesüemet. (V. 21–24)

Damit empfiehlt sich die Dichtkunst als Instrument der Lösung dieses Problems. Der auf diese Diagnose folgende ausführliche Preis der triuwe durch Konrad mag da erste Abhilfe schaffen. Die angestrebte Restitution soll jedoch nicht allein durch diese laudative Rede, sondern hauptsächlich durch das Wiedererzählen, das erniuwen einer wahren Geschichte über vollkommene triuwe,²³ die der Gesellschaft als Vorbild dienen soll, erreicht werden: mit herzen und mit munde wil ich von hôhen triuwen ein wârez mære erniuwen ellîche hie ze diute, darumbe daz die liute ein sælic bilde kiesen dran, daz si triuwe noch erman unde in ganze wârheit gebe. (V. 152–159)

Konrad macht es sich in vielen seiner Werke zur Aufgabe, eine der degenerierten zeitgenössischen Gesellschaft abhanden gekommene Tugend durch sein Erzählen zu restaurieren. Allerdings ergibt sich nur im Prolog des Engelhard über die Vokabel des erniuwens bzw. das Adjektiv niuwe auch terminologisch ein ganz besonders enger Zusammenhang zwischen dem Vorgang literarischer und ethischer Erneuerung: Eine erneuerte Erzählung über triuwe soll zur Erneuerung der triuwe führen.²⁴ Ein Zusammenhang, der sich auch bei Wolfram nicht ergibt, bei dem die vom Reim her sicherlich naheliegende Verbindung des Verbs niuwen mit seinem Leitthema triuwe vorgeprägt ist. Explizit wird die Aufgabe des Erneuerns, die sich wie beim Stricker

23 Die ersten Verse der Erzählung verorten das Geschehen dementsprechend in einer Zeit, als die triuwe den Leuten noch niuwe war (V. 217  f.). 24 Vgl. zu dieser Koinzidenz auch Hasebrink (Anm. 1), S. 214  f.

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mit der Selbstnennung Konrads verbindet, recht schlicht als Übersetzung des lateinischen Originals in deutsche Reime charakterisiert:²⁵ von Wirzeburc ich Kuonrât hân si [ein âventiure wilde; E. L.] ze sælden für geleit den liuten von der kristenheit in tiuscher worte schîne. ich hân si von latîne in rîme alsô gerihtet und ûf den wân getihtet daz sich nâch mînes herzen ger dâ bî gebezzer etewer. (V. 208–216)²⁶

Die genaue Vorlage, aus der Konrad den Amicus und Amelius-Stoff entnahm, der sowohl in lateinischen als auch französischen sowie mindestens einer deutschen Fassung zirkulierte, ist nicht bekannt. Dennoch ist mit einem großen Eigenanteil Konrads bei der Bearbeitung zu rechnen, der etwa die Namen der Protagonisten, die Struktur und wahrscheinlich die Ergänzung der umfangreichen Minnehandlung und der Turnierbeschreibung betrifft.²⁷ Nun ist es selbstverständlich nicht zu erwarten, dass Konrad solch umfassende Eingriffe in die materia, gar das Erfinden einzelner Episoden auch explizit im Prolog ankündigt. Dennoch bleibt gerade mit Blick auf seine tatsächliche Retextualisierungstechnik festzuhalten, dass er sich mit der Präsentation seiner Erneuerungsarbeit als Reimübersetzung auch im Spektrum der mit dem Wahrheitsanspruch der Erzählung zu vereinbarenden Bearbeitungsschritte – Rekonstruktion der wahren Geschichte aus unterschiedlichen Quellen, dispositionelle Neuordnung, Kürzung oder Erweiterung im Sinne der amplificatio – als sehr zurückhaltender Bearbeiter präsentiert. Im Fokus steht nicht die strukturelle oder konzeptionelle Arbeit an der materia – die Vorlage wird nicht problematisiert, die Wahrheit der Geschichte wird einfach gesetzt (V. 154) –, sondern die Intention, die lehrreiche Geschichte auch in deutscher Sprache zugänglich zu machen. Hinweise auf das Konzept der Retextualisierung, das sich in diesem Text mit dem Verb erniuwen verbindet,

25 Zur Problematik, den neuzeitlichen Übersetzungsbegriff auf die mittelhochdeutsche Literaturkultur zu übertragen, siehe Franz Josef Worstbrock: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128–142, der den Anfang eines neuzeitlichen Übersetzungsbegriffs mit dem Anspruch nicht mehr nur die materia, sondern auch die elokutionäre Qualität des Ausgangstextes zu erhalten und mit einem auf Inhalt und Form gerichteten Werkverständnis bei Niklas von Wyle ansetzt; Bumke (Anm. 1), S. 12  f., mit weiterführender Literatur. 26 Im Epilog beschreibt Konrad seine Arbeit auf ähnliche Weise: von Wirzeburc ich Kuonrât / hân ez von latîne / ze tiuscher worte schîne / geleitet und gerihtet / und ûf den trôst getihtet / daz ein herze wol gemuot / dar an ein sælic bilde guot / ze lûterlicher triuwe neme (V. 6492–6499). 27 Siehe Rüdiger Brandt: Konrad von Würzburg. Kleinere epische Werke, Berlin 2000 (KlassikerLektüren 2), S. 132  f.

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lassen sich über die verhältnismäßig kargen expliziten Bestimmungen hinaus allerdings auch implizit aus dem Prolog ableiten. Der Gedanke des Erneuerns der triuwe verbindet sich mit Vokabeln wie blüemen, schîn und glast, die sowohl den ethischen Wert der triuwe als auch den ästhetischen Anspruch des literarischen Erneuerungsvorgangs ansprechen.²⁸ Im Engelhard scheint das Erneuern der triuwe im alten Glanze durch einen Akt literarischer Erneuerung so eine bestimmte, dezidiert ästhetische Qualität des Wiedererzählens zu erfordern. Darüber hinaus ist es bezeichnend, dass der Akt literarischen erniuwens, der die Rehabilitation der triuwe herbeiführen soll, logischerweise auch ihr Kleid wieder zum Strahlen bringen wird, war sein Verblassen doch das erstgenannte Symptom ihrer gesellschaftlichen Missachtung. Damit lässt sich das Kleidmotiv als Anspielung auf die weitverbreitete poetologische Metapher des sprachlichen Kleids einer Geschichte verstehen. Die metaphorische Verbindung von Dichtung und Textilproduktion, Weben, Zuschneiden, Zusammennähen, die sich prominent im Wort textus ausdrückt, hat bekanntermaßen eine lange Tradition und kann dazu dienen, ganz unterschiedliche Konzepte literarischen Schaffens zu akzentuieren.²⁹ Die für den Zusammenhang im Engelhard relevante Ausprägung des Bildfeldes ist die Metapher der elocutio als Kleid. Bereits Cicero vergleicht den attischen Stil, der auf auffällige rhetorische Gestaltung weitgehend verzichtet, mit einer einfach gekleideten Frau, die weder Schmuck noch aufwändige Frisur noch Schminke benötigt, um schön zu sein.³⁰ Im Kontext einer Beschreibung der fünf officia oratoris beschreibt er die elocutio als Vorgang der Schmückung und Einkleidung der Rede (De oratore, I, 142). Im Mittelalter verwendet besonders Galfred von Vinsauf die Metapher der elocutio als Kleid der materia. Bereits zu Beginn seiner Poetria nova erklärt er die Arbeitsschritte der dispositio und der elocutio: Mentis in arcano cum rem digesserit ordo, / Materiam verbis veniat vestire poesis (V. 60  f.).³¹ Auch im weiteren Verlauf seines Traktats verwendet er die Metapher immer wieder. Besonders interessant in

28 Die Metapher der flores rhetorici ist seit der Antike ubiquitär, und auch die Metapher des Glanzes ist traditionell für die elocutio. So sagt Cicero über die Figur der Metapher: Modus autem nullus est florentior in singulis verbis nec qui plus luminis adferat orationi. (De oratore. Hrsg. und übers. (engl.) von E. W. Sutton/H. Rackham, London 31960 (Loeb Classical Library), III, 166; „Es gibt jedoch keine Redeweise, die im Bereich des Einzelwortes blühender ist, und der Rede mehr Glanz verleihen könnte“, E. L.). Zum blüemen siehe Gert Hübner: Lobblumen. Studien zur Genese und Funktion der ‚Geblümten Rede‘, Tübingen, Basel 2000 (Bibliotheca Germanica 41); zum blüemen und zur poetologischen Metapher des Glanzes bei Konrad siehe Jan-Dirk Müller: schîn und Verwandtes. Zum Problem der „Ästhetisierung“ in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg (Mit einem Nachwort zu Terminologie-Problemen der Mediävistik). In: Im Wortfeld des Textes (Anm. 9), S. 287–307. 29 Siehe z.  B. Erika Greber: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik, Köln 2002 (Pictura et poesis 9). 30 Cicero: Orator. Hrsg. und übers. (engl.) von H. M. Hubbell, London 41962 (Loeb Classical Library), S. 78  f. 31 „Nachdem die Ordnungskraft des Geistes den Gegenstand im Verborgenen strukturiert hat, möge die Dichtkunst hinzukommen, um diese Materie in Worte zu kleiden.“ (E. L.).

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Bezug auf den Engelhard-Prolog ist dabei die Verbindung mit dem Begriff der Neuheit, die den Aspekt der Retextualisierung hervorhebt und ihn als Einkleidung einer mehrfach behandelten materia in ein neues elokutionäres Gewand fasst: ut omnia lege regantur, Dives honoretur sententia divite verbo, Ne rubeat matrona potens in paupere panno. Ut res ergo sibi pretiosum sumat amictum, Si vetus est verbum, sis physicus et veteranum Redde novum. Noli semper concedere verbo In proprio residere loco: residentia talis Dedecus est ipsi verbo; loca propria vitet Et peregrinetur alibi sedemque placentem Fundet in alterius fundo: sit ibi novus hospes Et placeat novitate sua. Si conficis istud Antidotum, verbi facies juvenescere vultum. Instruit iste modus transsumere verba decenter. Si sit homo de quo fit sermo, transferor ad rem Expressae similem; quae sit sua propria vestis In simili casu cum videro, mutuor illam Et mihi de veste veteri transformo novellam. (V. 753–769)³²

32 „Damit alles dem Gesetz gehorcht, soll ein edler Gedanke durch einen edlen Ausdruck gewürdigt werden, damit eine reiche Matrone nicht ob ihrer schäbigen Kleidung errötet. Damit die Materie also ein wertvolles Gewand erhält, wenn das Wort alt ist, sei ein Mediziner und erneuere das Alte. Erlaube einem Wort nicht immer, auf seinem angestammten Platz zu verweilen – so ein Verweilen bekommt ihm nicht – lass es seinen angestammten Platz meiden und zu einem anderen Ort gehen, um dort einen angenehmen Platz im fremden Terrain zu finden. Lass es dort ein Gast sein und durch seine Neuheit Wohlgefallen erregen. Wenn du diese Medizin bereitest, wirst du das Gesicht des Wortes verjüngen. Diese Methode lehrt uns die Worte auf angemessene Weise zu übertragen. Wenn ich von einem Mann spreche, werde ich von ihm mit Ausdrücken von Ähnlichem sprechen. Wenn ich sehe, welches das angemessene Kleid in einem ähnlichen Fall ist, werde ich es verändern und ein neues Kleid aus dem alten machen.“ (E. L.). Die Kleidmetapher findet sich auch in V. 219–222; V. 1688–1700 – im Kontrast zur „nackten Materie“ (V. 1699). Vgl. auch Johannes von Garlandia: Parisiana Poetria de Arte Prosaica, Metrica, et Rithmica. Hrsg. und übers. (engl.) von Traugott Lawler, New Haven, London, 1974: Sequitur de materia nuda uestienda. „Materiam nudam“ uoco illam que non est rethorice ampliata neque ornata (IV, 143–145; „Das nächste Thema ist die Bekleidung der nackten Materie. Als ,nackte Materieʻ bezeichne ich das, was nicht rhetorisch amplifiziert oder geschmückt ist“, E. L.). Interessant in Bezug auf Konrads Verwendung des Worts erniuwen ist auch die Verjüngungsmetaphorik Galfreds, da das Wort im Hauptteil des Trojanerkriegs als Bezeichnung für den alchemistischen Verjüngungszauber Medeas verwendet wird. Sowohl Hans Jürgen Scheuer: wîsheit. Grabungen in einem Wortfeld zwischen Poesie und Wissen. In: Im Wortfeld des Textes (Anm. 9), S. 83–106, als auch Burkhard Hasebrink: Rache als Geste. Medea im Trojanerkrieg Konrads von Würzburg. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Fs. für Volker Mertens. Hrsg. von Matthias Meyer/Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 2002, S. 209–230, haben bereits eine metapoetische Deutungsmöglichkeit dieser Passagen durch den Bezug auf die poetologische Verwendung von erniuwen im Prolog erwogen. Die metaphorische Verbindung von medizinischer und literarischer Erneuerung bei Galfred ist ein wichtiges Indiz zur Plausibilisierung dieser Lesart.

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Eine ähnliche Darstellung findet sich bei Frauenlob, der die Metapher des Kleids der materia ebenfalls mit dem Stichwort niuwe und damit mit dem Begriff der Retextualisierung verbindet: Swer der materjen cleit e gab, von pfelle, samit rich gewant, Durchblümet ende (und) urhab mit sprüchen ganz, vin, rich erkant: Danc habe sin herze und sin sin. komt aber der materjen such, cleide ich sie in ein niuwez tuch. (XIII, 7)³³

Ein weiteres mittelhochdeutsches Beispiel dieser Metapher liefert Heinrich von Freiberg, der Gottfried im Prolog seiner Tristanfortsetzung als denjenigen beschreibt, der dem sin auf meisterhafte Weise ein cleit richer rede geschaffen und der materje eine lichte wât angelegt habe (V. 7–29).³⁴ Im Engelhard stellt sich der implizite Bezug zur Kleidmetapher nun folgendermaßen dar: Dadurch dass Konrad im Sinne der elocutio eine alte Materie in ein neues, glänzendes, das heißt stilistisch avanciertes Wortkleid hüllt, soll auch das Kleid der triuwe wieder zum Strahlen gebracht werden. Diese enge, angemessene Verbindung von Inhalt und Form, von Ethik und Ästhetik, verbietet es dabei auch, den glänzenden Stil als bloßes Oberflächenphänomen zu verstehen.³⁵ Formal orientiert sich der Prolog des Engelhard mit seinen elf achtversigen, schlagreimenden Strophen, auf die ein stichischer Abschnitt folgt, eindeutig am Vorbild von Gottfrieds Tristan, dessen stilistischer und motivischer Einfluss sich auch im Haupttext niederschlägt.³⁶ Gottfried verbindet das Konzept des Wiedererzählens nicht mit dem Terminus niuwe, allerdings entwirft er ein Rezeptionsmodell, in dem das Hören oder Lesen der Geschichte, die Treue, den Schmerz und die Freude, das Leben und den Tod der Helden iemer niuwe und lebendig macht. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Konrads Konzept des Erneuerns einer Geschichte, das zugleich

33 Frauenlob (Heinrich von Meissen): Leichs, Sangsprüche, Lieder. Hrsg. von Karl Stackmann/ Karl Bertau, 2 Bde, Göttingen 1981. 34 Heinrichs von Freiberg Tristan. Hrsg. von Reinhold Bechstein, Leipzig 1877 (Deutsche Dichtungen des Mittelalters 5). 35 Dieses Ideal des aptum, das sich auch in Galfreds Äußerungen niederschlägt, ist traditionell. Vgl. auch Cicero, der Stil, obwohl er ihn mit Metaphern wie Kleid oder Schmuck bezeichnet, gerade nicht als reines Oberflächenphänomen verstanden wissen will: His tribus figuris insidere quidam venustatis non fuco illitus sed sanguine diffusus debet color (De oratore, III, 199; „Diese drei Stile sollten jedenfalls eine Farbe haben, die nicht wie durch Schminke der Schönheit aufgemalt, sondern wie von Blut durchströmt ist“, E. L.). Historisch hat die Kleidmetapher immer wieder dazu gedient, das angemessene Verhältnis von Inhalt und Stil zu fordern, und wurde zum Teil auch gänzlich negativ als eitler rhetorischer Schmuck der „nackten Wahrheit“ entgegengesetzt. Zur Geschichte der Metapher bis ins 20. Jahrhundert siehe Wolfgang G. Müller: Topik des Stilbegriffs. Zur Geschichte des Stilverständnisses von Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1981 (Impulse der Forschung 34). 36 Vgl. dazu Brandt (Anm. 27), S. 111–113.

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die Erneuerung eines ethischen Werts sein soll, von Gottfried beeinflusst ist. Allerdings spitzt Konrad das Modell über die Leitvokabel niuwe/erniuwen weit mehr zu als Gottfried und verschiebt zudem das Konzept von der Vorstellung einer Erneuerung im Rezeptionsprozess tendenziell zum Modell einer Erneuerung durch den Akt des Wiedererzählens im glänzenden Stil.

II Trojanerkrieg Konrads Wiedererzählung der Geschichte des Trojanischen Krieges ist ein überaus ambitioniertes Unternehmen. Neben seiner Hauptquelle, dem französischen Roman de Troie des Benoît, zieht Konrad eine Vielzahl lateinischer Quellen, unter anderem Vergil, Ovid und Statius, für die Gestaltung einzelner Motive und ganzer Episoden hinzu. Die ältere Forschung hat den Trojanerkrieg oft als ein Sammelsurium allen greifbaren Stoffes gesehen, dem es jedoch an struktureller wie thematischer Einheit mangele.³⁷ Zudem wurde der großzügig mit Alliterationen, Antithesen, Epitheta, Hyperbeln, Vergleichen und Metaphern ornierte Stil, der sich außerdem durch besonders detailfreudige Beschreibungen auszeichnet, als virtuoses Formenspiel um seiner selbst willen kritisiert, das den Inhalt der Erzählung überwuchere.³⁸ Obwohl die Frage nach der vereinigenden Sinnperspektive des Trojanerkriegs noch immer umstritten und durch den Fragmentstatus des Werks verkompliziert ist, wird heute allerdings kaum noch bestritten, dass es Konrad gelungen ist, die disparate literarische Tradition zu einer geschlossenen Einheit zu komponieren.³⁹ Seine Quellenverarbeitung und die Koordination der verschiedenen Erzählstränge durch inhaltliche und stilistische Korrespondenzen wurden besonders ausführlich von Elisabeth Lienert beschrieben.⁴⁰ Sie stellt fest, dass Konrad zwar nichts neu erfindet, aber die verschiedenen Quellen dennoch so souverän kombiniert, dass er tatsächlich eine neue Gesamterzählung verfasst, die viele Episoden erstmals in einem Text zusammenführt: „Insgesamt kann man wohl […] sagen, alles Wesentliche – Stoffauswahl, Komposition, Figurengestaltung, Erzählerrolle, Erzählduktus, Gesamtstruktur und Gesamtdeutungsperspektive – stamme

37 Besonders negativ äußert sich dazu beispielsweise Barbara Könneker: Erzähltypus und epische Struktur des Engelhard. Ein Beitrag zur literarhistorischen Stellung Konrads von Würzburg. In: Euphorion 62 (1968), S. 239–277. 38 Z. B. Dennis Howard Green: Konrads Trojanerkrieg und Gottfrieds Tristan. Vorstudien zum Gotischen Stil in der Dichtung, Waldkirch 1949, S. 50, der eine „Liebe zum Wortrausch um seiner selbst willen und die Überwucherung des Inhalts durch die losgelöste, eigengesetzlich gewordene Form“ diagnostiziert. 39 Einen Überblick über die Debatte bietet Armin Schulz: Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik, Tübingen 2008 (MTU 153), S. 490–495. 40 Elisabeth Lienert: Geschichte und Erzählen. Studien zu Konrads von Würzburg Trojanerkrieg, Wiesbaden 1996 (Wissensliteratur im Mittelalter 22).

Das Kleid der triuwe und das Kleid der Dichtung 

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von Konrad.“⁴¹ Für die Diskussion des im Prolog artikulierten Retextualisierungskonzepts ist es allerdings wichtig, dass dieses Wissen um Konrads tatsächliche Kompositionstechnik nicht automatisch auf die Aussagen und Metaphern des Prologs projiziert wird. Selbst wenn man wie Lienert davon ausgeht, dass gebildete Rezipienten um die Disparität des Trojastoffes wussten, ist es durchaus möglich, dass ein Autor, der verschiedene Quellen benutzt, diese Tatsache verschweigt und die Authentizität seiner Erzählung stattdessen durch den Verweis auf eine lineare Überlieferungsgeschichte verbürgt. Diese Autorisierungsstrategie scheint Konrad zumindest im Erzählteil seines Werks zu verfolgen, da er die Übergänge und Widersprüche seiner Quellen sorgsam verwischt, anstatt sie herauszustellen oder etwa die Glaubwürdigkeit verschiedener Versionen zu diskutieren. Er erzählt nicht als Kompilator,⁴² und auch im Prolog wird die komplizierte Quellenlage nicht wirklich reflektiert. Obwohl Konrad erklärt, dass der Bericht des Augenzeugen Dares auf Französisch und Latein vorliegt, betreibt er, anders als etwa Benoît, der Homer als unzuverlässig beschreibt,⁴³ keine Quellenkritik. Die vorangehenden Übersetzungen werden als endelich (V. 300) bezeichnet. Auch präsentiert Konrad sich nicht explizit als Kompilator verschiedener Versionen, wie dies etwa Rudolf von Ems in seinem Alexander tut. Rudolf gibt an, die wahre Geschichte aus vier verschiedenen, sich nicht überschneidenden Texten komponiert zu haben, deren Autoren er nennt (V. 12961–13064). Er kritisiert die Autoren früherer deutscher Alexanderdichtungen und beschreibt sich selbst als Ursprung des maere in deutscher Sprache, da er alle verlässlichen Quellen zesamene gebracht habe (V. 15805–15812).⁴⁴ Im Gegensatz dazu verschleiert Konrads Darstellung der Quellenlage die Komplexität der literarischen Trojatradition. Anstatt die Autoren, deren Texte er zusammenführt, aufzuführen, nennt er nur Dares, den angeblichen Augenzeugen des Krieges, so dass trotz des Verweises auf Fassungen in unterschiedlichen Sprachen der Eindruck einer ungebrochenen und verlässlichen Überlieferung entsteht.⁴⁵ Wenn das Bild des 41 Lienert (Anm. 40), S. 222. 42 Siehe dazu Wolfgang Monecke: Studien zur epischen Technik Konrads von Würzburg. Das Erzählprinzip der wildekeit, Stuttgart 1968 (Germanistische Abhandlungen 24): „Nahe läge die Vermutung, daß der Dichter […] mit den Quellen Wucher treibe, daß er viele Stimmen hören, die Belege häufen, Entlegenes, ja Abwegiges vergleichend ausbreiten wolle. Konrad hat in der Tat sorgfältig kompiliert, aber diese Kompilation ebenso sorgfältig verborgen. Seine Gewährsleute im Chor berichten, einander ergänzen, widersprechen, übertrumpfen zu lassen, um dann vielleicht als Schiedsrichter das letzte Wort zu sprechen – eine denkbare Konsequenz der wilden Erzählkunst –, das kam Konrad offenbar nicht in den Sinn.“; vgl. dazu auch Lienert (Anm. 40), S. 184. 43 Benoît de Sainte-Maure: Le Roman de Troie. Hrsg. von Léopold Constans, 6 Bde, Paris 1904–1912 (Societé des Anciens Textes Français 51), V. 45–144. 44 Zu Rudolfs Selbstdarstellung als Kompilator siehe Stefanie Schmitt: Autorisierung des Erzählens in Romanen mit historischen Stoffen? Überlegungen zu Rudolfs von Ems Alexander und Konrads von Würzburg Trojanerkrieg. In: Geltung der Literatur: Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Hrsg. von Beate Kellner/Peter Strohschneider/Franziska Wenzel, Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 190) S. 187–201. 45 Diese Strategie stillschweigender Harmonisierung im Prolog und in der Erzählung ist natürlich

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großen Gedichts, das aus vielen mæren besteht, ebenso wie viel Wasser in das Meer fließt (V. 216–243), gewöhnlich als Verweis auf Konrads tatsächliche Quellenkompilation gelesen wird,⁴⁶ scheint mir dies deshalb weniger durch Konrads metaphorische Darstellung seines Retextualisierungsprojekts als durch das Wissen um seine tatsächliche Kompositionstechnik begründet. Das vage poetologische Vokabular und die Vielbezüglichkeit des Bildes, das unter anderem auf die klassische Metapher des Dichtens als Schifffahrt⁴⁷ und die exegetische Metapher des Ergründens unerreichbarer Tiefe Bezug nimmt, lässt sich nicht unproblematisch einer Interpretation als Abbild des sehr spezifischen Retextualisierungsmodus der Kompilation unterwerfen. Es bleibt unklar, ob die Vereinigung der unterschiedlichen Ströme erst von Konrad hergestellt wird oder bereits seine Vorlage betrifft, ob sie unterschiedliche Quellen oder unterschiedliche Erzählstränge bezeichnet. Tatsächlich scheint Konrad es durch seine Wortwahl gerade darauf anzulegen, die Grenze zwischen dem tiefen, alten Buch und dem eigenen Kunstwerk verschwimmen zu lassen. Damit deutet sich bereits ein Konzept von Identität und Differenz an, dessen dynamische Struktur kurz darauf auch mit der Vokabel des erniuwen bezeichnet wird. Konrad nennt seinen eigenen Namen und verkündet sein Vorhaben, das alte Buch von Troja in deutsche Reime zu bringen, so dass es wie eine Schwertlilie neu erblühen soll. Er will es mit strahlenden Worten erneuern und seine Brüche mit Reimen so zusammenleimen, dass sie nicht weiter auseinanderklaffen. von Wirzeburc ich Cuonrât von welsche in tiutsch getihte mit rîmen gerne rihte daz alte buoch von Troye. schôn als ein vrischiu gloye sol ez wider blüejen. beginnet sich des müejen mîn herze in ganzen triuwen, daz ich ez welle erniuwen mit worten lûter unde glanz, ich büeze im sîner brüche schranz: den kan ich wol gelîmen z’ein ander hie mit rîmen, daz er niht fürbaz spaltet. (V. 266–279)⁴⁸

ganz und gar inkompatibel mit gelehrten Konzepten von Kompilation wie dem des Vinzent von Beauvais. Vgl. Alastair J. Minnis: Late-Medieval Discussions of compilation and the role of the compilator. In: PBB 101 (1979), S. 385–421. 46 Z. B. Kellner (Anm. 9), S. 259. 47 Zur Tradition dieser alten Metapher siehe Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 2., überarb. Ausgabe, Berlin 1948, S. 138–141. Die Metapher findet sich auch bei Matthäus von Vendôme, I, 33–34, und Galfred von Vinsauf, V. 2071–2074. 48 Konrad von Würzburg: Der trojanische Krieg. Nach den Vorarbeiten Karl Frommanns und Friedrich Roths zum ersten Mal hrsg. durch Adelbert von Keller, Stuttgart 1858 (StLV 44).

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Wie bereits im Engelhard spielen auch hier die etablierten elocutio-Metaphern des Glanzes und des blüemen eine entscheidende Rolle. Beate Kellner konstatiert diese Betonung des Ästhetischen, sieht diese Passage aber zugleich als Ausdruck von Konrads tatsächlicher inhaltlicher und struktureller Arbeit an der Überlieferungstradition, die Widersprüche ausgleicht und aus alten Versatzstücken einen „neuen, eigenen Gesamtzusammenhang“ schafft.⁴⁹ Sie stellt fest, der Vorgang des Erneuerns bestehe „letztendlich in der beschriebenen Zusammenführung verschiedenen Materials in einer Weise, die so kunstvoll sein soll, dass keine Risse, Brüche mehr erkennbar seien“.⁵⁰ Bei genauerer Betrachtung, und vor allem unter Ausblendung unseres Wissens um Konrads tatsächliche Kompositionstechnik, wirkt Kellners Betonung der Neuartigkeit des entstehenden Artefakts jedoch zu stark. Vielmehr scheint es um rein stilistische und dabei amplifizierende (Konrad will die Geschichte auch breiten, V. 303) Erneuerung zu gehen.⁵¹ Das Bild des Zusammenleimens der Brüche im alten Buch von Troja beschreibt den Prozess der Retextualisierung als das Reparieren eines einzigen, bereits existierenden literarischen Objekts, nicht als erstmaliges Zusammenstückeln zuvor unverbundener Elemente zu einer neuen Einheit. Die Identität des alten Buchs bleibt gewahrt. Als dessen erneuerte und reparierte Version besitzt Konrads Werk dieselbe Autorität, die durch dessen Alter und den späteren Bezug auf den Augenzeugen Dares verbürgt wird  – es bedarf daher keiner expliziten Wahrheitsbeteuerung. Konrad präsentiert sich nicht als Kompilator, der eine neue ‚Gesamtkomposition‘ entwirft, die so zuvor nicht existierte. Er stilisiert sich als Restaurator, der das alte Buch wieder zum Blühen bringt, indem er seine Teile wieder zusammenleimt. Die Metapher des Leimens mit Reimen ist dabei offenbar die Variation eines Bildes aus Gottfrieds Literaturexkurs. Dort wird Bligger von Steinach mit den Worten gepriesen: wie kan er rîme lîmen, / als ob si dâ gewahsen sîn! (V. 4716  f.). In beiden Fällen ist Dichtung dann erfolgreich, wenn es ihr gelingt, ein künstlich verbundenes Artefakt als organisches Ganzes erscheinen zu lassen. Doch obwohl Bligger durchaus nicht ex nihilo schafft, sondern auf Inspiration angewiesen ist, entsteht nicht der Eindruck, dass Gottfried hier einen Prozess der Retextualisierung thematisiert. Dies macht auch einen entscheidenden Unterschied zu Konrads Variation der Metapher aus: Während Bligger ein literarisches Artefakt aus dem Material seiner Verse zusammenleimt, sind Konrads Reime nicht die Teile bzw. das Material, aus denen das alte Buch von Troja besteht, sondern der Leim, der diese Teile

49 Kellner (Anm. 9), S. 252. 50 Kellner (Anm. 9), S. 251; vgl. auch Franz Josef Worstbrock: Die Erfindung der wahren Geschichte. Über Ziel und Regie der Wiederzählung im Trojanerkrieg Konrads von Würzburg. In: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters (Anm. 1), S. 155–173, insbes. S. 155–160. 51 Vgl. Schmitt (Anm. 44), S. 196  f., die betont, dass Konrad sich nicht als gelehrter historiographus präsentiert und dass das Verb erniuwen primär eine „ästhetische Neugestaltung“ bezeichne.

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wieder verbindet und zusammenhält.⁵² Ein weiterer entscheidender Unterschied ist, dass Konrad das semantische Feld organischen Wachstums konsequenter ausbeutet als Gottfried es tut. Bei Konrad steht es nicht nur für die organisch wirkende Einheit des Kunstwerks, sondern auch für natürlichen Verfall. Die Aussage, dass Konrad das alte Buch zu einer neuen Blüte bringen möchte, impliziert, dass dessen einstige Schönheit mit der Zeit verwelkt ist. In diesem Kontext erhält das Attribut des Alters, das dem Buch traditionellerweise Autorität verleiht, einen ambivalenten Status, da es nun auch die Defizienz bedeutet, die eine poetische Erneuerung notwendig macht. Diese Erneuerung erscheint als eine dringende Angelegenheit, eine Aufgabe nicht nur der Restauration, sondern auch der Konservierung. Der Prozess des Verfalls ist noch nicht abgeschlossen, die Brüche werden noch weiter auseinanderspalten, wenn Konrad sie nicht mit seinen Reimen wieder zusammenklebt. Angesichts der starken Betonung des ästhetischen Aspekts, der dem Erneuerungsprozess innewohnt, erscheint erniuwen hier abermals als Verfahren stilistischer Bearbeitung. Allerdings handelt es sich auch bei dieser stilistischen Erneuerung (die ja andererseits durch die Metapher des Ergründens ergänzt wird) keineswegs um eine rein oberflächliche Aufgabe. Nur die stilistische Erneuerung wird das alte Buch davor bewahren, völlig auseinanderzubrechen, und garantiert so sein Weiterleben, zumindest so lange – so die logische Weiterführung des Gedankens – bis Konrads Stil ebenfalls veraltet und das Buch von neuem zu Welken beginnen wird. Wie die Analyse des Ausdrucks mære (er)niuwen gezeigt hat, handelt es sich dabei nicht um ein poetologisches Programmwort oder einen literaturtheoretischen Terminus, der ein bestimmtes Verfahren der Retextualisierung bezeichnet. Es ist jedoch gerade die für mittelhochdeutsche poetologische Aussagen typische Vagheit, die die Formulierung produktiv für ganz unterschiedliche, okkasionelle Semantisierungen im weiten Spektrum der Retextualisierung öffnet. Dabei ist es entscheidend, dass der so durch den pragmatischen Kontext konstituierte semantische Gehalt von mære (er)niuwen nicht unbedingt mit dem tatsächlich angewandten Retextualisierungsverfahren des jeweiligen Textes übereinstimmen muss. Tatsächlich lässt sich die oftmals vielbezügliche, assoziativ-metaphorische Aufladung des Ausdrucks nur schwer auf spezifische Bearbeitungstechniken, etwa die compilatio, reduzieren. So zeigt sich bei Konrads von Würzburg Verwendung von mære erniuwen in den Prologen des Engelhard und des Trojanerkriegs, dass sich damit vor allem ein Begriff elokutionärer Er-

52 Anders als Konrad, der das alte Buch in seiner ursprünglichen Form wiederherstellen will, scheint Wirnt von Grafenberg eher auch eine strukturelle Neuordnung der materia anzusprechen, wenn er mit ähnlicher Formulierung die Möglichkeit erwägt, die Geschichte des Lifort Gawanides aus dem Französischen zu übersetzen, die ihm jedoch eigentlich ze wilde, ze krump und ze swære (V. 11629  f.) ist: mîn zunge si verschriete / und begunde si wider lîmen / mit ganzen niuwen rîmen. (Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn übers., erl. und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach, Berlin, New York 2005, V. 11672–11674).

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neuerung eines alten Stoffes bzw. einer alten Vorlage verbindet, obwohl er tatsächlich in beiden Fällen weit umfassendere, konzeptuell-strukturelle Arbeit an der materia leistet. Dennoch wird diese primär stilistische Bearbeitung nicht als oberflächliche Aufgabe präsentiert, ist sie doch im Engelhard aufs Engste mit der Restauration der triuwe und im Trojanerkrieg mit der Erhaltung des alten Buchs von Troja assoziiert.⁵³

53 Für hilfreiche Anregungen und Diskussionen danke ich Mark Chinca.

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Stilpraxis und Stilideal

Klaus Grubmüller

cristallîniu wortelîn Gottfrieds Stil und die Aporien der Liebe Hartman der Ouwære ahi, wie der diu mære beide uzen unde innen mit worten und mit sinnen durchverwet und durchzieret! wie er mit rede figieret der aventiure meine! Wie luter und wie reine siniu cristallinen wortelin beidiu sint und iemer müezen sin! si koment den man mit siten an, si tuont sich nahen zuo dem man und liebent rehtem muote. swer guote rede ze guote und ouch ze rehte kan verstan, der muoz dem Ouwære lan sin schapel und sin lorzwi. (V. 4621–4637)¹

„In seinen Bemerkungen zu Vorbildern, Kollegen und Widersachern formuliert Gottfried beiläufig sein eigenes Stilideal, das sich orientiert an den Gesetzen der antiken Schulrhetorik“ – so fasst Rüdiger Krohn in seinem Kommentar die allgemeine Auffassung dieser Stelle zusammen, und er ergänzt: „Hartmann von Aue […] galt Gottfried als Inbegriff vollendeter Dichtkunst, die sich definierte aus dem idealen Beziehungsverhältnis von wort und sin.“² Den historischen Hintergrund von Gottfrieds „Stilideal“ skizziert Peter Ganz in der Einleitung seiner Ausgabe:³ Worauf es ihm vor allem ankommt, ist, daß der Dichter in einer für den Leser⁴ durchsichtigen Weise seine Erzählung mit dem äußeren Schmuck der figuræ verborum und den inneren Farben

1 Werkzitate nach Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hrsg. von Friedrich Ranke. 4. Aufl., Berlin 1959. 2 Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hrsg., ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, 3 Bde, Stuttgart 1980 (RUB 4471–4473), Bd. 3 (2. Aufl. 1991), S. 60. 3 Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach der Ausgabe von Reinhold Bechstein hrsg. von Peter Ganz, 2 Bde, Wiesbaden 1978, Bd. 1, S. XXIV  f. 4 Ganz (Anm. 3) spricht ganz selbstverständlich immer vom Leser, wenn er den Rezipienten des Tristan meint. Gerade bei einem so sehr von Sprachmelodie und Rhythmus bestimmten Werk dürfte die Vortragssituation nicht vernachlässigt werden.

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der figuræ sententiarum ausstattet. […] Aus solcher Adäquatheit des sprachlichen Ausdrucks zur dargestellten Sache, dem aptum der Rhetoriker, resultiert dann eine durchsichtige Klarheit und Korrektheit des Stils, die es dem Geist des Lesers [!] ermöglicht, dem Gang der Erzählung ungehindert zu folgen, gleichsam als ritte man, ohne über Unebenheiten zu stolpern, auf einer geraden Straße entlang.⁵

So sehr das einleuchtet, so sehr irritiert gerade vor dieser als rhetorischer Tradition gefestigten, in Darstellungsregeln übersetzten, zu ganzen Lehrgebäuden ausdifferenzierten Dichtungsauffassung Gottfrieds Resignation, ja seine Verzweiflung gegenüber der Aufgabe, das eigentlich nicht sonderlich fordernde Sujet der Schwertleite angemessen zu beschreiben: wan bi minen tagen und e hat man so rehte wol geseit von werltlicher zierheit, von richem geræte: ob ich der sinne hæte zwelve, der ich einen han, mit den ich umbe solte gan, und wære daz gevüege, daz ich zwelf zungen trüege in min eines munde, der iegelichiu kunde sprechen, alse ich sprechen kan, ine wiste wie gevahen an, daz ich von richeite so guotes iht geseite, mane hæte baz da von geseit. (V. 4600–4615)

Gerade für ein durch Tradition legitimiertes Dichtungsverständnis, wie es sich in den Lehrgebäuden der Rhetorik darstellt, kann es doch keine Hürde sein, dass es insgesamt oder für ein bestimmtes Sujet eine Fülle von Vorgängern gibt; ganz im Gegenteil: es gibt dann ja auch eine Fülle von Vorbildern, einen reichen Schatz von Redemöglichkeiten, die – nach den Regeln rhetorischer Variation – neu verknüpft, verändert, aktualisiert werden können. Wenn das Gottfrieds Anspruch nicht genügt, dann hätte er selbst aber doch kein rhetorisches Dichtungsverständnis. Und dann wäre das ein anderes als das, das er an Hartmann rühmt, dann beschriebe er in der Literaturstelle keineswegs sein eigenes Stilideal. Man wird einwenden, dass Gottfried den Grund benennt, dessentwegen die Beschreibung der Schwertleite nicht gelingen kann: sie kann nicht mehr gelingen, weil schon zu viel darüber geschrieben (oder geredet) worden ist:

5 Hierzu der Verweis auf V. 4660  f.

cristallîniu wortelîn 

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ja ritterlichiu zierheit diu ist so manege wis beschriben und ist mit rede also zetriben. (V. 4616–4618)

Aber gibt es für eine rhetorisch verfasste Kunst überhaupt einen Zeitaspekt? Wie ließe sich denn noch das Vertrauen auf ein mindestens eineinhalb Jahrtausende altes System begründen, wenn auch nur der Gedanke sich einschliche, dass es sich verbrauchen könne. Auch wenn dieser Gedanke nur auf die Sprache, diu rede (diu wort?), eingeschränkt würde (so weit das überhaupt möglich ist), es bliebe ein irritierender Originalitätsanspruch: der Wunsch, anders zu schreiben als alle, der Wunsch, aus dem System auszubrechen, und die Verzweiflung darüber, dass eine verbrauchte Sprache dem entgegensteht (als befänden wir uns im frühen 20. Jahrhundert und redeten über Hofmannsthal). Ich versuche diese Widersprüche durch die Beantwortung von drei Fragen aufzulösen: 1. Von welcher Art ist der Stil, den Gottfried rühmt? 2. Redet Gottfried, wenn er Hartmanns (oder auch [V. 4691–4722] Bliggers von Steinach)⁶ Sprache rühmt, überhaupt von „sein[em] eigene[n] Stilideal“ (Krohn⁷ u.  a.)? 3. Wie verhält sich Gottfrieds Sprachauffassung zu seiner sprachlichen Praxis und wie diese zur gedanklichen Faktur seines Werkes? Ist seine rede […] ebene unde sleht (V. 4661)? Sind diu wort durchsichtig auf den sin? Schmiegen sie sich ihm an (V. 4631  f.)?

1 Von welcher Art ist der Stil, den Gottfried rühmt? Gottfried charakterisiert sein sogenanntes ‚Stilideal‘ durch Bilder und Umschreibungen: cristallin sind die wortelin und deshalb luter und reine (V. 4628  f.) bei Hartmann von Aue; geliutert und gereinet ist die Rede bei Bligger von Steinach (V. 4703); durliuhtec wünscht sich Gottfried mit Hilfe der Musen die Worte seines Werkes, als ein erwelte gimme (V. 4902  f.).

6 V. 4698–4709: er hat den wunsch von worten: / sinen sin den reinen / ich wæne daz in feinen / ze wundere haben gespunnen / und haben in in ir brunnen / geliutert unde gereinet: / er ist binamen gefeinet / sin zunge, diu die harpfen treit, / diu hat zwo volle sælekeit: / daz sint diu wort, daz ist der sin: / diu zwei, diu harpfent under in / ir mære in vremedem prise. 7 Krohn (Anm. 2), Bd. 3, S. 60.

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Die Musterung des Wortgebrauchs lässt keinen Raum für Zweifel. Ich greife hier nur einige wenige Beispiele auf: lûter ist das Wasser (Parzival⁸, 576,10; Kudrun⁹, 1201,4), das Glas (Parzival, 236,3; Flore und Blanscheflur¹⁰, V. 6849), das Eis (Amis¹¹, V. 1003), eine Furt (Parzival, 129,17) und auch das lop kann lûter unde klâr sein (Walther¹², 27,33): ‚hell, durchsichtig und aufrichtig‘ sind als Bedeutung anzusetzen. liutern heißt, diesen Zustand der Klarheit und Reinheit herbeizuführen: das Gold wird in der Glut geliutert (Parzival, 614,13), und so haben nach Gottfried auch die Feen den reinen sin der Worte des Bligger von Steinach in ir brunnen / geliutert und gereinet (Tristan, V. 4703). Durliuhtec übersetzt translucide (Herrad-Glossen¹³, Nr. 891); die Qualität eines Edelsteins bemisst sich nach seiner Durchsichtigkeit (Konrad von Megenberg, Buch der Natur¹⁴, S. 486,18 zum Jaspis); Dinge (und auch Menschen) können durchliuhtig sein als ein glas (Ottokar¹⁵, V. 1870) oder auch durchlewchtig als christallen (Teichner¹⁶, Nr. 564, V. 339), sie können aber auch hell leuchten, besonders wiederum Edelsteine und der rote Mund der Frauen. Durchsichtigkeit ist im Vergleich des Teichners die Eigenschaft, die den Kristall kennzeichnet; sie wird auch im Wigamur¹⁷ benutzt, wenn vom Kristall gesagt wird, er sei lûterr danne ein glas (V. 10362). lûter ist dementsprechend das stehende Epitheton für den Kristall, z.  B. im Himmlischen Jerusalem¹⁸ (V. 62), im Straßburger Alexander¹⁹ (V. 5976), bei

8 Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht, mit Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation von Bernd Schirok, Berlin, New York 1998. 9 Kudrun. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch hrsg. von Karl Stackmann, Tübingen 2000 (ATB 115). 10 Flore und Blanscheflur. Eine Erzählung von Konrad Fleck. Hrsg. von Emil Sommer, Quedlinburg, Leipzig 1846 (Bibl. d. ges. dt. Nat.-Lit. 12). 11 Des Strickers Pfaffe Amis. Hrsg. von Kinichi Kamihara, Göppingen 1978 (GAG 233). 12 Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearb. Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner hrsg. von Christoph Cormeau, Berlin, New York 1996. 13 Herrad of Hohenbourg: Hortus deliciarum. Hrsg. von Rosalie Green u.  a., 2 Bde, London 1979 (Studies of the Warburg Institute 36). 14 Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Kritischer Text nach den Handschriften. Hrsg. von Robert Luff/Georg Steer, Bd. 2, Tübingen 2003 (Texte und Textgeschichte 54). 15 Ottokars Österreichische Reimchronik. Nach den Abschriften Franz Lichtensteins hrsg. von Joseph Seemüller, 2 Bde, Hannover 1890–1893 (MGH SS Deutsche Chroniken 5,1–2). 16 Die Gedichte Heinrichs des Teichners. Hrsg. von Heinrich Niewöhner, 3 Bde, Berlin 1953–1956 (DTM 44; 46; 48). 17 Mittelhochdeutsches Übungsbuch. Hrsg. von Carl von Kraus. 2., verm. und geänd. Aufl., Heidelberg 1926 (Germanische Bibliothek 1; Sammlung germanischer Elementar- und Handbücher 3,2), S. 109–161. 18 Kleinere deutsche Gedichte des 11. und 12. Jahrhunderts. Nach der Auswahl von Albert Waag neu hrsg. von Werner Schröder, 2 Bde, Tübingen 1972 (ATB 71; 72), Bd. 1, S. 96–111. 19 Lamprechts Alexander. Nach den drei Texten mit dem Fragment des Alberic von Besançon und

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Herbort²⁰ (V. 7219), bei Ulrich von Zatzikhoven²¹ (V. 4121), bei Heinrich von Neustadt (Gottes Zukunft²², V. 2362) usw. Am deutlichsten zugespitzt hat diesen Zusammenhang Gottfried selbst anlässlich der Beschreibung des kristallenen Bettes in der Minnegrotte: er hæte ir [der Minne] reht vil rehte erkant, der ir die cristallen sneit zir legere und zir gelegenheit: diu minne sol ouch cristallin, durchsihtic und durchluter sin. (V. 16980–16984)

Einhellig bezieht die Forschung – von Sawicki²³ bis Ganz²⁴, Krohn²⁵ und Huber²⁶ – diese Umschreibungen auf die rhetorischen Grundbegriffe²⁷ der claritas und der ihr übergeordneten perspicuitas. Manfred Günter Scholz hat Zweifel gesät, ob dieses intuitive Verständnis auch das richtige sei. Er geht davon aus, dass „das Stilprinzip der perspicuitas […] im Mittelalter keine Konjunktur“²⁸ hatte; bekannt war es aber, z.  B. über die Rhetorica ad Herennium²⁹, durchaus (und das räumt Scholz auch ein). Fraglich ist nur, wie rudimentär oder elaboriert es rezipiert wurde, etwa beschränkt auf das pure, aperte und dilucide dicere, so etwa in der Herennius-Rhetorik oder ähnlich bei Isidor³⁰ (z.  B. II 16) oder unter Einschluss des von einigen, keineswegs allen Autoren formulierten

den lateinischen Quellen hrsg. und erklärt von Karl Kinzel, Halle a. d. S. 1884 (Germanistische Handbibliothek 6). 20 Herbort’s von Fritslâr Liet von Troye. Hrsg. von Georg Karl Frommann, Quedlinburg, Leipzig 1837 (Bibl. d. ges. dt. Nat.-Lit. 5). 21 Lanzelet. Eine Erzählung von Ulrich von Zatzikhoven. Hrsg. von Karl August Hahn, Frankfurt a. M. 1845. 22 Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland nach der Gothaer Handschrift, Gottes Zukunft und Visio Philiberti nach der Heidelberger Handschrift. Hrsg. von Samuel Singer, Berlin 1906 (DTM 7). 23 Stanislaw Sawicki: Gottfried von Straßburg und die Poetik des Mittelalters, Berlin 1932 (Germanische Studien 124), bes. S. 58. 24 Ganz (Anm. 3), S. XXV. 25 Krohn (Anm. 2), Bd. 3, S. 60. 26 Christoph Huber: Gottfried von Straßburg: Tristan und Isolde, München, Zürich 1986 (Artemis Einführungen 24). Vgl. aber Hubers revidierte Position in diesem Band. 27 Zu wenig beachtet scheint mir für die Rolle der Rhetorik bei Gottfried die Arbeit von Winfried Christ: Rhetorik und Roman. Untersuchungen zu Gottfrieds von Straßburg Tristan und Isold, Meisenheim am Glan 1977 (Deutsche Studien 31). 28 Manfred Günter Scholz: Perspicuitas – Gottfrieds Stilideal? In: Mittelalterliche Poetik in Theorie und Praxis. Fs. für Fritz Peter Knapp. Hrsg. von Thordis Hennings/Manuela Niesner/Christoph Roth, Berlin, New York 2009, S. 257–269, hier S. 266. 29 Dazu Bernhard Asmuth: Perspicuitas. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding, 10 Bde, Tübingen 1992–2012, Bd. 6 (2003), Sp. 814–874, hier Sp. 824–825. 30 Isidori Hispalensis episcopi etymologiarum sive originum libri XX. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit Wallace Martin Lindsay, 2 Bde, Oxford 1911.

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Vorbehalts gegen ambiges und widersprüchliches Sprechen, gegen gesuchte Metaphern und gegen Allegorien. Für den zweiten Fall würde in der Tat Gottfrieds Vorliebe für Allegorien ein Problem, aber eben nur dann, wenn man ein elaboriertes Modell zum Maßstab nimmt, und selbst da, z.  B. bei Cicero und Quintilian, wird die Allegorie keineswegs pauschal abgewiesen, sondern nur dazu aufgerufen, auf die Gefahr der obscuritas zu achten. Für den ersten Fall einer pauschalen, rudimentären Kenntnis gesteht auch Scholz zu: „Die drei Metaphern [er meint die Adjektive lûter, reine, cristallîn] stehen […] zu nahe am lateinischen Modell, als daß die Koinzidenz bloßer Zufall sein dürfte“.³¹ Ich kann keinen Grund erkennen, in Gottfrieds Stil-Terminologie nicht einen Rückgriff auf die rhetorische Tradition zu erkennen. lûter, rein, durhliuhtec zitieren purus, dilucidus und perspicuus und berufen sich damit auf das Ideal des perspicue loquendum, wie es bei dem im Mittelalter allgegenwärtigen Isidor heißt (II 16).

2 Hartmanns und Bliggers Sprache und Gottfrieds Stilideal Unverkennbar entwickelt Gottfried seine Kategorien am Beispiel anderer, eben Hartmanns und Bliggers, also von Vorgängern. Man könnte also vielleicht annehmen, in der Vergangenheit, also bis hin zu ihm, sei das die richtige, die beste Form sprachlicher Darstellung gewesen. Nun aber sei neu und anders anzusetzen. Abgesehen davon aber, dass dies eine Überbietungsgeste erforderte, die bei Gottfried gerade nicht vorliegt, bezieht Gottfried im Musenanruf (V. 4851–4905) das für Hartmann und Bligger formulierte Stilideal ausdrücklich auch auf sich. Der Unfähigkeitstopos (dem man im übrigen nicht gerecht wird, wenn man ihn  – wie Krohn  – als „affektierte Bescheidenheit“³² einstuft) wird in die Bitte an die Musen überführt, das Werk des Dichters mit genau den Eigenschaften auszustatten, die er an den besten seiner Vorgänger gerühmt hatte: Klarheit, Durchsichtigkeit und die Fähigkeit, in das Herz der Hörer vorzudringen: diu minen wort muoz er [der Tropfen aus der Musenquelle] mir lan durch den vil liehten tegel gan der camenischen sinne und muoz mir diu dar inne ze vremedem wunder eiten, dem wunsche bereiten als golt von Arabe. die selben gotes gabe

31 Scholz (Anm. 28), S. 266. 32 Krohn (Anm. 2), Bd. 3, S. 70.

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des waren Elicones, des oberesten trones, von dem diu wort entspringent, diu durch daz ore clingent und in daz herze lachent, die rede durchliuhtec machent als eine erwelte gimme, die geruochen mine stimme und mine bete erhœren oben in ir himelkœren und rehte als ich gebeten han. (V. 4889–4907)

Wir brauchten also keine Skrupel zu haben, das an Hartmann oder Bligger entwickelte Stilideal tatsächlich auch auf Gottfried zu beziehen. Diese Skrupel existieren aber. Manfred Günter Scholz stellt ausdrücklich fest: „In ihre [d.  h. Hartmanns, Bliggers, auch Veldekes] Fußstapfen will Gottfrieds Erzähler […] nicht treten.“³³ Wenn man Scholz folgt, ist das abzulesen an einer ironischen Distanzierung des Erzählers gegenüber seiner eigenen rühmenden Rede. Um das zu illustrieren, referiert er (nicht unbedingt repräsentative)³⁴ Forschungspositionen:³⁵ Auf J. A. Asher wirke der Preis Hartmanns im Vergleich mit dem Bligger-Lob „lukewarm“,³⁶ die Verse Wie luter und wie reine / siniu cristallinen wortelin / beidiu sint und iemer müezen sin (V. 4628–4630]), seien „possibly with some sarcasm“³⁷ formuliert. Auch für Dieter Goebel stelle der Preis Hartmanns nur „ein relatives Lob“ dar.³⁸ Im überschwenglichen [!] Lob Bliggers erkenne er ebenfalls, wie schon Ute Schwab, ironische Züge.³⁹ Ursula Liebertz-Grün schließlich komme zu dem Schluss: „Im Scheinlob Bliggers von Steinach parodiert der Erzähler mit burlesker Komik den Schwulst preziöser Stilblüten ideologischen Sprechens“.⁴⁰

33 Scholz (Anm. 28), S. 258. 34 Die maßgeblichen Beiträge zum sog. ‚Scheincharakter‘ des Musenanrufs bzw. seinem parodistischen Gestus haben Friedrich Ohly (Wolframs Gebet an den Heiligen Geist im Eingang des Willehalm. In: ZfdA 91 [1961/1962], S. 1–37) und Hans Fromm (Tristans Schwertleite. In: DVjs 41 [1967], S. 333–350) geliefert. Ich kann aber auch ihrer Argumentation nicht folgen. Vgl. dazu auch die Einwände von C. Stephen Jaeger: Medieval Humanism in Gottfried von Strassburg’s Tristan und Isolde, Heidelberg 1977 (Germanische Bibliothek Reihe 3), S. 61  f. 35 Scholz (Anm. 28), S. 261  f. 36 J. A. Asher: Hartmann and Gottfried: master and pupil? In: Journal of the Australasian Universities Language and Literature Association 16 (1961), S. 134–144, hier S. 142. 37 Asher (Anm. 36), S. 136. 38 Dieter Goebel: Tristans Einkleidung (Gottfried V. 4555–5011). In: ZfdPh 96 (1977), S. 61–72, hier S. 66. 39 Goebel (Anm. 38), S. 67; Ute Schwab: Lex et gratia. Der literarische Exkurs Gottfrieds von Strassburg und Hartmanns Gregorius, Messina 1967 (Publicazioni dell’Istituto di lingue e letterature straniere 1), S. 8. 40 Ursula Liebertz-Grün: Selbstreflexivität und Mythologie. Gottfrieds Tristan als Metaroman. In: GRM N. F. 51 (2001), S. 1–20, hier S. 9.

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Scholz folgert aus dieser Revue: „So kann damit gerechnet werden, daß – wie in der Minnesänger-Partie […] – auch in den Abschnitten zu Veldeke, Hartmann und Bligger Ironie im Spiel gewesen sein mag.“⁴¹ Ich kann die Signale nicht finden, die alle diese Textpartien als ironisch kennzeichnen sollen. Mir bleibt immer nur die Gegenfrage: woran sieht man das? Bei Bligger sollen es z.  B. die Übertreibung sein und die gesuchten Bilder: „Bei einem Zungenharfner, Messerwerfer und Buchstabenvogel wird man die keuschen und ehrenhaften Ideale der Reinheit und Durchsichtigkeit zu allerletzt suchen.“⁴² Um die Passage so zu verstehen, muss man aber schon den wortwîsen zum ‚Buchstabenvogel‘ verunstalten, die präzise Kunst des Messerwerfens⁴³ zur Zirkusnummer entwerten und das perfekte Zusammenspiel von Stimme und Harfe im ‚Zungenharfner‘ lächerlich machen. Verzichtet man auf solche Manipulation, dann ist auch in der BliggerRühmung Gottfrieds sogenanntes Stilideal, ergänzt um das harmonische Zusammenspiel von wort und sin (vgl. V. 4623 und V. 4867), ausformuliert: er hat den wunsch von worten: sinen sin den reinen ich wæne daz in feinen ze wundere haben gespunnen und haben in in ir brunnen geliutert und gereinet: er ist binamen gefeinet. sin zunge, diu die harphen treit, diu hat zwo volle sælekeit: daz sint diu wort, daz ist der sin: diu zwei diu harpfent under in ir mære in vremedem prise. (V. 4698–4709)

Woran liegt es, dass durchweg klare, durchsichtige, cristallîne Textaussagen nicht beim Wort genommen werden? Woher kommt der Drang nach ironischer Verfremdung? Noch einmal kann uns vielleicht Manfred Günter Scholz auf die rechte Spur setzen: Wenn Gottfrieds Erzähler nach dem Literaturexkurs in einer von rhetorischer Ironie dominierten Passage (V. 4828–4858 [die Unfähigkeitsbeteuerung]) konstatieren muß, daß ihm angesichts der Übermacht der schone redenden sein sin und seine zunge ihren Dienst versagen, bedeutet dies, daß, was immer an den einzelnen Autoren gerühmt wurde, nicht dazu taugt, die Schilderung von Tristans Schwertleite zu befördern.⁴⁴

41 Scholz (Anm. 28), S. 262. 42 Ebd. 43 Vgl. Krohn (Anm. 2), Bd. 3, S. 66. 44 Scholz (Anm. 28), S. 262.

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Das bedeutet es nicht. Das beschriebene und in den gerühmten Vorbildern verkörperte Ideal wird in keiner Weise angetastet. Aber Gottfrieds Erzähler sieht sich nicht in der Lage, es zu erfüllen. So sagt es der Text: man sprichet nu so rehte wol, daz ich von grozem rehte sol miner worte nemen war und sehen, dazs also sin gevar, als ich wolte, daz si wæren an vremeder liute mæren und alse ich rede geprüeven kan an einem anderen man. nun weiz ich, wies beginne: min zunge und mine sinne dien mugen mir niht ze helfe komen; mir ist von worten genomen enmitten uz dem munde daz selbe, daz ich kunde. (V. 4845–4858)

Das Vorbild der Redekundigen, dem er sich so ausführlich gewidmet hatte, mache ihn, den man, der niht wol reden kann (V. 4835), stumm: der sin wil niender dar zuo; son weiz diu zunge, waz si tuo, al eine und ane des sinnes rat. (V. 4827–4829)

Die Passage ist schnell als Unfähigkeitstopos zu erkennen. Aber deshalb ist sie nicht schon ironisch. Einem solchen Verständnis läge die Vorstellung zugrunde, topische Aussagen seien nicht so ganz ernst gemeint. Das sind sie aber sehr wohl. Sie sind nur in gewisser Weise vorformuliert. Auch ein Unfähigkeitstopos ist ernst zu nehmen. Das bedeutet hier: Gottfrieds Erzähler beteuert seine Unfähigkeit, aber die Interpreten glauben ihm nicht. So wenig wie sie ihm die Beschreibung seines Stilideals glauben oder die Rühmung der Erzähler ernst nehmen wollen, an denen er es exemplifiziert. Auf einen sehr banalen Nenner gebracht, heißt der Einwand: Gottfried weiß, wie es geht und er macht es dennoch nicht. Also muss die Rede ironisch gemeint sein. Denn schließlich wissen wir ja, dass Gottfried Ironiker ist: ein Meister zweideutigen Sprechens, wie er ja schon in der Eidesformel des Gottesurteils zeigt. Das aber ist wiederum eine falsche Voraussetzung. Gottfried ist kein Ironiker, er ist ein Dilemmatiker. Damit komme ich zu meiner dritten Frage.

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3 Gottfrieds Sprachauffassung, seine sprachliche Praxis und die gedankliche Faktur seines Werkes Gottfrieds Tristan erzählt Auswegloses. Die sprachliche Figur, die dem Ausdruck gibt, ist das Oxymoron⁴⁵ (die gedankliche, darauf hat Hans Fromm⁴⁶ schon vor 40 Jahren hingewiesen, das sic et non Abaelards). Die ‚Mehrdeutigkeit‘ Gottfrieds liegt nicht an irgendeiner verwaschenen Ironie, sondern am Zusammenstoß der Gegensätze. Das Oxymoron kann nur funktionieren, wenn die beiden Bestandteile der oxymoralen Aussage in sich glasklar bestimmt sind: cristallîn.⁴⁷ Zweideutigkeit wie sie beispielhaft beim Eid des Gottesurteils vorgeführt wird, setzt eindeutige Formulierungen voraus. Isolde formuliert zwei einander ausschließende Wahrheiten in einem Satz, aber beide sind eindeutig.⁴⁸ Aporie, Paradox, Antithese als die gedankliche Grundfigur von Gottfrieds Tristan sind immer schon gesehen worden. Julius Schwietering hat 1943 Kontradiktion und Paradox als das Zentrum des Werkes herausgestellt (und einseitig auf die mystische Unio bezogen),⁴⁹ Gottfried Weber 1953 die Antithese betont (und daraus ganz zu Unrecht eine Krise des mittelalterlichen Weltbildes abgeleitet).⁵⁰ Auch Dietmar Mieth betont 1976 die antithetische Struktur (sieht aber eine „Versöhnung der Oppositionsbeziehungen in der Form“⁵¹ – auch das ist frühes 20. Jahrhundert). Stephen

45 Vgl. die gründliche Bestandsaufnahme bei Wiebke Freytag: Das Oxymoron bei Wolfram, Gottfried und andern Dichtern des Mittelalters, München 1972 (Medium aevum 24), S. 143–244. 46 Hans Fromm: Gottfried von Straßburg und Abaelard. In: Fs. für Ingeborg Schröbler. Hrsg. von Dietrich Schmidtke/Helga Schüppert. PBB 95 (1973), Sonderheft, S. 196–216. Hier zitiert nach dem Abdruck in: Hans Fromm: Arbeiten zur deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 172–190. 47 Freytag (Anm. 45), S. 240: „Gottfried liebt das formal klare und glatte, doch inhaltlich gerade aufgrund dieser Form desto gespanntere und geheimnisvollere Oxymoron.“ Vgl. auch Ursula LiebertzGrün: „Seine Worte sind klar und vieldeutig, seine Bilder durchsichtig wie Vexierbilder, die aus unterschiedlichen Perspektiven ganz unterschiedliche Ansichten vorspiegeln.“ (Dies.: Klassisches im Mittelalter. Pluralität in der volkssprachigen höfischen Literatur. In: Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. DFG-Symposion 1990. Hrsg. von Wilhelm Vosskamp, Stuttgart, Weimar 1993 (Germanistische Symposien Berichtsbände 13), S. 101–120, hier S. 111), zitiert bei Scholz (Anm. 28), S. 257. 48 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Klaus Grubmüller: Ir unwarheit warbæren. Über den Beitrag des Gottesurteils zur Sinnkonstitution in Gottfrieds Tristan. In: Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters. Fs. für Karl Stackmann. Hrsg. von Ludger Grenzmann/ Hubert Herkommer/Dieter Wuttke, Göttingen 1987, S. 149–163. 49 Julius Schwietering: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg und die Bernhardische Mystik. Abgedruckt u.  a. in: Julius Schwietering: Philologische Schriften, München 1969, S. 338–361. 50 Gottfried Weber: Gottfrieds von Straßburg Tristan und die Krise des hochmittelalterlichen Weltbildes um 1200, 2 Bde, Stuttgart 1953. 51 Dietmar Mieth: Dichtung, Glaube und Moral. Studien zur Begründung einer narrativen Ethik mit einer Interpretation zum Tristanroman Gottfrieds von Straßburg, Mainz 1976 (Tübinger theologische Studien 7), S. 214.

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Jaeger arbeitet 1977 die „Two-foldedness“ heraus (und will sie über die Integumentum-Lehre auflösen, die dazu nicht geeignet ist).⁵² So sehr die antithetische Grundstruktur des Tristan dabei auch gesehen wird, so wenig wird sie als Ausdruck der grundlegenden thematischen Dilemmatik akzeptiert. Sie gilt der Forschung als ein irgendwie zu überwindender defizitärer, vorläufiger oder vordergründiger Zustand. Nur Hans Fromm macht sie zur Basis seiner Interpretation und nähert sich dabei auch einer historisch zu verortenden Lösung.⁵³ Er erkennt in ihr den Ausdruck eines „im genauen Wortsinne heillose[n] Zustand[es]“ (S. 180) dieser Welt und der Erfahrung, dass sie „in der Eindeutigkeit der Werte, die sie bestimmen, nicht aufgeht“ (S. 181). Den gedanklichen Hintergrund sieht er im aufkommenden Aristotelismus des 12. Jahrhunderts, der seinen konsequentesten Ausdruck in der Dialektik des Petrus Abaelard, insbesondere in der Dicta-Sammlung Sic et non und auch in seinem moraltheologischen Hauptwerk Ethica seu Scito te ipsum, finde. Für den Schluss freilich, dass damit auch die Voraussetzung gegeben sei, für eine „neue […] Wertethik […], [in der] die Liebe zum höchsten innerweltlichen Gipfel erklärt“ (S. 183) werde und es nur eines gebe, in dem „die Antinomien sich auf[höben], in der Ganzheitserfahrung der reinen Liebe, wie sie von Tristan und Isolde exemplarisch verwirklicht wird“ (S. 181), braucht Fromm den Rückgriff auf die spektakuläre Lebens- und Liebesgeschichte Abaelards, die er – durchaus mit einer gewissen Berechtigung – als weithin bekannt voraussetzt. Es bedarf aber nicht der Propagierung einer neuen ‚Liebesreligion‘ (die ja doch wieder vom Wunsch nach einer Versöhnung der Gegensätze und der Überwindung des dialektischen Widerspruchs ausgelöst ist). Der Widerspruch selbst, die Antinomie, das Dilemma sind nicht nur Gegenstand des philosophischen Denkens des 12. Jahrhunderts, sie rücken, in den Poetiken des 12. Jahrhunderts, auch nahe an Gottfrieds poetisch-rhetorisches Umfeld heran, und sie werden abgehandelt gerade auch am Thema der Liebe. Robert Glendinning hat 1987 auf die grundsätzliche Bedeutung dieses Zusammenhangs für das Denken von Gottfrieds Zeit aufmerksam gemacht: [The] rhetorical lore provided Gottfried’s age with a method of exploring the ‘problem’ of eros without diminishing its irony and its contradictory qualities.⁵⁴

52 Jaeger (Anm. 34), bes. S. 139–155. Jaegers subtile Textbeobachtungen werden durch die Integumentum-Lehre als Erklärungsmodell zu sehr eingeebnet. 53 Fromm (Anm. 46). 54 Robert Glendinning: Gottfried von Straßburg and the School-Tradition. In: DVjs 61 (1987), S. 617–638; Zitate S. 636.

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Er stellt die These auf, that the increasing interest in antithesis and its verbal vehicles, especially the oxymoron, displayed in a succession of medieval rhetorical treatises, represents an important and profound attempt on the part of the age to analyse and understand the basis of its own thought.⁵⁵

Glendinning zeigt überzeugend, dass Gottfried Matthäus von Vendôme gekannt und benutzt hat, und zwar sowohl die Ars versificatoria wie seine Fassung von Pyramus und Thisbe, in der Matthäus eine Vorstellung von Liebe entfaltet, die genauso doppeldeutig und ausweglos ist wie die Gottfrieds: beglückend und zerstörend.⁵⁶ Diese Geschichte gehört zu den Erzählungen, in denen die Unmöglichkeit demonstriert wird, „wahre passionierte Liebe im Rahmen der gesellschaftlichen Normen und Regeln zu verwirklichen. Die Liebenden scheitern an gesellschaftlichen Instanzen […] und finden sich erst im Tode“.⁵⁷ Glendinnings Folgerung lautet: It seems a reasonable inference that the late 12th century objectified its ambivalent and contradictory feelings about eros by creating a theory of love according to which this contradictoriness was the essential nature of love itself. Thus the oxymoron, and particularly the chiastic oxymoron would ipso facto be a natural organizing structure for the expression of thoughts or experience related to eros, and this explains further why theorizing about the nature of eros should have taken place in rhetorical manuals and in works written by rhetoricians.⁵⁸

Es ist also nicht schwer, von hier aus den Zusammenhang zwischen Gottfrieds Sprachauffassung und dem gedanklichen Kern seines Werkes zu erkennen. Auf beiden Ebenen wird ein Dilemma, vielleicht sogar eine Aporie benannt: die Unmöglichkeit, unbedingte Liebe in der Realität der Gesellschaft zu verwirklichen auf der einen Seite und auf der anderen die Unmöglichkeit, ein unbezweifelt gültiges (rhetorisches) Ideal, das der claritas und perspicuitas, zu erreichen. Das Dilemma ist im Sprechen und Schreiben wie in der Minne die strukturierende Figur. Der unaufgelöste Widerspruch seiner Vorstellung über die richtige Sprache folgt aus der rhetorischen Forderung nach dem aptum. Er erfüllt sie perfekt: Andere mögen eindeutig und widerspruchsfrei formulieren können, aber Gottfried kann seinem Thema, den Aporien der Liebe, nur im Widerspruch, im Dilemma des sic et non, gerecht werden.

55 Glendinning (Anm. 54), S. 622. 56 Die konzeptionelle Nähe des Pyramus und Thisbe-Stoffes zum Tristan zeigt sich zum Beispiel auch in der Rückwirkung des Tristan auf die deutsche Version von Pyramus und Thisbe: Der die Gräber der beiden toten Liebenden umschlingende Rebstock ist ohne Zweifel aus den deutschen TristanFortsetzungen entlehnt (vgl. Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hrsg., übers. und komm. von Klaus Grubmüller, Frankfurt a. M. 1996 [Bibliothek des Mittelalters 23], S. 1148  f.). 57 Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau – Märe – Novelle, Tübingen 2006, S. 163. 58 Glendinning (Anm. 54), S. 636  f.

Christoph Huber

Kristallwörtchen und das Stilprogramm der perspicuitas Zu Gottfrieds Tristan und Konrads Goldener Schmiede Die folgenden Überlegungen wurden durch einen Aufsatz von Manfred Günter Scholz angeregt.¹ Die Forschung hat Gottfrieds Hartmann-Lob im Literaturexkurs ziemlich einhellig dem rhetorischen Stilideal der perspicuitas zugeordnet, das Gottfried auch für sich selbst beansprucht, es sei denn dass er dieses Lob ironisch meint und sich davon distanzieren will. Diese Voraussetzungen gelten auch für die stilistischen Termini in den Passagen über Bligger und Heinrich von Veldeke wie den Musenanruf.² Scholz verweist nun auf den Befund, den Asmuth in einem Artikel im Historischen Wörterbuch der Rhetorik herausgearbeitet hat, dass nämlich das klassische rhetorische perspicuitas-Prinzip dem Mittelalter sozusagen unterwegs abhandengekommen sei.³ Die mittellateinischen Stillehren, deren Benutzung für Gottfried als Quelle nachzuweisen ist, kennen es nicht und wurden in diesem Punkt irrtümlich beizitiert.⁴ Hinzu kommt, dass die einschlägigen Klarheits-Kriterien nicht zu Hartmanns Stilpraxis und noch weniger zu der Gottfrieds passen. Scholz durchmustert einige Verfahren, die für Gottfried gerade im Literaturexkurs eher eine Annäherung an die obscuritas-Tradition nahelegen. Es klingt etwas resignativ, wenn er seinen Aufsatz beschließt: „Urteile, die sich verfestigt haben, so ungeprüft sie auch tradiert wurden, haben eine lange Haltbarkeit. Die Gefahr, daß obscuritas zu Gottfrieds Stilideal erklärt wird, besteht also vorerst nicht.“⁵

1 Manfred Günter Scholz: Perspicuitas – Gottfrieds Stilideal? In: Mittelalterliche Poetik in Theorie und Praxis. Fs. für Fritz Peter Knapp. Hrsg. von Thordis Hennings/Manuela Niesner/Christoph Roth, Berlin, New York 2009, S. 257–269. 2 Scholz (Anm. 1), S. 261  f. Dort Referat zu den Ironie-Thesen von Asher, Göbel, Schwab, LiebertzGrün. Kritisch Grubmüller in diesem Band. 3 Bernhard Asmuth: Perspicuitas. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding, 10 Bde, Tübingen 1992–2012, Bd. 6 (2003), Sp. 814–874, zu christlicher Rhetorik und Mittelalter Sp. 835–844. 4 Asmuth (Anm. 3), Sp. 837  f.; Scholz (Anm. 1), bes. S. 260; S. 267. 5 Scholz (Anm. 1), S. 269. Besonders weit geht Ursula Liebertz-Grün: Selbstreflexivität und Mythologie. Gottfrieds Tristan als Metaroman. In: GRM N. F. 51 (2001), S. 1–20. In Kombination mit der Ironie-These wird Dunkelheit als Gottfrieds Stilprinzip gesehen, allerdings ohne Anschluss an die rhetorische obscuritas-Tradition, bes. S. 6–10.

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 Christoph Huber

So bleiben Kernaussagen des Literaturexkurses erneut zu bedenken.⁶ Immerhin finden sich in den viel zitierten cristallînen wortelîn und den Epitheta lûter und reine Stichwörter, die Asmuth dazu bewegt haben, Gottfried von Straßburg als große Ausnahme in sein Panorama einzureihen.⁷ Wie sind nun diese im Rahmen des Exkurses zu lesen? Wie passen sie zu anderen, unbezweifelbaren Anleihen aus dem Fundus der mittellateinischen Stilistik? Lässt sich aus der essayistisch sprunghaften Bilderflut von Gottfrieds Literaturreflexion überhaupt ein stilistisches ‚Programm‘ gewinnen? Diese Fragen spricht Jens Haustein im Rahmen der neueren Theorie-Debatten an.⁸ Auf der Ebene der historischen Stilistik bewegt sich die Kontroverse, ob Gottfried als Anwalt einer verbindlichen Tradition, der lateinischen nämlich, votiert oder ob er die Brücken dorthin abbricht und im Medium der Volkssprache sich völlig neu und inkommensurabel selbst definiert.⁹ Andererseits werfen Gottfrieds stilistische Voten Fragen auf, wenn man sie zwischen Sinnbildung und Präsenzeffekten oszillieren sieht. Zwischen Hartmann und der Gegnerfigur werden diese unterschiedlich austariert. Wie immer man sich hier entscheidet, die Betonung von Präsenz und Performanz mit ihrer Konzentration auf sinnliche Effekte, auf Form- und Klangstrukturen, die den Text autoreflexiv als literarischen spiegeln, rücken eine funktionalistisch orientierte traditionelle Stilistik, und damit auch das Klarheits-Prinzip, aus dem Fokus. Ich komme auf diesen Aspekt zurück. Beim erstgenannten Punkt gehe ich allerdings von der methodischen Prämisse aus, dass der Ansatz an der Tradition, namentlich der historischen Stilistik, unverzichtbar ist, auch wenn man auf das Neue und Spontane in Gottfrieds volkssprachlichem Gedankenflug hinaus will. Denn radikal voraussetzungsloses Sprechen ist nicht nur unmöglich, sondern kann gerade im Rahmen des Literaturexkurses nicht Gottfrieds Intention sein, auch im Hinblick auf den von ihm angespielten lateinisch gelehrten Hintergrund. Wir packen den Stier gleich bei den Hörnern und kümmern uns um die cristallînen wortelîn (V. 4629). Die metaphorische Kombination, die hier im Deutschen zum ersten Mal belegt auftaucht,¹⁰ ist nur scheinbar klar und bei näherem Hinsehen kaum

6 Zit. nach der durchgesehenen und kommentierten Ranke-Ausgabe: Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hrsg. von Walter Haug/Manfred Günter Scholz, 2 Bde, Berlin 2011 (Bibliothek des Mittelalters 10; 11). 7 Asmuth (Anm. 3), Sp. 838. 8 Jens Haustein: Mediävistische Stilforschung und die Präsenzkultur des Mittelalters. Mit einem Ausblick auf Gottfried von Straßburg und Konrad von Würzburg. In: Textprofile stilistisch. Beiträge zur literarischen Evolution. Hrsg. von Ulrich Breuer/Bernhard Spies, Bielefeld 2011 (Mainzer historische Kulturwissenschaften 8), S. 43–60. 9 Haustein (Anm. 8, S. 48) zitiert Katharina Philipowski (2007). Vorsichtiger votiert für eine (noch) unterminologische stilistische Nomenklatur bei den mhd. Klassikern Gert Hübner: Lobblumen. Studien zur Genese und Funktion der ‚Geblümten Rede‘, Tübingen, Basel 2000 (Bibliotheca Germanica 41), S. 38–44 passim, bes. S. 41. 10 Vgl. Sigrid Müller-Kleimann: Gottfrieds Urteil über den zeitgenössischen deutschen Roman. Ein Kommentar zu den Tristanversen 4619–4748, Stuttgart 1990 (Helfant-Studien 6), hier S. 56.

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weniger rätselhaft als der demonstrativ kryptische Neologismus der bickelwort (vgl. V.  4641). Bei der Übersetzung ist man mit „kristallen“ jedenfalls auf der sicheren Seite, mit „kristallklar“ legt man sich auf die perspicuitas fest, was um alles in der Welt aber meint Walter Haug mit „kristallen-zierlichen“ Worten?¹¹ Die Kommentare halten sich auffällig zurück und referieren allenfalls, wenn sie ausführlich sein wollen, die naturkundliche Lehre vom Kristall als durch Kälte, Dunkelheit und Druck ‚zusammengewachsenem‘, verfestigtem Eis, woraus sich für die Stelle kein Honig saugen lässt.¹² Konsultiert man die bedeutungskundliche Forschung zur theologischen Edelsteinallegorese bei Christel Meier, erfährt man, dass der Kristall aufgrund seines Auftauchens an schwierigen Bibelstellen ungewöhnlich ausgelegt wird.¹³ Dominant ist hier zwar die Semantik der Durchsichtigkeit, der Reinheit, des Leuchtens und Glänzens, wie sie den Edelsteinen allgemein zugesprochen wird.¹⁴ Die Reinheit kann so als Ungetrübtheit vom Schmutz der Sünde interpretiert werden. Aber mit den lithologischen Vorgaben vom Kristall als verfestigtem Eis, das unter Schwierigkeiten auch wieder zu verflüssigen ist, kommen Deutungsperspektiven in malam partem ins Spiel. In dem allegorischen Handbuch des Hieronymus Lauretus findet sich dazu eine kompakte Synopse:¹⁵ Positiv gesehen wird die Verwandlung vom Instabilen zum Festen, vom Weichen zum Harten etwa in Bezug auf die menschliche Natur Christi durch das Leiden; auf die Natur der Engel nach ihrer Versuchung; auf den Glauben.¹⁶ 11 Möglicherweise sucht Haug (Anm. 6), S. 265, den Anschluss an den ornatus-Kontext und nicht das perspicuitas-Prinzip. 12 Lambertus Okken: Kommentar zum Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg, 3 Bde, Amsterdam 1984–1988 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 57; 58; 81), Bd. 1 (1984), S. 233  f.; Müller-Kleimann (Anm. 10), S. 55–57. 13 Christel Meier: Gemma Spiritalis. Methode und Gebrauch der Edelsteinallegorese vom frühen Christentum bis ins 18. Jahrhundert, München 1977 (Münstersche Mittelalterschriften 34). 14 Hier S. 237–239. Als bibelhermeneutischen Beleg nennt Müller-Kleimann (Anm. 10, S. 56, Anm. 166) eine Stelle bei Bruno Astensis (gest. 1123): Vetus Testamentum, quod prius quidem obscurissimum erat, nunc spiritualiter intellectum, digne satis crystallus vocatur, quoniam spiritualiter intelligentibus clarissimum et penetrabile factum, est (PL 164, Sp. 1221 B, „Das Alte Testament, das früher höchst dunkel war, wird nun im Spiritualsinn sehr zu Recht ein Kristall genannt, da es denen, die es spiritual verstehen, sehr klar und durchsichtig wurde.“ [C. H.]). 15 Hieronymus Lauretus: Silva allegoriarum totius sacrae scripturae, Barcelona 1570, Nachdruck der Ausgabe Köln 1681, München 1971, Artikel Crystallus S. 296. 16 Zur Auslegung auf die Engel vgl. Heinrich von Kröllwitz, Vater Unser-Auslegung (Heinrich’s von Krolewiz ûz Mîssen Vater Unser. Hrsg. von Ge. Chr. Lisch, Quedlinburg, Leipzig 1839, [Bibl. d. ges. dt. Nat.-Lit. 19]). Literale Beschreibung: der stein sô lûter ist irkant, / daz man dâ durch ein hâr wol siet; / der stein ouch wol bî golde stîet, / wan er ist harte reine (V. 1209–1212); dann Auslegung auf der engele schar / an dîe got hât geleit / lûtterlîche klârheit, / wan an sie nie sunde nequam [im Gegensatz zu den abgefallenen Engeln] (V. 1410–1413). – Exegese auf die Standhaftigkeit des Christen im Prolog von Albrechts Jüngerem Titurel (Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel. Hrsg. von Werner Wolf [I-II, 2]/Kurt Nyholm [II, 2-IV], Berlin 1955–1995 [DTM 45; 55; 61; 73; 77; 79]), Str. 36–39; etymologisierende Aufforderung, daz ir zu Kriste ch kristellet (Str. 39,2).

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Die im kristallisierten Eis gewonnene Festigkeit kann aber auch als Verhärtung, als sündige Verstocktheit ausgelegt werden, die aufgelöst werden muss.¹⁷ Prinzipiell modifiziert der Edelstein das Licht durch seine Farbe; andererseits werden an ihm auch Verunreinigungen und Trübungen beobachtet und gedeutet. Edelsteine können so das Durchscheinende repräsentieren, das weder völlig klar noch völlig undurchlässig ist, oder auch das ganz Undurchsichtige, Dunkle.¹⁸ Christel Meier referiert einen bemerkenswerten Beleg im Reductorium des Petrus Berchorius (14. Jh.), der eine textbezügliche Allegorese-Richtung einschlägt. Der Edelstein Alectoria, der als dunkler Kristall gilt, bezeichne so zum einen die claritas sapientiae der Bibel, zum anderen aber auch ihre difficultas und obscuritas.¹⁹ In einer anderen Ecke der Tradition lagert ein mythologisch-magisches Requisit, der kristallene Schild des Perseus, der im Kampf gegen die Gorgo durch seine Spiegelungseffekte wirkte und in der Mythenexegese psychologisch und ethisch rationalisiert wurde und so beim Marner auch in die volkssprachliche Dichtung Eingang fand. Wir lassen ihn dort ruhen.²⁰ In Gottfrieds Hartmann-Lob jedenfalls wird das Kristalline ausdrücklich mit dem Lauteren und Reinen verbunden. Die Gegner-Polemik hebt dagegen auf das Obskure, auf die Absenz von Sinn oder bewusste Täuschung, auf sprachliche Verwirrung und Verdunkelung ab. Doch bringt die Bilderfolge des Literaturexkurses auch auf der positiven Seite Tendenzen zur Geltung, die der Wortkunst eine ornamental dichte, fremde, exotische, eher opake Seite zusprechen, vor allem im Bligger-Abschnitt. Hier wird der von Feen gesponnene und geläuterte sin im geistigen Hintergrund der Worte zu einem reich verzierten Textgewand verarbeitet. Dieser Sinn des Gedichtes ist nicht leicht einzufangen, sondern schwebt hoch in der Luft wie ein Adler.²¹ Quast ordnet diese semantisch opake Region dem ,Nichthermeneutischen‘ zu, welches über die Feen auf der sin-Ebene eine magisch-mythische Begründung erhält und gleichermaßen auf der Gegenseite wie bei den gepriesenen Literaten gefunden werden kann.²² Im Musenanruf verwandelt sich das Wasser der Pegasus-Quelle unvermittelt in eine Goldküche der camenischen sinne, um die Worte wie arabisches Gold in ein fremdarti-

17 Meier (Anm. 13), Augustinus zu der schwierigen Psalmstelle 147,16  f., S. 96–99. 18 Meier (Anm. 13), S. 236–240. 19 Meier (Anm. 13), S. 237  f., Anm. 480. Die Stelle lautet bei Petrus Berchorius, Opera, Bd. 1, Köln 1692: Et ista scriptura dicitur crystallus obscura [sic], quia vere in ista est claritas sapientiae, et tamen cum hoc difficultas, et obscuritas invenitur (S. 735, „Diese Schrift wird ein dunkler Kristall genannt, weil in ihr wahrhaft die Klarheit der Weisheit ist und man dennoch dabei Schwierigkeit und Dunkelheit findet.“). Zum obscuritas-Charakter der Bibel grundsätzlich Asmuth (Anm. 3), Sp. 839  f. 20 Mit reichen Materialien Christoph Gerhard: Perseus kristallîner schilt. In: GRM N. F. 26 (1976), S. 91–113. – Vgl. auch Jens Haustein: Marner-Studien, Tübingen 1995 (MTU 109), S. 188–191. 21 Tristan, V. 4718–4722; sîniu wort diu sweiment alse der ar (V. 4722). 22 Bruno Quast: Gottfried von Straßburg und das Nichthermeneutische. Über Wortzauber als literarästhetisches Differenzkriterium. In: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 51, 3 (2004), S. 250–260.

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ges Wunderwerk einzuschmelzen.²³ Das Flüssige wechselt hier zum festen, opaken, glänzenden Material. In dieser Perspektive wird man schon im Hartmann-Teil das durchverwen und durchzieren, die Durchformung des Textes mit ornatus eher als Modifizierung und Trübung der reinen Durchsichtigkeit sehen. An dieser Stelle kann der Blick auf Konrad von Würzburg dem stilistischen Entwurf Gottfrieds weiteres Profil geben. In dem Marienpreis Die Goldene Schmiede, einem Kabinettstück gelehrter Rhetorik, führt Konrad den Kristall zweimal als Marienmetapher aus.²⁴ In einer Reihe von mariologisch gedeuteten Pflanzen und Steinen tauchen nebeneinander der Kristall und der Beryll auf.²⁵ Sie werden verglichen mit Marias Keuschheit, da sie, obwohl kalt von Natur, als Brennglas wirkend, eine Kerze entzünden können. Entsprechend habe Maria, selbst keusch, den göttlichen Schein aufgenommen, do wart uns von der tugent din / Crist, daz ware lieht enzunt (V. 854  f.). In der vorhergehenden Bilderreihe wird Maria immer wieder als Mittlerin zwischen Gott und Menschen und als deren Helferin gepriesen, wobei das Thema Licht, Klarheit, Reinheit, Keuschheit²⁶ und Verweise auf die jungfräuliche Geburt sich durch den Text ziehen, nicht als logisch verankerte Argumente, sondern als Motivzusammenhang, der in zahllosen Querverbindungen das Gedicht durchwebt. Dabei wechselt Konrad auch auf die Metaebene und lässt Qualitäten seines Sprechens und seiner Sprachgestaltung anklingen: schon unde luterlichen / wirt iemer hie din pris getwagen (V. 362  f.). Ein traditionelles Bild beschreibt die Inkarnation mit dem Weg des Sonnenlichtes durch unverletztes Glas: diu sunne verwet nach dem glase ir claren unde ir liehten glanz: swa si durch ez schinet ganz, ez si gel rot oder bla, si [die Sonne] wirt nach im [dem Glas] gestellet sa und in die varwe sin geleit; sus wart diu luter gotheit nach dir geverwet, frouwe guot.

23 und muoz mir diu [Worte] dar inne / ze vremedem wunder eiten, / dem wunsche bereiten / als golt von Arâbe (Tristan, V. 4892–4895). 24 Die angekündigte Ausgabe von Karl Bertau ist noch nicht erschienen, daher wird zitiert nach: Die Goldene Schmiede des Konrad von Würzburg. Hrsg. von Edward Schröder, 2. unveränd. Aufl., Göttingen 1969. – Die Stellen: V. 842–857; V. 1794–1831. – Die anonyme mndl. Bearbeitung des Werkes mit dem Titel Marien voerspan of sapeel (Hrsg. von Joachim Moschall, Erlangen 1983) reduziert die Kristall-Allegorese und spricht nur von der cristallen luterheit (S. 65). 25 dir ist der cristallenstein / gelich und der berille: / beid offenbare und stille / zel ich si zuo der kiusche din. / swie kalt si von nature sin, / leit man si zuo der sunnen, / ein kerze ist dran enbrunnen / schier unde in kurzer wile gar. / din luter herze liehtgevar / und kalt von kiuscheclicher art, / do daz geleit zer sunnen wart, / ich meine an götelichen schin, / do wart uns von der tugent din / Crist, daz ware lieht, enzunt, / der ewecliche und alle stunt / beliuhten muoz die engel (Die Goldene Schmiede, V. 842–857). 26 Vgl. die Zusammenstellung: kiusche luter unde glanz (Die Goldene Schmiede, V. 279).

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du striche ir [der Gottheit] an fleisch unde bluot, do Crist, diu ware sunne […] schein dur dinen ganzen lip. (V. 778–789)

Was hier vom Glas gesagt wird, ist offensichtlich eine Variante zur inkarnatorischen Exegese von Kristall und Beryll, wobei die Farbe im Glas zusätzlich die Vermittlung der menschlichen Natur durch Maria einbringt. Kurz darauf heißt es vom Marienlob: durliuhteclichen sol erbrehen / din name zaller zite (V. 800  f.); und wenige Verse hinter die Kristall-Auslegung setzt Konrad im sogenannten ‚Zwischenprolog‘ seine Inspirationsbitte an Maria, die ihm helfen soll, daz ich müeze / von minen cranken sinnen / diu linden wort gewinnen / diu dinem namen wol gezemen (V. 876–879). Sie möge ihm helfen, dem Tadel der meister, der wisen, zu entkommen. Wie von einfältigen Schafen die Wolle für das Kleid eines Kaisers gesponnen wird, so schir ich tumber CUONRAT / ab einvaltigem sinne / die rede uz der ich spinne / dir ein richez erenkleit (V. 890–893). Konrad kombiniert und überlagert also heterogene Bildbereiche, um sein literarisches Unternehmen zu formulieren. Die autoreferentielle Dimension der Edelsteinallegorese, die durchweg mitschwingt, drängt sich vor allem bei der zweiten Kristall-Deutung auf. Hier geht es um die natürliche Wirkung des Kristalls als Vergrößerungsglas:²⁷ er hat an im die grozen und die gewalteclichen art, daz nie kein schrift so cleine wart, ir schin enwürde breiter, ob dirre stein vil heiter si dahte und übergriffe: swer in ot dünne sliffe und uf die schrift in wollte haben, ern saehe ir cleinen buochstaben durch in groezer schinen. davon genoze ich dinen durliuhteclichen glast darzuo, wand ich geloube daz er tuo gelich dem selben steine. (V. 1800–1813)

So lasse Maria dem Sünder die Schuld, die ihm klein dünkt, größer erscheinen und motiviere ihn zur Reue. Die auf den Text, und zwar den schriftlich vermittelten, beziehbare Eigenschaft des Kristalls liegt hier auf der literalen Ebene. Der Kristall fun-

27 Gerhard (Anm. 20), S. 106, verweist zur Stelle auf den Lesestab als technische Errungenschaft des 13. Jahrhunderts. – Vgl. den Beryll als Vergrößerungsglas/Brille bei Hugo von Montfort: Werlich din lieb sich meren tuot / Als durch den barillen tuot die gsicht (Hugo von Montfort. Hrsg. von Karl Bartsch, Tübingen 1879 [StLV 143], Lied 2, V. 86  f.).

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giert dabei als Medium, welches das Transportierte verändert. Über die vermittelnde Funktion hinaus wird so dem Kristall und vergleichbaren diaphanen Medien auch eine modifizierende Leistung mit einer besonderen Wirkung auf den Betrachter zugesprochen. Dass über diese proprietates der Brückenschlag zur theologischen Aussage gefunden wird, steht auf einem anderen Blatt. Wir stoßen hier auf einen Themenkomplex in Konrads Literaturreflexion, der mir im Zusammenhang mit Gottfrieds Exkurs von Bedeutung zu sein scheint. Schon 1958 hat Wolfgang Monecke in einem bemerkenswert verfallsresistenten Buch das ,Erzählprinzip der wildekeit‘ herausgearbeitet, das über Narratives hinaus ein allgemeines Stilprinzip beschreibt.²⁸ wilde ist bei Konrad im Zusammenhang mit anderen Verwendungen des Adjektivs als stilkritischer Terminus ausführlich belegt. Er bezeichnet, wie Monecke nachweist, in einem semantischen Feld neben spaehe, waehe, fremde, cluoc (S. 10) das Erlesene, Kostbare, Faszinierende: „die wilde Erzählung weckt Aufmerksamkeit und Wißbegier, […] erregend durch die Reize des Besonderen, ja Ausgefallenen“. (S. 11). Thematisch nähert sich das wilde Sprechen dem unfassbaren Gegenstand (vgl. S. 9). So reflektiert die Goldene Schmiede die unerschöpfliche Fülle der Mariensymbolik in einer Anrede an Maria: du bildaer und exempel [Maria als schöpferisches Urbild vor der Zeit], daran diu welt ie wunder kos, din wunder ist so bodemlos daz aller engel sinne grundes niht darinne kiesent noch erreichent. bi dir ist uns bezeichent so manec sache wilde, daz nieman din unbilde [das bildliche Vorstellung Übersteigende] mit worten mac volenden. (V. 558–567)

Nicht von den Dingen wird auf Maria geschlossen, sondern die Gottesmutter ist eine Art inkommensurables Urbild, ein Archetypus, der sich in zahllosen wilden Dingen wunderbar ausprägt und nicht angemessen in Worte zu fassen ist. In der mittelalterlichen allegorischen Hermeneutik ist diese Umkehrung der üblichen Verweisrelation von den Zeichen auf den unaussprechlichen Gegenstand vorgezeichnet. Auf der Ebene der Sprachgestaltung verbindet sich wilde mit dem rhetorisch kunstvoll durchgestalteten Stil. Der Prolog der Goldenen Schmiede wendet dies als Unfähigkeitstopos, der das, was erforderlich wäre, dem Dichter abspricht: Einsicht (sinne), wilde ausgefallene Reimkunst, in der Tradition aufgestöberte fünde und die Fülle der rhetorischen Kunstmittel im Bild von Vegetation und Schmiedekunst.

28 Wolfgang Monecke: Studien zur epischen Technik Konrads von Würzburg. Das Erzählprinzip der wildekeit, Stuttgart 1968 (Germanistische Abhandlungen 24).

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davon dir [Maria] miner worte satz vil ungemæze ist harte. Der künste meiengarte ist leider mir ze wilde, darinne ich lobes bilde dir, frouwe, solte würken […] von liehter sinne glanze wirde ich niht gemüejet, der wilde rim niht blüejet vor mines herzen ougen, noch clinget für mich tougen der claren fünde bechelin […] ich sitze ouch niht uf güenem cle von süezer rede touwes naz, da wirdeclichen ufe saz von Strazburc meister Gotfrit, der als ein wæher houbetsmit guldin getihte worhte. (V. 76–81; V. 86–89; V. 94–99)

Da haben wir Gottfried als Stilvorbild auf dem rhetorisch geblümten campus verborum mit dem Goldschmiedehammer in der Hand! Sein Literaturexkurs als Prätext von Konrads stilkritischen Ausführungen! In einer grundlegenden Interpretation der Goldenen Schmiede hat kürzlich Susanne Köbele Konrads stilistisches Experimentieren analysiert und auf ein „Gottfried-Idiom“ zurückgeführt.²⁹ Dabei geht es um die Dialektik von rhetorischer Virtuosität und Unverfügbarkeit des InkarnationsWunders; von Klangkunst und Metaphernkunst, die in einem Verhältnis von wechselnder Prioriät die Aufmerksamkeit des Rezipienten bald mehr auf die sprachlichen Präsenzeffekte, bald mehr auf die komplexe Sinnbildung richten. Die Beobachtungen zu metaphorischer Überblendung, zu Bildbrüchen und Zeitsprüngen, denen wir in der eben zitierten Prologpassage der Goldenen Schmiede begegneten, macht Köbele auch in Gottfrieds Sprachtechniken.³⁰ Für beide, Gottfried wie Konrad, kann in dieser Hinsicht ein Programm der perspicuitas im Sinne von rhetorischer Klarheit und Eindeutigkeit nicht angesetzt werden. Die literarhistorischen Verästelungen eines spezifisch ‚wilden‘ Stils hat seinerzeit schon Monecke in den Blick genommen. Initial wirkt vor allem Wolfram von Eschenbach (wildiu maere, wilder vunt, wildiu wort).³¹ In die Wolfram- und Gottfried-Nach-

29 Susanne Köbele: Zwischen Klang und Sinn. Das Gottfried-Idiom in Konrads Goldener Schmiede (Mit einer Anmerkung zur paradoxen Dynamik von Alteritätsschüben). In: Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren. Hrsg. von Anja Becker/Jan Mohr, Berlin 2012 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 8), S. 303–333. – Zum „Gottfried-Idiom“ besonders S. 311  f. 30 Köbele (Anm. 29), S. 319  f. 31 Monecke (Anm. 28), Kap. 1, S. 1–33; zu Gottfried S. 14–21.

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folge stellt sich später Rudolf von Ems.³² Dieser konzipiert im Literaturexkurs vor dem 2. Buch des Alexander³³ nach Gottfrieds Vorbild die deutsche Literaturgeschichte als Baum, mit Veldeke als Stamm und den folgenden drei Klassikern als Pfropfreisern, die sich dar ûf in mange wîs / vil spælîche zerleitet / und bluomen ûz gespreitet (V. 3120– 3122) hätten. Die Kunst eines jeden wird in einer Adjektivreihe charakterisiert: Hartmanns Dichtung sei sleht, süeze und guot (V. 3123). Das Reis Wolframs sei starc, in mange wîs gebogn, / wilde, guot und spæhe, / mit vremden sprüchen wæhe (V. 3130– 3132). Gottfried schließlich erhält den meisten Raum und die meisten Adjektive, mit denen er Hartmanns und Wolframs Qualitäten verbindet. Sein Reis sei spæhe guot wilde reht, / sîn süeziu bluot ebensleht / wæhe reine vollekomn usw. (V. 3143–3145). Dass er getihte krümbe slihten (V. 3164) könne, ist offensichtlich im Hinblick auf Wolfram gesagt. Zu Recht betont Monecke wie andere nach ihm, dass diese volkssprachliche Stilistik, wenn man sie so nennen darf, sich mit der lateinischen Tradition gerade nicht zur Deckung bringen lässt: „Etwas will sich zeigen, wovon die Schulpoetiken nicht wissen und wofür es keine Namen, keine leitenden Ideen gibt.“³⁴ Wir versuchen dennoch, die Verpflichtung an die rhetorische Norm und die Absetzung von ihr genauer zu fassen. Bekanntlich hat das Prinzip der ‚Klarheit‘ seinen Platz unter den vier aretai tes lexeos, den virtutes elocutionis, die auf die Rhetorik des Aristoteles-Schülers Theophrast zurückgehen und mit Cicero und Quintilian in der lateinischen Tradition etabliert wurden.³⁵ Sie übergreifen die sprachtechnischen Einzelverfahren der elocutio und deren systematische Einteilungen und sind offensichtlich als übergeordnete Prinzipien angesetzt. Die Gesichtspunkte der latinitas, des korrekten lateinischen Ausdrucks, und des aptum, der inneren Kohärenz bzw. des kommunikativ adäquaten Situationsbezuges,³⁶ laufen beide auf die perspicuitas, die in der Prozesskultur erforderliche Klarheit der Rede, zu. Zwischen perspicuitas und ornatus aber besteht ein Antagonismus, den schon die Antike wahrnimmt und erörtert. Denn die Klarheit mit Einzelanweisungen wie der Wahl des eigentlichen, treffenden, eindeutigen Wortes, der Vermeidung von Metaphern, Archaismen, Neuprägungen, Ambiguitäten, einer zu komplizierten oder zu kurzen Syntax usw. läuft Gefahr, in Banalität und Abgedroschenheit abzugleiten und die Aufmerksamkeit des Zuhörers zu verlieren. Zwischen Klarheit und Redeschmuck muss eine Balance ge-

32 Monecke (Anm. 28), S. 20  f. 33 Rudolf von Ems: Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Victor Junk, 2 Bde, Leipzig 1928–1929 (StLV 272; 274), Bd. 1, V. 3063–3268. 34 Monecke (Anm. 28), S. 21. 35 Zur lückenhaften Überlieferung der einschlägigen Passagen Asmuth (Anm. 3), Sp. 835  f.; entsprechend Scholz (Anm. 1), S. 260. 36 Vgl. Einführung in die Stilistik. Hrsg. von Karl-Heinz Göttert/Oliver Jungen, München 2004 (UTB 2567), S. 150  f. zum inneren bzw. äußerem aptum. Ausführlich Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, 3. Aufl. Stuttgart 1990, § 258, s.  a. Register ‚aptus‘, S. 648.

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funden werden, die sich je nach Geschmack für mehr oder weniger Schmuckformen entscheidet.³⁷ Eine schlichte, hinter dem Redeschmuck auf Eindeutigkeit zielende perspicuitas, wie sie vielleicht noch in der Charakterisierung von Hartmanns Leistung anklingt, dass er mit rede figieret / der âventiure meine (V. 4626  f.),³⁸ wäre schon für Hartmann problematisch³⁹ und hat vollends in Gottfrieds Sprachästhetik keinen Ort. Mit dem Wegfall der Prozess-Rhetorik im mittelalterlichen Kontext hat sie ohnehin längst ihre Funktion verloren. Sie kann nach unseren Überlegungen auch in Gottfrieds Kristall-Metapher nicht anvisiert sein. Die Gottfried-Forschung ist hier einem Phantombild aufgesessen. Der Kristall spielt in der mittelalterlichen Wahrnehmung wie auch andere Edelsteine eine das Licht modifizierende Rolle. Auch bei hoher Durchlässigkeit verändert und bricht er das Licht, er vergrößert und verzerrt das Wahrgenommene. Genau das erfolgt bei einer durchfärbten und durchzierten Sprache. Der Kristall funkelt und reflektiert wie auch das goldene Geschmeide, das im Schmelztiegel der Sprachkunst ze vremedem wunder (V. 4893) geformt wird. Wir haben also bei Gottfrieds Stilbeschreibung von einem Konzept auszugehen, das nicht nur Kompromisse schließt, sondern Polares zusammenbringt, Strategien, welche die rede durchliuhtec machent / als eine erwelte gimme (V. 4902  f.) mit Verfahren, die sie durchverwen und durchzieren (vgl. V. 4625). Ich nenne diese kristalline Qualität nicht ‚Klarheit‘, sondern ‚Transparenz‘ im Sinne von trans-parere, ‚durch etwas hindurch erscheinen‘. Während mit perspicuitas /‚Klarheit‘ der traditionelle Sachbezug mit einer durchschlagenden Wirkung angezielt ist, tritt hier die Funktion des Mediums stärker in den Vordergrund, das den Blick hindurch auf etwas anderes öffnet, aber auch spontan wirken und als solches wahrgenommen werden kann und dabei Sinnhaftes im Redeprozess erschließt.⁴⁰ Bei dieser Verschiebung wird die rhetorische Tradition von den mittelalterlichen Theoriefeldern zur Ästhetik und zur semantischen Mehrschichtigkeit überlagert. Asmuth begründet das mittelalterliche Verschwinden der perspicuitas-Norm ausdrücklich mit dem zweiteren, dem Gewicht der schrifthermeneutischen und allegorischen Verfahren.⁴¹ Außerdem ist der Schönheits-Diskurs im Spiel, der seit Cicero neben der Proportion Lichthaftigkeit und Farbe als Definitionsmerkmale anführt.⁴² 37 Manfred Fuhrmann: Die antike Rhetorik. Eine Einführung, München, Zürich 1984 (Artemis Einführungen 10), S. 116  f.; S. 123. 38 Zu den Deutungsvarianten von figieret Müller-Kleimann (Anm. 10), S. 40–43: in Frage kommen ‚treffen‘ oder ‚bilden/gestalten‘. Scholz (Anm. 6), Bd. 2, S. 365  f., plädiert für ersteres. 39 Scholz (Anm. 1), S. 262. 40 Vgl. oben zur Präsenz-Debatte Quast (Anm. 22); Haustein (Anm. 8); Köbele (Anm. 29). 41 Asmuth (Anm. 3), Sp. 838–840. 42 Asmuth (Anm. 3), Sp. 841  f. – Vgl. Christoph Huber: Merkmale des Schönen und volkssprachliche Literarästhetik. Zu Hartmann von Aue und Gottfried von Straßburg. In: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Manuel Braun/Christopher Young, Berlin, New York 2007 (Trends in Medieval Philology 12), S. 111–141.

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Ich werde jetzt diese geläufigen Theoriekontexte nicht in Gottfrieds Literaturexkurs einzeln aufweisen; sie sind dort als Subtexte allgegenwärtig, präsentieren sich aber wie das Rhetorische in der Form eines funkelnden Essays, der das schulmäßig Gelehrte abstreift und aus tradierten Materialien im überraschenden Wechsel der Facetten neue, komplexe Evidenzen stiftet. Ich möchte im Folgenden aber noch auf drei poetologische Felder eingehen, die sich sachlich dem Transparenzprinzip anlagern und namentlich in Gottfrieds Literaturreflexion Akzente setzen. 1. Gottfrieds Wirkungsästhetik: Auffällig ist bei Gottfrieds stilistischen Ausführungen der große Anteil der Wirkungs-Kalküle. Die stilistischen Devisen kommen letzten Endes in der Kommunikation zum Tragen. Gert Hübner hat diese Grundorientierung der älteren Rhetorik und ihren Unterschied zur modernen mimetischen oder antimimetischen Ästhetik im Zusammenhang mit dem evidentia-Prinzip herausgestellt.⁴³ Von den Kristallwörtchen heißt es, dass sie so rein, wie sie sind, iemer müezen sîn (V. 4630). si koment den man mit siten an, / si tuont sich nâhen zuo dem man / und liebent rehtem muote (V. 4631–4633). Positiv besetzt wird so ein publikumsfreundliches, ansprechendes, geradezu einschmeichelndes Sprechen, das in ruhiger Affektlage rezipiert werden soll. Seine Wirkung soll wertend wahrgenommen und von einem kunstkritischen Konsens bestätigt werden. Der insinuierende Vermittlungsmodus findet sich auch bei der Konzipierung von Schönheit, die sich nicht durch Reiz und grelle Effekte, nicht durch den Verstoß gegen Erwartungen aufdrängen soll. Eine glatte Oberfläche soll die affektiv ausgeglichene Rezeptionshaltung garantieren.⁴⁴ In diesem Punkt, nicht in der Verwendung des ornatus, zieht Gottfried eine klare Trennlinie zwischen dem positiven Entwurf und seinem Gegenstück. Das deckt sich mit der Charakterisierung seines Romanpublikums, das auf Übereinstimmung mit den inhaltlichen Grundwerten des Romans vorverpflichtet und zu einer empathischen Grundeinstellung eingeladen wird. Die Frontlinie zum negativen Gegenbild verläuft also weniger in den sprachlichen Techniken selbst: Zwar werden der hasenhaft sprunghafte Stil verspottet und eine Reihe von Sprachqualitäten propagiert bzw. abgelehnt, aber das ästhetische Urteil ist zunächst Verhandlungssache. Die Entgleisungen einer abgelehnten Kunstpraxis werden ausführlich im Raum der Wirkung als Rezeptionsphänomene angeprangert. Der oder die schlechten Dichter bernt uns mit dem stocke schate usw. (V. 4673). Keine reinen Sonnenstrahlen, sondern üppig grünender Schatten sind angenehm, auch mit diesen Bildern stellt sich der Text gegen eine ungefilterte Lichthaftigkeit. Die Verfahren der Gegenseite sind nicht grundsätzlich und per se obskur. Vor allem kritisiert werden die Gaukelkünste im Jahrmarktstil, die Unverständige zu täuschen vermögen;

43 Gert Hübner: evidentia. Erzählformen und ihre Funktionen. In: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland/Matthias Meyer, Berlin, New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 119–147. 44 Vgl. Tristan, V. 4661–4664, mit der Opposition: ebene, sleht, ufreht, traben – besnaben. Zur Glätte der Fügung, in der sich Spannungen unter der Oberfläche halten, vgl. Gerok-Reiter in diesem Band.

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oder an anderer Stelle eine Kommentarbedürftigkeit, die nur durch fragwürdiges Wissen in magischen Quellen (in den swarzen buochen, V. 4690) zu befriedigen wäre. Nun werden dem Kristall in der Tradition auch zwielichtig-mantische Funktionen nachgesagt,⁴⁵ und Gottfried siedelt am Ursprung der reinen Inspirationsquelle Feen mit ihren Zauberkräften an. Das Magisch-Numinose erscheint so aus dem Sprachwerdungsprozess nicht prinzipiell verbannt, und das attackierte Gegnerbild bewegt sich weitgehend von sprachlichen Oberflächenphänomenen weg in die Richtung auf ästhetische Wirkungen und auf die prekäre Vermittlung von Wahrheitswerten zu. Dieser Akzent gilt gerade für das Wildheits-Merkmal, wenn es in der Gegner-Beschreibung gehäuft auftritt,⁴⁶ wobei das Kostbare, Fremde, Exotische durchaus positiv konnotiert sein kann. 2. Metaphorische Interferenzen: Es geht also um die im transparenten Medium erfahrbaren Wahrheiten, aber diese zeichnen sich nur verschwommen ab. Der Literaturexkurs übernimmt keine traditionellen Systematiken. Er etabliert seine Einteilungen nicht über abstrakte Termini und nicht über geschlossene Abschnitte (Die Dichterparagraphen können als solche nicht gelten.). Es sind vielmehr Metaphern, die sich gruppieren und einerseits Felder von Äquivalenzen, andererseits die Grenzlinien zwischen Oppositionen zeichnen. Da ist die Sprache im Zeichen von Kristall und anderen Edelsteinen, von Gold, von herabströmendem Licht oder Wasser;⁴⁷ Festes wechselt mit Flüssigem usw. Das überlappt sich zum Teil mit dem Wildheits-Diskurs auf der Gegenseite, wo aber die Konfrontation mit dem Publikum gesucht wird, nicht eine Strategie der Vereinnahmung. Nachdem die Zusammenhänge durch Metaphern gestiftet werden, wird man nicht umhin können, deren textweite Vernetzung zur Kenntnis zu nehmen (Anders Scholz, der die kristallinen wortelin, die erweltiu gimme und das Kristallbett der Minnegrotte säuberlich auseinanderhalten möchte.⁴⁸). In Konrads Goldener Schmiede haben wir die ständige Versetzung der Metaphorik zwischen Objektbezug und Reflexivität beobachtet. Die Bilder für Maria mit ihren zahlreichen Überlappungen und Kontrasten treiben, wie auch Köbele betont,⁴⁹ nicht nur die labyrinthische, begrifflich unabschließbare Gedankenfolge des Gedichts voran, sondern setzen dabei auch ständig mariologisches Thema und Kunstreflexion in Relation. 45 Karl Olbrich: Kristall. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, 10 Bde, Berlin, New York 1927–1942, Bd. 5 (1933, Nachdruck 1987), Sp. 576–578; Fritz Boehm: Kristallomantie, ebd. Sp. 578–594. – Petrus Berchorius weiß in seinem Artikel zum „dunklen Kristall“ Alectoria, aus dem oben die schrifthermeneutische Auslegung zitiert wurde (Anm. 19), auch von den magischen Qualitäten des Steins: secundum magos, facit certantem invictum et insuperabilem (ebd.). 46 Vom Hasen über die vindære wilder mære, / der mære wilderære (V. 4665  f.) zum Ausdruck die selben wilderære (V. 4683). 47 Verwandt auch Glas und Spiegel. 48 Scholz (Anm. 1), S. 263  f. 49 Köbele (Anm. 29) sieht die Kohärenz der Goldenen Schmiede durch Klang wie Metaphorik hergestellt, These S. 310  f. und passim, etwa S. 318.

Kristallwörtchen und das Stilprogramm der perspicuitas 

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Entsprechend gilt bereits für Gottfrieds Stilreflexion, dass ihre Metaphorik der Minnemetaphorik homolog gebaut ist. Die sprachlichen Verfahren spiegeln das zentrale Thema des Romans. Das kristallene Minnebett der Grotte hat der Künstler aus dem Edelstein konform dem Namen der Höhle geschnitten, es bedeutet Reinheit. Zahlreiche Proprietäten des Weißen, Glatten, Lichthaften charakterisieren die Höhle und symbolisieren die Minnetugenden. Vom goldgetriebenen, edelsteinbesetzten Kunstwerk des Schlusssteins strahlt das Idealbild der exemplarisch Liebenden nieder und zieht die Betrachter nach oben, nicht nur in ihren Blicken, sondern ihrer veritablen Minneexistenz. Die Grotte ist als Kunstwerk ein Abbild des Kosmos und zugleich des mikrokosmischen Herzinnenraums,⁵⁰ sie ist der fiktionale Raum des Autors Gottfried von Straßburg und auch ein Bild seines Romans. In Franziska Wessels Studie zur Minnemetaphorik des Tristan kann man zur Vernetzung der Lichtmetaphorik nachlesen. Lichthaftigkeit bestimmt die Portraits der blonden Isolde wie die Beschreibung Tristans als Ritter, der zum Morold-Kampf aufbricht. Licht und Farben evozieren hier nicht nur die Qualitäten des Schönen, sondern auch des Exotischen, des Gefährlichen und Gefährdeten. Licht und Glanz werden ambivalent besetzt.⁵¹ 3. Täuschende Transparenz und ästhetische Lüge: Die Ambivalenz des Schönen und die ethische Gespaltenheit des Liebesideals durchziehen als dominante Züge die Liebesgeschichte von Tristan und Isolde. Die Ambivalenz des Kunstwerks, das ästhetischen Genuss und Wirklichkeitsflucht anbietet, gestaltet eindringlich die PetitcreiuEpisode. Der Verlust sprachlicher Transparenz, des Sinnes hinter den Worten, zieht sich als roter Faden bis zur Weißhand-Episode und zu Tristans Verwirrung an der Bruchstelle des Fragments. Wie ist der sprachästhetische Entwurf des Literaturexkurses seinerseits davon betroffen? Scholz und viele andere weisen darauf hin, dass der immense reflektierende Aufwand des Triptychons mit Dichterschau, Inspirationsbitte und mythologischer Rüstungsschmiede, mit dem auf die Defizienzerfahrung eines verbum tritum reagiert wird, ins Leere läuft und kein Ergebnis für die Beschreibung von Tristans Differenzqualität im Vergleich mit den Gefährten seiner Schwertleite bringt.⁵² Tristan wird gleich eingekleidet wie sie, aber das braucht nicht mehr beschrieben zu werden. Es ist daran zu erinnern, dass Differenzästhetik auch das christliche Konzept einer negativen Theologie prägt. Gott und das Inkarnationsgeheimnis sind sprachlich nicht adäquat zu fassen, müssen aber im unzulänglichen Spiegel der 50 Ruth Finckh: Minor Mundus Homo. Studien zur Mikrokosmos-Idee in der mittelalterlichen Literatur, Göttingen 1999 (Palaestra 306), Kap. 6. 51 Vgl. Franziska Wessel: Probleme der Metaphorik und die Minnemetaphorik in Gottfrieds von Straßburg Tristan und Isolde, München 1984 (Münstersche Mittelalterschriften 54), S. 324–358. – Siehe auch Huber (Anm. 42), S. 135–140. 52 Zur Exzeptionalität Tristans Huber (Anm. 42), S. 130  f. Ausführlich Susanne Flecken-Büttner: Wiederholung und Variation als poetisches Prinzip. Exemplarität, Identität und Exzeptionalität in Gottfrieds Tristan, Berlin, New York 2011, hier S. 224–226. Die Verfasserin sieht im Literaturexkurs eine Analogie zwischen der Exzeptionalität der Helden und der auf Tradition fußenden Exzeptionalität von Gottfrieds stilistischem Anspruch ausgedrückt.

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 Christoph Huber

Dinge permanent als Unbeschreibbares beschrieben werden. Die differente und exzeptionelle Qualität der Protagonisten Tristan und Isolde und ihrer Minne entziehen sich einsinniger Darstellung, aber Gottfried verfasst zu diesem Thema einen Roman. So ist der kristalline Stil nicht in der Alternative von rhetorischer perspicuitas oder obscuritas zu fassen. Er bringt das Andere zur Erscheinung, aber er entzieht es damit auch der Eindeutigkeit. Wieweit vergleichbare Modelle ‚transparenten‘ Sprechens außer bei Gottfried und Konrad auch in anderen literarhistorischen Kontexten des Mittelalters – namentlich im Lateinischen und Französischen – ausgebildet werden und Felder jenseits der traditionellen rhetorischen perspicuitas aufbauen, die laut Asmuth im Mittelalter keine Konjunktur hat, ist in dieser Skizze nicht weiter zu verfolgen.

Albrecht Hausmann

Stil als Kommentar Zur inhaltlichen Funktion des Sprachklangs in Gottfrieds von Straßburg Tristan Gottfried mutet seinem Leser im Tristan viel zu: Erzählt wird von einem ehebrecherischen Paar und davon, dass die Integration einer absolut gesetzten Liebe¹ in die Gesellschaft nicht gelingen kann. Dennoch, so Gottfried gleich im Prolog, sei diese Lektüre für die ‚edlen Herzen‘ inneclîche guot (V. 173).² Was aber bedeutet dann ‚gut‘?³ Auf ähnliche Weise irritiert Gottfrieds Text immer wieder: Marke hat Anspruch auf Isolde, doch Tristan hat sie im Drachenkampf und auch im Sieg über Gandin verdient, während Marke nicht einmal merkt, dass ihm eine andere in der Hochzeitsnacht untergeschoben wird. Was gilt nun – die Ehevorstellung der höfischen Gesellschaft oder ein Verdienstmodell, das sich offenbar von mythisch-heroischen Konzepten (Drachenkampf) her legitimiert?⁴ Das ehebrecherische Paar hat nach den Maßstäben der Welt keine êre, und doch kämpft es in der Baumgartenszene und im Gottesurteil um seine êre.⁵ Was ist das dann überhaupt noch – diese êre?

1 Die Minne ist im Tristan durch den Minnetrank und seine nicht hintergehbare Wirkung „absolut gesetzt“ und unterscheidet sich damit grundlegend von der ‚Liebe‘ in modernen Liebeskonzeptionen, die auf einem unbedingten Anspruch des Individuums auf Liebesglück beruhen. Der Liebestrank erzeugt einen objektiven Zwang, ohne den das Problem im 12. Jahrhundert vermutlich nicht diskutabel gewesen wäre. Dass Tristan und Isolde diesen objektiven Zwang durch subjektive Entscheidungen für sich annehmen, hat zuerst Hans Fromm herausgearbeitet: Hans Fromm: Gottfried von Straßburg und Abaelard. In: ders.: Arbeiten zur deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 173–190 [zuerst 1973]. 2 Gottfrieds Tristan wird zitiert nach: Gottfried von Strassburg: Tristan und Isold. Hrsg. von Walter Haug/Manfred Günter Scholz. Mit dem Text des Thomas, hrsg., übers. und komm. von Walter Haug, 2 Bde, Berlin 2011 (Bibliothek des Mittelalters 10; 11). 3 Für den gesamten Prolog und insbesondere für den Beginn stellt guot einen zentralen Begriff dar. Zum Prolog vgl. nach wie vor die Interpretation von Albrecht Schöne: Zu Gottfrieds Tristan-Prolog. In: DVjs 29 (1955), S. 447–474. Die Literatur zum Tristan-Prolog kann hier nicht ausführlich gewürdigt werden, einen Überblick bietet der Kommentar in Haug/Scholz (Anm. 2), S. 230–239 (zum Aufbau und zum Akrostichon) und S. 239–272 (zu einzelnen Abschnitten und Stellen). 4 Zu der damit verbundenen ‚Zumutung‘ vgl. Annette Gerok-Reiter: Umcodierung. Zum Verhältnis von minne und ere in Gottfrieds Tristan. In: ZfdPh 121 (2002), S. 365–389, hier S. 366: „Die dezidierte Zurückweisung der tradierten Deutungsmuster führt im Sinn der Iserschen ‚Negationspotentiale‘ zu einer markanten ‚Leerstelle‘ des Verstehens. Diese seit 800 Jahren beunruhigende Leerstelle bildet die Mitte des Textes.“ 5 Provozierend häufig benutzen Tristan und Isolde das Wort êre insbesondere in den Gebeten, mit denen sie im Baumgarten um Rettung bitten (z.  B. Isolde: hilf uns, daz wir mit êren / von hinnen müezen kêren; / hêrre, bewar in unde mich!, V. 14707–14709). Hier irritiert insbesondere die Relativierung des êre-Begriffs gerade in der Apostrophe an Gott, der als Garant absoluter Werte gelten muss. Auf andere

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 Albrecht Hausmann

Die Forschung hat immer wieder mit Recht darauf hingewiesen, dass es bei diesen impliziten und zum Teil auch expliziten Gegensätzen⁶ nicht einfach um die Darstellung konkurrierender Ordnungen geht, die auf die eine oder andere Weise durch Hierarchisierung aufgelöst oder gar ‚versöhnt‘ werden könnten.⁷ Vielmehr werden die Aporien der Minneexistenz von Tristan und Isolde von Gottfried in ihrer Unlösbarkeit präsentiert. Innerhalb der Diegese gibt es keinen ‚archimedischen‘ Punkt, von dem aus diese Aporien beseitigt werden könnten, so dass wenigstens ‚am Ende‘ doch noch alles sinnvoll erscheint.⁸ Wo in anderen mittelalterlichen Erzähltexten der gnädige oder strafende Gott einen letztlich stabilen axiologischen Bezugspunkt bereitstellen kann, lässt sich im Tristan – wie im ersten Teil dieses Beitrags zu zeigen sein wird – eine solche Instanz nicht ohne unzulässige Vereinfachungen rekonstruieren. Aber auch mit dem sicherlich zutreffenden und für aktuelle Interpreten offenbar attraktiven Befund einer weitgehenden Ambiguisierung von Ordnungen, von Sprache⁹ oder von Erkennen¹⁰ selbst ist Gottfrieds Tristan nicht zureichend erfasst. Ohne Zweifel dekonstruiert Gottfried Gewissheiten der höfischen Gesellschaft und zeigt einen erheblichen Sprachskeptizismus. Die Geschichte von Tristan und Isolde lässt die gesamte Episteme der höfischen Gesellschaft als prekär erscheinen. Aber das ist nur die eine Seite. Die andere Seite wird erkennbar, wenn eine weitere Aussageebene hinzugenommen wird – die des Kommentars. Es ist offensichtlich, dass Gottfrieds Erzähler sich immer wieder explizit kommentierend einschaltet; insbesondere der Prolog und Weise signifikant ist die Diskussion um êre âne êre in Tristan V. 16310–16332. Zum gesamten Komplex vgl. Gerok-Reiter (Anm. 4), die eine sukzessive Umcodierung des êre-Begriffs konstatiert. 6 Vgl. Rüdiger Schnell: Suche nach Wahrheit. Gottfrieds Tristan und Isold als erkenntniskritischer Roman, Tübingen 1992 (Hermaea N. F. 67), S. 28–38 (Innen- und Außennormen); Tomas Tomasek: Die Utopie im Tristan Gotfrids von Straßburg, Tübingen 1985 (Hermaea N. F. 49), S. 67–69 (Feudalethik und Liebesethik). Einen die Gegensätze selbst zum Zentrum des Gottfriedschen Erzählprogramms erhebenden Ansatz legt Haferland vor: Harald Haferland: Gottfrieds Erzählprogramm. In: PBB 122 (2000), S. 230–258. 7 So etwa der grundsätzliche Ansatz bei Walter Haug: Gottfrieds von Straßburg Tristan. Sexueller Sündenfall oder erotische Utopie. In: ders.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 600–611 [zuerst 1986]. 8 Das zeigt sich insbesondere an der Diskussion um die moralische Dimension der Tristanminne, wie sie z.  B. Gerok-Reiter (Anm. 4), S. 367  f., nachzeichnet. Sie ist allein aus der Handlung heraus nicht zu beantworten; es ist bezeichnend, dass einer der wichtigsten Beiträge zu dieser Diskussion gerade die Paratexte heranzieht, um die Tristanminne als utopischen Entwurf zu charakterisieren: Tomasek (Anm. 6). Die Gegenposition kommt nicht ohne textferne Werturteile aus: Gottfried Weber: Gottfrieds von Straßburg Tristan und die Krise des hochmittelalterlichen Weltbildes um 1200, 2 Bde, Stuttgart 1953. 9 Susanne Köbele: iemer niuwe. Wiederholung in Gottfrieds Tristan. In: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela, 5. bis 8. April 2000. Hrsg. von Christoph Huber/Victor Millet, Tübingen 2002, S. 97–115; Gerok-Reiter (Anm. 4), S. 386: „Was unter minne zu verstehen, was adäquat mit ere zu bedenken sei, wird neu codiert.“ 10 Schnell (Anm. 6).

Stil als Kommentar 

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die Exkurse bilden zusammen einen umfangreichen Paratext, der das erzählte Geschehen bewertet und perspektiviert.¹¹ Freilich ist das Verhältnis von Paratext und Handlung kompliziert und keineswegs immer eindeutig.¹² Es entsteht der Eindruck, als sei hier mit Absicht immer wieder eine ‚schiefe‘ Beziehung zwischen Erzähltem und Exkurs hergestellt worden: So fehlt etwa der auf den ersten Blick naheliegenden und vom Text behaupteten Affinität zwischen Isolde und der Eva des huote-Exkurses (V. 17817–18114) jede eindeutige Plausibilität. Der Exkurssprecher scheint z.  B. völlig zu vergessen, dass die Anwendung von huote bei Isolde ja durchaus begründet wäre und die Normübertretung bei ihr keineswegs durch ein übertriebenes Verbot ausgelöst wurde. Trotz oder gerade wegen dieser offensichtlichen Referenzprobleme wirkt der Exkurs auf die erzählte Handlung zurück und kommentiert diese, indem er sich der spezifischen Probleme der Isolde-Existenz entledigt und auf das grundlegendere Problem der huote abstrahiert. Als Kommentare lassen sich aber auch implizite Elemente und Eigenschaften des Textes verstehen. Ein Beispiel dafür wäre etwa das Akrostichon,¹³ das den gesamten Text durchzieht und das, wenn der Tristan vollendet worden wäre, die Namen der Protagonisten in engster Verschlingung geboten hätte: G  T I I T  O  R S S R  T  I O O I  E  S L L S        G            O              T              E       T                 R           I             S       I            S          O           L         I            S               O            L          T             R             I            S

[FRID] [TAN] [DEN] [DEN] [TAN]¹⁴

Will man das Akrostichon nicht als manieristische Spielerei abtun, dann erscheint es als Ausdruck einer ‚inneren‘ Ordnung, in deren Horizont Tristan und Isolde offenbar untrennbar zusammengehören. Der Schöpfer des Akrostichons kommentiert damit das Geschehen; er tut dies aber nicht allein durch eine ‚wertvolle‘ Ausstattung des Textes, sondern indem er Ästhetik und Inhalt sehr eng führt.¹⁵ Das Ornament, als das man das Akrostichon zunächst verstehen kann, hat einen eigenen Inhalt: In ihm

11 Grundlegend dazu nach wie vor Tomasek (Anm. 6). 12 Vgl. Bernd Schirok: Handlung und Exkurse in Gottfrieds Tristan. Textebenen als Interpretationsproblem. In: Texttyp, Sprechergruppe, Kommunikationsbereich. Studien zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart. Fs. für Hugo Steger. Hrsg. von Heinrich Löffler u.  a., Berlin, New York 1994, S. 33–51; Schnell (Anm. 6), S. 13–17. 13 Vgl. dazu grundsätzlich klärend Bernd Schirok: Zu den Akrosticha in Gottfrieds Tristan. Versuch einer kritischen und weiterführenden Bestandsaufnahme. In: ZfdA 113 (1984), S. 188–213. 14 Nach Schirok (Anm. 13), S. 213; die Ergänzungen, die aufgrund des Fragmentcharakters des Tristan notwendig sind, stehen in eckigen Klammern. Zur Forschung und insbesondere zur Diskussion um die Ergänzung Isol-den vgl. Haug/Scholz (Anm. 2), S. 233–239. 15 Vgl. dazu auch Ulrich Ernst: Facetten mittelalterlicher Schriftkultur. Fiktion und Illustration, Wissen und Wahrnehmung, Heidelberg 2006 (Euphorion-Beiheft 51), S. 129.

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sind die Namen der Protagonisten verwoben, ihre Zusammengehörigkeit kommt zum Ausdruck. Im zweiten Teil des vorliegenden Beitrags möchte ich versuchen, auch Gottfrieds sprachlichen Stil als einen solchen ‚impliziten Kommentar‘ zu verstehen. Dabei geht es insbesondere um die Analyse der klanglichen Dimension in Gottfrieds Sprache. Gottfrieds spezifische Sprachverwendung  – sein ‚Stil‘¹⁶  – hat nämlich durch ihre akustisch disponierte Ästhetik eine ausgesprochen starke suggestive Wirkung auf den Hörer und selbst noch auf den stillen Leser, der die akustische Dimension im Lesevorgang mental rekonstruiert. Meine These ist, dass diese kommentierende Wirkung das Fehlen eines ‚archimedischen‘ Bezugspunkts innerhalb der Diegese in gewisser Weise ausgleicht, indem sie dem Rezipienten immer wieder ein Ordnungsangebot macht, das er  – eben weil es so suggestiv ist und primär auf Klangphänomenen beruht  – kaum ablehnen kann.¹⁷ Damit aber wird der Referenzpunkt für die Beurteilung der Geschichte aus dem Erzählten herausgelöst und in die Interaktion zwischen Autor und Publikum verlegt; er wird Teil der Pragmatik des Textes, die den Rezipienten in eine Subjektposition rückt:¹⁸ Er muss ja oder nein sagen¹⁹ und das Gute im Text selbst erkennen. Es geht im Folgenden also darum, wie das innere (Inhalt) und das äußere (Sprache) Gute der Erzählung von Tristan und Isolde zusammenkommen. Um das zu verstehen, muss freilich zunächst in einem ersten Teil gezeigt werden, dass Gottfried beim Erzählen des Tristan deshalb so sehr auf das äußere Gute angewiesen ist, weil er die Handlung innerdiegetisch zunächst einmal als irritierend kontingent präsentiert. 16 Der außerordentlich komplexe Begriff ‚Stil‘ wird im Folgenden pragmatisch verwendet: ‚Stil‘ verstehe ich als ein Phänomen, das nur relational zu fassen ist. Es beschreibt demnach die Markiertheit von sprachlichen Phänomenen, die durch verschiedene Formen von Bezugnahme hergestellt wird. Dabei müssen sich, damit sinnvoll von ‚Stil‘ gesprochen werden kann, im Regelfall mindestens ein intra- und ein intertextuelles Bezugssystem überschneiden: Das einzelne sprachliche Phänomen, das zum ‚Stil‘ eines Textes gehört, muss durch Bezugnahme auf andere Texte markiert sein (Differenz oder Ähnlichkeit), und es muss im Text selbst wiederholt auftreten (als Einzelphänomen könnte es keinen ‚Stil‘ bilden). In diesem Sinn wird im Folgenden vor allem die klangliche Qualität der Sprachverwendung Gottfrieds als Stilmerkmal beschrieben: Sie zeichnet den Text gegenüber anderen aus (was im Rahmen dieses Aufsatzes nicht gezeigt werden kann, aber konsensfähig sein dürfte) und tritt wiederholt im Text auf. 17 Zu einem ähnlichen Phänomen im Bereich des Minnesangs vgl. Markus Stock: Das volle Wort – Sprachklang im späteren Minnesang. Gottfried von Neifen, Wir suln aber schône enpfâhen (KLD Lied 3). In: Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von Minnesang und antiker Lyrik. Hrsg. von Albrecht Hausmann, Heidelberg 2004 (Euphorion-Beiheft 46), S. 185–202. 18 Meine Überlegungen treffen sich an diesem Punkt mit denen von Volker Mertens: Wahrheit und Kontingenz in Gottfrieds Tristan. In: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Cornelia Herberichs/Susanne Reichlin, Göttingen 2010 (Historische Semantik 13), S. 186–205. 19 Vgl. V. 16325  f.: ich spriche nein unde jâ: / nein unde jâ sint beidiu dâ. Immer wieder ist darin ein Bezug auf Abaelards ‚Sic et non‘ gesehen worden, siehe Fromm (Anm. 1); Irene Lanz-Hubmann: Nein unde jâ. Mehrdeutigkeit im Tristan Gottfrieds von Straßburg. Ein Rezipientenproblem, Bern 1989 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 5); zuletzt ablehnend Haferland (Anm. 6), S. 246.

Stil als Kommentar 

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I Kontingente Handlung und die Funktion des Suggestiven Auf einer stoffgeschichtlichen Ebene ist es unabdingbar, dass Tristan und Isolde zueinander finden müssen;²⁰ eine Erzählung, die dies nicht bietet, wäre schlicht kein Tristan-Roman. Auf der Ebene der Handlung ist das Zusammenkommen der beiden jedoch keineswegs unausweichlich und zwingend; es ist vielmehr Ergebnis einer langen Kette von zwar möglichen, aber nicht notwendigen Handlungsschritten.²¹ Alles kann, aber nichts muss so geschehen, wie es geschieht. Dass sich aus Tristans Schwert während des Morold-Kampfes ein Splitter gelöst hat (V. 7056), der später von Isolde im Leichnam ihres Onkels gefunden wird (V. 7184–7195) und noch später von ihr als passendes Gegenstück zur Scharte im Schwert von Tantris/Tristan identifiziert wird (V. 10073–10080), ist im Rahmen der erzählten Welt möglich, aber nicht notwendig. Letztlich handelt es sich um Zufälle, welche die Realität als kontingent kennzeichnen. Auch der letzte Schritt auf dem Weg der Annäherung, die gemeinsame Einnahme des Minnetranks, beruht auf einem reinen Zufall: Hätte die uneingeweihte Dienerin den beiden den Trank nicht versehentlich gereicht (V. 11667–11680), wäre nichts passiert, und die beiden hätten sich nicht ineinander verliebt. Jedoch wäre es verfehlt, Gottfrieds Darstellung allein auf die Exposition von Kontingenz zu verkürzen. Denn es ist ja nicht zu übersehen, dass jeder Schritt, den Tristan tut, aufs Ganze gesehen ein Schritt hin zu Isolde ist. Er ist von Anfang an derjenige, der erst durch die und in der Beziehung zu Isolde ‚er selbst‘ werden wird, und umgekehrt ist auch sie diejenige, die ihm zukommt: Der Weg seines stupenden Gelingens aber ist zugleich ein Weg fortschreitender Annäherung an Isold. Kein Zug der Handlung, der nicht, wider Erkennen und Wollen der Beteiligten zwar, ein weiterer Schritt zu Isold wäre, bis in die Kajütenszene, in der die beiden, in arglos privatem Gespräch beisammen, ahnungslos den Trank nehmen.²²

Nicht die Zufälle sind also das Entscheidende, sondern das intrikate Verhältnis eben dieser Zufälle zu einer stets erkennbaren Gerichtetheit des Geschehens. Genau hier liegt das zentrale Interpretationsproblem für Gottfrieds Tristan: Wer oder was verantwortet die Gerichtetheit des Geschehens? Wie stellt sich dieses ‚Subjekt‘ der Ge-

20 Eine stoffgeschichtliche Übersicht bietet Peter K. Stein: Tristan. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hrsg. von Volker Mertens/Ulrich Müller, Stuttgart 1984, S. 365–394. 21 Vgl. dazu auch Chinca, der den Begriff des Möglichen durch den Hinweis auf Erzählalternativen zusätzlich profiliert: Mark Chinca: Mögliche Welten. Alternatives Erzählen und Fiktionalität im Tristanroman Gottfrieds von Straßburg. In: Poetica 35 (2003), S. 307–333. 22 Franz Josef Worstbrock: Der Zufall und das Ziel. Über die Handlungsstruktur in Gottfrieds Tristan. In: Fortuna. Hrsg. von Walter Haug/Burghart Wachinger, Tübingen 1995 (Fortuna vitrea 15), S. 34–51, hier S. 36  f.

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schichte zum Phänomen der Kontingenz? Franz Josef Worstbrock hat diese Spannung im Blick, wenn er seinen Aufsatz zur Handlungsorganisation im Tristan mit dem Titel „Der Zufall und das Ziel“ überschreibt.²³ Worstbrock kommt zu dem Ergebnis, dass die Handlungsziele im Tristan, die diesem seine wesentliche Struktur geben, nicht durch das Wirken einer bzw. nur einer Instanz erreicht werden. Vielmehr seien stets mehrere Faktoren in einem unauflösbaren Zusammenhang verknüpft: In solchem Geflecht von Zufall, Fügung und Handlungsinitiative Tristans hat kein Element die Führung, auch das der Fügung Gottes nicht – es gewinnt hier, wie Haug bemerkte, keine größere Tragweite als die eines einzelnen positiven Zufalls.²⁴

Eine einzige schicksalhafte Instanz, auf die alles zurückgeführt werden könnte, gibt es also gerade nicht, stattdessen wird eine komplexe Pluralität von Faktoren erkennbar, denen die Protagonisten weitgehend unwissend gegenüberstehen. So lässt sich nach Worstbrock im Tristan eine narrative Struktur beschreiben, für die insbesondere die Identifizierung bestimmter Handlungsziele eine Rolle spielt. Dazu gehören u.  a. die Aufdeckung der wahren Identität des jungen Tristan am Markehof, die Begegnung mit Isolde und die gemeinsame Einnahme des Minnetranks. Zufälle stehen dabei offensichtlich im Dienst einer finalen Gerichtetheit des Geschehens. Für eine moderne Erzählung wäre eine solche Gerichtetheit schlicht Ergebnis der Tätigkeit des Autors; in vormodernem Erzählen weist der Autor in seiner Erzählerfigur die Verantwortung für den Handlungsverlauf aber in den meisten Fällen ab und schreibt sie einer Instanz innerhalb der Diegese zu (z.  B. Gott) oder präsentiert sie in ihrer durch Quellen verbürgten ‚Gegebenheit‘. So verfährt auch Gottfried: Die Position des Autors/Erzählers ist dabei – wie auch schon bei Thomas von England – die des kommentierenden Berichterstatters, nicht die des übergeordneten Organisators. Bei Gottfried ist diese kommentierende Position ‚neben‘ der Handlung noch deutlich stärker akzentuiert als bei Thomas. Das Geschehen erscheint jedem Eingriff durch den Autor entzogen. Auch die gelegentlichen Bemerkungen des Erzählers, kein auktoriales Wissen über bestimmte Vorgänge oder Motivationen der Figuren zu besitzen, lässt sich hier einordnen:²⁵ Solche Aussagen unterstützen den Eindruck eines autonom ablaufenden Geschehens, dem der Erzähler ‚nebengeordnet‘ ist. Auch Gottfrieds Quellenberufungen und -diskussionen gehören in diesen Kontext.²⁶ Gottfried

23 Worstbrock (Anm. 22); vgl. dazu auch Walter Haug: Aventiure in Gottfrieds von Strassburg Tristan. In: ders.: Strukturen als Schlüssel zur Welt (Anm. 7), S. 557–582 [zuerst 1972], mit abweichender Deutung der Zufallskonstellationen. 24 Worstbrock (Anm. 22), S. 40. 25 Ingrid Hahn: Raum und Landschaft in Gottfrieds Tristan. Ein Beitrag zur Werkdeutung, München 1963 (Medium Aevum Philologische Studien 3), S. 102, spricht von „bei Gottfried so beliebten oderKonstruktion[en]“. 26 Vgl. zum gesamten Komplex Monika Schausten: Erzählwelten der Tristangeschichte im hohen Mittelalter. Untersuchungen zu den deutschsprachigen Tristanfassungen des 12. und 13. Jahrhun-

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legt insbesondere im Prolog großen Wert auf die Feststellung, dass er die Geschichte von Tristan und Isolde in der richtigen und einzig gültigen Version erzählt, die auf seinen Gewährsmann Thomas von England zurückgeht (V. 135–161). Argument für den Geltungsanspruch der Version des Thomas ist zum einen, dass dieser Zugang zu authentischen historischen Quellen gehabt habe (und an britûnschen buochen las / aller der lanthêrren leben, V. 152  f.). Zum anderen unterscheide sich die Fassung des Thomas durch ihre erzähllogische Plausibilität von anderen Versionen. Vor allem die Schwalbenepisode bietet Gottfried Raum für eine Polemik gegen Versionen der Tristan-Geschichte, die sich um die Wahrscheinlichkeit des Erzählten nicht kümmern. Weder sei es plausibel, dass eine Schwalbe ein Haar zum Nestbau von Irland übers Meer nach Cornwall getragen habe (V. 8601–8615), noch sei es wahrscheinlich, dass Tristan ohne Plan und nur nâch wâne (V. 8618) auf die Brautfahrt für Marke gegangen sei: weizgot, hie spellet sich der leich, / hie lispet daz mære (V. 8614  f.). Mit seiner Argumentation greift Gottfried insgesamt schon auf Thomas zurück, der im Fragment Douce ebenfalls ausführlich das Problem der verschiedenen Versionen des Tristan-Stoffs behandelt und als Kriterium für eine begründete Auswahl aus dem Stoffangebot raisun (‚Vernunft‘) anführt.²⁷ Für die Tristan-Romane des Thomas und des Gottfried von Straßburg hat die Frage nach der gültigen Version eine Bedeutung, die über das in mittelalterlicher Erzählliteratur immer wieder implizit oder explizit thematisierte Problem der Fiktionalität hinausgeht:²⁸ Die heillose Liebesgeschichte von Tristan und Isolde findet ihre Rechtfertigung, anders als etwa die höfische Legende von Gregorius, nicht als Heilsgeschichte, an deren Ende alles in eine sinnvolle Lösung überführt erscheint. Auch der Artusroman Chrétienscher Prägung legitimiert seinen künstlich wirkenden Handlungsverlauf anders: Die historische Verbürgtheit der Handlung kann hier mehr im Ungewissen bleiben, weil Struktur und finale Synthese die Geschichte mit einem legitimierenden Sinnangebot ausstatten.²⁹

derts, München 1999 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 24), sowie Chinca (Anm. 21). Nur auf den ersten Blick kommt Chinca zu einem gegenteiligen Ergebnis, indem er für Gottfried in Anspruch nimmt, dass „jede Verpflichtung des Autors zu Historizität, Glaubwürdigkeit oder logischer Kohärenz seiner Geschichte okkasionell, nicht grundlegend“ sei (S. 328). Entscheidend ist aber die durchgängige Behauptung der Möglichkeit des Erzählten und die Zurückweisung aller anderen Möglichkeiten; das tatsächlich erzählte Mögliche ist im Moment der narrativen Realisierung eben das einzige, alle anderen Möglichkeiten sind damit ausgeschlagen. Dieses Mögliche wird von Gottfried als für ihn selbst gegeben inszeniert. 27 Vgl. dazu Anna Keck: Die Liebeskonzeption der mittelalterlichen Tristanromane. Zur Erzähllogik der Werke Bérouls, Eilharts, Thomas’ und Gottfrieds, München 1998 (Beihefte zu Poetica 22), S. 139 sowie S. 141–146. 28 Zur Fiktionalitätsproblematik vgl. aktuell Chinca (Anm. 21) sowie Sonja Glauch: An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens, Heidelberg 2009 (Studien zur historischen Poetik 1). 29 Zum Artusroman vgl. nach wie vor die Arbeiten von Haug, insbesondere Walter Haug: Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach. In: ders.: Strukturen als Schlüssel zur Welt (Anm. 7), S. 483–512.

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Der Tristan-Roman muss seine Handlung dagegen anders rechtfertigen: Weder kann der Autor behaupten, dass das Geschehen letztlich von Gott kommt und Teil einer umfassenden Heilsgeschichte ist, noch kann der Autor die eigene Kompositionsleistung durch ihr offensichtliches Sinnangebot legitimieren. Thomas und Gottfried inszenieren ihr Erzählen vielmehr so, als wären sie der vorgegebenen Handlung als eine Art Berichterstatter verpflichtet, ja geradezu ausgeliefert. Auch dort, wo es verschiedene Versionen gab, hatten sie – so ihre Behauptung – nur die Wahl, sich für diejenige Fassung zu entscheiden, die dem Kriterium der Plausibilität (Thomas: raisun) entsprach. Auf diese Weise schützen sie sich vor der für das Erzählen von Tristan und Isolde besonders gefährlichen Einrede, dass die Geschichte ja auch ganz anders hätte ablaufen können und man sie keineswegs notwendig so erzählen muss, wie Thomas und Gottfried es tun. Anders ausgedrückt: Die Handlung im TristanRoman ‚geschieht einfach‘, sie ist weder von einer einzigen übergeordneten Instanz innerhalb der erzählten Welt gesteuert, noch ist sie von einem Autor bloß erfunden. Sie ist als kontingentes Geschehen gegeben. Andererseits stellt sich damit immer noch die Frage, wer oder was die finale Gerichtetheit des Geschehens verantwortet, wenn es weder ein ‚erfindender‘ Autor tut noch eine erkennbare Instanz innerhalb der Diegese: Tatsächlich greifen im Tristan immer wieder voneinander unabhängige und nicht gegeneinander hierarchisierbare Faktoren und Instanzen ineinander und bilden so den insgesamt plausiblen und begründeten Geschehensverlauf. Lässt sich dieses Ineinandergreifen – das wäre die entscheidende Frage – in irgendeiner Weise reduzieren auf eine Instanz oder auch nur ein Prinzip? Damit ist letztlich die Frage nach einer mythischen Dimension³⁰ im Tristan Gottfrieds gestellt, jedoch noch nicht auch schon positiv beantwortet. Der Befund, dass im Tristan eine finale Gerichtetheit des Geschehens existiert, bedeutet noch nicht, dass eine mythische Macht am Werk ist.³¹ Eine alternative Interpretation würde dagegen darauf bestehen, dass das Ineinandergreifen von Faktoren, Instanzen und Zufällen gerade nicht auf den gemeinsamen Nenner des Mythischen reduziert werden kann; das Geschehen bliebe dann unhintergehbar kontingent, und nicht die Führung durch irgendeine ‚Macht‘ wäre zu beobachten, sondern der zutiefst kontingente Charakter der Minne und die Anfälligkeit der Liebenden für Kontingenz. Eine solche Einebnung 30 Zum Begriff Mythos vgl. Udo Friedrich/Bruno Quast: Mediävistische Mythosforschung. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Udo Friedrich/Bruno Quast, Berlin, New York 2004 (Trends in Medieval Philology 2), S. IX–XXXVII. Meine eigene Begriffsverwendung ist angeregt durch das Konzept von Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken, Darmstadt 1958 [zuerst 1923]. 31 Lugowski hat für ein Erzählen, das an mythischen Legitimationsmustern Anteil hat, aber diese nicht mehr vollständig reproduziert, den Begriff des „mythischen Analogons“ geprägt. Jedoch scheint es mir so zu sein, dass im Tristan diese Analogie zum mythischen Erzählen nur deshalb angedeutet wird, um sie zu dementieren. Vgl. Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer, Frankfurt a. M. 21994 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 151) [zuerst 1932].

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des Geschehens in der reinen (syntagmatischen) Vorgängigkeit wäre etwas grundsätzlich anderes als das, was unter ‚mythischem Erzählen‘ zu verstehen ist, denn in mythischen Narrativen wird Kontingenz durch die ständige Präsenz von meist anthropomorphen Subjektinstanzen gerade reduziert; hinter allem steckt eine Intention, die freilich undurchschaubar sein kann. In der Forschung wird derzeit allerdings eher eine Deutung bevorzugt, die durchaus eine mythische Dimension im Tristan sieht.³² So hat Andreas Hammer in einer eingehenden Studie vorgeschlagen, das „Konzept einer geschlossenen Gerichtetheit, einer finalen Kausalität, welche das Geschehen vorantreibt“ und welche „kennzeichnend für Gottfrieds Erzählhaltung“ (S. 184) sei, als mythisch zu interpretieren: „Tristans Anspruch auf Isolde ist mythisch zu nennen“ (S. 185). Er stützt sich dabei auf eine Analyse mythischer Elemente im Tristan, die unterhalb der Oberflächensemantik des Textes, auf der eher Kontingenz dominiere, ein anderes, mythisches Begründungsschema für das Geschehen lieferten. Konkret werde das Brautwerbungsschema, dem zufolge Isolde zu Marke gehöre, durch ein zweites Erzählschema – das des Drachentöters³³  – überlagert, so dass ein konkurrierendes, eben mythisches Konzept das Anrecht Tristans legitimiere: „Tristan und Marke erhalten durch die sich überlagernden Strukturen gleichermaßen Anrecht auf Isolde.“³⁴ Damit hat Hammer ohne Zweifel einen basalen Ausgangskonflikt des TristanStoffs überzeugend beschrieben: Im Kern geht es dabei um die Konkurrenz zwischen dem ‚Helden‘, dem durch seine Fähigkeit zur Überwindung übernatürlicher Gegner selbst eine mythische Qualität zukommt, und dem ‚König‘, dessen Legitimität aus der Gültigkeit sozialer Ordnungsmodelle resultiert. Nicht umsonst erinnert diese Konstellation an die Situation im Nibelungenlied, wo ebenfalls ein Drachentöter – Siegfried – im Zentrum eines Konflikts zwischen ‚mythischer‘ und ‚höfischer‘ Legitimierung steht. Die Frage ist allerdings, ob die basale Dichotomie von mythischem und nichtmythischem Begründungsschema im Roman Gottfrieds noch in der Weise aktiv ist, wie Hammer dies suggeriert (er interpretiert ja explizit Gottfrieds Tristan, arbeitet aber ausführlich mit quellenanalytischen Methoden, die auf eine Ebene ‚vor‘ Gottfried zielen). Hammer denkt hier an eine mythische Tiefenstruktur, die an bestimmten Stellen im Text bzw. in einigen Motiven auch noch auf die Textoberfläche durchschlägt und auch noch bei Gottfried virulent ist.³⁵ Die Gegenthese wäre, dass Gottfried die zweifellos vorhandenen und teilweise für den Tristan-Stoff obligatorischen mythi-

32 Vgl. dazu neben Andreas Hammer: Tradierung und Transformation. Mythische Erzählelemente im Tristan Gottfrieds von Straßburg und im Iwein Hartmanns von Aue, Stuttgart 2007, auch Worstbrock (Anm. 22). 33 Es handelt sich dabei um den Typ Antti Aarne/Stith Thompson: The types of the Folktale. A Classification and Bibliography, Helsinki 21964, Nr. 300 (‚The Dragon Slayer‘); vgl. Hammer (Anm. 32), S. 112. 34 Hammer (Anm. 32), S. 182. 35 Zu fragen ist also nach der eigentlich angepeilten Stufe der Text- bzw. Stoffentwicklung.

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schen Elemente (Drachenkampf, Minnetrank, Urgan, Petitcreiu) einer weitgehenden Demythisierung unterzogen hat. Sie werden damit auf der Textoberfläche eingeebnet und bilden keine Tiefenstruktur mehr, sondern sind Teil eines eindimensionalen Geschehensverlaufs. Es gibt dann nicht ein mythisches Prinzip der Gerichtetheit ‚hinter‘ oder ‚unter‘ der kontingenten Oberfläche, sondern das Prinzip selbst ist kontingent. Man kann es ‚Minne‘ nennen, aber beschreibbar ist es nur als Funktion (Ableitung) des erzählten Geschehens selbst, nicht als etwas ‚vor‘ dem Geschehen. Damit bleibt das zu Beginn beschriebene Interpretationsproblem immer noch bestehen: Die Handlung erscheint klar zielgerichtet, zugleich aber werden alle möglichen Subjekte dieser Gerichtetheit dementiert: Der Autor behauptet durch seine Quellenberufungen, keinen eigenen Spielraum zu haben; Gott greift nur punktuell ein und bleibt eine Instanz unter mehreren; die Protagonisten handeln zwar zum Teil zielstrebig, aber keiner strebt das Ziel an, das schließlich erreicht wird; eine relevante mythische Instanz ist nicht zu erkennen. Ganz anders lässt sich die Kardinalfrage der Tristan-Interpretation lösen, wenn der Eindruck der Gerichtetheit im Text nicht als Ausdruck des Wirkens einer untergründigen Macht bzw. einer narrativen Instanz verstanden wird, sondern als Suggestion, die auf Wirkung auf den Rezipienten angelegt ist. Der Eindruck der Gerichtetheit entsteht dann nicht durch die Handlungsmotivierung selbst, sondern weil der Autor das Geschehen ständig implizit und explizit kommentierend begleitet. Einen solchen Kommentar, der auf mythische Legitimationsmuster zurückgreift, die Handlung selbst aber nicht mythisiert, bildet besonders deutlich die Gandin-Episode. Sie ist aus dem Motivationsgefüge der Gesamthandlung ohnehin vollständig herausgelöst, kann aber gerade dadurch ihre Funktion besonders gut erfüllen: Die Episode leitet den Rezipienten zur Bewertung der Haupthandlung an, sie kommentiert. An ihrem Ende ist klar, wer Isolde eigentlich verdient. Dabei hat gerade keine mythische Macht die Finger im Spiel, das Mythische wird nur zitiert, um dem Rezipienten eine Bewertung des Geschehens zu ermöglichen. So aber funktioniert Erzählen im Gottfriedschen Tristan immer wieder: Das kontingente Geschehen erzeugt nicht Sinn, sondern fordert zur Bewertung auf:³⁶ Der Zufall selbst erzeugt niemals Ordnung (auch wenn es im Fall der arthurischen âventiure so scheint), aber er kann von seinem Ergebnis her als angemessen und ‚in die richtige Richtung führend‘ verstanden werden – oder als falsch und unangemessen. Aufgerufen wird so ein Ordnungssystem, das nicht die Handlung selbst leitet, sondern den Rezipienten. Wenn Isolde auf den bewusstlos im Tümpel liegenden Drachentöter Tristan aufmerksam wird, dann ist das ein reiner, kausal unmotivierter Zufall – aber es ist gut, dass dies geschieht (alse ez solte, sagt Gottfrieds Erzähler in Vers 9369).

36 Meine Überlegungen sind hier angeregt von Fromm (Anm. 1), prägnant S. 180: „Hörer und Leser müssen die jeweilige Polysemie […] selber erkennen, sind zu einer Mitarbeit aufgerufen, wie sie der Dichter in seinem Prolog eigens fordert.“

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Das – und nicht die Wirksamkeit einer dunklen mythischen Größe – drückt Gottfried aus, wenn er sagt, dass der billîch es so wollte. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit dem Minnetrank: Dass Tristan und Isolde ihn trinken, ist ein reiner Zufall, den niemand und nichts ‚gewollt‘ hat. Aber das Geschehen kann bewertet werden, und Tristan selbst bewertet es, nachdem er es in seiner Tragweite erkannt hat – seine bekannte Rede V. 12494–12502.³⁷ Auch der Rezipient kann nicht umhin, die ‚Angemessenheit‘ dieses Zufalls zu konstatieren. Diese Bewertung (und nicht das Geschehen!) wird von Gottfried ausführlich vorbereitet und motiviert. Die vielen Hinweise darauf, dass Tristan und Isolde einander angemessen sind – von der frühen Lehrer-SchülerinKonstellation (V. 7962–8026) bis hin zur auch erotisch aufgeladenen Badeszene mit der „hochmotivierten“³⁸ und betrachtenden Protagonistin  –, bereiten nicht primär das Geschehen selbst vor, sondern dessen Bewertung durch den Rezipienten. An dieser Bewertung (nicht am Zustandekommen des Geschehens) haben nun auch bestimmte mythische Legitimitätskonzepte ihren Anteil.³⁹ Mit dem Drachenkampf und mit der Rückholung Isoldes nach der Entführung durch Gandin hat Tristan Isolde in der Tat zweimal ‚gewonnen‘. Das ändert nichts am Geschehen selbst, aber viel an der Beurteilung des Geschehens durch den Rezipienten. Man muss nicht mit mythischen Legitimierungsstrategien vertraut sein, um den Eindruck zu haben, dass Marke Isolde nicht verdient hat. In eine ähnliche Richtung wirken die Abwertungen, die Marke erfährt, etwa wenn ihm in der Hochzeitsnacht ‚eine wie die andere‘ ist und ihm nicht auffällt, dass ihm Brangäne untergeschoben wurde. Der Rezipient wird hier ein Urteil fällen, das Gottfried durch derartige Maßnahmen vorbereitet. Es kommt darauf an, zwischen dem kontingenten Geschehen und der Bewertung des Geschehens zu unterscheiden. Damit löst sich beispielsweise auch die viel diskutierte Frage nach dem Beginn der Liebe zwischen Tristan und Isolde. Immer wieder ist vermutet worden, dass diese Liebe schon vor dem Minnetrank ihren Anfang genommen hat.⁴⁰ Vor allem die suchende und betrachtende Isolde in der Badeszene schien

37 Dazu Fromm (Anm. 1), S. 187  f. 38 Worstbrock (Anm. 22), S. 43. 39 Vgl. die ähnliche Überlegung bei Gerd Dicke: Gouch Gandin. Bemerkungen zur Intertextualität der Episode von ‚Rotte und Harfe‘ im Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: ZfdA 127 (1998), S. 121–148, hier S. 146: „Auf der Oberflächenebene der erzählten Wirklichkeit mithin nicht mehr präsent, bleibt das […] Mythische aber gleichwohl semantisch wirksam, denn durch unterschwellige Bezüge und deutliche inhaltliche Korrespondenzen ist eine Assoziationsebene installiert, von der aus die Oberflächenrealität einen mythologischen Deutungshintergrund gewinnt.“ 40 Diese Meinung hat mit einiger Nachwirkung Friedrich Ranke vertreten: Tristan und Isold, München 1925 (Bücher des Mittelalters 3). Die Gegenposition bei Hans Furstner: Der Beginn der Liebe bei Tristan und Isolde in Gottfrieds Epos. In: Neophilologus 41 (1957), S. 25–38, und Arthur T. Hatto: Der minnen vederspil Isot. In: Euphorion 51 (1957), S. 302–307. Auch Rüdiger Krohn mag sich nicht endgültig festlegen und zitiert Haug aus einer 1970 erschienenen Rezension mit der Feststellung, „daß das Problem der Liebe vor dem Trank noch keineswegs ad acta zu legen ist“. Vgl. Gottfried von Straßburg: Tristan. Bd. 3. Hrsg. von Rüdiger Krohn, Stuttgart 31985 (RUB 4473), S. 115.

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Symptome eines schon vorhandenen oder zumindest aufkeimenden emotionalen Engagements zu zeigen. Tatsächlich aber beginnt hier nicht in der erzählten Geschichte die Liebe, sondern der Rezipient wird darauf vorbereitet, die wenig später entstehende Liebe zwischen Tristan und Isolde als angemessen zu bewerten. Die suggestive Erzählweise Gottfrieds nimmt hier vorweg, was später erzählte Realität wird. Nicht die Handlung wird auf diese Weise disponiert, sondern die Aufnahme der Handlung durch den Rezipienten.

II Zur suggestiven Wirkung des Sprachklangs Vieles von dem, was Gottfried als Autor auszeichnet, gehört in den Bereich der Rezeptionssteuerung. So sehr er sich aus der Geschichte selbst (zumindest angeblich) heraushält, so sehr begleitet er diese Geschichte durch Bewertungen und wirkt damit geradezu manipulativ auf den Rezipienten ein. Er tut dies explizit in den Exkursen, die allerdings immer wieder schwierig auf das Erzählte zu beziehen sind. Umso wichtiger ist Gottfrieds ganz auf Wirkung ausgelegte Sprache: Mit ihr  – so die These  – gibt Gottfried ein Votum ab. Die bis in den Sprachklang gehende Artifizialität seiner Sprache ist deshalb mehr als nur Ornat und Präsentation eigener Kunstfertigkeit, sie ist vielmehr ständig wirkungsbezogen. Die Handlung ist zur Bewertung durch den Rezipienten freigegeben, aber Gottfried lässt den Hörer bei diesem Vorgang nicht allein – auch sprachlich nicht. Einige wenige Stellen mögen illustrieren, wie Gottfried mit sprachlich-stilistischen Mitteln seine Rezipienten lenkt und dabei dem Erzählten eine Art klanglichen Kommentar hinzufügt. Die erste und vielleicht wichtigste Passage findet sich schon im Prolog: ich wil in wol bemæren von edelen senedæren, die reiner sene wol tâten schîn: ein senedære unde ein senedærîn, ein man ein wîp, ein wîp ein man, Tristan Îsolt, Îsolt Tristan. (V. 125–130)

Zunächst ist Gottfrieds ‚Stil‘ hier als Mehrfachkodierung zu begreifen, die – gemessen an den vermittelten Informationen – sprachlichen und insbesondere klanglichen Überschuss erzeugt. Nahezu jede enthaltene Information wird mehrfach ausgedrückt: Die Namen der beiden Protagonisten tauchen in Vers 130 je zweimal auf; dass es sich um senedære handelt, wird in Vers 126 und nochmals in Vers 128 gesagt; dass es sich um eine weibliche und eine männliche Person handelt, wird zuerst in der Gegenüberstellung ein senedære unde ein senedærin (V. 128), dann explizit in Vers 129 und schließlich in den Personennamen erkennbar, die eindeutig männliches und weibliches Geschlecht anzeigen. Aus dem Überschuss auf der Ausdrucksseite resultiert jedoch nicht Redundanz, vielmehr liefert er das notwendige sprachliche Material für

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eine komplexe sprachlich-klangliche Struktur, die sich dem Rezipienten als kaum abzulehnendes Ordnungsangebot darstellt. Gottfried organisiert das Material in Oppositionspaaren, die durch ihre Verdoppelung und ihre chiastische Anordnung gerade nicht mehr nur Gegensätze, sondern – als Pointe des Abschnitts – die Überwindung aller benannten Gegensätze im Protagonistenpaar selbst zum Ausdruck bringen. Neben der Mehrfachkodierung und der komplexen chiastischen Organisation des so erzeugten sprachlichen Materials agiert Gottfried an dieser Stelle aber auch noch in einer weiteren Dimension: Er nutzt die Möglichkeit, die Lesegeschwindigkeit über mehrere Verse hin zu steigern, und erreicht damit eine Beschleunigung, die genau in der Pointe (V. 130) ihren Höhepunkt erreicht. Ausgangsmaterial dieser Beschleunigung sind die Oppositionspaare. Das erste – ein senedære unde ein senedærîn – nimmt einen ganzen Vers mit zwölf hörbaren Silben ein. Der Vers widersetzt sich einem regelmäßigen Wechsel von Hebung und Senkung, und auch die beiden viersilbigen Substantive bewirken eine gewisse Verlangsamung der Lesegeschwindigkeit. Nur hier gibt es zudem die Konjunktion unde. Der nächste Vers enthält bei nur noch acht Silben schon eine gedoppelte Opposition, die Paare sind nun asyndetisch verbunden. Der Vers lässt sich zwar regelmäßig jambisch realisieren, doch erzeugt die Einsilbigkeit aller Wörter und die damit verbundene teilweise Konkurrenz von Wortakzent und Metrum eine Art Stakkato, das die Lesegeschwindigkeit ebenfalls noch hemmt. Überwunden ist diese Hemmung erst im letzten Vers des Abschnitts (V. 130), der die beiden Namen enthält: Auch hier steht eine chiastisch gedoppelte Opposition in einem Vers, aber er besteht nun nur noch aus vier zweisilbigen Wörtern und lässt sich ohne weiteres in regelmäßigem Wechsel von Hebung und Senkung realisieren. Tristan Îsolt, Îsolt Tristan – das ist die ‚Lösung‘, auf die die vorangehenden Verse zugeeilt sind.⁴¹ Dieses eine Beispiel gestattet es sicherlich noch nicht, auf einen Personalstil Gottfrieds zu schließen; doch wird schon an dieser Stelle deutlich, dass die von Gottfried verwendeten Verfahrensweisen nicht als Manierismen zu verstehen sind. Die sprachlich-stilistische Ebene ist von der inhaltlichen nicht losgelöst, sondern unmittelbar auf diese bezogen. Die Reduktion der Informationsdichte durch sprachlichen Überschuss auf der Ausdrucksseite produziert keine reinen Ornamente; sie eröffnet vielmehr eine weitere Aussageebene, auf welcher der Autor die mitgeteilten Informationen kommentiert und beim Rezipienten für diesen Kommentar wirbt. Ein derart wirkungsbezogener Stil aber ist kein manieristischer, sondern ein rhetorischer. Wo vordergründig nur das Thema der Geschichte – eine Liebesgeschichte – genannt wird und die beiden Protagonisten vorgestellt werden, wird tatsächlich die untrennbare 41 Vgl. zu dieser Verschmelzung u.  a. die Interpretationen von Schöne (Anm. 3), S. 464, und Wolfgang Mohr: „Syntaktisches Werbe- und Liebesspiel“. Zu einem sprachlichen Kunstgriff in mittelalterlicher Lyrik und Epik. In: PBB 81 (1959), S. 161–175, hier S. 168, sowie Haug/Scholz (Anm. 2), S. 258  f., mit weiteren Hinweisen.

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Zusammengehörigkeit der beiden von vornherein behauptet und klanglich plausibel gemacht: Tristan Îsolt, Îsolt Tristan – diese Formel lässt sich nicht mehr trennen, nicht mehr aufheben, sie hat durch ihre sprachlich-klangliche Vorbereitung und Realisierung in den oben zitierten Versen eine kaum noch hintergehbare Plausibilität erhalten und lässt sich auch nicht mehr ‚vergessen‘. Ein zweites Beispiel: Als die norwegischen Kaufleute den jungen Tristan während des von ihm gewonnenen Schachspiels entführt haben, greift Gott ein und verhindert durch ein aufkommendes Sturmwetter, dass der Plan der Norweger aufgeht (V. 2401– 2481). Es ist eine der wenigen Stellen im Tristan, in denen das Wirken Gottes durch eine verlässliche Erzählerrede auktorial bestätigt wird;⁴² in der Saga, und damit vermutlich auch bei Thomas, fehlt an dieser Stelle der Hinweis auf Gott als Auslöser des Sturms.⁴³ Die Passage ist auf höchste Emphase getrimmt: dô widerschuof ez allez der, der elliu dinc beslihtet, beslihtende berihtet, dem winde, mer und elliu craft bibenende sint dienesthaft. als der wolte unde der gebôt, dô huop sich ein sô michel nôt von sturmwetere ûf dem sê. (V. 2406–2413)

Auch hier beruht die stilistische Markiertheit auf einem erweiternden Verfahren, das Raum für eine hochgradige klangliche Wirkung bietet. Die Verse 2407–2410 bilden eine umfangreiche Periphrase: Gott wird nicht genannt, vielmehr hebt Gottfried die ordnende Kraft Gottes als dessen wesensbestimmendes Merkmal hervor. Sprachlich wird dies in einer Kombination aus Figura etymologica und Reimklang realisiert: der elliu dinc beslihtet, / beslihtende berihtet. Die Wiederaufnahme des Wortes beslihten im Partizip Präsens überwindet die Versgrenze, zwingt aber – eben durch die gleichklingende Wiederholung – auch zum klaren Absatz nach beslihtet. Die ganze Konstruktion hat eine ähnliche Funktion wie ein Vorhalt in der Musik: das Partizip beslihtende fordert geradezu eine Auflösung im folgenden finiten Verb, die  – man weiß es durch die von beslihtet im Vers zuvor aufgestellte Reimklangforderung  – ähnlich klingen muss und zugleich eine inhaltliche Steigerung erwarten lässt. Die Spannung wird grandios in einer (Klang-)Harmonie aufgelöst: berihtet – das ist es,

42 Solche Stellen bilden die Ausnahme; weit häufiger bleibt der Erzähler, was die Motivierung eines Ereignisses betrifft, stumm, oder er stellt das Zufällige heraus. Schnell (Anm. 6), S. 100, verallgemeinert zu sehr, wenn er aus dieser und wenigen anderen Stellen ableitet, es gebe für Gottfried keinen Zufall; kritisch zu Schnells These auch Haug/Scholz (Anm. 2), S. 320. 43 Haug/Scholz (Anm. 2), S. 320, argumentieren, dass der Hinweis auf Gott „vom Mönch Robert gewiß nicht unterschlagen worden wäre“, und beanspruchen ihn deshalb als Zutat Gottfrieds. Das spräche für die Diversifizierung von Handlungsinstanzen bei Gottfried, wie sie Worstbrock (Anm. 22) dargestellt hat.

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was die Konsequenz – klanglich und eben auch inhaltlich – dieser beslihtenden Tätigkeit Gottes ist und was das beslihten inhaltlich noch überbietet: „der alles begleicht, begleichend ausgleicht“. Die Periphrase setzt sich in einer auf Steigerung hin angelegten Triade (winde, mer und elliu craft) fort, deren letztes, generalisierendes Glied das elliu aus Vers 2407 wiederholt. Gott wurde bisher gar nicht genannt, umso eindrücklicher ist das doppelte Demonstrativum in Vers 2411 (als der wolte unde der gebôt). Auch hier wird wieder mehr gesagt, als der Inhalt eigentlich verlangt, und dieser Überschuss ist unmittelbar in rhetorische Wirkung umgesetzt. Eingeleitet wird die ganze Passage durch das ungewöhnliche, von Gottfried vermutlich neu entwickelte Verb widerschaffen. Aber nicht nur der Status als (vermutlicher) Neologismus markiert dieses Wort; Gottfried präsentiert hier sogar ein Handeln, das die Pläne der Menschen durchkreuzt, als schöpferisch, weil es von Gott kommt. Auch in dieser Passage lässt Gottfried dem Rezipienten keinen Raum und schon gar keine Zeit für Widerspruch. Die sprachliche Ordnung korreliert hier mit der Ordnung, die Gott offenbar in der erzählten Geschichte – an dieser Stelle jedenfalls – gewährleistet. Der Rezipient kann sich der Wirkung dieser rhetorisch hoch aufgeladenen Verse kaum entziehen: Gottfried nutzt die suggestive Kraft der Paronymie von beslihten und berihten vollständig aus und kommentiert damit eine wichtige Gelenkstelle der Handlung: Offenbar entspringt der erste Schritt auf dem Weg Tristans zu Marke, der auch der erste Schritt hin zu Isolde ist, einer Ordnung. Im Zusammenhang der Entführungsgeschichte ist dies zunächst unproblematisch, denn jeder wird akzeptieren, ja sogar fordern, dass der barmherzige Gott ein entführtes Kind unter seine Fittiche nimmt und rettet. Dass damit freilich ein Weg beschritten wird, der im Ganzen gesehen fatale Folgen haben wird, ist an diesem Punkt der Erzählung noch nicht abzusehen. Als grundsätzlich problematischer erweisen sich jene Passagen, in denen Gottfried mit einigem rhetorischen Zauber das Zusammenkommen von Tristan und Isolde in der Trankszene vorbereitet. Als Tristan nach dem Drachenkampf ohnmächtig im Tümpel liegt, finden ihn die Frauen, die auf der Suche nach den wahren Umständen der Drachentötung sind – und als erste sieht ihn Isolde: nu ergienc ez, alse ez solte und alse der billîch wolte, diu junge künigîn Îsôt daz si ir leben unde ir tôt, ir wunne unde ir ungemach z‘allerêrste gesach. (V. 9369–9374)

Hier tauchen wieder mehrere der für den Gottfriedschen Stil typischen Kunstgriffe auf: Antithesen, die wie stets die unhintergehbare Zweiseitigkeit der Minne pointiert vorstellen (Typus: Liebe/Leid): leben – tôt, wunne – ungemach; der Reimklang mit solte : wolte, der die starke Suggestion der Gemäßheit eines bestimmten Wollens bewirkt;

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die syntaktische Markierung des Subjekts Isolde durch Ausklammerung ins Vorfeld des Nebensatzes. All dies erzeugt eine erhebliche Emphase, die den Vorgang in einer ganz bestimmten Weise kommentiert: Hier geschieht das Richtige. Am stärksten trägt zu dieser Suggestion die Neubildung billîch bei. Markiert ist das Wort dadurch, dass es nicht wie üblich als Adjektiv oder Adverb benutzt wird, sondern substantiviert in die Subjektposition rückt. Fast möchte man hier eine untergründige ‚mythische‘ Macht bezeichnet sehen, die das Geschehen eben doch von Anfang an lenkt. Erzähllogisch hätte eine solche Instanz eine ähnliche Position inne, wie sie in einer Legende dem allmächtigen Gott zukommt.⁴⁴ Allerdings würde eine solche Deutung die Spannung, die aus der syntaktischen Einbindung (als Subjekt) und der vom Adjektiv/Adverb her bekannten Semantik (‚gemäß, recht und billig‘) resultiert, zu einseitig auflösen. Die Semantik lässt ein Verständnis, das dem billîch eine eigene Wesenshaftigkeit oder den Status einer mythischen Instanz zuweist, nur sehr bedingt zu. Das Wort bleibt in dieser Hinsicht völlig leer, es rückt aber eine Beurteilungskategorie – das „Recht-undbillig-sein“ – in eine Subjektposition. Das aber bedeutet, dass der Beurteilende – sei es nun der Erzähler oder der ihm folgende Rezipient  – zum Subjekt der Erzählung wird. Damit ist der billîch gerade nicht eine „nicht hinterfragbare Letztinstanz“,⁴⁵ sondern eine markierte Leerstelle, die vom Rezipienten zu füllen ist. Auch hiermit verbindet sich ein Kommentar und eine mächtige Suggestion: Es ist recht und billig, dass Isolde und Tristan sich hier einander annähern. Auf dem Weg der Annäherung von Tristan und Isolde begegnet das Wort billîch in der gleichen substantivischen Verwendung, und durch explizite Hinweise (aber V. 10057 und V. 10059; zem anderen mâle V. 10060) sowie die markante Erwähnung des Knappen Paranis, der sonst nur bei der Entdeckung Tristans im Tümpel anwesend ist, wird deutlich Bezug auf die erste Stelle genommen. Tristan ist wieder mehr oder minder hilflos ‚im Wasser‘, diesmal in der Badewanne – und Isolde begutachtet derweil ihn und seine Sachen. Da entdeckt sie die Scharte in Tristans Schwert – und damit die Identität des ihr bisher nur als Tantris bekannten Drachentöters: Nu ergienc ez aber Îsolde, alsô der billîch wolde: daz si aber ir herzequâle zem anderen mâle vor den andern allen vant. (V. 10057–10061)

44 Jedoch erscheint es mir nicht legitim, im billîch „keine von Gott unterschiedene Schicksalsmacht“ zu sehen, wie dies Schnell (Anm. 6), S. 103, Anm. 115, tut. Gottfried unterscheidet offenbar exakt, wenn er verschiedene Handlungsinstanzen bezeichnet, und er markiert die Stelle durch die Verwendung des ungewöhnlichen Substantivs so deutlich, dass eine einfache Gleichsetzung mit Gott nur als Versuch einer entdifferenzierenden Glättung aufgefasst werden kann. 45 Dietmar Miet: Dichtung, Glaube und Moral. Studien zur Begründung einer narrativen Ethik mit einer Interpretation zum Tristanroman Gottfrieds von Straßburg, Mainz 1976 (Tübinger theologische Studien 7), S. 230.

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Mit dem Substantiv billîch wird auch hier wieder eine größtmögliche Engführung von erzählter Handlung und Kommentierungsebene erreicht: Syntaktisch fungiert der Begriff wie ein Element der erzählten Welt, semantisch aber muss er als Kommentar zum Erzählten aufgefasst werden. Gottfrieds Kommentar, der durch stilistische Mittel befördert wird, lautet hier und an ähnlichen Stellen gerade nicht: „Seht her, die beiden lieben sich eigentlich schon viel früher!“. Was Gottfried durch rhetorischstilistische Kunstgriffe über die eigentliche inhaltliche Information hinaus aussagt, ist vielmehr: Die beiden bewegen sich zu Recht aufeinander zu, sie gehören zusammen, es ist recht und billig, dass sie zusammenkommen. Genau genommen wird auch das nicht ausgesagt, es wird dem Rezipienten nur suggeriert. Gottfrieds Text ist an solchen Stellen hoch appellativ: Das Zusammengehören von Tristan und Isolde muss der Rezipient für richtig befinden. Noch einmal zurück zu dem Wortpaar slihten : berihten. Gottfried nutzt es  – einmal markiert und damit bedeutungsvoll geworden – nicht nur für die Präsentation von Ordnung, sondern auch – negativ gewendet – für das Gegenteil. Dies geschieht im zweiten Teil des Romans, wenn mehrfach davon gesprochen wird, dass Markes Verdacht gegenüber Tristan und Isolde beslihtet und berihtet werden soll: Der verirrete Marke alrêrste was er starke bekumbert mit trahte, mit wie getâner ahte er sich hier ûz berihtete und disen wân beslihtete. (V. 15267–15272)

Der Konjunktiv zeigt schon, dass Ordnung in Form von Gewissheit hier gerade nicht vorhanden ist; Marke strebt zwar danach, dass alles berihtet und beslihtet wird, aber gerade das ist ihm – jedenfalls für noch lange Zeit – nicht möglich. Auch hier kommentiert Gottfried durch seinen Rückgriff auf das sprachliche Material des ersten Teils, das zwischendurch auch im Unsagbarkeitstopos des Literaturexkurses zur Anwendung kam, das Geschehen als ein Defizitäres. Die Figura etymologica, der die zuvor besprochene Stelle einen Gutteil ihrer emphatischen Wirkung verdankt, fehlt hier ganz. Dem Konjunktiv entspricht in der Rede des Bischofs von Themse der Gestus der rhetorischen Frage, die sich Marke gefallen lassen muss: wie muget ir nu den argen wân mit arge beslihten? wie muget ir gerihten über iuwern neven und iuwer wîp. (V. 15372–15375)

Der durch die frühere Verwendung hoch markierte Reimklang auf -ihten verleiht der Figurenrede hier eine zusätzliche Dimension. Nicht nur der Bischof missbilligt den

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Plan Markes, auch der Autor gibt einen ‚stilistischen‘ Hinweis darauf, wie dieser Plan zu bewerten ist. Hier wird eben nichts berihtet, berihtende geslihtet, also nichts in Ordnung gebracht, vielmehr kann Marke nichts beslihten, ja nicht einmal ‚richten‘, also formal zu Gericht sitzen über den Neffen und die Ehefrau. Gottfrieds sprachlicher Stil erzeugt auch hier wieder einen Sinnüberschuss gegenüber dem Geschehen selbst – einen Überschuss, den man am ehesten als suggestiven Kommentar verstehen kann. Der Rezipient wird dem Bischof hier zustimmen.

III Sprachklang und Bewertung Man könnte meinen, dass Gottfried Sprache in zwei ganz unterschiedlichen Richtungen gebraucht. Einerseits scheint sich Gottfried darüber im Klaren zu sein, dass Sprache keineswegs verlässlich ist. Sein Sprachskeptizismus wird an vielen Stellen greifbar: Was etwa êre ist, das scheint im Zusammenhang der Baumgartenszene oder des Gottesurteils nicht mehr eindeutig klar zu sein. Doppelungen (êre und êre, tôt und tôt) zeigen und machen greifbar, dass Differenzierungen ständig eingefordert werden müssen, diese zugleich aber die Sprache selbst an ihre Grenzen bringen. Damit aber bezieht sich Gottfrieds Skepsis offenbar primär auf die Signifikantfunktion von Sprache: Er stellt die Frage, ob Sprache die in der Welt anzutreffenden Sachverhalte angemessen bezeichnen kann. Drängend aber wird diese Frage nicht, weil sich die Sprache an und für sich dysfunktional verhält, sondern weil die in diesem Roman zu beschreibende und zu besprechende Welt derart voller Aporien ist, dass die konventionelle Sprache sie mit ihrer normalen Semantik nicht mehr fassen und begreifen kann. Es liegt nicht an der Sprache, dass Gottfried mit dem einen Wort êre Sachverhalte bezeichnen muss, die einander aus der Perspektive sozialer Normierung diametral entgegengesetzt sind. Es liegt vielmehr an der präsentierten Wirklichkeit mit ihren aporetisch disponierten Verwicklungen. Deshalb ist es kein Widerspruch, wenn Gottfried andererseits Sprache verwendet, um dem Geschehen eine kommentierende Aussageebene hinzuzufügen. Freilich greift Gottfried hier nicht auf die Signifikantfunktion von Sprache zurück, sondern auf die persuasiven Möglichkeiten, die insbesondere im ‚Sprachklang‘ liegen. Tristan Îsolt, Îsolt Tristan ist deshalb stimmig, weil es – gerade als Schlussvers einer auf Synthese angelegten Versreihe  – stimmig klingt. Der auf klangliche Plausibilität angelegte Sprachstil Gottfrieds ist ein Mittel der Kommentierung der Handlung; er hat einen ähnlichen funktionalen Status wie die Erzählerkommentare oder die Exkurse. Als Teil des discours bespricht Gottfried hier die heillose histoire und überzieht sie mit einer Geordnetheit, die eindeutig Partei ergreift, indem sie sich gegen die soziale Ordnung der erzählten Welt stellt. Die Gerichtetheit der Handlung wird auf diese Weise nicht begründet und bleibt letztlich narrativ untermotiviert; sie wird aber bis zum Minnetrank als angemessen und richtig bewertet; und ebenso werden das lang-

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same Auseinanderdriften der Liebenden und die Nachstellungen Markes als falsch und unangemessen vorgestellt. Gottfried, der den Sprachklang als Quelle einer hörbaren Ordnung nutzt, setzt genau hier an. Gottfrieds Stil wird im eigentlichen Sinne dort greifbar, wo Sprache als Zeichensystem nicht mehr ausreicht. Deshalb kann man Gottfrieds Roman nur ‚richtig‘ lesen, wenn man seinem Klang glaubt – dann ist dieses Lesen inneclîchen guot, dann ist auf ganz einfache Weise klar, was stimmt und was zusammengehört: Tristan Îsolt, Îsolt Tristan. Man kann es hören.

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 Albrecht Hausmann

Stil und Klang

Timothy R. Jackson

Generische Interferenz im Mittelalter Lyrisches in der geistlichen Epik¹ Der Begriff des Lyrischen ist bekanntlich ein problematisches Gebiet, und zwar vielleicht erst recht, was das Mittelalter betrifft. Hartmut Bleumer schickt seinem Aufsatz zur generischen Paradoxie in Gottfrieds Tristan die Behauptung voraus: „Einer allgemeinen theoretischen Fixierung hat sich die Lyrik jedenfalls bislang entzogen“,² womit er die Lyrik insgesamt meint. Hartmut Bleumer³ und Klaus Grubmüller haben spezifisch auf das Fehlen einer expliziten theoretischen Untermauerung des Gattungsbegriffes ‚Lyrik‘ im Mittelalter hingewiesen, wobei Grubmüller feststellte: „Das volkssprachige Mittelalter kennt keine praeskriptive und nicht einmal eine deskriptive Gattungspoetik“.⁴ Und doch lässt sich anhand zahlreicher Liederhandschriften zeigen, dass dem Mittelalter das lyrische Moment nicht gefehlt hat. Im Folgenden soll in erster Linie eine Reihe von Stellen in geistlichen erzählenden Texten analysiert werden, an denen der Erzähler auf einmal aufhört zu erzählen und eine neue Sprechinstanz sich eine Zeitlang hören lässt. Diese Wende wird durch eine Kombination von inhaltlichen und formalen Merkmalen gekennzeichnet. Es geht dabei um die Stimme eines Ich, das womöglich prinzipiell noch das Erzähl-Ich bleibt, das sich aber ganz anders äußert. Denn man hört die Stimme dieser neuen Sprechinstanz zumeist in gefühlsbeladenen, stilistisch gehobenen Reaktionen auf Gegebenheiten, Personen und Situationen, von denen gerade erzählt worden ist; Reaktionen, die begeistert, traurig, beleidigt, zornig, freudig sein können.⁵ In den meisten Passagen, die ich behandele, begleitet und untermauert ein formaler Wechsel dieses Abweichen vom Narrativen: das meist vierhebige Erzählreimpaar wird durch eine Form ersetzt, die sich durch eine Variabilität von Zeilenlänge und Reimmuster auszeichnet. Es gibt auch Stellen, an denen eine Handlungsfigur auf Ereignisse oder auf andere

1 Für Rat und Hilfe bei der Überarbeitung meines Referats bin ich Caroline Emmelius und Henrike Lähnemann besonders dankbar. 2 Hartmut Bleumer: Gottfrieds Tristan und die generische Paradoxie. In: PBB 130 (2008), S. 22–61, hier S. 23. 3 Bleumer (Anm. 2), S. 25. 4 Klaus Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.-11. Oktober 1997. Hrsg. von Nigel F. Palmer/Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 1999, S. 193–210, hier S. 195. 5 Parallelen aus dem Œuvre Walthers von der Vogelweide wären etwa die fromme Reaktion auf das Heilige Land in seinem Palästinalied, die zornige Reaktion auf päpstliche Einmischung in politische Angelegenheiten in seinen Sprüchen im Reichston und die staunende Reaktion auf die weibliche Schönheit in seinem Sô die bluomen ûz dem grase dringent.

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 Timothy R. Jackson

Figuren mit ähnlichen Emotionen wie dieses handlungsexterne Ich reagiert und diese Reaktion auf ähnlich hohem stilistischen Niveau und mit ähnlichen formalen Mitteln äußert. In solchen Fällen⁶ ist der Bruch mit dem Erzählkontext vielleicht weniger auffallend; einige Beispiele werden dennoch unten behandelt. Zum Zweck meiner Überlegungen unterscheide ich mit Albert Meier zwischen „zur Lyrik […] gehörend“ und „in der Art von Lyrik“, zwischen der Lyrik als Gattung und dem Lyrischen als literarischem Modus.⁷ Das heißt: das Marienleben des Schweizers Wernher mag zwar in seiner Grundform als ein epischer, narrativer Text zu beurteilen sein; das schließt jedoch das mögliche Vorhandensein lyrischer Züge in diesem Text keineswegs aus. So behaupten Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius (unter Berufung auf Emil Staiger), dass „die lyrische Qualität gerade auch in poetischen Narrationen emergieren [kann]“.⁸ Wenn Meier die Frage nach der Möglichkeit der „tatsächliche[n] Spontaneität eines subjektiven Gefühlsausdrucks“ als Charakteristikum des Lyrischen stellt und Dieter Burdorf auf „de[n] authentische[n] Ausdruck einer wahren Empfindung“ als lyrisches Prinzip im 18. Jahrhundert verweist,⁹ bringen sie drei Konstanten der LyrikDebatte zusammen: Emotionalität, Subjektivität und Authentizität. Für das Mittelalter sind ‚Authentizität‘ und ‚Wahrheit‘ heikle Begriffe, zumal wenn sie auf die Literatur bezogen werden. Aber „Ausdruck einer […] Empfindung“ ist auch nicht unproblematisch. Gefühlsausdruck mag als eine Kerneigenschaft der Lyrik allgemein gelten, nicht zuletzt der mittelalterlichen mit ihrer „emotional-appellative[n] Intensität“:¹⁰

6 Wolfgang G. Müller: The Lyric Insertion in Fiction and Drama: Theory and Practice. In: Theory into Poetry. New Approaches to the Lyric. Hrsg. von Eva Müller-Zettelmann/Margarete Rubik, Amsterdam, New York 2005 (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 89), S. 173–188, hier S. 173, spricht in solchen Fällen von ‚figural insertions‘. 7 Albert Meier: Lyrisch – episch – dramatisch. In: ÄGB 3 (2001), S. 709–723, hier S. 709; vgl. Bleumer (Anm. 2), S. 34: „Die lyrische Qualität ist, wenn man den Begriff akzeptiert, nicht an die Existenz einer Gattung Lyrik gebunden, sie ist vielmehr geradezu darauf angewiesen, immer wieder in unterschiedlicher Gestalt literarische Prägnanz zu gewinnen.“ Unter dem Terminus ‚Modus‘ verstehe ich der Lyrik inhärente Gattungsmerkmale. 8 Hartmut Bleumer/Caroline Emmelius: Generische Transgressionen und Interferenzen. Theoretische Konzepte und historische Phänomene zwischen Lyrik und Narrativik. In: Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Hartmut Bleumer/Caroline Emmelius, Berlin, New York 2011 (Trends in Medieval Philology 16), S. 1–39, hier S. 19. Vgl. Meier (Anm. 7), S. 712: „Weder müssen literarische Werke ganz in ihren Gattungen aufgehen noch diese Gattungen mit ihren Wesensmerkmalen identisch sein, in ein und demselben Werk können sich verschiedene Dichtarten mischen.“ 9 Meier (Anm. 7), S. 710; Dieter Burdorf: Lyrisch. In: RLW 2 (2000), S. 505–509, hier S. 507. 10 Klaus Grubmüller: Ich als Rolle. ‚Subjektivität‘ als höfische Kategorie im Minnesang? In: Höfische Literatur, Hofgesellschaft, Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (3.-5. November 1983). Hrsg. von Gert Kaiser/ Jan-Dirk Müller, Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), S. 387–408, hier S. 396. Vgl. Bleumer/Emmelius (Anm. 8), S. 16: „Die besondere Intensivierung des Ichs in der Lyrik“.

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es gilt aber nicht weniger als Grundsatz der Minnesangforschung, dass der Sitz bzw. die Quelle dieser Emotionalität nicht klar auszumachen ist. Es würde uns freilich keineswegs überraschen, sollten etwa die Worte, mit denen in Wernhers Text die Jungfrau Maria adressiert wird (s.  u.), echte Ehrfurcht seitens des Autors widerspiegeln.¹¹ Aber die Voraussetzung einer autobiographischen Quelle für den emotionalen Inhalt der Minnelyrik ist längst von einer weitgehenden Skepsis ersetzt worden, und man versteht nunmehr das lyrische Ich (und erst recht das Ich des Minnesangs) als eine Sprechinstanz, die eine Rolle spielt, die Emotionen nicht unbedingt erfährt, sondern sie inszeniert.¹² Ob aber dieses inszenierende Ich als ein fiktives oder ein wirkliches zu verstehen ist, bleibt letzten Endes für meine Überlegungen von verhältnismäßig geringer Bedeutung. Wichtig ist doch, dass in den von mir behandelten Ausschnitten diese Inszenierung als Selbstinszenierung eines „lyrische[n] Ich, das seine individuelle Empfindung äußert“¹³ fungiert. Die jeweilige Sprechinstanz redet (in der Regel in der ersten Person) als eine persönliche, subjektive Stimme, deren Worte Ausdrücke der Empfindung vermitteln. So wie die Figur der Geliebten in der Minnelyrik „als Anlaß für Reaktionen des Ich“¹⁴ erscheint, bestehen lyrische Einlagen in geistlichen Erzählwerken aus vermeintlich spontanen und emotionalen Reaktionen auf geistliche Figuren oder Geschehen im Text; in einem einzigen Fall werde ich eine Passage analysieren, die eine Handlung beschreibt. Vom Erzähler empfundene Gefühle können nur in Worten ausgedrückt werden; die von Handlungsfiguren empfundenen dagegen können auch durch Gesichtsausdrücke, Gesten und Handlungen vermittelt werden. So untersucht Jutta Eming die Darstellung der Gefühle von Protagonisten, etwa ihre „Gesten, Klagemonologe, [ihr] Weinen und körperliche[n] Zusammenbrüche“.¹⁵ Insofern ich unten Handlungsfiguren behandle, dann nur bezüglich ihrer Worte.

11 Wie Max Päpke bemerkt, betont Wernher in seinem Prolog, dass es ihm weniger um Wahrheit oder Unwahrheit in seinem Gedicht geht als um die Lobpreisung von Maria und Jesus. Max Päpke: Das Marienleben des Schweizers Wernher. Mit Nachträgen zu Vögtlins Ausgabe der Vita Marie Rhythmica, Berlin 1913 (Palaestra 81), S. 27. Ähnlich Kurt Gärtner zum Autor der Vita rhythmica (V. 8002  ff.), der nicht dogmatizare, sondern laudare wolle: 2VL, Bd. 10 (1999), Sp. 436–443, hier Sp. 439. 12 Vgl. die Behauptung, „daß die ‚Authentizität‘ des im Minnesang Ausgesagten zur Diskursinszenierung gehört“, so Jens Pfeiffer: Die Gewalt der Sprache und die Ohnmacht der Poesie. Zu Heinrichs von Morungen Ich bin iemer der ander, nicht der eine (MF 131,25). In: Mittelalterliche Lyrik. Probleme der Poetik. Hrsg. von Thomas Cramer/Ingrid Kasten, Berlin 1999 (Philologische Studien und Quellen 154), S. 122–138, hier S. 136, Anm. 26. 13 Meier (Anm. 7), S. 710. 14 Grubmüller (Anm. 10), S. 401. 15 Jutta Eming: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebesund Abenteuerromanen des 12.-16. Jahrhunderts, Berlin, New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 39), S. 15. Vgl. Kathryn Starkey: Brunhild’s Smile. Emotion and the Politics of Gender in the Nibelungenlied. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter / Emotions and Sensibilities in the Middle Ages. Hrsg. von C. Stephen Jaeger/Ingrid Kasten, Berlin, New York 2003 (Trends in Medieval Philology 1), S. 159–173.

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Über eine zweite Komponente des ‚Lyrischen‘ ist im Reallexikon-Artikel von Burdorf zu lesen: „Die Verknüpfung von Sangbarkeit und Gefühlsausdruck ist der Ausgangspunkt fast aller Konzeptionen des ‚Lyrischen‘, wie sie vor allem in der deutschen Poetik seit dem 18. Jh. entwickelt wurden“;¹⁶ auch Meier konstatiert im Lyrischen „ein substantielles Moment von Musikalität“.¹⁷ Die Passagen, die ich untersuchen werde, sind durch ihre rhetorisch-stilistische Gestaltung ausgezeichnet. Diese erfolgt vor allem anhand anaphorischer Muster wie Zeilenlänge, Reim, Wortwiederholung, d.  h. Merkmale der lyrischen „self-referentiality“, der „self-reflexivity“, auf die Werner Wolf hinweist¹⁸ und durch die lyrische Versformen wie Lied und Leich, womöglich auch das Gebet, gekennzeichnet sind. Lyrische Passagen, die ein Ich-bezogenes, emotionales Ausdrucksrepertoire mit einer Freiheit und Variabilität der Form kombinieren und die von der Reimpaar-Norm der erzählenden Literatur abweichen, habe ich in einer Anzahl von Texten des 13. und 14. Jahrhunderts identifiziert: das Marienleben des Schweizers Wernher (erste Hälfte 14. Jahrhundert), die Vita beate virginis Marie et salvatoris rhythmica (vor 1250), das Marienleben des Bruder Philipp (frühes 14. Jahrhundert), Lutwins Eva und Adam (frühes 14. Jahrhundert), Die Erlösung (frühes 14. Jahrhundert), das Väterbuch (um 1280), das Passional (Ende des 13. Jahrhunderts) und das Buch der Maccabäer (erstes Viertel 14. Jahrhundert).¹⁹ Aus Raumgründen kann es hier keine eingehende Diskussion über Autorintentionen geben, doch wäre nicht zuletzt zu erwägen, ob die Verfasser dieser Werke den gelegentlichen Übergang zu einem durch affektiven Wortschatz, rhetorische Floskel und belebte Form emotional intensivierten Stil verwenden, um eine bestimmte Wirkung auf das jeweilige Publikum zu erzielen. Im Marienleben des Schweizers Wernher bringt der Erzähler ab Vers 849 eine lange Beschreibung der moralischen und physischen Schönheit der Heiligen Jungfrau.²⁰ Sie verläuft in der dritten Person und der Vergangenheitsform: zuerst wird erläutert, wie Maria Alle tugende an sich nam (V. 853), darauf folgt eine Schilderung vor allem ihres Kopfes (Haar bis Kehle), dann ihrer Hände und schließlich (und ganz flüchtig: bloß der Vergleich mit Elfenbein) ihres Körpers. Der Wortschatz eines solchen Preises, durch hyperbolische Begriffe und superlative Formen gekennzeichnet (allen lúten holt [V. 862], hochgelopt [V. 871], dú liepste [V. 888], best [V. 901]), ist freilich nicht ohne emotionalen Inhalt. Eigentlich aber geht es bei aller Übertreibung um einen

16 Burdorf (Anm. 9), S. 507. 17 Meier (Anm. 7), S. 710. 18 Werner Wolf: The Lyric: Problems of Definition and a Proposal for Reconceptualisation. In: Theory into Poetry (Anm. 6), S. 21–56, hier S. 24. 19 Die jeweilige Ausgabe wird unten an entsprechender Stelle angegeben. 20 Das Marienleben des Schweizers Wernher. Hrsg. von Max Päpke/Arthur Hübner, Berlin 1920, Nachdruck Dublin, Zürich 1967 (DTM 27).

Generische Interferenz im Mittelalter 

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quasi-analytischen Prozess, die Konstatierung von Tatsachen: wie es mit der Schönheit und Tugendhaftigkeit der Jungfrau bewandt war. Die Beschreibung wird mit einem Überbietungstopos abgeschlossen: Ir gelich nie me gesechen wart (V. 1012); das Ich, das bisher erzählt hat, tritt dann sozusagen bewusst zurück – Dar zů wil ich der kúnegin / Ain sunder lob hie schriben in (V. 1013  f.) – und eine neue Stimme fängt an zu sprechen: 1015

1020

1025

1030

1035

Du froͮwe zart So hocher art, Von der Got wart Der selben art; Du Gottes edel paradys, Das Gottes fliss In hocher wis Gezieret hett uff allen pris; Du edler stam, Dem aine zam Der hoͤste nam Ze paradys ie kam: Ich main das holcz So vin, so stolcz, Dem ‚ewig leben‘ Ist name gegeben; Wan das bist du: Das bewær ich nu, Ob ich es sol. Man wais es wol, Der pris allain An dir erschain, So vin, so rain,

1040

1045

1050

1055

1060

Zwen edel dattil, apfel klain, Suͤss und clar: Der Got nam war Und kam aldar Durch libes nar, Nam sú zestund Insinen munt Mit froͤden funt: Da von sin minne wart enzunt. Ich main, ob ich es prisen sol, Din edeln brúst gnade vol, So wol getan, So lobesam Das sú Got nu selber nam Fúr alles das er ie gewan, Und sú mit wirdi prisen kan, Wahsen, klæchen wolt dar an: Wan in gelust Das er si kust, Sich dar an smog, Mit luste sog, Und leite sich indine schoͮss: Da von din lop ist iemer groͮss!

Diese geänderte Stimme führt also mit einer Apostrophierung Mariens fort, d.  h. sie redet jene in der zweiten Person an, am deutlichsten in der dreimaligen Wiederholung des Pronomens du in den Versen 1015, 1019 und 1023. Die anaphorische Verwendung von du erinnert an eine Fülle von marianischen Texten wie das Melker Marienlied oder Konrads von Würzburg Goldene Schmiede. In der begeisterten Lobpreisung, der rühmenden Häufung von deutenden oder allegorisierenden Bildern, etwa wenn Maria bei Wernher Gottesmutter, Paradies, Stamm ist, sind auch diese Gedichte als lyrisch zu kategorisieren. Dann geht Wernher in eine Technik über, die an das Hohelied und dessen Interpretation im Mittelalter erinnert, und an Gedichte wie Frauenlobs Marienleich, die dieses als Ausgangspunkt nehmen: die Verwendung von erotischen Bildern zum Zweck der geistlichen Auslegung. Das kann zu einer fast paradoxen Gegenüberstellung von Allegorisch-Geistlichem und Ästhetisch-Erotischem führen, wie in der Wendung Din edeln brúst gnade vol, / So wol getan (V. 1048  f.) zum Ausdruck kommt.

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Zu bemerken ist, dass diese ganze Passage eine Plusstelle gegenüber der von Wernher benutzten Quelle ist, der Vita beate virginis Marie et salvatoris rhythmica.²¹ Die einzigen Körperteile, die hier erwähnt werden, die Brüste der Jungfrau, die Zwen edel dattil, apfel klain (V. 1038), die Gott unbedingt küssen wollte, kommen somit in der Beschreibung in der Vita rhythmica nicht vor. Der Erzähler der vorhergehenden, tatsächlich auf der Vita basierenden Beschreibung verweist mehrmals auf die Wortund Stofftradition, in der er steht, mit Versen wie Als die maister sunder / Schribent (V. 913), alse man gicht (V. 954) und als ich es laͮss (V. 961). Das Ich aber, das in der eingeschobenen Passage spricht, beschreibt zwar zum Teil mit Bezug auf Vergangenes, redet jedoch Maria unmittelbar an, wie sie jetzt ist. Das du der ersten Zeilen wird noch zweimal in der Possessivform in den letzten zwei Zeilen hervorgehoben (V. 1059  f.); das Ich drängt sich mehrmals in den Vordergrund: Ich main das holcz (V. 1027), Das bewær ich nu (V. 1032) und die schon erwähnte Stelle Ich main, ob ich es prisen sol, / Din edeln brúst (V. 1047  f.).²² Bei dieser Subjektivität geht es wohlgemerkt nicht (um mit Grubmüller zu sprechen) um ein „Nachdenken über die eigene Identität“:²³ das Ich beschreibt sich nur insofern, als es sich als empfindende Instanz erscheinen lässt. Eine zweite zu berücksichtigende lyrische Komponente ist die Form, in die diese Gedanken gefasst werden. Es fällt hier schon in den ersten Versen auf, dass die gewöhnlichen Vierheber des Textes zumeist, aber eben nicht durchgehend durch Zweiheber ersetzt werden.²⁴ Die ersten zwölf Verse bilden praktisch drei vierversige Strophen mit jeweils einheitlichem Reim, betreffen also die Verse mit wiederholtem du. Die erste und dritte Strophe bestehen aus Zweihebern; in der zweiten werden zwei Zweiheber durch zwei Vierheber umklammert. Bis Vers 1060 folgt dann eine Mischung von reimenden Zeilengruppen²⁵ verschiedener Länge: acht Reimpaare, drei vierzeilige Strophen und sogar eine sechszeilige (V. 1049–1054); die Form variierender Versikel erinnert an den Leich Walthers von der Vogelweide oder Frauenlobs Marienleich. Zweiheber werden vorwiegend gebraucht; interessant ist darüber hinaus die zweimalige Bindung von drei Zweihebern mit einem Vierheber (V. 1035–1038 und V.  1043–1046): die Möglichkeit, solchen längeren Versen eine abschließende Funktion zuzuteilen, scheint durch das Vierheberreimpaar gesichert zu sein, mit dem der Abschnitt abgerundet wird: Und leite sich indine schoͮss: / Da von din lop ist iemer

21 Vita beate virginis Marie et salvatoris rhythmica. Hrsg. von Adolf Vögtlin, Tübingen 1888 (StLV 180). Wernhers Passage wird zwischen den Versen 748 und 749 der Vita eingeschoben. 22 Vgl. Bleumers Behauptung der Überbrückung von Zeit und Raum in der lyrischen Präsenz (Anm. 2), S. 32. 23 Grubmüller (Anm. 10), S. 406. 24 Der Schreiber der Handschrift (cpg 372) hat diese Form zur Kenntnis genommen, indem er die meisten Zweiheber paarweise in je einer Zeile geschrieben hat, zum Teil mit einem Reimpunkt abgesetzt. 25 Wernher ist im Grunde genau in seiner Reimtechnik, aber mit Reimwörtern auf -an und -am geht er relativ frei um.

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groͮss! (V. 1059  f.). Das Wort lop soll wohl ebenfalls durch seinen symmetrischen Bezug zu Vers 1014 den Schluss der Passage markieren. Es entsteht der Eindruck, als wolle der Erzähler den Anschein wecken, dass die regelrechte Beschreibung ihm emotional nicht genügt, oder genauer gesagt, dass er der Aufgabe nicht gewachsen ist. Daher will er sich zurückziehen und eine Zeitlang eine begeisterte lyrische Persona sprechen lassen, welche die Jungfrau unmittelbar und mit den richtigen Worten anspricht. Es war offenbar Wernhers Absicht, diesen Worten auch eine Form zu verleihen, die eindeutig in Richtung Lyrik weist. Mit dem auf Vers 1060 folgenden Reimpaar und der Beteuerung, dass hier nichts ausgelassen werden soll, nimmt der Erzähler seine Rolle wieder auf und kehrt zum narrativen Modus, zur gewöhnlichen Reimpaarform sowie zur fortgesetzten Beschreibung der Jungfrau in der dritten Person zurück. Es gibt Stellen in geistlichen Erzähltexten, wo – so meine ich – eine nicht handelnde Persona durch affektiven Ausdruck die Erzeugung und Steigerung der Emotion bei den LeserInnen erreichen will. So werden die LeserInnen/HörerInnen des Saelden Hort von einer sich immer wieder umändernden (exegetischen, homiletischen, mystischen, lyrischen) Ich-Figur aufgefordert, an dem Erzählverlauf des Textes emotional teilzunehmen, wie ein Beispiel aus der Weihnachtsgeschichte zeigt: gang mit den hirten, sich daz wort, / der mágt kint, dez himels hort! (V. 1351  f.).²⁶ So radikal ist der Passus aus Wernhers Marienleben nicht; er soll anders wirken. Der Kontakt zu uns besitzt nicht die gleiche Unmittelbarkeit, denn mit dem du angesprochen wird Maria, nicht der Rezipient. Doch auch hier ist der Zweck eine Steigerung der emotionalen Intensität nicht nur innerhalb des Textes, sondern auch im Publikum: auf den begeisterten Appell an die Heilige Jungfrau sollen wir mit Begeisterung für sie reagieren. Das Werk gipfelt (ab Vers 14007) in Marias Himmelfahrt. In der Beschreibung ihrer Begrüßung durch die ersten acht Engelchöre verwendet Wernher nur gelegentlich rhetorische Figuren wie Reimhäufung (vgl. die Potestates V. 14301–14332) und Anapher, vgl. Verse wie 14401–14407, die anfangen: Du edelú frucht, du huneg sain, / Du turteltube an alles main. In der nächsten Episode der Geschichte, die zur Erzählung im engeren Sinn gehört, wird die Jungfrau von dem Chor der Seraphim begrüßt, und zwar in einer ganz systematischen stilistischen Aufmachung:

26 Der Saelden Hort. Alemannisches Gedicht vom Leben Jesu, Johannes des Täufers und der Magdalena. Hrsg. von Heinrich Adrian, Berlin 1927 (DTM 26). Vgl. Timothy R. Jackson: Der Saelden Hort: ich und du, Wort und Bild. In: Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Dubliner Colloquium 1981. Hrsg. von Walter Haug/Timothy R. Jackson/Johannes Janota, Heidelberg 1983 (Reihe Siegen 45), S. 141–154.

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14535

14540

14545

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 Timothy R. Jackson

‚Gegruͤsset sigist, du gnaden vol, Die man gern iemer loben sol Vil wirdeklich inewekait! Got gruͤsse dich, vol der gothait, Als an dir ist bewæret wol! Got gruͤsse dich, Gottes gaistes vol Baidú us und inne! Got gruͤsse dich, vollú minne, Got gruͤsse dich, engel kúnegin, Got gruͤsse dich, werdú kaiserin, Von der die wissagen hant gesait, Dú wirdeklich die chrone trait; Und iemer ist din rich gewalt Fúr alle fúrsten usgezalt: Ob allen werden froͮwen Sol man dich sælig schoͮwen! Du schirm vor allen fraisen Und můter aller waisen, Du siechen arczenie, Aller wishait du sophye! ²⁷

14555

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Der armen hort, Der stummen wort, Des todes mort, Du hymel port! Der blinden weg, Brug und steg Úber das vil wilde mer Dem Gottes her Indas gelopte lant! Von des túvels hant Du signúst, du frideschilt, Du richú gist du wie du wilt! Der vertribnen flucht, Der mægte zucht, Ze diner frucht Gang mit genucht Und sicz gemait Mit sælikait Inewekait Bi Got, der drivaltikait!‘²⁷

Formal zerfällt die Passage genau in der Mitte, also nach Vers 14554, in zwei Hälften. Rhetorisch gesehen ist auch hier die Anapher ein wichtiges Stilmerkmal, vor allem in der fünfmaligen Wiederholung des Halbverses Got gruͤsse dich, sonst in der Verwendung von Absolut- und Superlativformen wie iemer (2x), ewekait (2x), all (5x). Bis auf den zweiten Beleg von ewekait ist das alles in der ersten Hälfte zu lesen. Von den zwanzig Versen der zweiten Hälfte fangen zehn anaphorisch-alliterierend mit der, dem oder du an (du kommt auch dreimal in der ersten Hälfte vor). Was den Inhalt angeht, so finden wir nochmals eine lobende Beschreibung, die diesmal nicht Marias äußerer, wohl aber wieder ihrer inneren Schönheit, sowie ihrer heilsgeschichtlichen Rolle gilt: du gnaden vol […] Von der die wissagen hant gesait (V. 14535–14545). Dieser Lobpreis steht in der Tradition der Mariengrüße, es fehlt aber die strenge Form, die etwa die von Schönbach herausgegebenen Texte charakterisiert, nämlich vierzeilige Strophen, von denen jede mit Ave Maria anfängt und aus vierhebigen Versen besteht.²⁸ So wie im Text allgemein, überwiegen auch hier ab dem Anfang der Passage Vierheber mit einsilbig vollen Kadenzen (vgl. V. 14535–14548). Ungewöhnlich ist daher die dreimalige Verwendung von klingenden Kadenzen in den letzten Versen der ersten Hälfte (V. 14549–14554). Noch überraschender ist dann der Übergang zu einem viel lockereren Stil ab der nächsten Zeile. In der zweiten Hälfte der Rede gibt es tatsächlich 27 Diese Passage entspricht, wenn auch sehr frei, den Versen 7744–7771 der Vita rhythmica. 28 Anton E. Schönbach: Aus einem Marienpsalter. In: ZfdA 36 (1906), S. 365–370. In der ersten Passage sind höchstens die Verse 1015–1026 strophenartig, aber auch die sind nicht regelmäßig. Zu den Mariengrüßen vgl. Burghart Wachinger: Mariengrüße. In: 2VL, Bd. 6 (1987), Sp. 1–7, hier Sp. 3.

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nur einsilbig volle Reime, und hier herrschen plötzlich wieder zweihebige Verse, wie sie die erste Passage kennzeichnen, wie auch dort jedoch nicht ausschließlich zweihebige, da V. 14561 und 14565  f. vierhebig sind. Auch hier finden wir Reimpaare neben Vierreimen: der dritte Vierreim schließt die Passage ab, und zwar mit einem längeren (wohl vierhebigen?) Vers: Bi Got, der drivaltikait! (V. 14574). In der zweiten Hälfte dieser Passage setzt sich der Appell an Maria seitens einer Gruppe von Protagonisten fort, die Begrüßung durch die Seraphim, die die Reihe der acht unteren Engelsorden abschließt. Doch mit der Neueinführung der Zweiheber geschieht ein deutlicher Stilwechsel. Von den zehn Versen, die mit der, dem oder du beginnen, bilden fünf den Anfang dieser zweiten Hälfte. Sie sind, wie gesagt, zweihebig und bestehen sonst aus zwei Nomen: Der armen hort, Der stummen wort usw. Wir empfinden den Wechsel im Stil umso stärker, weil in den letzten vier Versen der ersten Hälfte der Rede zwei inhaltlich und grammatisch ähnliche Formulierungen stehen: Du schirm vor allen fraisen […] Du siechen arczenie (V. 14551–14553). Nur sind diese Verse auffällig länger: sie gehören zu den schon bemerkten dreihebig klingenden. Wozu der Wechsel? Es scheint, dass der Staccato-Effekt, der durch die Kombination von Kürze, Wiederholung und Parallelismus erzielt wird, die Häufung der Eigenschaften der Jungfrau besonders betonen soll: Du hymel port! (V. 14558), Der vertribnen flucht (V. 14567), Der mægte zucht (V. 14568). Auch hier wird der Schluss durch den schon erwähnten, längeren Vers 14574 markiert, und mit den nächsten – Och alle hailigen selen […] Kament och und wurdent fro (V. 14575–14578) – setzt sich die Erzählung fort. Hier redet nicht der Erzähler in eigener Person, aber auch kein anderes Ich‚ sondern ein implizites ‚Wir‘: subjektive Äußerungen treten in der Form überindividueller, quasi-gesellschaftlicher Einstellungen hervor, indem die Seraphim, wenn man will, sich als eine ‚subjektive Gruppe‘ in ihrer geistlichen Aufregung konstituieren. Wenn der Leser nicht wie im Saelden Hort direkt angeredet wird, so soll er doch durch die eben besprochenen akustischen Mittel von der Eindringlichkeit der Botschaft des Engelchors überzeugt werden. Als in der Vita rhythmica die Juden Maria zwingen wollen, Josephs Frau zu werden (V. 1336–1339), ist diese entsetzt und betet zu Gott, er möge sie vor diesem Schicksal retten (V. 1340–1359). Dann hört sie auf, ihn anzuflehen, und beginnt, ihn in seinen vielfältigen Rollen und Eigenschaften zu loben, und zwar in Versen, die sehr systematisch eine von vier Vokativwendungen benutzen (1360–1373). Immer am Anfang der Zeile, in acht Fällen auch in der Mitte, steht Tu solus (V. 1364; V. 1369; in der Mittelposition auch V. 1360; „Du allein“) oder Tu solus mihi (V. 1360–1363; V. 1365; auch V. 1361–1364; „Du allein mir“) oder Tu solus es (V. 1366–1368; auch V. 1365; „Du allein bist“) oder Tu meus (V. 1370–1373; auch V. 1370  f.; „Du mein“), z.  B. Tu solus amantissimus, tu solus mihi carus (V. 1364; „Du einziger Liebevollster, Du einziger mir Lieber“). In keinem Textabschnitt, den ich hier bearbeite, wird die anaphorische Stiltechnik konsequenter behandelt. Bei der Wiederholung eines Wortes geht es wohlgemerkt um die Wiederholung nicht nur eines Lautes, sondern auch eines Sinns. Insofern wird der Sinn ästhetisiert: Bedeutungsmuster sind ja auch ästhetische Muster.

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Außer der Hervorhebung durch Wiederholung, Parallelismus und Häufung bringt die Vita rhythmica keine rhetorische Gestaltung. Höchstens wäre das metrische Schema zu erwähnen: die Vagantenzeile mit ihrem trochäischen Rhythmus. Der Autor behandelt die Silbenzählung (theoretisch 13), den Auftakt und die Kadenz zwar mit einiger Freiheit,²⁹ und die Reimpaare sind gelegentlich zu Vierreimen gebunden, allerdings ohne dass sich ein durchgängiges Konzept darin erkennen ließe. Gegenüber 36 in der Vita rhythmica braucht Wernher an der entsprechenden Stelle für die ganze Rede der Jungfrau bloß 13 Verse (V. 1928–1940), von denen keiner die Anapher als stilistisches Prinzip verwendet. Anders geht Bruder Philipp der Karthäuser vor, der ebenfalls die Vita rhythmica als die Quelle seines Marienlebens benutzt hat.³⁰ Auch bei ihm bittet die Jungfrau zuerst um Hilfe, dann aber – ab Vers 1398 – nicht mehr, sondern sie preist Gott in 32 lyrischen Versen, indem sie aufzählt, was er alles für sie bedeutet. Die Passage in der Vita rhythmica ist systematischer im Ordnen ihres Inhalts und daher strenger in ihrer poetischen Form als die entsprechende in Philipps Text. Zwar kommt in diesem Du bist immer wieder vor: du bist mîn vater, du bist mîn bruoder (V. 1398) du bist mîn hilf, du bist mîn trôst (V. 1402) du bist mîn lachen und mîn weinen (V. 1420),

nicht aber am Anfang eines jeden Verses, während Tu immer im Auftakt steht. Ohne eine Übersetzung für das zehnmal vorkommende solus bleibt die Einzigartigkeit dieser verschiedenen Verhältnisse zwischen Maria und Gott unbetont.³¹ Diese Verse mit Vokativwendungen nehmen bei Philipp mehr als die Hälfte des ganzen Gebets in Anspruch (32 von 54 Versen), in der Vita rhythmica dagegen weniger als die Hälfte (14 von 36 Versen). Beide Werke weisen etwa 30 lobende Nomen und Adjektive auf, also liegen sie in der Vita rhythmica dichter beisammen. Ferner zeigt sich besonders deutlich in der Vita die Auswirkung einer formalen Forderung der Vagantenzeile, nämlich die konsequente Teilung der Versstruktur durch eine Zäsur. Die zwei Hälften von fast jedem Vers enthalten hier je ein Nomen oder Adjektiv: z.  B. Tu solus mihi sponsus es, tu solus coniux meus (V. 1360; „Du allein bist mein Bräutigam, du allein mein Ehemann“). Nicht nur dieser Satz erinnert an das Hohelied, indem er den Wortschatz der Liebe zwischen Mann und Frau zur Beschreibung der Liebe zwischen Mensch und Gott verwendet: vgl. z.  B. aus dem früheren Teil des Gebets Amavi te, dilexi te, te solum concupivi, / Nunquam sponsum preter te dilecte mi quesivi (V. 1358  f.; „Dich habe ich geliebt,

29 Gärtner (Anm. 11), Sp. 440. 30 Bruder Philipps des Carthäusers Marienleben. Hrsg. von Heinrich Rückert, Quedlinburg, Leipzig 1853 (Bibl. d. ges. dt. Nat.-Lit. 34). 31 In den Versen 1384–1397 aber steht je einmal aleine, al eine und alein.

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dich geschätzt, dich allein begehrt, nie habe ich einen Bräutigam außer dir gesucht, mein Geschätzter“). Bei Philipp findet man Ähnliches wieder: du bist mîn lieber priutegum (V. 1404) du bist mîn vriedel und mîn vriunt: ich bin von dîner minne enzündt. (V. 1408  f.) du bist mîn vreude und mîn spil (V. 1418).

Wir hören aber ebenso Anklänge an die höfische Begriffswelt eines Gottfried von Straßburg, in Versen wie: du bist mîn liep, du bist mîn leit, durch dich sô lîd ich gern arbeit (V. 1414  f.)

und du bist mîn tôt, du bist mîn leben. (V. 1422)

Philipp verwendet zwar durchgehend den epischen Vierheber, aber ausgerechnet die Verse, die diesen Teil des Gebets beschließen, weisen eindeutig auf den höfischen Minnesang: du bist mîn und ich bin dîn, ich wil immer bî dir sîn. (V. 1428  f.)

Mit dem stilistisch gehobenen Ausdruck der Empfindung in diesen beiden Passagen wollen die jeweiligen Dichter unsere Begeisterung für das beispielhafte Vertrauen der Heiligen Jungfrau zu Gott anregen sowie für ihre Bereitschaft, sich ihm zu weihen, sich auf ihn zu verlassen. Im Geist der imitatio soll der Rezipient ihr darin folgen. Zum Abschluss des jeweiligen Gebets kehrt Maria in beiden Texten von der Preisung Gottes zum Anflehungsmodus zurück. In der Vita rhythmica ist das eine zweizeilige Bitte, Maria aus ihrer traurigen Lage zu retten: Ergo […] te deprecor (V. 1374; „Darum bitte ich dich“). Auch Philipp benutzt eine ergo-Konstruktion, die mit ihren acht Versen etwas länger ist: dar umb bit ich dich […] daz ich […] niht verlies mîn kiuschekeit (V. 1430–1437). Dann geht die Erzählung mit dem Erscheinen eines tröstenden Engels vor Maria weiter. Hinsichtlich lyrischer Einschübe in epischen Texten hat die Romanistin Jacqueline Cerquiglini eine kategoriale Unterscheidung zwischen collage und montage vorgeschlagen.³² Unter collage versteht sie Einlagen, die keine wesentliche Funktion

32 Jacqueline Cerquiglini: Pour une typologie de l’insertion. In: Perspectives médiévales 3 (1977), S. 9–14.

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im Erzählprozess haben, sondern das Erzählte etwa durch Kommentar unterstützen; bei der montage dagegen wird die lyrische Komponente mehr integriert, sie kann sogar als die Quelle der Erzählung betrachtet werden. Im letzteren Fall geht es aber in erster Linie um Texte, die regelrechte Lieder in den Text integrieren, und in Anbetracht dessen, dass Cerquiglini sich prinzipiell für weltliche Werke interessiert, würde man in der deutschen Literatur vielleicht an Ulrich von Lichtenstein denken.³³ Eine Integration dieser Art habe ich im hier besprochenen Corpus geistlicher und eindeutig erzählender Texte zwar nicht gefunden, aber die Frage ließe sich stellen, ob die eine oder andere von mir besprochene Passage (vielleicht Wernhers) als selbständiges liet oder Leich existieren könnte. Wichtiger ist das tatsächliche Verhältnis einer lyrischen Einlage zu ihrem Kontext. In dieser Hinsicht ist die nächste Passage der ersten ähnlich. Ab Vers 732 von Lutwins Eva und Adam beschreibt der Erzähler die Austreibung des ersten Menschenpaares aus dem Paradies.³⁴ Mit Vers 762 endet eine Rede, in welcher der Herrgott den Engelscharen befiehlt, den Baum der Erkenntnis zu bewachen, aus Furcht, dass Adam von dessen Früchten essen und ewig leben könnte. Sofort spricht ein Ich, und sein erstes Wort – Eya – lässt uns wissen, dass das nunmehr keine erzählende Stimme ist, sondern eine, die von einer Emotion getrieben wird,³⁵ und zwar in diesem Fall von der Sehnsucht: Eya, gott der tugent vol, Hette ich des bömes einen zwy, […] So wolte ich hie wesen One tötliche swere (V. 763–770)

Dann aber kommt die traurige Einsicht Das mag leider nü nit sin (V. 774), worauf jedoch sofort die trostbringende Möglichkeit folgt, dass man dank der göttlichen Gnade dem ewigen Tod doch entgehen und das ewige Leben genießen kann: Des fröide ist unglich (V. 781). Sogleich tut sich das himmlische Wunschbild auf, das in 28 Versen geschildert wird. Höhepunkt ist die visio beatifica, die auch mit einem Ausruf der Begeisterung markiert wird:

33 Müller (Anm. 6), S. 173–175, behandelt regelrechte Gedichte, die in englischen Romanen des 17. und 18. Jahrhunderts eine „interruption of the narrative“ verursachen, mit dem Zweck, „lyric immediacy and intensity“ in den Text zu bringen; z.  B. die zwei Strophen in The Romance of the Forest von Ann Radcliffe (1791), in denen Theodore auf die Schönheit der Adeline reagiert. Solches werde ich nicht behandeln; auch nicht Mischformen wie das Prosimetrum oder die durchgehende „[g]enerische Offenheit […] von narrativen, reflexiven und lyrisch-hymnischen Aussageformen“ einer Mechthild von Magdeburg: Bleumer/Emmelius (Anm. 8), S. 7. 34 Mary-Bess Halford: Lutwin’s Eva und Adam. Study – Text – Translation, Göppingen 1984 (GAG 401). 35 Im Verlauf der Tagung wurden mehrere Belege von Eya besprochen, u.  a. in Texten von Hadewijch, Frauenlob, Konrad von Würzburg und Mechthild von Magdeburg. Dabei ergab sich, dass Eya unterschiedlich gefärbt sein kann, und zwar je nach Kontext mal negativ, mal positiv, mal freudig begeistert.

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Hey, was fröiden und wunne Lyt an gottes anschowe! (V. 785  f.)

Indem der additive Erzählfluss zeitweilig aufgehoben wird, kann Anderes entstehen: eine Reihe von Gefühlen wird dargestellt. Das Ich vermittelt den Eindruck, dass es von dem, was es gerade erzählt hat, so überwältigt ist, dass es nicht umhin kann, sich in einem anderen Modus, einem anderen Stil spontan darüber zu äußern. Eben diese hoffnungsvollen Gefühle sollen wir nachvollziehen. Ein einzelner Vers in flehender Diktion – Zu den hülffe uns, heren Jhesu Crist (V. 810) – vollendet einen Dreireim und schließt das Gebet ab, und mit dem nächsten nimmt der Erzähler das Erzählen wieder auf. In der Erlösung,³⁶ einem Text, der die Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zur Endzeit erzählt, befindet sich eine Passage (V. 2487–2598), die einen mehrfachen Wechsel des Stils und der Stimme aufweist. Unmittelbar vorher und in aller Kürze, d.  h. in sechs Versen, von denen zwei aus abbreviatio-Formeln bestehen, wird in der dritten Person von der Empfängnis der Heiligen Elisabeth und der Geburt des Heiligen Johannes erzählt. Nach der zweiten, abschließenden Abbreviationsformel lässt sich, nochmals mit einem enthusiastischen Eingangs-Eiâ (V. 2487), eine betende Stimme hören, die Gott (in der zweiten Person) um die Hilfe des Heiligen Geistes bei der Lobpreisung einer zarten rôse (V. 2503), einer hêre[n] kunigîn (V. 2507) bittet. Dass diese nie genügend gepriesen werden könne, wird mit verschiedenen rhetorischen Mitteln behauptet: zuerst mit absoluten Begriffen wie alle, êweclîchen, nie, dann mit einem langen Unsagbarkeitstopos (V. 2513–2521), vor dem und in dem die Verwendung der Annominatio in den variierenden Formen des Nomens lop im Vordergrund steht (achtmal im ganzen, einmal das Verbum loben). Dann, fast als ob diese Zeilen ein Rätsel gebildet hätten, wird in einem zweiten Unsagbarkeitstopos behauptet (V. 2522–2528, mit 2x lop, 1x prîs), dass alle lûde wissen, wer gemeint sei. So werden wir als Publikum, aber in der dritten Person, mit einbezogen. Maria wird immer noch nicht beim Namen genannt, sondern wieder indirekt, und zwar auch sie in der dritten Person, als der engel vrouwe und ein rôse in douwe (V. 2529  f.) bezeichnet. Mit Vers 2534 kommt als Nächstes ein zweizeiliger Appell in der zweiten Person an die Jungfrau, sie möge dem Ich helfen, baz zu sprechen. Ist damit ‚stilistisch adäquat‘ gemeint? Alles gipfelt dann in einer langen Reihe von metaphorisch-allegorischen Wendungen von der Art, die wir schon mehrmals betrachtet haben, mit immer wieder anaphorisch vorkommendem Dû, zumeist im Auftakt, zum Teil auch im Versinneren. Als Letztes (V. 2587–2598) wird in einem zweiten Gebet an Maria um geistliche und ästhetische Hilfe gebeten; und mit dem Anfang des folgenden Absatzes Ein stat in Galilêa stêt

36 Die Erlösung. Eine geistliche Dichtung des 14. Jahrhunderts. Auf Grund der sämtlichen Handschriften zum erstenmal kritisch hrsg. von Friedrich Maurer, Leipzig 1934 (DLE: Geistliche Dichtung des Mittelalters 6).

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(V. 2599) wird der Schauplatz der nächsten Episode, der Verkündigung, vom Erzähler gegeben. Ich schließe mit Bemerkungen zu drei Texten: dem Väterbuch, dem Passional und den Maccabäern.³⁷ Sie sind im Kreis des Deutschen Ordens entstanden und damit Teil einer literarischen Tradition, die sich besonders mit Bibel- und Legendendichtung beschäftigt hat, nicht zuletzt mit der Verherrlichung von Glaubenshelden.³⁸ Die Verse 40983–41078 des Väterbuches bestehen nicht wie die ihnen vorhergehenden aus vierhebigen Reimpaaren, sondern aus 17 formal variierenden Strophen: 1–6: 7–8: 9–14: 15–16: 17:

sechsversig; fünfversig; sechsversig; fünfversig; vierversig;

Reimschema aabccb; aabbb; aabbcc; aabbc + ddeec; abab.

Die Verslänge reicht von einhebig voll, Mit erg (V. 41038), bis vierhebig voll, Den durstigen mit laider stift (V. 41049), oder vierhebig klingend, Mit den guten tailen (V. 41055). Die Verse 5 und 6 der jeweiligen Strophenpaare 9 und 10, 11 und 12, 13 und 14 haben den gleichen c-Reim; sonst wird die Form dieser sechs Strophen durch die Metrik und nicht durch den (Paar)Reim bestimmt. Diese 96 Verse folgen auf die letzte Episode des Textes, das in naher oder ferner Zukunft liegende Jüngste Gericht, und bilden eine erste, gefühlsbeladene Reaktion auf die zwei Möglichkeiten, die jeder und jedem an jenem Tag bevorstehen: jemerlich[em] ellend (V. 40978) oder ein ewigs leben (V. 40982). Mit konsequenter Antithetik wird das jeweilige Schicksal der Bösen und Guten geschildert. Das kommt besonders deutlich in der formalen und inhaltlichen Struktur der Strophen 2 bis 6 zum Ausdruck, in denen jeweils eine Halbstrophe (aab + ccb) die Geretteten (immer die guten) bzw. die Verdammten (einmal die armen, sonst die posen) behandelt: Di guten varn Als di arn In des himels flur; Di posen snaben In di graben Der laiden hell schur. (V. 41001–41006)

37 Das Väterbuch. Aus der Leipziger, Hildesheimer und Straßburger Handschrift hrsg. von Karl Reissenberger, Berlin 1914, Nachdruck Dublin, Zürich 1967 (DTM 22); Das Passional. Eine LegendenSammlung des dreizehnten Jahrhunderts. Hrsg. von Friedrich Karl Köpke, Quedlinburg, Leipzig 1852, Nachdruck Amsterdam 1966 (Bibl. d. ges. dt. Nat.-Lit. 32); Das Buch der Maccabäer in mitteldeutscher Bearbeitung. Hrsg. von Karl Helm, Tübingen 1904 (StLV 233). 38 Vgl. Helm (Anm. 37), S. LXXVIII der Einleitung.

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Strophe 1 gilt den Bösen allein (Owe tot, / Owe not V. 40983  f.), 7 bis 16 den Guten und den Bösen alternierend, während Strophe 17 das Fazit bringt: Jenen wol, Disen we, Sus sol Es wesen ymmerme! (V. 41075–41078)³⁹

Es folgen ca. 150 normale Reimpaare, die erst die Qualen der Hölle, dann die Freuden des Himmels eingehender beschreiben, zum Teil bei Verwendung eines rhetorischen Redestils, vgl. Owe, owe und owe, / We, we und nymmer wol! (V. 41220  f.) bzw. Wol dich! wol dich! daz frewden spil / Peitet dein da manigvalt / In der himlischen gewalt (V. 41260–41262).⁴⁰ Auch das Passional besteht zumeist aus drei- oder vierhebigen Reimpaarzeilen, der letzte Abschnitt aber, Unsers herren lob (691,1–692,45), aus 13 stilistisch gehobenen Strophen, in denen der Autor die göttliche Schöpfungskraft feiert und das inbrünstige Gebet äußert, Gott möge uns den Eintritt in den Himmel gewähren. Strophe  1 (10 Verse) hat das Reimschema aaaabccccb; die Strophen 2–11 (8 Verse) sowie 12 (10  Verse) bestehen aus Reimpaaren;⁴¹ Strophe 13 schließt den Text mit drei Reimpaaren und einem Dreireim (9 Verse) ab. Auch hier wird die formale Dimension des lyrischen Moments häufig durch die Zeilenlänge bestimmt: in der Regel sind es zweihebige Verse, aber jede Strophe wird durch einen längeren (drei- oder vierhebigen) fünften Vers in zwei geteilt und durch einen ebenso langen abgeschlossen: Lob und ere immer mere, sunder kere, al vollen sere, von aller creature si dir gesaget! al unverdaget, der uns betaget bist von der maget in menschlicher figure. (691,1–10)

Vor Unsers herren lob kommen die 37 Standardreimpaare der nachrede und vor dieser wiederum die letzte Heiligenvita im Text: Von sante Katherinen einer iuncvrowen, mit

39 Entgegen Reissenberger (Anm. 37) schlage ich vor, mit Punkt nach V. 41074 und, wie oben, Komma nach V. 41076 zu interpungieren. 40 Der Schluss bietet ein Gebet mit konsequenter Reimhäufung: acht Verse auf -ôt, zehn auf -unt, zwölf auf -ich – und dann, etwas überraschend, drei einfache Reimpaare. Ein letztes Reimpaar bringt das Explicit. 41 Nur die sechste Strophe fängt mit einem Vierreim an.

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2262 Versen (667,1–690,41).⁴² Die Reihe von Reden, in denen Katharina den Kaiser Maxencius und die heidnischen Meister konfrontiert, wird durch zehn lyrische Einschübe unterschiedlicher Länge (von 16 bis 32 Versen) markiert, die – wo nicht die ganze Rede – dann den jeweiligen Schlussteil bilden. Sie sind aber nicht wie Unsers herren lob aus einigermaßen regelmäßigen Strophen zusammengesetzt, sondern zeigen eher die lockere, versikelartige Gruppierung der Verse, die wir vor allem beim Schweizer Wernher bemerkt haben. Im Gegensatz zu den eher lied- oder gebetartigen Stoffen, die ich bisher behandelt habe, reicht hier der emotionale Inhalt von der aggressiven Verwerfung der Abgötter (diese ‚brengen dich in allez leit‘, 671,34), Hohn für die heidnischen Meister (‚uwer meisterlicher name / sal mit schame / erwinden‘, 676,50–52), und Trotz gegenüber Maxencius (‚ey, durch waz / wiltu vurbaz / mich uf ein is hie leiten?‘, 682,78–80) über die tröstliche Versicherung, dass die Heiden, sollten sie sich bekehren, doch erlöst würden (‚so mac uch nicht verirren, / noch virren / der vreuden gotes‘, 678,83–85), bis hin zu Behauptungen des eigenen Glaubens, die an Bekenntnisformen anklingen, wie sie in der Mystik üblich sind: ‚daz ist min got sunder spot, den ich minne uz allem sinne und an in mich kere. sin ere, die tut mir wol. ich hin [lies: bin] sin brut uber lut, und davon bin ich gewon, daz ich in stete nenne; bekenne, daz ich im sol. er ist gut, wol behut, der minen mut, als ein glut an siner minne hitzet, besitzet also min leben; ich bin begeben im zu lobe und er ist allen kunsten obe.‘ (677,47–70)

42 Sonst erreichen allein die Legenden von Silvester, Gregor dem Großen und Augustinus eine solche Länge.

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Auch hier, in diesen letzten Zeilen einer Rede, finden wir zweihebige Verse neben drei- und vierhebigen; Reimpaare sind die Norm, aber durch den Reim wol / sol (677,53 / 677,60) werden zwei siebenzeilige Quasi-Strophen gebildet, denen ein Vierreim folgt. Warum werden solche Variationen mit ihren rhythmischen Wirkungen verwendet, um allein diese Legende auszuzeichnen?⁴³ Katharina war zwar nicht (wie die Heiligen Maria, Elisabeth und Georg) Patronin des Deutschen Ordens, aber ihre Beliebtheit sowie ihre besondere Bedeutung als Märtyrerin und Nothelferin wären vielleicht Grund genug, sie auf diese Weise zu feiern. Das würde bedeuten: Stil als Ausdruck der Verehrung. Hinzu kommt aber ein Phänomen, das ich „das Prinzip des betonten Schlussgliedes“ nennen möchte. Wir haben mehrmals beobachtet, dass eine Sinneinheit durch eine Reihe von Kurzversen und einen abschließenden längeren Vers gebildet wird, vgl. Du edler stam, / Dem aine zam / der hoͤste nam / Ze paradys ie kam (V. 1023–1026) aus Wernhers Marienleben, oder Jenen wol, / Disen we. / Sus sol / Es wesen ymmerme! (V. 41075–41078) aus dem Väterbuch.⁴⁴ Dieser Kunstgriff, der ja dem Gesetz der wachsenden Glieder entspricht, findet sich hier in 677,70 und auch im fünften Vers der Strophe, die das Passional abschließt: Da [sc. im Himmel] wolde ich wesen, in dir [sc. Gott] lesen, swes man darf, an minnen scharf uf des hohsten lobes trit. volbrenge dit, laz uns dich sehen und unser sele in dich brehen. amen, daz muze an uns geschehen! (692,37–45)

Auffallender ist aber hier die Tatsache, dass die Verse, die sonst das letzte Reimpaar im Text gebildet hätten, durch die Übersetzung des Amen zu einem Dreireim verlängert worden sind. Dies ist allerdings nicht bloß eine Frage der Quantität, sondern es geht vielmehr um die Hervorhebung der Rolle dieser Strophe und dieser Verse durch ihre ästhetische Qualität. Was wir hier in der Mikrostruktur finden können, haben wir oben in der abschließenden Funktion der stilistisch gehobenen lyrischen Einlagen in Katharinas Reden konstatiert. Das legt wiederum die Möglichkeit nahe, dass ihre Vita mit diesen geschmückt wird, weil sie innerhalb der Makrostruktur des ganzen Textes den Höhe-

43 In dieser und in anderen Legenden (vgl. St. Patricius) tritt alle paar Seiten Reimhäufung auf, aber selten kommen mehr als vier Verse in Frage, und auch dann ohne dass eine Änderung der Zeilenlänge oder eine konsequente Funktion für diese Gruppen zu beobachten wäre. 44 Daher sind die letzten Verse der Rede 676,40–60 – ‚muz zuvarn / alsam ein tuft, / und ir belit / in stiller kluft!‘ (676,57–60) – im Passional nicht als vier Kurzverse (mit zwei Waisen) zu lesen, sondern als zwei Langverse.

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punkt und Ausgang des erzählten Inhalts bilden soll. Wie mehrmals oben beobachtet wurde, sind die Passagen, die ich diskutiere, nicht antizipatorisch, sondern ergeben sich aus dem Erzählfluss der hervorgehenden Verse. Schon Helm hat festgestellt,⁴⁵ dass der Autor der Maccabäer, womöglich Luder von Braunschweig, seine Reimpaare sehr konsequent aus achtsilbigen Versen bildet. Umso auffälliger sind dann vier Stellen, an denen durch Reim und/oder Metrum von diesem Muster bewusst abgewichen wird. Die Verse 329–354 der ‚persönlichen Vorrede‘ (so Helm) reimen ausschließlich auf -anc, z.  B. aus dem Gebet um göttlichen Beistand beim Dichten: Here hilf uns disen anvanc volbrengen wol und den uzganc, wand uz dir alle kunst entspranc des blibe bi uns sunder wanc. (V. 337–340)

In der Nachrede bestehen V. 14231–14278 formal aus 16 Dreizeilern mit der Reimkombination -ant, -ant (beide achtsilbig voll), -ingen (siebensilbig klingend), so: So kumt die nuwe e gerant, die sal man nemen vor die hant swen da mit lustet ringen (V. 14249–14251)

Den Abschluss des Werkes bilden 14 Verse (V. 14391–14404) mit Zäsurreim auf -ende und Endreim auf -ich – etwa Got behende du wundelich / von uns swende so minneclich (V. 14391  f.)  – dann vier mit Endreim (die drei ersten auch mit Zäsurreim) auf -uz[e] – etwa Amen, daz muze! Swer gruze / dich here suze, dem buze (V. 14405  f.) – und schließlich ein normales Reimpaar auf -ist: Zarter lieber du here Crist / lob si dir nu zu aller vrist! (V. 14409  f.).⁴⁶ Diese drei Passagen sowie andere, kürzere Beispiele der Reimhäufung⁴⁷ haben weniger die Funktion, den Erzählfluss zu unterbrechen, als (etwa durch Gebete, Bescheidenheitstopoi, Erzählerbemerkungen verschiedentlicher Art) andere Inhaltsgrenzen zu markieren (z.  B. liegt auch hier zweimal das betonte Schlussglied vor) und/oder die persönliche Teilnahme des Autors zu betonen. Lediglich in der zweiten Passage spürt man eine gewisse Aufregung, da der Autor/Erzähler darauf hinweist, dass in der Bibel auf die Maccabäer das Neue Testament folgt und somit die Aussicht auf Rettung und Heil, die Hoffnung auf das himmlische Leben, wo Mit vride ist ieclich wigant […] da hat nieman keinen viant (V. 14261–14270).

45 Helm (Anm. 37), S. VII; XI. 46 Prinzipiell gilt, dass in allen drei Passagen kein Reimwort wiederholt wird; z.  B. ist in der ersten Passage das Wort cranc (V. 330) ein Adjektiv, cranc (V. 352) ein Nomen. 47 Vgl. Helm (Anm. 37), S. XVIIIf.

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Ganz anders ist dann die vierte Passage, die Verse 4091–4124 aus der Schilderung der Schlacht, in der Judas Maccabäus im Kampf gegen Bachides stirbt. Hier hat der Autor, der sich sonst eng an den apokryphen Text hält, den Vers I Mcc IX,17 in zwei gespalten und die Beschreibung von Judas Angriff auf den Feind eingefügt, denn erst nach der Bestätigung seines heldenhaften Kämpfens soll er sterben. Im Grunde geht es also um die Erzählung einer Handlung, wobei der Erzähler implizit bleibt; auch der abschließende Unsagbarkeitstopos bleibt unpersönlich: so wol wart ez von im getan, / daz ez nieman volsagen kan (V. 4123  f.). Dafür aber führt die stilistische Aufmachung dieser Handlung in Richtung Verherrlichung des exemplarischen Kriegers. Die Passage fängt mit 18 Standardachtsilblern an, die alle auf -egen reimen: An sprengte Judas der degen, / strites wold er mit en pflegen, / lebens hat er sich irwegen (V. 4091–4093). Schon kommt mit der anormalen Wortstellung und der Betonung des Schlüsselwortes degen in der Reimstelle eine besondere Energie in den ersten Vers. Das geht mit der akustischen Betonung anderer wichtiger Vokabeln anhand des wiederholten Reimes weiter: regen (Verbum), kegen [lies: gegen], slegen usw. Die Begeisterung für den Kampf, der in erster Linie ja keine geistliche Tätigkeit bildet, kommt dann in den Versen 4105  f. mit Ausrufen unmittelbar zum Ausdruck: Wacha, wach, wie gienc er vegen / allen enden uf den wegen. Der 16 Verse lange zweite Teil der Passage zerfällt wiederum in zwei Teile mit je acht Versen, deren erster lautet: Entfan noch van niht geschan; ane wan man mohte an dan sehen slan san manchen man swan er began (V. 4109–4116).

Damit wird plötzlich der Achtsilbler als Prinzip aufgegeben und stattdessen eine Kombination von zwei-, drei- und viersilbigen Versen gestaltet, von denen alle am Ende und fünf auch am Anfang auf -an reimen.⁴⁸ Danach setzen die Achtsilbler wieder ein, alle acht mit dem gleichen Endreim, die vier ersten auch mit Schlagreim am Versanfang – etwa gran zan was da bloz mit grisgran, / ran bran uz wunden heizer tran (V. 4117  f.).⁴⁹ Diese 34 Verse mit ihrer Mischung von inhaltlichen Motiven aus der heldenepischen Tradition und einer Versform, die gleichzeitig an den Leich und den Manierismus etwa eines Konrad von Würzburg erinnert, sind einmalig im Text und wohl darauf ausgerichtet, beim Publikum eine bewundernde Reaktion auf das Er-

48 Zum Reimen von kurzen Vokalen mit langen vgl. Helm (Anm. 37), S. XXI, Anm. 1. 49 Eine besondere Form des Schlagreims, der übergehende Reim mit seinem synkopierenden Rhythmus, ist hier in grisgran / ran und sonst öfter in den Versen 4109–4120 zu beobachten.

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zählte zu erzielen. Denn hier wird nicht nur erzählt: beim Hören dieser feierlichen Beschreibung des Kampfes werden die Deutschordensritter sich in ihrer Selbststilisierung als alteri Maccabei bestätigt, in der begeisterten Nachfolge dieser „prototypical godly heroes“ gestärkt gefühlt haben.⁵⁰ Von Wernhers Porträt der Jungfrau ist dies weit entfernt. Ich ziehe ein kurzes Fazit: Typisch für viele geistliche erzählende Texte⁵¹ ist die Bereitschaft, den Erzählfluss ab und zu mit einer lyrischen Passage zu unterbrechen bzw. den Erzählstil lyrisch zu steigern. Es handelt sich in erster Linie um Ausdrücke der Empfindung, vermeintlich subjektive Reaktionen auf geistlich bedeutende Personen oder Handlungen. Dieser neue Inhalt wird durch eine neue rhetorisch-stilistische Gestaltung hervorgehoben; in den Passagen, die ich untersucht habe, erfolgt das insbesondere durch anaphorische Muster sowie durch eine Versform, die dem Lied bzw. dem Leich nahesteht. Dieser Inhalt kann dem Erzähler oder einer anderen Ich-Persona oder einem Protagonisten bzw. einer Protagonistin in den Mund gelegt werden. Beginn und Ende der Passage werden auf verschiedentliche Weise markiert, z.  B. durch eine Erzählerformel, eine Änderung in der Verstechnik oder ein semantisches Signal, etwa êjâ. Die Passage kann auf eine Quelle zurückgehen oder eine mehr oder weniger selbständige Einlage sein. Das Ziel einer solchen Passage ist es, durch den Ausdruck der Empfindung die Einfühlung des Publikums anzuregen und seine emotionale, meist auch geistliche Teilnahme am Geschehen zu steigern. Gerade das unregelmäßige Vorkommen und die verschiedenen Gestaltungsvarianten des Lyrischen in solchen Texten verleihen dem Phänomen besondere Bedeutung.

50 Henrike Lähnemann: The Maccabees as Role Models in the German Order. In: Dying for the Faith, Killing for the Faith. Old-Testament Faith-Warriors (1 and 2 Maccabees) in Historical Perspective. Hrsg. von Gabriela Signori, Leiden 2012 (Brill’s Studies in Intellectual History 206), S. 177–193, hier S. 193 bzw. S. 181. 51 Es gilt aber z.  B. im Grunde weder für Konrads von Fußesbrunnen Kindheit Jesu noch für Walthers von Rheinau Marienleben.

Almut Schneider

Sprachästhetik als ars cantandi Poetik im Diskurs der musica in Konrads von Würzburg Goldener Schmiede Führt die Frage nach einer Verbindung von poetologischer Selbstreflexion und stilistischer Formgebung in mittelalterlicher Dichtung auch auf die Suche nach den (lateinischen) Theoriefeldern, vor deren Hintergrund die Literatur ihre Ästhetik und Artifizialität entfaltet und reflektiert, so möchte mein Beitrag spezifisch nach der Rolle mittelalterlicher Musikanschauung in diesem Kontext fragen. Denn im Rückgriff auf die Systematisierung der Künste bei Martianus Capella, der die Dichtkunst der Musik zuordnet, erscheint Dichtung auch als ein Inbegriff der musica humana.¹ Musik aber, die Musikalität dichterischer Sprache, spielt im Werk Konrads von Würzburg eine herausgehobene Rolle, auch in der Dichtung, die seine Sprachkunst in besonderer Weise vor Augen führt, seinem Marienlob.² Die Goldene Schmiede Konrads ist in letzter Zeit mehrfach auf ihr poetologisches Konzept hin befragt worden.³ Sah die ältere Forschung in ihr vielfach das Dokument

1 Martianus Capella: Die Hochzeit der Philologia mit Merkur. (De nuptiis Philologiae et Mercurii). Übers., mit einer Einleitung, Inhaltsübersicht und Anmerkungen versehen von Hans Günter Zekl, Würzburg 2005. Die Zuordnung der Dichtkunst zur Musik zeigt sich in Buch IX, wo im Gefolge der Harmonia, die in den Handschriften bald mit der Musica gleichgesetzt wurde, auch Dichter erscheinen. Vgl. Sabine Grebe: Martianus Capella: De nuptiis Philologiae et Mercurii. Darstellung der Sieben Freien Künste und ihrer Beziehungen zueinander, Stuttgart 1999 (Beiträge zur Altertumskunde 119). Die Unterteilung der Musik in musica humana, musica mundana und musica instrumentalis (genauer: die Musik, die mit gewissen Instrumenten ausgeführt wird) geht zurück auf Boethius grundlegende Schrift De institutione musica, Buch I, Kap. 2. Anicius Manlius Torquatus Severinus Boetius: De institutione musica libri quinque. Hrsg. von Gottfried Friedlein, Leipzig 1867, Nachdruck Frankfurt a. M. 1966; Anicius Manlius Severinus Boetius: Fünf Bücher über die Musik. Aus der lateinischen in die deutsche Sprache übertragen und mit besonderer Berücksichtigung der griechischen Harmonik sachlich erklärt von Oscar Paul, Leipzig 1872, Nachdruck Hildesheim 1985, S. 7; vgl. Christian Kaden: Das Unerhörte und das Unhörbare. Was Musik ist, was Musik sein kann, Kassel 2004, S. 127. 2 Die Goldene Schmiede des Konrad von Würzburg. Hrsg. von Edward Schröder, Göttingen 1926. 3 Dietmar Peil: Bildfeldtheoretische Probleme in der Goldenen Schmiede Konrads von Würzburg. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 5 (1988/89), S. 169–180; Mireille Schnyder: Eine Poetik des Marienlobs. Der Prolog zur Goldenen Schmiede Konrads von Würzburg. In: Euphorion 90 (1996), S. 41–61; Beate Kellner: Meisterschaft. Konrad von Würzburg  – Heinrich von Mügeln. In: Interartifizialität. Die Diskussion der Künste in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Susanne Bürkle/Ursula Peters. ZfdPh 128 (2009), Sonderheft, S. 137–162; Susanne Köbele: Grenzüberschreitungen. Spielräume literarischer Engel-Darstellung im Mittelalter. In: Spannungsfelder des Religiösen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Beate Kellner/ Judith Klinger/Gerhard Wolf (Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 54,2 [2007]), S. 130–164; dies.: Zwischen Klang und Sinn. Das Gottfried-Idiom in Konrads von Würzburg Golde-

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eines in seiner Kunstfertigkeit in höchstem Maße selbstbewussten Autors, kehrt sich dieser Blick in neueren Arbeiten um. So beschreibt Mireille Schnyder Konrads Poetik als eine „Poetik der Unzulänglichkeit“: In aller Kunstfertigkeit kann es Konrad nicht gelingen, Maria angemessen zu loben. Seine Dichtung mündet in das formvollendete Vorführen ihrer eigenen Begrenztheit und eröffnet genau darin eine Rhetorik, „mit deren Hilfe die Grenzen des Realisierbaren überschritten werden können, ohne dass sie verletzt werden“.⁴ Ich möchte dies um eine weitere Beobachtung ergänzen. Das Ich der Goldenen Schmiede, das mit dem irrealen Wunsch einsetzt, Ei künde ich wol enmitten in mines herzen smitten getihte uz golde smelzen (V. 1–3),

um damit der himelkeiserin (V. 6) ein Lob, durliuhtec unde glanz zu schmieden (V. 8  f.), ist keineswegs der Einzige in diesem Text, der Maria zu loben ansetzt.⁵ Auch die Gesamtheit der Engel, der engel samenunge (V. 233), singt ihr Lob. Was hier zunächst noch wie ein mehrstimmiges Nebeneinander erscheint, wird zuletzt in eine Opposition überführt. Denn Konrads Marienlob schließt mit einer Umschreibung der Todesstunde Jesu mit allen Zeichen, die dieses Ereignis im biblischen Text begleiten: diu sunne erlasch unt wart vil sal, ein umbehanc der reiz enzwei, diu erde erbidemt unde schrei den starken unverdienten tot. sus schrie ich, frouwe, durch die not zuo dir für al die cristenheit: la sines todes bitterkeit an uns werden niht verlorn, sit er dich selbe hat erkorn, für alle creatiure. bring uns mit diner stiure für die heren trinitat, da lop des endes niht enhat von süezem engelschalle. (V. 1986–1999)

Die Gegenüberstellung eines dichterischen Selbst, das in seiner Todesangst nicht nur in den wortlosen Schrei der bebenden Erde einstimmt, sondern zugleich den Vers des

ner Schmiede (mit einer Anmerkung zur paradoxen Dynamik von Alteritätsschüben). In: Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren. Hrsg. von Anja Becker/Jan Mohr, Berlin 2012 (Deutsche Literatur – Studien und Quellen 8), S. 303–334. 4 Schnyder (Anm. 3), hier S. 44. 5 Zur Problematik der Ausgabe Schröders, die keine Überlieferungsvarianten verzeichnet, vgl. Kellner (Anm. 3), hier S. 140, Anm. 9.

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Psalmisten assoziiert – „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“ (Ps. 130, De profundis) – mit dem überzeitlichen Gesang der Engel, unterstreicht nicht allein die Unzulänglichkeit dichterischer Rhetorik gegenüber Maria. Aufschlussreich erscheint mir zudem, dass Konrad durchaus das Gelingen eines solchen Lobes imaginiert und ihm einen spezifischen Ort zuweist: das Paradies mit dem dort erklingenden Gesang der Engel. Das Bild der sich aufbäumenden Naturgewalten wird überführt in eine poetologische Reflexion, in deren Kern auch die Frage nach den Möglichkeiten von Gelingen und Scheitern von Dichtkunst steht und damit die Frage nach der göttlichen Inspiriertheit des Dichters, dem nichts als der Psalm bleibt, während der Engel den Hymnus intoniert. Damit markiert Konrad zugleich eine Differenz zwischen dem himmlischen und dem irdischen Gesang, wie sie auch in der lateinischen gelehrten Tradition präsent ist. Denn vielfach, etwa bei Origenes und Clemens von Alexandria, so führt Reinhold Hammerstein aus, werden die „Hymnen als Engelsgesang, die Psalmen als Menschengesang verstanden“.⁶ Neben dem Gloria und dem Alleluia, so zeigt Oliver Huck, gilt gerade das Sanctus als Lobpreisung der Engel und ihrer neunfachen himmlischen Hierarchie.⁷ Entsprechend wird in „den Tropen-Texten […] der SanctusGesang häufig als ‚hymnus angelicus‘ gedeutet, in dem die himmlischen Chöre und die Sänger auf Erden im Lobgesang vereint sind“.⁸ Das himmlische Sanctus ist insbesondere durch seinen nie verklingenden Wechselgesang charakterisiert, durch das sine fine, una voce und alter ad alterum, mit dem der englische Gesang die Zeitlosigkeit des Schöpfungswortes auf seine Weise abzubilden vermag.⁹ Sprache kennzeichnet Augustinus im IV. Buch seiner Confessiones als eine klangliche Bewegung.¹⁰ So wie die schönen Dinge nur im Werden und Vergehen existieren,

6 Reinhold Hammerstein: Die Musik der Engel. Untersuchungen zur Musikanschauung des Mittelalters, Bern, München 1962, S. 39. So verweist Hammerstein auf Origenes, der das Singen von Psalmen den Menschen zuweist, das Singen von Hymnen aber den Engeln „und denen, die engelsgleiches Wesen haben“. 7 Oliver Huck: The Music of the Angels in fourteenth- and early fifteenth-century Music. In: Musica disciplina. A Yearbook of the History of Music. Hrsg. von Gilbert Reaney/Paul L. Ranzini, Bd. 53 (2003–2008), S. 99–119. Vgl. auch Gunilla Iversen: Sanctus (Teil 2). In: MGG2, Sachteil Bd. 8, Sp. 913–923, hier Sp. 917. 8 Iversen (Anm. 7), Sp. 918: „Diese Interpretation geht nicht nur aus biblischen Quellen des Gesangs hervor, sondern auch aus seiner Stellung innerhalb der Liturgie, da das Sanctus die Fortsetzung der Präfation bildet, die normalerweise mit der Bitte ‚canamus cum angelis‘ endet.“ Zum hymnus angelicus vgl. auch Therese Bruggisser-Lanker: Engelsmusik und Marienverehrung. Die Engelweihe der Gnadenkapelle zu Maria Einsiedeln. In: Engel, Teufel und Dämonen. Einblicke in die Geisterwelt des Mittelalters. Hrsg. von Hubert Herkommer/Rainer Christoph Schwinges, Basel 2006, S. 177–198, hier S. 181. 9 Michael Walter/Andreas Jaschinski/Emanuel Winternitz: Engelsmusik – Teufelsmusik. In: MGG2, Sachteil Bd. 3, Sp. 8–27, hier Sp. 10. 10 Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. Lateinisch und deutsch. Eingel., übers. und erl. von Joseph Bernhart. Mit einem Vorwort von Ernst Ludwig Grasmück, Frankfurt a. M. 1987.

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so vollwirklicht auch unser Reden sich in tönenden Zeichen [signa sonantia]. Denn nie ergäbe sich ein Ganzes von Rede, wenn nicht das eine Wort, sobald es seine Rolle verlauten ließ, entschwände, damit ihm ein anderes folge.¹¹

Genau das aber bezeichnet die grundlegende Differenz zwischen der menschlichen und der göttlichen Sprache, denn Gottes Schöpfungswort verklingt gerade nicht, wie Augustinus im XI. Buch der Confessiones betont. Gegenüber der menschlichen Stimme, die in der Abfolge ihrer Silben klingt und verklingt, vollzieht sich Gottes Schöpfungswort nicht im ‚Nacheinander‘ der verklingenden Silben, sondern ‚zugleich und immerwährend‘ und damit außerhalb der Begriffe von Zeit, Wandel und Bewegung.¹² Doch auch der nie verklingende Wechselgesang der Engel – da lop des endes niht enhat (V. 1998), wie Konrad sagt – findet einen Modus der Darstellung von Zeitlosigkeit innerhalb der Bewegung und korrespondiert darin dem schweigend-zeitlosen Schöpfungswort Gottes. Im Gegensatz dazu steht das menschliche Tönen, das nicht nur innerhalb der geschaffenen Zeit erklingt, sondern das Augustinus geradezu als Hilfsmittel zu ihrer Messung heranzieht. Denn die Länge und Kürze der gesungenen Silbe kann, so argumentiert Augustinus, in Verbindung mit dem Erinnerungsvermögen zum Maß für die Zeit werden.¹³ Das Beispiel, das Augustinus hier wählt,

11 Augustinus: Bekenntnisse (Anm. 10), IV, S. 162  f.: Ecce sic peragitur et sermo noster per signa sonantia. Non enim erit totus sermo, si unum verbum non decedat, cum sonuerit partes suas, ut succedat aliud. 12 In seinem Kommentar zur zitierten Stelle der Confessiones setzt Kurt Flasch sich mit dem für die Zeitanalyse wichtigen Begriff motus auseinander: „Man beachte die Terminologie: motus ist nicht nur Bewegung im modernen, auf Ortsbewegung festgelegten Sinn, sondern allgemeiner: Werden überhaupt, Veränderung. Ich habe Probleme mit der Übersetzung: Bewegung ist zu eng, da seit dem 17. Jahrhundert auf die Ortsbewegung festgelegt. Für Veränderung steht der lateinische Terminus mutatio zur Verfügung, der zudem enger ist als motus. Man könnte Naturprozess sagen. Doch damit legt man die Interpretation bereits in die Übersetzung.“ Als Ausweg aus dem Dilemma schlägt Flasch vor, den Begriff der Bewegung hier weiter zu fassen, als im Neuhochdeutschen üblich. Kurt Flasch: Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Historisch-philosophische Studie. Text – Übersetzung – Kommentar, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2004, hier S. 320. Es wäre zu fragen, wie weit sich ein solcher Begriff von Bewegung mit dem musikalischen Begriff der Zeit korrelieren ließe, dessen Genese Michael Walter: Grundlagen der Musik des Mittelalters. Schrift – Zeit – Raum, Stuttgart 1994, analysiert. 13 Vgl. Augustinus: Bekenntnisse (Anm. 10), XI, S. 656–661. Ausgehend von einer körperlichen Stimme, die zu ertönen beginnt, tönt und dann aufhört (Ecce puta vox corporis incipit sonare et sonat et adhuc sonat et ecce desinit, iamque silentium est, et vox illa praeterita est et non ‚est‘ iam vox. „Denke dir: eine körperliche Stimme hebt an zu ertönen und tönt und tönt, und mit einemmal hört sie auf, und nun ist es still, und die Stimme ist vergangen und es ‚ist‘ keine Stimme mehr“, S. 656  f.), entwickelt Augustinus die Vorstellung einer Messbarkeit von Zeit aus der Erinnerung an eine solche Stimme: Quid ergo est, quod metior? Ubi est qua metior brevis? Ubi est longa, quam metior? Ambae sonuerunt, avolaverunt, praeterierunt, iam non ‚sunt‘: […] Non ergo ipsas, quae iam non ‚sunt‘, sed aliquid in memoria mea metior quod infixum manet. In te, anime meus, tempora metior. „Was also ist es, was ich da messe? Wo ist die kurze Silbe, mit der ich messen will? Wo ist die lange, die ich messen will? Beide sind verklungen, verflogen, vorbei, sie ‚sind‘ nicht mehr. […] Daraus folgt: Nicht die gehörten

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um die Zeiterfahrung zu erläutern, ist nichts anderes als Gesang, denn er nennt einen ambrosianischen Hymnus (Deus, creator omnium), den er früher bereits in De musica analysiert hat.¹⁴ Musik, insbesondere der Blick auf die musica coelestis, steht damit am Ende der Dichtung Konrads, als Zielpunkt oder Ideal des Marienlobs. Musik steht aber auch an ihrem Anfang. Konrad beginnt im Konjunktiv, der, so Schnyder, „die Aufgabe der Dichtung definiert, die Möglichkeit, die in der Realität nicht erreicht wird“.¹⁵ Ei künde ich wol enmitten in mines herzen smitten getihte uz golde smelzen, und liehten sin gevelzen von karfunkel schone drin dir, hohiu himelkeiserin! so wolte ich diner wirde ganz ein lop durliuhtec unde glanz daruz vil harte gerne smiden. (V. 1–9)

Konrad setzt mit dem Wunsch ein, seine Dichtkunst gleichsam als ein Schmuckstück aus glänzendem Gold zu verfertigen, in dem der leuchtende sin wie ein Karfunkel erstrahlt. Seine Dichtung soll nicht allein schön sein, sondern eine feinsinnig gestaltete, glänzende Fassung für den sin darstellen.¹⁶ Vor allem die in der Dichtung vermittelte Wahrheit also soll erstrahlen, und so bindet Konrad die ästhetische Dimension kunstvoller Dichtung an die Möglichkeit zur Erkenntnis.¹⁷ Über die Lichtmetaphorik klingt auch hier, wie nicht zuletzt in Gottfrieds Tristan und im Entwurf idealer Poesie in der Medea-Episode in Konrads Trojanerkrieg, das Ideal einer Dichtung an, die nicht nur Wort und Klang, sondern auch Glanz in sich vereint und damit auf die synästhetische Dimension vollendeter Dichtkunst zielt, wie sie gleichfalls der Musik zugeschrieben wird. Christian Kaden hat diesen Zusammenhang einer vielfältigen, alle Sinne umschließenden Musik beschrieben.¹⁸

Silben selbst, die nicht mehr ‚sind‘, messe ich, ich messe etwas in meinem Gedächtnis, was dort als Eindruck haftet. In dir, mein Geist, messe ich die Zeiten“, S. 660  f. Zum Zeitbegriff, den Augustinus im XI. Buch seiner Confessiones entwickelt, vgl. Flasch (Anm. 12). 14 Vgl. Flasch (Anm. 12), S. 384. 15 Schnyder (Anm. 3), S. 43. 16 Vgl. dazu auch Peter Ganz: „Nur eine schöne Kunstfigur.“ Zur Goldenen Schmiede Konrads von Würzburg. In: GRM 29 (1979), S. 27–45, hier S. 30. 17 Zu einem historisch angemessenen Ansatz, den Begriff der Ästhetik für das Mittelalter zu beschreiben, vgl. Kellner (Anm. 3), hier S. 137  f.; Jan-Dirk Müller: schîn und Verwandtes. Zum Problem der ‚Ästhetisierung‘ in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg. (Mit einem Nachwort zu TerminologieProblemen der Mediävistik). In: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Hrsg. von Gerd Dicke/Manfred Eikelmann/Burkhard Hasebrink, Berlin 2006 (Trends in Medieval Philology 10), S. 287–307. 18 Vgl. Kaden (Anm. 1), S. 129  f. Zur synästhetischen Wirkung der Dichtkunst und der Musik ders.:

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Doch warum verwendet Konrad hier nun ausgerechnet das Bild einer Schmiedewerkstatt für sein poetisches Verfahren, grenzt er sich doch andernorts, der Prolog zum Trojanerkrieg zeigt dies deutlich,¹⁹ so vehement davon ab, seine Kunst als ein Handwerk verstehen zu wollen? Hier indessen beschreibt der Dichter, wie Beate Kellner ausführt, sich selbst als einen Goldschmied, „dessen Körper sowohl als das Material wie auch als das Werkzeug des Schmiedens aufgefasst wird“, so dass seine Dichtung, die im Innersten des Herzens entsteht, den Körper über Wort und Klang der Sprache verlässt.²⁰ Konrad führt fort: nu bin ich an der künste liden so meisterliche niht bereit, daz ich nach diner werdekeit der zungen hamer künne slahen. (V. 10–13)

Die Nennung der Künste, die ihm nicht so meisterlich zu Gebote stehen, wie er es sich wünscht, lenkt den Blick auf die septem artes liberales. Die Sieben freien Künste zu beherrschen, ist als Voraussetzung gelingender Dichtkunst formuliert. Und wie im Trojanerkrieg, räumt der Dichter eine Schwäche ein, die es ihm – in der Metaphorik der Goldenen Schmiede – unmöglich macht, seiner Zungen Hämmer so zu schlagen, dass es der Würde seines Gegenstandes, Maria, angemessen wäre. Johannes Kibelka hat gezeigt, dass das Bild der Schmiedewerkstatt für die Dichtung in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters auf eine lange Tradition zurückweist.²¹ Doch auch in den musiktheoretischen Traktaten des Mittelalters besitzt die Schmiedewerkstatt ein prominentes Vorbild. Denn die Schmiedewerkstatt gehört auch zur Ursprungslegende der Musik, wie sie Boethius im ersten Buch von De insti-

„[…] auf daß alle Sinne zugleich sich ergötzten, nicht nur das Gehör, sondern auch das Gesicht.“ Wahrnehmungsweisen mittelalterlicher Musik. In: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent. Hrsg. von Jan-Dirk Müller/Horst Wenzel, Stuttgart 1999, S. 333–367. Zum Zusammenspiel von Klang und Glanz im Tristan und in der Medea-Episode von Konrads von Würzburg Trojanerkrieg vgl. Almut Schneider: Vielfarbige Klänge. Liebesgaben im poetologischen Diskurs der ‚Synästhesie‘. In: Liebesgaben. Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Margreth Egidi u.  a., Berlin 2012 (Philologische Studien und Quellen 240), S. 313–327. 19 Vgl. Konrad von Würzburg: Der Trojanische Krieg. Nach den Vorarbeiten Karl Frommanns und Friedrich Roths zum ersten Mal hrsg. durch Adelbert von Keller, Stuttgart 1858 (StLV 44). 20 Kellner (Anm. 3), S. 142  f; vgl. Christoph Huber: Wort-Ding-Entsprechungen. Zur Sprach- und Stiltheorie Gottfrieds von Straßburg. In: Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft. Fs. für Hans Fromm. Hrsg. von Klaus Grubmüller u.  a., Tübingen 1979, S. 268–302. 21 Johannes Kibelka: der ware meister. Denkstile und Bauformen in der Dichtung Heinrichs von Mügeln, Berlin 1963 (Philologische Studien und Quellen 13), hier S. 223  f. Heinrich verwendet das Bild der Schmiedekunst für die Tätigkeit der ars rhetorica.

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tutione musica entwickelt.²² Es ist Pythagoras, der aus dem harmonischen Klang, den die verschiedenen Hammerschläge in einer Schmiedewerkstatt erzeugen, die grundlegenden Gesetze der Musik findet. Durch Zufall an einer Schmiede vorbeigehend, hört Pythagoras die Intervalle, die durch das Hämmern der Schmiedegesellen hervorgerufen werden. Er lässt die Gesellen die Hämmer tauschen, doch es zeigt sich, dass nicht die Kraft, mit der die Schläge ausgeführt werden, sondern die unterschiedlichen Gewichtsverhältnisse der Hämmer den reinen Klang harmonischer Intervalle verursachen. Durch Auswiegen der Hämmer kann Pythagoras den verschiedenen Konsonanzen jeweils ein festes Zahlenverhältnis zuordnen und entdeckt so das zahlenmäßige Fundament aller Konsonanzen und Konkordanzen: den Halbton, den Ganzton, die kleine und große Terz, die Quarte, die Quinte und die Oktave.²³ Johannes de Grocheo, dessen um 1300 entstandener Traktat De Musica als ein Text gelten kann, der das musikalische Wissen der Zeit zusammenträgt, referiert die Pythagoras-Legende nun in der Weise, dass sie nicht allein die musica als zahlhafte Wissenschaft des Quadriviums begründet, sondern ihr zugleich einen Bezug zur Transzendenz einschreibt:²⁴ Wie Boetius erzählt, wurde jener gleichsam von göttlichem Geiste zu einer Werkstatt von Schmieden geführt. Als er dort von den Hammerschlägen her eine wunderbare Harmonie hörte, trat er zu ihnen hin und ließ die Hämmer in den Händen der Schläger auswechseln.²⁵

Göttliche Eingebung lenkt die Schritte des Pythagoras, und den harmonischen Klängen eignet über jedes Zahlenspiel hinaus etwas Wunderbares, wie es explizit im Text heißt.²⁶ So steht im Zentrum der Ursprungserzählung nicht allein die handwerk22 Boetius: Fünf Bücher über die Musik (Anm. 1), S. 16. Boethius übernahm die Legende von Nikomachos und überlieferte sie dem Mittelalter, so zeigt Barbara Münxelhaus: Pythagoras musicus. Zur Rezeption der pythagoreischen Musiktheorie als quadrivialer Wissenschaft im lateinischen Mittelalter, Bonn 1976 (Orpheus-Schriftenreihe zu Grundfragen der Musik 19), S. 39. Auch außerhalb der musica scientia, so hebt Münxelhaus hervor, war die Schmiedelegende weit verbreitet. „Sie gehörte nicht nur zum Standardwissen der Musiktheoretiker, sondern fand auch Eingang in die Vagantendichtung und geistliche Literatur“, S. 41. 23 Ausführlich dargelegt findet sich das mittelalterliche Tonsystem in seiner Genese und in seiner Differenzierung in den musiktheoretischen Schriften bei Klaus-Jürgen Sachs: Musikalische Elementarlehre im Mittelalter. In: Rezeption des antiken Fachs im Mittelalter. Hrsg. von Frieder Zaminer, Darmstadt 1990 (Geschichte der Musiktheorie 3), S. 105–161. 24 Max Haas: Musikalisches Denken im Mittelalter. Eine Einführung, Bern 2005, S. 192  f.; Johannes de Grocheio: De musica. Die Quellenhandschriften zum Musiktraktat des Johannes de Grocheio. Im Faksimile nebst Übertragung des Textes und Übersetzung ins Deutsche hrsg. von Ernst Rohloff, Leipzig 1972. 25 Ductus enim fuit, ut narrat Boetius, quasi divino spiritu ad fabrorum (officinam). Et ibi audiens mirabilem harmoniam ex ictibus malleorum, ad eos accedens fecit malleos in manibus percutientium alternari. Johannes de Grocheio, De musica, S. 112. 26 Auch Boethius schon spricht von der göttlichen Fügung, die Pythagoras lenkt, wie vor ihm bereits Nikomachos. Vgl. Münxelhaus (Anm. 22), S. 36. Die Aussage jedoch, Pythagoras habe eine wunder-

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liche Kunst, sondern zugleich ihre Wirkung, das Vermögen also, mittels einer solchen Kunstfertigkeit eine wunderbare Harmonie zu erzeugen und so eine Öffnung zur Transzendenz zu erwirken. Zugleich aber bedarf es eines Beobachters, dem die Klänge der Schmiedehämmer – mit göttlicher Fügung – grundlegende Erkenntnisse über die Gesetzmäßigkeiten der musica eröffnen: über ihre Harmonien und Proportionen, die sich zugleich in der kosmischen Ordnung wiederfinden und so auf diese verweisen. Gesetzmäßigkeiten also, die, wie Max Haas beschreibt, Gott „der Natur eingeschaffen“ hat, und die der Beobachter entdecken, niemals aber erschaffen kann.²⁷ Ellinore Fladt weist die aristotelische Tradition dieses Ansatzes nach, nach dem die Konsonanzen als ein Werk der Schöpfung Gottes ausgewiesen sind, so dass der Mensch die Gesetzmäßigkeiten der harmonischen Klänge, die schon immer Teil der Natur waren, finden, nicht aber erfinden kann.²⁸ Theorie und Praxis stehen damit im Bild der Schmiedewerkstatt unmittelbar nebeneinander: der Schmied vertritt die Poiesis als ein Herstellungswissen, wie es auch zu den artes mechanicae gehört. Die Rolle des Beobachters hingegen verdeutlicht, dass zur ars musica zugleich ein theoretischer Bezirk gehört, der „das Erwägen musikalischer Prinzipien“ umfasst.²⁹ Lassen sich nun auch die Anfangsverse der Goldenen Schmiede auf die Schmiede des Pythagoras beziehen, so wäre mit der Selbstvergewisserung des Dichters über seinen Wunsch, Maria mit dem rechten Hammerschlag seiner Zunge ein Lob zu schmieden, zugleich die Aitiologie der Musik aufgerufen, als deren Untergattung, wie Martianus Capella darlegt, sich die Poesie selbst begreift. Musik  – mit ihrer poetischen wie mit ihrer erkenntnisvermittelnden Seite – steht damit auch am Anfang der Goldenen Schmiede und so erscheint Konrads Dichtung gerahmt von Reflexionen auf Musik. Doch ist zu differenzieren: Die Prologverse spielen auf die Kunst der Musik an, die als ars des Quadriviums Theorie und Praxis, Erkenntnisfähigkeit und Vortragskunst

bare Harmonie – audiens mirabilem harmoniam – wahrgenommen, ist eine Ergänzung des Johannes de Grocheo, mit der er das sinnliche Moment stärker betone, so zeigt Frank Hentschel: Klang  – Zahl  – Sprachstrukturen. Zur Reduktion musikalischer Phänomene durch ihre sprachliche Umsetzung bei Boethius und spätmittelalterlichen Musiktheoretikern. In: Die Grenzen der Sprache. Sprachimmanenz  – Sprachtranszendenz. Hrsg. von Christoph Asmuth/Friedrich Glauner/Burkhard Mojsisch, Amsterdam 1998, S. 47–69, hier S. 58. 27 Vgl. Haas (Anm. 24), S. 192. Diese Differenzierung zwischen inventor und creator als eine Bezeichnung, die nur Gott zukommt, findet sich, so zeigt Haas, etwa bei Alcuin: Philosophi non fuerunt conditores harum artium, sed inventores. Nam creator omnium rerum condidit eas in naturis, sicut voluit, illi vero, qui sapientiores erant in mundo, inventores erant harum artium in naturis rerum. Zit. nach Haas, S. 192, Anm. 342. 28 Ellinore Fladt: Die Musikauffassung des Johannes de Grocheo im Kontext der hochmittelalterlichen Aristoteles-Rezeption, München, Salzburg 1987 (Berliner musikwissenschaftliche Arbeiten 26), hier S. 129  f. 29 Vgl. Haas (Anm. 24), S. 137.

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in sich vereint. Sie beziehen sich damit auf eine Musik der Harmonien und Proportionen, die als musica humana oder mundana zu bezeichnen wäre,³⁰ und damit auf Musik als die Kunst, die mit ihrer Unterteilung in die Stofflehre, die Lehre von der kompositorischen Anwendung und die Vortragslehre, wie Martianus Capella gliedert, mit ihrer reflexiven und performativen Seite also, triviales und quadriviales Wissen in sich vereint.³¹ Damit ist nicht allein gemeint, dass die Kunst der Musik nur derjenige beherrscht, dem es gelingt, das Wissen um die musikalischen Zusammenhänge zu reflektieren, es in seine Komposition einfließen und diese erklingen zu lassen.³² Die Sonderstellung der Musik im Zusammenspiel der Sieben freien Künste beschreibt Max Haas als grundlegender.³³ Denn mit dem ihr eingeschriebenen Zusammenhang von theoretischem und praktischem Wissen enthält die musica in ihrem Kern zugleich all das, was das Wissenssystem der septem artes liberales insgesamt ausmacht: das Zusammenspiel von einerseits Wissen und andererseits dem Vermögen, dieses Wissen zur Sprache zu bringen. Musik kann als diejenige Kunst gelten, die das Ineinandergreifen der zahlhaften und der sprachbezogenen Künste paradigmatisch abbildet. Orpheus und Eurydike sind die Figuren, die dieses Zusammenspiel verkörpern.³⁴ In den letzten Versen der Goldenen Schmiede dagegen rückt die musica coelestis ins Zentrum der Betrachtung: die Musik der Engel, die Gott ohne Unterlass und immer schon, also zeitenthoben, loben und denen das mühelos gelingt, was Konrad erstrebt und woran er trotz aller Kunstfertigkeit zu scheitern fürchtet. Damit ist zugleich eine wesentliche Differenz zwischen dem englischen und dem menschlichen Lob benannt. Gott zu loben ist etwas, was dem Engel immer schon angehört als Teil seines Wesens. Der Mensch hingegen, insbesondere der Dichter, so verdeutlicht der Rahmen der Goldenen Schmiede, sucht ein solches Vermögen zu entfalten auf der

30 Musica mundana und musica humana bilden ein Paar, wie Haas (Anm. 24), S. 91, zeigt: „Sie untersuchen die Konstitution der Welt aufgrund der Proportionen, also Verhältnisse von Mengen. Der Makrokosmos hat sein Gegenbild im Mikrokosmos der musica humana, der geordneten Verfassung des Menschen.“ 31 Zur Untergliederung der ars musica bei Martianus Capella vgl. Grebe (Anm. 1). 32 So weist Christian Kaden die Vorstellung einer grundsätzlichen Dichotomie zwischen musicus und cantor als eines unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen dem gelehrten Kenner musiktheoretischer Zusammenhänge und dem ungebildeten Sänger oder Instrumentalisten entschieden zurück: „Das zeitgenössische Schrifttum um die Jahrtausendwende kennt sowohl den ‚prudens cantor‘, den Klugen, als auch den ‚cantor per artem‘, den Kunstverständigen. […] Die Entwicklung der musica beschreibt demnach im Mittelalter mental, sozial und begriffslogisch kein Auseinanderfallen von Theorie und Praxis, eher beider Vermittlung.“ Kaden (Anm. 1), hier S. 133; vgl. auch Wolfgang Fuhrmann: Herz und Stimme. Innerlichkeit, Affekt und Gesang im Mittelalter, Kassel 2004 (Musiksoziologie 13). 33 Haas (Anm. 24), S. 71–73. 34 Haas (Anm. 24), S. 72: „Es handelt sich in der mythologischen Figuration stets um die Entgegensetzung von Mann und Frau, wobei die Frau immer den Aspekt des Quadrivium, der grundlegenden Gelehrsamkeit, vertritt, während der Mann Repräsentant der möglichen Lautäußerungen ist. Die bekanntesten Paarbildungen in der Repräsentation der artes sind Philologia und Merkur sowie für den speziellen Fall der musica Eurydike und Orpheus.“

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Grundlage seiner Kunstfertigkeit und seiner Erkenntnisfähigkeit. So sieht der Dichter Konrads im Bild der Schmiede sich selbst nicht in der Rolle des Beobachters, sondern in der Rolle dessen, der mit Hilfe der Schmiedehämmer ein Schmuckstück fertigt, mit dem er den liehten sin (V. 4) wie einen karfunkel (V. 5) auf kunstvolle Weise einzufassen und ihn damit ‚zum Strahlen zu bringen‘ versucht. Entsprechend bezeichnet er sein dichterisches Vorbild Gottfried als houbetsmit (V. 98). Das Hervorbringen des Sinnes gelingt nur mittels einer angemessenen dichterischen Sprache, die die harmonisch vollkommenen Intervalle auf ihre Weise zum Klingen bringt. Wie der gelehrte cantor seinen Gesang nach den Gesetzen der musikalischen Harmonie zusammenfügt – ars componendi und ars cantandi bilden eine Einheit, wie Karlheinz Schlager gezeigt hat – so bedarf auch die Dichtkunst der rhetorischen und kompositorischen Fertigkeiten des Dichters.³⁵ Die Musik bildet ein Referenzsystem, sie stellt Regeln bereit, nach denen auch zu dichten sei. Damit legt Konrad der Goldenen Schmiede ein Dichtungskonzept zugrunde, das sich – mit Blick auf die Aitiologie der Musik bei Boethius – an der theoretischen Fundierung der Musik wie zugleich an ihrer Kompositionskunst orientiert – und das doch zugleich der Gnade Mariens bedarf: ich wil uf diner gnaden phede / setzen miner sinne fuoz (V. 128  f.). Den herausragenden Rang der Musik unter allen Künsten betont Johannes de Grocheo in seiner Vorrede zu De musica mit einem etwas anders gelagerten Argument. Ihr vor allem komme das Vermögen zu, Gott unmittelbar zu loben: „Darin übertrifft sie auch die anderen artes, dass sie unmittelbarer und gänzlich zum Lobe und Ruhme des Schöpfers angeordnet ist“,³⁶ so übersetzt Ellinore Fladt. Doch mit der Betonung der Sprache verdeutlicht Konrad auch den Gegensatz zwischen seiner Kunst und dem Gesang der Engel. Denn die Engel mögen zwar im jubilus mitunter auch wortlos singen – insbesondere singen sie dem Menschen nicht hörbar  –, der Dichter aber benötigt die Sprache, um Maria zu loben.³⁷ Anders als Maria, die in den Himmel emporgehoben wird, um dort zu hören, ob die türteltuben / ir stimme lazen hœren (V. 220  f.), schwingt sich im Bild des Adlerfluges nicht der Dichter selbst auf, sondern allein seine Sprache:

35 So zeigt Schlager, dass Guido d’Arezzo „Vortrag und Komposition, Ars cantandi und Ars componendi, als einen Zusammenhang versteht. Die Anlage der Melodie und ihre Ausführung sind auf den jeweiligen Formteil hin orientiert, bestätigen die vom Text ausgehende Gliederung und stellen sie wahrnehmbar vor“. Karlheinz Schlager: Ars cantandi – Ars componendi. Texte und Kommentare zum Vortrag und zur Fügung des mittelalterlichen Chorals. In: Die Lehre vom einstimmigen liturgischen Gesang. Hrsg. von Michel Huglo u.  a., Darmstadt 2000 (Geschichte der Musiktheorie 4), S. 217–292, hier S. 236. 36 Vgl. Fladt (Anm. 28), S. 150. 37 Auch Mireille Schnyder betont in ihrer Argumentation, dass es Konrad spezifisch um die Möglichkeiten der Sprache geht: „Es ist eine Auszeichnung des Menschen, dass er in der Sprache zwischen Wille und Werk, zwischen Wille und Fähigkeit, zwischen Ideal und Wirklichkeit eine Ausdrucksmöglichkeit finden kann“, Schnyder (Anm. 3), S. 44; vgl. auch Köbele, Zwischen Klang und Sinn (Anm. 3).

Sprachästhetik als ars cantandi 

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ob iemer uf ze berge flüge min rede alsam ein adelar, din lob enkünde ich niemer gar mit sprüchen überhœhen, sus kan din wirde enphlœhen so verre sich den sinnen min, daz ich den hohen eren din niemer mac genahen. (V. 16–23)

Ein vergebliches Bemühen wie den Diamant mit Blei oder das Elfenbein mit Gras zu durchbohren, erscheint Konrad noch eher durchführbar, als dass er Marias wirde (V. 36) mit tiefer rede vinde[n] (V. 37  f.), mit worten übergiude[n] (V. 43) oder ihr Lob biz an den grunt erkirne[n] (V. 47) könne. Konrad fokussiert damit immer wieder auf Sprache. Nicht das Marienlob selbst steht im Zentrum seiner poetologischen Überlegungen, sondern die Suche nach einer Sprache, die einem solchen Lob angemessen sein könnte. So eröffnet die Metaphorik des Adlerfluges eine Bildlichkeit des Raumes in der Weise, dass sie ein Moment von Distanz veranschaulicht. Die Überwindung der Distanz von Immanenz und Transzendenz gelingt mittels der Inkarnation, wie in der Goldenen Schmiede vielfach im Bild des Panthersprungs eingespielt ist, dem Menschen aber, und spezifisch dem Dichter, ist ein solcher Sprung verweigert. Er kann dem Adlerjungen gleich den Blick zur Sonne richten, seine Worte aber können sie nicht erreichen. Im Zentrum der poetologischen Reflexion steht damit eine dichterische Sprache, die sich selbst gleichsam ‚aufschwingen‘ soll zur Berührung nicht einer Transzendenz, wohl aber des englischen Gesangs. Ein ursprünglich theologisch fundiertes Aufstiegsmodell erscheint damit hier in eines der Sprache überführt. Wie aber könnte eine dem Engelsgesang adäquate poetische Sprache geformt sein? Nimmt man die Sprachkunst der Goldenen Schmiede in den Blick, so fällt zunächst ihre vielfache und vielschichtige Bildlichkeit auf, mit der die Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz metaphorisch ausgedeutet wird. Zugleich scheint es in Konrads Absicht zu liegen, so Karl Bertau, „möglichst viele, wenn nicht alle bisher auf Maria angewendeten Bilder und Gleichnisse zu verarbeiten“, so dass die Goldene Schmiede den ‚enzyklopädischen Summen‘ ihrer Zeit gleicht.³⁸ Susanne Köbele hat diese Sprachkunst zuletzt in einer präzisen Analyse als einen Wechsel von Klangsemantik und Metaphernreihung beschrieben und dabei gezeigt, in welcher Weise die besondere Dynamik des Marienlobs – im Zusammenspiel der Bildfeldwechsel und Reimbrechungen  – auf Konrads spezifischer Verbindung von „Klangkunst und Metaphernkunst“ fußt: „Von Verspaar zu Verspaar in38 Karl Bertau: Beobachtungen und Bemerkungen zum Ich in der Goldenen Schmiede. In: Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters. Fs. für Karl Stackmann. Hrsg. von Ludger Grenzmann/Hubert Herkommer/Dieter Wuttke, Göttingen 1987, S. 179–192, hier S. 179.

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szeniert Konrad ein Aufmerksamkeitsgefälle zwischen der Kohärenzbildung durch Reime und der Kohärenzbildung durch Bilder.“³⁹ So werden in den folgenden, auch von ihr zitierten Versen, Fließ- und Lichtmetaphorik allein über den Reim miteinander verknüpft: swie gar der wilde siticus grüen als ein gras erliuhte, er wirt doch selten fiuhte von regen noch von touwe (V. 1850–1853).

Die Klang-Sinn-Interaktion ist, wie Köbele zeigt, noch dadurch gesteigert, „dass Syntax und Reimspannung nie gleichzeitig zur Ruhe kommen“. So lässt sich die Textbewegung vor allem als ein Schwingen bezeichnen, das, in der „je wechselnden Priorität von Sinn und Klang“, wesentlich und sinntragend zu sein scheint.⁴⁰ Diese Beobachtung möchte ich versuchen weiterzuentwickeln mit der Frage, ob dieses Schwingen möglicherweise auf eine Kompositionskunst verweist, die zu verorten wäre in der Nähe einer ars componendi vel cantandi. Denn auch für die Musik ist der Begriff der Bewegung konstitutiv. So definiert Augustinus im ersten Buch von De musica Musik als ars bene modulandi et movendi.⁴¹ Guido d’Arezzo, so zeigt Karlheinz Schlager, führt im Micrologus aus, dass Musik nichts anderes sei als Bewegung, denn Melodie entstehe allein aus dem Schreiten von Klang zu Klang.⁴² Johannes de Grocheo betont in der Vorrede zu seinem Traktat De musica, die Kenntnis der Musik sei „für diejenigen notwendig, welche eine Vollständige Kenntnis von dem Bewegenden und dem Bewegten haben wollen“.⁴³ Vom frühen Mittelalter an, so zeigt 39 Köbele, Zwischen Klang und Sinn (Anm. 3), hier S. 310. 40 Köbele, Zwischen Klang und Sinn (Anm. 3), S. 310  f. 41 Aurelius Augustinus: De musica. Bücher I und VI. Vom ästhetischen Urteil zur metaphysischen Erkenntnis. Lateinisch – Deutsch. Eingel., übers. und mit Anmerkungen versehen von Frank Hentschel, Hamburg 2002 (Philosophische Bibliothek 539), Buch I, S. 6; S. 12. Musiker ist nach Augustinus derjenige, der „die ganze Lehre von der Bewegung beherrscht“. Frank Hentschel: Unbewegte Beweger. Klang und Bewegung in mittelalterlichen Musikbegriffen. In: Klang und Bewegung. Beiträge zu einer Grundkonstellation. Hrsg. von Christa Brüstle/Albrecht Riethmüller, Aachen 2004, S. 41–59, hier S. 45. Die Definition der Musik als scientia bene modulandi war schon im Griechischen geläufig (Aristeides) und bildet einen Kernsatz der römischen Musikanschauung – der neben Augustinus auch bei Censorinus erscheint und „wohl letztlich auf Varro zurückgeht“. Vgl. Roger Harmon: Die Rezeption griechischer Musiktheorie im römischen Reich. II. Boethius, Cassiodorus, Isidor von Sevilla. In: Vom Mythos zur Fachdisziplin: Antike und Byzanz. Hrsg. von Konrad Volk u.  a., Darmstadt 2006 (Geschichte der Musiktheorie 2), S. 385–504, hier S. 490. 42 Schlager, Ars cantandi (Anm. 35), S. 234. 43 Cuius cognitio est necessaria volentibus habere completam cognitionem de moventibus et motis. Johannes de Grocheio, De musica, hier S. 110. Die Namensform des Johannes variiert in der Überlieferung und, je nach Quellenbezug, auch in der Forschung zwischen Grocheo und Grocheio. Vgl. dazu Ellinore Fladt: Johannes de Grocheo, Grocheio, Jean de Grouchy. In: MGG2, Personenteil, Bd. 9, Sp. 1093–1098.

Sprachästhetik als ars cantandi 

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Fritz Reckow, wird Musik „als Bewegung beschrieben, als processus, ein Ablauf von einem Anfang hin zu einem Ziel“. Das heißt jedoch nicht nur, dass jede Musik ein Ereignis ist, das Zeit in sich enthält, sondern auch in dem Sinne, so Reckow, „dass eine Komposition bewusst als Ablauf in der Zeit konzipiert und ausgeführt sein kann“.⁴⁴ Bewegung bestimmt auch das poetische Grundmuster der Goldenen Schmiede. Der stete Bildfeldwechsel erzeugt eine Textbewegung von großer Dynamik. Dennoch fehlt ihr das Ziel. Denn der Text verweigert sich zugleich jedem Erzählen.⁴⁵ Stattdessen bewirken die Metaphernketten eine Gleichzeitigkeit von Bewegung und Stillstand und erzeugen damit ein Moment von Zeitlosigkeit, wie es dem himmlischen Gesang eignet, wenn die Engel beim Sanctus einerseits durchaus Silben erklingen und verklingen lassen, andererseits aber im sine fine ihres Wechselgesangs dafür sorgen, dass Anfang und Ende sich stetig überlagern. Insbesondere mit Blick auf die Schlussredaktionen der Goldenen Schmiede hat Susanne Köbele herausgearbeitet, dass Konrad darauf zielt, seine Dichtung nicht zum Ende kommen zu lassen, sondern dieses Ende aufzuhalten, zu verbreitern, zu verschieben.⁴⁶ Es bleibt zu fragen, ob es ihm nicht genau darauf ankommt, in der zeitgebunden menschlichen Dichtersprache einen Weg zu finden, Ewigkeit abzubilden – auch mittels einer Metaphorik, deren vielfache Wiederholung und Variation die Dynamik eines Kanons spiegelt – als dem eigentlichen und einzig gültigen, irdischen Abbild des Engelsgesangs, wie Oliver Huck betont.⁴⁷ Im sine fine seines Marienlobs läge so ein Verweis auf die Zeitlosigkeit, die der Engelsgesang in seiner nicht endenden Bewegung darstellt und die der Dichter abzubilden sucht. So durchzieht der Verweis auf das coelum Empyreum mit dem dort erklingenden Gesang den Text wie der Grundton einer Fuge. Neun Mal ist von den Chören der Engel die Rede – entsprechend der Neunzahl ihrer himmlischen Hierarchie.⁴⁸

44 Fritz Reckow: processus und structura. Über Gattungstradition und Formverständnis im Mittelalter. In: Musiktheorie 1 (1986), S. 5–29, hier S. 7  f. 45 Auch ist in der Forschung vielfach hervorgehoben worden, dass der Goldenen Schmiede jede Systematik und Ordnung zu fehlen scheine. Vgl. Ganz (Anm. 16), hier S. 27. Peter Ganz zeigt, in welcher Weise gerade diese fehlende auch theologische Ordnung sich als ein Differenzkriterium erweist, mit dem sich die Goldene Schmiede gegenüber anderen mariologischen Summen abgrenzt, während sie auf der anderen Seite auch den Strukturprinzipien der lateinischen Marienhymnen, der Sequenzen oder auch der volkssprachigen Lobgedichte auf Maria mit ihrem strophischen Aufbau nicht folgt. Vgl. ebd., S. 28  f. 46 Vgl. Köbele, Zwischen Klang und Sinn (Anm. 3), S. 322. Erst die Ausgabe von Karl Bertau, so unterstreicht Susanne Köbele, wird zeigen, dass die Goldene Schmiede in den Handschriften verschiedene Schlüsse aufweist. „Es handelt sich dabei im Wesentlichen um zwei Schluss-Redaktionen, die die Passion Jesu als Compassio Mariae erzählen und mit jeweils 150 bzw. 136 weiteren Versen nichts anderes sind als die Beschwörung der Unmöglichkeit, aufhören zu können.“ 47 Der Kanon ist das musikalische Analogon zu den himmlischen Chören: “The canon was the only compositional technique in concordance with all of the qualities given in medieval writings for angelic singing, i.e. sine fine, una voce and alter ad alterum.” Huck (Anm. 7), S 109. 48 Dazu zähle ich die Verse 222; 233; 519; 696; 1036/1037; 1279; 1604; 1886/1887; 1998/1999. Zur Hierarchie der Engelchöre und ihrer patristischen Tradition bei Gregor und Dionysius Areopagita vgl.

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Doch Konrad geht es nicht allein darum, der harmonischen Vielstimmigkeit des Engelsgesangs eine weitere Stimme hinzuzufügen. Stattdessen tritt er zum Gesang der Engel in Konkurrenz: durliuhtec und dursihtec din lop vor allem prise vert, wan ez vil manec zunge bert in himel unde uf erden. du solt gerüemet werden von uns liuten allermeist. wir sin für engelischen geist gedrungen an der wirde. (V. 1034–1041)

So wie der Mensch mit der Aufnahme in den zehnten Engelschor die Würde der Engel noch übersteigt, wird auch der englische Gesang noch übertroffen von der Dichtkunst.⁴⁹ Denn in ihrem Zusammenspiel von Klang und Sinn, in der Goldschmiedearbeit, die den Karfunkel umschließt, liegt zugleich ein hermeneutisches Potenzial. Was die Engel nicht erreichen können, denn din wunder ist so bodemlos / daz aller engel sinne / grundes niht darinne / kiesent noch erreichent (V. 560–563), ist der poetischen Sprache mit ihrer Zeichenhaftigkeit als Möglichkeit gegeben. Karl Bertau hat herausgearbeitet, dass von den Stellen, an denen der Dichter in der Goldenen Schmiede „ich“ sagt, die Masse der Belege zu zwei Formeln gehöre, „deren eine (ich geliche und ähnlich) ein poetisches Darstellungsverfahren und deren andere (ich meine) eine Form subjektiven Urteilens zu bezeichnen scheinen“.⁵⁰ Der Dichter stellt sich selbst als denjenigen heraus, der die Bilder setzt, vergleicht und ausdeutet: swenn ich dann uz erkirne (V. 410), so prüeve ich (V. 414), ich gemerke ir underscheide (V. 412), ich zel (V. 816), ich maze (V. 599). „Das poetische Verfahren des Analog-Setzens scheint für Konrad zugleich Erkenntnis schaffend zu sein“ (S. 190  f.), so hebt Bertau hervor. Doch liegt darin nicht, wie ich meine, das „Bewusstsein von beinahe selbstmächtiger, ja auserwählter Schöpferpotenz“ (S. 191), wie er Konrad vorhält. Denn alle Weisheit – und damit auch menschliche Erkenntnis, die kosmologische Ordnung vom Grund der Hölle bis zu den höchsten Himmelschören – gründet in Maria und ihrer ordnenden Kraft: frouw aller kiusche ein überlast, du bist diu frone wisheit von der uns Salomon da seit und alle die propheten.

Eckart Conrad Lutz: in niun schar insunder geordent gar. Gregorianische Angelologie, DionysiusRezeption und volkssprachliche Dichtungen des Mittelalters. In: ZfdPh 102 (1983), S. 335–376. 49 Zur Konkurrenz zwischen menschlichem und englischem Lob, die Konrad zugunsten der Menschen entscheidet, vgl. Köbele, Grenzüberschreitungen (Anm. 3), S. 157. 50 Bertau (Anm. 38), S. 188.

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die zirkel der planeten, sunn unde manen bilde, wind regen doner wilde, wazzer fiur erd unde luft, der himel kor, der helle gruft, und alle creatiure von diner helfe stiure geschephet und gordent sint. (V. 688–699)

Maria erst schafft die Gesetzmäßigkeit der Sternenbewegung und ist damit Ursprung und erste Ursache auch der Musik, die sich mit der Harmonie der Sphären und ihrer Bewegung entfaltet.⁵¹ Auch Dichtkunst wirkt damit nicht aus sich selbst heraus, sondern untersteht der göttlichen Kraft.⁵² Kaum zufällig ist hier von der stiure die Rede, die Konrad auch für das Gelingen seiner Dichtkunst erbittet. Für Dantes Divina Commedia hat Gerhard Regn die Minnedame Beatrice als „Ermöglichungsbedingung“⁵³ für das Werk bezeichnet. Gleiches lässt sich hier für Maria sagen. Dennoch: Konrad widmet sich in der Goldenen Schmiede nicht allein Maria, sondern nicht minder dem Verhältnis des Dichters zu ihr. Sein Blick richtet sich auf die Sprache, auf die Möglichkeiten und Grenzen poetischen Sprechens  – auch im Blick auf die Engel, denen das Lob Marias so mühelos gelingt, und er steht damit im Diskurs auch der mittelalterlichen musica. Doch Konrad will nicht in einen wortlosen jubilus einstimmen, sondern vielmehr die dichterische Sprache so formen, dass sie das englische sine fine mit ihren ureigenen Mitteln poetischen Sprechens abzubilden vermag. Damit richtet er seinen Blick auf die Mitte der Sprache selbst, auf den Bereich dichterischen Sprechens, der selbst Erkenntnis trägt.

51 Vgl. dazu Martianus Capella (Anm. 1), Buch II, S. 199. So bildet der Abstand der Sternenbahnen voneinander die gesamte Tonleiter ab. 52 Vgl. Martianus Capella (Anm. 1), Buch IX, S. 922. 53 Gerhard Regn: Dantes Beatrice und die Poetik des Heils. In: Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Hrsg. von Michael Neumann, 7 Bde, Regensburg 2004–2009, Bd. 3: Zwischen Mittelalter und Neuzeit (2005). Hrsg. von Almut Schneider/Michael Neumann, S. 128–143, hier S. 129.

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 Almut Schneider

Caroline Emmelius

Mechthilds Klangpoetik Zu den Kolonreimen im Fließenden Licht der Gottheit

1 Das Stilphänomen der Kolonreime zwischen Rhetorik und Poetik Schon die ältere Forschung hat stets notiert, dass die Prosa des Fließenden Lichts der Gottheit einen besonderen Reimschmuck aufweist.¹ Hans Neumann führt für dieses Stilphänomen, das im Mittellateinischen häufig, in der geistlichen Prosa des Mittelhochdeutschen vereinzelt anzutreffen ist,² den Begriff des Kolonreims ein.³ Er über-

1 Carl Greith: Die deutsche Mystik im Prediger-Orden (von 1250–1350) nach ihren Grundlehren, Liedern und Lebensbildern aus handschriftlichen Quellen, Freiburg i. B. 1861, S. 207–221, ordnet das Fließende Licht insgesamt der „Poesie der deutschen Mystik“ (S. 203) zu; unter dem Titel „Geistliche Minnelieder und Sittengedichte der Schwester Mechtild Prediger-Ordens“ druckt er S. 222–277 eine Reihe von Texten aus dem Fließenden Licht ab, konzediert jedoch, dass diese keinen geordneten Versbau aufweisen (S. 216); problembewusster Gall Morel: Vorrede und Einleitung. In: Offenbarungen der Schwester Mechthild von Magdeburg oder das fliessende Licht der Gottheit. Aus der einzigen Handschrift des Stiftes Einsiedeln hrsg. von P. Gall Morel, Fotomechanischer Nachdruck der 1. Aufl. Regensburg 1869, Darmstadt 1963, S. XVII-XXXVI, hier S. XIX; ausführlich zur Reimtechnik dann Hubert Stierling: Studien zu Mechthild von Magdeburg, Nürnberg 1907, S. 37–43; vereinzelte Hinweise bei Jeanne Ancelet-Hustache: Mechtilde de Magdebourg (1207–1282). Étude de psychologie réligieuse, Paris 1926, S. 310; Edith Zinter: Zur mystischen Stilkunst Mechthilds von Magdeburg, Leipzig 1931, S. 7; Heinz Tillmann: Studien zum Dialog bei Mechthild von Magdeburg. Diss. Magdeburg 1933, S. 5. Grundlegend zum Problem des Lyrischen im Fließenden Licht der Beitrag von Wolfgang Mohr: Darbietungsformen der Mystik bei Mechthild von Magdeburg. In: Märchen, Mythos, Dichtung. Fs. für Friedrich von der Leyen. Hrsg. von Hugo Kuhn/Kurt Schier, München 1963, S. 375–399; sowie neuerdings Sandra Linden: Der inwendig singende Geist auf dem Weg zu Gott. Lyrische Verdichtung im Fließenden Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg. In: Lyrische Narrationen – Narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Hartmut Bleumer/Caroline Emmelius, Berlin, New York 2011 (Trends in Medieval Philology 16), S. 359–386; zu Psalter und Hohelied als prominenten lyrischen Prätexten Elizabeth A. Andersen: The Voices of Mechthild von Magdeburg, Oxford u.  a. 2000, S. 147–181. 2 Vgl. zur lateinischen Reimprosa die umfassende Darstellung bei Karl Polheim: Die lateinische Reimprosa, Berlin 1925; zur mhd. Literatur die Hinweise bei Mark Emanuel Amtstätter: Reimprosa. In: RLW 3 (2003), S. 257  f., hier S. 257. 3 Hans Neumann: Sprachgestalt und Stilformen in Mechthilds Fließendem Licht der Gottheit. Skizze einer Untersuchung [zuerst 1946]. In: Mechthild von Magdeburg: Das Fließende Licht der Gottheit. Nach der Einsiedler Handschrift in kritischem Vergleich mit der gesamten Überlieferung. Hrsg. von Hans Neumann. Bd. 2: Untersuchungen. Ergänzt und zum Druck eingerichtet von Gisela VollmannProfe, München, Zürich (Tübingen) 1993 (MTU 101), S. IX-XV, hier S. XIV; in einem späteren Aufsatz spricht er von Reimkola, vgl. ders.: Mechthild von Magdeburg und die mittelniederländische Frauen-

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 Caroline Emmelius

nimmt ihn aus der Forschung zur lateinischen Reimprosa und bezeichnet damit die „lautliche Entsprechung der Satzeinschnitte (Kola)“.⁴ Sie bilden in den meisten Fällen Paarreime oder Reimketten, seltener Kreuz- oder umarmende Reime.⁵ Gisela Vollmann-Profe hat darauf aufmerksam gemacht, dass solche lautlichen Entsprechungen nur dann mit dem Begriff des Reims bezeichnet werden können, „wenn man diesen sehr weit faßt und nicht etwa die Maßstäbe der höfischen Dichtung zugrunde legt“.⁶ So wird eine Reimbindung häufig nur durch Vokalgleichklang erreicht (Assonanzen des Typs: minne – stimme), durch unreine Reime (minnent – bekennent),⁷ durch Reim von Stamm- auf Nebensilbe (bereit – arbeit) oder durch Nebensilbenreime (vgl. Reimketten von Abstraktbildungen mit gleichem Bildungssuffix: stetekeit – miltekeit – beitekeit).⁸ Vollmann-Profes einschränkende Bemerkungen zur Qualität der Reime im Fließenden Licht führen auf ein Problem des Neumannschen Begriffs: ‚Reim‘ konnotiert im Deutschen unweigerlich eine poetische Praxis, denn neben dem Metrum gilt der Reim seit Otfrid von Weißenburg als verskonstituierend.⁹ Vor dem Horizont dessen, was in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts als normativer Standard mhd. Reimpraxis gelten kann, erscheinen die Reime des Fließenden Lichts in der Tat als defizitär. Allerdings zielt Neumanns Begriff des Kolonreims gar nicht auf eine poetische Praxis, sondern er führt in den Bereich der rhetorischen Figuren und bezeichnet hier das Phänomen eines „gleichtönenden Ausklangs aufeinanderfolgender Kola“, das in den antiken Rhetoriken als Homoioteleuton eingeführt ist.¹⁰ Als solches ist es ein fakultativ verwendetes Stilmittel der Rede bzw. von Prosatexten, das erst im leoninischen mystik. In: Medieval German Studies. Presented to Frederick Norman, professor of German in the University of London by his students, colleagues and friends on the occasion of his retirement, London 1965 (Publications of the Institute of Germanic Studies 8), S. 231–246, hier S. 240  f. 4 Gisela Vollmann-Profe: Prolegomena. In: Mechthild von Magdeburg: Das Fließende Licht der Gottheit. Nach der Einsiedler Handschrift in kritischem Vergleich mit der gesamten Überlieferung hrsg. von Hans Neumann. Bd. 1: Text. Besorgt von Gisela Vollmann-Profe, München, Zürich 1990 (MTU 100), S. XI-XXVI, hier S. XXII; vgl. auch Polheim (Anm. 2), S. IX: „Reimprosa ist gewöhnliche Prosa, deren Glieder oder Kola, wie sie durch Sprechpausen abgegrenzt werden, am Kolonschlusse gereimt sind.“ 5 Vgl. Stierling (Anm. 1), S. 37–43. 6 Vollmann-Profe (Anm. 4), S. XXII. 7 Unreine Reime reduzieren sich, wenn die entsprechenden nd. Formen zugrunde gelegt werden, vgl. Vollmann-Profe (Anm. 4), S. XXII, Anm. 30; sowie Stierling (Anm. 1), S. 45. 8 Die Beispiele mit Nachweisen bei Vollmann-Profe (Anm. 4), S. XXIIf. 9 Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik. Eine historische Einführung, 2., durchges. Aufl., München 1989, S. 17  f.; Rüdiger Zymner: Reim. In: RLW 3 (2003), S. 253–257, hier S. 255. 10 Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. Mit einem Vorwort von Arnold Arens, 3. Aufl., Stuttgart 1990, S. 361–363 (§ 725–728), Zitat S. 361; ders.: Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie, 7. Aufl., München 1982, S. 115 (§ 359  f.). Systematisch ist das Homoioteleuton in den Rhetoriken den syntaktischen figurae per ordinem untergeordnet, bei Lausberg erscheint es als Spezifizierung bzw. Intensivierung des Isocolon, der „koordinierten Nebeneinanderstellung zweier oder mehrerer Kola“ (Lausberg, Handbuch, S. 359 [§ 719]; vgl. auch

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Hexameter der mittellateinischen Literatur zu einem konstitutiven Textmerkmal der Versdichtung wird.¹¹ Vor dem Hintergrund der antiken Literatur, die den Endreim als poetisches Mittel nicht kennt, hat die rhetorische Figur des Homoioteleuton naturgemäß deutlich größere Lizenzen als der poetische Reimgebrauch in deutschen Texten des 13. Jahrhunderts.¹² Die Irregularitäten des Reimgebrauchs bei Mechthild lassen sich demnach durchaus mit dem Hinweis begründen, dass ihre Reime rhetorisches Stilmittel der Prosa, nicht poetische Praxis der Versbildung sind. Indes kann eine solche Zuordnung zu einem systematischen Ort der rhetorischen Elocutio das irritierende Potential dieses Stilmittels doch nicht restlos aufklären. Denn bei der Frage nach seiner Funktion kehrt jene Konnotation des Poetischen zurück, die schon dem Begriff des Kolonreims eigen ist: Als rhetorisches Mittel der syntaktisch geordneten phonetischen Wiederholung kommen dem Homoioteleuton einerseits pragmatische Funktionen in Bezug auf den Rezipienten zu. Der Gleichklang intensiviert die Wahrnehmung des Ausgesagten, er vermag Worte hervorzuheben, zu verbinden oder zu kontrastieren. Andererseits entfalten die Gleichklänge zugleich eine ästhetische Wirkung: Denn in einer Kultur, in der die Reimbindung als zentrale poetische Praxis etabliert und daher Dichtungsmarker par excellence ist, wird die Wahrnehmung kaum zwischen rhetorischer Funktion und ästhetischer Wirkung des Reims trennen können. Ein Prosatext, der partiell reimt, mag daher zwar produktionsseitig eine rhetorische Strategie verfolgen, rezeptionsseitig aber fallen im Kontext einer reimenden Dichtungskultur rhetorische Funktion und ästhetische Wirkung zunächst einmal in eins. Pointiert formuliert: Ein Prosatext, der sich in einer literarischen Reimkultur des Reims bedient, nutzt unweigerlich ihr zentrales poetisches Verfahren, selbst wenn er die verskonstituierende Funktion des Reims ignoriert. Von dieser ambigen Position der Kolonreime zwischen Rhetorik und Poetik geht der folgende Beitrag aus, wenn er sowohl ihre rhetorische Funktion als auch ihre ästhetische Wirkung zu bestimmen sucht. Das setzt zunächst grundsätzliche Überlegungen zur formalen Gestalt des Textes voraus, denn mit der Bestimmung des Textes als Reimprosa ist – wie sich am Beispiel der drei Editionen zeigen lässt – die Frage nach den Versen im Fließenden Lichts keineswegs erledigt (Abschnitt 2). Die anschließenden Untersuchungen versuchen die Verwendung der Kolonreime zu systematisieren, ihre Funktion als rhetorisches Stilmittel (Abschnitt  3) und das Prinzip ihrer ästhetischen

ders., Elemente, S. 110 [§ 336]). Gleichwohl sei es „von sich aus nicht an die Bedingung des Isocolon gebunden“ (Lausberg, Handbuch, S. 362). 11 Lausberg, Handbuch (Anm. 10), S. 363; ders., Elemente (Anm. 10), S. 115: „In die nachantike Poesie ist die Figur als ‚Reim‘ eingegangen“; zur schwierigen Frage der Entstehung des Endreims im Spannungsfeld von Latein und Volkssprachen vgl. den kontroversen, gleichwohl nach wie vor anregenden Beitrag von Günther Schweikle: Die Herkunft des althochdeutschen Reimes. Zu Otfrieds von Weißenburg formgeschichtlicher Stellung. In: ZfdA 96 (1967), S. 165–212. 12 Vgl. Polheim (Anm. 2), S. IXf.; Lausberg, Handbuch (Anm. 10), S. 361  f. (§ 725); ders., Elemente (Anm. 10), S. 115 (§ 360).

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Wirksamkeit zu ermitteln (Abschnitt 4). Abschließend wird zu überlegen sein, ob die Art und Weise des rekurrenten Gebrauchs der Kolonreime lediglich auf den Stil des Textes führt,¹³ oder ob er sich nicht vielmehr als Teil eines Verfahrens beschreiben lässt, das als ‚Klangpoetik‘ den Text in spezifischer Weise zum Klingen bringt (Abschnitt 5).

2 Prosimetrum oder Reimprosa? Die formale Gestalt des Fließenden Lichts und das Problem ihrer editorischen Darstellung Hans Neumann hat die Kolonreime des Fließenden Lichts nicht nur auf den rhetorischen Begriff gebracht und den Text damit in eine Tradition lateinischer und volkssprachlicher Reimprosa gestellt.¹⁴ Er hat sich als Editor eines kritischen Textes zu-

13 So die Definition bei Hans Ulrich Gumbrecht: Stil. In: RLW 3 (2003), S. 509–513, hier S. 509. Ein Unbehagen gegenüber dem Stilbegriff ergibt sich für das Fließende Licht aus der Forschungsgeschichte, in der stilistische Textmerkmale lange der schreibenden Mystikerin Mechthild zugeschrieben und damit personalisiert und biographisiert wurden: So werden bestimmte rhetorische Eigenschaften des Textes wie der vom Hohen Lied inspirierte Metapherngebrauch, die lyrisch-hymnischen Formen, die Vorliebe für den Dialog, die abrupten und häufig inkonsistenten Sprecherwechsel als unmittelbare Ausdrucksformen eines „emotionalen Stils“ gewertet, vgl. Neumann, Sprachgestalt (Anm. 3), S.  IX; Mohr (Anm. 1), S. 378 (Zitat) und S. 380, schreibt die stilistischen Differenzen zwischen den ersten und den späteren Büchern des Fließenden Lichts einem „Jugend- und Altersstil“ der Autorin zu; noch Gisela Vollmann-Profe: Mechthild von Magdeburg und das Fließende Licht der Gottheit. In: Mechthild von Magdeburg: Das Fließende Licht der Gottheit. Hrsg. von ders., Frankfurt a. M. 2003 (Bibliothek des Mittelalters 19), S. 669–684, hier S. 678  f., spricht von einem „persönlichen Erfahrungsstil“ (S. 679); Mark Emanuel Amtstätter deutet sprachliche Befunde geschlechtsbiologisch, wenn er Phänomene der Gattungsmischung im Fließenden Licht zur „Partitur einer weiblichen Sprache“ erklärt, ohne indes eine genauere Begründung für diese These zu liefern, vgl. ders.: Die Partitur der weiblichen Sprache. Sprachästhetik aus der Differenz der Kulturen bei Mechthild von Magdeburg, Berlin 2003 (ZeitStimmen 3), S. 79–88; Kurt Ruh: Mechthild von Magdeburg. In: ders.: Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. 2: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit, München 1993, S. 245–295, hier S. 280–285, verzichtet für seine Beschreibung von „Mechthilds Eigensprache“ (S. 280) auf den Stilbegriff, bleibt der Vorstellung eines individuellen Stilkonzepts aber gleichwohl verhaftet. Die mit diesen Zuschreibungen verbundenen Vorstellungen eines Personalstils sind nicht nur angesichts der nach wie vor unaufgeklärten Produktionsbedingungen frauenmystischer Literatur, sondern insbesondere auch hinsichtlich der Text- und Überlieferungsgeschichte des Fließenden Lichts problematisch, vgl. hierzu Balázs J. Nemes: Von der Schrift zum Buch – vom Ich zum Autor. Zur Text- und Autorkonstitution in Überlieferung und Rezeption des Fließenden Lichts der Gottheit Mechthilds von Magdeburg, Tübingen, Basel 2010 (Bibliotheca Germanica 55), bes. S. 17–27; S. 64–97; S. 358–380; zusammenfassend S. 381–387. Mit einem textbezogenen poetischen Stilbegriff arbeitet hingegen Alois Maria Haas: Sermo mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik, Freiburg i. d. S. 1979, S. 128–135, der insbesondere auf dessen „euphonische Qualität“ (S. 130–132) aufmerksam macht. 14 Andeutungen schon bei Neumann, Sprachgestalt (Anm. 3), S. XIV; zur stilistisch vermittelnden

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gleich in besonderer Weise um die Wahrnehmbarkeit dieser Prosa bemüht, indem er sämtliche Kolonreime im Text sperrt,¹⁵ ein Verfahren, das an ältere Editionen von Reimprosatexten anknüpft.¹⁶ In den Prolegomena zu Neumanns Edition begründet Vollmann-Profe die Reimkennzeichnung: Während die Erstausgabe von Gall Morel mit der satztechnischen Unterscheidung von Vers- und Prosapartien den Eindruck vermittele, das Fließende Licht sei ein Prosimetrum, betone Neumanns Edition den Charakter einer Reimprosa, welche die eindeutige Differenzierung zwischen gebundener und ungebundener Rede gerade unterlaufe.¹⁷ Um diesen Konzeptwandel hinsichtlich der formalen Einschätzung des Fließenden Lichts nachzuvollziehen, ist es notwendig, sich Rechenschaft darüber abzulegen, was im Fließenden Licht nach Ausweis der Überlieferung und nach Ansicht der drei Herausgeber überhaupt als Vers, was als Prosa zu gelten hat. Die in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstandene Einsiedler Handschrift bietet einen weitgehend fortlaufend geschriebenen Text, dessen primäres Ordnungsprinzip die rubrizierten Kapitelüberschriften sind. Innerhalb der Kapitel gibt es zwei optische Verfahren der Textgliederung: Zum einen mit rotem Strich ausgezeichnete Großbuchstaben, die Absatz- und häufig auch Satzanfänge markieren, zum anderen auf der Mitte der Zeile gesetzte Punkte, die Satzenden und Satzeinschnitte angeben, aber auch kleinere Wortgruppen abtrennen können.¹⁸ Sie sind  – so Neumann  – weniger als schriftliche Interpunktions-, denn als Pausezeichen aufzufassen, die Gliederungshinweise für „Leser und Vorleser“ der Handschrift bieten.¹⁹ Die Markierung lesbarer Satzeinheiten durch Punkte kann mit der Kolonreimverwendung in eins fallen, von Reimpunkten lässt sich gleichwohl nicht sprechen, da die Kola in der Regel nicht metrisch homogenisiert sind.²⁰ Ausnahmen von der fortlaufend geschriebenen Prosa stellen zeilenweise abgesetzte Satzketten dar, die syntaktisch parallel konstruiert und durch Anaphern verbunden sind.²¹

Rolle der mittelniederländischen Reimprosa dann Neumann, Mittelniederländische Frauenmystik (Anm. 3), S. 240  f. 15 Hierzu Vollmann-Profe (Anm. 4), S. XXII  f. 16 Vgl. die Hinweise bei Polheim (Anm. 2), S. 450  f.; in der Teiledition der sog. Rede von den XV. Graden erscheinen die Reime kursiv gesetzt, vgl. Die Rede von den XV Graden. Mitgetheilt von Wilhelm Dolfel. In: Germania 6 (1861), S. 144–160. 17 Vollmann-Profe (Anm. 4), S. XXII. 18 Zur Beschreibung der Handschrift vgl. Neumann, Ed. Mechthild Bd. 2 (Anm. 3), S. 175–232, hier S. 198–201. 19 Neumann, Ed. Mechtild Bd. 2 (Anm. 3), S. 198 und S. 200 (Zitat). 20 Zur Interpunktion in mhd. Reimpaardichtung und Prosa des 12. und 13. Jahrhunderts, insbesondere dem Gebrauch des punctus vgl. Nigel Palmer: Von der Paläographie zur Literaturwissenschaft. Anläßlich von Karin Schneider, Gotische Schriften in deutscher Sprache, Bd. 1. In: PBB 113 (1991), S. 212–250, hier S. 232–242. 21 Vgl. Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Ms. 277 (Hs. E), Fol. 6v (Kapitel I,6) und Fol. 14v (Kapitel I,45). Das Digitalisat der Handschrift ist zugänglich über die Internetseite www.e-codices.unifr.ch.

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Angesichts dieser Ausgangslage gesteht der erste Herausgeber des Fließenden Lichts, Gall Morel, in der Vorrede zu seiner 1869 erschienenen Ausgabe: Eine eigenthümliche Schwierigkeit ergab sich aus der Bestimmung[,] was vom Texte in Versen auszusetzen sei, da in der Handschrift Alles als Prosa fortläuft, obschon viele Abschnitte entschieden auf Verse hindeuten, während anderseits nur schwache Anklänge an solche bemerkbar sind. Entscheidend war hiebei [sic] für mich, nebst dem Reim, der höhere Schwung der Rede oder des Gefühles, der in den meisten Fällen auch die Sprache poetischer macht.²²

Enstprechend bietet Morels Text neben fortlaufender Prosa eine Fülle von Formen: Außer zeilenweise abgesetzten Anaphernreihen vor allem Versgebilde, die durch unterschiedlich weite Einrückung optisch hervorgehoben sind. In Ermangelung eines metrisch begründeten Versbegriffs gelten ihm vor allem Anapher, Parallelismus und Endreim als versbildend, wobei er den Endreim leicht privilegiert.²³ Seine Beobachtung, dass sich Reime in Dialogpassagen häufen,²⁴ lässt ihn den Prosatext eines Kapitels vielfach durch Verspartien unterbrechen.²⁵ So entsteht jener prosimetrische Charakter des Textes, von dem sich Hans Neumanns Edition programmatisch abzusetzen sucht.²⁶ Dessen lang erwartete, im Jahr 1990 postum erschienene Ausgabe²⁷ stellt die Mechthild-Forschung erstmals auf eine verlässliche philologische Basis, indem sie den Text der Einsiedler Handschrift ohne die zahlreichen Fehler und Verlesungen des Morelschen Abdrucks bietet und die lateinische und deutsche Parallelüberlieferung in die Textherstellung einbezieht.²⁸ Ziel ist ein kritischer Text, der die Überlieferung von E wo immer möglich auf Grund von Parallelüberlieferung und Herausgebereinsicht begründet bessert und auf seine Vorlagen hin durchsichtig macht.²⁹ Neumann

22 Morel (Anm. 1), S. V; vgl. auch Zinter (Anm. 1), S. 7, zum Problem, zwischen dem Parallelismus in Poesie und Prosa zu scheiden: „Die Grenze zwischen diesen beiden Formen der Rede ist nämlich an umfangreichen Stellen der Offenbarungen so fließend, daß die Annahme nahe lag, diese Stellen für Reimprosa zu halten. Bei genauerer Prüfung ließ sich aber keine Gesetzmäßigkeit aufweisen, vor allem durchbricht mehrmals enjambement die Bedingungen für Reimprosa. Es muß also die Anwendung des Reimes in diesen fraglichen Stellen als durchaus willkürlich bezeichnet werden. Ich habe daher alle die Teile, in denen der Reim in gesetzmäßiger Abfolge erscheint, als Poesie bezeichnet.“ 23 Vgl. die Prosasetzung von I,14 und I,19  f. oder die ie-Anaphernreihen in I,22. 24 Vgl. Morel (Anm. 1), S. XIX. Zu dieser wichtigen Beobachtung unten Abschnitt 3.2. 25 Vgl. exemplarisch Morel (Anm. 1), I,44 (S. 18–22). 26 Dezente Kritik an der „Reimerkenntnis“ der Morelschen Ausgabe auch schon bei Stierling (Anm. 1), S. 39. 27 Die Texteinrichtung und Drucklegung besorgte Gisela Vollmann-Profe, vgl. Neumann, Ed. Mechthild Bd. 1 (Anm. 4). Das gilt auch für den zweiten, 1993 erschienenen Band, der Anmerkungen zum Text und Untersuchungen zur Überlieferung enthält, vgl. Neumann, Ed. Mechthild Bd. 2 (Anm. 3). 28 Vgl. Vollmann-Profe (Anm. 4), S. XX–XXIII. 29 Das kann angesichts der prekären Überlieferungssituation und des Standes der editionsphilologischen Diskussion in der Mediävistik im Jahr 1990 kein unhinterfragtes Unterfangen mehr sein. Vgl.

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bietet den Text nicht länger als Prosimetrum, sondern als durch die Sperrung der Reime optisch wahrnehmbare Reimprosa. Entsprechend reduziert er den Anteil an Versauszeichnungen im Vergleich zu Morels Ausgabe erheblich. Gleichwohl kennt auch seine Ausgabe Unterbrechungen des Prosatextes. Neumann nutzt hierfür die linksbündige Absetzung von Zeilen und die Einrückung von Versen. Die Prinzipien, nach denen diese Differenzierung erfolgt, werden nicht expliziert. Sie lassen sich zwar weitgehend aus der Praxis erschließen, eine in jedem Einzelfall konsistente Systematik ergibt sich daraus allerdings nicht: Wo die Handschrift syntaktisch parallel konstruierte Satzketten zeilenweise absetzt,³⁰ übernimmt Neumann dieses Satzprinzip und verfährt in analogen Fällen ebenso.³¹ Anaphorisch gebundene Aussagen oder Sätze wertet er hingegen teils als Prosa, teils als Verse.³² Wo Anapher³³, Endreim³⁴ oder beides zugleich Satzabschnitte mittlerer Länge einleiten oder beschließen, die sich durch einen gleichmäßigen Rhythmus oder sogar annähernd identische Hebungen auszeichnen, konzediert Neumann Verse, die er durch Einrückung von der Prosa absetzt. Verse setzt er auch dort, wo die Kapitelüberschrift eine lyrische Form wie liet, sang oder klage ankündigt.³⁵ Das ist indes ein problematisches Kriterium, denn auch diese Partien bieten in der Regel allenfalls freie Rhythmen, kein festes Reimschema und keine strophische Gestalt. Anders als Morel sucht Neumann den optischen Eindruck des genus mixtum zu meiden und bevorzugt die Zuordnung je eines Kapitels zu einer Form. Das prosimetrische Nebeneinander der Formen innerhalb eines Kapitelabschnitts ist in seiner Edition die Ausnahme.³⁶ hierzu schon in der Ausgabe selbst die Andeutungen von Hans Fromm: Vorwort. In: Neumann, Ed. Mechthild Bd. 1 (Anm. 4), S. VII-IX, hier VIII; sowie die dezente Reserve in Formulierungen von Vollmann-Profe (Anm. 4), S. XXI; kritisch zum Editionskonzept etwa Kurt Ruh: Rezension zu Neumann, Ed. Mechthild Bd. 1 und 2 (Anm. 4 und 3). In: ZfdA 124 (1995), S. 98–103; das Bemühen um Autorin und Werk trotz kritischer Einwände gegen die Editionspraxis honorierend und letztlich verteidigend Werner Schröder: Rezension zu Ed. Neumann Bd. 1 und 2 (Anm. 4 und 3). In: ZfdPh 115 (1996), S. 129–134 [Wiederabdruck in: ders.: Critica Selecta. Zu neuen Ausgaben mittelhochdeutscher und frühneuhochdeutscher Texte. Hrsg. von Wolfgang Maaz/Fritz Wagner, Hildesheim 1999 (Spolia Berolinensia 14), S. 149–154]; erhellend zu Neumanns philologischem Selbstverständnis der Nachruf von Karl Stackmann. In: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen für das Jahr 1991, Göttingen 1992, S. 176–199, hier bes. S. 189–194; grundlegend zur Problematik jetzt Nemes (Anm. 13), S. 8, sowie ausführlich S. 27–63 und S. 64–67. 30 Hierfür gibt es allerdings nur sehr wenige Belege, vgl. Hs. E (Anm. 21), Fol. 6v (I,6) und 14v (I,45). 31 Vgl. etwa die Reihe mystischer Paradoxa in I,22, die Parallelismen in I,36 oder die Gottes- und Marienapostrophen in VII,18 und 19, die Neumann, Ed. Mechthild Bd. 1 (Anm. 4) absetzt, obgleich die Hs. sie fortlaufend bietet, vgl. Hs. E (Anm. 21), Fol. 8r-v; Fol. 11v und Fol. 140v-142r. Eine Ausnahme bildet der Präzedenzfall I,45, den Neumann gegen die Hs. nicht zeilenweise, sondern in Versen setzt. 32 Vgl. für Anaphernreihen in Prosa Neumann, Ed. Mechthild Bd. 1 (Anm. 4), I,7-I,20; für die Darstellung in Versen ebd., u.  a. I,35; I,45; II,9–13. 33 Vgl. ebd., II,9–13;VI,12. 34 Vgl. ebd., I,35; II,15; IV,4; V,4; VII,40. 35 Vgl. ebd., II,2; II,5 und 6; II,9 und 10; II,25; VII,19; VII,31. 36 Vgl. ebd., II,2; V,4; V,19; VII,26; VII,31.

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Noch einmal anders verfährt schließlich die dritte, 2003 im Deutschen Klassikerverlag erschienene Ausgabe des Fließenden Lichts von Gisela Vollmann-Profe, die den Text der Einsiedler Handschrift in den Mittelpunkt stellt. Der Herausgeberin geht es darum, den einzig vollständigen deutschen Textzeugen des Fließenden Lichts zu präsentieren, der jene sprachliche und stilistische Form bietet, in der „Mechthilds Schrift […] volkssprachlich rezipiert wurde und gewirkt hat“.³⁷ Mit dieser Position deutet sich eine behutsame Reserve gegenüber Neumanns editorischem Konzept und den daraus folgenden weitreichenden Texteingriffen an. Damit leistet VollmannProfes Ausgabe zugleich die Anbindung an die seit den 1970er Jahren stark veränderte editionsphilologische Fachdiskussion, von der in der Neumannschen Ausgabe noch gar nichts zu bemerken ist.³⁸ Ihre Ausgabe nimmt sowohl von Neumanns Reimrekonstruktionen als auch von seinem Verfahren der optischen Visualisierung der Reimprosa Abstand.³⁹ Über die Prinzipien der Formanalyse und der daraus resultierenden Texteinrichtung legt auch Vollmann-Profes Ausgabe keine Rechenschaft ab.⁴⁰ Die Kriterien, denen die Herausgeberin offenkundig folgt, unterscheiden sich gleichwohl von denen Neumanns. Als wichtigste Neuerung kann gelten, dass die Forschung zum Dialog im Fließenden Licht einen Niederschlag in der Textdarbietung gefunden hat.⁴¹ So werden einzelne Sprecherbeiträge in dramatischen Dialogen sowie

37 Vollmann-Profe, Ed. Mechthild (Anm. 13), S. 682. 38 Vgl. oben Anm. 29. Dass der überlieferungsgeschichtliche Anspruch von Vollmann-Profes Ausgabe in der Praxis gelegentlich von Textherstellungsbemühungen klassischen Typs konterkariert wird, die überdies z.  T. von denen Neumanns differieren, bemerken kritisch Dagmar Gottschall: Rezension zu Vollmann-Profe, Ed. Mechthild (Anm. 13). In: PBB 127 (2005), S. 298–304; Werner Schröder: Rezension zu Vollmann-Profe, Ed. Mechthild (Anm. 13). In: Mittellateinisches Jahrbuch 40 (2005), S. 300–303; sowie pointiert auch Nemes (Anm. 13), S. 57. 39 Dazu Vollmann-Profe, Ed. Mechthild (Anm. 13), S. 683. 40 Für Hinweise zum Verständnis der Form bzw. des „Formenreichtum[s]“ des Fließenden Lichts vgl. jedoch Vollmann-Profe, Ed. Mechthild (Anm. 13), S. 679–681 (Zitat S. 680). 41 Vgl. grundlegend Walter Haug: Das Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner. Der mystische Dialog bei Mechthild von Magdeburg als Paradigma für eine personale Gesprächsstruktur. In: ders.: Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Tübingen 1995, S. 501–530 [Wiederabdruck aus: Das Gespräch. Hrsg. von Karlheinz Stierle/Rainer Warning, 2. unveränd. Aufl., München 1996 (Poetik und Hermeneutik 11), S. 251–279]; Ruh (Anm. 13), S. 256– 258; weiterhin Paul Michel: Quomodo amor excitet animam pigram. Ein Dialog im Fließenden Licht Mechthilds von Magdeburg. In: Contemplata aliis tradere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität. Fs. für Alois Maria Haas. Hrsg. von Claudia Brinker u.  a., Bern u.  a. 1995, S. 47–70, hier bes. S. 63–67; Almut Suerbaum: Dialogische Identitätskonzeption bei Mechthild von Magdeburg. In: Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999. Hrsg. von Nikolaus Henkel/Martin H. Jones/Nigel F. Palmer unter Mitwirkung von Christine Putzo, Tübingen 2003, S. 239–255; sowie in demselben Band Gerd Dicke: Aus der Seele gesprochen. Zur Semantik und Pragmatik der Gottesdialoge im Fließenden Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg, S. 267–278; und Annette Volfing: Dialog und Brautmystik bei Mechthild von Magdeburg, S. 257–266.

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dramatische Sprecherwechsel in narrativen Textpassagen voneinander abgesetzt.⁴² Von fortlaufender Prosa sind im übrigen zeilenweise abgesetzte Textpartien unterschieden, wobei Neumanns Differenzierung zwischen abgesetzten Prosazeilen und eingerückten Versen nicht übernommen wird. Vollmanns Ausgabe macht insofern keinen Unterschied zwischen anapherierenden Reihen, Parallelismen und rhythmisch regelmäßigeren, endreimenden Versformen. Die Deutung dieses Verfahrens ist dem Nutzer überlassen: Entweder setzt es einen sehr weiten, nicht metrisch, sondern durch Anfangs- und Endreim definierten Versbegriff voraus, der in der typographischen Praxis allerdings nicht von dialogischen Sprecherreden unterschieden ist; oder aber es schafft den Versbegriff ganz ab und differenziert lediglich zwischen stilistisch weniger markierter fortlaufender Prosa und stilistisch stärker markierten zeilenweise abgesetzten Passagen. In dieser Perspektive wären dialogische, anapherierende, parallel konstruierte und reimende Passagen demselben Set von Stilphänomenen zuzuordnen.⁴³ Im Vergleich mit der Ausgabe von Neumann setzt Vollmann-Profe insbesondere in den ersten Büchern weit mehr Anaphernreihen ab. Auf diese Weise entsteht ein unruhiges Schriftbild, das wenigstens optisch den Eindruck des Prosimetrums restituiert. Der Charakter der Reimprosa ist dagegen, da die Kolonreime unmarkiert bleiben, optisch getilgt.⁴⁴ Der knappe Überblick macht deutlich, dass die Form des überlieferten Textes die Herausgeber vor deutliche Herausforderungen stellt. Während Morel seine Intuition hinsichtlich der Textpräsentation freimütig bekennt und so eher unwillkürlich eine Art Prosimetrum generiert,⁴⁵ verdankt sich Neumanns Entscheidung, den Text als Reimprosa zu präsentieren, der Einsicht in gattungs- und stilgeschichtliche Zusammenhänge und ist somit literaturwissenschaftlich gut begründet.⁴⁶ Gleichwohl ist es gerade nicht Neumanns Absicht, den generischen Status des Fließenden Lichts

42 Vgl. u.  a. Vollmann-Profe, Ed. Mechthild (Anm. 13), I,1; I,3; I,28; I,44. Bei Morel sind die Sprecherwechsel z.  T. als lyrische Partien eingerückt, bei Neumann werden sie als fortlaufende Prosa geboten. Die typographische Visualisierung der dialogischen Anlage des Textes vermerkt positiv Elizabeth Andersen: Rezension zu Vollmann-Profe, Ed. Mechthild (Anm. 13). In: Arbitrium 25 (2007), S. 31–34, hier S. 32  f. 43 So oder so ist auch hier die Praxis – ähnlich der bei Neumann – nicht konsistent. Vgl. u.  a. die als fortlaufende Prosa gesetzten Anaphernreihen und Parallelismen in I,32–34; I,40; II,12. 44 Das vermerkt kritisch Mark Emanuel Amtstätter: Die kühnste erotische Dichtung des Mittelalters in einer neuen Edition. Die neue Mechthild-Ära. Rezension zu Vollmann-Profe, Ed. Mechthild (Anm. 13). In: IASLonline [02. 01. 2004], URL: (Datum des Zugriffs: 01. 03. 2012). 45 Programmatisch im Sinne einer Gattungsklassifikation ist Morels Verfahren nicht, vgl. Morel (Anm. 1), S. XIX. 46 Die Argumentation fehlt in den Prolegomena zu Neumanns Ausgabe, sie lässt sich jedoch aus älteren Beiträgen des Herausgebers erschließen, vgl. Neumann, Sprachgestalt (Anm. 3), S. XIV; Neumann, Mittelniederländische Frauenmystik (Anm. 3).

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festzuschreiben⁴⁷ und damit jenen Fehler zu wiederholen, den er Morels Textpräsentation vorwirft. Vielmehr soll die Hervorhebung der Kolonreime es erleichtern, „die Übergänge von Prosa zu Vers und von Vers zu Prosa“ und damit gerade die ambige formale Gestalt des Fließenden Lichts wahrzunehmen.⁴⁸ Es ist jedoch die Frage, ob Neumanns Verfahren dazu tatsächlich geeignet ist: Zwar machen es die markierten Kolonreime auf einen Blick möglich, Prosapassagen ohne bzw. mit nur gelegentlichem Reim von solchen mit intensiverer Reimverwendung zu unterscheiden. Über Aspekte wie Länge und Rhythmisierung der Kola, die in Verbindung mit dem Reim die besagten Übergänge zwischen Prosa und Vers erst schaffen, vermag die Sperrung der Reime allein jedoch noch keinen Eindruck zu vermitteln. Irritieren muss weiterhin, dass Neumann einerseits darauf verzichtet, dort Verse zu setzen, wo ausweislich der Prolegomena Kolonreime „aus der Prosa herauswachsen, um sich dann […] zu intensivieren und gegebenenfalls, rhythmisch gebunden in (relativ) regelmäßigen Versen zu enden“,⁴⁹ andererseits passagenweise an der Verssetzung festhält, ohne dass die Kriterien hierfür expliziert würden.⁵⁰ Auch wenn es also nicht in der Absicht des Herausgebers lag, den generischen Status des Textes zu fixieren, scheint die Texteinrichtung weniger die formale Ambiguität des Textes zu betonen, als vielmehr einen grundsätzlichen Konzeptwandel zu vollziehen, nach dem der Text primär als Reimprosa aufzufassen ist. Auch die Ausgabe von Vollmann-Profe entzieht sich einer expliziten Diskussion um die Unterscheidbarkeit von Vers und Prosa. Hinsichtlich der Textpräsentation wählt sie indes einen dritten Weg, indem sie von fortlaufender Prosa nurmehr abgesetzte Zeilen differenziert, die sowohl reimende und metrisch annähernd regulierte Verse, aber auch andere stilistisch auffällige Partien wie dialogische Wechselreden und anapherierende Reihen hervorhebt. Dem erweiterten Blick auf die stilistischen Besonderheiten des Fließenden Lichts fällt in dieser Ausgabe allerdings die Visualisierung der Reimprosa zum Opfer.⁵¹

47 Vgl. den Beschreibungsansatz bei Neumann, Sprachgestalt (Anm. 3), S. XIV, der die rhythmisierte Prosa des Fließenden Lichts sowohl von den „Fesseln höfischer Verskunst“ als auch von der „geistliche[n] Kunstprosa“ abzusetzen sucht. 48 Vollmann-Profe (Anm. 4), S. XXII. Die Rezensenten der Ausgabe bescheinigen in der Regel pauschal, dass dies gelungen sei, vgl. etwa die Rezension von Ernst Hellgardt: Rezension zu Neumann, Ed. Mechthild Bd. 1 und 2 (Anm. 4 und 3). In: PBB 118 (1996), S. 133–140, hier S. 139, der die „formale Beschaffenheit von Mechthilds Werk […] weit besser“ als bei Morel zum Ausdruck gebracht sieht. 49 Vollmann-Profe (Anm. 4), S. XXII; vgl. hierzu etwa das Kapitelende von II,2 (Neumann, Ed. Mechthild Bd. 1 [Anm. 4], S. 38  f.) oder VI,29 (S. 238), das Vollmann-Profes Ausgabe in Verse setzt, vgl. Vollmann-Profe, Ed. Mechthild (Anm. 13), S. 490. 50 Die Prolegomena zu Neumanns Ausgabe liefern keine theoretische Begründung für die Entscheidung, was als Vers aufgefasst wird, auch die entsprechende typographische Einrichtung wird nicht erläutert, vgl. Vollmann-Profe (Anm. 4), S. XXII-XXIV. 51 Vgl. Vollmann-Profe, Ed. Mechthild (Anm. 13), S. 683. Zu den Gründen siehe unten.

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Es lässt sich festhalten, dass sich alle drei Editionen auf je eigene Weise um die optische Visualisierung der formalen Gestalt des Fließenden Lichts bemühen. Sie entsprechen damit zumindest partiell jener Forderung, die Friedrich Ohly für die Edition geistlicher Kunstprosa aufgestellt und in seiner Ausgabe des St. Trudperter Hohelieds aufwändig umgesetzt hat, nämlich, „die in der Handschrift oft versteckte dichterische Kunstgestalt eines Texts nicht selten gegen alle Überlieferung durch Formkritik ans Licht zu bringen.“⁵² Zugleich unterscheiden sie sich aber auch von seinem Programm einer formanalytischen Editionspraxis: Erstens nehmen sich sowohl Neumanns als auch Vollmann-Profes Ausgabe im Vergleich mit Ohlys St. Trudperter Hohelied optisch sehr zurückhaltend aus, was sich vor allem mit der Absetzung von der optisch unruhigen, lediglich durch Intuition begründeten Texteinrichtung bei Morel erklären lässt. Zweitens ist allen drei Editionen des Fließenden Lichts der Vorwurf zu machen, dass sie die Kriterien für ihre jeweilige formanalytische Interpretation des Textes nur eingeschränkt offenlegen.⁵³ Das gilt insbesondere für das Problem der Verspartien des Fließenden Lichts,⁵⁴ in geringerem Maße aber auch für die Prosareime. Denn obwohl sich Neumann und Vollmann-Profe darin

52 Friedrich Ohly: Textkritik als Formkritik. In: FmSt 27 (1993), S. 167–219, hier S. 168, ähnlich auch S. 205  f., S. 218  f. Dass Neumanns Ausgabe seinem Programm in Ansätzen durchaus Rechnung trägt, ist Ohly offensichtlich nicht aufgefallen, vgl. ebd. S. 196, Anm. 83. Zu den überlieferungsgeschichtlich problematischen Implikationen des Ohlyschen Ansatzes Balázs J. Nemes: Mechthilds von Magdeburg „Frühwerk“. Buch I des Fließenden Lichts der Gottheit. Rezension zu Amtstätter (Anm. 13). In: IASLonline [30. 10. 2004], URL: (Datum des Zugriffs: 02. 03. 2012), hier Abs. 22–27. 53 Morel gesteht seine intuitive Vorgehensweise zumindest offen ein, vgl. Morel (Anm. 1), S. XIX; Neumanns Ausgabe begründet allein die Hervorhebung der Kolonreime als Tribut an den formal ambigen Status des Textes, vgl. Vollmann-Profe (Anm. 4), S. XXII; Vollmann-Profe betont wiederum nur die Abstandnahme von Neumanns Fokus auf den Reimgebrauch, vgl. Vollmann-Profe, Ed. Mechthild (Anm. 13), S. 683; vgl. dagegen die ausführlichen editorischen Vorbemerkungen zur formalen Texteinrichtung bei Friedrich Ohly: Zur Textgestaltung. In: Das St. Trudperter Hohelied. Eine Lehre der liebenden Gotteserkenntnis. Hrsg. von Friedrich Ohly unter Mitarbeit von Nicola Kleine, Frankfurt a. M. 1998 (Bibliothek des Mittelalters 2), S. 338–348, bes. 347  f.; zu den Möglichkeiten, die formale Gestalt von Kunstprosapassagen (hier ebenfalls des St. Trudperter Hohelieds) typographisch sichtbar zu machen auch Ohly (Anm. 52), S. 197–219. Für eine forciert formanalytische Edition des Fließenden Lichts im Sinne Ohlys plädiert Amtstätter (Anm. 44), der selbst einen entsprechenden Versuch zum ersten Buch des Fließenden Lichts vorgelegt hat, vgl. Amtstätter (Anm. 13), S. 121–157. 54 Für die lyrischen Passagen wird in der Forschung in der Regel auf den Beitrag von Mohr (Anm. 1) verwiesen, der insbesondere die ‚pure Form‘ der anaphorischen Reihe zu den „lyrischen Urformen in Mechthilds Werk“ rechnet (S. 388  f., Zitat S. 389); vgl. auch Linden (Anm. 1), S. 369  f. VollmannProfes Ausgabe scheint diesem Befund mit der Hervorhebung von Anaphernketten Rechnung zu tragen, vgl. den Hinweis auf Mohr bei Vollmann-Profe (Anm. 13), S. 680. Neumann hingegen setzt anapherierende Reihen nur gelegentlich als Verse, sein Fokus gilt vor allem dem Endreim. Dass Anapher und Endreim als komplementäre stilistische Verfahren angesehen werden können, die darauf zielen, den Text klanglich zu rhythmisieren, wobei sich ihr Gebrauch nach generischen Schreibweisen differenzieren lässt, ist meines Wissens bislang nicht diskutiert worden. Vgl. hierzu Abschnitt 5.

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einig zu sein scheinen, dass das Fließende Licht kein Prosimetrum ist, gehen ihre Ansichten über den Status der Reimprosa und deren Darstellung deutlich auseinander. Der Grund hierfür liegt darin, dass beide Herausgeber stilistische Textbefunde mit überlieferungsgeschichtlicher Argumentation verknüpfen. So gelten ihnen die Kolonreime als Beweismittel für eine bestimmte Auffassung vom Gang der Überlieferung, aus der sie dann je unterschiedliche editorische Konsequenzen ziehen. Neumanns kritischer Text ist bemüht, die mitteldeutsch-niederdeutsche Vorlage, besser noch, das ‚Original‘, hinter dem in Handschrift E überlieferten Text sichtbar zu machen. So kennzeichnet er nicht nur in E vorfindliche Reime, sondern auch solche, die nur durch syntaktische Umstellung des Textes von E zu gewinnen sind, sowie solche, die nur dann reimen, wenn man die entsprechende mitteldeutsche oder niederdeutsche Form zugrunde legt,⁵⁵ und drittens Reime, die er aufgrund der lateinischen und deutschen Parallelüberlieferung in den Text von E einsetzt oder auf der Basis seiner Textkenntnis und seiner Vorstellungen von einem ‚mechthildischen Stil‘ konjiziert.⁵⁶ Im Hintergrund dieses Vorgehens steht die Annahme, dass E zwar einen qualitätvollen, aber doch stilistisch reduzierten Text biete, den es im Blick auf das Original, auch wenn dies sprachlich nicht zu erreichen sei, zumindest zu bessern gelte.⁵⁷ Die Visualisierung der in E vorhandenen und der hinter E vermeintlich zurückweisenden Kolonreime steht somit in engem Zusammenhang mit Neumanns textgeschichtlichen Prämissen⁵⁸ und versteht sich als Hinweis auf den Personalstil Mechthilds.⁵⁹ Vollmann-Profe teilt die textgeschichtlichen Annahmen Neumanns, zieht hieraus für ihre Ausgabe jedoch andere Konsequenzen.⁶⁰ Sie argumentiert, dass die offensichtliche, da in vielen Fällen leicht zu behebende Vernachlässigung des Reimschmucks in E darauf hinweise, dass „er den Übersetzern ins Oberdeutsche gleichgültig war“.⁶¹ Entsprechend ihrem Fokus auf die Materialität von E übernimmt sie

55 Der Benutzer der Ausgabe stößt daher vielfach auf gesperrte Formen, deren Reimcharakter er erst über den Apparat zu ermitteln hat. Dass diese als Stolpersteine fungierenden Sperrungen einen „ständig […] in hohem Maße textkritisch mitdenkenden Leser“ erfordern, hat Hellgardt (Anm. 48), S. 139, treffend angemerkt. 56 Eine Zusammenstellung hierzu bei Nemes (Anm. 13), S. 43  f. 57 Vollmann-Profe (Anm. 4), S. XX-XXIII. 58 Dass es Neumann in seinem Bemühen um die Kolonreime nicht allein um die (generische) Form des Textes geht, sondern auch darum, das Ohr des Lesers „wenigstens punktuell auf die originale nd. (-md.) Lautgestalt“ zu lenken, vermutet Gisela Kornrumpf, vgl. das Zitat einer brieflichen Mitteilung bei Stackmann (Anm. 29), S. 193, Anm. 48. 59 Hierzu Neumann, Sprachgestalt (Anm. 3); Neumann, Mittelniederländische Frauenmystik (Anm. 3). Dass Neumanns Aussagen zu ‚Mechthilds Stil‘ ein Untersuchungsprogramm andeuten, für das seine Ausgabe allererst die notwendige Voraussetzung bietet, hält Kurt Ruh in seiner Rezension fest, vgl. Ruh (Anm. 29), S. 101. 60 Vgl. Vollmann-Profe (Anm. 13), S. 681–684. 61 Vgl. Vollmann-Profe (Anm. 13), S. 683; vgl. auch die überpointierte These S. 673: „Was aber neben der ursprünglichen niederdeutschen Sprachgestalt bei der Übertragung ins Oberdeutsche verlorenging, ist der Reimschmuck, dessen Bedeutung für das Original schwer abzuschätzen ist.“

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Neumanns Reimrekonstruktionen nicht und verzichtet darüber hinaus auch auf die Kennzeichnung der in E vorfindlichen Reime. Neuerdings hat Balázs Nemes den Beweiswert der Reime für die textgeschichtliche Rekonstruktion und damit auch für den Personalstil der ‚Autorin Mechthild‘ kritisch hinterfragt. Er legt dar, dass die in der lateinischen und zum Teil auch deutschen Parallelüberlieferung⁶² im Vergleich mit E bisweilen konsequentere Handhabung des Kolonreims nicht notwendig Ausweis eines stilistischen Defizits in E sein muss, sondern ebenso gut den jeweiligen Bearbeitern zuzutrauen ist, die stilistische Tendenzen ihrer jeweiligen Vorlagen aufnehmen und fallweise produktiv entfalten.⁶³ Das, was Neumann aufgrund der gesamten deutsch-lateinischen Überlieferung als ‚mechthildischen‘ Stil auffasste und dem Original zuschrieb, wäre in dieser Perspektive lediglich die Summe von Stileigenschaften, die sich am Ende eines diachronen Prozesses aus einzelnen Überlieferungszeugen bilden lässt. Der Stil des Fließenden Lichts wäre dem zufolge eine variable und dynamische Größe, der an den verschiedenen Punkten der Überlieferung jeweils unterschiedlich realisiert wird. Dabei wird man mit den verschiedensten Varianten einer solchen dynamischen Arbeit am Stil zu rechnen haben: mit konservativer Bewahrung ebenso wie mit vernachlässigender Gleichgültigkeit oder eben auch mit produktiver Intensivierung. Die Untersuchung der rhetorischen Funktionen, ästhetischen Wirkungen und ggf. poetologischen Implikationen des Stilphänomens der Kolonreime für den Text des Fließenden Lichts hat der vorstehenden kritischen Einwände eingedenk zu sein und die Grundlage der Argumentation vorab zu präzisieren. Ihre Prämissen lauten: – Grundlage der Untersuchung ist der in Handschrift E überlieferte und von Gisela Vollmann-Profe edierte Text. Analysiert und interpretiert werden Reime, die in Handschrift E erhalten sind.⁶⁴ – Untersucht wird somit ein Stilphänomen, wie es sich im einzig vollständigen, gleichwohl späten Überlieferungszeugen des Fließenden Lichts zeigt. Die Reich-

62 Das gilt besonders für die Lux divinitatis, die Wolhusener Rückübersetzung aus dem Lateinischen (Hs. Rw) sowie das ostoberdeutsche Textexzerpt der Hs. B, vgl. Nemes (Anm. 13), S. 48  f.; zur Wolhusener Handschrift auch Elke Senne: Das Fließende Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg. Die Fassung der sog. Wolhusener Handschrift. Text und Untersuchung, Berlin 2002, S. 62  f. 63 Nemes (Anm. 13), S. 50  f., S. 52  f. und S. 385; zum Vorgehen der alemannischen Bearbeiter vgl. die Beobachtungen von Dagmar Gottschall: Basel als Umschlagplatz für geistliche Literatur. Der Fall des Fließenden Lichts der Gottheit von Mechtild von Magdeburg. In: University, Council, City. Intellectual Culture on the Rhine (1300–1550). Acts of the 12th International Colloquium of the Société Internationale pour l’Étude de la Philosophie Médiévale, Freiburg i. Br. 27–29 October 2004. Hrsg. von Laurent Cesalli u.  a., Turnhout 2007 (Rencontres de philosophie médiévale 13), S. 137–169, bes. S. 168, mit der kritischen Wertung, ihnen sei es nur um „die sprachliche Oberfläche, de[n] schöne[n] Klang, das ästhetische Ereignis, das stimulierend wirkte, und nicht [um] philosophische Spekulation“ gegangen. 64 Für die Auffindung dieser Reime ist die Neumannsche Ausgabe freilich unentbehrliches Hilfsmittel.

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weite der Aussagen muss zunächst auf diesen beschränkt bleiben. Ob das Fließende Licht in den E vorausliegenden Fassungen ebendiese, mehr und sogar weniger Reime aufwies und von welcher exakten klanglichen Qualität diese waren, darüber können keine verlässlichen Aussagen getroffen werden.⁶⁵ Es wird jedoch auf der Basis der überlieferten Textzeugen angenommen, dass die Kolonreime in E an eine stilistische Tendenz anknüpfen, die auch die vorausliegenden Fassungen des Textes kennzeichnete. Welcher Textinstanz die Reime in E zuzuschreiben sind, muss ebenfalls offen bleiben. Entsprechend kann es nicht darum gehen, Aussagen über einen Personalstil zu treffen  – auch wenn der Titel des Beitrags dies aus rhetorischen Gründen behauptet –, sondern Ziel kann es allein sein, die Praxis der Reime in E als punktuelle Realisierung eines dynamisch zu denkenden Werkstils in progress zu beschreiben.

3 Verwendung und rhetorische Funktion der Kolonreime im Fließenden Licht Zum Vorkommen des Kolonreims im Fließenden Licht gibt es bislang keine systematischen Untersuchungen, es liegen lediglich zwei Beobachtungen hierzu vor, die beide auf Morel zurückgehen.⁶⁶ Die erste besagt, dass Kolonreime vor allem zum Ende

65 Vgl. hierzu Stierling (Anm. 1), S. 43–60; bilanzierend zur Sprache des Fließenden Lichts auch Hans Neumann: Problemata Mechtildiana. In: ZfdA 82 (1948/50), S. 143–172, hier S. 165–172. 66 Morel (Anm. 1), S. XIX; nur die Beobachtung zur Reimhäufung am Kapitelschluss ist übernommen bei Vollmann-Profe (Anm. 4), S. XXII; Stierling (Anm. 1), S. 37–43, beschreibt v.  a. die Reimtechnik, zur Funktion der Reime pauschal S. 39, Hinweise auf systematischen Gebrauch fehlen; Zinter (Anm. 1), S. 7, kann keine systematische Reimverwendung im Fließenden Licht erkennen; bei Vollmann-Profe (Anm. 13), fehlen entsprechende Hinweise, was mit der in Anm. 61 zitierten These zusammenhängen dürfte. Linden (Anm. 1), S. 368  f., merkt hingegen an, dass die Kolonreime „keineswegs reiner ornatus sind, sondern in ihrer Gliederungsfunktion die inhaltliche Struktur des Textes stützen können“ (S. 368). Neuerdings macht Almut Suerbaum: Die Paradoxie mystischer Lehre im St. Trudperter Hohenlied und im Fließenden Licht der Gottheit. In: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Henrike Lähnemann/Sandra Linden, Berlin, New York 2009, S. 27–40, hier S. 33, darauf aufmerksam, dass Passagen des Fließenden Lichts, die auf den performativen Nachvollzug mystischer Lehre abzielten, „oft sprachlich markiert sind durch stark rhythmisierte, auch in der oberdeutschen Übertragung noch erkennbar durch Binnenreime strukturierte Kunstprosa“. Die Beschreibung der „literarische[n] Qualität“ und der „Funktion dieses ‚erhöhten Tones‘“ (ebd.) stellt der Beitrag in Aussicht, ohne sie einzulösen, vgl. lediglich die abschließenden Überlegungen zum Hymnischen (S. 40). Suerbaums These lässt sich ggf. mit der unten diskutierten Beobachtung zum Kolonreim in direkter Rede in Einklang bringen, vollzieht sich eine auf performativen Nachvollzug zielende Belehrung der Hörer doch vielfach im Dialog der intradiegetischen Sprechinstanzen.

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eines Kapitels gehäuft auftreten und dort „gegebenenfalls rhythmisch gebunden, in (relativ) regelmäßigen Versen […] enden“.⁶⁷ Ein Beispiel hierfür bietet der Schluss des Kapitels I,2: Disen gruos mag noch muos nieman enpfan, er si denne úberkomen und ze nihte worden. In disem gruosse wil ich lebendig sterben. Das moegen mir die blinden heligen niemer verderben, das sint die do minnent und nit bekennent. (I,2; 24,6–9)⁶⁸

Diesem Abschnitt geht ein Kapitel in Prosa voran, das unregelmäßig verwendete Kolonreime aufweist, die sich in den beiden letzten Sätzen zu zwei Reimpaaren verdichten. Ähnlich zeigt dies auch das Kapitel I,5, das mit dem Reimpaar endet: „Dise qwale muesse dich bestan, niemer muessest du ir entgan!“ (I,5; 28,23  f.). In Kapitel I,22 wird ein Dialog zwischen der Seele und Maria durch einen Satz mit dreifachem Tiradenreim beschlossen: Eya, darnach [nachdem Maria die Kinder Gottes bis zum Jüngsten Tag an ihrer Brust gestillt hat, C. E.] soellen wir bekennen und sehen in unzellicher lust die milch und ovch die selben brust, die Jhesus so dikke hat gekúst. (I,22; 44,1–3)

Neumanns Ausgabe restituiert den Rückumlaut in gekúst,⁶⁹ aber auch ohne diesen Eingriff ist die klangliche Hervorhebung des Satzes durchaus wahrnehmbar. Die Beispiele ließen sich leicht vermehren.⁷⁰ Die Funktion des Prosareims ist in diesen Fällen vergleichsweise konventionell. Zum einen verleiht er dem jeweiligen Abschnitt durch den Gleichklang und die Rhythmisierung der Syntax ein hörbares Ende.⁷¹ Zum anderen vermag er – insbesondere wenn es sich um resümierende Aussagen handelt – zentrale Stichworte des Kapitels hervorzuheben, so etwa im letzten Beispiel, dessen Dreireim lust – brust und gekúst auf die Figur der die Christenheit tränkenden Maria lactans zielt, die in diesem Kapitel

67 Vollmann-Profe (Anm. 4), S. XXII. Der Befund schon bei Morel (Anm. 1), S. XIX; Stierling (Anm. 1), S. 39; sowie Tillmann (Anm. 1), S. 5: „Auch pflegt sie häufig Kapitel in Prosa gegen Schluß zu reimen.“ 68 Entsprechend den oben dargelegten Prämissen wird das Fließende Licht nach der Ausgabe von Vollmann-Profe zitiert, vgl. dies., Ed. Mechthild (Anm. 13). Neben Buch (römisch) und Kapitel (arabisch) sind Seite und Zeile der Ausgabe angegeben. Überschreibungen werden aufgelöst; die auf der Handschrift basierende diakritische Markierung des für die Umlaute von mhd. /u/ und /û/ ist beibehalten. Kolonreime werden in diesem Beitrag gegen die Ausgabe immer hervorgehoben. 69 Neumann, Ed. Mechthild Bd. 1 (Anm. 4), S. 19,77. 70 Vgl. die Schlusspassagen von I,28; I,44; II,1; II,2; III,1; III,3; III,22; III,23; III,24; IV,2; IV,3; IV,4; IV,27; VI,29; sowie den abschließenden Mariengruß in VII,26. 71 Vgl. den analogen Befund für Texte Bernhards von Clairvaux bei Dorette Sabersky-Bascho: Studien zur Paronomasie bei Bernhard von Clairvaux, Freiburg i. d. S. 1979 (Dokimion 5), S. 152, zur Verdichtung von Paronomasien am Kapitel- oder Abschnittsende.

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zentral ist.⁷² Die Memorierbarkeit als eine der Kernleistungen des Reims arbeitet in diesen Fällen einer Memorierbarkeit der Inhalte zu. Aufschlussreicher ist eine zweite dominante Verwendung des Kolonreims, die ebenfalls Morel beobachtet hat: Er notiert, dass reimende Partien insbesondere dort zu finden seien, „wo Personen redend eingeführt werden.“⁷³ Und in der Tat lässt sich zeigen, dass der Kolonreim ein Stilmittel des dramatischen Dialogs ist. Schon das erste Kapitel des ersten Buches, ein Dialog zwischen Minne und der als kúneginne apostrophierten Seele, macht dies deutlich.⁷⁴ Hier sind jeweils der Redeimpuls der Seele und die Antwort der Minne durch Reim verbunden.⁷⁵ Ganz grundsätzlich wird so die dialogische Bezogenheit der Aussagen betont. Besonderes Profil gewinnt dieses Verfahren jedoch dort, wo der Dialog zu einer dialektischen Verlust-GewinnBilanz für die Seele wird: So steht dem Verlust der unschuldigen Kindheit der Gewinn der himmlischen Freiheit gegenüber (kintheit – vriheit, I,1; 18,28 und 30), dem Verlust der Jugend der Gewinn heiliger Tugenden (jugent – tugent, 20,1 und 3), körperlichen Gebrechen (krankheit) der Gewinn von Erkenntnis (bekantheit, 20,11 und 13). Die körperliche Aufopferung erwirkt der Seele schließlich die Aufnahme bei oder in Gott (bluot – got, 20,14 und 16). Auch der energischen Bitte der Seele, die Minne möge diese Verluste noch einmal aufwiegen, wird im Reim entsprochen, wenn sich die Minne der Seele selbst anbietet (gelten  – selben, 20,18  f.). Der abschließende Sprecherwechsel setzt schließlich der ausgeglichenen Bilanz in ertriche (20,20  f.) die Gewinne im Reich Gottes entgegen (got und alles sin riche, 20,22  f.). Der Endreim bindet hier nicht nur die Sprecherwechsel von Seele und Minne aneinander, sondern pointiert über die Reimworte auch die Dialektik der Positionen.⁷⁶ In anderen Fällen ist die Verwendung des Kolonreims in direkten Reden zunächst einmal schlichter: Der Reim fungiert dann vor allem dazu, die Aussage eines Sprechers zu einer semantischen Einheit zu binden. Diese Praxis eines paradigmatischbindenden Reimgebrauchs lässt sich am Beispiel des Dialogs zwischen der Minne und der stumpfen Seele in Kapitel  II,23 zeigen.⁷⁷ Komplexer wird sie hier dadurch, dass bisweilen ein Stichwort aus der vorhergehenden Rede aufgenommen und für die

72 Vgl. Gisela Vollmann-Profe: Stellenkommentar. In: dies., Ed. Mechthild (Anm. 13), S. 700–854, hier S. 715 (Kommentar zu S. 42,35  f.). 73 So Morel (Anm. 1), S. XIX, dem in dieser Beobachtung bislang, soweit ich sehe, niemand gefolgt ist. 74 Vgl. I,1; 18,15–20,23. 75 Vgl. schon die Begrüßungen, I,1; 18,17  f. 76 Vgl. zu diesem Dialog Linden (Anm. 1), S. 368  f.; Suerbaum (Anm. 41), S. 244  f. 77 II,23; 114,25–118,32. Vgl. zu diesem Dialog die subtile Analyse von Michel (Anm. 41), der für seine Beobachtungen zur dynamischen Entwicklung des Dialoggeschehens auch auf den Reimgebrauch hinweist (ebd., S. 50; S. 52–54; S. 56  f.; S. 62); zum „Gegensatz von monastischer Lebensform und status Beginagii“ Susanne Köbele: Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache, Tübingen, Basel 1993 (Bibliotheca Germanica 30), S. 82–84, Zitat S. 82.

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Reimbindung der Folgerede produktiv gemacht wird: Die paradigmatisch-wiederholende Funktion des Reims wird auf diese Weise für die syntagmatische Verknüpfung der Sprecherbeiträge fruchtbar gemacht.⁷⁸ Der Dialog II,23 macht sich diese beiden komplementären Prinzipien zunutze, indem er mit ihnen statische Beharrung oder aber dynamische Entwicklung im Dialoggeschehen unterstreicht. Auf die Aussage der Seele, sie sei durch ihr geistliches Leben und die asketischen Praktiken ausreichend auf das Bemühen um Sündenfreiheit verpflichtet (ich bin ane hovbtsúnde, ich bin gnuog gebunden, II,23; 114,32  f.), antwortet die Minne, indem sie das Stichwort der Bindung aufnimmt und mit dem Reimwort gedanklich weiterentwickelt: Was hilfet, das man ein ital vas vil bindet und das der win doch us rinnet? So muos man es fullen mit steinen der uswendigen arbeit und mit eschen der vergenglicheit. (II,23; 116,1–3)

Die uneinsichtige, renitente Seele beharrt zunächst auf ihrer bisherigen Ausrichtung auf irdische mage und geistliche vrúnde, greift jedoch mit ihrer Frage nach der Erkenntnis Gottes die Einwände der Minne auf. Hörbar wird diese Einlassung auf die Gegenposition durch die Wiederaufnahme des durch binden und rinnen eingeführten Klangkomplexes: Ich wonen in der wollust miner mage und miner lieben geistlichen vrúnden, und wie moehte ich den lustlich minnen, den ich nit erkenne? (II,23; 116, 4–6)

Die rhetorische Gegenfrage der Minne weitet den Paar- zum Tiradenreim. Dabei macht sie den direkten Bezug zur Rede der Seele durch den grammatischen Reim besonders wahrnehmbar: „Owe, kanst du den herren nit erkennen, den man dir so dikke lieplich nemmet?“ (II,23;116,7  f.). Im Anschluss hieran formuliert sie ihren zentralen Vorwurf an die stumpfe Seele: „Du bist me bekúmbert mit dinem huntlichen lichamen denne mit Jhesu, dinem suessem herren; des gewinnestu vor sinen ovgen niemer ere“ (II,23; 116,8–10). Im Zusammenhang des Redebeitrags fällt dieser Vorwurf aus den klanglich gebundenen Aussagen von Anfang und Schluss (erkennen  – nemmet; herren  – ere) heraus, denn lichamen erhält hier fürs Erste kein Reimwort. Die Schwere des Vorwurfs wird so durch die klangliche Sonderstellung des Wortes unterstrichen. Zugleich bewirkt der Vorwurf eine Verhärtung der Dialogpositionen, die das Prinzip einer klanglichen Verknüpfung der Sprecherbeiträge ganz aufgibt. Beide Sprecherinnen formulieren je einen durch Kolonreim gebundenen, apodiktischen Satz. Die kontrastive Klanglichkeit beider Aussagen hebt dabei ihre inhaltliche Gegensätzlichkeit hervor: [Stumpfe Seele] „Ich leben mines eignen willen, das ich den gerne vollebringe.“ [Minne] „Wiltu got rehte trúwe leisten, so soltu in siner liebin volgen sinem geiste.“ (II,23; 116,11–14)

78 Michel (Anm. 41), S. 55  f., spricht von Paronomasien, „die oft den Gedanken am Sprachlaut weiterführen“ (S. 56). Das Verfahren ist für Bernhard von Clairvaux beschrieben worden, vgl. SaberskyBascho (Anm. 71), S. 135–152, zur „syntaktischen Struktur der Paronomasien“.

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Die Gegenrede der Seele gibt die Reimbindung ganz auf.⁷⁹ Die völlige Reduktion aller geistlichen Ambitionen stellt einerseits einen denkbar großen Gegensatz zu den Forderungen der Minne dar. Andererseits ist dieser Moment des stärksten Gegensatzes aber auch der der größten Übereinstimmung, denn die Seele schreibt sich den Vorwurf der Minne jetzt aus eigenen Stücken zu: Die Wiederholung des Leitstichworts lichamen, das in beiden Einzelreden zunächst klanglich erratisch bleibt, macht diese Verbindung trotz der Weiträumigkeit deutlich. Mit der Antwort der Minne erreicht der Dialog dann seinen Umschlagpunkt:⁸⁰ Der programmatische Tiradenreim (schammen  – namen  – lichamen) nimmt die bisherige Reimpraxis wieder auf und knüpft zudem an das vorausliegende Kolon an. Zugleich wird die im Stichwort lichamen symbolisierte Selbstverhaftetheit der Seele in der klanglichen Engführung der Reimworte sowohl mit ihrem Gegenkonzept, dem (geistlichen) namen, konfrontiert als auch sozialmoralisch bewertet (schammen). Diese gleichermaßen argumentative und klangliche Einbindung des Leitstichworts lichame scheint seine geistliche Bewertung für die stumpfe Seele allererst wahrnehmbar zu machen: Jedenfalls nimmt ihr weiterer Weg zu Einsicht und Umkehr von diesem Passus seinen Ausgang.⁸¹ Die beiden Beispiele machen deutlich, dass die Verwendung der Kolonreime im Fließenden Licht zwar ungleichmäßig, aber nicht unsystematisch erfolgt. Aus der Perspektive rhetorischer Stilistik kommen dem Reimschmuck präzise Funktionen zu, indem er dazu beiträgt, semantische Zusammenhänge, syntagmatische Verknüpfungen und kontrastive Positionen zu pointieren.

4 Reim als stimmlicher Klang: Zur ästhetischen Wirkung der Kolonreime Über die Befunde zu den konkreten rhetorischen Funktionen der Kolonreime hinaus ist im Sinne der Ausgangshypothese zu fragen, ob sich ein poetisches Prinzip benennen lässt, das die ästhetische Wirkung der Reime beschreibt. Der Vorschlag hierzu lautet, dass die Reimauszeichnung direkter Rede vorrangig darauf zielt, den sprachlichen Äußerungen der Sprecher eine sinnlich wahrnehmbare, stimmliche Qualität zu verleihen. Der Endreim im Fließenden Licht wäre damit als Möglichkeit aufzufassen, die klangliche Qualität von Stimmen auf eine Weise wahrnehmbar bzw. hörbar zu machen, die sich auch im schriftlichen Text fixieren lässt.

79 Ich ruowen in der welte mines lichamen (II,23; 116,15). 80 Des maht du dich hútte vor gotte schammen, das du doch treist geistlichen namen und gast doch alles umbe mit dinem lichamen (II,23; 116,16–18). 81 Michel (Anm. 41) zeichnet diesen Prozess exakt nach. Zur Performativität der Konversion der Seele im und durch den Dialog zusammenfassend S. 63  f.

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Dieses mit den Kolonreimen verbundene ästhetische Programm zeigt sich etwa am Schluss von Kapitel  II,2. Dort wird besonders deutlich, dass Reime im Fließenden Licht stimmlichen Klang symbolisieren. Im Verlauf von Kapitel II,2 kommen die beiden oben skizzierten Verwendungszusammenhänge für Kolonreime zur Deckung, insofern hier, wie häufiger im Fließenden Licht, eine Aussage in direkter Rede das Kapitel beschließt.⁸² Kapitel  II,2 bietet laut Überschrift zwei[…] liederen der minne (II,2; 76,12  f.). Zwei Lieder, besser: Strophen, lassen sich allerdings nur durch die Umstellung der folgenden Überschrift im Text von E generieren.⁸³ Die zweite dieser Strophen ist eine Klage der Seele, die in einen Dialog mit dem Heiligen Geist einmündet. Er trägt ihr auf, sich zur Vorbereitung auf die Ankunft ihres Geliebten zu waschen, zu begießen, das Lager zu bereiten und Blumen zu streuen. Die Antwort der Seele ist zugleich der Abschluss des Kapitels. Sie beginnt in Prosa, die durch vier parallele Bedingungssätze strukturiert ist, und geht dann in rhythmische Reimprosa über, die man auch als Verse auffassen kann: Wen ich wúsche, so muos ich mich schamen, so ich begússe, so muos ich weinen, so ich betten, so muos ich hoffen, so ich bluomen briche, so muos ich minnen. Swenne min herre kumt, so kum ich von mir selben, wan er bringet mir so mangen suessen seitenklang, der mir benimet allen mines fleisches wank, und sin seitenspil ist so vol aller suessekeit, da mit er mir benimet alles herzeleit. (II,2; 78,23–29)

Dieser abschließende Sang der Seele bildet das inhaltliche und formale Gegenstück zur vorherigen Liebesklage, mit der die Seele ihr Leid auf Grund der Abwesenheit des Geliebten zum Ausdruck bringt.⁸⁴ Unter Anleitung des Heiligen Geistes findet die Seele ins musikalische Medium zurück, diesmal in hoffender Erwartung des Geliebten. Sie setzt damit jenes Programm des Singens und Liebens um, das sie in der Klage in loser Anlehnung an den Minnesang formuliert hatte: Die nahtegal dú muos ie singen, / wan ir nature spilet von minnen al; / der ir das beneme, so were si tot (II,2; 78,10–12). Rhythmus und Klang ihrer abschließenden Hoffnungsverse verweisen aber nicht nur zurück auf die überwundene Form der Klage, sondern deuten auch voraus auf die ebenfalls musikalisch medialisierte Ankunft des Geliebten, dessen suesser seitenklang das herzeleit der klagenden Seele für immer tilgen kann. Die Stimme der Sprecherin nimmt dabei den instrumentalen Klang der Ankunft des Herrn in ihren Reimen vorweg, so dass die Botschaft im Medium der Aussage bereits enthalten ist.⁸⁵

82 II,2; 76,14–78,29, hier 78,23–29. Mit direkter Rede schließen auch die Kapitel I,44; III,1; III,22; III,23; IV,4; IV,17; VII,26. 83 Vgl. Hs. E (Anm. 21), fol. 17r-v; sowie Hans Neumann: Anmerkungen zum Text. In: ders., Ed. Mechthild Bd. 2 (Anm. 3), S. 3–167, hier S. 29  f. (Anm. zu II,2, 17); und Vollmann-Profe (Anm. 72), S. 725  f. (Kommentar zu 76,12–78,29). 84 Vgl. II,2; 76,29–78,13. 85 Eine formanalytische Edition im Sinne Ohlys (Anm. 52) könnte das Ergebnis dieser Deutung sichtbar machen, indem sie die vier paarreimenden Kola des Schlusssatzes als Verse setzt und so den

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5 Fazit: Stimmlicher Klang als wechselseitige beruerunge der Sprecher Das gewählte Beispiel legt den Verdacht nahe, der Einsatz von Kolonreimen im Fließenden Licht sei ein Merkmal der ersten Bücher: Als poetisches Verfahren zur Auszeichnung klanglicher Stimmqualität flankiere und ergänze es dort die Vielfalt lyrisch-hymnischer Formen und die expressive, brautmystisch konnotierte Liebessprache.⁸⁶ Das ist einerseits richtig, insofern die ersten Bücher besonders dialog- und damit stimmreich sind; andererseits aber ist eine solche Annahme verkürzend, denn Kolonreime finden sich ebenso in den späteren Büchern, denen man mit Gründen einen gesetzteren ‚Altersstil‘ zuschreibt.⁸⁷ Auch hier markieren sie vielfach den stimmlichen Klang einzelner Figurenreden. Dass die Verwendung der Kolonreime nicht auf den brautmystischen Diskurs der ersten Bücher beschränkt ist, sondern sich auch auf jene Passagen erstreckt, in denen die minnende Seele die Nähe zu Gott aufgibt und in einem Akt selbstgewählten Absinkens größtmöglichen Abstand von ihm sucht, macht das Kapitel IV,12 augenfällig. Es beschreibt den Abstieg der Seele in die Finsternis der Gottferne, der gottes vroemdunge.⁸⁸ Der Abstieg wird durchgehend von dialogischer

Bezug zu den vorausgehenden lyrischen Formen verdeutlicht. Die Verbindung von lyrischem Sprechakt, regelmäßigem Reim und selbstreferentiellem Hinweis auf die klangvolle Ankunft des Herrn dürften für eine solche Entscheidung hinreichende Argumente sein. – Grundsätzlich bedürften Referenzen auf Klangphänomene wie die ästhetische Wirkung der menschlichen oder göttlichen Stimme, das Zusammenspiel von stimme und wort, aber auch die Bedeutung englischen Sangs und himmlischer Instrumentalmusik für das Fließende Licht einer eigenen Untersuchung, vgl. die Belege bei Grete Lüers: Die Sprache der deutschen Mystik des Mittelalters im Werke der Mechthild von Magdeburg. Unveränderter reprographischer Nachdruck der Ausgabe München 1926, Darmstadt 1966, S. 229–232; zur Musikmetaphorik schon Margot Schmidt: Versinnlichte Transzendenz bei Mechthild von Magdeburg. In: Minnichlichiu gotes erkennusse. Studien zur frühen abendländischen Mystiktradition. Heidelberger Mystiksymposium vom 16. Januar 1989. Hrsg. von Dietrich Schmidtke, Stuttgart, Bad Cannstatt 1990 (Mystik in Geschichte und Gegenwart I, 7), S. 61–88, bes. S. 80–83; präziser zur „Musikalität als Kategorie des Lyrischen“ Linden (Anm. 1), S. 370–380, das Zitat S. 370; für ein Fallbeispiel aus dem Fließenden Licht zum Desiderat stimmlichen Klangs in der Schrift vgl. Caroline Emmelius: süeze stimme, süezer sang. Funktionen von stimmlichem Klang in Viten und Offenbarungen des 13. und 14. Jahrhunderts. In: LiLi 171 (2013), S. 64–85, hier S. 67–71. 86 Zusammenfassend zu den ersten Büchern des Fließenden Lichts Ruh (Anm. 13), S. 261–270; Burkhard Hasebrink: Das Fließende Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg. Eine Skizze. In: Bete und Arbeite! Zisterzienser in der Grafschaft Mansfeld. Hrsg. von Esther Pia Wipfler in Zusammenarbeit mit Rose-Marie Knape, Halle a. d. S. 1998, S. 149–159, hier S. 151–154. 87 Das Stichwort des Altersstils bei Mohr (Anm. 1), S. 378; die Beobachtung stilistischer Divergenz u.  a. auch bei Gisela Vollmann-Profe: Mechthild – auch „in Werktagskleidern“. Zu berühmten und weniger berühmten Abschnitten des Fließenden Lichts der Gottheit. In: Mystik. Hrsg. von Christoph Cormeau. ZfdPh 113 (1994), Sonderheft, S. 144–158. Ein analoger Befund hinsichtlich des „Lyrische[n] als Ausdrucksform“ bei Linden (Anm. 1), S. 375. 88 IV,12; 258,4–264,31, Zitat 262,15 u. ö. Zu diesem Kapitel Ruh (Anm. 13), S. 271–273; Haas (Anm. 13), S. 85–93, bes. S. 92, fasst das Absinken der Seele als imitatio Christi auf.

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Interaktion mit verschiedenen Gesprächspartnern (u.  a. den creaturen, Gott selber, dem ungelovben, der pine) begleitet, die der Seele beständige Reflexion und als Boten immer wieder auch den Kontakt zu Gott ermöglichen. Die Reimverwendung in diesem Kapitel ist sehr uneinheitlich. Konsequente Markierung direkter Rede ist nicht zu beobachten, neben gelegentlichen Reimen intensiviert sich der Reimgebrauch jedoch in einzelnen Sprecherbeiträgen,⁸⁹ so auch in der abschließenden Rede der Seele, in der sie zunächst die „selige gotz vroemdunge“ (IV,12; 264,24) apostrophiert, von der sie zuvor ganz umfangen wurde (IV,12; 262,15  f.): Eya, selige gotz vroemdunge, wie minnenklich bin ich mit dir gebunden! Du stetigest minen willen in der pine und liebest mir die sweren langen beitunge in disem armen libe. Swa mitte ie ich mich me zuo dir geselle, ie got grossor und wunderlichor uf mich vallet. (IV,12; 264,24–28)

Die Seele umkreist hier das Paradox, dass Gott sie trotz ihrer zunehmenden, willentlichen Entfernung von ihm immer mehr überwältigt.⁹⁰ Zwar nimmt die Gottferne die Stelle des göttlichen Geliebten ein, festigt ihren Leidenswillen und macht ihr das Ausharren im irdischen Körper angenehm. Aber gerade der liebevolle Umgang mit der gottes vroemdunge bewirkt doch nur, dass Gott umso grossor und wunderlichor über die Seele herfällt.⁹¹ Die Seele, die sich bislang gegen jeden Versuch der Tröstung verwahrt hatte, erkennt, dass sie Gottes Liebe nicht entkommen kann: O herre, ich kan dir in der tieffi der ungemischeten diemuetekeit nit entsinken; ovwe ich dir in dem homuote lihte entwenke! Mere ie ich tieffer sinke, ie ich suessor trinke. (IV,12; 264,28–31)

Auch die Erkenntnis, dass man sich zwar von Gott im Hochmut entfernen, ihm aber nicht in Demut verloren gehen, entsinken, kann, mündet in ein Paradox: Die absinkende Entfernung von Gott, der Verlust seiner unmittelbaren, liebenden und tröstenden Nähe, ist zugleich als körperliche Inkorporationserfahrung ein ästhetischer, süezzer Gewinn.⁹² Die sprachliche Form der Seelenrede, der Adressatenwechsel von der vroemdunge gottes hin zu Gott selbst und die Reimauszeichnung, arbeitet diesem paradoxalen Gottesverhältnis der Seele zu. Die Assonanzen und Reime wiederholen nicht nur die Leitstichworte des Kapitels (vroemdunge – beitunge; pine – libe; entsinken – entwenken), sie pointieren auch die Paradoxe (geselle – vallet; tieffer sinke – suessor trinke).

89 Etwa in der Antwort der Braut auf die Frage, ob Gottes Sohn sie trösten könne (IV,12; 258,24–33) oder in der Rede des Herrn an die pine als Botin der Seele (IV,12; 264,9–16). 90 Das Gewaltsame dieses Zugriffs Gottes auf die Seele betont Haas (Anm. 13), S. 92  f. 91 Haas übersetzt diese Formulierung mit „mächtiger und seltsamer“, vgl. ders. (Anm. 13), S. 92. 92 Vgl. auch Ruh (Anm. 13), S. 273: „Die Gottesfremdheit bringt das, was die Seele von sich gewiesen hat: Trost, die Bindung an sie ist wiedererlangte Gottesnähe, das ‚tiefer sinken‘ erneute Süßigkeit. Der Weg in die Gottesfremdheit erweist sich als der eigentliche Weg zur Gottesliebe.“ Im Ergebnis ähnlich Haas (Anm. 13), S. 92  f., der das Paradox jedoch anders begründet.

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 Caroline Emmelius

Schließlich hebt der Eingangsreim vroemdunge – gebunden sowohl auf der Wort- als auch auf der Klangebene die verbindende Funktion der Sprache selbst hervor:⁹³ Denn die Rede der Seele transformiert nicht allein eine gewonnene Einsicht in sprachliche Zeichen, vielmehr erweist sich deren klanglich-symbolische Vermittlung als das eigentliche Kontaktmedium zu Gott. Die durch Reimklänge in ihrer Stimmlichkeit ausgezeichnete Sprache der Seele korreliert mit der auch in der selbstgewählten Entfernung von Gott erfahrenen, unendlichen Liebe. Sofern die Seele nur ihre Stimme erklingen lässt, vermag sie einen unmittelbaren Kontakt zu Gott herzustellen;⁹⁴ sie berührt ihn, so wie sie sich im Gegenzug durch seine Stimme rüeren lässt.⁹⁵ Die Reimbindung macht insofern akustisch wahrnehmbar, dass die Seele und Gott einander auch in der größten Entfremdung über den Klang ihrer Stimmen verbunden bleiben. Diese Auffassung des stimmlichen Klangs als Medium wechselseitiger Berührung von Gott und Seele stützt ein Abschnitt desselben Kapitels, in dem eine IchStimme, die vermutlich mit der Figur der Seele zu identifizieren ist, davon spricht, sie sei unwürdig, Gott zu loben.⁹⁶ Stattdessen sendet sie alle Geschöpfe an seinen Hof, damit sie got fúr mich loben mit aller ir wisheit, mit aller ir minne, mit aller ir schoeni und mit aller ir gerunge, als sie unverboeset von gotte waren geschaffen, und ovch mit aller ir stimme, als sie nu singent. (IV,12; 260,2–5)

Angesichts dieses umfassenden ästhetischen Gotteslobs empfindet die Seele zwar keinen Schmerz (IV,12; 260,6). Nachhaltig berührenden Trost vermag ihr jedoch nur

93 Vgl. Haas (Anm. 13), S. 128–135, bes. S. 131  f., zur Poetizität der Sprache des Fließenden Lichts, für die insbesondere die Reime ein Indiz sind. Dass „in der Beschreibung der Trennung die sinnliche Einigungssprache präsent ist, […] die Sprache die Einheit anstrebt“, betont gerade für Kapitel IV,12 Köbele (Anm. 77), S. 95. 94 Die These, dass der stimmliche Klang ein Kontaktmedium mit unmittelbarer Wirkung ist, der sich der jeweilige Hörer nicht entziehen kann, bei Paul Zumthor: Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft, München 1994 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 18), S. 30–33, S. 79–98; sowie ders.: Einführung in die mündliche Dichtung, Berlin 1990, S. 11–16, hier S. 14: „der vokalisierte Ton geht vom Innern zum Innern, ohne weitere Vermittlung verbindet er zwei Lebewesen“; und S. 133–171; für die Frage nach generischen und medialen Interferenzen ist sie neuerdings fruchtbar gemacht bei Hartmut Bleumer: Gottfrieds Tristan und die generische Paradoxie. In: PBB 130 (2008), S. 22–61, bes. S. 32  f., S. 40  f.; ders.: Das Echo des Bildes. Narration und poetische Emergenz bei Heinrich von Morungen. In: ZfdPh 129 (2010), S. 321–345, bes. S. 326  f. und S. 343. Die Beobachtung korreliert mit grundsätzlichen Überlegungen zum Dialog als zentralem Medium des Gotteskontakts im Fließenden Licht, vgl. bes. Haug (Anm. 41) und Dicke (Anm. 41). 95 Vgl. für Kapitel IV,12 zum einen den reimlosen Versuch Gottes, der Seele im Prozess ihres selbstgewählten Absinkens nachzugehen und sie gleichsam zur Rede zu stellen, sowie seine reimende Antwort auf die pine als Botin der Seele, über die schließlich die Einsicht der Seele bewirkt wird. 96 IV,12; 258,34–260,12.

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der Geliebte selbst zu stiften,⁹⁷ für den seinerseits gilt: „Got hat alles dinges genuog, sunder alleine der beruerunge der sele wirt im niemer genuog“ (IV,12; 260,10–12). Der perfekte Lobgesang der reinen, liebenden creaturen kann trotz seiner Schönheit somit nicht ersetzen, was für das Fließende Licht als das Proprium der (unwürdigen) minnenden Seele gelten muss: mit Gott in dialogischen Kontakt zu treten, der als sprachlicher vor allem auf die wechselseitige Berührung der Stimmen setzt.⁹⁸ Die Kolonreime erfüllen im Fließenden Licht demnach nicht nur ganz spezifische rhetorische Funktionen in der dialogischen Interaktion, sie verleihen dem Text darüber hinaus eine ästhetische Dimension, indem sie die klangliche Qualität dialogisch verbundener Stimmen allererst sinnlich wahrnehmbar machen.⁹⁹ Dabei lassen sich die Beobachtungen zur Reimverwendung gerade nicht mit der Frage nach den lyrischen Formen im Fließenden Licht verrechnen; im Gegenteil: Es könnte vielmehr lohnend sein, weiter darüber nachzudenken, ob über den Gebrauch von Anapher und Endreim nicht präziser als bislang angenommen zwischen dezidiert hymnischen Formen und Reimprosa unterschieden wird. Dass die Reimprosa dabei partiell in metrisch gebundene Reimverse übergehen kann, muss zu dieser Unterscheidung nicht im Widerspruch stehen. Reimverse sind zunächst einmal ein weiteres Ausdrucksmedium im Rahmen jener generischen Vielfalt, die Schreib- und Sprechweisen des Fließenden Lichts auszeichnet, freilich eines, das der dialogischen Reimprosa näher steht als der anapherierenden Apostrophe des Hymnus. Insofern wäre zu prüfen, ob der endreimende Vers im Fließenden Licht intertextuell nicht vor allem auf die reimenden Formen volkssprachlichen Sangs zu beziehen ist, während der anapherierende Vers auf biblische und liturgische Prätexte wie Psalter und Hymnus verweist.¹⁰⁰ Entscheidend aber ist, dass alle drei Verfahren (anapherierende Verse, Prosareim, Reimvers), unabhängig davon, welchem generischen Diskurs sie zuzuordnen sind, die im Text vernehmbaren Stimmen poetisch aufwerten und auf diese Weise einer klanglichen Intensivierung des Textes zuarbeiten. In dieser Perspektive sind Reim und Anapher weder rein äußerlicher Ornat, noch Stilmittel, die allein rhetorische Funktionen erfül-

97 IV,12; 260,6–8: „Ich mag ovch des nit erliden, das mich ein einig trost beruere denne alleinig min lieber.“ 98 Vgl. die Zusammenstellung der Belege zu rüeren bei Lüers (Anm. 85), S. 243  f.; bes. die Hinweise auf VI,1; 426,1–5 und VI,39; 512,6–9, wo explizit von einem rüeren durch stimmlichen Klang die Rede ist. 99 Dieses ästhetische Klangpotential kann, muss aber nicht zwangsläufig ein Argument dafür sein, sich den Text mündlich vorgetragen zu denken, denn auch im Lektüreprozess lässt es sich über die innere Stimme realisieren. Für das Fließende Licht wird man sicher von beiden Rezeptionsmodalitäten auszugehen haben, vgl. u.  a. Suerbaum (Anm. 66). 100 Anhand eines solchen differenzierenden intertextuellen Modells wären die Befunde von Mohr (Anm. 1) zu den lyrischen Formen im Fließenden Licht noch einmal neu zu diskutieren. Auf die „von der Poesie der Psalmen getragene[] hymnische[] Grundstruktur“ des Textes weist nachdrücklich bereits Köbele (Anm. 77), S. 73, hin. Zur anapherierenden Gestaltung von Apostrophen etwa bei Johannes von Fécamp vgl. den Hinweis bei Sabersky-Bascho (Anm. 71), S. 219, Anm. 473.

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 Caroline Emmelius

len. Mit der Auszeichnung stimmlichen, sanglichen und hymnischen Klangs symbolisieren sie vielmehr die dem Dialog der Stimmen verpflichtete Poetik des Textes.¹⁰¹ Dass eine solche dialogische Klangpoetik nicht nur philologisches Konstrukt ist, sondern schon von den historischen Rezipienten des Textes wahrgenommen wurde, lässt sich einer Äußerung Heinrichs von Nördlingen entnehmen, die in einem Brief an die Medinger Nonne Margaretha Ebner dokumentiert ist.¹⁰² Heinrich schickt Margaretha die obd. Bearbeitung des Fließenden Lichts, mithin eine Fassung, die hinsichtlich der klanglichen Qualität im Vergleich mit der niederdeutsch-mitteldeutschen Vorlage gravierend verändert worden sein dürfte.¹⁰³ Der ästhetischen Wirkung des Textes kann dies in den Augen und Ohren Heinrichs keinen Abbruch getan haben,¹⁰⁴ denn er bittet Margaretha, sie möge vor ihrer Lektüre dem Heiligen Geist, Gott und Maria Gebete entrichten, insbesondere aber sieben Paternoster und sieben Ave Maria sprechen für jene „junckfrouliche[] himelsche[] orgelkunigin, durch die got ditz himelschs gesang hat usz gesprochen“.¹⁰⁵

101 Zur klangintensiven Sprache des Fließenden Lichts Haas (Anm. 13), S. 129  f.; analog der Befund für Bernhard von Clairvaux bei Sabersky-Bascho (Anm. 71), S. 215–221, bes. S. 219, mit Hinweisen zu den literarischen Traditionen, in denen eine solche poetisch-mystische Sprache steht. 102 Margaretha Ebner und Heinrich von Nördlingen. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mystik. Hrsg. von Philipp Strauch, Freiburg, Tübingen 1882, Neudruck Amsterdam 1966, S. 242–247 (Brief 43 [1345]). 103 Vgl. den Hinweis ebd., S. 247,136–138: „wan es ward uns gar in fremdem tützsch gelichen, das wir wol zwai jar flisz und arbeit hetint, ee wirs ain wenig in unser tützsch brachtint.“ Hierzu Neumann (Anm. 65), S. 160–163; sowie Nemes (Anm. 13), S. 31–34. 104 Schenkt man der in Anm. 63 zitierten These von Gottschall zur Vorliebe der alemannischen Bearbeiter für die ästhetische Dimension des Textes Glauben, wäre vielmehr das Gegenteil der Fall. 105 Margaretha Ebner und Heinrich von Nördlingen (Anm. 102), S. 246,128–130.

Volker Mertens

‚Musikalischer Stil‘ in mittelalterlicher Literatur Musikalität wird vielen literarischen Texten zugeschrieben  – Gottfrieds von Straßburg Tristan,¹ Clemens Brentanos Liedern,² Rainer Maria Rilkes Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke,³ Thomas Manns Romanen.⁴ Viele Werke lassen sich aufführen, wenig Einheitliches findet man, was denn nun ‚Musikalität‘ sei. Ist es eine besondere Klanglichkeit, geht es um Melodisches und Rhythmisches wie bei den genannten Lyrikern? Intensiviert sie die Aussage durch lautsymbolische Klanglichkeit, das irisierend verführerische lange ‚i‘, wie es Goethe im Erlkönig tut? ‚Du liebes Kind, komm, geh mit mir! Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir.⁵

Macht sich Arthur Rimbaud über solche Bedeutungsklänge lustig? A noir, E blanc, I rouge, U vert, O bleu, voyelles, Je dirai quelque jour vos naissances latentes.⁶

1 Gottfried von Strassburg: Tristan und Isold. Hrsg. von Walter Haug/Manfred Günter Scholz. Mit dem Text des Thomas hrsg., übers. und komm. von Walter Haug, 2 Bde, Berlin 2011 (Bibliothek des Mittelalters 10; 11). 2 Wolfgang Kayser: Wiegenlied von Clemens Brentano. In: Begegnung mit Gedichten. 66 Interpretationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Mit einem Essay von Benno von Wiese. Hrsg. von Walter Urbanek, 3. neubearb. Aufl., Bamberg 1977, S. 76–78. – Bettine Menke: Prosopopoia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München 2000. 3 Rainer Maria Rilke: Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. Text-Fassungen und Dokumente. Bearb. und hrsg. von Walter Simon, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1985 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 190). 4 Werner Frizen: Thomas Manns Sprache. In: Thomas-Mann-Handbuch. Hrsg. von Helmut Koopmann, 3. Aufl., Stuttgart 2001, S. 854–873, hier S. 863. Nicht selten werden musikalische Termini rein metaphorisch verwendet, wenn man von „Kontrapunktik“ oder „Leitmotivtechnik“ spricht. Emile Zola hat wie Thomas Mann letztere für sich in Anspruch genommen. Man wird sie von den stehenden Beiwörtern oder festen Formulierungen zugunsten ‚leitender‘ Motive abzugrenzen haben. Die Differenzierungen von Steven Paul Scher: Verbal Music in German Literature, New Haven 1968 (Yale Germanic Studies 2) – vgl. die Diskussion in: Word and Music Studies. Essays in Honor of Steven Paul Scher and on Cultural Identity and the Musical Stage. Hrsg. von Suzanne M. Lodato/Suzanne Aspden/Walter Bernhart, Amsterdam, New York 2002 – sind für meine Fragestellung wenig produktiv. 5 Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14  Bänden. Hrsg. von Erich Trunz, Bd. 1: Gedichte und Epen I, 16., durchges. Aufl., München 1996, S. 154  f. 6 Arthur Rimbaud: Œuvres, Paris 1924 (Mercure de France), S. 93.

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Welche ,Latenzen‘ werden offen gelegt, wenn wir die Klangdimension eines Textes mit der Stimme oder klingend im Kopf reaktivieren und nicht schriftfixiert eine bedruckte Seite stumm anstarren? Oder geht es um eine, wie man annimmt, der Musik eigentümliche Bauart? Ist Musikalität also ein textstrukturierendes Mittel wie der Reim in Vers und Strophe? Zwei Bedeutungsdimensionen von ‚Musikalität‘ zeichnen sich ab: eine klangbezogene und eine strukturbezogene, wobei, wie ich zeigen will, auch der Klang strukturbildend wirkt. Ich schließe jedoch die metaphorische Bedeutung von ‚Leitmotivtechnik‘ mit stehenden Redewendungen, Beiwörtern oder Charakterisierungen aus, wie Thomas Mann sie liebt, denn das ist keine spezifisch musikalische Technik. Entsprechendes gilt für Versuche, Erzählstrukturen mit musikalischen Termini zu bezeichnen.⁷ Ich grenze daher im Folgenden ein, verstehe ‚musikalischer Stil‘ als vokale (oder virtuelle) Klanglichkeit, also das, was man (reine) Oberflächenphänomene nennen könnte, was sie aber, wie zu zeigen sein wird, nicht sind. Ich nutze den Zugang, den der linguistische Stilbegriff eröffnet, leite also spezifische Bedeutungen des Klangs aus der Textgestalt ab. Die betrachtete Klanglichkeit bewirkt nicht allein die Entfaltung eines (Teil-)Sinns in der Performanz (wie im Fall des Erlkönig-Zitats), sondern schafft ebenso eine Strukturierung des sprachlichen Ablaufs. Ich grenze mich allerdings ab von weitgehenden semantischen Aufladungen des Klangs als „Erkenntnisweg“ zu den „orphischen“ höchsten Bedeutungen, wie sie Anna Sziráky für Gottfrieds Tristan unternimmt.⁸ Klanglichkeit steht, wie eingangs angedeutet, der Performanz nah; diese aktualisiert die Stimme in der Schrift, privilegiert damit das (innere) Ohr vor dem Auge. Diese Performanz kann, aber muss nicht vokal realisiert sein,⁹ sondern kann auch mit der ‚inneren Stimme‘ erfolgen im Sinn einer spezifisch performativen Frömmigkeitspraxis des canere sub silentio im hochmittelalterlichen Mönchtum.¹⁰ Die ‚innere Stimme‘ hatte eine höhere Selbstverständlichkeit in einer ‚gemischten Medialität‘, die auch für die Literatur des hohen Mittelalters gilt, wo der mündliche Vortrag von Lyrik noch selbstverständlich und der von Epik zumindest noch möglich war. Konrad von Würzburg spricht im Prolog des Partonopier von edele[n] doene[n] und edele[m]

7 Das kommt gelegentlich z.  B. in der Thomas-Mann-Forschung vor, vgl. Anm. 4. 8 Anna Sziráky: Éros, Lógos, Musiké. Gottfrieds Tristan oder eine utopische renovatio der Dichtersprache und der Welt aus dem Geiste der Minne und Musik?, Bern u.  a., 2003 (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 38), S. 456–469. 9 Ursula Schäfer: Vokalität. Altenglische Dichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Tübingen 1992 (ScriptOralia 39). 10 Peter Ochsenbein: Privates Beten in mündlicher und schriftlicher Form. Notizen zur Geschichte der abendländischen Frömmigkeit. In: Viva vox und ratio scripta. Mündliche und schriftliche Kommunikationsformen im Mönchtum des Mittelalters. Hrsg. von Clemens M. Kasper/Klaus Schreiner, Münster 1997 (Vita regularis 5), S. 135–155, hier S. 138. Zu den Voraussetzungen: Clemens M. Kasper: Text und Ton. Beobachtungen zur Bewertung von Musik, Text und Sprache bei der Verschriftlichung des Chorals. In: Viva vox und ratio scripta, S. 157–176.

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wort (V. 111)¹¹ sowie von sanc unde süeze[r] rede (V. 159) und vergleicht sich im Trojanerkrieg mit der sonst als lyrischer Sängerin codierten Nachtigall.¹²

1 Gottfried von Straßburg: Kontingenz der Liebe Gottfrieds auffälliger Einsatz klanglicher Mittel hat ihm immer wieder den Ruf eingetragen, der ‚musikalischste‘ Dichter des deutschen Mittelalters zu sein.¹³ Bekannt ist zum einen der Einsatz klanglicher Mittel als Binnenreim, Vokalgleichklang und als Alliteration, zum anderen von Figura Etymologica und Annominatio, also der Verwendung eines Wortes in verschiedenen Flexionsformen beziehungsweise der Ableitung verschiedener Wortformen aus einer Wortwurzel. Sziráky spricht im ersten Fall von Klangbrücken, im zweiten von Wortbrücken.¹⁴ Beide sind nicht nur äußerer Schmuck der Rede, sondern strukturieren sie auch, wie sich am Prolog zeigen lässt.

1.1 Prolog Klangbrücken werden im Prolog vornehmlich und am deutlichsten wahrnehmbar durch die Reime gebildet. In den elf Strophen ist der ‚i-Reim‘ der häufigste. Er verbindet die Strophen 1; 3; 6; 9 und 11, bildet so neben Binnenkorrespondenzen auch den Rahmen. Der ‚a-Klang‘ schließt die Strophen 5 und 7 zusammen, der ege-Reim die Strophen 8 und 10. 1 3 6 9 11

Gedaehte mans ze guote niht, Ich hoere es velschen harte vil, Ere unde lop diu schepfen list, Cunst unde nahe sehender sin Trîbe ich die zît vergebene hin,

11 Konrad von Würzburg: Partonopier und Meliur. Turnei von Nantheiz – Sant Nicolaus – Lieder und Sprüche. Aus dem Nachlasse von Franz Pfeifer und Franz Roth hrsg. von Karl Bartsch, Wien 1871. 12 Konrad von Würzburg: Der trojanische Krieg. Nach den Vorarbeiten Karl Fromanns und Friedrich Roths zum ersten Mal hrsg. von Adelbert von Keller, Stuttgart 1858 (StLV 44), V. 182–215. Erstaunlich bleibt vor diesem Hintergrund, dass Gottfried von Straßburg in der Literaturschau des Tristan bei der Vorstellung der Epiker keine Gesangsmetaphorik einsetzt. Vielleicht wollte er so die Rolle des Klangs in seinem eigenen Werk zu Recht als Alleinstellungsmerkmal deuten. 13 Daniel Rocher: Monumenta amoris zwischen Unterhaltung und Kult. Die Funktion von Leichs und sene-maeren in Gottfrieds Tristan. In: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Kolloquium Reisensburg, 4.–7. Januar 1996. Hrsg. von Dietmar Peil/Michael Schilling/Peter Strohschneider in Verbindung mit Wolfgang Frühwald, Tübingen 1998, S. 169–180. 14 Sziráky (Anm. 8), S. 190–201.

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Tiure unde wert ist mir der man, Rehte als daz dinc z’unruoche gât, Ir ist sô vil, die des nu pflegent, Hei tugent, wie smal sint dîne stege,

Schematisch sehen die Korrespondenzen so aus: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11. Die Wortbrücken (lautliche und lexikalische Nähe) sind ebenfalls klangliche Phänomene: man – als unbestimmtes Pronomen und als Substantiv – markiert die Verse 1; 5; 10; 12; 13; 17 und 19: Gedaehte mans ze guote niht (V. 1) Der guote man swaz der in guot (V. 5) daz man doch gerne haben wil (V. 10) dâ wil man, des man niene wil (V. 12) Ez zimet dem man ze lobene wol (V. 13) Tiure unde wert ist mir der man (V. 17) der mich und iegelîchen man (V. 19)

Die Wortbrücke guot verbindet die Verse 1; 2; 4; 5 (zweimal); 6, dann, nach einer Lücke, Vers 17 sowie, wiederum unterbrochen, Vers 30 und 31: Gedaehte mans ze guote niht (V. 1) von dem der werlde guot geschiht (V. 2) Der guote man swaz der in guot (V. 5) und niwan der werlt ze guote tuot (V. 6) swer daz iht anders wan in guot (V. 7) der guot und übel betrahten kan (V. 18) daz si daz guote z’übele wegent (V. 30) daz übel wider ze guote wegent (V. 31)

werlt mit seinen Ableitungen zeichnet die Verse 2; 4; 6, dann 43; 44; 46; 49; 50; 55; 58 sowie 65 aus und bildet somit ebenfalls einen Rahmen. All dies sind eher autonome Strukturierungen als semantische Auszeichnungen, denn das Thema man, guot, werlt, wie es bereits in der ersten Strophe aufgestellt wird, ist vergleichsweise banal. Wichtig erscheint mir vielmehr, dass der strophische Prolog nicht nur die Vierreime als klangliches Gliederungsmittel aufweist, sondern darüber hinaus weiträumig strukturiert ist. Die Musikalisierung wirkt also nicht nur auszeichnend und intensivierend. Zieht man vielmehr einen Vergleich aus der Musik heran, könnte man von formalen Strukturen wie in der Sonate sprechen, und zwar im Unterschied zur narrativ-semantischen im spätromantischen Kunstlied oder in der Wagnerschen Leitmotivtechnik. Um einen der Gottfriedzeit entsprechenden Vergleich zu bemühen, wäre das Rondeau zu nennen (so etwas singen beide Isolden: V. 8077; V. 19215): es handelt sich um eine Form mit vollständiger oder annähernder Wiederholung von Binnenzeilen (A), also: a A a b A b.

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Später sind auch längere Formen bezeugt, die Binnenrefrains stehen mitunter an anderen Stellen. In meinem Zusammenhang interessiert nicht die Tatsache, dass die Refrainzeilen oft Sprichwortcharakter besitzen, Rondeaus daher so etwas wie ein Stegreifspiel mit vorgegebenem Material sein könnten, sondern dass Gleichklänge hier zur Strukturierung benutzt werden. Aus dem deutschen Minnesang ließe sich die Rundkanzone einführen mit der Wiederholung der letzten Stollen Distinktion am Schluss. Ein Beispiel dafür ist Walthers Palästinalied: a b a b / c d / b.¹⁵

1.2 Markes Maifest (V. 538–584) Gottfried nutzt Klangbrücken nicht nur strukturbildend, sondern auch im Sinn einer euphonischen Lautsemantik wie im Fall von Markes Maifest, wo nicht nur die cleinen waltvogelin (V. 549), sondern auch die Verssprache des Dichters des ôren vröude sulen sîn (V. 550). Der Klang des Diphthongs ie V. 538/39; V. 546/47; V. 564; V. 569; V. 576; V. 581/82/83/84 geht von Beginn an durch, die Nasale und Liquide V. 557/58/59/60/61/62 bilden einen Cluster. Dadurch wird die Semantik von süeze und senfte verklanglicht. Darüber hinaus gibt es eine Klang- und Wortbrücke, die allerdings sehr weit gespannt und daher unmittelbar nicht wahrnehmbar ist: Der locus amoenus der Minnegrotte wird mit der gleichen Klanglichkeit dargestellt; das primordiale Glück der Liebe, die jedoch dem Tod anheim gegeben ist, verbindet beide Stellen.

1.3 Das Liebesgeständnis¹⁶ Deutlich semantisch aufgeladen sind die Klangbedeutungen in den Bezügen von lameir. Isolde sagt, dieses Phänomen sei ihrer Leiden Ursache. Die drei Bedeutungen, die Tristan kennt: die Liebe, das Bittere und das Meer, verwirren ihn: der meine der dûhte in ein her (V. 11996). Isolde setzt den Klang eines Wortes ein, ohne zu erklären, welche Bedeutung sie mit ihm verbunden wissen will. Sie kann so ein indirektes Liebesgeständnis machen; für den Fall, dass Tristan ihre Gefühle nicht erwidert, braucht er bloß lameir als das Bittere (die Trennung von den Eltern und der Heimat) oder das Meer zu interpretieren und entsprechend zu antworten. Der Erzähler zeigt die Uneindeutigkeit des Sprachklangs, der drei unterschiedlichen Wörtern gemeinsam ist. Da dies an einem Wendepunkt der Handlung geschieht, darf man annehmen, dass der

15 Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neu bearbeitete Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner hrsg. von Christoph Cormeau, Berlin, New York 1996, Nr. 7 (14,38). 16 Ich greife auf eigene Interpretationen zurück: Volker Mertens: Wahrheit und Kontingenz in Gottfrieds Tristan. In: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Cornelia Herberichs u.  a., Göttingen 2010, S. 186–205.

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Autor hier programmatisch arbeitet und die Unzuverlässigkeit der Sprache aufzeigen will, und zwar speziell der klingenden und gesprochenen, denn l’amour, l’ameir und la mer werden im Schriftbild eindeutig unterscheidbar. Über diese Programmatik hinaus wird ein wesenhafter Zusammenhang der drei Bedeutungen signalisiert: die Liebe ist einerseits bitter, andererseits umfassend und bedrohlich wie das Meer. Wer, wie Tristan, bewusst in sie einwilligt, tritt eine gefährliche Reise ins Ungewisse an. Damit suggeriert der Erzähler eine Verbindung mit Tristans erster Seefahrt, auf welcher der Held wîselôs auf dem Meer swebt (V. 7504–7508). Die Klanglichkeit ist hier hermeneutischer Impuls, sowohl intradiegetisch für die Figuren, die erkennen könnten, was ihnen bevorsteht, als auch extradiegetisch für das innere Ohr des Lesers, der die angeführte Verknüpfung mit Tristans Meerfahrt, ja mit der Lebensreise schlechthin herstellen kann und soll. Von den drei Dimensionen in den untersuchten Passagen  – der strukturierenden Klangkorrespondenz, der Lautmusikalität (Klangmalerei) bei der Darstellung von Markes Maifest und dem hermeneutischen Impuls – ist es die dritte, die vielschichtig ist. Einmal wird durch die Polysemie des Klangs das Vertrauen in die denotative Potenz der Sprache gestört, dann werden durch die genannten programmatischen Verbindungen weitergehende Semantiken hergestellt. Vergleichbares geschieht in den beiden Strophen am Ende des Prologs mit dem Reim brôt / tôt, wo ein eucharistisches Verständnis der Erzählung¹⁷ evoziert, wenn auch nicht direkt angesprochen wird. Deist aller edelen herzen brôt. hie mite sô lebet ir beider tôt. wir lesen ir leben, wir lesen ir tôt und ist uns daz süeze alse brôt. (V. 233–236) Ir leben, ir tôt sint unser brôt. sus lebet ir leben, sus lebet ir tôt. sus lebent si noch und sint doch tôt und ist ir tôt der lebenden brôt. (V. 237–240)

Zur semantischen Dimension der beiden Worte tritt die klangliche des wiederholten ‚ô-Lauts‘, die den Klang der Wandlungsworte hoc est enim corpus meum aufruft. Zu diesem Klangkomplex zählt der Reim von tôt auf Isôt. diu junge künigîn Îsôt daz sî ir leben unde ir tôt, ir wunne unde ir ungemach ze allerêrste gesach. (V. 9371–9374)

17 Ich halte daran trotz der Einwände von Eva Willms: Der lebenden brôt. Zu Gottfried von Straßburg Tristan 238 (240). In: ZfdA 123 (1994), S. 19–44, fest.

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Tristan wird schließlich Isoldes Tod sein; das hat der Prolog vorausgesagt, und darauf wird mit der Wortbrücke hier Bezug genommen. Der Gleichklang von brôt / tôt / Îsôt ist also doppelt semantisiert: als Binnenbezug auf das Schicksal der Personen und poetologisch als Evokation der Aufnahme und Wirkung des Romans in modo sacramentali. Weitere Beispiele für Polysemie sind nicht schwer zu finden, sie reichen vom intellektuellen Vexierspiel bis in die Tiefen des Werkes, der Liebesmystik und -mythik. Wenn in Vorausdeutung auf den Liebestrank Isolde als Tristans unverwânde amie, / sîn unverwantiu herzenôt (V. 11488  f.) bezeichnet wird, also als seine Geliebte, als die er sie nicht vermutete, und als seine ewig dauernde Herzensqual,¹⁸ so wird über die klangliche Beziehung eine inhaltliche gestiftet: die Liebe trifft Tristan und Isolde ohne den topischen Entstehungsprozess über die Augen in das Herz, sondern resultiert aus dem mythischen Trank, und sie hat eine immerwährende Qual zur Folge. Das ist eine Voraussage des Endes. Gleichzeitig aktualisiert die Formulierung eine Wortbrücke zu den Versen 8271 und 8618. Die erste Stelle spricht von Tristans wân, Helena sei die schönste Frau, doch Isolde habe ihm diesen wân genommen: von dem wâne bin ich komen, / Isôt hât mir den wân genomen (V. 8271  f.). Die nächste Stelle erhält ihre Bedeutung dadurch, dass der Erzähler sich quellenkritisch (hie lispet daz maere, V. 8615) auf Tristans angebliche Fahrt nach wâne bezieht: das ist alwaere (V. 8616), denn Tristan wusste genau, wohin er wollte. In beiden Fällen ist das Wort wân mit Isolde verbunden – die Liebe aber ist unverwânet. Ich will nur kurz auf die Polysemie des Namens Isôt in der Weißhand-Episode eingehen. Drei Frauen tragen diesen Namen: Tristans Heilerin, dann ihre Tochter, Tristans Geliebte, und schließlich die Weißhändige von Karke. In den fünfundvierzig Versen 19987–19032 kommt der Name Isôt 25 Mal vor. Es vermischen sich die Liebe und Ergebenheit zur blonden Isolde mit dem Begehren nach der weißhändigen. Indem Tristan dem Namen treu zu bleiben beabsichtigt, betrügt er beide Frauen, Liebestreue und Liebesverrat fallen in eins: swaz aber mîn ouge iemer gesiht, daz mit ir namen versigelt ist, dem allem sol ich alle vrist liebe unde holdez herze tragen. (V. 19034–19037)

Hinweisen will ich noch auf die viel diskutierte Stelle, in der Tristan auf Brangänes Aussage reagiert, der Trank sei der Tod der Liebenden und der tranc, der dâ inne [dem glâsevaz] was, / der ist iuwer beider tôt (V. 12488  f.). Er antwortet:

18 Rüdiger Krohn übersetzt elegant, aber etwas oberflächlich „Seine unvermutete Geliebte, seine beständige Herzensqual“, Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke, neu hrsg., ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, 3 Bde, 6., überarb. Ausgabe, Stuttgart 1993 (RUB 4471; 4472; 4473).

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dirre tôt der tuot mir wol. solte diu wunneclîche Îsôt iemer alsus sî mîn tôt, sô wolte ich gerne werben umbe ein êweclîchez sterben. (V. 12498–12502)

Brangäne meint die lebensgeschichtlichen und wohl auch die gesellschaftlichen Konsequenzen, den physischen und den sozialen Tod. Tristan greift ihr Wort tôt auf, reimt es auf Îsôt und aktualisiert neue Bedeutungsschichten: den geistlichen Tod, das Absterben von der Welt in mystischem Sinn und, mit sterben, eine erotisch-sexuelle Dimension (la petite mort, den Orgasmus), wie sie in antiken Texten (Properz, Apuleius, Ovid) mit dem Wort morire verbunden wird.¹⁹ Die Polysemie des Lautzeichens tôt, das durch die Klangbrücke mit den zitierten Passagen aus dem Prolog präsent war, umfasst die Kontingenz der Tristanliebe, die sich einer Einordnung in soziale und geistliche Ordnungssysteme verweigert, selbst die Überwertigkeit der erotischen Lust wird ironisch negiert, da diese ja nicht ewig dauern kann. Musikalität der Sprache besitzt also mehrere Dimensionen, die einander nicht ausschließen, sondern ergänzen. Klanglichkeit wirkt selten allein als Ornatus der Rede, indem sie die Aussage lautsymbolisch verstärkt. Immer wieder strukturiert sie die Erzählung, zumeist kleinräumig durch Klangbrücken, die ihrerseits mehr oder weniger semantisch aufgeladen sind. Darüber hinaus wirken die Klänge als hermeneutischer Impuls, nicht ausgesprochene Bedeutungen herauszufinden. Am Rande sei bemerkt, dass meine untersuchten Beispiele, Klang- wie Wortbrücken, nicht selten weite Räume überspannen. Sind die Pfeiler als tragende – und damit die Brücke – dann noch wahrnehmbar? Sie sind es nicht für den nur einmal hörenden Rezipienten, wohl aber für den Suchenden und Interpretierenden. Dieses Phänomen finden wir auch in der Musik, nicht nur der neueren Kunstmusik, wenn das Thema des ersten Satzes am Schluss des Finales einer Bruckner-Sinfonie wieder erklingt, sondern auch in der mittelalterlichen, wenn wir an lange Strophengebilde von 30 und mehr Zeilen denken, mit weit auseinander stehenden Reimklängen, die, im Unterschied zu meinen Beispielen, in der Regel keine Bedeutungsspender sind. Wenn wir an Lektüre (oder Vortrag) als Meditatio denken, dürfen wir entsprechende Verknüpfungsleistungen erwarten. Musikalität der Sprache ist also einerseits strukturierend wie auch bedeutungstragend und bedeutungsstiftend, andererseits ist sie ein Sirenengesang, der den Hörer/Leser verlockt, den sicheren Boden der denotierten Bedeutungen zu verlassen und sich ins Ungewisse zu begeben. Karl Bertau hat einmal gemeint, durch Klanglichkeit würden Erzählfluss und Diskursivität „beschädigt“.²⁰ Das erscheint mir eine

19 Vgl. die ausführliche Diskussion dieser (bestrittenen) Bedeutung in meinem Beitrag (Anm. 16). 20 Karl Bertau: Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200, München 1983, S. 135.

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zu negative Bewertung der entgrenzenden Wirkung des Klangs zu sein. Ich spreche von ‚Öffnung‘ des Sinns und Aktivierung der Sinnfindungspotentiale der Rezipienten. Gegen ein derartiges Verständnis lassen sich die Erzählerreflexionen im Rahmen der ‚Literaturschau‘ über die Sprache anführen, die für eine Übereinstimmung von Bezeichnung und Sache eintreten: Dieses Postulat wird affirmierend an Hartmann von Aue (V. 4621–4637) und kontrastierend an dem „Hasenfreund“ (V. 4638–4690) ausgeführt. Doch sind die lûter[en] und reine[n], die cristallînen wortelîn (V. 4628  f.) wirklich Gottfrieds Ideal oder nicht eher eine platte und damit fragwürdige Transparenz? Immerhin scheint der Erzähler mit seinem Lob Hartmanns von seiner eigenen Poetik der Kontingenz abzulenken. Ulrich Wyss hat im Preis der Dichtung des Bligger von Steinach (V. 4691–4722) eine poetologische Aussage Gottfrieds vermutet, die sich – für die Zeitgenossen erkennbar – an einem erfundenen Werk festmacht.²¹ Hier wird die Zauberkraft der Dichtungsgabe beschworen, und hier fallen musikalische Termini: die Zunge des Dichters trägt die Harfe (V. 4705), wort und sin, also Zeichen und Bedeutung, gestalten auf diesem Instrument die Erzählung (V. 4507  f.). Die Narratio materialisiert sich also im harpfen, im Klang, im Zusammenspiel von Zeichen und Sache, nicht in planer Entsprechung, in der Transparenz des Kristalls, die er Hartmann zuschreibt. Man wird die Ausführungen des Erzählers zur Sprache nicht als poetologische Thesen verstehen dürfen, sondern als Strategie, auf seine eigene Sprachverwendung als davon unterschiedene aufmerksam zu machen. Gewiss gibt es bei Gottfried die Konsonanz von Klang, Wortzeichen und Sinn, aber nicht weniger oft ist die Sprache daz guldîne lougen (V. 17542), und der Hörer/Leser ist aufgefordert, sich aktiv damit auseinanderzusetzen und Sinn nicht als gestifteten, sondern zu findenden aufzufassen. Die Poetik der Musikalität ist eine Poetik der Uneindeutigkeit und der Inzitation, einen individuellen Sinn zu finden. Musikalisierung bewirkt eine metakognitive Rezeptionshaltung, ein ‚seelisches‘ Einverständnis, das auf der rationalen Ebene gestört und somit als Appell wirksam wird. Musikalisierung schafft nicht – nur – eine schöne Oberfläche: ez enheizet doch niht rehte spil, daz man sus ûzen hin getuot âne herze und âne muot. (V. 7534–7536)

Das rehte spil soll zum Zentrum des Romans, zur unrationalisierbaren Liebe, führen.

21 Ulrich Wyss: Tristan und die ‚Nachtigallen‘. In: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg. Symposium Santiago de Compostela 5. bis 8. April 2000. Hrsg. von Christoph Huber/Victor Millet, Tübingen 2002, S. 327–338.

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2 Albrecht: Empathie der Lehre Mein zweites Beispiel stammt nicht von einem der Gottfried-Adepten wie Rudolf von Ems oder Konrad von Würzburg, sondern aus dem Gegen-Lager der Wolfram-Nachfolger: Es handelt sich um Albrechts Jüngeren Titurel.²² Ich will damit aufzeigen, dass musikalischer Stil nicht notwendig zum Ornatus facilis gehört. Klanglichkeit ist ein evidentes Merkmal der Jüngeren-Titurel-Strophe, die sich in markanter Weise von Wolframs Form unterscheidet. In der ‚Zweiten Hinweisstrophe‘ wird dieser Vorgang thematisiert: Rime die zwivalten. dem bracken seil hie waren vil verre dann gespalten. dar nach, di lenge wol von funfzic jaren. zwivalter rede waz ditz mær gesumet. ein meister ist uf nemende, swenn iz mit tod ein ander hie gerumet. (1172A)²³

Wolframs Strophe verfügte über zwei Reimklänge, die durch die Langzeilen vil verre dann gespalten (s.  o.) waren, der nächste Reim stand nämlich erst nach einer reimlosen Halbzeile: xa | xa | b | xb. Albrecht führt den Reim der Anzeilen sowie einen dritten Reim neu ein und weitet somit die klangliche Dimension beträchtlich aus: ab | ab | c | xc. Neben dieser musikalischen Verdichtung wird im Jüngeren Titurel die metrische Freiheit der Wolfram-Strophe²⁴ reduziert. Wolfram setzt beschwerte Hebungen zur Herausstellung wichtiger Wörter (als ‚akustischen Fettdruck‘) ein und die mehrsilbigen Senkungen geben den Versen den Charakter verkappter Prosa.²⁵ Albrecht hingegen hat die Strophe reguliert, eine strenge Alternation eingeführt und die ursprüngliche Kadenzfreiheit zugunsten obligater zweisilbiger Reime aufgegeben. Dadurch werden die Sinn-Nähe von Sprache und Rhythmus minimiert, geradezu ein Zwang zur Klanglichkeit ausgeübt und das kognitive Kommunikationspotential deutlich reduziert.

22 Ich greife hier Überlegungen aus meinem Beitrag auf: Volker Mertens: Kontingenz und Sprache im Jüngeren Titurel: Der Text, der nicht verstanden werden will. In: Der Jüngere Titurel zwischen Didaxe und Verwilderung. Neue Beiträge zu einem schwierigen Werk. Hrsg. von Martin Baisch u.  a., Göttingen 2010 (Aventiuren 6), S. 183–200. 23 Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel. Hrsg. von Werner Wolf (I–II,2)/Kurt Nyholm (II,2–IV), Berlin 1955–1995 (DTM 45; 55; 61; 73; 77; 79). „Die zweifachen Reime der Brackenseil-Dichtung waren vorher sehr weit auseinander gestellt. Danach wurde etwa fünfzig Jahre nichts an der Dichtung gemacht. Ein (bestimmter) Meister nimmt sie jetzt wieder auf, wenn es ein anderer wegen seines Todes liegen ließ.“ (V. M.). 24 Vgl. Stephan Fuchs-Jolie: Eine Einführung. In: Wolfram von Eschenbach: Titurel. Hrsg., übers. und mit einem Stellenkommentar sowie einer Einführung versehen von Helmut Brackert/Stephan Fuchs-Jolie, Berlin, New York 2003, S. 3–24. 25 Ulrich Wyss: Selbstkritik des Erzählers. Ein Versuch über Wolframs Titurelfragment. In: ZfdA 103 (1974), S. 249–289.

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Dies aber ist nicht vornehmlich dekorativen Bedürfnissen geschuldet, sondern Ergebnis einer gegenüber Wolfram veränderten Poetik der Lehre. Ich zeige das an einigen Beispielen: Titurel-Strophe 4 beginnt mit der Rede des abdankenden Gralkönigs und einer Selbstcharakterisierung, die zugleich eine Mahnung an die jüngere Generation ist, diese Werte fortzuführen: Mîn sǽldè, mîn kíuschè, mit sínnèn mîn stǽtè, und op mîn hant mit gâbe unt in stürmen ie hôhen prîs getæte. (Tit., 4)

Die Wörter sǽldè, kíuschè, sínnèn, stǽtè sind durch die angeführten beschwerten Hebungen hervorgehoben; so macht der Rhythmus die Aussage deutlich. Albrecht arbeitet diese Strophe folgendermaßen um: Min sælde, diu hoch gezilte, min ksch, min sin der stæte, und ob min hant durch milte oder in sturm ie hohen pris getæte. (JT, 615,1  f.)

Die plakative Aufzählung wird semantisch verdünnt durch die reim- bzw. metrumbedingten Hinzufügungen diu hoch gezilte sowie min sin [der stæte].²⁶ In der nächsten Strophe wird die Aussage durch Wiederholung geschwächt, aber durch Wortbrücken klanglich intensiviert: Min ksch und ouch min stæte durch werder wîbe grzen (JT, 616,1). Diesem Beispiel entspricht das folgende: Owê, mínne, waz touc dîn kráft únder kinder (Tit., 49). Die Hervorhebung von mínnè und kráft wird aufgegeben und eine Umschreibung eingeführt: Ey minne, diner krefte rat, waz toug der under kinder (JT, 712,1). Untypisch ist hier die einsilbige Kadenz der Anzeile (rat), sie repräsentiert nur etwa ein Prozent der Kadenzen, die weit überwiegende Mehrzahl ist zwei- oder, nicht ganz so oft, dreisilbig. Letztere sind im Rahmen der höfischen Dichtung ungewöhnlich. Sie werden zumeist vom Partizip Präsens gebildet und substantivisch, adjektivisch oder als Prädikativum eingesetzt. Das gibt es schon bei Otfrid und im Ludwigslied, im Nibelungenlied kommt sie sehr gelegentlich vor, sehr selten sind sie im Tristan (V. 5511 und V. 8422) und im Parzival. Sie passen also eigentlich nicht zum niuwen Parzival, den Albrecht zu verfassen beabsichtigte. Die Folge ist, dass gut die Hälfte aller verbalen Fügungen komponiert ist, die finite Verbform hingegen gemieden wird. Albrecht setzt häufig die Spreizstellung der beiden Komponenten des Prädikats ein: da z hab ich in schif und bruk enpfret, straz unde pfat verirret, immer all ir verte ungerret. (JT, 19,3  f.)

26 Wolfram hat die drei Tugenden als Substantive im Nominativ: sælde, kiusche, stæte; bei Albrecht ist die dritte Tugend zum Adjektiv stæte (zu sin) geworden.

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Dadurch kann, wie im genannten Beispiel, die Syntax überschaubar werden. Das ist jedoch keineswegs immer der Fall, nicht selten ist sie weder beim Hören noch beim Lesen leicht zu erkennen: Sant Peter unrecht vorchte do kunde wol vermiden, diu im e zwivel worchte. di vorchte noch vil mangen kan versniden und unrecht lieb, als ich hie vor was jehende. ware minne und rehte vorhte di mz uns tůn der engel schar gesehende! (JT, 584)²⁷

Zuerst wird man vorhte für ein Verb halten und unreht für ein Substantiv, nämlich das zugehörige Objekt: „Sankt Peter fürchtete Unrecht“, aber durch den Parallelismus unreht vorhte  – rehte vorhte / unreht minne  – ware minne wird deutlich, dass vorhte in V. 1 ein Substantiv ist. Der Erzähler hat durch den dreifachen Reim vorhte – worhte – vorhte eine besondere klangliche Verdichtung vorgenommen, denn die vorletzte Halbzeile ist in der Regel reimlos (siehe das Schema weiter oben). Wichtig ist dem Autor anscheinend weniger die Sicherheit einer logischen Entschlüsselung als die klangliche Dominanz von Leitbegriffen wie vorhte, zwivel, lieb, minne. Die Parallelität der Strophenzeilen begünstigt das Stilmittel der Annominatio, wie es Gottfried ausgiebig verwendet. Schon Wolfram nutzt es gelegentlich, Albrecht baut es aus. So wird aus: Sît er von der wilde hiez, gegen der wilde si sante im disen wiltlîchen brief. (Tit., 158)

bei Albrecht: Du eren pflicht geselle, du wilde blůme riche, in wildez walt gevelle send ich dir wilden boten wildicliche und wilden prief mit wilder boteschefte. (JT, 1882,1–3)

In den Strophen 177–180 variiert der Autor 18 Mal das Wort wirde/wert, in den Strophen 10–15 20 Mal das Wort tugent. Einen besonderen Fall von virtueller Polysemie bietet Strophe 65: Dirre aventre kere, si si krump oder slihte, daz ist nicht wan ein lere. darumb sol ich si wisen uf di rihte. (JT, 65,1  f.)²⁸

27 „Sankt Peter wusste gut die falsche Furcht zu vermeiden, die ihn vorher hatte zweifeln lassen. Diese Furcht vermag noch viele zu verletzen, wie auch die falsche Liebe, so wie ich vorhin gesagt habe. Wahre Liebe und wahre Furcht werden uns dazu führen, die Schar der Engel zu sehen.“ (V. M.). 28 „Der Ablauf dieser Erzählung, sei er krumm oder gerade, ist nur eine Lehre. Darum werde ich sie entsprechend einrichten.“ (V. M.).

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Albrecht greift hier Wolframs Bogengleichnis auf und nennt als Prinzip seiner Neuordnung die Didaxe. lere kann man (vor allem akustisch) aber nicht nur als Doctrina verstehen, sondern auch als das klangähnliche laere, also als Vacuum: „Der Ablauf der Erzählung ist eigentlich leer, daher werde ich sie einrichten.“ Der Redaktor II hat das Wort genau so verstanden: Diser auenteir chere. sey chrump od’ slichte. es ist nicht tugent lere. (JT, II 65)²⁹

Weitere vergleichbare Beispiele lassen sich unschwer finden. So wird ein Klang- und Wortgeflecht, also eine Sprachmusik erzeugt, die logische Verknüpfungen übersteigt. Ähnlich wie bei Gottfried wird dadurch zunächst Kontingenz generiert. Die Klanglichkeit wird durch die überlieferte Melodie noch intensiviert. Sie steht auf dem Vorsatzblatt der Haupthandschrift A (Wien ÖNB 2675) aus dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts. Obwohl sie mit einem neuen Text, der Sigunenklage, später, nämlich im zweiten Viertel des Jahrhunderts, niedergeschrieben wurde, scheint sie zu implizieren, dass das Epos gesungen werden sollte. Gegen Schluss seines Werkes bittet der Autor Gott um Hilfe bei der Vollendung. Es solle tugende in die Herzen derer bringen, die ez lesen oder hoeren lesen oder in dem done singen (JT 6077,4). Das ist eine poetologische Aussage, sie impliziert drei virtuelle Rezeptionsmodi, nicht nur die beiden üblichen, das Lesen/Vorlesen sowie das Hören, sondern auch eine dritte: das Selber-Singen als Aneignungsform besonders intensiver Natur. Ob sie konkret realisiert wurde, bleibt letztlich unerheblich  – ebenso, ob es sich um einen (mehr oder weniger) öffentlichen Vortrag für Andere oder um das eingangs zitierte canere sub silentio, also das ‚Singen im Kopf‘, handelt, als Alternative zum Vorsingen, das schätzungsweise 80  Stunden gedauert haben dürfte, also anderthalb Monate zwei Stunden täglich. Die Melodie erschließt tatsächlich den Worttext weitaus besser als eine ‚unmusikalisierte‘ Lektüre. Evokative Wörter stehen oft am Beginn einer Zeile, die vorhergehenden Zeilenenden sind durch ein Melisma, eine Vieltonverbindung, gekennzeichnet und das Wort am Anfang der neuen Zeile (nach dem Auftakt) durch die atembedingte Pause hervorgehoben, wie sich an den oben gegebenen Bespielen leicht erkennen lässt. In der Strophe 1882 wird zudem die Annominatio wilde auf diese Weise melodisch ausgezeichnet, so dass zu der Hervorhebung von Sinnwörtern die von Klangwörtern tritt. Die syntaktische Analyse hingegen wird durch die Melodie nicht unterstützt, so dass ein metalogisches Verständnis angezielt erscheint. Man könnte gegen eine solche Deutung einwenden, dass, im Unterschied zu Gottfried, der die Möglichkeit des freien Umgangs mit dem höfischen Reimpaarvers besitzt und ausschöpft, Albrecht an den Zwang der Strophe gebunden ist und die einzelne sprachliche Realisierung daher ein geringeres Maß an Intentionalität besitzt.

29 Ein vergleichbares Spiel mit klangähnlichen Wörtern finden wir bei Konrad von Würzburg, der maere (Narratio) und mer (mehr, plus) als Bedeutungen offeriert.

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Dagegen ist jedoch zu halten, dass der Autor die Strophe bewusst in ihrer Eigenart geschaffen hat und sie in ihrer Klanglichkeit deshalb nicht weniger signifikant ist als die weniger formal erzwungene Strophe Gottfrieds im Prolog. Bei Albrecht tauchen aus den äußeren oder inneren Klangwogen Namen auf, mit denen sich bestimmte Geschichten verbinden; Wörter, die wert- oder unwertbesetzt sind, Klang- und Wortkorrespondenzen werden, ähnlich wie im Tristan, erzeugt. Die Strophe produziert ein semantisches Ungefähr, ein Rauschen. Der Text soll nicht logisch verstanden werden, sondern emotionale Vertrautheit mit Geschichten und Lehren bewirken, Wertevokation, nicht Didaxe leisten, sinnlich verschlüsselte Evidenz generieren. Es ist kein Wunder, dass die Romantiker diesen Text geliebt haben. * Im Fall von Gottfrieds Tristan erwies sich die Poetik der Musikalität als Poetik der Kontingenz. Wie haben wir Albrechts ‚Musikalität‘ zu verstehen? Der Autor beweist, dass weder ethische Sinnbildung noch Wissenspragmatik ‚funktioniert‘. Das Brackenseil wird zerhauen, der Gral nach Indien verabschiedet; auch die Narration zeigt das Scheitern einer erzählerischen Bemächtigung des Grals. Ein kohärenter ethischer, gelehrter oder narrativer Kosmos erscheint als nicht mehr präsentierbar. Ich verstehe den Roman als poetisches Experiment, das die Möglichkeiten und Grenzen der Sprache aufweist. Er jongliert virtuos mit Verhüllen und Enthüllen, Trivialität und Komplexität, Kohärenz und Kontingenz. Es gibt keinen festen Punkt. Die Aufmerksamkeit, die Empathie des Lesenden/Hörenden/Singenden wird immer wieder provoziert; ob das ein vergänglicher Reiz bleibt oder ein Verstehenskonstrukt inzitiert, bleibt offen. Der Text generiert zuerst seine eigene Bedeutendheit durch die ‚gewählte‘ Sprache, die verwendeten Begriffe und den ‚erhabenen‘ Erzählgegenstand, den Gral. Seine Darbietung bekommt Ritualcharakter, die Verleugnung des Brackenseils gibt das Rezeptionsmodell für den Roman. Der Jüngere Titurel will, wie Ulrich Füetrer sagt, ein „Hauptbuch“³⁰ sein, analog zu liturgischen Büchern. Die anspruchsvollen Inhalte (Lehre, Gral) legitimieren diesen Anspruch, erst sie machen das Experiment einer nicht diskursiven Vermittlung nach dem Vorbild des Gesangsvortrags der heiligen Texte möglich. Wärend dieser als Abbild des Engelsangs³¹ zu verstehen ist, das Singen des Jüngeren Titurel als emotionale Evokation desselben insofern gedacht, als die Strophe eine vorgegebene formale Strukturierung bietet, die als nachvollzogene

30 Der Ehrenbrief des Püterich von Reichertshausen. Hrsg. von Fritz Behrend/Rudolf Wolkan, 2 Bde, Weimar 1920, Str. 100,1: Ich hab den Titurel, das haubt ab teutschen puechen. 31 Reinhold Hammerstein: Die Musik der Engel. Untersuchungen zur Musikanschauung des Mittelalters, 2. Aufl., Bern 1990; Anders Ekenberg: Cur cantatur. Die Funktionen des liturgischen Gesanges nach den Autoren der Karolingerzeit, Stockholm 1987; Hartmut Möller: Die Musik als Abbild göttlicher Ordnungen. In: Musik und Religion. Hrsg. von Helga de la Motte-Haber, Laaber 1995, S. 33–60; Karl-Heinrich Bieritz: Zwischen Raum- und Zeitgenossenschaft: Vergegenwärtigung des Heils in Liturgie und geistlichem Spiel. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 48 (2009), S. 1–73.

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Entsprechung zur kosmischen Harmonie verstanden werden kann. Im Unterschied dazu entwickeln sich die Reimpaare bei Gottfried frei, ihnen werden die klanglichen Mittel höchst individuell eingeschrieben, was als Entsprechung zur Subjektivität der Tristanliebe verstanden werden darf. Albrecht hingegen erzeugt eine virtuelle Kohärenz, der cantus lectionis³² ist Verweis auf den und Evokation des Cantus angelorum und damit eine Verheißung, dass die, die hier singen oder singen hören, dereinst mit den Engeln selber einstimmen werden. Hier wird die Poetik der musikalisch generierten Empathie zur Poetik der transzendentalen Harmonie, ähnlich wie man die romantische Poetik Brentanos oder Tiecks verstanden hat.³³ Der Schall erhält eine eigene Bedeutungsdimension als Manifestation und Präsenz eines in toten Lettern nicht darstellbaren transzendentalen Aufgehobenseins. Auch bei Gottfried manifestiert sich im Klang nicht allein die Ambiguität der sprachlichen Zeichen, sondern er erzeugt eine eigene Semantik der Kontingenz der Tristanliebe, bleibt jedoch nicht dabei stehen. Die Poetik der Musikalität bleibt ambig  – die semantische Depotenzierung der Wörter erzeugt einmal Kontingenz, dann aber überführt der Klang diese durch Korrespondenzen und Strukturierungen in eine metasemantische Kohärenz. Sie verweist bei Gottfried auf den Liebesmythos, bei Albrecht auf eine anagogisch herzustellende transzendentale Realität.

32 Otfrids Evangelienbuch. Mit Einleitung, erklärenden Anmerkungen und ausführlichem Glossar. Hrsg. von Paul Piper. 1. Theil: Einleitung und Text. Zweite, durch Nachträge erw. Ausgabe, Freiburg, Tübingen 1882, S. 6, Z. 10. 33 Vgl. Anm. 2.

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 Volker Mertens

Intertextualität und Traditionalität

Sarah Bowden

Zur Poetik des mehrsinnigen Verstehens Der allegorische Stil der Hochzeit Dieser Beitrag ist ein Versuch, den Stil des frühmittelhochdeutschen Gedichts Die Hochzeit zu beschreiben.¹ Dabei soll es nicht um eine Erklärung des Stilprinzips oder um die Beschreibung einer Stiltheorie gehen,² sondern um die Erläuterung der allegorischen Praxis eines einzelnen Gedichts. Im Kontext dieses Beitrags gilt Stil als sprachliche Erscheinung, d.  h. als eine besondere linguistische Ausdrucksweise.³ In diesem Sinne spricht man vom Stil eines besonderen Autors, einer Epoche, einer Bewegung oder einer Gattung.⁴ Die Forschung zur Stilfrage betont die Diskrepanzen zwischen Stildiskursen oder -theorien⁵ und den daraus resultierenden Kunstobjekten – eine Diskrepanz, die für das Verständnis und die Erläuterung von Texten und Phänomenen produktiv sein kann.⁶ Im Fall der Hochzeit ist es schwierig, den Text mit einem besonderen Personen-, Gruppen- oder Epochenstil zu assoziieren. Erstens ist der Autor des Gedichts anonym, und ihm wird kein anderer Text zugeschrieben. Außerdem ist der funktionale Kontext des Gedichts zum Teil unklar (wie ich unten diskutieren werde), und die Epoche der frühmittelhochdeutschen Literatur, zu der das Gedicht gehört, ist wegen ihrer einlei1 Die Hochzeit. In: Kleinere deutsche Gedichte des 11. und 12. Jahrhunderts. Bd. 2. Hrsg. von Werner Schröder nach der Auswahl von Albert Waag, Tübingen 1972 (ATB 72), S. 132–170. 2 Vgl. den einleitenden Beitrag von Gert Hübner in diesem Band. 3 Bernhard Sowinski: Stil. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding, 10 Bde, Tübingen 1992–2012, Bd. 8 (2007), Sp. 1393–1419, hier Sp. 1393–1394. 4 Hans Ulrich Gumbrecht: Stil. In: RLW 3 (2003), S. 509–513, hier S. 509; Hans Wellmann: Aspekte der (vergleichenden) Stilistik. Zur Innovation der Stilgeschichte. In: Stile, Stilprägungen, Stilgeschichte. Über Epochen-, Gattungs- und Autorenstile, Sprachliche Analysen und didaktische Aspekte. Hrsg. von Ulla Fix/Hans Wellmann, Heidelberg 1997 (Sprache – Literatur und Geschichte 15), S. 11–13. 5 Im Kontext der mittelalterlichen Literatur bestehen keine volkssprachigen Stildiskurse. Theoretische Reflexionen stammen also hauptsächlich aus der lateinischen Rhetorik. Vgl. Gert Hübner: Rhetorische und stilistische Praxis des deutschen Mittelalters / Applied rhetoric and stylistics in the German Middle Ages. In: Rhetorik und Stilistik / Rhetoric and Stylistics. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung / An International Handbook of Historical and Systematic Research. Hrsg. von Ulla Fix/Andreas Gardt/Joachim Knape, 2 Bde, Berlin, New York 2008 und 2009 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 31, 1–2), Bd. 1 (2008), S. 348–369; K. Ludwig Pfeiffer: Produktive Labilität. Funktionen des Stilbegriffs. In: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1986, S. 685–725, hier S. 696–702. 6 In diesem Sinne beschreibt Pfeiffer (Anm. 5), S. 688, den Stilbegriff als „Suchbegriff“, mit dem wir „jene Bezüge zwischen Sprache, Verhalten und ‚Wirklichkeiten‘ zu entdecken suchen, die sich gegen eindeutige Zuordnungen sperren“.

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tenden Position in der Geschichte der volkssprachigen Literatur divers und schwer zu kategorisieren.⁷ Das Gedicht steht aber zweifellos in der Mitte der Tradition einer Schreibweise, die sich auf mehrsinniges Verstehen richtet, d.  h. die besondere linguistische Ausdrucksweise der Allegorie. Obwohl die Allegorie hauptsächlich als rhetorische Technik verstanden wird, die innerhalb verschiedener Stildiskurse eine persuasive, ästhetische oder didaktische Rolle spielt, bin ich mir bewusst, dass Allegorie auch als selbständige Sprach- und Verstehensweise gelten kann. Es geht also hier um den allegorischen Stil der Hochzeit, d.  h. um eine Beschreibung der Besonderheiten der Ausdrucksweise des Gedichts in Bezug auf die Theorie des mehrsinnigen Verstehens – der Dichter kennt sich gut in gelehrten, geistlichen Traditionen der Texterzeugung und Texterschließung aus  – und die praktischen Innovationen, die hier vorliegen. Das Gedicht enthält keine neue oder radikale Theologie, kann aber durch die geschickte Kombination und Strukturierung traditioneller Elemente als ein stilistisch origineller Text gelten.⁸ Die Hochzeit wurde um 1160 geschrieben und wird nur in der sogenannten Millstätter Sammelhandschrift überliefert.⁹ Den Namen Die Hochzeit gab von Karajan

7 Vgl. Gisela Vollmann-Profe: Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen Mittelalter, Königstein/Ts. 1986 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Hrsg. von Joachim Heinzle, Bd. 1,2), S. 48–50, bes. S. 48: „Versucht man, die Literatur vom Ezzolied bis zur Kaiserchronik nach ihren Formen zu bestimmen, […] so erfährt man rasch, wie sehr sich diese Denkmäler gegen den Versuch einer Kategorisierung sperren. Nur selten schließen sich zwei oder mehr Texte zu einem deutlich ausgrenzbaren Typ zusammen; allenthalben herrscht eine große Variationsbreite und Unfestigkeit. Es handelt sich um eine Literatur, die eine Vielfalt von Möglichkeiten, Ansätzen, Versuchen zeitigt, aber noch kaum literarische Verbindlichkeiten kennt, die eigene literarische Traditionen erst allmählich entwickelt.“ 8 Hans-Friedrich Reske: Jerusalem caelestis  – Bildformeln und Gestaltungsmuster. Darbietungsformen eines christlichen Zentralgedankens in der deutschen geistlichen Dichtung des 11. und 12. Jahrhunderts mit besonderer Berücksichtigung des Himmlischen Jerusalem und der Hochzeit (V. 379–508), Göppingen 1973 (GAG 95), S. 194, behauptet, dass das einzige Neue an der Hochzeit die Kombination der Informationen sei: „Diese [Kombination] ist geprägt durch den dem ganzen Gedicht eigentümlichen Stil, mit fließenden Bildgrenzen, artifizieller Ausgestaltung traditionellen Gutes, mit Mehrschichtigkeit und überraschenden Wirkungen zu arbeiten, wobei bald die eine bald die andere Bild- und Bedeutungsebene in den Vordergrund tritt.“ 9 Zur Datierung vgl. Peter Ganz: Die Hochzeit. In: 2VL, Bd. 4 (1983), Sp. 77–79. In der Handschrift ist der Zustand des Textes an manchen Stellen schlecht. Die Herausgeber mussten einige Verse ergänzen und rekonstruieren. Zur Handschrift vgl. die Facsimileausgabe: Millstätter Genesis und Physiologus Handschrift. Vollständige Facsimileausgabe der Sammelhandschrift 6/19 des Geschichtsvereines für Kärnten im Kärntner Landesarchiv, Klagenfurt. Einführung und kodikologische Beschreibung von Alfred Kracher, Graz 1967 (Codices selecti phototypice impressi 10); Ernst Hellgardt: Die deutschsprachigen Handschriften im 11. und 12. Jahrhundert: Bestand und Charakteristik im chronologischen Aufriß. In: Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985. Hrsg. von Volker Honemann/Nigel F. Palmer, Tübingen 1988, S. 35–81. Zur Rolle der Hochzeit innerhalb der Handschrift vgl. Barbara Gutfleisch-Ziche: Die Millstätter Sammelhandschrift: Produkt und Me-

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dem Gedicht, da das zentrale spell die Brautwerbung eines Königs erzählt.¹⁰ Allerdings besteht nur ein relativ kleiner Teil des Gedichts (ungefähr 200 von 1089 Versen) aus diesem spell, während dessen Auslegung und der übrige Teil des Gedichts allgemeine  – sogar alltägliche  – theologische Themen behandelt. Die Hochzeit beinhaltet einen Prolog zum spell, auf den dann die Auslegung dieses spells folgt, die sich grob in zwei Abschnitte gliedert. Im ersten Abschnitt geht es hauptsächlich um die Themen Leben und Tod, im zweiten um Maria, Geburt und Leben Christi sowie Heilsgeschichte im Allgemeinen.¹¹ Der Schwerpunkt bisheriger Forschung zur Hochzeit war das spell selbst, insbesondere seine Beziehung zum weltlichen Erzählmuster des Brautwerbungsschemas. Das spell folgt einigen sogenannten Handlungsfixpunkten des Schemas: ein König beschließt, sich eine Braut zu nehmen; die Brautwerbung wird durch die Notwendigkeit eines Erben motiviert; die erwünschte Braut ist allen anderen Frauen überlegen; ein Bote wird zur Braut geschickt; die Braut erhält einen Ring vom Bräutigam.¹² Soweit wir wissen, gibt es keine direkte Quelle für das spell der Hochzeit, obwohl ähnliche Erzählungen sich in Prologen zu Hoheliedkommentaren finden, die im Allgemeinen auf die Parabel der königlichen Hochzeit (Mt 22,2–14) zurückgehen. Die engste Verbindung besteht zu der allegorischen Erzählung im Proömium zum Hoheliedkommentar des im Jahre 1183 verstorbenen Prämonstraten Philipp von Harvengt. Dieses kann aber nicht als direkte Quelle gelten.¹³ Es scheint daher, dass das spell von weltlichen und (zu dieser Zeit auch oralen) Erzählmustern der Brautwerbung beeinflusst wurde. Die ältere Forschung ging wegen der angeblich problematischen Verbindung säkulärer und geistlicher Aspekte im Gedicht von Interpolation aus und untersuchte auch die Beziehung zwischen

dium des Vermittlungsprozesses geistlicher Inhalte. In: Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter. Internationales Symposium Roscrea 1994. Hrsg. von Timothy R. Jackson/Nigel F. Palmer/Almut Suerbaum, Tübingen 1996, S. 79–96. 10 Ganz (Anm. 9), Sp. 77. 11 So Hugo Kuhn: Allegorie und Erzählstruktur. In: Formen und Funktionen der Allegorie. Symposium Wolfenbüttel 1978. Hrsg. von Walter Haug, Stuttgart 1979 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 3), S. 206–218, hier S. 213–217. Kuhn zitiert die folgenden Verse als Beweis dieser Strukturierung: Nu han wir alle erchunnot / umbe daz leben unde umbe den tot, / nu mugen wir wol mit eren / an die gotes muotir cheren (V. 787–790). 12 Zum Brautwerbungsschema vgl. insbesondere Christian Schmid-Cadalbert: Der Ortnit AW als Brautwerbungsdichtung, Bern 1985 (Bibliotheca Germanica 28). 13 PL 203, Sp. 181–186. Vgl. Friedrich Ohly: Hohelied-Studien. Grundzüge einer Geschichte der Hoheliedauslegung des Abendlandes bis um 1200, Wiesbaden 1958 (Schriften der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main. Geisteswissenschaftliche Reihe 1), S. 206–213. Andere ähnliche allegorische Erzählungen, u.  a. in der Expositio in Cantica Canticorum (c. 1151–1158) von Honorius Augustodunensis werden von Ganz erwähnt: Peter F. Ganz: Die Hochzeit: fabula und significatio. In: Studien zur frühmittelhochdeutschen Literatur. Cambridger Colloquium 1971. Hrsg. von Leslie Peter Johnson/Hans Hugo Steinhoff/Roy A. Wisbey, Berlin 1974 (Publications of the Institute of Germanic Studies 19), S. 58–73, hier S. 62  f.

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diesem Gedicht und dem Gedicht Vom Rechte, das der Hochzeit in der Millstätter Handschrift vorangeht.¹⁴ Die jüngere Forschung bewertet die Hochzeit im Allgemeinen als kohärentes Kunstwerk, konzentriert sich aber noch immer auf das Brautwerbungsmuster. Ganz warnt in diesem Zusammenhang davor, die Grenzen zwischen geistlicher und weltlicher Literatur in dieser Zeit zu strikt zu ziehen, und weist darauf hin, dass das Gedicht „die Gleichzeitigkeit und das Ineinanderspielen geistlicher und weltlicher Dichtung wiedergibt“; die Verwendung des Brautwerbungsmotivs lasse vermuten, dass es als eine geistliche Kontrafaktur zu weltlicher Heldendichtung konzipiert worden sein könne.¹⁵ Kuhn zeigt, dass das spell nicht als selbständig zu betrachten sei, sondern auf Auslegung angewiesen bleibe: „das spell füllt in die erzählte Brautwerbung so viele Stichworte für die folgende Auslegung, daß es kaum noch als erzählte Braut-Allegorie, geschweige denn als Brautwerbungs-Erzählung in sich verstanden werden kann“.¹⁶ Auch Gantert bemerkt die Fragmentation oder Unvollständigkeit des Brautwerbungsschemas und folgert, das Gedicht sei hauptsächlich ein Versuch, die Praxis der Allegorie einem Laienpublikum nahe zu bringen.¹⁷ Unabhängig davon, ob man das Brautwerbungsschema für ein normatives Erzählmuster hält, ist es wichtig festzuhalten, dass die Hochzeit keine selbständige Erzählung enthält.¹⁸ Stattdessen gibt es ein spell, das auf Auslegung angewiesen ist. Zweifellos wäre ein vom weltlichen Erzählmuster geprägtes spell einem laikalen Publikum vertrauter, aber eine Diskussion des Textstils muss sich auf die sozusagen ‚erfundene‘ Beschaffenheit des spells konzentrieren. Damit meine ich, dass das Gedicht nicht aus der Allegorese einer Bibelpassage, eines Stücks paganer Philosophie oder Literatur oder eines Teils der Liturgie besteht. Der Dichter ist nicht gezwungen, die Techniken der Allegorie zur Auslegung einer bereits existierenden problematischen Bibelpassage zu verwenden; stattdessen konstituiert er die Grundlage der Allegorese selbst. Mehrsinniges Verstehen entsteht hier durch Auswahl statt aus Notwendigkeit. 14 Vom Rechte. In: Kleinere deutsche Gedichte des 11. und 12. Jahrhunderts (Anm. 1), S. 112–131. Vgl. Carl von Kraus: Vom Recht und Die Hochzeit. Eine litterar-historische Untersuchung, Wien 1891 (Sitzungsberichte der Kaiserlichen Philosophisch-Historischen Classe der Akademie der Wissenschaften 123). Dazu H. Löbner: Rez. von Kraus. In: ZfdPh 25 (1893), S. 560–563, und Max Roediger: Conjecturen zur Hochzeit. In: ZfdA 36 (1892), S. 254–266. Es gibt auch einen neueren Beitrag zur Beziehung zwischen der Hochzeit und Vom Rechte: Maria Grimaldi: Immagini e temi in Vom Rechte e Die Hochzeit: analogie e divergenze. In: Annali. Sezione germanica. Università degli Studi di Napoli ‚L’Orientale‘ 12 (2002), S. 101–124. 15 Ganz (Anm. 13), S. 71–73 (Zitat S. 73). 16 Kuhn (Anm. 11), S. 211. 17 Klaus Gantert: Erzählschema und literarische Hermeneutik. Zum Verhältnis von Brautwerbungsschema und geistlicher Tradition im Wiener Oswald und in der Hochzeit. In: Poetica 31 (1999), S. 381–414. 18 Vgl. dazu Kuhn (Anm. 11), S. 209, der argumentiert: „die Motivationen und Stationen – die Höhe, Ferne und Gefährlichkeit der Braut, die Fähigkeiten, Listen und Wunder bei ihrer Gewinnung und Wiedergewinnung – variieren so stark, daß der Typ eher wie eine Handlungshülse wirkt, denn als Handlungsstruktur.“

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Eine solche Auswahlallegorie ist zwar grundsätzlich nicht ungewöhnlich, zu ihrer Entstehungszeit und im volkssprachigen Kontext stellt dieses Verfahren der Textgenese aber eine Ausnahme dar.¹⁹ Die klassische Rhetorik definiert Allegorie als eine Gruppe von Wörtern, deren wörtliche Bedeutung zu einer anderen Bedeutung führt: aliud dicit, aliud sentit.²⁰ Verfahren und Terminus fanden dann auch Eingang in Theologie, Philosophie und Literatur des Mittelalters. Die Tradition der Bibelexegese, vom vierfachen Schriftsinn – d.  h. eine Passage wird in vier Weisen gelesen: historisch (oder wörtlich), allegorisch (meistens als heilsgeschichtlich definiert), tropologisch (moralisch) und anagogisch (eschatologisch)  – und der Allegorese der Philosophen und Dichter der Antike geprägt, verbreitete sich in andere Formen des Schreibens und sogar in andere artes, so dass man sagen kann, es gebe eine universelle gelehrte Sprache der Allegorie. Zweifellos wurde auch die volkssprachige Literatur von den Traditionen des mehrsinnigen Verstehens beeinflusst und nahm seine verschiedenen rhetorischen Techniken in Anspruch.²¹ Dabei gilt es, die Heterogenität allegorischer Schreibweisen ebenso zu berücksichtigen wie die Tatsache, dass sich in verschiedenen Kontexten ganz ver-

19 Dietrich Schmidtke: Bemerkungen zu den Varianten allegorischen Gestaltens in der frühmittelhochdeutschen Literatur. In: Deutsche Literatur und Sprache von 1050–1200. Fs. für Ursula Hennig. Hrsg. von Annegret Fiebig/Hans-Jochen Schiewer, Berlin 1995, S. 221–234, hier S. 227  f. Schmidtke bewertet die Hochzeit als einen Sonderfall der frühmittelhochdeutschen Literatur, da in ihr eine fiktionale Erzählung spirituell ausgelegt werde. Die Deutungen dieser Auslegung seien seines Erachtens unklar (aber anspruchsvoll) und das Gedicht besitze einen ‚experimentellen Charakter‘. In diesem Sinne stelle es in der volkssprachigen Literatur eine Neuheit dar: „Die Hochzeit belegt, wie sich aus dem Bereich der Bibelallegorese allmählich freiere Formen allegorischen Gestaltens abzulösen beginnen“ (S. 228). 20 Zur Allegorie vgl. Wiebke Freytag: Allegorie, Allegorese. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik (Anm. 3), Bd. 1, S. 330–392, hier S. 330  f.: „Die sprachliche Aussageform der Allegorie wird häufig zuerst als rhetorischer Tropus verstanden, als etwas unklare, durch Bedeutungsveränderungen schwierige Wortkombination, die Eines sagt, ein Anderes meint und wie alle Tropen einen Gedankensprung erfordert, Sinnübertragung (translatio) vom gesagten Bedeutenden (significans) zum gemeinten Bedeuteten (significatum). Der gedankliche Schritt, in dem die Allegorie von Sprecher und Hörer konstituiert wird, vollzieht sich entweder intuitiv oder methodisch diskursiv als eine Art Vergleich (similitudo) oder Gegensatz (contrarium) zwischen dem allegorischen Bedeutenden und Bedeuteten.“ Vgl. auch Gerhard Kurz: Zu einer Hermeneutik der literarischen Allegorie. In: Formen und Funktionen der Allegorie (Anm. 11), S. 12–24, und im Bezug auf das Mittelalter Christel Meier: Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Allegorie-Forschung. Mit besonderer Berücksichtigung der Mischformen. In: FmSt 10 (1976), S. 1–69; Hartmut Freytag: Die Theorie der allegorischen Schriftdeutung und die Allegorie in deutschen Texten besonders des 11. und 12. Jahrhunderts, Bern 1982 (Bibliotheca Germanica 24). 21 Dazu vgl. H. Freytag (Anm. 20); Ernst Hellgardt: Zur Poetik frühmittelhochdeutscher Dichtung. In: Geistliche Denkformen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Klaus Grubmüller/ Ruth Schmid-Wiegand/Klaus Speckenbach, München 1984 (Münstersche Mittelalter-Schriften 51), S. 131–138, und zusammenfassend Schmidtke (Anm. 19).

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schiedene Begriffe zu deren Bezeichnung ausgebildet haben.²² Auch innerhalb der verschiedenen Werke gab es keine terminologische Kontinuität.²³ Auf der einen Seite stellt die Allegorie deshalb etwas Vielseitiges dar, das nicht generalisiert werden kann, auf der anderen Seite geht es aber um ein allgemeines Phänomen der gelehrten Tradition des 12. Jahrhunderts. Dieses Phänomen kann auch laut der Theorie des vox et res sprachlich verstanden werden, nach der das menschliche Wort mit einem geistigen Sinn belegt wird, wie Ohly erklärt: Jedes mit einem Wortklang in die Sprache gerufene Ding, alle von Gott geschaffene Kreatur, die durch das Wort benannt wird, deutet weiter auf einen höheren Sinn, ist Zeichen von etwas Geistigem, hat eine significatio, eine be-zeichenunge, eine Be-deutung. Man unterscheidet also eine zweifache Bedeutung, einmal vom Wortklang zum Ding, von der vox zur res, und eine höhere, an das Ding gebundene, die vom Ding wieder auf ein Höheres weist.²⁴

Allegorische Texte machen diese Idee explizit, indem sie den geistigen Sinn des Wortes mit Worten explizieren. In diesem Sinne können wir Allegorie als ästhetisches Stilprinzip verstehen, weil die Enthüllung der Wahrheit, die Offenbarung der verborgenen geistlichen Schönheit, selbst wesentlich schön ist.²⁵ Auch in unserem Text wird der exegetische Prozess als Verzierung der Schönheit des geistlichen Sinnes verstanden, wie unten ausführlicher diskutiert wird. Die Schönheit des allegorischen Wortes wird von Hellgardt etwas anders erklärt. In einem Aufsatz zur Poetik der frühmittelhochdeutschen Literatur betont er (unter besonderer Berücksichtigung des vierten Buches der De Doctrina Christiana des Augustinus) die Bedeutung der poetischen Kraft der Allegorie, d.  h. dass nicht nur die Wahrheitserkenntnis, sondern auch die poetische Wirkung der Allegorie von großer Bedeutung ist.²⁶ Wenn es um die Allegorese eines wohlbekannten Textes geht,

22 Frank Bezner: Vela Veritatis. Hermeneutik, Wissen und Sprache in der Intellectual History des 12. Jahrhunderts, Leiden 2005 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 85). Diese wichtige Studie betont, dass die Denkfigur der verhüllten Wahrheit und der Praxis des mehrsinnigen Verstehens im 12. Jahrhundert nicht als eine katalogisierbare Funktion betrachtet werden sollte, sondern dass diese Art von Hermeneutik immer kontextualisiert werden muss. 23 Meier (Anm. 20), S. 3–6. Vgl. auch S. 10–14 zum Beispiel des Bernardus Silvestris, der zwischen Allegorie und Integumentum unterscheidet: Allegorie ist die Auslegung eines geschichtlichen Berichts (historica narratio), z.  B. der Bibel, integumentum aber die Auslegung einer fiktiven Erzählung (fabulosa narratio), z.  B. eines literarischen Texts der Antike. Diese Unterscheidung fand allerdings keine weite Verbreitung. 24 Friedrich Ohly: Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter. In: ders.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 1–31, hier S. 5. Diese Theorie ist weit verbreitet; Ohly diskutiert aber hauptsächlich die Schriften der Viktorinen. 25 Ohly (Anm. 24), bes. S. 27  f. Er nennt als Beispiel Otfrid von Weißenburg und argumentiert: „Allegorisches Dichten heißt, durch Erwecken des Buchstabens zum Geist in sinnhaltiger Form eine neue Schönheit zu verwirklichen.“ 26 Hellgardt (Anm. 21), S. 133: „Wo spirituelle biblische Allegorie in dieser Weise verstanden wird, muß die sie entschlüsselnde Allegorese im rezeptiven Nachvollzug zugleich mit der Aufdeckung ihres

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um einen Text, der eine standardisierte, ‚wahre‘ Bedeutung hat (wie etwa einige Bibelpassagen), wird die ästhetische Kraft der jeweiligen Allegorese umso wichtiger, denn nur durch diese Kraft wird der Allegorese ermöglicht, auf irgendeine Weise ‚neu‘ oder effektiv zu sein. In der Hochzeit werden allegorische Techniken auf beeindruckende Weise verwendet, um die verborgene Schönheit des geistlichen Sinns zu enthüllen. Das Gedicht verwendet die Allegorie  – wie von verschiedenen artes praedicatoria vorgeschlagen – vor allem um zu lehren. Indem es wohlbekannte Bibelpassagen, exempla, sogar ein bekanntes weltliches Erzählmuster nutzt, sichert es sich die Aufmerksamkeit des Publikums durch die Verwendung bekannter Modelle. Einige Zeichen werden dann explizit ausgelegt, und das Publikum wird auch dazu angeregt, selbst tiefere Verbindungen zu erkennen.²⁷ Das Gedicht ist allerdings durch einen besonderen allegorischen Stil ausgezeichnet und übt dadurch eine poetische und auch eine didaktische Wirkung aus. Die Eigenschaften dieses Stils können auf folgende Weise kurz zusammengefasst werden: Es gibt Bilder innerhalb des spells, die explizit ausgelegt werden, mit den Worten daz bezeichent: das bedeutet dies, a ist b. Diese Auslegungen können dann zu tropologischen oder anagogischen Überlegungen führen. Es gibt aber auch weitere Bedeutungen, die nur angedeutet werden, insbesondere die, die sich auf die elementaren narrativen Komponenten des spells beziehen. Es gibt auch einige Bilder, Wörter oder Wortgruppen, die das ganze Gedicht durchdringen, auch wenn die Situationen, in denen sie vorkommen, miteinander nur wenig zu tun haben. In diesem Sinne besteht eine bildliche Kohärenz, die eindeutige Zuordnungen auf assoziativ ästhetische Weise sprengt. Es gibt aber auch eine thematische Kohärenz, obwohl diese zum Teil schwer zu erkennen ist. In diesem Beitrag wird es zuerst um den assoziativen Aufbau des Gedichts im Bezug auf den Prolog und die verschiedenen Bilder des Goldes gehen. Im Anschluss daran werde ich die Auslegung des spells im Allgemeinen besprechen, die auf zwei Ebenen  – explizit und implizit  – aufgebaut wird.

Erkenntnisinhalts ihre poetische Qualität freisetzen und umgekehrt. Die Akzente können verschieden gewichtet sein, aber daß Eines ohne das Andere überhaupt möglich ist, erscheint grundsätzlich undenkbar.“ 27 Zur ars praedicatoria und der Hochzeit, vgl. Ganz (Anm. 13), S. 65  f.

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I Assoziativität Zu Beginn des Gedichts macht der Dichter seine Intention explizit: Nu mugent ir horen zellen von einem heren spelle umbe einen chunich richen, umbe manich schone zeichen, da michil sin an stat. gesach in got, der ez begat. (V. 1–6)

Das Gedicht präsentiert ein spell, das von einem mächtigen König erzählt und viele bedeutungsvolle Zeichen enthält. Diese Zeichen enthalten michil sin, d.  h. nicht bloß einen literalen Sinn, sondern auch einen tieferen geistigen Sinn.²⁸ Gott möge denjenigen segnen, der das spell und seine inhaltlichen Zeichen ausdeutet. Der Prozess des zeichen began setzt guoten list voraus, eine Fähigkeit, die mit der Kunst des Goldschmieds verglichen wird: Swer diu zeichene wil began, der sol guoten list haben, also der smit vil guot die wiere in daz golt tuot. daz insigele er fur blat, als erz gelernt hat, deiz vil herlichen stat unde niht zergat. (V. 7–14)

Bevor man etwas auslegen kann, muss man deshalb eine gute Theologiekenntnis besitzen. Solche Forderungen sind topisch.²⁹ Doch hier erfüllt die sprachliche Form der Forderung zugleich die Funktion, die geforderten Voraussetzungen zu beweisen: Die elegante Goldschmiedeanalogie demonstriert die Übertragungsfähigkeit des Dichters, der die Zeichen innerhalb des spells auslegen wird. Die metaphorische Verbindung von ars ferraria und ars poetica ist seit der Antike bekannt und beruht wohl auf der Analogie technischen Vermögens, denn wie der Schmied lernt der Dichter empirisch gewonnene praecepta anzuwenden.³⁰ Der Schmied bearbeitet das Metall, der Dichter die Sprache, und beide erschaffen das Gewünschte geschickt aus ihrem

28 H. Freytag (Anm. 20), S. 51. 29 Vgl. H. Freytag (Anm. 20), S. 20; S. 47. 30 Vgl. Hans Günther Bickert: Der Dichter als Handwerker. Zu Herkunft und Bedeutung einiger Begriffe der Dichtungstheorie. In: Sprache in Vergangenheit und Gegenwart. Beiträge aus dem Institut für Germanistische Sprachwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Hrsg. von Wolfgang Brandt/Rudolf Freudenberg, Marburg 1988 (Marburger Studien zur Germanistik 9), S. 1–14; Sabine Obermaier: Von Nachtigallen und Handwerkern. ‚Dichtung über Dichtung‘ in Minnesang und Sangspruchdichtung, Tübingen 1995 (Hermaea N. F. 75), S. 321–323.

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Material.³¹ Der Schmied stellt das Gold nicht selbst her, sondern bearbeitet einen schon existierenden, schönen Stoff, den er in diesem Fall zu einem insigele verarbeitet, das er mit wiere verziert (wiere bedeutet eingelegtes, eingegrabenes Gold).³² Der Exeget (der diu zeichene wil began) wird mit dem Schmied verglichen, und der Prozess der Enthüllung der verhüllten Wahrheit der Zeichen kann so mit der Verzierung des Goldes assoziiert werden. In diesem Sinne wird nicht nur die Schönheit der verhüllten Wahrheit (des Goldes) hervorgehoben, sondern auch diejenige des exegetischen Prozesses (der wiere).³³ Auf diese Analogie folgt das erste Beispiel des assoziativen Stils der Hochzeit: Das ‚goldene‘ Bild des Schmieds geht in das Bild der mit Gold geschmückten Frau über. Zwischen den beiden Bildern besteht eine lexikalische Kontinuität (golt, wiere, ziere): Siu spannet fur ir bruste daz ist geworht mit listen, ain guldin gewiere, daz ez ir lip ziere. (V. 21–24)

Beide Stellen teilen das gleiche Bild des eingegrabenen, durch Schmiedekunst geformten Goldes. Es besteht kein narrativer Zusammenhang, der es dem metaphorischen Schmied erlauben würde, sein metaphorisches Kleinod der metaphorischen Frau anzulegen: Die Verbindung dieser Bilder besteht lediglich auf einer assoziativ ästhetischen Ebene.³⁴

31 Obermaier (Anm. 30), S. 322: „Wie der Schmied das Metall bearbeitet, bis es die gewünschte Form hat, so bearbeitet der Dichter die Sprache und bringt sie in die gewünschte Form. Es liegt auf der Hand, daß die jeweiligen ‚Stoffe‘ sowie die jeweilige ‚Formung‘ von ganz anderer Qualität, ja ‚Stoff‘ (Sprach‚material‘) und ‚Form‘, sobald sie auf die Sprache und auf Dichtung bezogen werden, selbst wieder Metaphern sind.“ 32 Es bleibt unklar, welches künstlerische Verfahren hier beschrieben wird. Wahrscheinlich soll an eine Art der Emaille gedacht werden. Zur wiere vgl. Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3  Bde, Leipzig 1872–1878. wiere als Substantiv kommt relativ selten vor. Es gibt aber einen interessanten Beleg im Annolied, wo Anno als schön vom Schmied (Gott) eingegrabenes Gold beschrieben wird. Vgl. Annolied. Hrsg. von Max Roediger, Berlin 1895 (MGH Deutsche Chroniken I, 2), V. 647–658: Ni avir diu michil êre / iewiht wurre sînir sêlin, / sô ded imi got, alsô dir goltsmid duot. / sor wirkin willit eine nuschin guot, / diz golt siudit her in eimi viure, / mit wêhim werki duot her si tiure, / mit wieren alsô cleinin. / wole slîft her die goltsteine, / mit manigir slahti gigerwa / gewinnit er in die variwa. / alsô sleif got seint Annin / mit arbeidin manigin. Im Vergleich mit der Hochzeit wird hier Gott als Schmied dargestellt, obwohl das Bild und das künstlerische Verfahren in beiden Fällen ähnlich sind. Im Annolied verziert Gott (der Schmied) einen Mann (das Gold, mit der wiere), und in der Hochzeit verziert und enthüllt der Exeget (der Schmied) die verhüllte Wahrheit (das Gold, mit der wiere). 33 Vgl. Hellgardt (Anm. 21), S. 136, im Bezug auf den Schmiedvergleich der Hochzeit. Gantert (Anm. 17), S. 406, erklärt die Schmiedmetapher auf einfachere Weise und nimmt an, ihre Hauptfunktion sei den exegetischen Prozess zu lehren, d.  h. einfach zu zeigen, wie das hermeneutische Verfahren funktioniert. 34 Vgl. Ganz (Anm. 13), S. 60  f., der behauptet, der insigele sei das Siegel des Hohelieds: Pone me sicut

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Der Körper der Frau wird mit Gold geschmückt, doch sie verliert dieses Gold, wenn sie es in den Kehricht fallen lässt und nicht wiederfinden kann; es wird dann aus dem Haus gefegt. Das im Dreck begrabene Gold bezeichnet – an dieser Stelle tritt die Vokabel bezeichent (V. 47) erstmals im Gedicht auf – die Weisheit, die nicht mitgeteilt wird (V. 43–50). Der aus dem Haus gefegte Kehricht bezeichnet den weisen Mann selbst, der andere nicht lehrt, denn er wird in der selben Weise aus dem Himmel ausgeschlossen werden (V. 51–58). Es gibt also eine thematische Kontinuität zwischen den beiden Auslegungen des Goldes, da beide Weisheit und Lehre bezeichnen: Die wiere, die in der Schmiedmetapher den schönen exegetischen Prozess bedeutet, bezeichnet hier die Weisheit, die der Exeget besitzen muss, um diese Aufgabe zu unternehmen. Die Parabel der Frau, die das Gold verliert, stammt aus Lk 15,8–10. Dort geht es um eine Frau, die einen Pfennig verliert, das ganze Haus fegt und jubelt, als sie ihn endlich wiederfindet. Es geht dabei um Reue oder Buße, denn die Engel erfreuen sich an jedem reumütigen Sünder, der vom Christentum wiedergefunden wird.³⁵ Die Verbindung mit Buße müssen wir im Kopf behalten, aber es geht im Moment lediglich darum zu zeigen, dass das Publikum diese Parabel wahrscheinlich aus Predigten kannte.³⁶ Die Auslegung in der Hochzeit hat aber nichts mit Buße zu tun, denn das Gold wird nicht wiedergefunden. Stattdessen thematisiert das Gedicht den geläufigen Exordialtopos der Notwendigkeit der Mitteilung des Wissens.³⁷ Das Bild der mit Gold

signaculum super cor tuum (Cantica Canticorum 8,6; „Leg mich wie ein Siegel auf dein Herz.“). Hier wird aber nicht explizit gesagt, dass die Frau das insigele trägt. Lexikalisch wichtiger ist die wiere, die in beiden Bildern vorkommt. Alle Bibelzitate kommen aus der Vulgata, deutsche Übersetzungen aus der ‚Einheitsübersetzung‘. 35 Lk 15,8–10: Aut quae mulier habens dragmas decem si perdiderit dragmam unam nonne accendit lucernam et everrit domum et quaerit diligenter donec inveniat / et cum invenerit convocat amicas et vicinas dicens congratulamini mihi quia inveni dragmam quam perdideram / Ita dico vobis gaudium erit coram angelis Dei super uno peccatore paenitentiam agente. („Oder wenn eine Frau zehn Drachmen hat und eine davon verliert, zündet sie dann nicht eine Lampe an, fegt das ganze Haus und sucht unermüdlich, bis sie das Geldstück findet? Und wenn sie es gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen zusammen und sagt: Freut euch mit mir; ich habe die Drachme wiedergefunden, die ich verloren hatte. Ich sage euch: Ebenso herrscht auch bei den Engeln Gottes Freude über einen einzigen Sünder, der umkehrt.“). 36 Vgl. Regina Schiewer: Die deutsche Predigt um 1200. Ein Handbuch, Berlin, New York 2008, S. 340–345. Sie erwähnt vier Predigten, die diese Parabel zum Thema machen (Millstätter Predigt T34/35, Nr. 55; Leipziger Predigt Nr. 237; Leipziger Predigt T17, 60, 63–65; Oberaltaicher Predigt T23, 76, Nr. 46). Obwohl die Bibelpassage von den einzelnen Predigten jeweils anders ausgelegt wird, geht es immer um die abschließende Vereinigung von Gott und den Menschen, nachdem die Menschen aus der Gewalt des Teufels entrissen worden sind oder nachdem das sündige Gewissen durch Reue gereinigt worden ist. 37 Vgl. bes. Sir 20,32: sapientia absconsa et thesaurus invisus quae utilitas in utrisque („Verborgene Weisheit und versteckter Schatz: was nützen sie beide?“); Mt  5,15: neque accendunt lucernam et ponunt eam sub modio sed super candelabrum ut luceat omnibus qui in domo sunt. („Man zündet auch nicht ein Licht an und stülpt ein Gefäß darüber, sondern man stellt es auf den Leuchter; dann leuchtet

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geschmückten Frau kehrt aber wieder und nimmt dadurch eine wörtliche Bedeutung innerhalb des spells an, dass die Braut auch goldenen Schmuck trägt: er watet si mit vlizze in gewæte daz wizze, mit porten behangen, mit guldinen spangen; die guldinen wiere fuort die maget here. (V. 279–284)

Wieder erscheint wiere, und die beiden mit Gold ausgeschmückten Frauenkörper ähneln sich, sie haben aber keine explizite Verbindung, denn das erste Bild ist schon ausgelegt worden, das zweite noch nicht. Letzteres spielt bis jetzt nur eine wörtliche und logisch konsistente Rolle innerhalb des spells, denn eine Beschreibung der Kleider der Braut erscheint nicht ungewöhnlich. Der Schmuck der Braut wird erst nach 400 Versen ausgelegt, nach einer Beschreibung dreier verschiedener Arten der Beichte: Kupferbeichte, Silberbeichte und die beste aller Beichten, die Goldbeichte. Das Thema der Beichte wird nach der einleitenden Metapher der Verjüngung des Adlers explizit angesprochen, die zuerst durch das Baden der Braut im spell und dann durch die Beichte ausgelegt wird.³⁸ Es gibt hier also zwei Ebenen verhüllter Wahrheit, die eine wird durch die andere erklärt, und diese Verbindung führt schließlich zur Erkenntnis der Wahrheit. Soweit ich weiß, ist die Unterscheidung von Beichtarten, die man hier findet, ungewöhnlich:³⁹ Die Kupferbeichte wird von demjenigen unternommen, der sein Leben weltlichem Vergnügen widmet und keine Opfer spendet, bis er im Sterbebett liegt und einem Priester endlich seine Sünden bekennt; die Silberbeichte ist die regelmäßige Beichte eines weltlichen Mannes, der regelmäßig Buße und Fasten verrichtet; aber zur Goldbeichte zu gehen heißt, Gott eine Sünde zu bekennen, sobald sie begangen worden ist, dem Priester mit Worten und Werken zu beichten und das ganze Leben im Dienst Gottes zu verbringen. Nach dieser Erklärung kehren wir aber wieder zur goldenen Spange der Braut zurück:

es allen im Haus.“). Zu diesem Topos vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 2., durchges. Aufl., Bern 1954, S. 97  f., der poetische Beispiele von dem Archipoeta und Alanus ab Insulis u.  a. vorgibt. 38 Die Idee der Verjüngung des Adlers war im Mittelalter weit verbreitet und findet sich im Physiologus. Vgl. Der altdeutsche Physiologus. Die Millstätter Reimfassung und die Wiener Prosa (nebst dem lateinischen Text und dem althochdeutschen Physiologus). Hrsg. von Friedrich Maurer, Tübingen 1967 (ATB 67), S. 54–57. 39 Vgl. von Kraus (Anm. 14), S. 79  f., der erklärt, dass obwohl viele (meist lateinische) Autoren Beichte und verschiedene Beichtsorten diskutieren, die Abstufung nach Metallen fehlt. Diese Abstufungen könnten von einigen Quellen beeinflusst worden sein. Er erwähnt u.  a. II Tim 2,20 (von Kraus schreibt eigentlich I Tim 2,20, was ein Fehler ist) und S. Melitonis Clavis, De metallis. Vgl. auch Ganz (Anm. 13), S. 67.

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diu bihte ist guldin; daz lat die spangen sin, die diu brout an ir hæte, also schone an ir wæte. (V. 692–695)

Die zuvor nicht erklärte Spange der Braut wird jetzt ausgelegt. Diese Auslegung ist anders als die frühere Auslegung des von einer Frau getragenen Goldes im Prolog; eine assoziative Verbindung wird aber durch das Thema der Beichte geschaffen, denn das erste Bild stammt aus der Parabel über die Bedeutung der Buße. Eine solche Bildfragmentation fällt auf und ist sehr kreativ. Es ist fraglich, ob das Publikum einen solchen Zusammenhang tatsächlich auch erkannte, aber diese Zusammenhänge können zweifellos gefunden werden. Selbst wenn wir das verlorene Gold außer Acht lassen, ist es auffällig, dass das Bild einer mit Gold geschmückten Frau zweimal unterschiedlich ausgelegt wird. Es war durchaus üblich, dass einem Dingzeichen mehr als eine Bedeutung zugesprochen wurde, aber an dieser Ausprägung ist interessant, dass ein Bild – das Gold – das Gedicht durchdringt und sich mehrmals verwandelt.⁴⁰ Die Beziehung zwischen den jeweiligen Auslegungen des Goldes und der wiere ist ebenfalls interessant. In der ersten Auslegung bezeichnet das Gold die verhüllte Wahrheit, die wiere den exegetischen Prozess. In der zweiten Auslegung bezeichnet das Gold die Beichte, die wiere das rehte riwen und die Liebe des Menschen für Gott. In beiden Fällen bezeichnet die wiere etwas, das in das Gold eingelassen wird, um es brauchbar oder schöner zu machen, aber die wiere ist auch immer selbst wertvoll. Ähnliche Lektüremöglichkeiten ergeben sich auch bei anderen Bild- und Wortgruppen, die das Gedicht durchziehen. Besonders prominent ist das Wortfeld des Lichtes bzw. des Glanzes. Andere Stichwörter sind reht und leren. Es gibt auch weniger stark akzentuierte Parallelen, z.  B. zwei bildlich ähnliche Metaphern über Vögel (den Adler und den Pelikan) und zwei über einen Hund.⁴¹

40 Die Möglichkeit der vielfachen Bedeutung der Dingzeichen wird von W. Freytag (Anm. 20), S. 342, und H. Freytag (Anm. 20), S. 41, angesprochen. 41 Licht/Dunkel: V. 50; V. 83  f.; V. 204; V. 287; V. 298  f.; V. 389; V. 444; V. 465; V. 480  f.; V. 522; V. 595  f.; V. 762; V. 791; V. 844; V. 850; V. 944; V. 989. reht: V. 95  f.; V. 158; V. 163; V. 203; V. 211; V. 225  f.; V. 505; V. 735; V. 847; V. 1040; V. 1047; V. 1076. leren: V. 12; V. 45; V. 949; V. 956. Adler: V. 580–601; Pelikan: V.  819–840; Hund: V. 109–114; V.  534–539. Zu dieser Technik im Allgemeinen, vgl. Reske (Anm. 8), S. 170: „Der Dichter der Hochzeit benutzt jene Technik, bei der ein Wort so in seine möglichen Bestandteile zerlegt wird, daß auch diese wiederum sinnvolle Wörter ergeben, von deren Bedeutung her dann die der Zusammensetzung bestimmt wird.“

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II Explizite und implizite Auslegung Nun werde ich die Auslegung des spells im Allgemeinen diskutieren.⁴² Wie bereits erwähnt, ist die ganze Auslegung grob in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil geht es um das Leben und den Tod, wie der Mensch sich auf der Erde benehmen sollte, die Qualitäten des Menschen, die Macht Gottes über die Menschheit, das Letzte Gericht usw. Im zweiten Teil geht es eher um Heilsgeschichte, Maria und das Leben Christi. Spezifische Details des spells werden mit der Vokabel daz bezeichent ausgelegt,⁴³ und solche expliziten Auslegungen folgen grundsätzlich dieser Strukturierung. Im ersten Abschnitt z.  B. bezeichnet die michele huote um die Braut daz mennisch guot (V. 238), das dem Menschen dabei hilft, sich gegen den Teufel zu verteidigen, und die michel wirtschaft des Brautumzugs bezeichnet die mæren gotes chraft (V. 332), durch die Gott die Erde und den Himmel ordnet. Im zweiten Abschnitt bezeichnet das Strahlen der Braut als ein liehtir tagesterne die heilige maget, die noch glänzender als ein Engel leuchtet (V. 791–800). Die Leute, die während der Brautwerbung zu Hause bleiben, bezeichnen schließlich die Menschen der fünf Zeitalter in der Hölle, die auf die Himmelfahrt Christi warten (V. 807–812). Es gibt aber Überschneidungen: Im ersten Abschnitt (V. 339–358) soll die michelen ere (V. 347) daz wenige chint (V. 350) bezeichnen, daz vingerlin (V. 353) den westerhuot (V. 354), den er trägt, wenn er aufersteht (V. 339– 358), also implizit Christus. Die expliziten Auslegungen führen zu einer Vielfalt von tropologischen Überlegungen, und die beiden Abschnitte enthalten einen längeren, selbständigen Exkurs: im ersten Abschnitt über die Erlösung der Menschheit und das Himmlische Jerusalem (V. 379–481)⁴⁴ und im zweiten Abschnitt eine Zusammenfassung von Geburt und Leben Christi. Beide Exkurse sind also zum Teil anagogisch. Es gibt aber weitere Bedeutungen, die nur angedeutet werden, insbesondere die grundsätzlichen narrativen Komponenten des spells, z.  B. die Bedeutung der Hochzeit selbst oder die Bedeutung des Königs. Es wird nie explizit gesagt, dass der König Gott bezeichnet, dass die Hochzeit die Vereinigung zwischen Gott (oder Christus) und dem Menschen oder zwischen Gott und Maria bezeichnet, oder dass die Vertreibung der untreuen Knechte des Königs in die apgrunde den Luzifersturz bezeichnet. Die Landschaft des spells, die aus einem hohen Gebirge, einem Tal und dem apgrunde besteht, bleibt auch unerklärt. Ganz konstatiert, dass die Bedeutung dieser Aspekte zu offensichtlich ist, um

42 Obwohl ich mich auf die Auslegung des spells konzentriere, die den Kern des Gedichts bildet, ist es wichtig zu sagen, dass es andere Fälle der verhüllten Wahrheit im Gedicht gibt, z.  B. im Prolog (wie oben diskutiert) oder in den Exempla des Adlers oder des Pelikans. Diese passen jedoch zum allgemeinen thematischen Raum des Gedichts. 43 Vgl. H. Freytag (Anm. 20), S. 51, zur allegorischen Sprache in der Volksprache. Das Wortfeld bezeichenen/bezeichenunge kommt oft vor und entspricht dem lateinischen signare/significare. 44 Diese Zeilen werden von Reske (Anm. 8), S. 157–203, ausführlich diskutiert.

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Auslegung zu verdienen, was möglich sein könnte.⁴⁵ Aber unabhängig davon, ob man dieser Argumentation folgen möchte, spielt die Tatsache, dass diese Aspekte nicht explizit ausgelegt werden, eine zentrale Rolle beim Verständnis des Stils des Gedichts, da es bedeutet, dass es hier zwei Ebenen der Wahrheitserkenntnis gibt. Es ist auffällig, dass die Bedeutung der unausgelegten Aspekte oft angedeutet wird: Die Braut wird auf eine Weise beschrieben, die an traditionelle Beschreibungen Marias erinnert (V. 196–207). Ihr Adel und ihre Schönheit werden erwähnt, und sie wird mit dem Tagesstern verglichen. Auch Maria wird später mit einer ähnlichen Vokabel beschrieben (V. 791–800), und das Strahlen der Braut sollte Maria bezeichnen, obwohl die Identität der zwei Figuren nicht explizit ins Spiel kommt. Die Geschichte der Vertreibung der untreuen Knechte des Königs wird am Ende des Gedichts wiederholt und mit dem Pelikan verglichen, der seine Jungen tötet. Dieses exemplum wird durch die Worte Da tet got als ein vogil tuot (V. 819) eingeführt, was andeutet, dass der Herr, der seine Knechte vertreibt, als Gott verstanden werden sollte. Der Luzifersturz wird dann später wörtlich erzählt, ohne Erwähnung des spells, aber in lexikalischer Verbindung dazu (z.  B. apgrunde; verswief [V. 1002–1017]). Die Brautwerbung selbst wird zuvor einmal explizit ausgelegt und soll den Heiligen Geist im Akt der Menschwerdung bezeichnen: Daz der broutegom dar chom unde die brout zuo im nam, daz bezeichent aller meist den heiligen geist, der in daz mennisch chumet. (V. 339–343)

Diese Auslegung besitzt aber keine besondere Bedeutung innerhalb des Gedichts und wird wie die Exegese kleinerer Details behandelt. Die Ausdeutung des spells funktioniert deshalb zweifellos auf zwei Ebenen. Einzelne Details werden explizit ausgelegt, und die Bedeutung von anderen – besonders denjenigen, die theologisch am wichtigsten sind oder eine zentrale Rolle bei der narrativen Konstruktion des spells spielen  – wird nur angedeutet. Diese Methode der Auslegung hat eine besondere Wirkung. Die expliziten Auslegungen stimulieren den Leser oder den Hörer, über die Möglichkeiten der Exegese im Allgemeinen nachzudenken. D. h. er wird dazu eingeladen, eine Methode der Lektüre anzunehmen, dem zufolge a b bezeichnet. Er wird dazu eingeladen, Bildumsetzungen selbst zu schaffen. Eine solche aktive Lektüre wird auch durch die oben erwähnten Andeutungen gefördert – also durch die Details, die nicht explizit ausgelegt werden –, und der Rezipient will explizite Auslegungen für diese Andeutungen schaffen. Auch wenn die Bedeutung eines nicht explizit ausgelegten Aspekts des spells eine naheliegende sein könnte (z.  B. der Herr als Gott), wird das Publikum dazu angeregt, sich aktiv zu engagieren, um diese Bedeutung zu finden.

45 Ganz (Anm. 13), S. 68.

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Um die zwei Arten der Auslegung besser zu verstehen, kann die Diskussion Quintilians über Allegorie und Metapher hilfreich sein, nicht wegen ihrer Terminologie, sondern weil Quintilian zeigt, wie eine Allegorie aus Metaphern aufgebaut werden kann, d.  h. aus kleineren Aussagen, die jeweils eine Art verhüllter Wahrheit darstellen. Laut Quintilian ist die Allegorie ein Tropus, in dem die wörtliche Bedeutung zu einer verschiedenen oder entgegengesetzten Bedeutung führt. Die Allegorie kann aus einer Reihe von Metaphern (translationibus) bestehen, z.  B. in der Carmina 1,14 von Horaz: quo navem pro re publica, fluctus et tempestates pro bellis civilibus, portum pro pace atque concordia dicit.⁴⁶ So etwas kommt auch in der Hochzeit vor, da das spell aus einzelnen translationes aufgebaut wird – den Details, die explizit ausgelegt werden. Wir stoßen jedoch auf ein Problem: Bei den meisten Allegorien ist es der Fall, dass das Ganze eine allgemeine Kohärenz besitzt, dass die einzelnen translationes ein verständliches Bedeutungsganzes bilden. In der Hochzeit wird aber die Beziehung zwischen diesen translationes und der Bedeutung des Ganzen zum Teil unklar, denn wir kennen die Bedeutung der goldenen Spange der Braut, aber nicht die Bedeutung der Brautwerbung oder des spells im Allgemeinen. Wenn nur die expliziten Auslegungen in Betracht gezogen werden, scheint es, als bestünde das Gedicht aus einer Reihe von oft unzusammenhängenden Objekten. Die Verbindung zwischen den einzelnen expliziten Auslegungen wird nicht explizit gemacht, diese selbst aber verweisen nur darauf. Die Kohärenz des Ganzen muss man selbst herstellen, indem man die unausgelegten Details, die oben erwähnten Andeutungen, in Betracht zieht. Die Kohärenz des Ganzen scheint in der thematischen Gliederung der Auslegung zu bestehen, die ich schon mehrmals erwähnt habe. Im ersten Abschnitt geht es um Leben und Tod, also pauschal gesagt um die Beziehung zwischen Mensch und Gott, und im zweiten geht es um Maria und Christus. Der aktive Rezipient des Gedichts könnte daraus einen Zusammenhang zwischen der thematischen Gliederung und dem grundsätzlichen Inhalt des spells  – der Hochzeit  – herstellen und das Ganze darüber hinaus in Bezug auf das Hohelied interpretieren. Tatsächlich lässt diese angedeutete Auslegung des spells sich auf zwei der traditionellen Auslegungen der Hochzeit des Hohelieds beziehen. In der Hoheliedtheologie wird der Bräutigam normalerweise als eine der drei Personen der Trinität und die Braut entweder als die Kirche, die Seele oder Maria gesehen.⁴⁷ In der Hochzeit kommt ecclesia nicht ins Spiel, aber die Auslegungen betreffen zuerst die Vereinigung zwischen Gott und dem Menschen, dann die Vereinigung zwischen Gott und Maria sowie die daraus entstehende Heilsgeschichte – wenn auch auf eine theologisch eher simple Weise.

46 Übersetzung: „an der er Schiff für das Gemeinwesen, Fluten und Stürme für Bürgerkriege, Hafen für Frieden und Eintracht sagt.“ Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. 2., durchges. Aufl. Hrsg. und übers. von Helmut Rahn. 2 Bde, Darmstadt 1988 (Texte zur Forschung 2–3), Bd. 2, VIII 6, 44. 47 Zur Tradition der Hoheliedauslegung vgl. grundlegend Ohly (Anm. 13).

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In diesem Sinne könnte man die Funktion der Erzählung im spell auf zwei Weisen betrachten: Zum einen stellt sie ein leicht erkennbares weltliches Erzählmuster dar, das die Aufmerksamkeit eines Laien erregen könnte. Zum anderen fordert sie den gut ausgebildeten Theologiekenner dazu auf, nach tieferen Bedeutungen zu suchen und vielleicht sogar eine Verbindung zum Hohelied herzustellen. Dieser implizite Hoheliedbezug setzt ein besonders gebildetes Publikum voraus. Es wurde oft gesagt, dass man das Hohelied erst lesen und auslegen dürfe, wenn man eine sehr hohe Ebene der Theologiekenntnis erreicht habe.⁴⁸ Im 12. Jahrhundert war das Hohelied besonders beliebt, aber es gab nur eine deutsche Auslegung, das St. Trudperter Hohelied, das selbst von einer besonderen Komplexität ist und dessen theologischer Umfang viel größer als derjenige der Hochzeit ist.⁴⁹ Für diesen Text nimmt man auch ein monastisches Publikum an, im Vergleich zum Großteil der frühmittelhochdeutschen Literatur (und der Hochzeit selbst), dem ein laikales Publikum zugeschrieben wird, d.  h. ein Publikum, das zum größten Teil keine gute Theologieausbildung hatte. Im Fall der Hochzeit wird das Publikum aber implizit durch den oben beschriebenen allegorischen Stil dazu eingeladen, nach weiteren Bedeutungen und Verbindungen im Gedicht zu suchen, die durchaus größere Theologiekenntnis verlangen. Wichtig ist allerdings, dass das Gedicht auch dann verständlich bleibt, wenn man die tiefere Bedeutung nicht findet: Es liefert noch die expliziten Auslegungen und gelegentlichen Anweisungen, wie man in der Welt leben soll. Auf die Frage des Publikums kann ich an dieser Stelle nicht ausführlicher eingehen. Meine Untersuchung soll aber betonen, dass es hier nicht darum geht, theologische Komplexitäten für ein laikales Publikum zu vereinfachen und dass man ein gebildetes Publikum nicht ausschließen sollte. Außerdem ist es möglich, dass das Gedicht auf verschiedenen Ebenen von verschiedenen Rezipienten verstanden worden sein könnte. Nun steht es noch aus, das Ende des Gedichts zu diskutieren. Dort kehrt der Dichter wieder explizit zum Thema Hochzeit zurück. Hier geht es um eine echte, historische Hochzeit, wenn Gott sich dazu entscheidet, die Menschheit zu erlösen und sich eine Braut, Maria, zu nehmen: Ich sahe iu, wie erz an vie; do er unsir erste genade gevie, do hiez er einen sinen trout werven ein brout. (V. 879–882)

Trotz der konkreten Historizität dieser Hochzeit und des folgenden Exkurses über das Leben Christi wird sie auch nicht in explizite Verbindung mit der Hochzeit des spells

48 Vgl. z.  B. die erste Predigt zum Hohelied Bernards von Clairvaux: Sermones in Cantica canticorum. PL 183, Sp. 785. 49 Das St. Trudperter Hohelied: eine Lehre der liebenden Gotteserkenntnis. Hrsg. von Friedrich Ohly unter Mitarbeit von Nicola Kleine, Frankfurt a. M. 1998 (Bibliothek des Mittelalters 2).

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oder derjenigen des Hohelieds gebracht. Die Geschichte des Lebens Christi führt zu einer weiteren, jetzt auch metaphorischen Hochzeit: die Hochzeit derjenigen, die durch Christus aus der Hölle befreit werden: Daz was ein schoniu hervart, da diu helle beroubet wart, da got die sine chnehte brahte zuo ir rehte, ze siner broutloufte. (V. 1044–1048)

Diese Hochzeit ist die herrlichste, die je vollzogen wurde und ist auch eine ewige (V. 1062–1065). Sie überschreitet selbst die historischen Grenzen der Heilsgeschichte, denn: Nu sint geistliche loute gezalt ze der selben broute. w …….. zu den geisten wir solten sin meister, wan wir sin genant diu gesegenten chint unde ouf uns jene wartunde sint, die vor uns dan sint genomen unde hin ze den gesegenten chomen: die wartent uns unz an den suontach. (V. 1066–1074)

Am Ende wird die zentrale Rolle der broutlouft explizit gemacht, wenn das Publikum selbst angeregt wird, an dieser Hochzeit teilzunehmen. In diesem Sinne ist es egal, ob der Hörer die ganze Komplexität des Gedichts versteht, da die Quintessenz zum Schluss eine Ermahnung ist, sein Leben in den Dienst Gottes zu stellen und am Erlösungsakt zu partizipieren.

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Annette Volfing

Leien mund nie baz gesprach Wolfram als stilistisches Vorbild im Jüngeren Titurel, im Lohengrin und im Göttweiger Trojanerkrieg? Ausgangspunkt dieses Aufsatzes ist die Frage, inwieweit Texte, die mit einem Wolfram-Erzähler operieren, auch den literarischen Stil des ‚historischen Wolfram‘ nachahmen wollen. Auf den ersten Blick erscheint eine solche Erzählerrolle wenig sinnvoll, wenn sie nicht wenigstens ansatzweise wie das Original klingt. Daher liegt die Annahme nahe, dass Autoren, die sich dieser Konstruktion bedienen, die Erzähleridentität durch Bezugnahme auf Wolframs stoffliche und stilistische Merkmale untermauern, anstatt ihren Erzähler lediglich mit dem Namen Wolfram vorzustellen. Ob dies tatsächlich der Fall ist, ist an drei prominenten Beispielen – dem Jüngeren Titurel (JT), dem Lohengrin und dem Göttweiger Trojanerkrieg (GT) – zu überprüfen. Von diesen drei Texten findet sich nur im JT der Versuch, einen Wolfram-Erzähler zu schaffen, der sich direkt auf ‚sein‘ früheres Werk bezieht.¹ Im Lohengrin und im GT wird das Problem der Erzähleridentität anders überwunden und mit weniger Rückbezug auf Wolframs Werke.² In der Praxis trennt der Lohengrin-Autor Inhalt und Stil, denn während der Inhalt ersichtlich an die letzte Episode des Parzival anschließt, unterscheidet sich der Stil erkennbar von allem, was Wolfram gedichtet hat.³ Da der Stoff des GT völlig ‚un-wolframsch‘ ist, geht dieser Text noch weiter in der Trennung von Erzählerfigur und historischem Autor. Der Grund für diese Aufspaltung ist zum Teil in der Kanonisierung Wolframs durch spätere Dichter zu finden. Zwei bekannte Tribute ragen heraus: Wirnts von Grafenberg Lobrede auf Wolframs künstlerische Gesamtleistung:

1 Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel. Hrsg. von Werner Wolf (I-II,2)/Kurt Nyholm (II,2-IV), Berlin 1955–1995 (DTM 45; 55; 61; 73; 77; 79); Wolfram von Eschenbach: Parzival. Hrsg. von Eberhard Nellmann nach dem Text von Karl Lachmann, übers. von Dieter Kühn, Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8,1–2); Wolfram von Eschenbach: Titurel. Text – Übersetzung – Stellenkommentar. Hrsg. von Helmut Brackert/Stephan Fuchs-Jolie, Berlin 2003. 2 Lohengrin. Edition und Untersuchungen. Hrsg. von Thomas Cramer, München 1971; Der Göttweiger Trojanerkrieg. Hrsg. von Alfred Köppitz, Berlin 1926 (DTM 29). 3 Vgl. Regina Unger: Wolfram-Rezeption und Utopie. Studien zum spätmittelalterlichen bayerischen Lohengrin-Epos, Göppingen 1990 (GAG 544): „Wolframnachahmung ist angestrebt“ (S. 31), im Vergleich mit Albrecht jedoch bestehe „für den Autor des Lohengrin diese enge Verpflichtung an Wolframs Werk nicht“ (S. 26).

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 Annette Volfing

Daz lop gît ir her Wolfram, ein wîse man von Eschenbach; sîn herze ist ganzes sinnes dach; leien munt nie baz gesprach. (Wigalois, V. 6343–6346)⁴

und Rudolfs von Ems Lob für Wolframs Stil: starc, in mange wîs gebogn, wilde, guot und spæhe, mit vremden sprüchen wæhe. (Alexander, V. 3130–3132)⁵

Stellen dieser Art verleiten zu dem Fehlschluss, dass jedwede Art von Literatur, die stilistische oder strukturelle Komplexität – oder auch nur hohe literarische Qualität im allgemeinsten Sinne  – anstrebt, einen legitimen Anspruch erheben könnte, als wolframtypisch zu gelten. Ebenso haben einzelne Versuche, eine Erzählerstimme mit der Wolframs in Verbindung zu setzen, kaum eine andere Funktion als die, für das betreffende Werk eine gewisse literarische Qualität in Anspruch zu nehmen. So trifft man denn auch auf die einmalige isolierte Behauptung in Wolfdietrich D (Daz sage ich, Wolferam, der werde, meister von Eschebach [969,3]), obwohl dieses Werk in keinerlei Zusammenhang mit der Erzählwelt des ‚historischen Wolfram‘ steht⁶ und seine Erzählerfigur auch im weiteren Verlauf in keinster Weise mit Profil oder Individualität ausgestattet ist. Meistens geht das Thema des stilistischen Vorbildcharakters des meisters jedoch gerade mit dem Interesse an der dynamischen, streitlustigen Persönlichkeit des Erzählers einher, der den Namen des historischen Autors teilt. Eine detaillierte Diskussion von Rezeption und Entwicklung der Wolfram-Rolle findet sich bei Hedda Ragotzky.⁷ In jüngster Zeit untersuchte Alastair Matthews, auf welche Weise mhd. vitae der Elisabeth von Thüringen Hinweise auf den Sängerwettstreit auf der Wartburg verarbeiten. Dies lässt, so Matthews, die Folgerung zu, es bestehe:

4 Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Text  – Übersetzung  – Stellenkommentar. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn, übers., erl. und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach/Ulrich Seelbach, Berlin, New York 2005. 5 Rudolf von Ems: Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Victor Junk, Leipzig 1928–1929 (StLV 272; 274). 6 Wolfdietrich D. In: Ortnit und Wolfdietrich D. Kritischer Text nach Ms. Carm. 2 der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main. Hrsg. von Walter Kofler, Stuttgart 2001, S. 117–399. Zur Wolfram-Nennung im Wolfdietrich D vgl. Sebastian Coxon: The Presentation of Authorship in Medieval German Narrative Literature 1220–1290, Oxford 2001, S. 171. 7 Hedda Ragotzky: Studien zur Wolfram-Rezeption. Die Entstehung und Verwandlung der Wolfram-Rolle in der deutschen Literatur des 13. Jahrhunderts, Stuttgart 1971 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 20).

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an interest in authors not as entities defined by their conceptual place in relation to textual genesis or transmission, but as figures with stories behind them.⁸

Paradoxerweise aber geht diese Fokussierung auf Wolfram als Persönlichkeit häufig zu Lasten einer ernsthaften Auseinandersetzung mit seinem literarischen und stilistischen Erbe. Während das Wartburgkrieg-Szenarium Clinschor im Endeffekt vom Zauberer zum Sänger und Dichter aufwertet, reduziert es gleichzeitig Wolframs Status zu dem einer intradiegetischen Figur – eines Sängers unter vielen. Im Lohengrin wird diese Abwertung noch dadurch verstärkt, dass Wolfram nicht nur gegen Clinschor antreten muss, eine Figur, die eng mit seiner eigenen literarischen Schöpfung verbunden ist, sondern von diesem auch noch mit Horant (dem fiktionalen Sänger der Kudrun) verglichen wird:⁹ nû siht man den von Eschenbach als man Hôrant vor der künigîn Hilden sach. der Clingesor sprach: ‚nû singet, meister wîse.‘ (Lohengrin, V. 298–300)

Selbst wenn Clinschor Wirnts von Grafenberg Lobrede wieder aufbereitet man saget von dem von Eschenbach und gît im prîs daz leien munt nie baz gesprach: her Wolferam der tihtet guotiu maere. (Lohengrin, V. 38–40)

lässt der Kontext annehmen, dass sich diese Einschätzung mehr auf das Potenzial des Protagonisten ‚Wolfram‘ bezieht, der sich auf der Wartburg misst, als auf die Leistungen des historischen Autors. Insofern steht der JT für sich allein, aber auch der Versuch an das Werk Wolframs anzuschließen bleibt nicht ohne Komplikationen. Angesichts der Tatsache, dass der JT seine Dynamik aus dem ständigen Konflikt zwischen dem weltlichen WolframErzähler und der asketischen vrou Aventiure herleitet, stellt sich für Albrecht die Herausforderung, eine Erzählerstimme zu schaffen, die in gewisser Hinsicht als die aus dem Parzival und dem Titurel erkennbar ist, am Ende aber eine sehr andersartige Erzählung hervorbringt.¹⁰ 8 Alastair Matthews: Literary Lives in Medieval Germany. The Wartburg Song Contest in Three Hagiographical Narratives. In: DVjs 84 (2010), S. 44–59, hier S. 58. 9 Kudrun. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch hrsg. von Karl Stackmann, Tübingen 2000 (ATB 115). 10 Annette Volfing: Medieval Literacy and Textuality in Middle High German. Reading and Writing in Albrecht’s Jüngerer Titurel, New York 2007, bes. S. 75–96. Dazu Sonja Glauch: Der Eigensinn der Camouflage. Zur Dialektik des Fiktionalen im Jüngeren Titurel. In: Der Jüngere Titurel zwischen Didaxe und Verwilderung. Neue Beiträge zu einem schwierigen Werk. Hrsg. von Martin Baisch u.  a., Göttingen 2010 (Aventiuren 6), S. 67–85, hier S. 72. Zur Wolfram-Rezeption im JT siehe auch Thomas Neukirchen: Dirre aventiure kere. Die Erzählperspektive Wolframs im Prolog des Jüngeren Titurel und die Erzählstrategie Albrechts. In: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 283–303; ders.: Die ganze aventiure

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 Annette Volfing

I Jüngerer Titurel Ist zwivel nachgebure  dem herzen icht di lenge, daz můz der sele sure  werden ewiclich in jamers strenge. herze, hab di stæt an dem gedingen, war minne, rechten gelouben,  so mac der sel an sælicheit gelingen. (JT, 22,1–4)

So wird das berühmte Reimpaar, mit dem Wolfram den Parzival beginnt – Ist zwîvel herzen nâchgebûr, / daz muoz der sêle werden sûr (Parzival, 1,1  f.) –, von Albrecht im JT umgestaltet. Während er die Schlüsselbegriffe beibehält, sind die Unterschiede unübersehbar. Das Reimpaar wird zu einer vierzeiligen Strophe ausgebaut, eng angelehnt an – aber nicht identisch mit – der metrischen Form von Wolframs eigener Titurel-Strophe.¹¹ Die Prägnanz von Wolframs ursprünglichem Zweizeiler geht so verloren, nicht zuletzt durch die potenziell autonome explicatio in den Versen 3  f. Die Verwendung des Imperativs in Vers 3 verleiht der Passage außerdem eine gewisse moralisierende Vehemenz; denn diese neue Erzählinstanz schreckt nicht davor zurück, ihrem Publikum vorzuschreiben, wie es seine Gedanken, Überzeugungen und Gefühle zu ordnen habe. Die Veränderungen stimmen durchaus mit der an anderer Stelle im Prolog dargelegten Intention überein, die im früheren Werk implizierten Lehren deutlicher herauszuarbeiten: Wie Parzifal an hebende si, des habet hie merke, / mit tugende lere gebende (JT, 21,1  f.) und: ich wil die krumb an allen orten slichten, / wan sumeliche jehende sint, ich kunne iz selbe nicht verrichten (JT, 20,3  f.). Dieser Kommunikationsprozess wird jedoch häufig durch neue syntaktische und lexikalische Schwierigkeiten unterminiert. Mertens bringt es auf den Punkt: Von dem Text geht eine Faszination aus, die auf einer Dialektik von Verhüllen und Enthüllung beruht: Schwer- oder Unverständliches und Verständliches, Kohärentes und Kontingentes wechseln sich ab, es gibt keinen Dauerzustand […]. Der Text will nicht verstanden werden, will aber auch nicht nur ‚musikalisch‘ erfreuen, sondern Verständnisbemühungen unterschiedlicher Art aktivieren.¹²

Es überrascht nicht, dass die meisten modernen Leser des JT sich eher auf die Unterschiede zwischen Wolfram und Albrecht konzentrieren als auf deren Ähnlichkeiten. Obwohl man beide Verfasser als linguistisch und syntaktisch komplex beschreiben könnte, sind es Komplexisierungen verschiedener Färbung. Gemäß Ragotzky „ver-

und ihre lere. Der Jüngere Titurel Albrechts als Kritik und Vervollkommnung des Parzival Wolframs von Eschenbach, Heidelberg 2006 (Euphorion-Beiheft 52). 11 Zur Metrik der Albrechtstrophe siehe Volker Mertens: Kontingenz und Sprache im Jüngeren Titurel: Der Text, der nicht verstanden werden will. In: Der Jüngere Titurel zwischen Didaxe und Verwilderung (Anm. 10), S. 183–199, hier S. 184–187. 12 Mertens (Anm. 11), S. 198.

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wirklicht sich [Wolfram] in der persönlich beanspruchten Freizügigkeit der Sprachgestaltung“, während [d]er Sprachstil des ‚Jüngeren Titurel‘ […] gerade solcher subjektiven Freizügigkeit entzogen [ist], stilistische Eskapaden z.  B. müssen als Momente eines normativen Sprachverhaltens gewertet werden. Die Ausnahme von den gebräuchlichen sprachlichen Regeln ist zur neuen Norm geworden, Albrecht konstruiert eine Sprache von kunstvoller Künstlichkeit, die in ihrem Regelmaß, ihrer Musterhaftigkeit einer eigenen Logik gehorcht.¹³

Mertens argumentiert ähnlich, dass gerade die von der Albrechtstrophe vorgegebene „metrische Ordnung“ zu „einer syntaktischen Komplexisierung“ führe (S. 188) und damit letztlich zu einer ‚Zerdehnung‘ und ‚Entdynamisierung‘ der Erzählung (S. 189): Aktion tritt demgegenüber zurück; Aussagen verlieren an Unmittelbarkeit, sie treten als bereits modifizierte auf. Das bedingt eine feierliche Langsamkeit der erzählten Abläufe, eine Zeremonialisierung, ein semantisches Rallentando.¹⁴

Dennoch impliziert die Tatsache, dass der JT häufig falsch verstanden wurde (ob nun als authentisches Werk von Wolfram oder als vorsätzlicher Fälschungsversuch),¹⁵ dass Albrechts Engagement mit Wolframs Stil weder Intelligenz noch Sensibilität entbehrt, selbst wenn sein Programm erheblich von dem Wolframs abweicht. Obwohl der JT sich durch eine gewisse Polemik gegenüber den Werken und Protagonisten Wolframs von Eschenbach auszeichnet und auf eine fundamentale Neubewertung in Ethik und Beurteilung der Figuren besteht, resultieren viele der stilistischen Unterschiede weniger aus einer programmatischen Abweichung vom Prätext, als aus einer überbetonten (und daher leicht erkennbaren) Wiederholung von Schlüsselelementen. So wird der augenfällige Dialog zwischen dem Erzähler und vrou Aventiure zu Beginn von Buch 9 des Parzival im JT zehnmal wiederholt, da die personifizierte aventiure den Erzähler so lange traktiert, bis er die Geschichte so erzählt, wie sie es wünscht.¹⁶ Ähnliches gilt für die syntaktische Ebene: Hier liefert der Titurel bereits ein Modell für Albrechts charakteristischen Gebrauch des Partizip Präsens. ein bracke kom hôchlûtes zuo zin iagende. / der wart ein wîle ûf gehalden. des bin ich durh friunde noch die clagende (Titurel, 137,3  f.).¹⁷ Der Unterschied liegt in Albrechts beharrlicher Wiederholung dieser Verbform – zwei Beispiele sind bereits zitiert worden. Trotzdem will der JT letztlich Wolframs Werk nicht nur nachahmen

13 Ragotzky (Anm. 7), S. 133. 14 Mertens (Anm. 11), S. 189. 15 Überblick bei Volfing (Anm. 10), S. 4  f. 16 Vgl. Volfing (Anm. 10), S. 82  f. 17 Vgl. JT, 1173,3  f.: ein bracke, der kom lute heles jagende. / der wart uf gehalden. des bin ich noch durch vrnde not der clagende.

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(imitatio), sondern übertreffen (aemulatio),¹⁸ und zwar gerade durch eine Steigerung der Kohäsion von stilistischer und moralischer Vorzüglichkeit. Diese programmatische Harmonisierung ist besonders auffällig in der Darstellung der weltlichen Minne. Wirnts von Grafenberg Lobrede, die kontextuell im Gegensatz zwischen Wolframs descriptio von Jeschute (Parzival, 129,27–130,25) und seiner eigenen descriptio von Ruel, dem wilden wîp (Wigalois, V. 6343–6346), eingefügt ist, betont Wolframs besondere Fähigkeit, weibliche Schönheit erotisch zu konnotieren.¹⁹ Während man von Albrecht vielleicht nicht viel Bewunderung für die Erotik des Prätextes erwarten kann, übernimmt er doch Elemente aus Wolframs descriptio. Insbesondere die Eröffnungsverse – si truoc der minne wâfen, einen munt durchliuhtic rôt, und gerndes ritters herzen nôt. innen des diu frouwe slief, der munt ir von einander lief: der truoc der minne hitze fiur. sus lac des wunsches âventiur. (Parzival, 130,4–10) –

werden im JT zum Teil umformuliert: Minn gerndes herzen clamme  was varwe ir roten mundes, noch ræzer dan citamme,  der minnen wunsch. vil hoher selden fundes was er, dem wolt di sehst ein grzen bieten, daz was Jescut von Karnant,  di sich der richen cleider solte nieten. Owe, daz sie nu lange  hie niht ist bi der ersten! der rechten minn ein zange  ist si, der aller hhsten und der hersten. (JT, 1805,1–1806,2)

Der narrative Kontext unterscheidet sich deutlich von dem der Parzival-Stelle: Im Gegensatz zu der potentiell brisanten Begegnung von Parzival und Jeschute ist diese Beschreibung Teil einer längeren – und öffentlichen – Begutachtung höfischer Schönheiten: Tschinotualander hat aus dem Morgenland kostbare Stoffe mitgebracht, und zwanzig Damen empfangen Gewänder als Geschenke, vor Publikum und in der Reihenfolge ihrer höfischen Rangordnung. Als erste kommt Ginover, gefolgt von den Damen,

18 Zu den Begriffen imitatio und aemulatio siehe George W. Pigman: Versions of Imitation in the Renaissance. In: Renaissance Quarterly 33 (1980), S. 1–32. Zu Albrechts Vorhaben, den Parzival zu verbessern, siehe Neukirchen (Anm. 10), S. 298: „Thema des Prologs ist […] einzig und allein der ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach, genauer: Thema sind die erzählerischen Defekte des ‚Parzival‘ und die Möglichkeit ihrer Korrektur durch denjenigen, der ebendiese Defekte zu verantworten hat.“; vgl. auch Volfing (Anm. 10), bes. S. 78. 19 Zu Parzival, 129,27–130,25 siehe David N. Yeandle: Commentary on the Soltane and Jeschute Episodes in Book III of Wolfram von Eschenbach’s Parzival (116,6–138,8), Heidelberg 1984, S. 290–310.

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die dem Gral nahe stehen. Unter den Verbleibenden führt Jeschute, di sehst (JT, 1805,3), die Tabelle an. Vor dieser Kulisse lassen sich kaum verführerische Andeutungen erwarten, wie sie später in Wolframs descriptio auftauchen, wenn z.  B. der Fellüberwurf von der schlafenden Dame gleitet und ihr hüffelin (Parzival, 130,18) entblößt wird. Vom Kontext einmal abgesehen ließen sich diese Unterschiede leicht damit erklären, dass Albrechts misstrauische Haltung gegenüber Sexualität zu einem größeren Maß von Abstraktion in der Beschreibung weiblicher Schönheit führt  – mit anderen Worten: Auch seine Jeschute ist begehrenswert, aber er verhüllt sie in Genitivumschreibungen. Auf der anderen Seite macht auch Wolfram Gebrauch von dieser Konstruktion: der minne wâfen (Parzival, 130,4); gerndes ritters herzen nôt (Parzival, 130,6); der minne hitze fiur (Parzival, 130,9); des wunsches âventiur (Parzival, 130,10). Tatsächlich ist Albrechts der minnen wunsch (JT, 1805,2) eine Kombination aus Wolframs der minne wâfen (Parzival, 130,4) und des wunsches âventiur (Parzival, 130,10). Anders als in Wolframs Passage, welche die abstrakte Ebene mit konkreten erotischen Details verflicht – wie das unfreiwillige Sich-Öffnen von Jeschutes Körper (metonym durch das Öffnen ihres Mundes angedeutet) –, bietet der JT hingegen keinen aufreizenden Wechsel von Verhüllung und Enthüllung, Abstraktheit und Konkretheit an. In einigen der Komponenten von Albrechts Genitivumschreibungen (z.  B. der rechten minn ein zange [JT, 1806,2]) klingen wohl andere Elemente von Wolframs Werk an,²⁰ aber die Gesamtwirkung ist doch völlig anders als im Parzival.

II Lohengrin Der von einem unbekannten Autor verfasste Lohengrin stellt im Wesentlichen eine Weiterentwicklung der recht kurzen Anekdote dar, mit der Wolfram den Parzival abschließt: Wie bei Wolfram beginnt diese Geschichte mit der Mission des Schwanenritters nach Brabant und endet mit der Katastrophe, welche die Frage der Herzogin heraufbeschwört.²¹ Von der sogar noch problematischeren zweiten Ehe Lohengrins mit einer Frau namens Pelaie, die im JT erwähnt wird, ist hier keine Rede.²² Statt-

20 Vgl. Parzival, 114,14: unt bin ein habendiu zange. 21 Vgl. Joachim Bumke: Parzival und Feirefiz – Priester Johannes – Loherangrin. Der offene Schluß des Parzival von Wolfram von Eschenbach. In: DVjs 65 (1991), S. 236–264; Annette Volfing: Welt ir nu hoeren fürbaz? On the Function of the Loherangrin-episode in Wolfram von Eschenbach’s Parzival (P 824,1–826,30). In: PBB 126 (2004), S. 65–84; Beate Kellner: Schwanenkinder  – Schwanritter  – Lohengrin. Wege mythischer Erzählungen. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Udo Friedrich/Bruno Quast, Berlin 2004 (Trends in Medieval Philology 2), S. 131–154. 22 JT, 6012–6035. Vgl. Dietrich Huschenbett: Pelaie und Lohrangrin. Braten bei Walther, Wolfram und Albrecht. In: Vom Mittelalter zur Neuzeit. Fs. für Horst Brunner. Hrsg. von Dorothea Klein/ Elisabeth Lienert/Johannes Rettelbach, Wiesbaden 2000, S. 305–331.

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dessen arbeitet der Lohengrin-Autor die rudimentäre Handlung Wolframs aus, indem er zum einen zahlreiche Schlachtszenen und politische Komplikationen einfügt²³ und zum anderen ein sehr viel gemächlicheres Erzähltempo anschlägt. Angesichts der außergewöhnlich abrissartigen Natur von Wolframs Version gäbe es theoretisch sicher Argumente dafür, die Geschichte so zu erzählen, wie Wolfram es getan hätte, hätte sie im Mittelpunkt seines Interesses gestanden. Tatsächlich wird sich jedoch zeigen, dass der Lohengrin nur wenige Gemeinsamkeiten mit anderen Werken Wolframs aufweist. Zumindest teilweise resultiert das aus stilistischen Überlagerungen zweier anderer wichtiger Prätexte, nämlich dem Wartburgkrieg und dem JT.²⁴ Die Bedeutung des Wartburgkrieg wird sofort unterstrichen, gibt doch die eigentliche Erzählung vor, sich aus einem Wettstreit zu entwickeln, der in Anwesenheit von Ludwig von Thüringen abgehalten wird. Während die meisten der ersten dreißig Strophen offensichtlich auf dem Rätselspiel-Strang basieren, werden einige zusätzliche Strophen eingefügt, so dass die Erzählung des Lohengrin-Stoffes schließlich den Höhepunkt bilden kann. Clinschor, der die Antwort anscheinend selbst nicht weiß, fordert Wolfram auf, ihm von dem Ritter zu berichten, den Artus als Reaktion auf das beharrliche Läuten einer Glocke (Elsas Hilferuf nach einem Ritter) ausschickt. Obwohl Hermann von Thüringen in diesem Ritter sofort Lohengrin erkennt, scheint auch er auf die Einzelheiten der Geschichte gespannt zu sein (Lohengrin, V. 281–287). Die eigentliche Lohengrin-Erzählung wird so als direkte Rede Wolframs präsentiert, der dem allgemeinen Wunsch nach mehr Informationen nachgibt. Erst ganz zum Schluss nimmt der namenlose Primärerzähler die Erzählung wieder auf und trägt eine Lobrede auf den ‚historischen Wolfram‘ vor (Lohengrin, V. 7611–7670).

23 Zum Inhalt siehe Thomas Cramer: Lohengrin. In: 2VL, Bd. 5 (1985), Sp. 899–904; Matthias Meyer: Intertextuality in the Later Thirteenth Century. Wigamur, Gauriel, Lohengrin and the Fragments of Arthurian Romance. In: The Arthur of the Germans. The Arthurian Legend in Medieval German and Dutch Literature. Hrsg. von William Henry Jackson/Silvia Ranawake, Cardiff 2000, S. 98–114, bes. S. 103–106. 24 Der Wartburgkrieg. Hrsg. von Tom Albert Rompelman, Amsterdam 1939; Der Wartburgkrieg. Hrsg. von Karl Simrock, Stuttgart, Augsburg 1858. Siehe auch Burghart Wachinger: Der Wartburgkrieg. In: 2VL, Bd. 10 (1999), Sp. 740–766; Ragotzky (Anm. 7), S. 45–91; Burghart Wachinger: Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts, München 1973 (MTU 42); Franziska Wenzel: Formen der Geltungsbehauptung im Klingsor-Wolfram-Streitgedicht Der StubenKrieg. In: Sangspruchtradition. Aufführung – Geltungsstrategien – Spannungsfelder. Hrsg. von Margreth Egidi/Volker Mertens/Nine Miedema, Frankfurt a. M. u.  a. 2004 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 5), S. 45–72; Franziska Wenzel: Textkohärenz und Erzählprinzip. Beobachtungen zu narrativen Sangsprüchen an einem Beispiel aus dem Wartburgkrieg-Komplex. In: ZfdPh 124 (2005), S. 321–340; Beate Kellner/Peter Strohschneider: Wartburgkriege. Eine Projektbeschreibung. In: Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. Hrsg. von Martin J. Schubert, Tübingen 2005 (Editio-Beiheft 23), S. 173–202; Beate Kellner/Peter Strohschneider: Poetik des Krieges. Eine Skizze zum Wartburgkrieg-Komplex. In: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Manuel Braun/Christopher Young, Berlin, New York 2007 (Trends in Medieval Philology 12), S. 335–356.

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‚Wolfram‘ behält den Schwarzen Ton nicht nur in der Binnenerzählung bei, sondern interagiert auch weiterhin mit Clinschor. Als Lohengrin Elsa schließlich über die Bedingung, die ihrer Ehe zugrundeliegt, aufklären will, hält ‚Wolfram‘ inne und fordert Clinschor auf, dem Hof zu sagen, was genau es sei, das Elsa nicht tun dürfe. Als Clinschor gezwungen ist, seine Unwissenheit in diesem Punkt einzugestehen, verhöhnt ‚Wolfram‘ ihn und fragt, ob er denn jemals von dem anderen Clinschor gehört hätte, den Gawain bei Schastel Marveile besiegt hat.²⁵ Mit anderen Worten: Kennt Clinschor seinen Parzival nicht? Obwohl der sich zuvor seiner Kenntnisse der Zauberei (Lohengrin, V. 181) und seines Status als meisterpfaffe (Lohengrin, V. 185; V. 212) gerühmt hat, unterscheidet seine Antwort ihn deutlich von dem berühmten Zauberer;²⁶ es handelt sich hier weder um dieselbe Person noch um einen direkten Nachfahren, sondern lediglich um einen Nachfahren von Clinschors Schreiber.²⁷ Diese Betonung von Schreiben und Textualität gibt dem Aufstieg Clinschors vom Zauberer zum Sänger-Dichter eine potentiell interessante Dimension, die aber in diesem Text nicht weiter entwickelt wird. In Anbetracht dieser Einrahmung der Lohengrin-Geschichte ist die Erwartung, dass sich Wolframnachahmungen genauso am Stil des Wartburgkrieg orientieren wie an dem des Parzival, sicher nicht grundlos. Tatsächlich wird die Geschichte jedoch in einem einfachen, linearen Stil erzählt, der nur wenig mit den beiden Prätexten gemein hat. Wörtliche Entlehnungen von Wolframs Werk sind relativ selten und öfter aus dem ursprünglichen Kontext ausgelöst. Das sticht besonders ins Auge bei Lohengrins Verwendung der Wörter krump und slîht. Als der Kaiser ihm vorübergehend lant und liut (Lohengrin, V. 3285) anvertrauen will, erwidert der Held: ‚dar zuo bin ich ze tump, herre, und solt ich iu die slihte machen krump, daz waer den witzen mîn vil baz gemaeze, Dan daz ich krump beslihten sol.‘ (Lohengrin, V. 3291–3294)

25 Zu Wolframs Clinschor siehe Walter Blank: Der Zauberer Clinschor in Wolframs Parzival. Studien zu Wolfram von Eschenbach. Fs. für Werner Schröder. Hrsg. von Kurt Gärtner/Joachim Heinzle, Tübingen 1989, S. 321  f.; Timothy McFarland: Clinschor. Wolfram’s adaption of the Conte du Graal. The Schastel Marveile Episode. In: Chrétien de Troyes and the German Middle Ages. Papers from an International Symposium. Hrsg. von Martin Jones/Roy Wisbey, Cambridge 1993 (Arthurian Studies 26; Publications of the Institute of Germanic Studies 53), S. 277–294. 26 Lohengrin, V. 2288: vil zoubers er an buochen las. 27 Lohengrin, V. 2289–2293: Clingesor sprach: ,mîns enn uren sîn schrîber was, / nâch sinem tôt warf er ir vil ze rôste. / Mîn en der wart von Rôme gesant / ze einer gib dem künige rîch in Ungerlant / der selb wart Clingesor nâch iem genennet.‘

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Begriffe, die sowohl im Parzival wie auch im JT von zentraler Bedeutung für den poetologischen Diskurs des Erzählers sind, werden hier dem Protagonisten in den Mund gelegt, um eine eher banale Aussage zu seinen politischen Fähigkeiten zu machen.²⁸ Obwohl weniger vordergründig als diejenigen des Wartburgkrieg, sind die stilistischen und thematischen Einflüsse des JT auf den Lohengrin dennoch unverkennbar. Die anti-höfische Didaxe einiger Stellen etwa deutet darauf hin, dass hier nicht der Wolfram-Erzähler aus dem Parzival spricht, sondern eher der aus dem JT, dessen Wertesystem von seiner Mentorin vrou Aventiure dramatisch modifiziert worden ist. So bricht er nach einer Szene, welche die höfische Unterhaltung in einem durchaus positiven Licht beschreibt, in eine kurze und uncharakteristische Hetzrede gegen weltliche Freuden aus: Manic herze des begert, daz dér tanz und diu kurzewîle immer wert. des mohte niht sîn, ez muoz sich alles enden Ân die gotes trinitât, diu ist geimmert sô daz sie niht endes hât. swer dar an sîn gemüete wolde wenden, Dem waege ich ditz goukelspil  gein iener wunne ringe. (Lohengrin, V. 981–987)

Auf der anderen Seite ist der Einfluss von Albrechts vrou Aventiure auf diesen Erzähler nicht so stark, dass sie dessen Geschmack an pikanten Details dämpfen könnte. Elsas hüflîn und brüstel werden gebührend besungen (Lohengrin, V. 3124–3130), und vier ganze Strophen sind dem erfolgreichen Ausgang der Hochzeitsnacht gewidmet (Lohengrin, V. 2351–2390). Die dritte dieser Strophen enthält den beruhigenden Kommentar, daz er suohte daz vander (Lohengrin, V. 2366), und die vierte ermutigt den Voyeurismus des Publikums weiter mit einer Beschreibung, wie Mitglieder des Hofes am Morgen in die Schlafkammer eindringen und die nackte junge Braut in Verlegenheit bringen: Dô sie im an dem armen lac, sié sprachén: ‚wol ûf, ez schînet hô der tac.‘ die vürstîn ûz dem slâfe erschrickte harte. Sie sprâchen: ‚wâ ist daz hemdel kumen? daz liez wir iu nehten; wer hât iuz genumen?‘ des érschamt sích ein teil diu süeze zarte. Under die decke sie sich barc. (Lohengrin, V. 2381–2387)

Diese Szene verstärkt den Eindruck, dass sich der Erzähler, ähnlich dem des Parzival, darin gefällt, seine Zuhörer zu amüsieren und deren Fantasien anzuregen. Die Kon-

28 Zu den Termini krump und sliht in Wolframs Bogengleichnis (Parzival, 241,8–30) siehe Nellmann (Anm. 1), Bd. 2, S. 586  f.

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stellation evoziert natürlich auch die Gattung des Tagelieds, nicht zuletzt weil diese bei Wolfram auch die Liebe zwischen Eheleuten thematisiert.²⁹ Trotz dieser Absage an Albrechts Asketentum ist der Lohengrin dem JT deutlich verpflichtet und enthält Momente offener Huldigung. Ein Beispiel hierfür ist die detaillierte Beschreibung der Schwanendekoration von Lohengrins Helm, die einen aus Edelsteinen gearbeiteten Text aufweist: Ûz manigem tiuren stéin buochstáben wâren meisterlîch gevîlet und ergraben, ein klein gesmelz von golde darîn flôrieret. Diu schrift den ougen sihticlîch was und daz gesteine sô grôzer krefte rîch, daz ez ze vreuden herzen gundewieret. (Lohengrin, V. 5341–5346)

Die Idee einer Inschrift aus Edelsteinen geht letzten Endes sicher auf das brackenseil im Parzival und Titurel zurück, aber es ist Albrecht, der für den Gedanken verantwortlich ist, dass es die Steine sind und nicht die Worte, die dem Betrachter Freude verursachen.³⁰ Auch der Begriff flôrieret schließt eher an Albrechts als an Wolframs Stil an. Es sei aber auch erwähnt, dass der juwelengeschmückte Text in diesem Fall überhaupt keinen Einfluss auf die Handlung hat. Vermutlich wurde er nur eingebaut, weil der Autor ein Objekt dieser Art für einen Wolfram-Text als unumgänglich ansah, und möglicherweise auch, weil Objekte mit einer Inschrift ein poetologisches Potenzial besitzen, das für den Autor einen gewissen intrinsischen Reiz hatte, das aber nur schwierig im Werk funktionalisiert werden kann. Indem er Albrechts Stil hier kopiert, impliziert er seine Anerkennung der geblüemten rede, selbst wenn er diese Form für den überwiegenden Teil der Erzählung nicht für dienlich oder tragbar ansieht. Gegen Ende der Geschichte wartet der Erzähler  – als ein weiteres Beispiel für stilistische Exemplarität – mit einem Papstbrief auf, in dem Kaiser Heinrich II. eingeladen wird, für seine Krönung nach Rom zu kommen. Wie schon die Inschrift auf Lohengrins Helm, trägt auch dieser Brief nicht zur Entwicklung der Handlung bei, seine detaillierte Beschreibung unterstreicht aber nochmals die literarische Expertise des Erzählers: Alsô schôn salvieret er in  mit vil geflôrten worten her ûz mit sîner botschaft schrift, sint in het gesuoht sun und des mânen trift mit kraft der stern und lûn an alle ir orten. Sîn botschaft stuont, der würze saf würd von im erviuht, als nâch des winters schraf

29 Wolfram von Eschenbach: Der helden minne ir klage. In: Die Lyrik Wolframs von Eschenbach. Edition – Kommentar – Interpretation. Hrsg. von Peter Wapnewski, München 1972, S. 147. 30 JT, 1930,3  f. Vgl. Volfing (Anm. 10), S. 63.

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des meien kunft mit touwe sie kan vrühten Und alliu krêatiur erhügt wirt von im gein vreuden, alsô het ervlügt er manic sêl ze dén werdén genühten. Die brief mit grammaticâ  het meisters kunst geblüemet, daz etlîch pfaffe was sô tump, dô diu botschaft quam, daz sie in dûhte krump, dâ bî manic hôchgelêrter sie hôch tüemet. (Lohengrin, V. 7567–7580)³¹

Größtenteils evoziert die Sprache dieser Passage jedoch die Anliegen der blüemer wie Frauenlob und Heinrich von Mügeln, und nicht von Wolfram, z.  B.: salvieren, vil geflôrten worten, grammatica, meisters kunst, tüemen und natürlich geblüemet.³² Ebenso verhält es sich mit dem astronomischen Vokabular; das Wort lûn kennt man von Albrecht, nicht von Wolfram.³³ Nur das Schlüsselwort krump richtet die Aufmerksamkeit zurück auf die stilistischen und strukturellen Kontroversen, die (üblicherweise) mit der Erzählung des Parzival-Stoffes verbunden werden.

III Göttweiger Trojanerkrieg Während der JT und der Lohengrin durchgehend mit einem ‚Wolfram‘-Erzähler arbeiten, der erst am Ende des Werkes durch eine andere Erzählstimme ersetzt wird, pendelt der GT zwischen einem Wolfram, der als Quelle der Erzählung zitiert wird, und einem Wolfram, der die Geschichte unmittelbar erzählt.³⁴ Aussagen in der dritten Person, wie als üns verjach Von Eschybach her Wolfran Sunder lugen haften wan. (GT, V. 168–170)

31 Diese programmatische Stelle bildet auch einen Übergang zum Epilog, in welchem ein neuer, namenloser Erzähler das Wort übernimmt. Er preist Wolfram von Eschenbach und imitiert auch dessen Parzival-Schluss, indem er das Werk mit einer Hinwendung an das weibliche Publikum beendet (V. 7621–7630). Vgl. Unger (Anm. 3), S. 41–52. 32 Grundlegend zur geblümten Rede siehe Gert Hübner: Lobblumen. Studien zur Genese und Funktion der ‚Geblümten Rede‘, Tübingen, Basel 2000 (Bibliotheca Germanica 41). 33 Siehe Katrin Woesner: Begriffsglossar und Index zu Albrechts Jüngerem Titurel. Alphabetischer Index, 4 Bde, Tübingen 2003 (Indices zur deutschen Literatur 32–35), hier Bd. 2, S. 1000 (lune). 34 Manfred Kern: Agamemnon weint oder arthurische Metamorphose und trojanische Destruktion im Göttweiger Trojanerkrieg, Erlangen 1995 (Erlanger Studien 104).

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alternieren mit Aussagen in der ersten Person: Ich Wolfran han sy gezaltt / Wol uff sibenzigg man (GT, V. 3576  f.).³⁵ Der Umstand, dass die Aussagen in der ersten Person normalerweise nicht die Spezifikation ‚von Eschenbach‘ aufweisen, führte Werner Schröder zu der Folgerung, dass das ‚Ich‘ sich auf den Autor selbst bezogen habe, dessen Name zufälligerweise auch Wolfram gewesen sei. Dieser Ansatz wurde von Manfred Kern erfolgreich angefochten, der argumentierte, dass sich auch die Aussagen in der ersten Person in gewisser Weise auf den [einen] „von Eschenbach“ beziehen.³⁶ Dies ergibt sich am deutlichsten aus der Beteiligung ‚Wolframs‘ an einer Reihe von Streitgesprächen mit allegorischen Figuren,³⁷ z.  B.: ‚Wolfran, fründ min, nun sprich,‘ / Sprach zü mir wider dü Mine (GT, V. 3462  f.). Stellen wie diese, die sich deutlich an die vrou Aventiure-Dialoge im Parzival und im JT anlehnen, dürfen als „signifikantes Merkmal Wolframschen Stils“³⁸ angesehen werden. Kern argumentiert weiter, dass genau dieses [stilistische] Hin-und-Her-Pendeln eine Doppelperspektive erzeugt, die mit denen des JT und des Lohengrin analog sind: Im JT müssen sich die Rezipienten mit einer Art doppelter Autorenschaft zurechtfinden (Wolfram und Albrecht), während sie Wolfram im Lohengrin in der Doppelrolle von intradiegetischer Figur und Erzähler erleben müssen.³⁹ Die Verbindung zwischen dem Erzählstoff des GT und dem Œuvre Wolframs von Eschenbach ist sicherlich weniger offensichtlich als im Falle des JT oder des Lohengrin. Trotzdem darf man die Wahl des Stoffes als eine logische Entwicklung ansehen, zum einen der Vorgabe Albrechts, der die Geschichte der Gralsfamilie auf die Zeiten Trojas zurückdatiert (JT, 92–98), aber auch der Volksüberlieferung, der zufolge das

35 Dritte Person: Als üns mit warhaitt verjach / Her Wolfran der wise (GT, V. 10208  f.); In baiden über hayde was / Do gach als üns geschriben lasz / Uss maisterlichem munde / Von sines hertzen grunde / Der wisse maister Wolfran / Der valsches model nie gewan. (GT, V. 7399–7404); als üns geschriben saitt / Her Wolfran, der wandels fry (GT, V. 10030  f.); Was kain maisterlicher mund / In sinen büchen ie kund / Hett mitt rede gemachett, / Daz hatt über wachett, / Der wise raine Wolfran, / Der mit rechte sunder wan / Üns von menger hübschhaitt / In siner aventüre saitt. (GT, V. 12833–12840); seitt üns her Wolfran (GT, V. 15964); Achanys ze hoffe raitt / In Troye, als man geschriben saitt / Der wise werde Wolfran (GT, V. 17025–17027); Als üns in siner geschrift verjach / Der künste riche Wolfran. (GT, V. 24036  f.); Daz tütt üns in kurtzer stund / Wolffran der wisse kund. (GT, V. 18553  f.); erste Person: Ich Wolffran nun fürbas wil / Von der aventüre sagen. (GT, V. 2902  f.); ich tümer Wolffran (GT, V. 3711); Den rautt gib ich Wolffran (GT, V. 5615); Ich Wolfran verjechen müss (GT, V. 22933); Des wünsche ich, sender Wolffran, / Daz er unhaille müsse han. (GT, V. 13969  f.); Gott, der alle ding vermag / Und üns geschüff nacht und tag, / Behalte mich Wolfframen! (GT, V. 25153–25155); zweite Person: Nu sag an, Wolfran, maister stoltz, / Welcher hand mochten sy da sin? (GT, V. 704  f.). 36 Kern (Anm. 34), S. 104–121. 37 Ich sprich: ‚Vennus küngin‘ (GT, V. 7513); Sy [Venus] sprach: ‚fründ Wolfran, / Der dienner mine ich nit enlan.‘ (GT, V. 16249  f.); Sy [Minne] sprach: ‚fründ Wolffran‘ (GT, V. 7496); ‚won ich dir hold / Wolffran, lange bin gewesen.‘ (GT, V. 7508–7509); Sy [Venus] sprach: ‚frund Wolfran, du tobest, / Das du mich also serre lobest‘ (GT, V. 9017  f.) 38 Kern (Anm. 34), S. 110. 39 Kern (Anm. 34), S. 110; S. 115.

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Arthurische Rittertum auf Aeneas und Brutus und letzten Endes auf die Trojaner zurückgeht. Zudem ist der GT trotz seines fremd anmutenden Stoffes in vielerlei Hinsicht dem Parzival näher verwandt als der Lohengrin. Er ist in Reimpaaren geschrieben, besitzt ein breites Spektrum von Figuren und betont die aventiuren der einzelnen Ritter. Einige Namen – Gamoret, Orgaloyse – sind unverkennbar aus dem Werk Wolframs entlehnt. Paradoxerweise gewinnt der Text einen Namen (Ekuba) wieder für die klassische Welt, den Wolfram zuletzt für einen heidnischen Gast am Hofe Artus benutzt hatte. Wie sein Gegenstück im Parzival und im JT ist der Erzähler leidenschaftlich an den Persönlichkeiten und Schicksalen seiner Figuren beteiligt⁴⁰ und bringt dies zum Ausdruck durch metaphorische Konstruktionen, die an die beiden älteren Texte erinnern, so z.  B. in der Beschreibung des Segreman: Der tugend ain werder nachgebur, Ain vass der gantzen selikaitt, Ain blüme werlicher underschaid Und ain fürste wislicher tatt, Der mengen prisse begangen hatt. (GT, V. 24898–24902)

Wie der unterworfene ‚Wolfram‘ im JT bringt auch dieser Erzähler gelegentlich fromme Äußerungen hervor, wie z.  B. Gott herre, wende uppekaitt! (GT, V. 9424). Stilistische imitatio ist eng verwandt mit Intertextualität, wie sich anhand einer der seltenen Episoden zeigt, die eindeutig an Wolframs Parzival angelehnt ist, nämlich die Begegnung Eleanders mit Galantte, die – trotz traurigeren Ausgangs – auf Parzivals Zusammentreffen mit Jeschute Bezug nimmt. Der Ritter Eleander macht sich auf die Suche nach seiner Ehefrau, die entführt worden ist. Unterwegs trifft er auf Galantte, eine schöne, reich gekleidete Dame, die in einem kostbar dekorierten Zelt sitzt und eine wertvolle Brosche trägt. Seine Ehefrau hat offenbar vergessen, erklärt Eleander, dass Galantte die schönste Kreatur sei, die er je gesehen habe, und ignoriert sowohl ihre Proteste ob seiner uppekaitt (GT, V. 20296), da er ihr Zelt betreten hat, als auch ihre Warnung vor der unmittelbar bevorstehenden Ankunft eines eifersüchtigen Ritters. Der Ritter Magonogrin erscheint wie erwartet und ein Kampf bricht aus, in dessen Verlauf Eleander ihn tötet. Galantte stirbt aus Trauer und wird zusammen mit Magonogrin im Venustempel bestattet, und Eleander reitet reumütig davon. Trotz der intertextuellen Verbindungen finden sich sprachlich nur wenige Parallelen mit der entsprechenden Episode im Parzival. Galantte ist bei Eintreffen Eleanders wach und vollständig bekleidet in hemd (GT, V. 20275) und mantel (GT, V. 20273). Ihre sexuelle Anziehungskraft ist jedoch ausdrücklich unterstrichen im Reimpaar An ir lag gantzer mine ain taill. / Sy waz hübsch unde gaill (GT, V. 20285  f.). Die Erotik der

40 Z. B. Helena, vil armes wib, / So we dir daz din schönner lip / Ze dierre weltt ye ward geborn! (GT, V. 24849–24851); O we Hector! din junger tode / Rüwett mich durch sine nott (GT, V. 23021  f.).

Leien mund nie baz gesprach 

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Dame ist möglicherweise auch impliziert in der folgenden Aussage, die sich scheinbar auf die Größe des Zeltes bezieht: Ain ritter mitt uff gerektem sper / Were dar in gerantt mit ger (GT, V. 20269  f.). Davon abgesehen vermeidet der Autor jedwede sexuelle Objektivierung von Galantte und betont stattdessen die Objekte in ihrem Besitz: ihren Mantel aus pliantt (GT, V. 20274), ihr Leinenhemd, das mit Gold verwoben ist, und den grünen pfeller (GT, V. 20287), auf dem sie sitzt. Das Vokabular evoziert hier die Beschreibungen der Gralsjungfern im Parzival, die in eine Mischung von plîalt (Parzival, 235,10) und pfell von Ninnivê gekleidet sind (Parzival, 235,11), und möglicherweise die des Grals selbst, der ûf einem grüenen achmardî getragen wird (Parzival, 235,20). Die Szene stützt sich auch auf stilistische Topoi aus anderen Teilen des Parzival – und sogar des JT. Obwohl Galantte an der Eskalation dieser Situation schuldlos ist, arbeitet der Erzähler eine typisch ‚Wolframsche‘ Klage darüber ein, dass weibliches Verhalten den Männern Unheil brächte.⁴¹ Owe daz noch menig wib Stiftett angstlichen zorn, Des menig man ist verlorn! (GT, V. 20372–20374)

Beim Eintreffen von Magonogrin finden sich in der Erzählung Echos der Fixierung des JT auf lebendige Wappentiere:⁴² Gegen dem gezeltt er komen sach Ainen ritter wol geziertt, Sinen helm gezimiertt. Von gold der starke ritter schnell Fürtte dar uff ain rundell, Dar inne ain griffe schwebte Recht all same er lebtte. (GT, V. 20312–20318)

Wenn dieser kostbare Helm schließlich entzwei gehauen wird, lässt der Erzähler eine angeblich komische Nebenbemerkung fallen: Ich wellte kum ain halbes ayg / Umb daz besser han gegeben (GT, V. 20402  f.). Dieser Kommentar, welcher der tragischen Situation eher unangemessen ist, stellt eine auffallende Verbindung zu der alt unvuoge her (Parzival, 487,12), die einen Teil der Charakterisierung des Parzival-Erzählers ausmacht. Wie sich gezeigt hat, hat der Autor keine Skrupel, entlehnte Elemente radikal zu ändern – oder sogar ihre intertextuelle Reichweite zu vergrößern. Zum Tod der Liebenden kommentiert der Erzähler, dass, wäre es nicht zu diesem Duell gekommen, die Liebenden bis zum Ende ihrer Tage glücklich in Cornthin gelebt hätten – wo König

41 Vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival (Nellmann [Anm. 1], Bd. 2, S. 470; zu Parzival 27,13  f.); siehe auch Parzival, 116,5–14 und 366,1. 42 Vgl. Volfing (Anm. 10), S. 48  f.

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Roax (aus dem Wigalois) zu Tode kam.⁴³ Obwohl die Szene so eng an den Parzival angelehnt ist, besteht hier der engste intertextuelle Bezug doch zum Wigalois. Anstatt dies als eine Schwächung der ‚Wolframschen‘ Tönung der Erzählung anzusehen, lässt sich jedoch argumentieren, dass ein solcher diegetischer Synkretismus eine inhärent ,Wolframsche‘ Vorgehensweise darstellt. In diesem Überblick wurde versucht, die verschiedenen ‚Wolfram‘-Figuren und ‚Wolfram‘-Stile zu skizzieren, auf die mhd. Autoren nach der sogenannten ‚Blütezeit‘ zurückgreifen konnten. Während bei Albrecht der Wolfram aus dem Parzival und Titurel im Mittelpunkt steht, so hat doch seine polemische Haltung die Schaffung eines neuen und etwas schizophrenen ‚Wolframs‘ zur Folge, der teilweise zum Sprachrohr wider Willen für eine moralisierende vrou Aventiure wird. Wie im Vergleich der Jeschute-Beschreibungen deutlich wurde, scheut dieser neue ‚Wolfram‘ nicht nur jede Form von Erotik, er setzt auch neue Maßstäbe in syntaktischer Komplexität, was seine Stimme nachhaltig verändert. Der Autor des Lohengrin zieht sowohl eine größere Vielfalt von ‚Wolframschen‘ Erzählsträngen heran, wie auch die Wolfram-Figur aus dem Wartburgkrieg. Das Werk ist stilistisch gesehen heterogen, da der Autor, manchmal unbeholfen, zwischen Passagen hin- und herspringt, die zum einen die Erzählung voranbringen und zum anderen seine Glaubwürdigkeit als kompetenten blüemer untermauern sollen. Der Autor des GT schließlich hat einen bewusst intertextuellen Ansatz, selbst wenn er neue Erzählstoffe in Angriff nimmt: Wenn man hier überhaupt von einer Nachahmung von Wolframs Stil sprechen kann, findet diese nicht im Kopieren besonderer Sprachcharakteristika statt, sondern auf dem Niveau einer zur Schau gestellten Verspieltheit, sei es in der Form fiktiver Quelleninstanzen, sei es anhand taktloser Witze.

43 GT, V. 20411–20418.

Alastair Matthews

Wolfram als Chronist? ‚Chronikstil‘ und Sprecher in den Schlussstrophen des Lohengrin

I Der Lohengrin und seine stilistischen Vorbilder Der mittelhochdeutsche Lohengrin, eine der zahlreichen mittelalterlichen Versionen der Schwanrittergeschichte, ist mit 767 Strophen deutlich umfangreicher als die früheren deutschsprachigen Erzählungen zu diesem Thema am Ende des Parzival Wolframs von Eschenbach, im Schwanritter Konrads von Würzburg und in Albrechts Jüngerem Titurel.¹ Auch hinsichtlich der Gestaltung des Stoffs unterscheidet sich der Lohengrin von seinen Vorläufern, denn hier findet die Geschichte des Schwanritters in der Regierungszeit Heinrichs I., dem der Schwanritter in Kämpfen gegen die Ungarn und Sarazenen beisteht, statt.² Aller Wahrscheinlichkeit nach im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts in Bayern verfasst, hat dieses Werk jenes Dichters, den das Akrostichon in den Strophen 763–765 als Nouhuwius benennt, trotz längst geläufiger Forderungen nach einer intensiveren Beschäftigung mit ‚nachklassischen‘ Texten wenig Aufmerksamkeit gefunden. Eine zuweilen recht polemische Kontroverse darüber, ob die Dichtung in der Zeit Rudolfs von Habsburg oder Ludwigs des Bayern entstanden sei, die letztlich auf der umstrittenen Datierung der sogenannten Koblenzer Fragmente (jetzt mgf 724) beruht, scheint verklungen zu sein.³ Daneben ist der Status des 1 Zum Schwanritterstoff vgl. grundlegend immer noch Lohengrin. Edition und Untersuchung. Hrsg. von Thomas Cramer, München 1971, S. 46–129; sowie die jüngere Übersicht von Beate Kellner: Schwanenkinder  – Schwanritter  – Lohengrin. Wege mythischer Erzählungen. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Udo Friedrich/ Bruno Quast, Berlin, New York 2004 (Trends in Medieval Philology 2), S. 131–154, insbes. S. 131–133; S. 139–141. Zu den Schwanrittererzählungen Wolframs, Konrads und Albrechts vgl. jeweils Annette Volfing: Welt ir nu hoeren fürbaz? On the Function of the Loherangrin-episode in Wolfram von Eschenbach’s Parzival (V. 824,1–826,30). In: PBB 126 (2004), S. 65–84; Peter Strohschneider: UrSprünge. Körper, Gewalt und Schrift im Schwanritter Konrads von Würzburg. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hrsg. von Horst Wenzel in Zusammenarbeit mit Peter Göhler u.  a., Berlin 1997 (Philologische Studien und Quellen 143), S. 127–153; Dietrich Huschenbett: Pelaie und Lohrangrin. Braten bei Walther, Wolfram und Albrecht. In: Vom Mittelalter zur Neuzeit. Fs. für Horst Brunner. Hrsg. von Dorothea Klein zusammen mit Elisabeth Lienert und Johannes Rettelbach, Wiesbaden 2000, S. 305–331. 2 Vgl. Manuela Schotte: Christen, Heiden und der Gral. Die Heidendarstellung als Instrument der Rezeptionslenkung in den mittelhochdeutschen Gralromanen des 13. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. u.  a. 2009 (Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte 49), S. 175–207. 3 Die Grundzüge der Debatte verdeutlichen folgende Beiträge: Cramer (Anm. 1), S. 156–180; Horst Wenzel: Die Datierung des Lohengrin. Beiträge zu einer Forschungskontroverse. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 41 (1977), S. 138–159; Heinz Thomas: Ettal, Neuhausen und anderes. Neues zum

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Werks als Zeugnis der Nachfolgerschaft und Rezeption Wolframs weiterhin ein prägender Bezugspunkt der nicht gerade umfangreichen Lohengrin-Forschung geblieben. Das liegt nicht zuletzt daran, dass eine Anknüpfung an Wolfram im Lohengrin explizit inszeniert wird: Die Anfangsstrophen aus dem Wartburgkrieg stellen ihn als Erzähler der Schwanrittergeschichte am Hof Landgraf Hermanns I. von Thüringen dar. Dementsprechend erkannte man schon früh sprachliche Anschlüsse an Wolfram: 1858 bezeichnete Heinrich Rückert den Lohengrin aufgrund des von ihm festgestellten „Einfluss[es] von Wolframs Stil und Spracheigenthümlichkeiten“ als „Mosaik aus Wolframischen Reminiscenzen“.⁴ Nach Rückert versuchten spätere Forscher wie Johann Traunwieser, Tschang-Un Hur und Alain Kerdelhué jeweils mehr oder minder überzeugend diesen Eindruck bis in die Einzelheiten der sprachlichen Gestaltung hinein zu verfolgen.⁵ Dabei wurde allerdings deutlich, dass der Stil – oder besser: die Stile – des Textes nicht unbedingt lückenlos mit einer Imitation des historischen Wolframs in Einklang zu bringen sind. Cramer führte z.  B. den Jüngeren Titurel und den geblümten Stil als weitere stilistische Vorbilder an,⁶ und Regina Unger unterschied zwischen drei verschiedenen Stilbereichen: Der Dichter habe sich nicht nur des Wolframschen Stils, sondern auch „einer planen, um Verständlichkeit bemühten Stilistik“ sowie des geblümten Stils bedient.⁷ In ihren Ausführungen darüber, „inwieweit Texte, die mit einem Wolfram-Erzähler operieren, auch den literarischen Stil des historischen Wolfram nachahmen wollen“, bezweifelt Annette Volfing sogar, ob der Lohengrin überhaupt belangreiche „Gemeinsamkeiten mit anderen Werken Wolframs aufweist“.⁸ Der vorliegende Beitrag setzt hier an, indem er sich auf den Stil des bisher vernachlässigten Geschichtsabrisses am Schluss des Werks konzentriert, um

Lohengrin. In: bickelwort und wildiu mære. Fs. für Eberhard Nellmann. Hrsg. von Dorothee Lindemann/Berndt Volkmann/Klaus-Peter Wegera, Göppingen 1995 (GAG 618), S. 340–353; Christa Bertelsmeier-Kierst/Joachim Heinzle: Paläographische Tücken! Noch einmal zur Datierung des Lohengrin. In: ZfdPh 115 (1996), S. 42–54. 4 Lohengrin. Hrsg. von Heinrich Rückert, Quedlinburg, Leipzig 1858 (Bibl. d. ges. dt. Nat.-Lit. 36), S. 228. Vgl. grundlegend jetzt Mathias Herweg: Wege zur Verbindlichkeit. Studien zum deutschen Roman um 1300, Wiesbaden 2010 (Imagines Medii Aevi 25), sowie zur Forschungsgeschichte Regina Unger: Wolfram-Rezeption und Utopie. Studien zum spätmittelalterlichen bayerischen LohengrinEpos, Göppingen 1990 (GAG 544), S. 1–5. 5 Johann Traunwieser: Die mittelhochdeutsche Dichtung Lohengrin. „Eine Mosaik aus Wolfram Eschenbach“, Wien, Leipzig o.  J. (Wissenschaftliche Abhandlungen 97); Tschang-Un Hur: Die Darstellung der großen Schlacht in der deutschen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts (am Beispiel von Lamprechts Alexanderlied, Veldekes Eneide, Wolframs Willehalm, des Pleier Garel von dem Blühenden Tal und dem Lohengrin), Diss. München 1971, S. 187–224; Alain Kerdelhué: Lohengrin. Analyse interne et étude critique des sources du poème moyen-haut-allemand de la fin du 13ème siècle, Göppingen 1986 (GAG 444), S. 122–221. 6 Thomas Cramer: Lohengrin. In: 2VL, Bd. 5 (1985), Sp. 899–904, hier Sp. 903. 7 Unger (Anm. 4), S. 35–52, Zitat S. 35. 8 Siehe den Beitrag von Annette Volfing im vorliegenden Band.

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im Anschluss daran auf das von Volfing mit Erwähnung des Erzählers angesprochene Problem des Sprechers einzugehen.

II Stilbegriff und Quellen der Schlussstrophen Nachdem Lohengrin mit dem Schwan zum Gral zurückreist, schließt die eigentliche Schwanrittergeschichte in Strophe 730 ab, indem alle, die er vor der Enthüllung seines Namens in Antwerpen um sich gesammelt hatte, aufbrechen. Bis zum Ende des Textes bleiben allerdings noch knapp 40 Strophen. Diese Strophen lassen sich in einen Abriss der ottonischen Kaisergeschichte von Heinrich I. bis Heinrich II. (Strophen 731–762) und einen Epilog (Strophen 763–767) unterteilen, wobei sich die strukturellen Grenzen als merklich vielschichtiger erweisen als bisher angenommen.⁹ Der historische Abriss unterstreicht die angebliche Geschichtlichkeit von Lohengrins Taten und soll hier zunächst im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen; seine stilistische Beziehbarkeit zur mittelalterlichen Chronistik ist mehrfach aufgefallen, aber kaum angemessen erforscht worden. Ungers Aussage, dass der „Darstellungsstil […] dem aus hochmittelalterlicher volkssprachlicher Chronistik Gewohnten“ entspreche, beruht hauptsächlich auf einer Analyse der Weltchronik Rudolfs von Ems, die allerdings mit dem Lohengrin nicht verwandt ist und die Unger zudem eigentlich nicht mit Blick auf Stilistisches, sondern als Beispiel eines bestimmten Geschichtsverständnisses behandelt.¹⁰ Kerdelhué dagegen will die Sächsische Weltchronik, die Hauptquelle der Strophen, als Ausgangspunkt nehmen, gelangt jedoch lediglich zu dem kaum überraschenden Schluss, dass der Lohengrin-Dichter „omet certains événements, en ajoute d’autres et réorganise la distribution de l’ensemble“.¹¹ Nichtsdestotrotz bieten die in der Forschung erarbeiteten Kenntnisse über die Quellen des Lohengrin prinzipiell die Grundlage für eine eingehendere Beschäftigung mit dem Stil des Geschichtsabrisses am Ende des Werks. Ich schließe mich dabei dem von Nicola McLelland in ihren Arbeiten zum Lanzelet Ulrichs von Zatzikhoven vertretenen Stilverständnis an, dem zufolge Stil als Resultat einer (Aus-)Wahl betrachtet werden sollte:

9 Zum Aufbau vgl. Cramer (Anm. 6), Sp. 901; Unger (Anm. 4), S. 41; S. 51; S. 302–304; Kerdelhué (Anm. 5), S. 83–87. Heinrich I. wird entgegen den geschichtlichen Tatsachen im Lohengrin auch zum Kaiser gekrönt, so dass es angebracht ist, hier von einer ‚Kaisergeschichte‘ zu sprechen. 10 Unger (Anm. 4), S. 276–287, Zitat S. 305. 11 Kerdelhué (Anm. 5), S. 254, „lässt bestimmte Ereignisse aus, fügt andere hinzu und verändert die Aufteilung des Ganzen“.

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Ein bestimmter Stil wird verstanden als das Ergebnis der durch den Autor […] mehr oder weniger bewußt getroffenen Entscheidungen. Der Autor entscheidet sowohl zwischen verschiedenen linguistischen Möglichkeiten […] als auch zwischen verschiedenen Optionen auf der makrostilistischen Ebene […] und zwischen möglichen Inhalten.¹²

Eine solche Bestimmung läuft unter Umständen Gefahr, auf Fragen der Intentionalität hinauszulaufen, wobei unklar bleibt, wie ein späterer Rezipient z.  B. die vom Autor erwogenen Varianten rekonstruieren soll. Im Falle des Lohengrin hat man aber zumindest einen Einblick in die Alternativen, die dem Dichter zur Verfügung gestanden haben könnten. Cramer führt in seiner grundlegenden Übersicht vor allem die Sächsische Weltchronik, aber auch die Prosakaiserchronik und deren Versvorläufer, die Kaiserchronik, auf.¹³ Dabei ist allerdings Vorsicht geboten, denn die Einzelheiten der Quellenverwendung können nicht als restlos geklärt gelten. Vor allem ist die Frage, in welcher Form der Lohengrin-Dichter die Sächsische Weltchronik kannte, immer noch offen, da diese in ihrer überlieferten Gestalt keine Entsprechung für einige der im Lohengrin enthaltenen Details zu bieten scheint. Cramer lehnt die Möglichkeit, dass eine inzwischen verloren gegangene Fassung der Chronik herangezogen wurde, ab; nach Jürgen Wolf wäre eine Handschrift der Redaktion A als am wahrscheinlichsten anzunehmen.¹⁴ Eine Annäherung an diese Problematik wird zudem dadurch erschwert, dass man immer noch auf die unbefriedigende MGH-Ausgabe von Ludwig Weiland angewiesen ist.¹⁵ Für die Bezugnahme auf die Prosakaiserchronik führt Cramer vier Beispiele jeweils unterschiedlicher Beweiskraft auf, von denen sich eines, nämlich die vermeintliche Teilnahme Ulrichs von Augsburg an der Lechfeldschlacht, in den Chronikstrophen findet, so dass der Eindruck entsteht, es handele sich dabei lediglich um punktuelle Übereinstimmungen. Eindeutig problematisch ist schließlich Cramers Erwägung, dass der Dichter die Kaiserchronik gekannt haben

12 Nicola McLelland: Stil und Dialog. Stilistische Variation im Lanzelet. In: Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999. Hrsg. von Nikolaus Henkel/Martin H. Jones/Nigel F. Palmer unter Mitwirkung von Christine Putzo, Tübingen 2003, S. 41–59, Zitat S. 46 (Hervorhebung i. O.). Vgl. auch die frühere, anders akzentuierte Definition in Nicola McLelland: Ulrich von Zatzikhoven’s Lanzelet. Narrative Style and Entertainment, Woodbridge, Rochester 2000 (Arthurian Studies 46), S. 87. 13 Cramer (Anm. 1), S. 130–156. Zwar führt Cramer noch eine weitere Quelle, den Schwabenspiegel, auf, doch fällt dieser mit Blick auf den hier untersuchten Teil des Lohengrin außer Betracht. 14 Vgl. Cramer (Anm. 1), S. 150; Jürgen Wolf: Die Sächsische Weltchronik im Spiegel ihrer Handschriften. Überlieferung, Textentwicklung, Rezeption, München 1997 (Münstersche Mittelalter-Schriften 75), S. 206  f. 15 Sächsische Weltchronik. Hrsg. von Ludwig Weiland, Hannover 1877, Nachdruck Dublin 1971 (MGH Deutsche Chroniken 2, 2). Zu den mit dem Umgang mit Weilands Ausgabe verbundenen Schwierigkeiten vgl. Hubert Herkommer: Überlieferungsgeschichte der Sächsischen Weltchronik. Ein Beitrag zur deutschen Geschichtsschreibung des Mittelalters, München 1972 (MTU 38), S. 1–24. Ich weise hier vorläufig auf Lesarten in Weilands Apparat hin; eine Einbindung der Handschriften der Sächsischen Weltchronik in die Analyse ist im Rahmen meines Lohengrin-Projekts geplant.

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könnte, denn sie beruht auf der auf Heinrich I. bezogenen Aussage, witeben und weisen solt er sîn gereht (V. 6559), die eigentlich größere Ähnlichkeit mit der Prosakaiserchronik (er richt nach der pfat witwen vnd waisen, S. 336) als mit der Kaiserchronik (der bâbes wîhet in dô ze chaiser / ze trôste witwen unt waisen, V. 15832  f.) aufweist.¹⁶ Vor dem Hintergrund dieser Quellenlage greife ich im Folgenden zunächst zwei Aspekte des ‚chronikalischen‘ Erzählstils heraus, die der Lohengrin nicht unverändert, sondern mit bedeutenden Variationen übernimmt: die Unterteilung der Erzählung in verschiedene Abschnitte und das explizite Auftreten des Erzählers. Damit werden freilich nicht alle Möglichkeiten eines solchen Erzählstils abgedeckt, zumal sich die Chronik kaum als einheitliche Gattung bestimmen lässt und von anderen Textsorten der Geschichtsschreibung nicht immer abzugrenzen ist. Dennoch lässt sich die traditionelle Unterscheidung zwischen diesen beiden Textsorten als Ausgangspunkt für die Annäherung an verschiedene Erzählkonzeptionen nutzen. In diesem Kontext zielen die hier gewählten Themen auf Kernaspekte der Chronistik, denn hinter den Fragen nach der Unterteilung in mehr oder minder deutlich abgegrenzte Erzählabschnitte sowie nach dem Hervortreten des Erzählers steht eine Vorstellung von Chronik als Erzählung, die im Vergleich zur Annalistik deutlicher organisiert ist.¹⁷

III Die Erzählstruktur des Chronikteils In der Sächsischen Weltchronik werden mit Hilfe sprachlicher Mittel die Erzählabschnitte der verschiedenen Herrscher voneinander geschieden. Das Verfahren lässt sich anhand des formelhaften Eingangs zur Regierungszeit Ottos III. gut veranschaulichen: In deme 984. jare van der bort unses herren Otto, des roden keiser Otten sone, gewan dat rike, de 83. van Augusto, unde was daran 18 jar. (165,35  f.)

16 Zitate nach: Kaiserchronik. In: Urschwabenspiegel. Hrsg. von Karl August Eckhardt, Aalen 1975 (Bibliotheca rerum historicarum Studia 4 Ius Suevicum I), S. 259–353 (= Prosakaiserchronik); Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. Hrsg. von Edward Schröder, Hannover 1892, Nachdruck München 2002 (MGH Deutsche Chroniken 1, 1). Man beachte, dass die hier erwähnte Lohengrin-Stelle vor den Chronikstrophen liegt. 17 Vgl. die klassische Untersuchung von Reginald L. Poole: Chronicles and Annals: A Brief Outline of their Origin and Growth, Oxford 1926; sowie zur neueren gattungsgeschichtlichen Reflexion David Dumville: What is a Chronicle? In: The Medieval Chronicle II: Proceedings of the 2nd International Conference on the Medieval Chronicle. Hrsg. von Erik Kooper, Amsterdam, New York 2002 (Costerus N.F. 144), S. 1–27.

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Diese Angaben, die dazu dienen, die neue Figur im Rahmen ausgedehnteren Geschichtswissens zu verorten, beziehen sich teils auf die Chronologie (Jahr des Regierungsantritts, Dauer der Regentschaft), teils auf die Herrscherreihenfolge (genealogische Herkunft, Position in der Reihenfolge nach Augustus).¹⁸ Durch Angabe des Begräbnisortes wird dann üblicherweise der Tod des jeweiligen Kaisers mit einer Information räumlicher Art verbunden (Heinrich II. bildet hier eine Ausnahme).¹⁹ Im Falle Ottos III. heißt es: Do ward de keiser Otto begraven to Aken mit groten eren. Dit is de keiser Otto, de let upgraven den koning Karle und vant an sineme grave wunderes genoch. De koning Karl irschen ime do unde segede, dat he nimmer alt ne worde unde ane erven sterven moste. (167,3–6)

Dieses Motiv, das den Abschluss einer Lebensgeschichte markiert, hat indessen nicht unbedingt auch eine episodenabgrenzende Funktion. Es können sich weitere, mehr oder weniger eng mit dem Herrscher verknüpfte Abschnitte anschließen, bevor zu dessen Nachfolger übergegangen wird, so im Falle Ottos III. die Visionen eines Einsiedlers in der Nähe des Mons Vulcani. Es kommen damit also zwei narrative Organisationsprinzipien ins Spiel, einerseits das des Herrschers als Träger einer größeren Erzähleinheit und andererseits das des Herrschers als Figur mit einer eigenen Lebensgeschichte. Diese Prinzipien können sich am Anfang eines Abschnitts überschneiden, am Ende aber divergieren. Der Lohengrin weist prinzipiell eine ähnliche Strukturierung auf. Die Anfänge der Herrscherabschnitte sind grundsätzlich klar markiert, vor allem mit einem Hinweis auf die Abstammung des je neuen Kaisers; an ihrem Ende können auf den Tod des Kaisers und Angaben zu seiner Begräbnisstätte weitere Informationen folgen. So wird der Abschnitt zu Otto III. folgenderweise umrahmt. Während es am Anfang heißt: nâch im sîn sun wart künic in kurzer wîle. Nâch sînem vater Ott er hiez (V. 7420  f.), lautet es am Ende: Dâ ze Achẹ er sich bestaten hiez, des die vürsten und sîn rât dô niht enliez, sie braehten daz gebeine dar nâch êren, Dâ ez noch hiut begraben lît. ahtzehen iâr was bî dem rîch sîns lebens zît ê in der tôt mit gifte kunde versêren. Keinen erben hinder im  er lie als im vor sagete künic Karl, dô er im erschein. (V. 7511–7518)

18 Nach Weiland (Anm. 15) fehlen in den C-Handschriften 18 und 19 die genealogischen Hinweise bei Otto I. und Heinrich II., in den A-Handschriften 6 und 7 die Jahre der Regierungsantritte Ottos I. und Ottos II. 19 Nach Weilands Angaben (Anm. 15) stellt Otto I. in den A-Handschriften 1–6, 9 und 10 eine weitere Ausnahme dar, denn dort fehlt die Bemerkung is to Megedebůrch begraven (164,32).

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Auch die Spannung zwischen den zwei oben erwähnten Organisationsprinzipien findet Eingang in den Lohengrin, wie etwa aus der Überschneidung der Geschichten Heinrichs I. und seines Nachfolgers Otto I. hervorgeht. In der Chronik wie im Epos finden sich nämlich nach der Bestimmung Ottos zum Nachfolger sowie nach Heinrichs Tod weitere Berichte über Heinrich, bevor der eigentliche Otto-Abschnitt anfängt.²⁰ Ganz so einfach gestaltet sich die strukturelle Adaption der Sächsischen Weltchronik allerdings auch nicht. Schon im Falle Ottos III. unterscheidet sich der durchaus formelhafte Charakter der zitierten Stellen von der Weltchronik: Es fehlen z.  B. die chronologischen Daten und die Position in der Reihenfolge nach Augustus. Berücksichtigt man auch andere Kaiser, fällt aber vor allem der Umgang mit den Regierungszeitangaben auf. Zwar steht wie in der Weltchronik die Dauer der Herrschaft Ottos II. am Anfang seiner Regentschaft: Den rôten keiser Otten hiez man sînn sun, der nâch im het des rîches niez niun iâr und pflac sîn wol nâch grôzen êren. (Loh., V. 7401–7403), In deme 975. jare van godes gebort Otto de rode, des groten Otten sone, gewan dat rike, de 80. van Augusto, unde was daran 9 jar. (SW, 165,3  f.),

doch stellt dieses für die Weltchronik typische Verfahren im Lohengrin eine Ausnahme dar, denn im Lohengrin findet sich die Regierungszeit eines Kaisers, wie z.  B. in den oben zitierten Stellen zu Otto III. zu sehen, üblicherweise am Ende seiner Herrschaft. Genauer gesagt wird die Herrschaftsdauer einmal – wie in der Sächsischen Weltchronik – am Anfang (Otto II.), einmal sowohl am Anfang als auch am Ende (Otto I.) und dreimal nur am Ende (Heinrich I., Otto III., Heinrich II.) erwähnt.²¹ Die Umstellung dürfte kein Zufall sein, denn es ist zu bedenken, dass der Lohengrin-Dichter neben der Sächsischen Weltchronik mit mindestens einer weiteren Chronik vertraut war: Die Prosakaiserchronik setzt die Regierungszeit aller dieser Kaiser mit Ausnahme Heinrichs II. nämlich ans Ende des jeweiligen Abschnitts, so z.  B. bei Otto III.: da ward er siech vnd starb. er was an dem rich achzehen iar vnd vier monat mer. die herren begrůben in in das mu̍nster sant marien etc. (S. 340). Die Anfänge der Abschnitte zu Otto II. und Otto III. im Lohengrin ähneln auch in anderer Hinsicht der Prosakaiserchronik: In beiden Fällen wird der neue Herrscher mit dem Verbum hiez eingeführt. Auch Otto I. wird am Anfang des ihm gewidme20 Dabei geht der Lohengrin, der Ottos zukünftigen Rang vorwegnimmt (V. 7307–7310), weiter als die Weltchronik, die vor Heinrichs Tod lediglich über die Bestimmung Ottos zum Nachfolger berichtet (160,29–31). Eine ähnliche Überschneidung gibt es in beiden Texten zwischen den Geschichten Ottos I. und Ottos II. 21 Heinrich I. stellt insofern einen Sonderfall dar, als der Anfang seiner Geschichte im Chronikteil, wie im Lohengrin überhaupt, nicht vorhanden ist, da die Lohengringeschichte mitten in seiner Regentschaft einsetzt.

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ten Abschnitts ausdrücklich genennet (V. 7327); nur für Heinrich II. fällt eine solche Nennung aus. Dafür gibt es jedoch in der Sächsischen Weltchronik kein überzeugendes Vorbild.²² Die Prosakaiserchronik dagegen leitet die Abschnitte zu diesen Kaisern mit hieß ein, wobei – wie im Lohengrin – Heinrich II. die einzige Ausnahme ist. Die jeweiligen Stellen zu Otto II. und Otto III. in der Prosakaiserchronik lauten z.  B.: Otto hieß sin sun. den erwalten die fu̍rsten ze ku̍ng (S. 339) und Otto hieß sin sun. der was nu̍ zwlff iar alt. das was der trit ott (S. 340). Folgte die Prosakaiserchronik in der Behandlung der Regierungszeitangaben weitgehend ihrer Quelle, also der Kaiserchronik, so ist das hier nicht mehr der Fall: Der Einsatz der Nennungsformel in der Prosakaiserchronik baut höchstens auf die Kaiserchronik auf.²³ Die hier vorgelegte Analyse liefert keinen Grund zu der Annahme, der LohengrinDichter habe die Kaiserchronik selbst gekannt; zur Erklärung der Änderungen reichen Kenntnisse der Prosakaiserchronik aus. Die Komposition des Chronikteils im Lohengrin erweist sich damit als Ergebnis einer schöpferischen Auseinandersetzung mit der Sächsischen Weltchronik und der Prosakaiserchronik. Liegt in ersterer zwar die Hauptinhaltsquelle vor, so ist der Beitrag letzterer zur stilistischen Um- und Neugestaltung der Erzählraster doch nicht zu übersehen.

IV Der Erzähler im Chronikteil In den beiden als typisch beschriebenen Aussagen, die das Ende der Regierung Heinrichs I. begleiten, deutet sich das Interesse des Lohengrin-Dichters für einen weiteren Aspekt des Erzählstils an, nämlich die Profilierung des Erzählers. Die Regierungszeitangabe lautet: Daz ich iu sage daz ist wâr: / der keiser des rîches pflac ahtzehen iâr (V. 7301  f.), die Angabe zu seinem Begräbnis: er wart begraben schône ze Quittelburc, dâ er noch lît, des er stifter was bî sînes lebens zît, dar umb im dort got gibt die êwic krône. (V. 7317–7320)

22 Nach Weilands Apparat (Anm. 15) böte sich nur folgende Stelle als Ansatzpunkt an: Die CHandschriften 18 und 19 führen Otto II. mit der Bemerkung Dessen Otten nante man den roten Otten (S. 165) ein. 23 Der einzige Unterschied zwischen Prosakaiserchronik und Kaiserchronik in der Verteilung der Regierungszeitangaben liegt darin, dass die Kaiserchronik eine solche Angabe für Heinrich II. kurz vor Ende des ihm gewidmeten Abschnitts enthält (V. 16240–16244). Die Prosakaiserchronik setzt den Eingang mit hieß für Heinrich I., Otto I., Otto II. und Otto III. ein, in der Kaiserchronik lautet es nur bei Otto I. und Otto II. gehaizen was er Ottô (V. 15852; V. 15976).

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An beiden Stellen kommt im Gegensatz zur Sächsischen Weltchronik die Stimme des Erzählers explizit zum Ausdruck: Heinrich, so die Chronik, quam an dat rike […] unde was daran 18 jar (158,18  f.) und ward begraven to Quedlingeborch mit groten eren (160,31). Die Einschaltung des Erzählers im Lohengrin, die sich hier in dem ich-Pronomen und dem Gegenwartsbezug (noch) manifestiert, lässt sich auch in den nachfolgenden Versen über Heinrich und seine Nachfolger beobachten. Damit ist nicht der Gemeinplatz gemeint, dass stets von einem Erzähler auszugehen ist, dessen Kausalerklärungen oder Verallgemeinerungen etwa aus einer erweiterten Perspektive mit zu berücksichtigen wären. Stattdessen gehe ich hier von einem enggefassten Verständnis von Erzählerprofilierung aus, das sich auf das explizite Hervortreten des Erzählers sowie dessen explizite Einbindung in die Gegenwart des Rezipienten beschränkt. Über die Taten Ottos I. heißt es: des hiut kein künic noch keiser sich verzîhet (V. 7310), über Ereignisse in der Zeit Ottos II. wird berichtet: Nû ist iu vor wol kunt getân, / daz erbeschefte iâhen die von Affricân / ûf roemisch rîch (V. 7404–7406), bezüglich der Öffnung des Karlsgrabs in der Zeit Ottos III. wird gesagt: nû ligt er in eins schoenen grabes sarke (V. 7476), und über die Schwester Heinrichs II. erfährt man: Gîsel was ir nam als hiut geschriben stêt (V. 7542). Für keine dieser Stellen ist in der Sächsischen Weltchronik eine vergleichbare Profilierung des Erzählers zu finden.²⁴ Freilich ergreift der Erzähler auch in der Weltchronik das Wort. Er bietet z.  B. Erklärungen an, die sich auf die Gegenwart beziehen, und verwendet das kollektive unser: Dit is de heilege koning Stephan, to des grave god vile tekene dod (167,28  f.) und In deme 984. jare van der bort unses herren (165,35). Keine solche Stelle wird allerdings direkt in den Lohengrin aufgenommen. Um das Verhältnis zwischen den beiden Texten näher zu bestimmen, kann man, von den zitierten Beispielen ausgehend, zwischen folgenden Erscheinungsformen der Erzählerstimme unterscheiden: (1) Aussagen, in denen ein Pronomen in der ersten Person figuriert, (2) Quellenverweise, (3) Anreden des Rezipienten und (4) Aussagen, die sich ausdrücklich auf die Gegenwart des Sprechers (und des Rezipienten) beziehen (etwa durch nu in seiner temporalen Bedeutung). Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der Lohengrin-Dichter bei der Inszenierung des Erzählers eine andere Vorliebe als sein Vorgänger hatte: Er setzt Quellenverweise und Anreden des Rezipienten, die in der Chronik kaum (laut Weiland nur einmal, und zwar nur in einigen Handschriften der Rezensionen C) vorkommen, häufiger ein.²⁵ In diesem Fall hilft zudem die Prosakaiserchronik nicht

24 Auch wenn man von einer erweiterten Auffassung der Erzählerprofilierung ausgeht, lässt sich nur eine derartige Entsprechung in den beiden Werken finden: Daz was ein der hôhste strît, der ie ze diutschen landen / geschehen was vor oder nâch (Loh., V. 7337  f.) = Dit was der grotesten segenunft en, de ie to Dudischeme lande gescha (SW, 162,20  f.). 25 Weitere Beispiele aus dem Lohengrin: Nû habt ir wol vernumen daz (V. 7311); dâ vint man ez noch hiut geschriben inne (V. 7326); als uns diu wârheit seit (V. 7335); als ichz an der korônic las (V. 7342); sô tuot diu sag iu vor bekant (V. 7368); als uns diu korônic kan mit wârheit sagen (V. 7412); als uns diu korô-

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weiter, denn die Erzählerstimme wird darin selten profiliert.²⁶ Schwieriger ist es, eine Aussage über einen möglichen Bezug zur Kaiserchronik zu treffen. Quellenberufungen kommen in deren Berichten über die Ottonenherrscher häufig vor (z.  B.: die wârhait wir von den buochen hân, V. 16029), und es wäre gegebenenfalls zu überlegen, ob die Ausrufe des Erzählers (z.  B.: hai wie lange er der wider was!, V. 15771) einen Anlass für die direkten Publikumsanreden im Lohengrin geliefert haben könnten. Mit Sicherheit ließe sich das aber kaum nachweisen. Im Stilbereich der Erzählerstimme scheint dem Lohengrin zumindest zum Teil ein eigenes Konzept zugrunde zu liegen.

V Die Sprecher am Ende des Chronikteils Wird ,Wolfram‘ in den Eingangsstrophen als Erzähler der Schwanrittergeschichte eingeführt, so stellt sich hier die Frage, wen man sich eigentlich als Sprecher des gerade analysierten Chronikteils des Lohengrin vorzustellen hat. ,Wolfram‘ rundet die Lohengrin-Erzählung davor mit den Worten dâ mit von dan sie riten unde vluzzen (V. 7300) ab; im Epilog danach ergreift dann der Lohengrin-,Dichter‘ das Wort, z.  B.: ez muoz kumen von des herzen künste kamer: / ob dar inn niht hât rîche kunst gehûset, / Sô nemt willen vür diu werc an (V. 7645–7647). Dazwischen liegen die Chronikstrophen, die mit der Aussage Daz ich iu sage daz ist wâr (V. 7301) anfangen. Spricht schon dort ein ,Dichter‘, der das Werk im Epilog mit einer Darstellung seines Kunstverständnisses und einem Mariengebet abschließen wird, oder muss man ,Wolfram‘ weiterhin als Sprecher, jetzt einer Chronik, annehmen? Und: Ist es eigentlich zulässig, den Epilog ohne Weiteres allein dem ,Dichter‘ als Sprecher zuzuschreiben? Bewusst ist hier von einem ‚Sprecher‘ die Rede, denn damit kann die Verwechslung von Redetyp (Erzählung, Gebet usw.) und Sprecherinstanz (Wolfram-, Dichter-Figur usw.) vermieden werden, die vielen Auffassungen des Lohengrin-Aufbaus zugrunde liegt. Die Frage richtet sich also danach, wer wann in einem Text wie Lohengrin spricht, oder besonders wie bzw. ob ein Übergang von einem Sprecher zum anderen an den Rändern des Chronikteils zu erkennen ist.²⁷ Es sei betont, dass mit dem Begriff ‚Dichter‘ im Folgen-

nic tuot mit schrift bekant (V. 7469). Die Stelle in der Sächsischen Weltchronik lautet: Swe so de orloge vorbat horen wille, de lese Cronica Wilhelmi van deme lande over Elve (163,26  f.). 26 Es kommen folgende Beispiele vor: sy gaben den lu̍ten allen vnsern herren (S. 338); du̍ stat rotenburg ist du̍ hoptstat des herczogentůms ze franken. wer dem bystumm die er nimmet der berobet sant kylian (S. 341  f.); er ward begraben in sin mu̍nster das er frummt. […] sant hainrich kumme vns ze hilff (S. 342). 27 Vgl. hier die Forschung einerseits zur Frage, woran eine weibliche Stimme im Minnesang zu erkennen ist, und andererseits zur Rolle des Sprechers in der Erzähltheorie, etwa im Genetteschen Fokalisierungsbegriff (z.  B. Jan-Dirk Müller: Männliche Stimme  – weibliche Stimme in Neidharts Sommerliedern. In: Minnesang und Literaturtheorie. Hrsg. von Ute von Bloh/Armin Schulz gemeinsam mit Manuel Braun u.  a., Tübingen 2001, S. 233–244; Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 7. Aufl., München 2007, S. 63–67).

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den kein naiver Historizismus oder gar eine Rückkehr zu den Forschungsansätzen des 19. Jahrhunderts suggeriert werden soll: Er bezeichnet stattdessen den Sprecher, der sich in der Rolle des Dichters inszeniert, genauso wie sich ‚Wolfram‘ auf den im Lohengrin dargestellten Sprecher mit diesem Namen bezieht, der nicht unbedingt mit dem historischen Autor des Parzival gleichzusetzen ist.²⁸ Einen stilistischen Ansatzpunkt für die Zuordnung des Epilogs an einen neuen Sprecher könnten zunächst Berührungspunkte mit einem anderen Texthorizont als dem der Chronistik bieten. Ohne hier auf die Problematik des ‚geblümten Stils‘ eingehen zu wollen,²⁹ erinnern z.  B. die Metaphorik des Schmiedens (Strophe 764) im Bereich der Dichtkunst sowie die Beschreibung Dû süeze zuckers trâmes wirz (V. 7654) in Bezug auf Maria an Konrads von Würzburg Goldene Schmiede.³⁰ Das reicht indes nicht aus, um eine Grenze zwischen den Epilogstrophen und den anderen Werkteilen des Lohengrin zu ziehen. Erstens lassen sich Ansätze dieser komplexen Ausdrucksweise auch im Chronikteil ausmachen, etwa im Brief, mit dem der Papst Heinrich II.

28 Damit schließt der Beitrag an Arbeiten an wie Monika Unzeitig: Von der Schwierigkeit zwischen Autor und Erzähler zu unterscheiden. Eine historisch vergleichende Analyse zu Chrétien und Hartmann. In: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 59–81. Unzeitig zeigt, dass ein theoretischer Autor-ErzählerUnterschied sich nicht problemlos auf die literarische Praxis in Texten des 13. Jahrhunderts anwenden lässt. Dies gilt auch für die Wolfram-Rezeption im Lohengrin, denn hier fungiert Wolfram nicht nur als ‚innertextueller‘ Erzähler der Schwanrittergeschichte, sondern auch als Autor in der ‚außertextuellen‘ Welt des Rezipienten: Er tritt im Kontext des Sängerstreits auf der Wartburg im Kreis Landgraf Hermanns I. von Thüringen auf, der zwar aus heutiger Sicht fiktional sein mag, aber in chronikalischen und anderen Zeugnissen des Mittelalters als historisches Ereignis behandelt wird; vgl. Herbert Wolf: Zum Wartburgkrieg. Überlieferungsverhältnisse, Inhalts- und Gestaltungswandel der Dichtersage. In: Fs. für Walter Schlesinger. Hrsg. von Helmut Beumann, Bd. 1, Köln, Wien 1973 (Mitteldeutsche Forschungen 74, 1), S. 513–530, hier S. 513–516. Insofern unterscheidet sich die Wolfram-Rezeption im Lohengrin von der Albrechts, der nach Annette Volfing im Jüngeren Titurel tatsächlich einen ErzählerWolfram darstelle und lediglich im Verfasserfragment auf den Autor-Wolfram Bezug nehme (Medieval Literacy and Textuality in Middle High German. Reading and Writing in Albrecht’s Jüngerer Titurel, New York, Houndmills 2007 [Arthurian and courtly cultures], S. 76–79). Hinzuweisen ist schließlich – weiterhin im Bereich der Rezeption von Wolframs Werken – auch auf Henrike Manuwald: Der Autor als Erzähler? Das Bild der Ich-Figur in der ‚Großen Bilderhandschrift‘ des Willehalm Wolframs von Eschenbach. In: Autorbilder. Zur Medialität literarischer Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Gerald Kapfhammer/Wolf-Dietrich Löhr/Barbara Nitsche unter Mitarbeit von Stephanie Altrock/Susanne Mädger, Münster 2007 (Tholos  – Kunsthistorische Studien 2), S. 63–92. Manuwald zeigt, dass Zeitgenossen die Abbildungen der Erzählerfigur in der von ihr besprochenen Handschrift durchaus als Darstellungen von Wolfram in der Rolle eines Autors verstanden haben könnten. 29 Vgl. etwa Unger (Anm. 4), S. 36–52; dagegen Gert Hübner: Lobblumen. Studien zur Genese und Funktion der ‚Geblümten Rede‘, Tübingen, Basel 2000 (Bibliotheca Germanica 41), S. 78–81. 30 Vgl. zur Metaphorik Hübner (Anm. 29), S. 81, Anm. 137, der auch auf Ähnlichkeiten mit einer Frauenlob-Strophe hinweist. Die Beschreibung Mariens als zuckers trâmes wirz erinnert an Konrads du zuckerstude (Die goldene Schmiede des Konrad von Würzburg. Hrsg. von Edward Schröder, Göttingen 2 1969, V. 864; vgl. hierzu Rückert [Anm. 4], S. 292).

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nach Rom einlädt (Sîn botschaft stuont, der würze saf / würd von im erviuht, als nâch des winters schraf / des meien kunft mit touwe sie kan vrühten, V. 7571–7573), oder im Lob Heinrichs II. und seiner Frau (er und sand Kunigunt mugent gehelfen wol, / daz diu sêl werde gefloriert und geperlte / Mit der himelischen zier dort vor des gots gerihte, V. 7615–7617). Zweitens gibt es Parallelen zwischen den Epilogstrophen und den Aussagen ‚Wolframs‘ in den Anfangsstrophen: Die Verse Ist ein tragmunt bî sîner arc / daz getiht ûf künste sê (V. 7641  f.) erinnern z.  B. an die Metaphorik von Aussagen wie sus kan ich vürtẹ in Rîne vinden (V. 70).³¹ Schließlich ergeben sich aber auch Verbindungen zwischen dem Chronikteil und den Anfangsstrophen; denn in ihnen findet sich eine Metaphorik der Wasserfahrt, die auch in einer bildlichen Anmerkung zur Abstammung Heinrichs II. eingesetzt wird: des selben sun und er gelîchiu ruoder. Dâ zugen an der sippe teil, der rôt keiser und dem daz rîche wart ze teil herzog Heinrîch, ze Beierlant gebürtet. (V. 7530–7533)

Gerade am Ende des Chronikteils, an der Stelle also, wo die Erzählung aufhört und in den Epilog übergeht, scheint es besonders schwer, den Übergang von dem erzählenden ‚Wolfram‘ zum ‚Dichter‘ als Sprecher festzustellen. Mit der eindeutigen strukturellen Grenze lässt sich kein ebenso eindeutiger Sprecherwechsel verbinden, denn es ist bei der Verherrlichung des bayerischen Kaisers nicht festzulegen, ob die besprochenen Stellen die Stimme ‚Wolframs‘, wie sie in den Eingangsstrophen charakterisiert wurde, oder die des ‚Dichters‘, wie sie in den Epilogstrophen charakterisiert wird, kennzeichnen sollen. Auch die auf die Heinrichstrophen folgenden Zeilen Nû ist der âventiure grunt, / swer daz buoch ist lesent, schôn gemachet kunt (V. 7621  f.), die man als Anfang des Dichterepilogs zu behandeln pflegt, sind nicht eindeutig dem ‚Dichter‘ zuzuweisen, denn ‚Wolfram‘ beschreibt in vorhergehenden Strophen die Quelle mehrfach als âventiure, und man könnte das buoch mit der ebenfalls von ‚Wolfram‘ im Chronikteil erwähnten korônic gleichsetzen.³² Sprachlich wird die neue Identität des Sprechers erst in Strophe 764 explizit gemacht, als der ‚Dichter‘ sich in der dritten Person mit ‚Wolfram‘ vergleicht und dadurch von ihm unterscheidet: Hât er gehabt niht künste hort, […] als der von Eschenbach (V. 7631–7635). Allerdings schließt dies nicht aus, dass der eigentliche Wechsel früher anzusetzen ist. Das Akrostichon mit dem Dichternamen bietet auch keinen festen Anhaltspunkt, denn es ist in keiner der

31 Unger (Anm. 4), S. 47–52. 32 Friedrich Panzer nimmt an, dass mit der korônic immer die Sächsische Weltchronik im systematischen Unterschied zur âventiure gemeint sei (Lohengrinstudien, Halle a. d. S. 1894, S. 21  f.). Diese Hypothese entspricht nicht dem gegenwärtigen Stand der Kenntnisse über den Text der Weltchronik; vgl. auch Cramer (Anm. 1), S. 131  f.

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drei Handschriften hervorgehoben.³³ Ähnliches gilt für die hier besprochenen Textteile in ihrer Gesamtheit, denn in keiner Handschrift wird der Chronikteil von der Lohengrin-Geschichte einerseits und den Epilogstrophen andererseits abgesetzt; allein die Verteilung der Illustrationen in der Handschrift B lässt eine gewisse Symmetrie erkennen, da die Lohengrin-Geschichte und der Chronikteil mit Illustrationen versehen sind, die Eingangsstrophen zur ‚Wolfram‘-Clinschor-Auseinandersetzung und die Epilogstrophen dagegen nicht. Das heißt, dass die Handschriften zwar mit dem Akrostichon auf den Dichter hinweisen, dem Übergang zum ‚Dichter‘ als Sprecher jedoch keine Sichtbarkeit verleihen.

VI Schluss Aus der Neubetrachtung der letzten Strophen des Lohengrin aus stilistischer Sicht sind vor allem drei Schlüsse zu ziehen. Erstens erweist es sich als problematisch, Beschreibungen wie „chronikartig“ (Cramer) oder „aus […] volkssprachlicher Chronistik Gewohnte[s]“ (Unger) unkritisch auf den Lohengrin zu übertragen. Das breite Variationsspektrum chronikalischen Erzählens erkennt man nicht nur in den Chronikstrophen des Lohengrin selber, sondern auch in den Texten, die man als mögliche Quellen dafür in Betracht gezogen hat. Der Lohengrin-Dichter kombinierte verschiedene Techniken, die er darin vorgebildet fand, um den Erzähler zu profilieren und Abschnitte voneinander abzugrenzen, fügte aber auch neue hinzu. Zweitens ist nach der Analyse dieses Verfahrens eine Neuauswertung der Quellenlage erforderlich, hinsichtlich derer man sich bisher auf den inhaltlichen Beitrag der Sächsischen Weltchronik konzentriert hat. Auf der einen Seite scheint es jetzt, dass die Prosakaiserchronik in struktureller Hinsicht eine beachtenswerte Rolle spielte; auf der anderen Seite hat sich kein zwingender Grund ergeben, Cramers Erwägung direkter KaiserchronikKenntnisse als gesicherte Tatsache zu betrachten. Schließlich gewinnt auch die Frage nach der Wolfram-Nachfolgerschaft angesichts der Gestaltung der Schlussstrophen eine neue Komplexität. Dass ,Wolfram‘ als Erzähler der Schwanrittergeschichte dargestellt wird, wie man vor allem anhand der Anfangsstrophen des Lohengrin beschrieben hat, bleibt klar. Nach der Analyse der sonst auf ihren historischen Inhalt hin untersuchten Chronikstrophen und der gewöhnlich vorschnell dem Dichter zugeschriebenen Epilogstrophen ist aber nicht mehr eindeutig festzulegen, wann ‚Wolfram‘ zu erzählen und zu sprechen aufhört. Insofern beweist die durchlässige Grenze zwischen den Stimmen ,Wolframs‘ und des ,Dichters‘, dass es nicht immer nur darum

33 Die zwei Heidelberger Handschriften (cpg 364 = A und cpg 345 = B) sind auf http://digi.ub.uniheidelberg.de/diglit/cpg364 bzw. http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg345 zu finden. Die betroffenen Seiten der Münchner Handschrift (cgm 4871 = M) lagen mir als Farbreproduktionen vor.

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ging, einen historischen Wolfram als Vorgänger nachzuahmen und als eigenständige Figur aufzustellen, sondern auch darum, ihn mit der eigenen Persönlichkeit zu verschmelzen.³⁴

34 Man muss also nicht unbedingt terminologische Unterscheidungen der Neuzeit auf Texte des Mittelalters übertragen, um mit dem problematischen Zugang zu deren ‚wirklichen‘ Autoren umzugehen, sondern kann stattdessen auch von der Darstellung der Figuren im Text ausgehen. Insofern ergänzen diese Ausführungen zu den Sprechern im Lohengrin, die die Rollen zweier Autoren (Wolframs und des Lohengrin-Dichters) verkörpern, das an anderer Stelle schon beschriebene literarische Interesse für Autor-Figuren im Umfeld des Sängerstreits auf der Wartburg; vgl. Alastair Matthews: Literary Lives in Medieval Germany. The Wartburg Song Contest in Three Hagiographical Narratives. In: DVjs 84 (2010), S. 44–59.

Cordula Böcking

mit geflorierten worten? Die Minnelyrik Hugos von Montfort zwischen Epigonalität und Experiment Der spätmittelalterliche Dichter Hugo von Montfort wird oft fraglos als Vertreter des sogenannten ‚geblümten‘ Stils gehandelt,¹ und damit, gemessen an dem ästhetischen Können der Vertreter hochhöfischer Lyrik, zugleich als zweitrangig abgewertet.² Seine Texte werden bestenfalls als epigonal, schlimmstenfalls als dilettantisch³ bezeichnet. Dieser Beitrag untersucht zunächst, inwieweit Hugos Dichtung tatsächlich in die Kategorie des ‚Geblümten‘ fällt. Im weiteren Verlauf wird gezeigt, dass hinter Hugos gelegentlichem Abweichen von formal-stilistischen Konventionen, etwa in der Metrik, das in metapoetischen Äußerungen thematisierte Streben nach einer Sprache der Authentizität steht. Dies führt zu der Frage, inwieweit der Steirer das Verletzen poetischer Normen, mit denen er sein Publikum vertraut wissen konnte, bewusst als Stilmittel einsetzt. Eine Analyse relevanter Passagen ergibt, dass Hugos Stil, weit entfernt von mangelhaftem Epigonentum, von Innovation gekennzeichnet ist, welche sich in der raffiniert eingesetzten Verweigerung etablierter stilistischer Kriterien manifestiert. Der 1357 in Bregenz als Sohn von Graf Wilhelm III. und Ursula von Pfirt geborene Graf Hugo XII. von Montfort-Bregenz (†1432) war Politiker. Sein politisches Wirken konzentrierte sich auf die Steiermark; als Parteigänger der Habsburger wurde er für seine Loyalität mit dem Amt des Landeshauptmanns belohnt. Mit 16 Jahren heiratete er Margarete von Pfannberg, nach deren Tod Clementia von Toggenburg und schließlich in dritter Ehe Anna von Neuhaus. Diese drei Eheschließungen ermöglichten ihm, seine Besitzungen in der Steiermark abzusichern und auszubauen. Die dichterische Betätigung war Hugo trotz seines politischen Engagements bedeutsam genug, um eine Prachthandschrift seiner Texte erstellen zu lassen, welche heute in Heidelberg

1 Z. B. Hennig Brinkmann: Zu Wesen und Form mittelalterlicher Dichtung, Halle a.  d.  S. 1928, Nachdruck Darmstadt 1979, S. 160. Die vielschichtige wie problematische Bedeutung der Kategorie des ‚Blümens‘, deren Relevanz für das Werk Hugos im Folgenden näher beleuchtet wird, erfährt eine umfassende Untersuchung durch Gert Hübner: Lobblumen. Studien zur Genese und Funktion der ‚Geblümten Rede‘, Tübingen, Basel 2000 (Bibliotheca Germanica 41). 2 So etwa haben die Texte Hugos keine Aufnahme in den Band „Deutsche Lyrik des Mittelalters“ (Höhepunkte deutscher Lieddichtung aus mehr als zwei Jahrhunderten, neu ediert, übers. und umfassend komm. von Burghart Wachinger, Frankfurt a. M. 2006 [Bibliothek des Mittelalters 22]) gefunden, welcher eine Auswahl nachklassischer deutscher Lyrik versammelt, die primär von ästhetischen Überlegungen getrieben ist. 3 Siehe z.  B. Max Wehrli: Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, 3., bibliographisch erneuerte Aufl., Stuttgart 1997, S. 745.

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aufbewahrt wird (cpg 329). Daneben ist er der erste deutschsprachige Liedautor, der nach eigener Aussage nur Textdichter war, weist er doch wiederholt in seinen Gedichten auf Bürk Mangolt als Komponist der Melodien hin. Über Hugos gestalterische Fähigkeiten sind die Meinungen der Forschung geteilt. So gibt Fritz Peter Knapp an, sich über die ästhetischen Qualitäten seines Œuvres „keine Illusionen“ zu machen,⁴ Wernfried Hofmeister dagegen konstatiert Hugos „besondere poetologische Reflexionstiefe“,⁵ während Wolfgang Achnitz ihn gar als Avantgardisten bezeichnet.⁶ Der sogenannte ‚autobiographische‘ Zug von Hugos Dichtung wurde bisweilen geradezu als ein Verzicht auf Stil aufgefasst.⁷ In der Tat ist insbesondere die Minnelyrik von einer explizierten autobiographischen Atmosphäre geprägt, die zusammen mit der Bemühung um eine emotional ‚authentische‘ Sprache ein wesentliches Merkmal der Texte ausmacht. Das Ringen um Authentizität steht aber zugleich in Wechselwirkung mit einer in zahlreichen metapoetischen Äußerungen manifesten Artifizialität der Dichtung, welche auf die bewusste ästhetische Organisation der Texte hinweist, so dass der Vorwurf einer Abwesenheit von ‚Stil‘ sicherlich in Frage gestellt werden muss. Gleichzeitig ist dem Verfasser die Begrenztheit seines stilistischen Könnens sehr wohl bewusst, insofern als das lyrische Ich diese wiederholt konstatiert. Die Texte weisen also ein hohes Maß an poetologischer Selbstreflexion auf. Aussagen wie die zur Begrenztheit des eigenen Könnens verraten nicht nur Traditionsbewusstsein, sondern auch die Lust am ironischen Spiel mit der Konvention, in welchem etwa der Bescheidenheitstopos in ganz eigener Weise verwandt wird. Der Verstoß gegen dichterische Normen erscheint als bewusster Kunstgriff, mit dem der Steirer seinem Bestreben, emotional authentische Aussagen zu treffen, in schriftlicher Form Ausdruck zu verleihen sucht. Dieses spezifische Verfahren soll hier in den auf die Minnethematik fokussierten Texten Hugos untersucht werden. Dabei ist festzuhalten, dass eine eindeutige inhaltstypische Zuordnung der Texte so einfach nicht ist. Obwohl textimmanent zwischen brief, tagweis (Lieder) und red differenziert wird, ist es bisweilen schwierig, die einzelnen Liedtypen sauber voneinander zu un-

4 Fritz Peter Knapp: O weib, der todessünde schnur! Hugo von Montfort und die Liebesauffassung des europäischen Spätmittelalters. In: Aller weishait anevang / Ist ze brúfen an dem aussgang. Akten des Symposiums zum 650. Geburtstag Hugos von Montfort. Hrsg. von Klaus Amann/Elisabeth De Felip-Jaud, Innsbruck 2010 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe 76), S. 97–107, hier S. 99. 5 Wernfried Hofmeister: Zum poetischen Werk Hugos von Montfort. In: Hugo von Montfort. Das poetische Werk. Hrsg. von Wernfried Hofmeister, mit einem Melodie-Anhang von Agnes Grond, Berlin, New York 2005, S. XIX–XXI, hier S. XIX. 6 Wolfgang Achnitz: Man mocht es griffen mit der hand. Das Durchbrechen von Erwartungshorizonten als Merkmal der Dichtungen Hugos von Montfort. In: Aller weishait anevang (Anm. 4), S. 127–142, hier S. 139. 7 Vgl. Annemarie Altpeter: Die Stilisierung des Autobiographischen bei Oswald von Wolkenstein und seinen Zeitgenossen Hugo von Montfort, Muskatplüt und Michel Beheim. Diss. masch., Tübingen 1950, S. 89.

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terscheiden, was nicht zuletzt daran liegt, dass Hugos Minnesang nicht selten eine Wendung ins Geistliche nimmt, ebenso wie sich auch eine gegenläufige Tendenz beobachten lässt.

Hugo als Vertreter des ‚geblümten‘ Stils? Nach eigener Aussage ist Hugos Minnedichtung geprägt von geblúmte[n] und geflorierten worten (Nr. 31, V. 5; V. 13),⁸ mithilfe derer der Dichter das Lob der Frauen ausdrückt. Eine solche Selbsteinschätzung scheint nicht nur den ‚geblümten‘ Stil etwa eines Albrechts als Stilideal des Montforters anzudeuten, sondern auch sein Zugehörigkeitsgefühl zu diesem zu verraten. In der Tat taucht Hugo in den Literaturgeschichten routinemäßig als Vertreter dieser im 14. Jahrhundert stark repräsentierten, seit gegen Ende des 19. Jahrhunderts förmlich in der Altgermanistik etablierten Kategorie auf.⁹ Das Partizipialattribut geblümt ist abgeleitet von blüemen, ‚mit Blumen schmücken‘,¹⁰ ein Verb, welches semantisch verwandt ist mit florîeren, von mlat. florare, ‚zieren‘, ‚ausschmücken‘. Das Attribut findet in seinen früheren Erscheinungen besonders bei der Beschreibung von Waffen- und Kleiderschmuck Verwendung (u.  a. bei Wolfram), erst später taucht es auch in Bezug auf Dichtkunst und Gesang auf, so ganz besonders bei Konrad von Würzburg, der etwa in seinem Marienpreis Die Goldene Schmiede die Absicht erklärt, diner [Mariens] wirde schäpelin […] sol blüemen unde flehten,  /  […] mit rœselehten / sprüchen […] floriere[n] (Die Goldene Schmiede, V. 62–65).¹¹ Bemerkenswert ist, dass bei Konrad die Würde Marias mit sprüchen geschmückt wird, während bei Hugo die Worte selbst bereits als geschmückt (gefloriert) bezeichnet werden, welche dann im Weiteren ihrerseits die Frauen schmücken, was auf ein gesteigertes Maß an Künstlichkeit bzw. einen überladeneren Stil hinzudeuten scheint, wie man es von einem späteren Dichter erwarten möchte. Inwiefern aber

8 Sämtliche Zitate aus Hugos Werk sind der folgenden Textausgabe entnommen: Hugo von Montfort. Das poetische Werk. Hrsg. von Wernfried Hofmeister (Anm. 5). 9 Hübner (Anm. 1) zeichnet die Merkmale des ‚Blümens‘ von seinem vortechnischen, metaphorischen Gebrauch im 12. Jahrhundert zu seiner Entwicklung zum spezifischen rhetorischen Begriff seit dem späten 13. Jahrhundert nach (S. 4). Er plädiert dafür, die Rede vom ,geblümten‘ Stil aufzugeben und nur noch vom „geblümten Lob“ (bzw. der ,geblümten‘ Invektive) zu sprechen (S. 4; S. 446). Für die Betrachtung des ‚Blümens‘ bei Hugo ist diese Differenzierung allerdings nicht von zentraler Bedeutung. 10 Nach Brinkmann (Anm. 1) ist die ‚geblümte‘ Rede „ornatus difficilis in deutscher Sprache“ (S. 100). Als typische Kennzeichen dieser „schweren Schmuckart“ führt Brinkmann Umschreibung, Hyperbel, Metonymie, Metapher, Allegorie, asyndetische Reihe und Wortwiederholung an. Hübner (Anm. 1) nennt metaphorische Ausdrucksformen (Metaphern, Metonymien, Vergleiche, Antonomasien, Allegorien) als kennzeichnend (S. 5). 11 Die Goldene Schmiede des Konrad von Würzburg. Hrsg. von Edward Schröder, 2. unveränd. Auflage, Göttingen 1969.

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steht Hugo tatsächlich in der Tradition dieser Stilrichtung, entspricht seine Dichtung den stilistischen Kriterien, die gemeinhin damit in Verbindung gebracht werden? Eine nähere Untersuchung von Hugos Werk ergibt, dass die Zugehörigkeit zum ‚geblümten‘ Stil, insofern man diesen eindeutig als Kategorie dingfest machen kann, bei weitem nicht so unkompliziert ist, wie die gängige literaturgeschichtliche Einordnung dies vermuten ließe. Eines der auffälligsten Merkmale des ‚geblümten‘ Stils ist die Verwendung metapoetischer Metaphern, in denen der Bildbereich des Pflanzlichen auf den Bereich der Sprachkunst übertragen wird, so in dem Paradebeispiel blüemen bzw. florîeren. Derartige Metaphern sind bei Hugo aber mit Ausnahme der ebengenannten Beispiele kaum zu finden. Begriffe aus dem Bildbereich des Pflanzlichen sind eher auf konventionelle Metaphern oder Vergleiche im Rahmen des Frauenpreises beschränkt, so etwa Nr. 18, V. 188 (sy ist mein ros, mein blúyender hag); Nr. 1, V. 25; Nr. 34, V. 23, oder auch: was ich von rosen ie gesach, all blúmen vín, der lóber tach, das dunkhet mich aín schimpf gen zarten lieben tóchterlin. (Nr. 11, V. 40–43)

Als weitere Kennzeichen des ‚geblümten‘ Stils gelten die betonte Verwendung rhetorischer Schmuckmittel und das Streben nach ungewöhnlichen, kunstvollen und schwierigen Ausdrücken, was sowohl Syntax als auch Lexik betrifft, des Weiteren die Häufung stilästhetischer Elemente wie Laut- und Wortwiederholung, Genitivumschreibung und Wortzusammensetzung.¹² All diese sind bei Hugo zwar vereinzelt, aber nicht in großer Dichte anzutreffen.¹³ Statt eines komplizierten oder überladenen Stils begegnet uns eher ein einfacher, rhetorisch, syntaktisch und lexikalisch ‚natürlich‘ gestalteter, wie schon das eben angeführte Beispiel verdeutlicht.¹⁴

12 Vgl. etwa Anke Sophie Meyer: Hugo von Montfort: Autorenrolle und Repräsentationstätigkeit, Göppingen 1995 (GAG 610), S. 108  f. 13 Laut Meyer (Anm. 12) sind die Merkmale der ‚geblümten‘ Rede in Hugos Texten sogar „nur in dilettantischer Form anzutreffen“ (S. 109). 14 Hübner (Anm. 1) bemerkt, dass Minnesang (im Gegensatz zu etwa Marienpreis, Fürstenlob, höfischer Epik) sich nur bedingt für die ‚geblümte‘ Rede eigne, da hier die Verwendung argumentativer Strukturen im Vordergrund stehe (S. 289  f.). Daneben bedeute der „prekäre Realitätsstatus“ (S. 388) des gerühmten Gegenstandes im Minnesang, dass seine Qualität sich nur schwer als Ergebnis poetischer Artistik darstellen lasse.

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Bildsprache Ein Blick auf Hugos Bildsprache macht deutlich, wie stark seine Metaphorik den traditionellen Ausdrucksformen des Minnesangs verhaftet ist. Die Begutachtung einer repräsentativen Passage aus einer Minnerede (Nr. 2) zeigt auf den ersten Blick einen Dichter, der im Gesang über sein lieb frowelín (Nr. 2, V. 8) auf etablierte Bilder zurückgreift: ir lieb ném ich fúr alles gold, ir angesicht, mín sunnen schín: als edel gestain von arabín das mócht ir nit gelichen. ir wandel tett mich ríchen, den si weiplich an ir trug. waidenlich húbsch und klug pflag sy mit guten sitten, untrewen gar vermítten. in írs hertzen stammen si schózz mit fúres flámmen in mines hertzen klusen. gen Sénenberg behusen ward ich do ze stúnden tráwrig géntzlich fúnden in grossen sórgen da: ›amor víncít omnía‹ – vieng mích mít gantzer kreft. (Nr. 2, V. 10–27)

Dieser metrisch einfache, in Reimpaaren organisierte Ausschnitt aus einer für Hugo typischen Minnerede enthält kaum syntaktische Auffälligkeiten: es gibt wenig Hypotaxe oder Umschreibung, lediglich eine Relativkonstruktion (V. 15), kaum mehrgliedrige Konstruktionen oder asyndetische Reihungen. Für den ‚geblümten‘ Stil typisch ist die Häufung von Metaphern und Metonymien. Die verwendeten Tropen bleiben allerdings größtenteils im konventionellen Rahmen, so etwa die Sonnenmetapher (V. 11), der Vergleich ex negativo mit den kostbaren Juwelen (V. 12; siehe auch Nr. 18, V. 137–144; V. 264), die Herzmetonymie (V. 21), der Senenberg (V. 22), die Verwendung des lateinischen Sprichwortes (V. 26), das Feuer und die flammenden Pfeile (V. 20). Feuermetaphern sind ein wiederkehrendes Motiv in Hugos Minnelyrik, so etwa in Text Nr. 3, wo sich die geläufigen Metaphern des Entzündens und Verbrennens finden, oder in Nr. 38, wo die Dame als prinnende vakel / in mannes gemúte (V. 65  f.) beschworen wird. Auch andere stereotype Bilder wie etwa das des Gefangennehmens oder Gefesseltseins sind zu beobachten, hier in Nr. 2, V. 27. In Nr. 36 ist von den banden (V. 4) der Liebsten die Rede, die das Herz des Sprechers gefangenhält; in Nr. 38 fesselt die Dame den Mann mit strikchen gemacht auss lieb (V. 30), gleichzeitig hat sie ihn auch noch mit minne zunden (V. 31) angezündet. In diesem Zusammenhang wird auch die Macht der Frauen besprochen, deren ‚Geschosse‘ das Gemüt eines Mannes tiefer

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zu treffen imstande sind als jegliches Buch. Bei derartigen sussi wort handelt es sich um Gemeinplätze der traditionellen Minnemetaphorik, so die Pfeile Amors aus der klassischen Literatur oder die ‚Stricke der Liebe‘, die u.  a. bei Gottfried, Wolfram oder Andreas Capellanus zu finden sind. Auch die Beschreibung der äußeren Attribute der Geliebten orientiert sich an konventionellen Bildern:¹⁵ ihr Mund ist rosenvarwen (z.  B. Nr. 21, V. 5: siehe auch Nr. 23, V. 13), die Brüste wahlweise weißer als Perlen oder schön gedrechselt wie Äpfel (Nr. 3, V. 27  f.); dass die ‚Äpfel‘ als gedrechselt beschrieben werden, verrät die Nähe der Bildsprache zur bildenden Kunst.¹⁶ Desgleichen finden sich im Rahmen gängiger Motivverwendungen, wie etwa der des Spaziergangs, Naturbilder, die von einer für den ‚geblümten‘ Stil typischen Häufung des Stofflichen gekennzeichnet sind. Oft gibt es Beschreibungen von Vögeln und Vogelgesang, letzterer in für den späten Minnesang typischen termini technici, etwa Begriffen wie quint, quart, octaf (z.  B. Nr. 16) aus der Musiktheorie, die den gelehrten Neigungen der Zeit entsprechen. Blumen- und Edelsteinbeschreibungen sind ebenfalls beliebt (z.  B. Nr. 28, V. 549–564). So ist in Nr. 23 davon die Rede, dass das Herz der Geliebten mit Recht eine Krone von Saphiren aus dem Orient trüge (V. 21  f.), während ihre Brüste als barillen weiss (V. 17) beschrieben werden. In Nr. 19 wird die Schönheit der Geliebten als Ganzes mit einem Edelstein verglichen (V. 5). Deskriptiver Stil wechselt mit allegorischer Betrachtungsweise, wie wenn die Farben der Blumen gedeutet werden oder die Frauenbeschreibung unter Einsatz von Farben stattfindet (Nr. 16; siehe auch Nr. 18, V. 109–112). Ein weiteres Merkmal des ‚geblümten‘ Stils, die gezielte Verwendung von Fremdwörtern, tritt in Text Nr. 2 in einem prägnanten Beispiel zutage. Der Sprecher verweist auf den barill, die aus dem Beryll gefertigte Brille, durch die das Sehvermögen so vermehrt werde wie die Liebe der geliebten Frau durch den Minnedienst (wérlich dín lieb sich meren tút / als dúrch den barillen tút die gesícht‘, Nr. 2, V. 87  f.). Ein derartiger Fall jedoch ist die Ausnahme. Hugos Bildsprache ist insgesamt weit weniger ausgeklügelt und raffiniert, als man dies von einem Vertreter des ‚geblümten‘ Stils erwarten würde. Sieht man ab von einigen Metaphern aus dem Bedeutungsfeld Schreiben und Schriftlichkeit, die im Folgenden noch genauer untersucht werden, so ist die Originalität seines Werkes auch gemessen an den Maßstäben der ‚Blümer‘ in dieser Hinsicht durchaus begrenzt. Was die Metaphorik betrifft, kann, insofern als uns hier wenig Neues entgegentritt, durchaus von epigonalen Zügen bei Hugo gesprochen werden. Die Verwendung etablierter Topoi, welche für sich genommen gegen eine Authentisierung spricht, ist aber, wie später gezeigt wird, nur eine Seite von Hugos Dichtkunst.

15 Bisweilen verzichtet das lyrische Ich auf die Angabe näherer Details und erklärt einfach, dass es sich beim Körper der Geliebten um einen nach wunsch gemessen[en] (Nr. 23, V. 26) handele, an welchem nichts vergessen worden sei (Nr. 23, V. 28), was die Notwendigkeit einer detaillierten Ausführung aufhebt. 16 Laut Brinkmann (Anm. 1), S. 95, ist dies ein typisches Merkmal mittelalterlicher Dichtung im Allgemeinen.

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Selbststilisierung und die Grenzen menschlicher Ausdrucksfähigkeit Auch wenn die Analyse der Bildsprache Hugos nahelegt, dass das ‚Blümen‘ für Hugos Stil weniger richtungsweisend ist als gemeinhin angenommen, problematisieren die metapoetischen Betrachtungen des Montforters immer wieder die Zugehörigkeit seiner Texte zu dieser Stilrichtung. Bereits der zweite Text der Handschrift cpg 329, die oben betrachtete Minnerede, enthält eine Passage, in der das lyrische Ich seine formalen dichterischen Fähigkeiten ebenso wie seine Zugehörigkeit zur Gruppe der ‚Blümer‘ zur Diskussion stellt: der silmen zal, der stunden zil, der mag ich nit gewalten, in minem sínn behalten. darzu gehórt der Suchenwirt, der dik mit red als nahe schírt, man mocht es griffen mit der hand. er ist ín mángem land erkand. das sag ich úch mit aínem wort: er ist der best, den ich ie gehort von gott und von den wappen. da tribt er kaíne gráppen. er váchtz mít geblúmten worten an, des ích doch laider nit enkan. (Nr. 2, V. 132–144)

Aus Anlass der Wappenbeschreibung, zu der ihn die aventiurehafte Ausrichtung dieser Minnerede führt, legt der Sprecher seine Probleme mit metrischer (der silmen zal, V. 132) und sprachlicher Gestaltung dar und stellt einen negativen Vergleich mit dem Suchenwirt an. Der in etwa mit Hugo zeitgenössische Wappendichter Peter Suchenwirt wird als unerreichbares Vorbild genannt. Anders als bei Hugo handelt es sich bei Suchenwirt um einen Berufsdichter. Hugo spielt hier auf den Gegensatz von Berufs- vs. Laiendichter an, wenn er auf die beiläufige, improvisatorische Natur seines eigenen Dichtens eingeht, die ihm angeblich nicht erlaubt, seine Reime zum idealen Zeitpunkt niederzuschreiben. Während er selbst Mühe habe, die korrekte Anzahl der Silben (bis zum Diktat) im Kopf zu behalten (V. 134), wird über Suchenwirt gesagt, dass er mit red als nahe schírt / man mocht es griffen mit der hand (V. 136  f.). Demnach macht einen guten Dichter aus, dass er in der Lage ist, die Dinge mit Worten so genau (als nahe) ‚auszuschneiden‘ (schern), dass sie, klar und plastisch, dem Hörer oder Leser gleichsam dreidimensional entgegentreten. Als Folge ist ihm, anders als dem lyrischen Ich, jedes gráppen, Umhertasten fern. Während sich das lyrische Ich von dieser Begabung abgrenzt, ist die verwendete Metapher aus dem Bereich des Handwerklichen doch ebenso originell wie aussagekräftig und umreißt den zu beschreibenden Sachverhalt präzise. Somit dürfte das Eingestehen des eigenen Unvermögens

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hier eher als gezielt eingesetzter Bescheidenheitstopos eines Dichters von Kompetenz denn als genuine Unfähigkeit eines Dilettanten zu werten sein. Der Bescheidenheitstopos wird noch weiter ausgebaut, wenn die Worte des Suchenwirt als geblúmt bezeichnet werden und der Sprecher diese als außerhalb seines Kompetenzbereichs liegend deklariert. Diese ostentative Selbsteinschätzung steht im Gegensatz zu den Passagen, in denen das lyrische Ich seine eigenen Worte ohne großen Aufhebens als geblúmt oder gefloriert (siehe Nr. 31) bezeichnet – erst recht Grund zur Vermutung, dass der Dichter hier mit dem Eingeständnis seiner eigenen Unfähigkeit kokettiert. Jedoch wird andernorts auch die Beherrschung des ‚geblümten‘ Stils als problematisch erachtet. In Text Nr. 31 sieht sich das Dichter-Ich in einem metapoetischen Exkurs mit einem Priester konfrontiert, welcher ihm mitteilt, was es besser vermieden hätte: „du hettist wol vermitten, du hast geblúmte, wéhe wort getichtet von den weiben. […] und hast auch mit geflorierten worten der frawen lob fúrbracht mit sinnen auss deins hertzen porten. wa hast du nu hin gedáht“ (Nr. 31, V. 4–16) (siehe auch V. 25–28)

Aufgrund dieser Mahnung von klerikaler Seite beschließt das lyrische Ich, von der ‚geblümten‘ Rede abzulassen. Hier wird deutlich, wie die stilistische Ausformung für Hugo von den inhaltlichen Überlegungen kaum zu trennen ist. Hand in Hand mit der Form der Minnedichtung in Gestalt von geflorierten worten geht ihre inhaltliche Beschaffenheit, die für Hugo zumindest potentiell prekär ist. Um die Problematik hier zu verstehen, ist es nötig, die Minneauffassung des Dichters, wie sie sich aus seinem Werk ableiten lässt, kurz zu erläutern. Hugos Positionierung im Minnesang ist geprägt von einem Zwiespalt zwischen erotischem Verlangen und kirchlicher Sexualmoral.¹⁷ Er knüpft damit an die seit langem währende Diskussion über rechte und falsche Minne und die Kompatibilität von Gottes- und Frauendienst an. Hugos Lösung dieses Dilemmas auf inhaltlicher Ebene besteht darin, die Minnelieder vorrangig an die (jeweilige) Ehefrau zu richten. Vielleicht nicht zuletzt deshalb ist die Minnedarstellung in thematischer Hinsicht gekennzeichnet von einer Desintensivierung von Themen, die den Minnesang traditionell ausmachen, also innere und äußere Spannungen und Konflikte sowie das Schwanken zwischen Sehnsucht, Enttäuschung und Erhörung. Der konventionelle Schönheits- und Tugendkatalog wird an der eigenen Ehefrau exemplifiziert, die Minnebeziehung ist stabil, Treue wechselseitig. Im Extremfall

17 Vgl. Knapp (Anm. 4), S. 99.

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kann derartige Stabilität sogar dazu führen, dass das Dichten ganz und gar redundant wird: was sol ich dir me schreiben? ich hán ain gantz benúgen, an dir zwár stet beleiben. (Nr. 34, V. 9–11)

Die hier ausgedrückte Zufriedenheit (benúgen), die sich im stet beleiben äußert, bedeutet, dass viele der herkömmlichen Topoi des Minnesangs nicht mehr greifen, so dass es dem Dichter vorgeblich schwer fällt, über die Liebe zu dichten. Doch auch die Wahl der Ehefrau als Adressatin ändert nichts an den generellen Bedenken hinsichtlich der Gottgefälligkeit des Dichtens über Minne. Wie das oben angeführte Zitat aus Nr. 31 zeigt, gehen diese Bedenken so weit, dass das Äußern bzw. Niederschreiben von ‚geblümten‘ Worten als problematisch erachtet wird. Für Hugo scheint Stil immer auch Ausdruck bzw. Gradmesser von Frömmigkeit zu sein; die sussi wort artikulieren aber eben gerade nicht den Preis Gottes, sondern den der Frau. Sie stehen in Konkurrenz zu einer gottgefälligen Verwendung von Sprache, wie sie in der alttestamentarischen Anspielung ‚gott ist das wórt, das wort ist gott‘ (V. 7) in Nr. 12, einem ins Geistliche abgewandelten Tagelied, beschworen wird, die nahelegt, dass sowohl Inhalt als auch Form literarischer Werke auf Gott zurückgeführt werden sollen. Aufgrund ihrer weltzugewandten Inhalte stehen die ‚geblümten‘ Worte im Widerspruch zum Lob Gottes; mit ihrer kritischen Evaluation entfernt Hugo sich dezidiert von der Frivolität, die den spätmittelalterlichen ‚Blümern‘ bisweilen anhaftet, wenn ihnen nachgesagt wird, die Form eines literarischen Werkes höher als dessen Inhalt anzusetzen.¹⁸ Hugo thematisiert nicht nur seine persönlichen Kompetenzmängel, sondern auch das allgemeine menschliche Unvermögen, die erforderlichen Worte zu finden, um Gott zu preisen. Dabei umreißt er ein Problem, das über die Beschränkungen seiner individuellen Dichtkunst hinausgeht. Das Bewusstsein von den Grenzen menschlichen Darstellungsvermögens in der Sprache ist nicht auf die Fähigkeiten des Hugoschen lyrischen Ichs beschränkt; es ist vielmehr begründet im generellen Unvermögen der Menschheit, Gottes Lob adäquat in Worten wiederzugeben:

18 Wehrli (Anm. 3) etwa spricht in Bezug auf die Minnedichter des späten Mittelalters vom „inflatorischen Aufwand der Worte“ (S. 454), der sich in nervösen und verspielten ästhetischen Reizen äußere. Dieses Vorwurfs müssen sich frühere Exponenten des ‚Blümens‘, wie etwa Konrads Goldene Schmiede, welche eine „Schlüsselstellung für die rhetorisch gefasste Produktionsästhetik des Marienlobs“ (Hübner, Anm. 1, S. 217) innehat, nicht erwehren. Zum allmählichen Wandel im Status des ‚geblümten‘ Lobs, welches sich in einem verstärkten Interesse am Symbolisierenden gegenüber dem Symbolisierten äußert, vgl. Hübner, der einen Prozess der Entpragmatisierung diagnostiziert (S. 217).

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wéren álle wasser timpten, daraus geschriben mit worten gerímpten der fúrín hímel papir fín, alles mergries subtil schín – schriber, und schribent tausent iar als lob gras vedren clár: nieman mócht es volschreiben, die hóch, die tieff durchtreiben, die brait, die léng durchgrúnden. mitt kaíner slacht fúnden mag es nieman gedenkhen. nieman sol sich darín sénken: gott was ye und iemer ist. daz ist ze clár aller menschen list. (Nr. 4, V. 25–38)

Mit Hilfe von Hyperbeln wird hier die Begrenztheit der Möglichkeiten irdischer Darstellungskraft im Blick auf die wunderbare Allmacht Gottes ausgedrückt. Niemals, nicht in tausend Jahren, würden die Verse, die zahlreiche imaginierte Schreiber unter Verwendung von in der Natur anzutreffenden Ressourcen zu Papier bringen könnten, genügen, um dem Lob Gottes gerecht zu werden. Für dieses elaborierte Bild fungieren Bestandteile der Natur als Schreibmaterialien – etwa der Himmel als Papier, das Meer als Tinte; das Ganze bietet damit ein eindringliches Beispiel für die ‚Verschriftlichung‘ von Hugos Bildwelt. Hier findet sich, wenn man so will, eine Verallgemeinerung des in seiner höchsten Steigerung in den Unsagbarkeitstopos übergehenden Bescheidenheitstopos auf die gesamte Menschheit: nicht nur der Sprecher, kein Mensch vermag laut Hugo, die göttliche Schöpfung adäquat in Sprache zu übertragen, ungeachtet dessen, dass ebendiese Schöpfung die Materialien zu ihrer eigenen Be-schreibung bereithält.

Formale Verweigerung Individuelle formale Kompetenzmängel thematisiert Hugo auch im Bereich der Metrik, wie etwa aus Text Nr. 15 hervorgeht. Wenn Hugo dort den Jüngeren Titurel Albrechts, einem der Hauptvertreter des ‚geblümten‘ Stils aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, als aller tewtsch ain blúm (V. 159) bezeichnet, der sunder rúm (V. 161), d.  h. entweder von besonderem Ruhm oder ohne Übertreibung sei, dann verweist er auf den Standard, an dem er seine eigenen Reime misst: darnach hán ich gesunnen, die reimen auch gemessen. ist daran icht zerrunnen (die leng, die kúrtz oder hán ichts vergessen),

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so singt der gauch mit der nachtgall in dem maýen; also ticht ich auch. tún ich recht, ich tantz den rechten raýen. (Nr. 15, V. 162–169)

Der Sprecher sieht sich als Kuckuck (gauch) zu Albrechts Nachtigall. Der gauch, in der Doppelbedeutung auch ‚Narr‘, kann nicht singen und ist herkömmlicherweise der Antagonist der stimmgewaltigen Nachtigall, welche den Minnesänger symbolisiert. Soweit bewegt Hugo sich im Rahmen eines konventionellen Bescheidenheitstopos. In V. 169 aber erhält dieser Topos eine ungewohnte Wendung, wenn der Sprecher in einem Konditionalsatz erklärt tún ich recht, ich tantz den rechten raýen. Demnach scheint der Kuckuck potentiell durchaus in der Lage, den rechten Reigen zu tanzen (wenn auch nicht zu singen). Tatsächlich entsprechen V. 1–7 und V. 39–45 von Lied Nr. 15 der anspruchsvollen siebenzeiligen (4/3) Titurelstrophe, doch ahmt Hugo diese nicht durchgehend formvollendet nach. Der übrige Text zerfällt in zweierlei Arten, d.  h. es gibt dreizeilige ebenso wie vierzeilige Strophen nebst einer einmaligen fünfzeiligen Strophe in freier Reihung. Zerbricht Hugo die Titurelstrophe aus reinem Unvermögen, oder wird hier vielmehr das Selbstbewusstsein eines Laiendichters evident, welcher für sich prinzipiell unkonventionelle Maßstäbe in Anspruch nimmt? Fritz Peter Knapp urteilt die Verse als „jämmerlich daher [holpernd]“¹⁹ ab, und in der Tat tut man sich bei vielen Texten in der Sammlung schwer, versübergreifende Strukturen zu erkennen. Aber Hugo kann auch anders, man betrachte etwa die Kanzonenstrophe von Lied Nr. 8 oder die komplexe Strophenform von Tanzlied Nr. 9. Dennoch ist es zweifelhaft, ob es sich in einem Fall wie Nr. 15 wirklich um die gezielte Dekonstruktion bestehender Strophenformen aus einem reflektierten Modernitätsstreben heraus handelt.²⁰ In Anbetracht der Tatsache, dass Hugo nur zuweilen metrisch einwandfreie Gedichte vorlegt, erscheint seine Handlungskompetenz in dieser Hinsicht zumindest fragwürdig. Doch auch wenn das freie Umgehen mit Verslänge bzw. Hebungszahl eher als Ausdruck mangelnden Könnens denn als bewusste Abkehr von normativer Form zu erklären ist, lässt sich die „völlige[…] Unbekümmertheit“,²¹ mit welcher Hugo gegen die Konvention verstößt, nichtsdestotrotz als Besonderheit eines individuellen Stils begreifen. Ein ähnlicher formaler Verstoß dieser Art findet sich in Text Nr. 29, einem Dialoglied. Hier findet das Gespräch zwischen dem lyrischen Ich und seiner allego-

19 Fritz Peter Knapp: Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273 bis 1439. Zweiter Halbbd.: Die Literatur zur Zeit der habsburgischen Herzöge von Rudolf IV. bis Albrecht V. (1358–1439), Graz 2004 (Geschichte der Literatur in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart 2,2), S. 399. 20 Vgl. Achnitz (Anm. 6), S. 135. 21 Rüdiger Krüger: Studien zur Rezeption des sogenannten Jüngeren Titurel, Stuttgart 1986 (Helfant-Studien 1), S. 226. Krüger allerdings warnt davor, diese Unbekümmertheit als Ausdruck eines Strebens nach Modernisierung zu werten.

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rischen Partnerin, Frau Welt, ein abruptes Ende, wenn die zwölfte und letzte Strophe als einzige nicht zu Ende geführt wird.²² Da es dem Verfasser möglich war, elf vollständige Strophen zu bilden, darf man schließen, dass er in der Lage gewesen wäre, auch noch die zwölfte zu Ende zu führen. Dass er dies nicht tut, muss wohl als Ausdruck demonstrativer Indifferenz, nicht Flüchtigkeit oder Unvermögen verstanden werden. Ein vergleichbarer Bruch mit etablierten Konventionen, diesmal inhaltlicher statt metrischer Art, ist in dem bereits auszugweise betrachteten Text Nr. 2 zu beobachten, der als Minnerede beginnt, aber abrupt endet und Fragment bleibt. Nachdem zu Beginn aventúr (V. 1) beschworen wird, bleibt der Sprecher im Folgenden konkrete aventiure-Topoi schuldig. Im Anschluss an die Behauptung, das lyrische Ich sei eben nicht in der Lage, das Geforderte zu bieten, bricht das Gedicht unvermittelt ab (s.  o. Nr. 3, V. 144). In Anbetracht der Tatsache, dass der Verfasser, wie oben dargelegt, die Dichtkunst des Suchenwirt kurz zuvor höchst eloquent beschrieben hat, erscheint ein derart jähes Ende nicht als gestalterische Notwendigkeit, sondern geradezu als Provokation. Während Hugo sich seiner dichterischen Mängel durchaus bewusst ist, macht er die Diskrepanz zwischen beabsichtigter und tatsächlich erreichter Form voller Selbstbewusstsein zu einem Thema seiner Gedichte. So auch in einer weiteren Nennung des Titurel in Nr. 18: fraw, sóltint nu die lieder sein nach willen, den ich zú euch hán, kain gticht ward nie als húpsch und vein, Titterel mócht daby nicht gestán. (Nr. 18, V. 197–200)

Ginge es nach dem Wollen, so würden die Lieder des Dichter-Ichs selbst den Titurel in den Schatten stellen. Dass die Realität des Könnens anders aussieht, ist unproblematisch. Hugo gesteht sich sein weniger als formvollendetes Dichten ein, und in Abwesenheit formaler Beherrschung reicht allein eine Absichtserklärung (der will ist gross; Nr. 18, V. 201) aus, um der Geliebten gerecht zu werden. Vor dem Hintergrund einer Literaturszene, die der äußeren Gestalt einer Dichtung fundamentale Bedeutung zusprach,²³ ist die demonstrative Verweigerung formaler Normen wie etwa das Abbrechen der Titurel-Strophe als Indiz für die Hofferne Hugos gewertet worden, dessen Texte nicht im Rahmen einer Hofgesellschaft konkurrieren mussten, sondern vorwiegend im häuslichen Bereich rezipiert wurden.²⁴ Doch weicht das lyrische Ich wiederholt so dezidiert von der Rolle des sich als artifex

22 Zum Vergleich mag man etwa an Walthers formvollendete Absage an Frau Welt (Frô Werlt, ir sult dem wirte sagen; 100,24) denken. 23 Vgl. etwa Wehrli (Anm. 3), S. 454. 24 Meyer (Anm. 12), S. 114.

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verstehenden Dichters ab, dass es naheliegt, Hugos Vorgehen bei aller Vorsicht als bewussten Bruch mit der Tradition zu werten. Die Verfremdung, die etwa durch abruptes Beenden eines Gedichtes auf unerwartete Weise verursacht wird, erscheint als bewusst eingesetztes Stilmittel. Auch wenn Hugo nicht in erster Linie an Provokation gelegen gewesen sein mag, ist die fingierte Unbefangenheit, mit der er sich selbstbewusst über formale Vorgaben hinwegsetzt, dennoch unübersehbar provokant.²⁵

Streben nach authentischer Ausdrucksweise Neben der Demonstration eines neuen Selbstbewusstseins verfolgt Hugo mit derartigen Stilbrüchen aber ein tiefergehendes Ziel. Immer wieder wird in den Texten ein Streben nach einer unverfälschten ‚Einfachheit‘ der Sprache ausgedrückt, welches neben den geistlich inspirierten Äußerungen (s.  o. Nr. 31) als Kontrast zu den geflorierten worten gesehen werden muss. In Text Nr. 3 etwa warnt das lyrische Ich die Geliebte vor der Verwendung von künstlichen, im Sinn von gekünstelten, Worten; anstatt zu tichten soll die Dame sich authentisch äußern: du la dir nieman tichten, schreib aus deines hertzen grund! slechte wort mít trúwen richten, die tund mích sicher gesund. (Nr. 3, V. 69–72)

Hier soll die Dame ihren Liebesbeweis auf unverfälschte und intime Weise äußern (siehe auch Nr. 3, V. 64). slechte (V. 71), d.  h. schlichte und in ihrer Schlichtheit eben auch richtige Worte, die aus dem Grund ihres Herzens kommen, sind gefragt. Es geht

25 Genau wie über metrische Vorgaben setzt Hugo sich übrigens auch über Gattungsvorgaben hinweg; so variiert er z.  B. den Typ des Tagelieds enorm. Kayser-Petersen beobachtet „eine aus der privaten Sphäre seines [Hugos] Lebens erwachsene inhaltliche Verlagerung“ (Annemarie KayserPetersen: Hugo von Montfort. Beiträge zum Gattungsproblem im Mittelalter. Diss. München 1961, S. 128), die zu einer Neugestaltung der Gattungen und ihrer Typen führe. Laut Backes ist die Personalisierung konventioneller Liedtypen durch autobiographische Bezüge typisch für Hugos freien Umgang mit der Tradition (Tagelieder des deutschen Mittelalters. Ausgewählt, übers. und komm. von Martina Backes, Einleitung von Alois Wolf, Stuttgart 1992 [RUB 8831], S. 283). In der Tat finden sich in Hugos Œuvre Lieder, die sich nicht an etablierte Gattungskonventionen halten, allen voran das Subgenre des Tagelieds. So inkorporieren Hugos Tagelieder etwa Elemente der klassischen Minnekanzone oder Wendungen ins Geistliche (siehe Horst Brunner: Das deutsche Liebeslied um 1400. In: Gesammelte Vorträge der 600-Jahrfeier Oswalds von Wolkenstein, Seis am Schlern 1977. Hrsg. von Hans-Dieter Mück/Ulrich Müller, Göppingen 1978 [GAG 206], S. 105–146, z.  B. S. 133  f.). Gibt es für die Sprengung des tradierten Genres durch eine Wendung ins Geistliche schon den Präzedenzfall des geistlichen Tagelieds, so geht der Wechsel zwischen der Rolle des Liebenden und der des Predigers in Hugos tageliedähnlichen Texten über derartige Vorlagen hinaus.

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um innere Werte, nicht äußere Form. Dabei hat die getreue Wiedergabe der Gefühle in der Sprache eine Parallele in der Treue gegenüber dem Geliebten, das soll hier ausgedrückt werden (mít trúwen; V. 71). Auffällig ist, dass die Dame aufgefordert wird, ihre Gefühle schriftlich auszudrücken (schreib; V. 70), und so ihre Emotionen in einer weniger unmittelbaren Form kodieren muss, um sie dem Adressaten zu übermitteln. Hier handelt es sich um ein weiteres Beispiel für Hugos Schreibmetaphern (vgl. Nr. 4), die im Zusammenhang mit der kontinuierlich zunehmenden Verschriftlichung der Welt im 15. Jahrhundert zu betrachten sind.²⁶ Das Bild des Herzen als Quelle ‚wahrer‘ Dichtung oder wahrer Objekte der Dichtung kehrt auch später wieder, und zwar in dem geradezu als programmatisch zu lesenden Text Nr. 31: mein geticht ist nicht von ainen sachen (herr got, hab mich in hút!): ich hán es ie darnach gemachen, als mir do was ze mút, won: ›wes das hertz begerend ist, der mund túts dikch sagen‹. wolgeret, das ist ein clúger list, ders tút mit zúchten tragen. han ich mit meinem tichten in den reimen iendert vergessen, das tú ain ander schlichten – ich kan es nicht als messen. (Nr. 31, V. 133–144)

Der Sprecher erklärt das Primat des Herzens gegenüber formalen und stilistischen Vorgaben. Anstatt sich in eine klar zu unterscheidende Gattungseinteilung zu fügen, handelt Hugos Dichtung nicht von ainen sachen, sondern orientiert sich darnach […] / als mir do was ze mút (V. 135  f.). Die Begründung dafür lautet: wes das hertz begerend ist, / der mund túts dikch sagen (V. 137  f.).²⁷ In dieser Passage manifestiert sich die zentrale Bedeutung, welche die Authentizität emotionalen Ausdrucks für Hugos Dichten besitzt. Sie gibt darüber hinaus Aufschluss über die Inszenierung dieser Authentizität. Denn wenngleich oft mündlich dargeboten, sind die Texte ja dennoch schriftlich festgehalten und weisen so ein hohes Maß an ästhetischer Bearbeitung auf, welches der Spontaneität und Unmittelbarkeit, die in dem Zitat suggeriert werden, grundlegend zuwiderläuft. Durch den Verweis auf die, wie schon Almut Suerbaum

26 Hofmeister (Anm. 5), S. XIX, bemerkt Hugos wiederholte ‚medienbewusste‘ Anspielungen auf sein bereits verschriftetes Werk, so in Nr. 31, V. 126; V. 149; V. 169 und V. 254. 27 In der Ausgabe von Hofmeister werden mit einfachen Anführungszeichen (› ‹) sprichwortartige Sätze markiert.

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herausgearbeitet hat,²⁸ letztlich fiktive Mündlichkeit wird angezeigt, dass authentischer Ausdruck dem Dichter ein dringlicheres Anliegen ist als formalen Kriterien entsprechende ästhetische Organisation. Dieser Ansatz wird in der obigen Passage noch verstärkt, wenn das lyrische Ich zuletzt die Möglichkeit einräumt, sich beim Reimen bisweilen vertan zu haben. Allerdings bekümmert es das nicht weiter, und es bittet andere, die Fehler bei Bedarf zu korrigieren (V. 141–144). Über die formalen Aspekte kann es sich auch deshalb mehr oder weniger hinwegsetzen, weil es laut Aussage der vorherigen Strophe um authentische Wiedergabe der emotionalen Wahrheit (allerdings mit zúchten; V. 139), nicht um stilistische Perfektion ringt. Zusätzlich verstärkt wird der Eindruck der Authentizität durch das oft verwendete Stilmittel der Selbstnennung, im Zuge derer den Texten immer wieder Versatzstücke von Hugos Biographie – Orts- und Personennamen, Jahreszahlen, Daten – beigegeben sind, wodurch biographische ‚Wahrheit‘ die emotionale verankert.²⁹ Ähnliches ist zu beobachten, wenn das lyrische Ich im gleichen Text festhält, dass es die Gedichte zu einem Großteil zu Pferd verfasst habe: dis búch hán ich gemachen den sechßten tail wol ze rossen. darumb sol nieman lachen, ob es ist als gentzleich nicht beslossen, als ob ich es hett mitt sitten aussgemessen und wer gesessen an ainem bett: so hett ich zwar dest minder ichts vergessen. und denn gross sachen han ze schaffen, dartzú die reimen messen: das mócht ainn irr machen – ich mócht gar wol etwas hán vergessen. (Nr. 31, V. 149–160)

Der Mangel an Professionalität wird hier sowohl inhaltlich thematisiert (ähnlich dem Verweis in Text Nr. 2, der Sprecher habe Schwierigkeiten, sich die genaue Silbenzahl über Stunden hinweg zu merken), als auch, durch die unregelmäßigen Hebungen, auf formaler Ebene ausgedrückt. Indem Hugo sich explizit als ‚nebenher‘ dichtender Mann von Welt darstellt, wendet er sich sowohl von der theologus- als auch von der artifex-Rolle als tradierten Rechtfertigungsmustern des Dichtens ab.³⁰ Wiederum wird das Element der Spontaneität hervorgehoben, der die stilistische Ausgestaltung, hier

28 Almut Suerbaum: Paradoxes of Performance: Autobiography in the Songs of Hugo von Montfort and Oswald von Wolkenstein. In: Aspects of the Performative in Medieval Culture. Hrsg. von Manuele Gragnolati/Almut Suerbaum, Berlin, New York 2010 (Trends in Medieval Philology 18), S. 143–164. 29 Vgl. Nr. 23; Nr. 34; Nr. 35; Nr. 36. 30 Vgl. auch Meyer (Anm. 12), S. 105.

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das Metrum, zum Opfer fallen muss. Gleichzeitig wird der Bescheidenheitstopos fast in sein Gegenteil verkehrt: der Sprecher hat zu wichtige Dinge zu tun, als dass er auch noch Reime ausmessen könnte. Dem Bemühen um Authentizität entgegengesetzt erscheint auf den ersten Blick ein weiteres bei Hugo beliebtes Stilmittel: der exemplarische Vergleich bzw. die Exempelreihe. Dazu gehören einerseits der Topos der Weiberlisten (Helena, die Gattin Uriahs; Aristoteles’ Phyllis; schließlich Kriemhild), andererseits der MinnesklavenTopos. Eine Untersuchung der Minnesklaven-Passagen in Hugos Texten ergibt, dass der Topos je nach Grundthematik des jeweiligen Textes flexibel verwendet wird. Vor dem Hintergrund traditioneller Anwendung instrumentalisiert Hugo den Topos im doppelten Sinn: Er leitet den Preis reiner Frauen daraus ebenso ab wie den Verweis auf die Nichtigkeit der Welt und die Mahnung zur Hinwendung zu Gott. Die häufige Verwendung des Minnesklaven-Topos mag als Beweis dafür gesehen werden, wie stark Hugo sich, wie auch schon bei der Betrachtung seiner Bildsprache evident, auf vorgegebene Muster stützt.³¹ Zu fragen ist, ob diese Verarbeitung bzw. Übernahme standardisierter Dichtungselemente in Konflikt mit dem andernorts konstatierten Streben nach Authentisierung steht. Die Funktionalisierung des Minnesklaven-Motivs wird bei Hugo von einer Position stilisierter Intimität begleitet, die der überlieferten Interpretation die ‚autobiographische‘ Sprechererfahrung gegenüberstellt (z.  B. Nr. 38), der zuvorderst daran gelegen ist, Dies- und Jenseitigkeit ineinander zu integrieren. Was die Exempelreihen betrifft, so grenzt Hugo sich kraft seiner Autobiographie von der etablierten Reihe der Minnesklaven zumindest implizit ab. Die Exempelreihe kontrastiert mit der ‚tatsächlichen‘, d.  h. autobiographisch verbürgten Wahrheit des Sprechers.³² Die Verwendung von Topoi steht also der Authentisierung nicht im Wege – obwohl bisweilen konventionell genutzt (vgl. die Beispiele zur Minnemetaphorik im Abschnitt ‚Bildsprache‘), geben sie dem Dichter auch die Gelegenheit, sich von der Tradition abzusetzen.

Hugos Rolle in der Tradition des Minnesangs Statt mit der traditionell als charakteristisch für den ‚geblümten‘ Stil gesehenen Formel ‚style over substance‘³³ sollte Hugos Minnelyrik eher mit ‚substance over style‘ beschrieben werden. Jedoch lässt sich die Dichtung des Steirers mit dem Diktum des 31 Ebenfalls in die Kategorie des Spielens mit Versatzstücken fällt die bei Hugo häufig anzutreffende Verwendung von Sprichwörtern. 32 Vgl. Cordula Böcking-Politis: ain iunkfrow rait der kúnsten perkh. Der Minnesklaventopos bei Hugo von Montfort. In: Aller weishait anevang (Anm. 4), S. 110–125. 33 Vgl. den von Hübner (Anm. 1) referierten Forschungsbericht, in dem er die in der Forschung z.  T. immer noch verbreitete Meinung zur sogenannten ‚Nachblütezeit‘ mit der Wendung „schlechte Dichter greifen zur Rhetorik“ (S. 9) paraphrasiert.

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Nichtvorhandenseins von Stil ebenso wenig fassen wie mit dem Etikett des Epigonentums. Merkmale wie das bewusste Verwerfen metrischer Konventionen, die Problematisierung der geflorierten worte in metapoetischen Äußerungen, eine eigenwillige Instrumentalisierung des Bescheidenheitstopos sowie das Plädoyer für eine emotional authentische Schreibweise bei gleichzeitig zunehmenden Schreib- und Schriftmetaphern in der Bildsprache können als Experimentieren mit einem Stil bzw. einer Oberflächenprofilierung verstanden werden, welche vorgibt, sich auf derartige Konventionen eben nicht einzulassen. Auch wenn stellenweise der Verdacht nicht von der Hand zu weisen ist, dass Hugo aus der Not eine Tugend mache, verleiht die demonstrative Verweigerung der Erfüllung der genannten Kriterien seinem Stil eine dezidierte Radikalität. Hugo ‚weigert‘ sich, den Regeln des in sich restriktiven Minnesangs, gekennzeichnet von Stilisierung, Variation und dem demonstrativen Spiel mit literarischen Modellen, konsequent zu folgen, was stilistische und metrische Konformität betrifft. Damit steht seine Dichtung nicht nur für ein neu gefundenes Selbstbewusstsein des Laienschriftstellers, sondern verkörpert zugleich das transgressive Element dieses Genres, das immer auch die Lust an der Grenzüberschreitung beinhaltet. In dieser Hinsicht kommt Hugo im Kontext des deutschen Minnesangs eine progressive Rolle zu, deren Wahrnehmung einmal mehr ein kritisches Licht auf den Ruf des 14. und 15. Jahrhunderts als Verfallsstufe werfen könnte.

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Kuckuck und Nachtigall Stilfragen an Hugo von Montfort

Literarhistorische Stilisierungen Das literarische Werk des Grafen Hugo von Montfort ist, von wenigen Spezialfällen der Streuüberlieferung abgesehen, nur in der Form einer Autorsammlung erhalten: in einem sehr sorgfältig angelegten und kostbar ausgestatteten Pergament-Codex (cpg 329), den Hugo selbst auf dem Höhepunkt seiner politischen Karriere im Jahr 1414 oder 1415 hat herstellen lassen.¹ Zu den ersten Gelehrten, die im 19. Jahrhundert diesen außergewöhnlichen Codex seit seiner Rückführung nach Heidelberg wiederentdeckten, gehörte Georg Gottfried Gervinus, und in dessen Literaturgeschichtsschreibung erhielt Hugo von Montfort noch einen durchaus prominenten Platz. Gervinus’ damals innovatives literarhistorisches Projekt zielte ja darauf, nicht mehr literarische Zeugnisse lediglich annalistisch aufzulisten und je für sich zu charakterisieren, sondern Entwicklungsprozesse der Literatur darzustellen – und zwar am Maßstab einer in der Lebenswirklichkeit verwurzelten, authentischen Artikulation einer nationalen Volkskultur. Hugos Texte platzierte Gervinus dabei in einer spätmittelalterlichen Übergangsphase, in der die ritterliche Dichtung verfalle und sich stattdessen die ‚Volkspoesie‘ durchsetze.² Einerseits, so Gervinus, eifere der Adlige Hugo zwar immer noch dem Jüngeren Titurel nach, jenem monumentalen Referenzwerk der spätmittelalterlichen deutschen Literatur, das sich Gervinus’ Augen freilich bloß als „lichtlose[s] Ungethüm“ darbot.³ Andererseits aber würden bei Hugo bereits „die unmittelbarsten Empfindungen unbefangener, wahrer Natur […] in herzlichen Worten bezeichnet zwischen die alten Ausdrücke der Ritterdichter“ treten. Ein „frischer gesunder Sinn“ dringe „lebhaft“ durch, der „auf die Einfalt des volksthümlichen Geschmacks überführt“.⁴ Diese insgesamt positive Entwicklungstendenz unterstreicht Gervinus durch die kontrastive Charakterisierung Oswalds von Wolkenstein, den er Hugo von Montfort als repräsentativen Antipoden für die spätmittelalterliche „Ver-

1 Hugo von Montfort: Gedichte und Lieder. Faksimile des Codex Palatinus Germanicus 329 der Universitätsbibliothek Heidelberg, 2 Bde, Wiesbaden 1988/1989 (Facsimilia Heidelbergensia 5). Digitalisat: digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg329. Zitate nach: Hugo von Montfort: Das poetische Werk. Hrsg. von Wernfried Hofmeister. Mit einem Melodie-Anhang von Agnes Grond, Berlin, New York 2005. 2 Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der deutschen Dichtung. 4., gänzlich umgearbeitete Aufl., 5 Bde, Leipzig 1853, Bd. 2, S. 187–190. 3 Gervinus (Anm. 2), Bd. 1, S. 403. 4 Gervinus (Anm. 2), Bd. 2, S. 189.

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änderung des lyrischen Gesangs“⁵ zur Seite stellt: Hugos „frischer gesunder Sinn“ nämlich hebe sich erfreulich von Oswalds Liedern ab, die Gervinus in der Mehrzahl als „durchweg verkünstelt, überladen und roh“ abtut.⁶ Man konnte und kann das auch ganz anders sehen. Schon Joseph Wackernell, 1881 einer der ersten Herausgeber der Texte des cpg 329, warf Gervinus vor, Hugo zu überschätzen.⁷ Wackernell gab seiner Edition eine ausführliche Abhandlung über „Hugo’s Persönlichkeit, Stil und Charakter“ mit,⁸ und darin kommt er zu einem sehr viel ungünstigeren Urteil als Gervinus. Es sind dabei gar nicht so sehr Hugos Ausrutscher in den überladenen Stil⁹ und die Nachahmung des Titurel, die ihn stören: Er attestiert ihm sogar eine maßvolle Abstinenz von den gröbsten epigonalen Manierismen. Gravierende Mängel erkennt er aber bei den ganz fundamentalen poetischen Kompetenzen: Der geordnete Gang der Darstellung werde fortwährend unmotiviert unterbrochen; die Texte seien geprägt von Verworrenheit und unmäßiger Breite, die Verse oft ungeschickt und leichtfertig zusammengeflickt. Überhaupt fehle es Hugo schlicht an „Beherrschung der Sprache“.¹⁰ Was Wackernell beobachtet, behandelt er jedoch ebenso wie Gervinus selbstverständlich als Stilphänomen im Sinne einer Notwendigkeit des Ausdrucks  – nur eben nicht des Ausdrucks eines nationalen Wesens, sondern desjenigen einer individuellen Person. Allerdings will er dabei ausdrücklich Buffons emphatische Gleichsetzung von Mensch und Stil („le style est l’homme même“) relativieren, indem er nicht den ‚ganzen‘ Charakter des Autors aus stilistischen Merkmalen rekonstruiert, sondern sich, wie er sagt, in erster Linie auf biographische Daten und Selbstaussagen stützt und dann erst, komplementär dazu, auch stilistische Eigenschaften der Texte

5 Gervinus (Anm. 2), Bd. 2, S. 189, Kolumnentitel. 6 Gervinus (Anm. 2), Bd. 2, S. 189. Bis heute sind die Versuche, Hugo von Montfort literarhistorisch zu verorten, am Gegensatz zu Oswalds virtuoser Sprachkunst orientiert. Bis heute auch wird er oft als Exponent einer Übergangsphase oder Zwischenzeit behandelt, auch wenn die Koordinaten dieses Übergangs neu benannt worden sind. So situiert etwa Albrecht Classen Hugos Werk paradigmatisch auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Moderne (Albrecht Classen: Literaturrezeption und dichterische Selbstreflexion im Werk Hugos von Montfort. Ein Zeuge aus einer kulturhistorischen Spät- oder Frühzeit. In: Aller weishait anevang Ist ze brúfen an dem aussgang. Akten des Symposiums zum 650. Geburtstag Hugos von Montfort. Hrsg. von Klaus Amann/Elisabeth De Felip-Jaud, Innsbruck 2010 [Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe 76], S. 167–189). Gegen solche Rekonstruktionen eines Symptomwerts für den literarhistorischen Wandel ist wenig einzuwenden – abgesehen davon vielleicht, dass das Auseinanderdividieren traditioneller und fortschrittlicher Elemente im Œuvre Hugos den Blick verstellt für eine ihm inhärente literarisch-ästhetische Charakteristik. 7 Hugo von Montfort. Mit Abhandlungen zur Geschichte der deutschen Literatur, Sprache und Metrik im XIV. und XV. Jahrhundert. Hrsg. von Joseph E. Wackernell, Innsbruck 1881 (Ältere Tirolische Dichter 3), S. CXXVIII. 8 Wackernell (Anm. 7), S. LXXIX–CXI. 9 Vgl. Wackernells (Anm. 7) „Distellese“, S. LXXXVII. 10 Wackernell (Anm. 7), S. XCV.

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für ein Gesamtbild der Persönlichkeit Hugos mitberücksichtigt.¹¹ Natürlich gerät Wackernells Darstellung dennoch  – oder gerade deshalb  – zu einem Musterbeispiel zirkulärer Interpretationsfiguren, die ein solcher Stilbegriff ermöglicht und abdeckt. Damit haben sich Stilfragen an Hugo von Montfort aber nicht schon erledigt, ganz im Gegenteil. Man muss sie nur anders stellen. Immerhin dokumentiert der Codex doch die Intention seines Auftraggebers, ein Artefakt zu schaffen, das seiner Person repräsentativ zugerechnet werden kann und das zumindest materiell und visuell den Eindruck eines homogenen und kostbaren Ganzen machen soll. Es liegt zunächst nahe, dies nicht eigentlich einem ästhetischen Stilwillen zuzuschreiben, sondern adliger Selbststilisierung – eine pragmatische Repräsentationsfunktion, mit der sich notfalls die literaturhistorische Beachtung eines Werks rechtfertigen lässt, dessen ästhetische Defizienz bis heute mitunter für fraglos evident gehalten wird.¹² Dass gerade die flagrante Diskrepanz zwischen materiellen und textuellen Qualitäten ästhetisch signifikant sein könnte, ist dagegen bisher nur vereinzelt ernsthaft erwogen worden.¹³ Von dieser Annahme gehen aber meine folgenden Beobachtungen aus. Sie richten sich nicht auf eine Revision der Urteile über Hugos Stil, sondern zielen auf den Symptomwert seines Werks für die Beobachtung einer sich im Spätmittelalter etablieren-

11 Wackernell (Anm. 7), S. 8. 12 Vgl. z.  B. den Beginn der Rezension von Eva Willms über Hofmeisters Hugo-Ausgabe (ZfdA 135 [2006], S. 525–533, hier S. 525  f.): „Wie auch heute noch die miserabelste Schreiberei ihren Verleger findet, wenn der Verfasser nur genug Geld investiert, konnte Graf Hugo von Montfort, der dichtende Dilettant, es sich leisten, für sein ‚Poetisches Werk‘ – vermutlich sogar zweimal – eine Prachthandschrift in Auftrag zu geben. […] Die früheren Herausgeber waren sich durchaus darüber im klaren und sagten es auch, daß ein Autor wie Hugo nur aus historischem Interesse an der Zeit, der Sprache und der allgemeinen literarischen Entwicklung Beachtung verdiene.“ Eine sensible Analyse der Texte unter dem Aspekt biographischer Selbststilisierung bietet Almut Suerbaum: Paradoxes of Performance. Autobiography in the Songs of Hugo von Montfort and Oswald von Wolkenstein. In: Aspects of the Performative in Medieval Culture. Hrsg. von Manuele Gragnolati/Almut Suerbaum, Berlin, New York 2010 (Trends in Medieval Philology 18), S. 143–164. 13 Vgl. bes. Herfried Vögel: Die Pragmatik des Buches. Beobachtungen und Überlegungen zur Liebeslyrik Hugos von Montfort. In: Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik. Hrsg. von Michael Schilling/Peter Strohschneider, Heidelberg 1996 (GRM-Beiheft 13), S. 245–273. Vögel erkennt im auffälligen Kontrast zwischen bewusster Deästhetisierung der Texte und gesteigerter Ästhetisierung ihrer medialen Präsentation eine Vergleichgültigung der Formseite gegenüber der Inhaltsseite, die zugleich auch in den Texten selbst vorgenommen wird: Der materielle Aufwand der kostbaren Ausstattung des Buchs und mit ihm die Ansätze zu rhetorisch-poetischer Formkunst in den Texten werden nach Vögel letztlich nur investiert, damit davon effektvoll der besondere Wert der in den Texten vermittelten moralischen Lehren und Sinnangebote abgesetzt werden kann. Wird mit dieser These die Deästhetisierung als Mittel zur Förderung eines nicht-ästhetischen, didaktischen Zwecks verstanden, so deutet Wolfgang Achnitz die Inkonsistenzen im Werk Hugos selbst als ästhetische Symptome eines „poetische[n] Prinzip[s] der enttäuschten Erwartungen“ (Man mocht es griffen mit der hand. Das Durchbrechen von Erwartungshorizonten als Merkmal der Dichtungen Hugos von Montfort. In: Aller weishait anevang Ist ze brúfen an dem aussgang [Anm. 6], S. 127–142, das Zitat S. 138).

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den Möglichkeit, überhaupt so etwas wie Stil im Sinne einer Ausdifferenzierung und verstärkten Selektivität poetischer Alternativen wahrnehmen zu können. Es geht also nicht darum, Stil als Eigen-Art eines Œuvres zu beschreiben, sondern vielmehr um die Frage, inwiefern sich in Hugos Texten ‚Stilwissen‘ als Reflexion poetischer Alternativität abzeichnet. Meine These ist: An Hugos Texten lässt sich eine Abschwächung des absoluten Geltungsanspruchs poetischer meisterschaft¹⁴ und eine bewusst balancierte wechselweise Relativierung konträrer poetologischer Normhorizonte beobachten. Aus dieser Relativierung heraus konstituiert und legitimiert sich Hugos Dichten.

Distanzierungen poetischer Meisterschaft I: Suchenwirt Im Schlussabschnitt des zweiten Textes der Handschrift, einer 144 Verse umfassenden narrativen Reimpaarrede,¹⁵ beginnt das auktoriale Ich eine regelrechte Beschreibung des Schmucks von Turnierpferden und der dazugehörigen Schildwappen, bricht diese Blasonierung aber bald darauf ab: der silmen zal, der stunden zil sei nicht zu bewältigen (V. 132  f.); ein anderer müsste diese Aufgabe übernehmen – möglichst derjenige, der am besten über Wappen, aber auch über Gott reden könne, der weithin berühmte professionelle Hofdichter Peter Suchenwirt (V. 135–144). Gerade deskriptive Passagen konnten ja als Gelegenheit zur Demonstration poetischer Kunstfertigkeit verstanden werden, und dass sich daran die Berufung auf ein literarisches Vor- oder Gegenbild knüpft, kommt durchaus nicht unerwartet. Überraschend ist hingegen, dass nach dem Eingeständnis, die Kunst Suchenwirts nicht zu beherrschen, nicht nur die descriptio, sondern der Text überhaupt abbricht. Dieser Abbruch wirkt nicht zuletzt deshalb so frappant, weil mit ihm auch die in der Rede erzählte Geschichte unrettbar unabgeschlossen bleibt: Im ersten Vers nämlich wird dem Leser eine aventúr aus der Jugend des Autors angekündigt; danach beginnt die Schilderung seiner Minne zu einem sélig weib (V. 4). Er gesteht dieser Frau seine Liebe, leistet ihr über Jahr und Tag treuen Minnedienst und gelangt dabei an einen Hof, an dem sie sich gerade aufhält und wo sich außerdem adlige Herren zum Turnier versammelt haben. Die Pferde werden vorgeführt, die descriptio ihres Schmucks und die Suchenwirt-Reverenz folgen; dann endet der Text, und der Fortgang der angekündigten und anerzählten Minne-aventúre bleibt völlig offen. Man kann diese auffällige narrative Partialität des zweiten Textes der Handschrift als performative Bestätigung des im letzten Vers eingestandenen poetischen Unver14 Vgl. dazu Beate Kellner: Meisterschaft. Konrad von Würzburg – Heinrich von Mügeln. In: Interartifizialität. Die Diskussion der Künste in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Susanne Bürkle/ Ursula Peters. ZfdPh 128 (2009), Sonderheft, S. 137–162. 15 Hugo von Montfort, Nr. 2, S. 6–10.

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mögens verstehen: Das eigene Scheitern würde auf radikale Weise den hohen normativen Anspruch unterstreichen, der durch die Suchenwirt-Nennung angemeldet wird. Damit wäre aber deren textuelle Funktion und poetologische Bedeutung allzu einseitig wahrgenommen. So bleibt der narrative Zusammenhang des Minne-Sujets zwar prekär unabgeschlossen – eine sinnvolle paradigmatische Struktur ist jedoch durchaus zu erkennen. Dem Abbruch der Rede des erzählenden Ichs geht – genau in der Mitte der insgesamt 144 Verse – ein Abbruch der Rede des erzählten Ichs voraus. Mit seinem tadellos vorgetragenen Liebesgeständnis hat der Verehrer nämlich zunächst keinen Erfolg: Die Dame hält seine red für spott (V. 56  f.) und weist ihn brüsk ab. Als er daraufhin jedoch erschrickt, errötet und zu stottern beginnt (ich kónd doch das noch ditz / und stieß auch an den worten mín; V. 72  f.), erkennt die Dame an eben diesen Symptomen nun seinen ernst (V. 75) und akzeptiert seinen Minnedienst doch noch. Mit dem konventionellen Motiv des minnebedingten Verstummens¹⁶ wird hier der Gegensatz ausgespielt zwischen der klischeehaften, manipulierbaren und potentiell trügerischen sprachlichen Kommunikation einerseits und der unmittelbaren Evidenz einer nicht-sprachlichen Kommunikation durch Körperzeichen andererseits. Auf den ersten Blick scheint dies nicht viel mit der Thematisierung eines graduellen Ungenügens der poetischen Rede zu tun zu haben. Wenn man aber die Analogie der Rede-Abbrüche des erzählten und des erzählenden Ichs wahrnimmt, dann erscheint der Bezug auf Suchenwirt in einem etwas anderen Licht.¹⁷ Wie immer die Charakterisierung von Suchenwirts Kunst in den letzten Versen des Textes genau zu verstehen ist,¹⁸ welche textuellen und rhetorischen Aspekte also eigentlich angesprochen sind, wenn ihm attestiert wird, dass er dik mit red als nahe schírt, / man mocht es griffen mit der hand (V. 136  f.): zumindest ist doch klar, dass es – auch hier – um ein Ideal kommunikativer Evidenz als Grenzwert der Sprache geht. Nur wird im einen Fall die Mittelbarkeit der Rede durch die authentischeren Zeichen des Körpers ersetzt, im anderen Fall hingegen die Aussicht auf eine rhetorische Steigerung der Rede hin zu einer Unmittelbarkeit eröffnet – einer Unmittelbarkeit, die mit körperlicher Greifbarkeit verglichen werden kann. Wenn auf diese Weise die Grenzen der Sprache zweifach bestimmt werden, dann relativiert sich jedenfalls der Abstand zwischen professioneller und amateurhafter Sprachkunst: Es wird vorstellbar, dass der von Suchenwirt betriebene rhetorische 16 Vgl. Katharina Wallmann: Minnebedingtes Schweigen in Minnesang, Lied und Minnerede des 12. bis 16. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. u.  a. 1985 (Mikrokosmos 13), zu Hugo S. 159–164. 17 Die ältere Forschung hat Hugos Suchenwirt-Lob durchweg ernstgenommen. Erst Vögel (Anm. 13), S. 256, hat plausibel die untergründige Ambivalenz dieses Lobs beschrieben. 18 In den Versen 136 und 142 ist nicht nur der metaphorische, sondern schon der wörtliche Sinn nicht ganz eindeutig zu rekonstruieren: Die Verbform schírt könnte von schërn (abschneiden, schneidern, scheren; so die Anm. zur Stelle in: Hugo von Montfort, S. 10) abgeleitet werden, vielleicht aber auch von schërren (scharren, kratzen, auch eine Art des Fischens). Die Formulierung da tribt er kaíne gráppen (V. 142) ist ungeklärt; die Vorschläge von Lexer und Spechtler sind unbefriedigend (vgl. die Anm. zur Stelle in: Hugo von Montfort, S. 10).

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Aufwand der geblúmten wort (V. 143) eine trügerische Evidenz erzeugen könnte. Überdies gerät dieser Aufwand auch in ein ethisches Zwielicht, denn in der Szene des Liebesgeständnisses wird an den Gegensatz zwischen mittelbarer Sprachkommunikation und beglaubigender Unmittelbarkeit des Körperzeichens die Forderung nach der Einlösung des Liebesbekenntnisses durch entsprechende Taten geknüpft.¹⁹ Damit wird die Unverbindlichkeit bloßer Worte im Gegensatz zum ethischen Wert der Werke auf ähnliche Weise akzentuiert, wie dies anderweitig bei Hugo auch im Kontext geistlicher Ermahnungen geschieht.²⁰ Noch ein weiteres Gegensatzpaar der Liebesgeständnisszene erhält besondere Signifikanz im paradigmatischen Bezug auf den Schluss des Textes: wie die Dame den ernst des Minne-Affekts dem spott der Worte gegenübersetzt, so auch der inneren Wahrheit des gewissens die Äußerlichkeit adliger Wappenzeichen (V. 64–66). Das mag in dieser Szene narrativ noch untermotiviert wirken; vom Ende her gesehen nährt es die Zweifel am Wert einer rhetorischen Kunstfertigkeit, die ja insbesondere zur Wappenbeschreibung eingesetzt wird  – Zweifel, die auch dadurch aufkommen können, dass diese Kunstfertigkeit offenbar unterschiedslos auf Wappen wie auch auf Gott angewandt werden kann (V. 141). Die darin angedeutete Rhetorikkritik bestätigt sich im weiteren Verlauf der Lektüre durch wiederholte Variationen über die ineffabilitas Gottes, die beispielsweise schon im vierten Text mit den üblichen Topoi des höchstmöglichen, aber notwendig vergeblichen Aufwandes an Tinte, Papier und Schreibern, an gereimten Worten und tiefgründigen Gedanken umspielt wird.²¹

Stil als Effekt von Ordnungskonkurrenzen Mit der verblüffenden narrativen Partialität des zweiten Textes der Sammlung wird prägnant ein auf mehrere Textebenen gefächertes Spektrum von stets neu variierten Figuren des Abbrechens und Verstummens eröffnet, durch das nicht nur allgemein sprachliche Kommunikation und rhetorische Kunst, sondern prägnant auch der Status der eigenen poetischen Rede von ihren Grenzen her bestimmt wird: Das auktoriale Ich stößt gewissermaßen immer wieder neu an den worten [s]ín. Grenzmarken bilden neben der Vollkommenheit Gottes und seiner Schöpfung²² insbesondere die

19 dik weib und man wird betort / mítt worten, da man der werich nícht phlígt (V. 58  f.). 20 Vgl. Hugo von Montfort, Nr. 4, S. 18, V. 109–113, wo die einschlägige Passage des Jakobusbriefs zitiert wird (2,14–26): ains ich in grossen sorgen bín: / ,glaub án werch ist halber sin‘. / damit so mag ich nit bestán, / ich múss ye werch zu dem globen hán. In Nr. 28 wird in der Figurenrede eines Gralsherrn die Forderung nach der Einlösung eines moralischen Anspruchs auf die clúge[n] wort von Hugos Dichtungen bezogen (Hugo von Montfort, S. 114, V. 235–252). 21 Hugo von Montfort, Nr. 4, S. 15  f., V. 25–37. 22 Vgl. auch Hugo von Montfort, Nr. 15, S. 54, V. 138–142; Nr. 28, S. 131, V. 709–718; Nr. 30, S. 139–142, passim; Nr. 32, S. 153  f., V. 28–32; Nr. 33, S. 162, V. 73–76.

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unbeschreibliche Schönheit und Tugendhaftigkeit der Minnedame,²³ aber auch  – etwas abgeschwächt – die unausschöpfliche eigene Minnetreue.²⁴ Sie kulminieren in mehrfach vorgetragenen ausdrücklichen Absagen an die Dichtkunst im Kontext der vanitas-Thematik und der Selbstermahnungen zu geistlicher Umkehr in der Aussicht auf Alter und Tod.²⁵ Allerdings wird der Geltungsanspruch dieser Absagen sowohl durch ihre Rekurrenz als auch durch das schiere Faktum der Verschriftlichung und Archivierung der Texte im aufwändig ausgestatteten Codex relativiert. Eine Priesterfigur, die in Text 31 dem träumenden Ich erscheint, tadelt dies explizit: warumb hást du es gehaissen schreiben an? / da mócht wol súnd von komen / baide von weib und auch von man (V. 29–31). Nach einem längeren Dialog mit dieser Priesterfigur scheint dem Ich dann, als ob es im Traum erkläre: herr, ich wil nicht me tichten (V. 106).²⁶ Wenn jedoch der unmittelbar folgende Text in der Handschrift mit dem trotzig-selbstbewussten Satz Hin wider heb ich tichten an (Nr. 32, S. 153, V. 1) beginnt – und Gott dafür um Beistand gebeten wird  –, dann ist der Widerspruch auffällig ausgestellt. Bemerkenswert ist außerdem, dass die geistliche Begründung der Dichtungs-Absage hier unabgeglichen von einer pragmatisch-innerweltlichen Begründung begleitet wird: Zwar stimmt das träumende Ich dem Priester zu, der das Dichten als sündhaftdiesseitige Beschäftigung brandmarkt und dagegen die Hinwendung zu Jenseitigem fordert. Kurz darauf gibt es für seine poetische Enthaltsamkeit jedoch unvermittelt einen anderen Grund an: den politischen Handlungsdruck, der ihm durch die hert lóff […] in den landen (V. 118) entstehe.²⁷ Der durch den Namen Suchenwirts aufgerufene ideale Richtwert poetischer Meisterschaft wird also in Konkurrenz gebracht zum Postulat der Orientierung aufs Jenseits und daneben und zugleich zum Druck der politischen Praxis. Wichtig scheint mir dabei, dass Hugo offenbar keine Hierarchisierung dieser konkurrierenden diskursiven Koordinaten in Bezug auf sein Dichten anstrebt. Vielmehr relativieren sie

23 Hugo von Montfort, Nr. 3, S. 11  f., V. 5–8 und V. 33–36; Nr. 18, S. 64, V. 101–104. 24 Hugo von Montfort, Nr. 20, S. 74, V. 17–20: solt ich mein trew voll schreiben / als mir nu ist ze mút […] ich bdórfft vier schreiber gút. 25 Hugo von Montfort, Nr. 11, S. 42, V. 1–12; Nr. 16, S. 57, V. 45  f.; Nr. 18, S. 68, V. 189–196 und V. 205– 208; Nr. 24, S. 85, V. 105; Nr. 31, S. 146  f., V. 105–120 und S. 150  f., V. 212–220. In Text Nr. 15 ist König David die erste Exempelfigur für die vanitas irdischer Eigenschaften und Güter (S. 51, V. 60–63). Die rhetorische Frage, wo seine Herrschermacht und seine Dichtkunst heute hingekommen seien, wird im Hinblick auf letztere durch die etwas überraschende, aber vielleicht auch auf Hugos dichterisches Selbstverständnis hindeutende Antwort relativiert, dass sich die Weisen immer noch nach seinen búchen […] richten (V. 63). 26 Diese Äußerung des träumenden Ichs wird wenig später durch die ‚wache‘ auktoriale Stimme bestätigt (V. 212–216). 27 Es handelt sich dabei um eine Formel, die auch in offiziellen Urkunden der Montforter begegnet; vgl. Anke Sophie Meyer: Hugo von Montfort: Autorenrolle und Repräsentationstätigkeit, Göppingen 1995 (GAG 610), S. 7; S. 29 und S. 100. Zudem wird die Absage durch eine nachgeschobene Klausel wieder relativiert: Sie soll nämlich nur gelten, untz das ich sich, wie es wil gan (V. 119).

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sich, indem sie sich wechselseitig perspektivieren: Gemessen am poetischen Ideal der perfekten Metrik und der geblúmten wort bekennt Hugos auktoriales Ich das Scheitern seiner Rede.²⁸ Der Priester indessen, der das träumende Ich zur Umkehr aufruft, charakterisiert Hugos Dichtung gerade über geblúmte, wéhe wort und sílmen, reime clúg, also über deren hohe poetische Qualität, um daran ihre sündhafte Weltverfallenheit zu erweisen.²⁹ Hugos Texte bewegen sich insgesamt im Spannungsfeld dieser offenen diskursiven Konkurrenz zwischen Kunstmeisterschaft und geistlicher Orientierung. Dabei geht es weniger um Kippfiguren der Subversion von Geltungsansprüchen, sondern eher um ihre Abschwächung: Das geistliche Verdikt gegen Dichtung wird gegen den normativen Anspruch poetischer Meisterschaft in Anschlag gebracht. Zugleich jedoch wird es durch das Eingeständnis der eigenen poetischen Minderwertigkeit und durch die prätendierte Absage an die Dichtung, die scheinbar auf die geistlichen Vorhaltungen des Priesters reagiert, aber daneben auch explizit pragmatisch begründet wird, auf Distanz gehalten. Der Effekt dieser in den Texten selbst inszenierten diskursiven Konkurrenz könnte als einer der „gedämpften Normativität“ beschrieben werden – und damit würde im Textcorpus selbst eine der beiden Bedingungen hervorgebracht, die nach Karl-Ludwig Pfeiffer jenen literarischen „Gestaltungsspielraum“ konturieren, an dem Stil als paradoxes Phänomen einer durch Unbestimmbarkeit ihres Ordnungsbezugs bestimmbaren Eigen-Art beobachtet werden kann.³⁰ Auch eine „labile Kohärenz“, Pfeiffers zweite Bedingung für die Beobachtung von Stil als „Gestaltungsspielraum“,³¹ ließe sich wohl für Hugos Œuvre plausibel machen. Argumente dafür könnte man im Grunde bereits den ausführlichen Untersuchungen des 19. Jahrhunderts entnehmen – wenn man die negativen Bewertungen der Befunde stilistischer Homogenität als Indizien für ästhetisches und gedankliches Mittelmaß oder für mangelnde Originalität abzieht.³² Ohne hier weiter ins Detail gehen zu können, darf man wohl verallgemeinernd sagen, dass Hugos Texte sich in einem sehr übersichtlichen thematischen Spektrum bewegen und dass sein Inventar an Argumenten, Sentenzen, Motiven, Metaphern, narrativen Versatzstücken

28 Hugo von Montfort, Nr. 1, S. 9  f., V. 129–144. 29 Hugo von Montfort, Nr. 31, S. 143, V. 5 und V. 25. 30 Karl Ludwig Pfeiffer: Produktive Labilität. Funktionen des Stilbegriffs. In: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1986 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 633), S. 685–725, hier S. 712  f. 31 Pfeiffer (Anm. 30), S. 712. 32 Ohne Werturteil hat bereits Hugos erster Herausgeber, Karl Bartsch, das „einheitliche gepräge in sprache, stil, reimkunst und gedanken“ des Œuvres hervorgehoben (Hugo von Montfort. Hrsg. von Karl Bartsch, Tübingen 1879 [StLV 143], S. 13  f.). Vgl. auch Wachingers prägnante Zusammenstellung der charakteristischen Züge von Hugos Werk „als relativ einheitlicher Sondertypus von lyrisch-didaktischer Kleindichtung“ (Burghart Wachinger: Hugo von Montfort. In: 2VL, Bd. 4 [1983], Sp. 243–251, hier Sp. 246  f.).

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und auch etwa an Reimpaaren relativ beschränkt ist. Die Elemente dieses Inventars werden variierend wiederholt und rekombiniert, und diese Wiederholungsreihen durchziehen alle Texte derart, dass konventionelle formale Unterscheidungen – besonders auch solche zwischen Reimpaarrede, strophischer Großform, Liedform und Kanzone  – zwar nicht aufgehoben, aber doch gelockert werden. Zugleich werden auch die syntagmatischen Grenzen zwischen den Einzeltexten entkräftet, textübergreifende Sinn-Bewegungen konturieren sich, und die syntagmatische Kontinuität des Gesamttextes der Sammlung wird gestärkt. Während Einzeltexte oft uneinheitlich und unabgeschlossen wirken, ergeben sich sinnvolle Zusammenhänge häufig in der Abfolge der Texte, wenn motivische oder gedankliche Fäden wieder aufgenommen, neu perspektiviert und weitergesponnen werden. Diese Wahrnehmbarkeit einer textübergreifenden Verdichtung wird außerdem von der hochwertigen einheitlichen Gestaltung der Handschrift noch unterstützt.

Distanzierungen poetischer Meisterschaft II: Kuckuck und Nachtigall Neben Suchenwirt ruft Hugo von Montfort in den letzten Strophen des 15. Textes³³ auch den Titurel als literarischen Maßstab auf. Das auktoriale Ich gesteht dort zu, bei der metrischen Nachahmung des berühmten Vorbilds könne einiges schiefgelaufen sein, und evoziert dann wie zur Entschuldigung seines minderen Talents den Vergleich mit dem Kuckuck: ist daran icht zerrunnen / (die leng, die kúrtz oder hán ichts vergessen) / so singt der gauch / mit der nachtgall in dem maýen; / also ticht ich auch (V. 164–168). Ähnlich wie bei der Suchenwirt-Reverenz steht auch hier der metatextuelle Kommentar etwas unvermittelt am Ende eines Textes, der ganz anders begonnen hat: Eine einleitende Reminiszenz an das Tagelied-Motiv des morgendlichen Erwachens wird in der zweiten Strophe sofort auf die geistliche Sinnebene transponiert. Der Weckruf ist Anlass breit ausgeführter Mahnungen an die Vergänglichkeit aller diesseitigen Güter, die ausdrücklich durch die Welterfahrung des auktorialen Ichs autorisiert werden: Schönheit, Glück, Weisheit, Macht und Ehre ist nur zergankleich leben (V. 50). Der Tod rafft alles dahin. [R]itterschafft und frowen verleihen zwar ‚hohen Mut‘, aber auch dieser ist nicht von Dauer (V. 53–59). Vom Weckruf zur Umkehr wird dann der Bogen zum surgite (V. 128), zur Auferweckung der Toten am Jüngsten Tag geschlagen; es folgt ein Gebet an Gott und Maria und in Strophe XLII ein abschließender Segenswunsch an den imaginären Adressaten. Die folgende Strophe setzt nun neu an mit dem Hinweis auf die Lektüre des Titurel: Das Ich erklärt die Strophenform seines Textes als Versuch, die Titurel-Strophe

33 Hugo von Montfort, S. 49–55.

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nachzubilden, und die nicht gänzlich gelungene Umsetzung des Versuchs wird dann in der letzten Strophe mittels des ungleichen Paars gauch und nachtgall illustriert. Dabei scheint die Zuordnung der Nachtigall zum positiven Vorbild idealer Formkunst und die des Kuckucks zur eigenen, im Verhältnis dazu defizitären Dichtung auf den ersten Blick klar. Generell fällt beim Durchmustern einschlägiger literarischer, musikalischer und musiktheoretischer Beispiele zunächst vor allem die Abwertung des eintönigen, kunstlosen, nervtötenden Kuckucksrufs gegenüber der variationsreichen, raffiniert kunstvollen und seelenerhebenden Melodik der Nachtigall ins Auge.³⁴ In der Fabelwelt immerhin bekommt der Kuckuck beim Wettsingen mit der Nachtigall den Preis zuerkannt – aber nur weil der Kunstrichter ein Esel ist.³⁵ Darüber hinaus ist das Renommée des Kuckucks auch anderer Eigenschaften wegen nicht das beste.³⁶ Eine Identifikation mit ihm scheint allenfalls im Gestus der modestia möglich: Konrad von Würzburg, der seine poetische Meisterschaft ja sonst lieber im Bild der Nachtigall reflektiert,³⁷ stellt sich in den Anfangspartien der Goldenen Schmiede als tore (V. 130)

34 Vgl. Elizabeth Eva Leach: ‚The Little Pipe Sings Sweetly while the Fowler Deceives the Bird‘. Sirens in The Later Middle Ages. In: Music & Letters 87 (2006), S. 187–211; und dies.: Sung Birds. Music, Nature, and Poetry in the later Middle Ages, Ithaca, London 2007; Sabine Obermaier: Von Nachtigallen und Handwerkern. ,Dichtung über Dichtung‘ in Minnesang und Sangspruchdichtung, Tübingen 1995 (Hermaea N. F. 75), bes. S. 328–333 („Der ‚Singvogel‘ als Hauptbildfeld des Minnesangs“). Die raffinierteste musikalische Umsetzung erfährt der Gegensatz zwischen Kuckuck und Nachtigall sicher in Jean Vaillants virtuosem Vogelstimmenlied Par maintes foys, einem der Glanzstücke der ars subtilior; vgl. dazu Leach, Sung Birds, S. 128–137. An der Kontrafaktur dieses Liedes durch Oswald von Wolkenstein – Der mai mit lieber zal – ist nicht zuletzt auffällig, dass die erotische Thematik durch Elemente der Ständesatire ersetzt und zugleich die Konzentration auf die aggressive Feindschaft der Nachtigall gegen den Kuckuck aufgegeben wird: Der Kuckuck, dem als ebenso miserablem Sänger hier noch der Rabe beigesellt ist, jagt mit zins-Forderungen hinter den kleineren Singvögeln her. Zur Nachtigall steht er dabei in keinem spezifischeren Verhältnis (Oswald von Wolkenstein: Die Lieder. Unter Mitwirkung von Walter Weiss und Notburga Wolf hrsg. von Karl Kurt Klein. Musikanhang von Walter Salmen. 3., neubearb. und erw. Aufl. von Hans Moser/Norbert Richard Wolf/Notburga Wolf, Tübingen 1987 [ATB 55]), Nr. 50, S. 156–158. 35 Motif-Index H 503.1. Siehe dazu Gerd Dicke/Klaus Grubmüller: Die Fabeln des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Ein Katalog der deutschen Versionen und ihrer lateinischen Entsprechungen, München 1987 (Münstersche Mittelalter-Schriften 60), Nr. 113, S. 115; weitere Sujets mit dem Kuckuck, der sich für den besten Sänger hält: Nr. 144, S. 153 und Nr. 493, S. 577. Vgl. auch Johannes Bolte: Kuckuck und Nachtigall. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 13 (1903), S. 221  f. Das Wettsingen zwischen Kuckuck und Nachtigall findet in einer Version des späten 16. Jahrhunderts Aufnahme in Des Knaben Wunderhorn, und darauf basieren dann Vertonungen durch Carl Loewe und Gustav Mahler. 36 Vgl. z.  B. Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache. Hrsg. von Franz Pfeiffer, Stuttgart 1861, cap. 20, S. 178  f., sowie Hans Ruef/Vroni Mumprecht: Kuckuck. In: TPMA 7 (1998), S. 220–224. 37 Konrad von Würzburg: Der trojanische Krieg. Nach den Vorarbeiten Karl Frommanns und Friedrich Roths zum ersten Mal hrsg. von Adelbert von Keller, Stuttgart 1858 (StLV 44), S. 3, V. 192–209; Konrad von Würzburg: Partonopier und Meliur. Turnei von Nantheiz – Sant Nicolaus – Lieder und Sprüche. Aus dem Nachlasse von Franz Pfeiffer und Franz Roth hrsg. von Karl Bartsch, Wien 1871, S. 3, V. 122–145. Vgl. hierzu bes. Kellner (Anm. 14), S. 145–148.

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und künstelose[n] man (V. 137) dar, der dennoch in das Lob der Gottesmutter einstimmen will. Dementsprechend vergleicht Konrad sich hier ausnahmsweise einmal mit dem gouch (V. 131), der in dem meien gugzet ouch, so im diu liebe nahtegal ze lobe dœnet überal und in mit sange priset. (V. 132–135)³⁸

Bei Hugo von Montfort klingt das ähnlich, aber die Selbstreflexion ist hier etwas anders pointiert. Ich will das über einen kleinen Umweg plausibel machen: Um 1390, also zeitgenössisch zu Hugo, verfasst Sir John Clanvowe sein Boke of Cupide, einen minneredenartigen Text, in dem der Ich-Erzähler von einem Waldspaziergang im Mai berichtet.³⁹ An einem Bachlauf hört er dem vielstimmigen Vogelkonzert zu und schläft ein. Noch im Halbschlaf glaubt er einen Kuckuck zu hören, dessen misstönender Ruf ihn abstößt. Da ertönt die Melodie der Nachtigall, die ihn aufs Höchste erfreut. Träumend kommt es ihm vor, als ob er die Sprache der beiden Vögel verstehen könne, und er hört nun, wie sie miteinander streiten: Der Kuckuck behauptet, er singe mindestens ebenso gut wie die Nachtigall: Zwar könne er nicht so kunstvoll verzierte Töne hervorbringen; dafür sei sein Gesang aber einfach und wahr; jeder könne ihn verstehen. Die Botschaft der Nachtigall hingegen sei unverständlich: Was, so will der Kuckuck wissen, soll ihr Ruf ocy, ocy denn eigentlich bedeuten?⁴⁰ Die Nachtigall erklärt, sie meine damit, dass alle sterben sollen, die nicht für die Liebe leben und dem Liebesgott dienen wollen.⁴¹ Ihr Gegner kontert, er wolle weder lieben noch sterben: Liebe ziehe Leid, Krankheit und Unglück nach sich. Dem hält die Nachtigall zunächst noch positive Effekte der Liebe entgegen, aber die hartnäckigen Vorwürfe des Kuckucks bringen sie alsbald aus der Fassung: Sie kann ihm nicht mehr antworten, sondern bricht in Tränen aus und betet zum Liebesgott um Rache.⁴² Da wirft das Ich im Traum einen Stein nach dem Kuckuck, der davonfliegt, aber den Werfer zuvor 38 Konrad von Würzburg: Die Goldene Schmiede. Hrsg. von Edward Schröder, Göttingen 1926. 39 John Clanvowe: The Boke of Cupide. In: The Works of Sir John Clanvowe. Hrsg. von Vincent J. Scattergood, Cambridge 1975, S. 33–53. 40 Boke of Cupide, S. 42, V. 116–125: „What!“ quoth he, „what may the eyle now? / Hit thynkes me I syng as wel as thow; / For my songe is bothe trewe and pleyn, / Al thogh I can not breke hit so in veyne, / As thou dost in thy throte, I wote ner how. / And euery wight may vnderstonde me, / But, nyghtyngale, so may they not the, / For thou has mony a nyse, queynte crie. / I haue herd the seye ‚ocy! ocy!‘ / Who myght wete what that shulde be?“ 41 Boke of Cupide, S. 42  f., V. 126–135: „O fole,“ quoth she, „wost thou not what that is? / When that I sey ‚ocy! ocy!‘ iwisse, / Then mene I that I wolde wonder fayne / That alle tho wer shamefully slayne, / That menen oght ayen love amys. / And also, I wold alle tho were dede, / That thenke not her lyve in love to lede, / For who that wol the god of love not serve, / I dar wel say he is worthy for to sterve, / And for that skille ‚ocy! ocy!‘ I grede.“ 42 Boke of Cupide, S. 48, V. 207–215.

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noch als Papagei beschimpft. Die Nachtigall hingegen ist ihrem Helfer dankbar und verspricht, sie wolle den ganzen Mai für ihn singen. Gegen das große Leid, das ihm der Kuckuck zugefügt hat, empfiehlt sie das tägliche Suchen von Gänseblümchen. Dann singt sie ihm noch ein Lied und verabschiedet sich, um vor allen Vögeln des Tals Klage gegen den Kuckuck zu führen. Die Verhandlung der Angelegenheit wird allerdings auf ein parlement verschoben, das am Valentinstag stattfinden soll.⁴³ Durch den lauten Gesang der Nachtigall wird das Ich schließlich aus seinem Traum geweckt. Der Triumph der Nachtigall ist nicht überraschend und die explizite Disqualifizierung des Kuckucks durch den Erzähler scheinbar unmissverständlich. Wer den Text genau liest, muss jedoch über ein paar Unebenheiten stolpern: So ist die Nachtigall nach den Regeln der disputatio eigentlich unterlegen, denn sie kann den Argumenten ihres Gegners am Ende nichts mehr erwidern.⁴⁴ Der Kuckuck wird also nicht durch Worte widerlegt, sondern durch Gewalt vertrieben – und eine brutal ausschließende Gewalt wird ja bereits in der Deutung des Nachtigallenrufs offenbar: Die freudenspendende Schönheit ihrer Stimme steht mit der durch sie artikulierten Botschaft – ocy, der französische Imperativ ‚töte‘ – in einem durchaus irritierenden Widerspruch. Zwar scheint das klare Urteil des Erzählers die Axiologie des Textes zu stabilisieren, aber auch hier kann man relativierende Indizien wahrnehmen: Er ist nicht mehr jung, die Zeit der Liebe hat er längst hinter sich gelassen;⁴⁵ Cupido zu folgen, passt eigentlich nicht, jedenfalls nicht in positiver Weise, zu seinem Lebensalter. Die Parteinahme des Erzählers kann dadurch fragwürdig werden – insbesondere einem Leser, der etwa durch die Lektüre von Chaucers Geschichten darauf konditioniert ist, die vom Erzähler gebotenen Perspektivierungen nicht ohne weiteres dem auktorialen Standpunkt zuzurechnen.⁴⁶ Zieht man dies in Betracht, dann könnte die Erzählerrede tatsächlich als gedankenloses, papageienhaftes Nachplappern von Glaubenssätzen erkannt werden, deren Geltung nur dann unbestritten ist, wenn man von vornherein der Gefolgschaft des Liebesgottes angehört. Der ganze Text gerät auf diese Weise ins Kippen;⁴⁷ die Argumente des Kuckucks erhalten Gewicht, und damit öffnet sich der Blick auf eine etwas weniger geläufige Deutungsalternative des Duetts von Kuckuck und Nachtigall. Ästhetische und ethische Wertungen konvergieren hier nicht, sondern sind invers verteilt: Die Kunstlosigkeit des Kuckucksrufs wird als positive Qualität der Schlichtheit, Wahrheit und 43 Boke of Cupide, S. 52, V. 271–285. Zu Chaucers Parliament of fowles als Prätext des Boke of Cupide vgl. Vincent J. Scattergood: Introduction. In: Boke of Cupide (Anm. 39), S. 9–31, hier S. 12. 44 Boke of Cupide, S. 48, V. 209: „I can for tene sey not oon worde more.“ 45 In V. 37 bezeichnet er sich als olde and vnlusty (Boke of Cupide, S. 37). 46 Vgl. Scattergood (Anm. 43) über biographische und literarische Beziehungen Clanvowes zu Chaucer. 47 Ich folge damit den Deutungen von Helen Barr: Socioliterary Practice in Late Medieval England, Oxford, New York 2001, S. 175–187; und Leach: The Little Pipe (Anm. 34), S. 188  f. Barr erkennt eine ähnliche diskursive Kippfigur bereits in der Messe des Oiseaux von Jean de Condé, einem möglichen Prätext zu Clanvowes Boke of Cupide.

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Verständlichkeit aufgefasst, seine repetitive Monotonie als authentischer Ausdruck. Entsprechend gilt der variationsreiche, verzierte Nachtigallengesang demgegenüber als bloß erlernte, unechte, unmäßige und unverständliche Artifizialität. So gedeutet kann das Vogelduett etwa für eine moralische Kritik an Formen der höfischen Adelskultur und Minnedoktrin funktionalisiert werden.⁴⁸ Im 14. Jahrhundert kann mit ihm insbesondere auch gegen die neue polyphone Vokalmusik und für die gregorianische Monophonie argumentiert werden.⁴⁹

Hugos poetische Rede zwischen Schlichtheit und Kunstideal Bei Hugo von Montfort lässt sich eine ähnliche diskursive Kippfigur beobachten wie in John Clanvowes Boke of Cupide. Im Bild des Kuckucks kristallisiert sich bei Hugo nicht einfach eine im Verhältnis zum nachtigallenhaften Kunstideal bloß defizitär bestimmte poetologische Selbstreflexion; vielmehr spiegelt sich darin wider, was an einigen Stellen seines Werks als eigenwertige Qualität sprachlicher ‚Schlichtheit‘ zum Ausdruck kommt. Mitunter wird eine solche Qualität explizit angesprochen, beispielsweise in der 18. Strophe des dritten Textes, wo das Ich der Geliebten Anwei48 Höchst ambivalent ist das Motiv des ungleichen Vogelpaars etwa auch in der Mörin des Hermann von Sachsenheim eingesetzt: Vor dem Gericht der Venus gibt Eckhart, der christliche Verteidiger des Ich-Erzählers, mangelnde juristische Kompetenzen vor und vergleicht sich selbst unter diesem Aspekt mit dem Kuckuck, seine heidnische Kontrahentin – die Mörin als Vertreterin der Anklage – hingegen mit Lerche und Nachtigall (Hermann von Sachsenheim: Die Mörin. Nach der Wiener Handschrift ÖNB 2946. Hrsg. und komm. von Horst Dieter Schlosser, Wiesbaden 1974 [Deutsche Klassiker des Mittelalters N. F. 3], V. 1160–1171). 49 Vgl. Barr (Anm. 47), S. 180, und Scattergood (Anm. 39), S. 83, Kommentar zu V. 118–120. Eine recht komplexe Variante dieser Deutungsoption lässt sich an Oswalds von Wolkenstein Lied Nr. 21 beobachten: In den ersten Versen der zweiten Strophe werden zunächst die begrenzten sängerischen Fähigkeiten des Kuckucks im Vergleich zu französisch-höfischer Vokalkunst eingeräumt: Wie wol der gauch von hals nit schon quientieret / und der franzoisch hoflich discantieret (V. 39  f.). Dann aber gibt das Oswald-Ich dem schlichten Kuckucksruf mit der Funktion einer erotischen Aufforderung – gug gugk, lieb ruck (V. 41) – den Vorzug vor Jöstlins saitenspil (V. 42). Alludiert sind hier offenbar die Liebeslieder des (zu Oswald zeitgenössischen) Venezianers Leonardo Giustiniani: Ihre Sprache ist dem venezianischen Dialekt angenähert; die Melodien sind relativ schlicht, werden aber von einem virtuos improvisierten, melismenreichen Diskant begleitet. Wenn Oswald sich im Vergleich mit Giustiniani auf die Seite des Kuckucks stellt, dann geschieht dies offenbar nicht im Sinne einer einfachen Antithetik, sondern impliziert eine abgestufte und differenzierte Wahrnehmung des musikalisch-poetischen Spektrums zwischen Schlichtheit und artifizieller Virtuosität. Vgl. hierzu Michael Shields: ‚Hidden polyphony‘ bei Oswald von Wolkenstein. Der Reihen Ir alten weib (Kl 21). In: Ieglicher sang sein eigen ticht. Germanistische und musikwissenschaftliche Beiträge zum deutschen Lied im Mittelalter. Hrsg. von Christoph März/Lorenz Welker/Nicola Zotz, Wiesbaden 2011 (Elementa musicae 4), S. 131–147, hier S. 131  f.

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sungen erteilt, die das Gelingen einer heimlichen schriftlichen Minnekommunikation gewährleisten sollen: du la dir nieman tichten, schreib aus deines hertzen grund! slechte wort mít trúwen richten, die tund mích sicher gesund. (V. 69–72)

Der mögliche Eindruck, dass Sprache hier zum transparenten Medium einer Affektübertragung von Herz zu Herz reduziert sein könnte, wird in der nächsten Strophe widerlegt: Um die ‚authentische‘ Qualität der slechte[n] wort zu erreichen, ist nämlich durchaus der Rat eines eingeweihten und vertrauenswürdigen Schreibers erlaubt.⁵⁰ Bei der Aufforderung, niemand für sich tichten zu lassen, geht es also nicht etwa darum, dass die Beteiligung eines Dritten an sich schon die intime Liebeskommunikation und ihre unmittelbare Affektwirkung verfälschen würde, sondern vielmehr um eine angemessene Art der Versprachlichung des Affekts. Sie ist offenbar nicht durch rhetorisch hochgezüchtetes tichten zu erreichen, erfordert aber durchaus sprachlichrhetorische Kompetenz. Anvisiert scheint damit also ein Wert sprachlicher ‚Schlichtheit‘, der nicht im bloßen Gegensatz zu bewusster Sprachgestaltung aufgefasst ist, sondern vielmehr einen bestimmten wählbaren Modus innerhalb des Spektrums sprachlich-rhetorischer Möglichkeiten darstellt. Im Sinne dieses positiv konnotierten Gegenpols zur Artifizialität der aufwendig geblúmten wort kann sogar der Titurel seinen Vorbild-Status verlieren. So erklärt etwa in Text Nr. 18 das Ich seiner Minnedame: Wenn seine Lieder dem willen, den ich zú euch hán (V. 198), entsprächen, dann habe es nie ein besseres gticht (V. 199) gegeben, und selbst der Titurel könne daneben nicht bestehen (V. 200). Der positive Konnotationsraum der slechte[n] wort zeigt sich, wenn man die übrigen Rekurrenzen des Begriffs schleht / schliht bei Hugo betrachtet: Stets ist damit im religiösen Sinn die Einfachheit des Richtigen, der Gerechtigkeit und des geraden moralischen Wegs gemeint.⁵¹

50 Hugo von Montfort, S. 13, V. 73  f.: du fragist denn den schreiber glich, / das er dir gebi rát. 51 Einerseits kann Gott dem Gläubigen alles schlecht machen bzw. seine Irrwege in ain schlicht bringen (Hugo von Montfort, Nr. 27, S. 100, V. 83; Nr. 28, S. 129, V. 676); andererseits ist schleht ein konstitutives Attribut des Glaubens selbst (Nr. 4, S. 16, V. 44: ain slechter glaub ist wandels fry; Nr. 29, S. 136, V. 95: der got dienti, das wer schleht; ebenso Nr. 31, S. 146, V. 95 und Nr. 38, S. 183, V. 187; außerdem Nr. 35, S. 170, V. 9–11: wem liebet das recht, / das hát got wol ze danken; / das ist vor allen dingen schleht). Besonders interessant ist die Verwendung des Begriffs in Text 31: Im Dialog zwischen dem träumenden Ich und dem Priester tadelt zunächst letzterer die Dichtung des Träumenden, die ihn nicht zur schlicht hinführe (S. 143, V. 28). Darauf antwortet das Ich, indem es seinerseits der loyk (S. 144, V. 41), die der Priester aufgeschrieben hat, vorwirft, sie erscheine ihm nicht schleht (S. 144, V. 44). Der Priester wiederum setzt dem in seiner Rechtfertigung entgegen: es wirt noch schleht (S. 144, V. 52).

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Nimmt Hugo also in diesem Sinne das Bild eines kunstlos, aber dafür ‚authentisch‘ dichtenden und moralisch gerechtfertigten Kuckucks für sich in Anspruch? Erklärt sich so der letzte Vers, der an das Motiv des Vogelduetts in Nr. 15 anschließt? Ist der Tanz des rechten raýen (V. 169) hier eine Metapher für die ethische Qualität von Hugos Dichten? Wäre demnach in der nachtgall die Exponentin einer sündhaft falschen poetischen Prachtentfaltung zu sehen? Mir scheint, dass es dem Autor auch hier nicht um strikte Antithetik und um eine subversive Kippfigur geht, sondern eben um eine wechselweise Abschwächung von Geltungsansprüchen, die ihm einen konstitutiven „Gestaltungsspielraum“ (Pfeiffer) öffnet.⁵² Man kann das, glaube ich, sehen, wenn man in der Handschrift weiterliest, denn der nachfolgende Text Nr. 16⁵³ nimmt die in der letzten Strophe von Nr. 15 mit dem Motiv des diskordanten Vogelduetts angestoßene poetologische Reflexivität auf und perspektiviert sie neu. Die mit Maienzeit, Vogelgesang und Tanz evozierte weltliche Atmosphäre der letzten Strophe hebt sich ja auffällig von der ernsten geistlichen Thematik des übrigen Textes ab. Der erste Vers von Text Nr. 16 knüpft nun explizit mit dem Signalwort mayen tag daran an, und über die folgenden sieben Strophen wird in ihm zunächst ausführlich die Topik frühlingshafter Natur weiter ausgemalt: Vielstimmiger Vogelgesang wird mittels der Terminologie polyphoner Vokalmusik geschildert, und ausführlich werden Buntheit und Formenvielfalt der Blumen beschrieben. Das entspricht ganz offensichtlich nicht kuckuckshafter Schlichtheit, sondern eher dem mit der Nachtigall assoziierten Kunstideal der geblúmten wort. Ambivalenzsignale sind dabei kaum zu bemerken – abgesehen vielleicht vom letzten Vers der vierten Strophe, wo der Vogelgesang als ‚wildgeschmückt‘ charakterisiert wird (sein fleigen, das ist wilde; V. 16). Es könnte allerdings sein, dass diese Strophen gar nicht dem auktorialen Ich selbst zuzurechnen sind, sondern gewissermaßen als Zitat zu verstehen wären, denn zu Beginn des Textes wird ein gsell (V. 1) eingeführt, der dem Ich eine botschaft (V. 3) übermittelt hat, eine red, die ist mit lust benent (V. 4). Für die folgenden Strophen könnte also eine andere Redeinstanz verantwortlich sein. Diese lässt sich allerdings kaum näher bestimmen; nicht einmal das männliche oder weibliche Geschlecht von gsell ist sicher zu entscheiden.⁵⁴ Und kaum deutlicher ist auch zu erkennen, wie weit die derart delegierte Rede eigentlich reichen würde: bis zum Schluss? Oder wechselt

52 Siehe oben in diesem Beitrag. 53 Hugo von Montfort, S. 56–58. 54 Spechtler übersetzt ain gsell trotz des uneindeutigen Artikels mit „eine Geliebte“ (Hugo von Montfort, Gedichte und Lieder [Anm. 1], Kommentarband, S. 102); Hofmeister gibt „Freundin/Vertraute“ an (Hugo von Montfort, S. 56). Ein Argument dafür wäre die der Schmuckinitiale von Text Nr. 16 eingezeichnete Mädchenfigur. Es muss damit aber nicht unbedingt eine gsell des Autor-Ichs abgebildet sein; die Darstellung könnte auch als Illustration des Frauenpreises im zweiten Abschnitt des Textes verstanden werden. Das Lexem gsell wird nach Auskunft der ‚Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank‘ in Hugos Œuvre bei allen weiteren Rekurrenzen stets als Masculinum verwendet.

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die Redeinstanz zuvor noch einmal? Immerhin meldet sich in der achten Strophe (V.  29) zum ersten Mal nach der ersten Strophe wieder ein Ich zu Wort, an das die Rede dann bis zum Textende gebunden bleibt, und zugleich findet hier eine markante argumentative Zäsur dadurch statt, dass dieses Ich nun den im ersten Abschnitt aufwendig entfalteten Zierrat entwertet: Aller vielstimmige Vogelgesang, so heißt es nun, muss hinter dem Klang einer Frauenstimme zurückstehen, und der Anblick weiblicher Schönheit ist aller Blütenpracht vorzuziehen. Ab Vers 33 setzt das Ich dann neu zur Beschreibung weiblicher Schönheit an. Die zuvor aufwendig ausgemalte Frühlingsatmosphäre wird dabei aber keineswegs, wie man vielleicht erwarten könnte, als Bühne genutzt, um etwa eine Minnebegegnung in Szene zu setzen, sondern sie bleibt als leere Kulisse zurück. Es handelt sich dabei nicht um eine simple Überbietungsfigur: Akzentuiert ist – einmal mehr – die Reduktion rhetorischer Uneigentlichkeit zugunsten einer Annäherung der Rede an reale Körperlichkeit und Anwesenheit. Das rhetorische Niveau wird neu justiert: Die Wahrnehmung weiblicher Schönheit lässt die Wirkung von Vogelgesang und Blütenpracht hinter sich zurück, aber immerhin wird zu ihrer Beschreibung die gesamte Farbpalette aus der Blumenbeschreibung des ersten Abschnitts wiederverwertet.⁵⁵ Zum Aufwand an geblúmten worten wird also Distanz markiert  – aber nicht im Modus der Negation, sondern in dem einer Gradation. Zu Beginn der zwölften Strophe scheint dann kurz die Möglichkeit des radikalen Abbruchs der poetischen Rede vor einem geistlichen Normenhorizont auf: es mócht leicht sein, ich red ze vil – / meinr sel tét bas ain sweygen (V. 45  f.). Doch dieser Gedanke zieht nur eine weitere graduelle Verschiebung nach sich: nämlich von der Körperbeschreibung zu einem allgemeineren Lob der Frauen, die mehr als alle anderen irdischen creaturen den mút erhöhen können (V. 56–58). Auch in diesem Abschnitt kehrt ein Bildbereich der ersten Strophen wieder, nämlich derjenige der Musik; und auch hier ist eine Reduktion von Uneigentlichkeit zu konstatieren: Statt der metaphorischen Anwendung von Fachtermini der Vokalmusik auf Vogelgezwitscher wird nun die Klangwirkung von Musikinstrumenten im eigentlichen Sinn aufgerufen – allerdings nur, um samt Vogelgesang im Vergleich zur ethischen Wirkung der Frauen verworfen zu werden. Was der Text dabei paradigmatisch vorführt, sind nicht Frontstellungen, sondern Abstufungen im Spannungsfeld zwischen dem poetischen Ideal der geblúmten wort und moralisch gebotenem Verstummen.⁵⁶

55 Was dabei nicht für die Beschreibung des Körpers verwertbar ist, wird mit allegorischer Bedeutung versehen: blaw stét in irem hertzen, / grún ist sy gesund und ýtal vein (V. 42  f.). 56 Der nächstfolgende Text (Nr. 17, S. 59  f.) vollzieht wiederum eine weitere Abstufung: Nach der minne-ethischen Distanzierung leerlaufender geblümter Minne-Rhetorik wird jetzt die Minne-Ethik selbst vom universalen, nicht personalisierten Lob der Frauen auf eine personale Liebesbeziehung spezifiziert: Was es je den frawen und den tóchterlein gedichtet habe, so verfügt hier das auktoriale Ich im Nachhinein, sei wie im Traum geschehen, habe sich eigentlich aber immer schon lediglich an die eine liebste frawe gerichtet (V. 29–32).

Kuckuck und Nachtigall 

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Wenn man solche Textbeobachtungen auf das Bild von Kuckuck und Nachtigall beziehen darf, dann ist damit keine strikte Antithetik, sondern eine Polarität markiert, innerhalb derer sich Hugos poetische Rede immer wieder neu ausrichtet. Hugos auktoriale Position lässt sich also nicht einfach auf eine Identifikation mit dem Kuckuck (und auf die Distanz zur Nachtigall) festlegen.⁵⁷ Die Annäherung der poetisch defizienten Rede an das Wahre und Richtige einerseits, die Annäherung der kunstfertig gesteigerten Rede an Täuschung und Sünde andererseits sind besser als Extremwerte eines Spannungsfeldes zu verstehen, in dem Hugos poetische Rede sich konstituiert, indem sie sich immer wieder selbst relativiert und neu ausrichtet. Die absolut wahre und richtige Rede ist dabei als ebenso unerreichbar erkannt wie die absolut schöne. Wer Hugos Sammlung liest, kann die unstete Bewegung seiner poetischen Rede zwischen diesen Polen mitvollziehen. Sie entspricht dem prozessualen, nicht-systematischen Wissensmodus der Erfahrung: wer merken wil der welt sin, der vindt es in disem búch, ietzunt her und denn hin; der es gern wiss, der súch! der vindet wandelbéren sin, der es tút lesen. (V. 125–130)⁵⁸

Immerhin jedoch gibt es einen utopischen Ort, an dem die Konvergenz höchster Wahrheit und höchster Schönheit stattfinden könnte – das ist die Gralsburg: In dem mit 185 Strophen bei weitem längsten Text der Sammlung⁵⁹ gelangt das auktoriale Ich immerhin bis zur Pforte dieser Burg. Sein Weg beginnt in einem Wald, dessen Beschreibung als Maienszenerie stark an den ersten Teil von Nr. 16 erinnert: Vogelgesang wird mit Begriffen der Vokalmusik beschrieben, bunte Blumenpracht und zierliche Blatt-

57 Dies würde meiner Ansicht nach auch dadurch kaum relativiert, dass das Wort gauch eventuell verstanden werden könnte als Anagramm der Namensform Haug, wie sie für Hugo in Urkunden bezeugt ist (vgl. die Beispiele bei Gernot Peter Obersteiner: Hugo von Montfort und die Steiermark. In: Aller weishait anevang Ist ze brúfen an dem aussgang [Anm. 6], S. 33–52, hier S. 40–43). 58 Hugo von Montfort, Nr. 31, S. 143–152. Man kann den Grund für diesen Wissensmodus in der Unzulänglichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens sehen. Insofern erinnert Hugos Leseanweisung nicht von ungefähr an Hugos von Trimberg Beschreibung seines Dichtens (die sich in der assoziativen, wuchernden Struktur seines enzyklopädischen Textes niederschlägt) als Ausritt auf einem schwer kontrollierbaren Pferd: Alsô ist mir ze mînem getihte: / Swenne ich ez einhalp hin rihte, / Sô loufet ez anderhalben hin / Ûf ein velt, dâ vor mîn sin / Ân zwîfel nie geneiget wart (Hugo von Trimberg: Der Renner. Hrsg. von Gustav Ehrismann, 4 Bde, Tübingen 1908–1911 (StLV 247; 248; 252; 256], Bd. 2 [1909], S. 189, V. 13925–13929). 59 Hugo von Montfort, Nr. 28, S. 106–132.

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 Michael Waltenberger

formen werden geschildert (V. 1–31).⁶⁰ In der Annäherung an die Gralsburg sind von dort zunächst Horn- und Orgelklänge zu hören, die dem Ich wie Engelsmusik vorkommen und ausdrücklich dem vogel dónen vorgezogen werden (V. 65  f.). Vor dem Burgtor wird der Wanderer abgewiesen und führt von außerhalb Dialoge mit dem Torwächter und einem der Gralsherren. Schließlich gewährt eine der Gralsjungfrauen ihm einen kurzen Blick ins Innere der Burg. Er sieht den tag / auss firmamente glesten – und er hört die Stimme der Nachtigall, die hier bey den besten singt (V. 629–632).⁶¹ Poetische Idealität besetzt offenbar denselben Ort wie moralische Idealität, einen – für das erzählte Ich jedenfalls – unerreichbar jenseitigen Ort allerdings. Hugo verschiebt den absoluten Geltungsanspruch des poetischen Ideals in die Transzendenz und beharrt selbst auf der Bindung seiner poetischen Rede ans Diesseits.⁶² Auf der Schwelle zum Gral, an dieser äußersten Grenzlinie zwischen Immanenz und Transzendenz – aber eben nur hier –, erledigen sich schließlich Fragen der poetischen Qualität vollends: Im Verhältnis zum  – jenseitigen  – Nachtigallengesang erscheint nicht nur Hugos Dichten, sondern alle diesseitige Poesie nur kuckuckshaft unvollkommen.

60 Auch die Farbendeutung nach dem Schema der sogenannten Minnefarben – Blau für die stét und brawne[n] varw für die Verschwiegenheit – kann man bereits in Nr. 16 finden (V. 5: Grün für hoffnungsvollen Beginn; V. 42: Blau für die Treue). 61 Vgl. die letzten Verse von Oswalds Vogelstimmenlied (Oswald von Wolkenstein, Nr. 50, V. 39  f.): zificigo zificigo zificigo nachtigal / dieselb mit irem gesangk behüb den gral. 62 Dies scheint auch die Pointe des programmatischen Traumdialogs zwischen dem auktorialen Ich und dem Priester in Nr. 31 zu sein (vgl. oben Anm. 51): Die Poesie stellt ebenso wie die loyk, die der Priester zu verantworten hat, eine Abweichung von der slihte dar, wird aber gerechtfertigt in Analogie zur loyk als einem unvollkommenen und manipulierbaren, gleichwohl aber zur Durchsetzung des recht[s] in der welt – also unter den Bedingungen der Immanenz – notwendigen Diskurs. Vgl. hierzu auch Vögel (Anm. 13), S. 254  f.

Stil und Hybridität

Elke Brüggen

swie ez ie kom, ir munt was rôt Zur Handhabung der descriptio weiblicher Körperschönheit im Parzival Wolframs von Eschenbach swie ez ie kom, ir munt was rôt (V. 7654 / 257,18) – die Aussage ist ein Zitat aus dem fünften Buch von Wolframs Parzival.¹ Wir vernehmen die Stimme des Erzählers, der sich mit diesen Worten über die Erscheinung der Herzogin Jeschûte äußert. Die Rede über ihren roten Mund beschränkt sich nicht auf das konventionelle Farbadjektiv, sondern stellt ihm ein eigenwilliges Bild zur Seite: der muose al sölhe varwe tragen, / man hete fiwer wol drûz geslagen (V. 7655  f. / 257,19  f.).² Der Preis des roten Mundes überrascht, hatte die Aufmerksamkeit zuvor doch den Defizienzen von Reittier und Reitausrüstung gegolten (V. 7623–7642 / 256,17–257,4), denen eine schlechte Verfassung der Reiterin korrespondiert.³ Es sind die Läsionen der Haut,⁴ welche die Wahrnehmung zunächst bestimmen: Verbrennungen durch die Sonne an zahlreichen Stellen des Körpers, bedingt durch Löcher und Risse in dem einzigen Kleidungsstück, das sie trägt, einem Untergewand; Äste und Dornen haben es beim Ritt durch die Wildnis so sehr in Mitleidenschaft gezogen, dass es vor der aggressiven Strahlung

1 Zitierte Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Auf der Grundlage der Handschrift D. Hrsg. von Joachim Bumke, Tübingen 2008 (ATB 119). Chrétiens Perceval wird nach folgender Ausgabe zitiert: Chrétien de Troyes: Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal. Der Percevalroman oder Die Erzählung vom Gral. Altfranzösisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Felicitas Olef-Krafft, Stuttgart 1991 (RUB 8649). 2 Die Grundlage der Hyperbel, der Vergleich mit dem Feuer, kann, wie Elisabeth Schmid zu Recht betont hat, als konventionell gelten; ungewöhnlich ist indes, dass „Wolfram das Feuer der Röte entspringen läßt“, nicht der Hitze. Elisabeth Schmid: weindiu ougn hânt süezen munt (272,12). Literarische Konstruktion von Wahrnehmung im Parzival. In: Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschenbach. Actas do Colóquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002. Hrsg. von John Greenfield, Porto 2004 (Anexo 13), S. 229–242, hier S. 233. 3 Zur Analogisierung von Reittier und Reiterin vgl. Viola Wittmann: Das Ende des Kampfes. Kämpfen, Siegen und Verlieren in Wolframs Parzival. Zur Konzeptlogik höfischen Erzählens, Trier 2007 (Literatur – Imagination – Realität 42), S. 71. 4 Vgl. Ulrich Ernst: Haut-Diskurse. Semiotik der Körperoberfläche in der Erzählliteratur des hohen Mittelalters. In: Körperkonzepte im arthurischen Roman. Ergebnisse der Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft 2005. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel, Tübingen 2007, S. 149–200, hier S. 172  f., zur (zweiten) Zeltfräulein-Episode in Chrétiens Perceval. Ders.: Differentielle Leiblichkeit. Zur Körpersemantik im epischen Werk Wolframs von Eschenbach. In: Wolfram-Studien 17 (2002), S. 182–222, bes. S. 204–206. In einem noch sehr viel weiter gespannten kulturwissenschaftlichen Rahmen behandelt die Thematik Claudia Benthien: Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reinbek 1999.

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 Elke Brüggen

keinen ausreichenden Schutz mehr gewährt (V. 7623–7653 / 256,17–257,17).⁵ Doch gibt es auch anderes zu sehen: delikate Hautpartien von einem blendenden Weiß, das den Farbwert von Schwanengefieder übertrifft, dort nämlich, wo der Stoff intakt geblieben ist oder die Fetzen behelfsmäßig miteinander verknotet wurden,⁶ dazu die eingangs erwähnten flammend roten Lippen.⁷

5 Susanna Backes hat das zerrissene Unterkleid Jeschûtes zu Recht mit den Strafmaßnahmen in Verbindung gebracht, die ihr Ehemann Orilûs über sie verhängt. Als Ehebrecherin, die er in ihr sieht, soll ihr kein anderes Kleidungsstück zur Verfügung stehen als das, was sie in der Situation im Zelt am Leibe trägt: ein Unterkleid (V. 40765  f. / 136,29  f.). „Sie trägt demnach immer noch das Hemd, in dem sie schlief, als Parzival in ihr Zelt eindrang“, vgl. Susanna Backes: Von Munsalvaesche zum Artushof. Stellenkommentar zum fünften Buch von Wolframs Parzival (249,1–279,30), Herne 1999, S. 61 [Kommentar zu 257,9]. Es handelt sich somit um das hemde, von dem Parzivâl einen fürspan (V. 3903 / 131,17), eine Brosche oder Nadel, abriss und einsteckte, Jeschûtes Bitte um Rückgabe des Schmuckstücks ignorierend (V. 3925–3934 / 132,10–132,18); vgl. dazu weiter unten. 6 Bereits Backes (Anm. 5) beschäftigt das Muster, welches das „Hemdgitter“ Jeschûtes auf der Haut hinterlässt; sie zieht eine Parallele zur schwarz-weißen Musterung der Haut des Feirefîz (S. 61, Kommentar zu 257,11–17). Die von Elisabeth Schmid vorgenommene Zuspitzung dieser Beobachtung, derzufolge der Leib der Frau hier zum „Objekt der poetischen Bearbeitung“ wird und als „Medium eines ehrgeizigen Kunstwillens“ fungiert, gewinnt an Plausibilität, wenn man den Vergleich zu Chrétien zieht (V. 3715–3746), der die Versehrung des Zeltfräuleins und die Zerstörung ihrer körperlichen Schönheit in der entsprechenden Episode mit größerer Drastik erzählt, dafür aber den Kontrast von verbrannten und unversehrten Hautpartien, roten und weißen Farbflächen nicht kennt, durch den bei Wolfram das für die Poetik des Parzival bedeutsame Assoziationsfeld von parrieren und undersnîden wachgerufen wird. Vgl. Elisabeth Schmid: Lüsternheit. Ein Körperkonzept im Artusroman. In: Körperkonzepte im arthurischen Roman (Anm. 4), S. 131–147, Zitate auf S. 137. Elke Brüggen: Die Farben der Frauen. Semantiken der Colorierung des Weiblichen im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Die Farben imaginierter Welten. Zur Kulturgeschichte ihrer Codierung in Literatur und Kunst vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Monika Schausten, Berlin 2012, S. 222  f. Beatrice Trînca: Parrieren und undersnîden. Wolframs Poetik des Heterogenen, Heidelberg 2008 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 46). 7 Der Kontext und dazu die (allerdings recht sparsame) Verwendung von Kognitionsverben weisen das Beobachtete als Wahrnehmung der Figur aus (V. 7621 / 256,15; V. 7647 / 257,11; V. 7652 / 257,16) und erlauben es, mit Blick auf diese Passage von einer Repräsentation von Figurenbewusstsein im Medium der Erzählerrede (‚Psychonarration‘) zu sprechen. Gleichzeitig tritt jedoch mit der Erzählerstimme eine zweite Informationsinstanz hervor, die über ein anderes, umfangreicheres Wissen verfügt als die erlebende Figur und ihren weiteren kognitiven Horizont einsetzt, um das Wahrgenommene zu kommentieren, es einzuordnen und zu bewerten (V. 7634–7636 / 256,28–30; V. 7643–7645 / 257,7–9; V. 7654–7664 / 257,18–28), und die sich schließlich mittels Ich-Rede in den Vordergrund schiebt (V. 7665–7668  / 257,29–32). Im Unterschied zum ‚personalen Erzählen‘ des modernen Romans, das die kommentierende Erzählerstimme meidet, ist die beschriebene Konstellation für den mittelalterlichen Roman durchaus nicht ungewöhnlich. Entscheidend für die literarische Konstruktion von Wahrnehmung im Parzival sind die komplexen Überlagerungen von Blicken, Stimmen und Wissens(be) ständen, die noch genauer zu analysieren wären. – Zum narratologischen Konzept der Fokalisierung und seiner mit Blick auf vormoderne Literatur vorzunehmenden Historisierung und Adaptation vgl. Gert Hübner: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im Eneas, im Iwein und im Tristan, Tübingen, Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44). Ders.: Fokalisierung im höfischen Roman.

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Die beiden Körpermerkmale, die weiße Haut und der rote Mund, bilden aufgrund ihrer Entsprechung zu den in der höfischen Kultur geläufigen Schönheitsstandards einen auffallenden Kontrast zur sonstigen Erscheinung der Dame. Zugleich holen sie beim Rezipienten das Bild zurück, das die erste Darstellung Jeschûtes bestimmt hatte: das der schlafenden Schönen im Zelt, auf die Parzivâl unmittelbar nach seinem Weggang aus Soltâne trifft, ebenfalls im Rückgriff auf die Farbkonstellation von Weiß und Rot modelliert (V. 3853–3881 / 129,27–130,25).⁸ Der Mund der Herzogin wird in dieser Szene als durchliuhtic rôt bezeichnet (V. 3861 / 130,5) und mit einem speziellen Vokabular aus dem Bereich der Liebessprache beschrieben (der minne wâfen; der minne hitze fiwer), außerdem in einen attraktiven Farbkontrast zum schneeweißen Schimmer der Zähne gesetzt. Er zeugt so von einem sexuell grundierten Glück, das Jeschûte in ihrer Ehe mit Herzog Orilûs von Lâlander erfährt; zwar ist dieser in der Szene abwesend, doch wird er in seiner Leidenschaft für seine Frau aufgrund eines raffinierten erzählerischen Arrangements gegenwärtig gehalten.⁹ Der Erzähler steigert die auf diese Weise vorgenommene Erotisierung der Frauenfigur noch, indem er sich mit der Vorstellung beschäftigt zeigt, wie es wohl wäre, einen so anziehenden Mund zu küssen (V. 3870  f. / 130,14  f.) – ein Räsonnement, mit dem er sich für einen Moment an die Stelle der Figur des Orilûs schiebt, um so mit der verlockenden Rolle des Liebhabers der schönen Frau zu kokettieren. Aufmerksamen Rezipienten mochte noch ein weiteres Detail aus der ersten Jeschûte-Szene in den Sinn kommen: Als Orilûs seiner Frau unter dem Eindruck ihres vermeintlichen Ehebruchs seine Strafandrohungen entgegenschleudert, formuliert auch er im Rekurs auf den weiß-roten Farbkontrast; er will dafür sorgen, dass ihre Lippen die rote Farbe einbüßen, sich entfärben, und ihr Augenweiß sich dafür rot verfärbt (V. 4041  f. / 136,5  f.). Elisabeth Schmid hat diese Stelle als einen Beleg für ihre These herangezogen, dass der Autor die konventionelle Topik der descriptio immer wieder unterwandere, indem er Farben und Körperteile oder -merkmale in ungewohnter und unerwarteter Weise aufeinander beziehe; sie sieht darin „ein für Wolfram charakteristisches […] Verfahren“.¹⁰ Um die narrativen Effekte zu bestimmen, welche aus diesem Spiel mit Rot und Weiß resultieren, muss man die erste und die zweite Jeschûte-Szene miteinander in

In: Wolfram-Studien XVIII (2004), S. 127–150. Friedrich Maria Dimpel: Die Zofe im Fokus. Perspektivierung und Sympathiesteuerung durch Nebenfiguren vom Typus der Confidente in der höfischen Epik des hohen Mittelalters, Berlin 2011 (Philologische Studien und Quellen 232), bes. S. 13–173 und S. 389–419. 8 Bei Chrétien gibt es im Rahmen der ersten Zeltfräulein-Episode keine descriptio personae und folglich auch kein Spiel mit der Farbspannung Weiß-Rot. – Zur Analyse der beiden Jeschûte-Szenen im Kontext einer Auswertung von Farbsemantiken vgl. Brüggen (Anm. 6). Die vorliegenden Überlegungen nehmen das dort Entwickelte auf und führen es weiter. – Zum Motiv des ‚Fräuleins im Zelt‘ vgl. auch Bénédicte Milland-Bove: La Demoiselle arthurienne. Écriture du personnage et art du récit dans les romans en prose du XIIIe siècle, Paris 2006 (Nouvelle Bibliothèque du Moyen Âge 79), S. 432–455. 9 Vgl. Brüggen (Anm. 6), S. 220. 10 Schmid (Anm. 2), hier S. 233.

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 Elke Brüggen

Verbindung bringen: zunächst die ‚musterhafte‘ Verteilung von Weiß und Rot bei der Beschreibung der schlafenden Schönen im Zelt, sodann ihre Inversion in der Rede des Orilûs und schließlich die Attraktivität des trotz aller erlittenen Qualen und Entbehrungen immer noch flammend roten Mundes sowie des Wechsels von verbrannten (und somit geröteten) Hautflächen und solchen von makelloser Weiße. Es entsteht der Eindruck, als werde die von Orilûs angestrebte Inversion einer als schön geltenden Koppelung von Farbe und Körper vom Erzähler ‚korrigiert‘, die ‚natürliche‘ Ordnung zumindest partiell restituiert und die Strafgewalt des Eheherrn konterkariert, indem Aufwand und Ergebnis der Strafaktion in ein problematisches Verhältnis gerückt werden; die Macht des Ehemannes über seine Frau erweist sich als begrenzt: Die intendierte Zerstörung der Schönheit Jeschûtes gelingt nicht. Damit dient dieser Modus der Beschreibung weiblicher Schönheit, die Konzentration auf die im Rahmen der descriptio personae topische Farbspannung Weiß-Rot, neben der narrativen Verknüpfung und Kohärenzstiftung auch der impliziten Kommentierung des Geschehens. Und noch ein Punkt will bedacht sein: Neben anderem ist es dieser spezielle Umgang mit einem topischen Element der Schönheitsbeschreibung, der den Hörern oder Lesern gleich zu Beginn der zweiten Jeschûte-Szene die Chance verschafft, durch die Erinnerung an bereits Erzähltes die Identität der nicht benannten Frauenfigur zu erschließen. Wird diese Option realisiert, entsteht dadurch ein Vorsprung an Wissen und Einsicht, der den Rezipienten gegenüber dem (zunächst) als ahnungslos gezeichneten Protagonisten¹¹ in eine überlegene Position bringt. Wolframs eigenwillige Handhabung der descriptio weiblicher Körperschönheit arbeitet also der angesprochenen asymmetrischen Relationierung von Informationsständen zu, die im Parzival insbesondere im thematischen Kontext von Erkennen und Verkennen praktiziert wird, dessen Relevanz für die Poetik der Dichtung von Dennis Green überzeugend herausgearbeitet wurde.¹² Anhand der beiden Jeschûte-Szenen soll im Folgenden die spezifische Form der Handhabung der descriptio weiblicher Körperschönheit in Wolframs Parzival untersucht und nach ihrer Einbettung in signifikante epische Zusammenhänge gefragt werden. Damit reagiert die Studie auf das Anliegen der Tagung, Aspekten der (sprachlichen) Formgebung von Kunstwerken und der ästhetischen Qualität literarischer Texte erhöhte Geltung zu verschaffen und die Anschlussfähigkeit der Kategorie

11 Während Jeschûte Parzivâl sofort an dessen außergewöhnlicher Schönheit erkennt, weiß dieser nicht gleich, wen er vor sich hat. Zur literarischen Gestaltung des bei Parzivâl ablaufenden Erkenntnisprozesses vgl. die Hinweise, die Backes (Anm. 5) unter Aufnahme verschiedener Forschungsmeinungen gibt. Weitere Überlegungen bei Ruth Sassenhausen: Wolframs von Eschenbach Parzival als Entwicklungsroman. Gattungstheoretischer Ansatz und literaturpsychologische Deutung, Köln, Weimar, Wien 2007 (ORDO 10), S. 147–158; S. 301–314. 12 Dennis H. Green: The Art of Namedropping in Wolfram’s Parzival. In: Wolfram-Studien 6 (1980), S. 84–150. Ders.: The Art of Recognition in Wolfram’s Parzival, Cambridge u.  a. 1982. Ders.: Über die Kunst des Erkennens in Wolframs Parzival. In: PBB 105 (1983), S. 48–65.

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des Stils für die mediävistische Literaturwissenschaft zu überprüfen. Die neunundzwanzig Verse über die schlafende Jeschûte (V. 3853–3881 / 129,27–130,25) stellen die längste Beschreibung einer schönen Frau dar, die im Parzival zu finden ist; in Chrétiens Roman hat sie keine Entsprechung, was man vielleicht als Indiz dafür nehmen darf, dass dem Autor die Aufnahme des um 1200 auch in der volkssprachigen Epik geläufigen Mittels der descriptio personae an dieser Stelle wichtig war;¹³ auf diesen Punkt komme ich später zurück. Besonders bei der Beschreibung weiblicher Schönheit haben die Autoren seit der Antike auf dieses poetisch-rhetorische Mittel vertraut, haben dabei die Evokation eines schönen Äußeren (Körper, Kleidung) mit der Hervorhebung von Tugendhaftigkeit zu verbinden gewusst, sie für die Figurengestaltung wie für die Handlungsbegründung und Handlungsmotivierung genutzt und dabei die Artifizialität ihrer Dichtungen gesteigert. Flankiert wird die dichterische Praxis von Äußerungen theoretischer, reflektierender Art, wie wir sie zunächst in den antiken und spätantiken, dann auch in den mittellateinischen Handbüchern der Rhetorik und Poetik finden. Für die Dokumente des 12. und 13. Jahrhunderts hat man die Relevanz der descriptio personae überzeugend aus einer Poetik der dilatatio materiae erklärt und mit einem Dichtungsverständnis in Zusammenhang gebracht, für das nicht die originale Schöpfung oder Erfindung, sondern die Aufnahme und die Bearbeitung von Vorlagen zentral ist, Vorgängen, bei denen die dichterische Leistung sich in einem Spektrum von Imitation, Variation und Überbietung verorten muss. Ihre Vorgaben, die selbst wiederum als Reflexe bestimmter literarischer Praxen zu begreifen sind und diese bewusst machen, haben die Verfasser der Poetiken mit Musterbeschreibungen illustriert und ihnen dadurch Anschaulichkeit verliehen. Mitunter gelingen diese Muster derart virtuos, dass sie die Steigerung von Kunstfertigkeit, welche eine kundige Handhabung der descriptio personae nicht zuletzt zu versprechen scheint, unmittelbar evident machen: Sie führen vor, wie man auf dem Gebiet der Figurendarstellung bestimmten Momenten regelgeleiteten Schreibens wie der Betrachtungsrichtung a capite ad calcem oder der festen Koppelung von einzelnen Körpermerkmalen mit bestimmten Schönheitsattributen Leben einhauchen kann, so dass die Regelhaftigkeit nicht als Fessel wirkt, sondern, im Gegenteil, literarische Qualität generiert. Als Mittel der literarischen Gestaltung begegnet die descriptio personae in deutschen Texten bereits im 11. und 12. Jahrhundert. Gleichwohl gilt der Eneasroman Heinrichs von Veldeke (um 1180) als bedeutende Zäsur in einem längeren Prozess der Rezeption und Anverwandlung dieser Technik.¹⁴ Man kann davon sprechen, dass die descriptio in diesem Text im Rahmen eines auf die dilatatio materiae setzenden Verfahrens der Adaptation des durch Vergils Äeneis und den altfranzösischen Roman d’Énéas

13 Vgl. Brüggen (Anm. 6), S. 204–212. Ebd. auch eine ausführlichere Darlegung zur Tradition der descriptio personae, mit bibliographischen Nachweisen, die hier nicht wiederholt werden. 14 Vgl. Marie-Sophie Masse: La description dans les récits d’Antiquité allemands fin du XIIe-début du XIIIe siècle. Aux origines de l’adaptation et du roman, Paris 2004 (Nouvelle Bibliothèque du Moyen Âge 68), bes. S. 201–251; S. 315–326; S. 338–348; S. 379–398.

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 Elke Brüggen

vermittelten Stoffes einem übergeordneten Erzählkonzept zuarbeitet. Sowohl Veldekes Beschreibung Didos, der Herrscherin von Karthago, als auch seine Deskription der Schönheit der jungen Camilla aus dem Heer des Turnus¹⁵ sind offenbar von den Zeitgenossen als vorbildhaft angesehen worden und haben nachweislich auf die Literatur der Folgezeit gewirkt, deren Faktur durch die variierende Präsentation der längeren, idealisierenden Beschreibung weiblicher Schönheit und Tugendhaftigkeit mitbestimmt wird. Vor diesem Hintergrund lässt der oben formulierte Befund einer weitgehenden Absenz derartiger Passagen in Wolframs Parzival aufmerken, zumal dann, wenn man in Rechnung stellt, dass in diesem Roman der Anteil weiblicher Figuren gegenüber älteren Werken bedeutend gesteigert wurde. In diesem Zusammenhang sollte Folgendes bedacht werden: Dass Wolfram eine descriptio gegen die Vorlage neu einführt, wie das bei der Darstellung der ersten Begegnung Parzivâls mit der Herzogin Jeschûte, Chrétiens (namenlosem) Zeltfräulein, der Fall ist, muss als Ausnahme gelten, und auch bei der literarischen Modellierung von neu in die Handlung eingeführten Figuren aktualisiert er das geläufige Mittel vormoderner Poetik oftmals nicht. Dagegen lässt sich durchaus belegen, dass der Autor deskriptive Passagen, die in der Vorlage bereitstanden, übergeht.¹⁶ Die descriptio weiblicher Körperschönheit wird im Parzival in einer spezifischen Form gehandhabt, die durch die folgenden Momente gekennzeichnet ist:¹⁷ 1. Die längere descriptio wird in der Regel abgewiesen. 2. Das Muster als ganzes wird zerlegt, aufgenommen werden lediglich einzelne Details des Topos. 3. Im Rahmen eines hochgradig selektiven Modus der Beschreibung von Frauenschönheit erhält das Spiel mit der Farbspannung Weiß-Rot besondere Relevanz. 4. Die kontrastiv-komplementäre Kombination von Weiß und Rot, die als schön gilt, wird immer wieder in epischen Zusammenhängen evoziert, die auf gestörte Ordnungen verweisen, und besitzt dann eine Verbindung zum Gewaltdiskurs, der „das Netzwerk der Handlung ebenso […] wie die Facetten der Figurenzeichnung“¹⁸ im Parzival bestimmt. Den letzten der genannten Punkte möchte ich im Folgenden anhand der beiden Jeschûte-Szenen weiter ausführen. 15 Vgl. dazu Brüggen (Anm. 6). 16 Ein eindrückliches Beispiel stellt die virtuose Beschreibung dar, welche Chrétien bei der Einführung Blancheflors, der späteren Geliebten des Protagonisten, bietet (V. 1788–1829). 17 Die Aussage basiert auf einer Analyse der literarischen Konstruktion von 15 Frauenfiguren des Parzival: ausgewertet wurden die Textpassagen zu Antikonîe, Bêne, Belacâne, Cundwîr âmûrs, Cunnewâre, Ginovêr, Lîâze, Herzeloyde, Itonjê, Jeschûte, Obîe, Obilôt, Orgelûse, Repanse de schoye, Sigûne. 18 Ulrich Ernst: Liebe und Gewalt im Parzival Wolframs von Eschenbach. Literaturpsychologische Befunde und mentalitätsgeschichtliche Begründungen. In: Chevaliers errants, demoiselles et l’Autre: höfische und nachhöfische Literatur im europäischen Mittelalter. Fs. für Xenja von Ertzdorff. Hrsg. von Trude Ehlert, Göppingen 1998 (GAG 644), S. 215–243, Zitat S. 243.

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Die beiden Szenen um die Herzogin Jeschûte von Lâlander werden im Wald situiert. Die erzählten Vorgänge sind somit in einem Raum angesiedelt, der in der mittelhochdeutschen Epik als Kontrastsphäre zur Welt des Hofes firmiert und ein Beispiel der ‚Heterotopie des Anderen‘ darstellt, eines Ortes potentieller Transgression von Normen bis hin zum Tabubruch.¹⁹ Wolfram weist den Wald zu Beginn der Orilûs-Jeschûte-Handlung, anders als Chrétien, als fôrest in Prizliân aus (V. 3832 / 129,6; vgl. V. 8066 / 271,8); die Angabe soll womöglich als eine Anspielung auf den Hartmannschen Artusroman und seine spezielle Raumordnung verstanden werden, in welcher dieses Terrain den Bereich der âventiure symbolisiert.²⁰ Wie wenig später deutlich wird, ist dieser Wald Schauplatz eines ritterlichen Zweikampfes mit tödlichem Ausgang: Herzog Orilûs de Lâlander sucht hier ritterliche Bewährung, und er findet sie in einem Kampf gegen Schionatulander, Sigûnes Geliebten, dem er das Leben nimmt.²¹ Zum anderen fungiert jedoch die Lichtung, auf der das prunkvolle Zelt des Herzogs und seiner Frau platziert ist,²² als Ambiente für eine raffinierte Thematisierung von Intimität und Liebesspiel, die sich nur vordergründig an die Regel der Dezenz hält, die man bei solchen Dingen im höfischen Roman der Zeit um 1200 gemeinhin praktiziert. Eine Schilderung der Liebesbegegnung zwischen Orilûs und Jeschûte gibt es zwar nicht, dafür sorgt bereits die vorübergehende Entfernung der Figur des Orilûs vom Ort der Handlung. Doch gibt es Zeichen am Körper der allein zurück gebliebenen Jeschûte, die der Erzähler für die Rezipienten als Hinweise auf einen Liebesakt lesbar macht. Eingeführt wird die Frauenfigur durch die Nennung ihres familiären Status (Ehefrau des Herzogs Orilûs de Lâlander, V. 3853  f. / 129,27  f.) und ihres Standes (herzoginne rîche, V. 3856 / 129,30); doch sobald es um die Situation geht, in der sie sich befindet, werden andere Akzente gesetzt, die einer Erotisierung respektive Se-

19 Michel Foucault: Des espaces autres. In: ders.: Dits et écrits. 1954–1988. Hrsg. von Daniel Defert/François Ewald, 4 Bde, Paris 1994 (Bibliothèque des sciences humaines), Bd. 4 (1980–1988), S. 752–762; Mireille Schnyder: Topographie des Schweigens. Untersuchungen zum deutschen höfischen Roman um 1200, Göttingen 2003 (Historische Semantik 3), bes. S. 287–332; Bruno Quast: Das Höfische und das Wilde. Zur Repräsentation kultureller Differenz in Hartmanns Iwein. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von Beate Kellner/Ludger Lieb/Peter Strohschneider, Frankfurt a. M. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 111–129. 20 Vgl. David N. Yeandle: Commentary on the Soltane and Jeschute Episodes in Book III of Wolfram von Eschenbach’s Parzival (116,5–138,8), Heidelberg 1984 (zu 129,6); Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausgabe Karl lachmanns, rev. und komm. von Eberhard Nellmann. Übertragen von Dieter Kühn, 2 Bde, Frankfurt a. M. 1994 (Deutscher Klassiker-Verlag im Taschenbuch 8), hier Bd. 2, S. 525 (zu 129,6); Wittmann (Anm. 3), S. 77. 21 Vgl. V. 4026–4030 / 135,20–23; V. 4117–4119 / 138,21–23; V. 4154 / 139,30; V. 4190–4192 / 141,8–10. 22 Vgl. Markus Stock: Das Zelt als Zeichen und Handlungsraum in der hochhöfischen deutschen Epik. Mit einer Studie zu Isenharts Zelt in Wolframs Parzival. In: Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters. XIX. Anglo-German Colloquium Oxford 2005. Hrsg. von Burkhard Hasebrink u.  a., Tübingen 2008, S. 67–85.

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xualisierung der Figur Vorschub leisten.²³ Der Ton der nachfolgenden Beschreibung gibt bereits die Art der Namensnennung vor, bei der der Name Jeschûte durch den Reim mit dem in den Dativ gesetzten Wort trût verklammert wird (V. 3857  f. / 130,1  f.).²⁴ gelîche eime rîters trûte erscheint Jeschûte dem Erzähler, wobei sich der Vergleich auf die ‚Lage‘ der jungen Frau bezieht, darauf, wie minneclîche²⁵ sie da liegt, hingestreckt auf ihrem Lager, schlafend, wie sogleich vermerkt wird (V. 3959 / 133,14). Die folgende Schönheitsbeschreibung qualifiziert den leuchtend roten Mund der Schlafenden als der minne wâfen (V. 3860 / 130,4) und gerndes ritters herzen nôt (V. 3862 / 130,6), und es heißt, dass die im Schlaf geöffneten Lippen der minne hitze fiwer zeigen (V. 3865 / 130,9). Auf diese Weise deutet der Erzähler an, dass Orilûs mit seiner Frau Liebesküsse getauscht hat, bevor er am frühen Morgen zu ritterlicher Betätigung aufgebrochen ist, eine Insinuation, die durch die Erwähnung der Kussphantasie, die dieser weibliche Mund bei ihm selbst auslöst (V. 3870–3872 / 130,14–16), noch verstärkt wird. Jeschûte ist in ihrem Zelt allein, als Parzivâl eintritt und der Erzähler den Anblick beschreibt, der sich seinem Helden bietet, das, was dieser sehen könnte, doch die narrative Strategie, die den Mund der Jeschûte mit dem männlichen Begehren in Verbindung bringt, zielt darauf, Bilder freizusetzen, die sie als Gespielin bei sexuellen Aktivitäten zeigen. Ein weiteres Mal wird die Phantasie der Rezipienten durch die Mitteilung befeuert, dass Jeschûte die Decke bis zur Höhe ihrer Hüften zurückgeschoben hat (V. 3873  f. / 130,17  f.). hitze war der Grund dafür, wie der Erzähler vermerkt (V. 3875 / 130,19). Dass auch diese Erklärung nicht ohne sexuellen Hintersinn ist, enthüllt der folgende Vers, der angibt, dies sei geschehen, dâ si der wirt al eine liez (V. 3876 / 130,20²⁶); der Nachsatz bringt erneut Orilûs ins Spiel, dessen Leidenschaft damit als mögliche Ursache für die der Frau zugesprochene Hitzeempfindung vorstellbar wird. Der Auftakt der ersten Jeschûte-Szene rückt die Figur einer überaus schönen Frau in das Zentrum des erzählerischen Arrangements. Entscheidend ist dabei, dass diese Frau als Schlafende vorgestellt wird. Die mit diesem Zustand implizierte Passivität und die Schutzlosigkeit, die durch den Hinweis auf den Standort des Zeltes fernab des Hofes unterstrichen und überdies durch die Mitteilung verstärkt wird, dass Jeschûte sich allein in diesem Zelt aufhält, schaffen die Voraussetzung für eine spezifische Präsentation der Frauenfigur, die Verbindungen zu einer als sexuell grundierten ‚Schau23 Vgl. Martin Schuhmann: Reden und Erzählen. Figurenrede in Wolframs Parzival und Titurel, Heidelberg 2008 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 49), S. 218: „Wolfram hat andere Schwerpunkte als Chrétien gesetzt. […] Jeschutes äußere Zeichnung ist auf Erotik abgestellt.“ Ähnlich auch schon ders.: Li Orgueilleus de la Lande und das Fräulein im Zelt, Orilus und Jeschute. Figurenrede bei Chrétien und Wolfram im Vergleich. In: Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik. Hrsg. von Nine Miedema/Franz Hundsnurscher, Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36), S. 247–260, hier S. 253  f. 24 So auch Schuhmann, Reden und Erzählen (Anm. 23), S. 218. Wolfram benutzt den Reim im Folgenden noch mehrfach, vgl. V. 3997  f. / 134,21  f.; V. 8095  f. / 272,7  f.; V. 10033  f. / 336,25  f. 25 So der Text von D in V. 3855 / 129,29; G hat hier wünneclîche. 26 wirt fehlt in D.

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lust‘ oder einem ‚voyeuristischen Sehen‘ aufweist.²⁷ Subjekt eines solchen Sehens ist in der Regel der Mann, Objekt die Frau, genauer: der weibliche Körper. Die Asymmetrie der Beziehung zwischen dem betrachtenden männlichen Subjekt und dem betrachteten weiblichen Objekt, die im Voyeurismus bereits in der Verteilung von Aktivität und Passivität und der Einseitigkeit des Blickverhaltens zum Ausdruck kommt, erfährt eine Steigerung durch das Moment der Heimlichkeit. Die angeschaute Frau als schlafend vorzustellen und sie somit in eine Situation zu versetzen, die einem Betrachter einen ungehinderten und zudem gänzlich risikolosen visuellen Zugriff auf die Betrachtete gewährt, während diese umgekehrt der männlichen Macht dieses Zugriffs vollkommen preisgegeben und zu keinerlei Abwehr der visuellen Aneignung ihres Körpers in der Lage ist, stellt eine weitere Zuspitzung der Konfiguration dar.²⁸ Insoweit der voyeuristische Blick sich als „Kehrseite des Sehtabus und der Abwertung des Körpers“²⁹ auffassen lässt, die für die Geschichte der gesamten abendländischen Kultur signifikant erscheinen, muss die Rede vom Voyeurismus keineswegs notwendig an den historischen Kontext und das pathologisierende Verständnis der theoretischen Behandlung des Phänomens durch Sigmund Freud oder an die zunehmende Reglementierung und Kontrolle des sexuellen Körpers durch die Wissenschaft (Medizin, Jurisprudenz, Pädagogik) gebunden werden, die Michel Foucault unter der Perspektive institutioneller Macht herausgearbeitet hat.³⁰ Die konstitutive Leistung des geschlechtsspezifischen Blicks und seiner Literarisierung für die Konstruktion und Verhandlung von Geschlechterdifferenz und für die Erzeugung sexueller Lust lässt sich auch für Zeiten vor dem 19. Jahrhundert plausibilisieren, mögen die entscheidenden Figurationen auch andere sein als diejenigen, die Foucault für die Erzeugung des Dispositivs ‚Sexualität‘ unter dem Regime permanenter Befragung, Überwachung und Registrierung benannt hat: „[d]ie hysterische Frau, das masturbierende Kind, das familienplanende Paar und der perverse Erwachsene“.³¹ Auch mittelalterliche Texte verhandeln bereits einen voyeuristischen Blick, der darauf zielt,

27 Vgl. etwa Claudia Öhlschläger: Unsägliche Lust des Schauens. Die Konstruktion der Geschlechter im voyeuristischen Text, Freiburg i. Br. 1996 (Rombach Wissenschaften Reihe Litterae 41), dort auf S. 25  f. eine knappe Kennzeichnung der Forschungslage zum Thema: Voyeurismus und Literatur. – Bei der hier vorgenommenen Analogisierung muss die kategoriale Differenz zwischen einer erzählten ‚Figurenperspektive‘ und einer ‚Erzählerperspektive‘ resp. eines Erzählerstandpunktes bedacht werden; vgl. dazu Hübner, Erzählform im höfischen Roman (Anm. 7), bes. S. 64–67. Ders.: Fokalisierung im höfischen Roman (Anm. 7), S. 129. 28 Auf entsprechende Szenarien in der mittelalterlichen Literatur der Romania hat Friedrich Wolfzettel aufmerksam gemacht: Friedrich Wolfzettel: Der defiziente arthurische Körper: Nacktheit als Gattungs-Paradigma. In: Körperkonzepte im arthurischen Roman (Anm. 4), S. 201–230, bes. S. 209–211, S. 212  f. und S. 214. 29 Wolfzettel (Anm. 28), S. 206. 30 Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Übers. von Ulrich Raulff/Walter Seitter, 3 Bde, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1977–1986, Bd. 1: Der Wille zum Wissen (1977). 31 Foucault (Anm. 30), S. 127.

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das ‚Unsichtbare‘ sichtbar zu machen, das Verborgene zu offenbaren, das Verdeckte freizulegen, das Verhüllte zu entblößen, das Verbotene auszustellen.³² Wolframs schlafende und nur leicht bekleidete Jeschûte repräsentiert insofern eine besondere Spielart dieses Projektes, als derjenige, der in der beschriebenen Situation tatsächlich schauen könnte, Parzivâl, keinen Blick für ihre aufreizende Schönheit zu haben scheint und von der Chance eines unverhohlenen Taxierens eines weiblichen Körpers keinen Gebrauch macht; die Szene ist vielmehr so angelegt, dass Jeschûte als Beute eines sie distanzlos kommentierenden Erzählers erscheint. Für den in der Szene praktizierten Umgang des Autors mit der descriptio kann festgehalten werden, dass die ihr traditionell zukommende Funktion, die Schönheit einer Frau evident zu machen, überlagert wird: Es geht primär „um die Evokation eines erotisch aufgeladenen Bildes einer attraktiven jungen Frau“ in einer intimen und pikanten Situation „kurz nach dem Geschlechtsverkehr mit ihrem Ehemann“.³³ Bedeuten bereits das Bild einer Schlafenden und die Thematisierung sexueller Anziehung eine Abweichung vom Standard der Beschreibung weiblicher Schönheit in der höfischen Epik der Zeit um 1200 und darüber hinaus, wird der Abstand zur Norm durch die Inszenierung erotischer Nacktheit noch größer. „The status of nakedness in medieval literature still remains to be ascertained“ lautet der erste Satz eines aufschlussreichen Beitrags zum „defiziente[n] arthurische[n] Körper“ aus der Feder des Romanisten Friedrich Wolfzettel,³⁴ auf den ich hier kurz zu sprechen kommen möchte. Wiewohl Wolfzettel die durchschlagende Wirkung der Augustinischen Interpretation des Sündenfalls betont, derzufolge die postlapsale Nacktheit des Menschen als turpis nuditas gilt, zwingend mit Mangel, Defizienz und Sünde verbunden,³⁵ insistiert er doch auf einer größeren Spannbreite der literarischen Darstellung von Nacktheit in der mittelalterlichen Literatur, die sich erst erschließt, wenn man das gesamte Gattungsspektrum einbezieht. Vor einem solchen Hintergrund nehme sich dann jedoch die Thematisierung von Nacktheit im Komplex der Artusdichtungen ausgesprochen orthodox und verhalten aus, da hier eine weitgehende Vermeidung erotischer Nacktheit zu beobachten sei,³⁶ die diese zum gattungsspezifischen Grenzphä-

32 Vgl. Kathryn Gravdal: Ravishing Maidens. Writing Rape in Medieval French Literature and Law, Philadelphia 1991 (New cultural studies series). Anthony C. Spearing: The Medieval Poet as Voyeur. Looking and Listening in Medieval Love-Narratives, Cambridge 1993. 33 Bettina Pracht: Frauenfiguren im Parzival Wolframs von Eschenbach. Master-Arbeit im Studiengang Germanistik, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn 2012, S. 61  f. 34 Wolfzettel (Anm. 28), S. 201. 35 Augustinus: De civitate Dei, XIV,17. Vgl. dazu Klaus Schreiner: Si homo non pecasset … Der Sündenfall Adams und Evas in seiner Bedeutung für die soziale, seelische und körperliche Verfaßtheit des Menschen. In: Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Schreiner/Norbert Schnitzler, München 1992, S. 41–84. 36 Wolfzettel spricht, angelehnt an die Terminologie der Psychoanalyse, von „Unterdrückung“ und „Verdrängung“, vgl. Wolfzettel (Anm. 28), S. 206 und S. 207.

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nomen werden lasse, das allenfalls an den Rändern des arthurischen Romans seinen Platz finde und mit einer Transgression seiner Ästhetik einhergehe: so in parodistisch angelegten Vertretern der Gattung oder solchen, bei denen die Artus-Materie nur eine relativ oberflächliche Einkleidung darstelle. Wo Nacktheit nicht ‚Ursprünglichkeit‘ und ‚Natürlichkeit‘ indiziert, sondern, im Gegenteil, primär als Hinweis auf Defizienz und Deformation verstanden wird, steht der nackte Körper in Opposition zum bekleideten, geschmückten Körper, der die Idealvorstellung der integritas repräsentiert;³⁷ im Kontext des mittelalterlichen Zeichensystems der Kleidung kann Nacktheit daher, in geschlechtsspezifischer Brechung, ein bestimmtes Skandalon codieren: das Schicksal eines Menschen, der seinen angestammten Platz in der gesellschaftlichen Ordnung (vorübergehend) verliert oder der von vornherein außerhalb dieser Ordnung steht. Wo der individuelle Körper solcherart auf den kollektiven Körper bezogen ist,³⁸ kann der ideale Körper nur ein solcher sein, „dessen Körperlichkeit weitgehend negiert wird“, und muss „unverstellte Nacktheit“ folglich als Problem erscheinen.³⁹ In einem solchen Rahmen können bereits die weibliche Hand oder ein unbedeckter Arm zum Auslöser erotischer Spannung werden, und ein Untergewand aus einem dünnen, fließenden Stoff, das die weiblichen Körperformen modelliert oder gar, als transparentes Textil, helle Haut und dunklere Schambehaarung durchscheinen lässt, kann zum „Ausdruck höchster erotischer Gewagtheit“ avancieren.⁴⁰ Zusätzlich zu den geöffneten roten Lippen rückt der Parzival-Erzähler bei der schönen Schlafenden dementsprechend auch die weiße Hand am langgliedrigen Arm in den Blick des Rezipienten (V. 3880  f. / 130,24  f.). Und er macht darauf aufmerksam, dass es Weiteres zu sehen gab. Die Pelzdecke liegt so, dass ihr Rand den Körper der jungen Frau in Höhe der Hüfte mit einer Linie unterteilt; unterhalb dieser Linie blockiert Zobel den Blick, doch oberhalb könnte das Auge umherschweifen, weitgehend ungebremst durch ein Hemd, für den ein feiner Stoff vorausgesetzt werden muss, ein Kleidungsstück,

37 Vgl. Wolfzettel (Anm. 28), S. 205. 38 Vgl. Silke-Katharina Philipowski: Erzählte und beschriebene Körper: ‚Allegorische Subversion‘ in der Epik des hohen und späten Mittelalters. In: DVjs 75 (2001), S. 363–386, hier S. 377. 39 Wolfzettel (Anm. 28), S. 208. 40 Wolfzettel (Anm. 28), S. 208. – „Pas de vêtement plus proche de la peau“ als das Hemd: Diesen Umstand hat Romaine Wolf-Bonvin zum Ausgangspunkt einer interessanten Studie gemacht, die unter anderem auf den „effet de nudité“ verweist, die dieses Kleidungsstück dem Körper verleiht: ders.: Un vêtement sans l’être: la chemise. In: Le Nu et le Vêtu au Moyen Age (XIIe-XIIIe siècles). Actes du 25e colloque du CUER MA 2–3-4 mars 2000, Aix-en-Provence 2001 (Senefiance 47), S. 383–394, Zitate S. 383 und S. 384. Vgl. auch Jean-Guy Gouttebroze: Entre le nu et le vêtu: le transparent. In: Le Nu et le Vêtu au Moyen Age, S. 153–164. In der deutschen Literatur des 13. Jahrhunderts haben vor allem Ulrich von dem Türlîn und Konrad von Würzburg in ihren Kleider- und Schönheitsbeschreibungen auf die Transparenz des Untergewandes der höfischen Dame abgehoben, vgl. Elke Brüggen: Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1989 (EuphorionBeiheft 23), S. 75  f. Zu Konrads Engelhard vgl. auch Andreas Krass: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel, Tübingen, Basel 2006 (Bibliotheca Germanica 50), hier S. 177–179.

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nicht gemacht, um gesehen zu werden.⁴¹ Wenn seine Nennung zunächst ausgespart bleibt, um erst später nachgeholt zu werden,⁴² handelt es sich um einen kleinen Aufschub mit großer Wirkung, denn er ist geeignet, das Vorhandensein dieses dünnen Etwas, das „nie den Blick auf Körperlichkeit als solche freigibt, sich gleichsam wie ein ‚Schirm‘ zwischen den Körper und den Betrachter schiebt“⁴³, vorübergehend vergessen zu machen.⁴⁴ „Être en chemise, c’est être ‚nu‘“, hat Romaine Wolf-Bonvin über die emblematische Dimension des Hemdes gesagt.⁴⁵ Das ist richtig, und doch lässt sich der Grad der Entblößung in der Imagination noch steigern, lässt sich auch das letzte Hindernis, das der visuellen Erkundung des weiblichen Körpers noch eine gewisse Grenze setzt, beseitigen. Durch die beschriebene literarische Strategie wird Jeschûtes süeze[r] lîp (V. 3879 / 130,23) freigelegt, ihr Oberkörper mit den perfekten Formen ihrer Brüste, die hier, anders als in der zweiten Szene, nicht erwähnt und doch gemeint sind: si was geschicket unt gesniten, / an ir was kunst niht vermiten (V. 3877  f. / 130,21  f.), vermerkt der Erzähler mit Kennerschaft. Ob der im folgenden Vers bemühte Deus artifex-Topos dazu angetan war, die Phantasie zu zügeln und zu ‚entschärfen‘, sei dahingestellt. Dauerhaft gestoppt wird die Entblößung Jeschûtes dadurch jedenfalls nicht, wie sich zeigt, wenn nicht einmal 30 Verse später die Rede davon ist, dass Parzivâl die Brosche von Jeschûtes Hemd an sich bringt: ungefuoge erz dannen brach (V. 3904 / 131,18; vgl. V. 8020 / 269,22). Ein solches Schmuckstück hat über seinen dekorativen Wert hinaus eine funktionale Bedeutung: es dient dazu, den Halsausschnitt des Untergewandes zu schließen, das man sich nach Auskunft literarischer und bildkünstlerischer Darstellungen der Zeit vorn geschlitzt vorstellen muss; fehlt die Brosche, wird das Dekolleté partiell freigelegt. Wenn man sich überdies in Erinnerung ruft, dass der anzunehmende dünne Stoff ein grobschlächtiges Abreißen der Gewandnadel nicht unbeschadet überstehen kann, dann ist hier, unausgesprochen, eine weitere Stufe im Prozess einer sukzessiven Entblößung erreicht, an dessen Ende die adlige Dame so gut wie nackt sein wird. Fortan ruht die erzählerische Aufmerksamkeit im Kontext der Schönheitsbeschreibung auf den Beschädigungen der Kleidung, dem Zerstören der Hülle, durch die Jeschûte jeglichen Schutz vor einem zudringlichen (männlichen) Blick auf ihren Körper verliert und ihre Entblößung, öffentlich zur Schau gestellt, zur Bloßstellung wird.

41 Wolf-Bonvin (Anm. 40), S. 383. 42 Jeschûtes hemde wird erst in V. 3903 / 131,17 erwähnt, als Parzivâls Blick auf die daran befindliche Brosche fällt. 43 Wolfzettel (Anm. 28), S. 208. 44 Auch das (zeitgenössisch vorauszusetzende) Wissen, dass man im Allgemeinen mit einem Hemd bekleidet schlief, beeinträchtigt die psychologische Wirkung, die von der unterdrückten Nennung des Kleidungsstückes ausgeht, nicht, zumal Wolfram durch die Erzählerrede einiges dafür tut, um dem Rezipienten klar zu machen, dass Jeschûte nicht die ganze Zeit geschlafen hat. 45 Wolf-Bonvin (Anm. 40), S. 384.

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Der erzählerische Aufwand, den Wolfram in diesem Zusammenhang treibt, rechtfertigt eine Weiterführung der Analyse. Das bereits durch Parzivâls Handeln in Mitleidenschaft gezogene Kleidungsstück ist das einzige, das Jeschûte nach dem Willen ihres Mannes verbleibt, der sie des Ehebruchs mit dem unbekannten Besucher zeiht,⁴⁶ und so wird die Figur auch in der zweiten ihr gewidmeten Szene, bei ihrem erneuten Zusammentreffen mit Parzivâl, in diesem Untergewand vorgeführt. Nun trägt sie es allerdings nicht mehr im Schutzraum ihres Zeltes, wo es mit Intimität und ehelichem Liebesspiel konnotiert war, sondern im öffentlichen Raum und somit sichtbar für jeden, der ihren Weg kreuzt. Dass Jeschûte ohne standesgemäße Gewandung auskommen und sich öffentlich in einem Kleidungsstück zeigen muss, das nicht für den Auftritt in der Öffentlichkeit gedacht ist, ist eine Maßnahme, mit der Orilûs seine Frau erniedrigt und entehrt. Indem er aus dem Unterkleid einen völlig zerrissenen Fetzen macht, steigert Wolfram die Erniedrigung und Entehrung Jeschûtes. zerfüeret ist ihr hemde, es besteht nur noch aus stricken, so dass der Erzähler sagen kann: niht wan knoden und der rige / was an der frouwen hemde ganz (V. 7734  f. / 260,6  f.). Es lässt überall nackte Haut sehen,⁴⁷ und der Erzähler wird nicht müde, diesen Umstand herauszustreichen. So arbeiten die Aussagen über die Erscheinung Jeschûtes immer wieder mit dem Adjektiv blôz  – etwa, wenn der Erzähler versichert, er zöge sölhen blôzen lîp (V. 7667 / 257,31) vielen gut gekleideten Damen vor, er auf die Figur mit der Formel [d]iu vrouwe mit ir blôzem vel rekurriert (V. 7987 / 268,19) oder sie schlicht disiu blôziu frouwe nennt (V. 7780 / 261,22; vgl. V. 7747 / 260,19). Jeschûtes blôziu hût (V. 8036 / 270,8) ist ihm selbst dann noch eine Erwähnung wert, als ihr Leidensweg zu Ende geht und Orilûs auf den Kuss, den er ihr gibt, ein weiteres Zeichen der Versöhnung folgen lässt und ihr seinen Waffenrock umlegt. In dem Moment, in dem Orilûs seine Bereitschaft zu erkennen gibt, seine Frau wieder in ihre Rechte einzusetzen und seine Rolle als ihr Schutzherr wahrzunehmen, ist zugleich der Punkt erreicht, an dem die Verfügbarkeit des Erzählers über den nackten Körper beschnitten wird. Doch noch ist der neue alte Zustand nicht ganz erreicht, noch ist die Neueinkleidung Jeschûtes nicht vollzogen. Wie es sich gehört, legt der Waffenrock des Orilûs Zeugnis ab von hartem Kampf, ist das kostbare Stück mit heldes hant zerhouwen (V. 8041 / 270,13). [I]ch hân doch selten frouwen / wâpenroc an gesehen tragn, / die wæren in strîte alsus zerslagn (V. 8042–8044 / 270,14–16), setzt der Erzähler hinzu und macht damit klar, dass Jeschûte immer noch halbnackt und damit weiterhin beschaubar ist: Die zweite Schicht Kleidung ist kaum weniger löchrig als die erste und daher noch kein effektives Hindernis für einen voyeuristischen Blick. Erst am Ende eines mehrstufigen Rituals der suone, das Orilûs vollzieht, sobald das Paar wieder den Ort erreicht hat, von dem es einst aufgebrochen war,⁴⁸ wird gesagt: Jeschûten wât man muose lobn

46 Vgl. Anm. 5. 47 Vgl. oben. 48 Vgl. V. 8083–8088 / 271,25–30.

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(V.  8143 / 273,25).⁴⁹ Allerdings lässt der Parzival-Erzähler seine Figur auch da noch nicht zur Ruhe kommen und bemächtigt sich ihrer ein letztes Mal. Der Bericht über die Dienste, welche Jungfrauen aus ihrem Gefolge der badenden Schönen angedeihen lassen, wird verknüpft mit einer Mitteilung über Wohltaten, die sie ihr auf ihrem Leidensweg zudachten, als sie ihr für die Nächte eine Decke zur Verfügung stellten, swie blôz si bîme tage reit (V. 8109–8115 / 272,21–27), ist also nur Anlass, noch einmal die öffentlich präsentierte Nacktheit Jeschûtes in Erinnerung zu rufen, die nun ein Ende haben soll. Und noch die sich anschließende Schilderung des intimen Beisammenseins, mit dem die Eheleute ihre Versöhnung besiegeln, wird in vergleichbarer Weise instrumentalisiert, wenn das, was im Bett geschieht, als trûrens rât qualifiziert, die Rede des Erzählers auf die lide, die Glieder Jeschûtes bringt, die so lange schlechte Kleidung hatten tragen müssen (V. 8136  f. / 273,18  f.). Es ist stets gesehen worden, dass Wolframs Jeschûte-Beschreibung gewisse Parallelen zur Schilderung des ersten Auftritts der Enite in Hartmanns Erec hat.⁵⁰ Die Beschreibungen gehen beide über die für den Roman um 1200 wohl charakteristische „allusive Form der Nacktheit“⁵¹ hinaus, indem sie Öffnungen der Gewandung imaginieren, durch welche die Haut, die eigentlich bedeckt sein sollte, sichtbar wird. Beide betreiben somit ein „Spiel mit Kleidung und Leib, mit Blick und Durchblick“,⁵² das in ihren Vorlagen so nicht vorgegeben war.⁵³ Gleichwohl offenbart ein genauerer Vergleich eklatante Unterschiede der Erzählstrategien. So hat sich Annette GerokReiter in einer umsichtigen Analyse der betreffenden Beschreibung Enites gegen eine dominante Strömung der Erec-Forschung gestellt und mit guten Argumenten vor einer „Projektion derartiger Lesarten“ gewarnt, „die mit der Lexik von Leib und nackter Haut einseitig das Konnotationsfeld von Sexualität […] aufgerufen sehen“. Außen und Innen erscheinen ihr hier so enggeführt, dass die Schönheit des Leibes die Schönheit der Seele „in sich selbst“ repräsentiere, wobei die „Potenzierung der Zeichenfunktion des Leibes“ letztlich „die Semantik physischer Körperlichkeit“ relativiere und so die erotische Aufladung des Körpers nur bedingt zulasse.⁵⁴

49 Einen Widerhall findet diese Aussage in der Begrüßung Jeschûtes durch Artûs: ,mir ist liep, daz ir die hulde hât / unt daz ir frouwenlîche wât / tragt nâch iwer grôzen nôt‘ (V. 8271–8273 / 278,3–5). 50 Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. von Manfred Günter Scholz, übers. von Susanne Held, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 5), V. 323–341. 51 Wolfzettel (Anm. 28), S. 211. 52 Annette Gerok-Reiter: Körper – Zeichen. Narrative Steuermodi körperlicher Präsenz am Beispiel von Hartmanns Erec. In: Körperkonzepte im arthurischen Roman (Anm. 4), S. 405–430, hier S. 418. 53 Der Stoff von Enides Kleid ist lediglich an den Ellbogen ein wenig fadenscheinig. Vgl. Chrétien de Troyes: Erec et Enide. Erec und Enide, Altfranzösisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Albert Gier, Stuttgart 1987 (RUB 8360), V. 407  f.: et tant estoit li chainses viez / que as costez estoit perciez. 54 Gerok-Reiter (Anm. 52), S. 415–418.

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Die zerschlissene armselige Kleidung Enites gewährt Durchblick auf ihren Leib, der der Kleidung in keiner Weise entspricht. Was auf erster Ebene als voyeuristischer Blick auf den nackten, erotischen Körper gelesen werden kann, erschließt sich in semiotischer Perspektive als Hinweis darauf, dass hier der Körper selbst den Status des Inneren einnimmt, zu einer inneren Qualität wird.⁵⁵

Dieser diaphane, in seiner Körperlichkeit auf seine symbolischen Valeurs hin transparente Leib der Enite bezeugt eine deutlich andere Körperkonzeption und ein gänzlich anderes Darstellungsinteresse als die Körperdarstellung in den Jeschûte-Szenen. Zwar blendet auch Wolfram das Innen nicht aus; Aussagen über die Tugendhaftigkeit, ja Vollkommenheit Jeschûtes finden sich in den behandelten Textpassagen allenthalben. Doch werden sie in der Regel nicht in der Weise enggeführt, wie Gerok-Reiter das bei der Beschreibung Enites beobachtet hat. Äußerungen über äußere und über innere Qualitäten sind mitunter zwar direkt benachbart, doch belässt dieses Nebeneinander der Physis einen größeren Eigenwert und ermöglicht eine Zurückdrängung ihrer herkömmlichen Verweisungsfunktion. Anders ausgedrückt: Der Leib verweist als Körper stärker auf sich selbst.⁵⁶ Wo bei Hartmann das leuchtende Weiß der weiblichen Haut mit Hilfe geistlicher Bildsprache auf die Reinheit der Protagonistin durchsichtig gemacht wird, bleibt der erzählerisch konstruierte Blick auf die Jeschûte-Figur eher an der Oberfläche des Körpers haften, eines Körpers, der vom Erzähler vorrangig in seinen erotischen und sexuellen Qualitäten herausgestellt wird. Diese bereits in der ersten Jeschûte-Szene nachweisbare Tendenz der erzählerischen Darstellung wird in der zweiten Szene infolge der zunehmenden Entblößung der Frauenfigur intensiviert. Wenn davon erzählt wird, dass Parzivâl ein zweites Mal auf Jeschûte trifft, bildet die Beschreibung der äußeren Erscheinung der Frau (und ihres Reittieres) den Auftakt (V. 7617–7668 / 256,11–257,32). Es schließt sich ein kurzer Dialog der beiden Figuren an, in dem Jeschûte, die ihr Gegenüber sofort wiedererkennt, Parzivâl als den Verursacher ihrer leidvollen Existenz adressiert, während dieser zwar sein Mitgefühl artikuliert, die ihm zugewiesene Verantwortung jedoch scharf zurückweist, nicht wissend, wen er vor sich hat, und auch ahnungslos, was die Strafe angeht, die Orilûs über seine Frau verhängt hat (V. 7669–7691 / 258,2–23). Das Gespräch geht in seine zweite Phase, wenn Parzivâl seine Dienstbereitschaft für Jeschûte zum Ausdruck bringt und sie bittet, sich mit seinem Waffenrock zu bedecken (V. 7703–7705 / 259,5–7). Der Sprechakt ist so angelegt, dass er wie eine Reaktion auf den Anblick Jeschûtes wirkt, der unmittelbar zuvor in einer Einlassung des Erzählers Gestalt annimmt, welcher aufzeigt, wie Jeschûte sich vergeblich müht, ihre Blöße mit Händen und Armen zu verdecken (V. 7692–7702 / 258,24–259,4).⁵⁷ Im Weiteren spricht

55 Gerok-Reiter (Anm. 52), S. 418. 56 Vgl. Gerok-Reiter (Anm. 52), S. 430. 57 Chrétien ist hier noch deutlicher: Als Perceval sich dem Zeltfräulein nähert, heißt es: Et ele estraint sa vesteüre / Entor li por sa char covrir, / Mais lors covint pertuis ovrir; / Et quant ele un liu se coevre, /

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der Erzähler dann von Jeschûtes non-verbaler Reaktion auf ihren Wortwechsel mit Parzivâl, davon, dass sie al weinende […] reit (V. 7692 / 258,24). Er verweilt bei den Tränen und zeigt den Weg auf, den sie nehmen, hinunter bis dorthin, wo sie die Brüste erreichen (V. 7693 / 258,25), die in den folgenden Versen ein Maß an Aufmerksamkeit erhalten, welches das Weinen als Ausdruck von Leid in den Hintergrund drängt: Al weinende diu frouwe reit, daz si begôz ir brustelîn, als si gedræt solden sîn. diu stuonden blanc, hôch, sinwel. jâne wart nie drehsel sô snel, der si gedræt hete baz. (V. 7692–7697 / 258,24–29)

Es ist ein bewundernder und zugleich wissender Kommentar, welcher vor allem der Form der Brüste gilt, aufragend und dabei gerundet, wie ‚gedrechselt‘. Anders als bei der Beschreibung der schlafenden Jeschûte, bei der die Kunst darin liegt, den Blick des Rezipienten durch eine geschickte Aussparung auf die weiblichen Formen zu lenken, werden die Brüste hier in ihrer Vollkommenheit in hellstes Licht gesetzt. ‚Man hätte sie nicht besser machen können‘, lautet das abschließende Urteil, das, wie auch schon die vorausgehende Bemerkung, die es fundiert, kaum aus dem Blickwinkel der Figur formuliert ist, sondern den Standpunkt des Erzählers zu erkennen gibt. Auch diese gegenüber der ersten Beschreibung gewagtere descriptio integriert am Ende wohl eine Anspielung auf den Deus artifex-Topos, eine abgeschwächte Bezugnahme auf die Schönheit als göttliches Werk und göttliche Gabe, die der erotischen Nacktheit eine eigene ästhetische Wertigkeit zu verleihen scheint. Wenn man berücksichtigt, was Friedrich Wolfzettel für die französische Literatur des Mittelalters herausgearbeitet hat, dass nämlich Nacktheit eine solche eigene ästhetische Wertigkeit zunächst am künstlerisch geformten Körper gewinnt,⁵⁸ kann man auch noch auf einen anderen Gedanken kommen: Wird hier vielleicht weniger die Meisterschaft des göttlichen Handwerkers als vielmehr die Kreativität des Künstlers Wolfram gefeiert? Den größten Abstand zu dem, was Wolfram bei Chrétien im Bereich der descriptio vorgefunden haben dürfte, repräsentieren Einlassungen des Erzählers, die die Figur

Un pertruis clot et cent en oevre („Da rafft sie ihr Gewand zusammen, um sich zu bedecken, wobei sie zugleich (wieder) ihre Blöße zeigen mußte. Wenn sie sich an einer Stelle verhüllt, verbirgt sie (zwar) ein Loch, (doch) legt sie (auch) hundert (neue) frei.“), Perceval, V. 3742–3746. Wenig vorher wird gesagt: Mais si malement li estoit / Qu’en la roube qu’ele vestoit / N’avoit plaine palme de sain, / Ains li saloient fors de[l]sain / Les mameles par les routures. / A neus et a grosses costures / De lius en lius ert atachie („Doch befand sie sich in einem so elenden Zustand, daß an ihrem Gewand keine Handbreit (Stoff) ohne Löcher war, sondern ihre Brüste durch die Risse des Oberteils hervordrangen. Hier und da wurde das Kleid von Knoten und groben Nähten zusammengehalten.“), Perceval, V. 3719–3725. 58 Vgl. Wolfzettel (Anm. 28), S. 201  f.

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der Jeschûte komisieren und dabei mitunter den Charakter von Zoten⁵⁹ annehmen; sie sind mit Recht als eine Form diskursiver Gewalt eingeordnet worden.⁶⁰ Bei dem textchronologisch ersten Beispiel, das ich in diesem Zusammenhang besprechen möchte, geht es um einen einzigen Vers: ir scham begunde switzen (V. 3924 / 132,8). Wie mir scheint, ist man gut beraten, sich diesbezüglich dem Kommentar von Ernst Martin anzuvertrauen, in dem der Übersetzungsvorschlag „‚vor Scham wurde ihr heiss‘“ mit einem Hinweis auf vergleichbare Stellen plausibilisiert wird, in denen „von einer Eigenschaft ausgesagt wird, was sich auf die Person bezieht“.⁶¹ Die von Cyril Edwards vorgetragene Auffassung, derzufolge Wolfram hier ein Spiel mit der wörtlichen und der übertragenen Bedeutung von scham treibe, das auf einer ersten Ebene im Sinne von pudor oder pudicitia, „Scham“, „Ehrgefühl“, „Takt“, auf einer zweiten jedoch im Sinne von (pars) pudenda, „Gegend der Geschlechtsteile“, „Scham(-teile)“, zu verstehen sei,⁶² scheint mir dagegen nicht naheliegend, da die Darstellung ansonsten peinlich genau darauf achtet, die Dimension sexuellen Appetits von Jeschûte (ebenso wie von Parzivâl) fernzuhalten. Dennoch zeugt die Stelle von einer hintergründigen Gewitztheit Wolframs und seines Erzählers. Um dieser auf die Spur zu kommen, muss die erzählte Situation einbezogen werden: Jeschûtes Erfahrung von Überfall und Beraubung durch einen fremden, ungehobelten Burschen, der erst von ihr ablässt, als es ihr gelingt, sein Interesse auf die im Zelt bereitstehenden Speisen und Getränke umzulenken. Der Rezipient kann Parzivâls Handeln in dieser Szene als Ergebnis de59 Als ,Zoten‘ hat Karl Bertau „Witze[] mit obszöner Tendenz“ definiert. In ihnen „wird Sexuelles durch Worte für die Vorstellung entblößt“. Karl Bertau: Versuch über tote Witze bei Wolfram. In: Acta Germanica 10 (1977), S. 87–137. Wieder in: ders.: Wolfram von Eschenbach. Neun Versuche über Subjektivität und Ursprünglichkeit in der Geschichte, München 1983, S. 60–109, hier S. 83  f. 60 Ernst (Anm. 18); Elisabeth Lienert: Zur Diskursivität der Gewalt in Wolframs Parzival. In: Wolfram-Studien 17 (2002), S. 223–245; dies.: Begehren und Gewalt. Aspekte einer Sprache der Liebe in Wolframs Parzival. In: Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschenbach (Anm. 2), S. 193–209, hier S. 207–209; Robert Scheuble: mannes manheit, vrouwen meister. Männliche Sozialisation und Formen von Gewalt gegen Frauen im Nibelungenlied und in Wolframs Parzival, Frankfurt a. M. 2005 (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung 6), S. 160  f.; Albrecht Classen: Diskursthema ‚Gewalt gegen Frauen‘ in der deutschen Literatur des hohen und späten Mittelalters. Mit besonderer Berücksichtigung Hartmanns von Aue Erec, Wolframs von Eschenbach Parzival und Wirnts von Grafenberg Wigalois. In: Studien zu Literatur, Sprache und Geschichte in Europa. Fs. für Wolfgang Haubrichs. Hrsg. von Albrecht Greule u.  a., St. Ingbert 2008, S. 49–62. 61 Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel. Hrsg. und erklärt von Ernst Martin. 2 Bde, Halle  a. d. S. 1909 (Germanistische Handbibliothek 9), Zweiter Teil: Kommentar, S. 132. Vgl. auch Bartsch/Marti zur Stelle: Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel. Hrsg. von Karl Bartsch. 4. Aufl. bearbeitet von Marta Marti, 3 Bde, Leipzig 1927–1932 (Deutsche Klassiker des Mittelalters 9; 10; 11), Bd. 1, S. 157. 62 Edwards übersetzt: „Her shame started to sweat.“ und schreibt dazu: „MHG scham means ‘sense of shame, modesty’, but Wolfram is here punning on its other meaning, ‘pudendum’“. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Translated by Cyril Edwards with Titurel and the Love-Lyrics and with an essay on the Munich Parzival illustrations by Julia Walworth, Cambridge 2004 (Arthurian studies 56), S. 42.

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fizitärer Erziehung und missglückter Instruktion lesen; Parzivâls Interaktionspartnerin hingegen besitzt ein solches Vorwissen nicht, weshalb sie, wie mittels Innensicht zu erfahren ist, zu einem anderen Schluss gelangt: si wânde, er wære ein garzûn, / gescheiden von den witzen (V. 3922  f. / 132,6  f.). Sie ist somit überzeugt, es mit jemandem zu tun zu haben, der an einem gesundheitlichen Defekt leidet, an einer unvollständigen oder verminderten Entwicklung der Hirnfunktionen: schwach-sinnig, in seinem weiteren Verhalten unkalkulierbar und rationaler Argumentation nur eingeschränkt zugänglich. Der daraufhin erwähnte Schweißausbruch Jeschûtes überführt diese Erkenntnis in eine körperliche Reaktion, die nach dem Vorausgehenden zu urteilen und angesichts des hohen Maßes an Verfeinerung, das der Figur zugeschrieben wird,⁶³ wohl als Ausdruck einer komplexen Gefühlslage gewertet werden soll: Beschämung über den körperlichen Kontakt, der ihr aufgezwungen wurde und sie entehrt,⁶⁴ Angst vor einer Vergewaltigung,⁶⁵ Entsetzen über das Entwenden ihrer Schmuckstücke, das diese Entehrung öffentlich machen wird, sobald es entdeckt ist,⁶⁶ peinliche Berührung durch ein Essverhalten, das im Kontext höfischer Speisekultur als zutiefst a-sozial erscheinen muss.⁶⁷ Was sie zu sagen hat, sagt Jeschûte sundr lachen (V.  3892  / 131,6), dem Ernst der Lage angemessen, und dennoch wird sie ins Lächerliche gezogen, wenn die Erzählerstimme sich in dieser mit erheblichem erzählerischem Aufwand evozierten Situation der Bedrohung mit einer Bemerkung über ihr Schwitzen vernehmen lässt – hier würde ich, gegen Martin, dem Wort das volle Gewicht belassen, statt davon zu sprechen, dass ‚ihr heiß wurde‘: Es ist dann nämlich der Bruch mit dem im höfischen Roman erwartbaren Beschreibungsregister schöner Frauen, der diesen komisierenden Effekt erzeugt.

63 diu frouwe zuht gelêret wird sie in V. 3893 / 131,7 genannt. 64 Vgl. V. 3892–3896 / 131,6–10: mit schame al sundr lachen / diu frouwe zuht gelêret / sprach: ›wer hât mich entêret? / junchêrre, es ist iu gar ze vil. / ir möhtet iu nemen andr zil‹. 65 Vgl. V. 3909–3916 / 131,23–30: diu frouwe was ir lîbes lieht. / si sprach: ›ir solt mîn ezzen niht. / wært ir ze frumen wîse, / ir næmet iu andr spîse. / dort stêt brôt und wîn / und ouch zwei pardrîsekîn, / als si ein juncfrouwe brâhte, / dius wênec iu gedâhte.‹ 66 Die Heftigkeit, mit der Jeschûte sich gegen den Raub ihres Schmucks zur Wehr setzt, und ihre Rückgabebitte (V. 3925  f. / 132,10  f.) erklären sich kaum aus einem ökonomischen Kalkül, sondern eher aus einem der Figur eingeschriebenen diskursiven Wissen um das Ritual der Liebesgabe. Ludger Lieb: Kann denn Schenken Sünde sein? Liebesgaben in Literatur und Kunst von Ovid bis zum Gothaer Liebespaar (um 1480). In: Geist und Geld. Hrsg. von Annette Kehnel, Frankfurt a. M. 2009 (Wirtschaft und Kultur im Gespräch 1), S. 185–218; Liebesgaben: Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Margreth Egidi u.  a., Berlin 2012 (Philologische Studien und Quellen 240). 67 Vgl. Elke Brüggen: Von der Kunst, miteinander zu speisen. Kultur und Konflikt im Spiegel mittelalterlicher Vorstellungen vom Verhalten bei Tisch. In: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993. Hrsg. von Kurt Gärtner/Ingrid Kasten/Frank Shaw, Tübingen 1996, S. 235–249.

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Einen Witz, der „Sexuelles durch Worte für die Vorstellung entblößt“,⁶⁸ hält die Szene der ersten Begegnung Parzivâls mit Sigûne bereit. Das spontane Hilfsangebot, mit dem Parzivâl auf den Anblick der Trauernden mit dem in ihren Schoß gebetteten toten Ritter reagiert, verdeutlicht der Erzähler, indem er eine begleitende Geste erwähnt: Er zeigt, wie Parzivâl in seinen Köcher fasst, um nach den Pfeilen zu greifen, die er mit sich führt (V. 4124–4135 / 138,29–139,11). Und dann heißt es: er fuort ouch dannoch beidiu phant, diu er von Jeschûten brach unt ein tumpheit dâ geschach. het er gelernet sînes vatr site, diu werdeclîche im wonten mite, diu buckel wære gehurt baz, dâ diu herzoginne al eine saz, diu sît vil kumbers durch in leit. (V. 4136–4143 / 139,12–19)

Die Bemerkung exponiert die Trophäen, die Parzivâl bei Jeschûte errungen hat. Der Erzähler nennt sie zwar phant und ruft damit als Horizont die Praxis der Liebesgabe auf,⁶⁹ zugleich erinnert er aber daran, dass die Schmuckstücke der Herzogin gegen ihren Willen und unter Anwendung körperlicher Gewalt genommen wurden. Die Pervertierung des höfischen Rituals ist damit hinreichend herausgestellt, so dass man dazu verleitet wird, die tumpheit, von der der folgende Vers spricht, auf die unmittelbar zuvor noch einmal markierte Rücksichtslosigkeit und fehlende zuht des Helden zu beziehen. Die Erzählerrede nimmt dann jedoch eine gänzlich andere Wendung, indem sie retrospektiv, gleichsam als gedankliches Experiment, den Vater an die Stelle des Sohnes setzt und dessen Handlungsweise gegenüber der schutzlosen Herzogin imaginiert. Im Rekurs auf eine Terminologie des Lanzenkampfes, die in ihrer sexuellen Metaphorik leicht zu entziffern ist⁷⁰ und von Wolfram auch anderweitig verwendet wird,⁷¹ suggeriert der Erzähler, dass Gahmuret die Situation besser zu nutzen gewusst hätte. Dadurch gewinnt die tumpheit Parzivâls eine andere Bedeutung: Der Begriff inkriminiert nicht die Gewalttätigkeit Parzivâls, der Erzähler macht sich im Gegenteil darüber lustig, dass sein Held keinen Blick hatte für das, was sich ihm ‚eigentlich‘

68 Bertau (Anm. 59), S. 83  f. 69 Vgl. Anm. 66. 70 Vgl. Birgit Eichholz: Kommentar zur Sigune- und Ither-Szene im 3. Buch von Wolframs Parzival (138,9–161,8), Stuttgart 1987, zu 139,17. 71 Auf Jeschûte bezogen findet sie sich erneut in der zweiten Szene, wo der Erzähler auf die nackte Haut zu sprechen kommt, die das zerfetzte Hemd, das sie trägt, nicht mehr verdecken kann. Egal, von welcher Seite man sie hätte angreifen wollen, sie hätte stets nur offene Flanken geboten, heißt es hier, wobei die sexuelle Dimension der Aussage vor allem dadurch abgerufen wird, dass der Kalauer vilân – vil an – wênec an das zweiwertige Adjektiv blôz („ungeschützt“, „nicht gedeckt“; „unbedeckt“, „nackt“) umgehend vereindeutigt (V. 7650–7661 / 257,14–25). Vgl. dazu Brüggen (Anm. 6), S. 223  f.

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in dem Zelt in der Waldeinsamkeit bot, und er nicht handfester gehandelt hat.⁷² Der „Scherz“⁷³ geht auf Kosten Parzivâls, insoweit er eine unterentwickelte Männlichkeit verspottet. Er geht aber ebenso auf Kosten der Frauenfigur, da der Erzähler sie als Mitwirkende bei einer (gewalttätigen) sexuellen Handlung vorstellt. Schon zuvor war in Jeschûtes Rede zu Parzivâl der Sexualakt als denkbare Möglichkeit blitzhaft an die Oberfläche gelangt: Die Herzogin hatte zu erkennen gegeben, dass sie um die Brisanz der Situation weiß, in der sie sich befindet, und mit dem Appell, ‚ir solt mîn ezzen niht. wært ir ze frumen wîse, ir næmet iu andr spîse.‘ (V. 3910–3912 / 131,24–26),

hatte sie das ihrem Gegenüber unterstellte sexuelle Begehren in für sie ungefährlichere Bahnen umzulenken gesucht. Das hier vorgeführte sprachliche Manöver ist nicht unriskant, ist ihm doch eine Übernahme eines männlichen Blicks eingeschrieben, bei dem die Frau als erotische Delikatesse wahrgenommen wird. Wenn die Rednerin dann im selben Atemzug auf die Option anderer, nicht-metaphorischer Speise verweist, welcher der Vorzug zu geben sei, lässt Wolfram sie auf der Klaviatur der rhetorischen Engführung von Sexualität und Kulinarik spielen,⁷⁴ die in der abendländischen Literatur weit verbreitet ist. Die damit empfohlene Kontrolle über die unterstellten sexuellen Gelüste wird in der Figurenrede mit dem Adjektiv wîse bedacht und damit als ein gesellschaftlich anerkanntes, kulturell reguliertes Verhalten gewürdigt. Der Erzähler aber hält dagegen, wenn er in seinem kurzen Rückblick auf die Ereignisse im Zelt von der tumpheit Parzivâls spricht, und lässt damit eben jene Anteilnahme am Schicksal Jeschûtes vermissen, die er doch andernorts für sich in Anspruch nimmt.⁷⁵ swie ez ie kom, ir munt was rôt⁷⁶ – Die für das Phänomen des Stils charakteristische Spannung von „Kollektivität und Singularität, Normerfüllung, Normbrechung und Normsetzung, bewusster und unbewusster Gestaltung, Kontinuität und Diskon-

72 Wolfram lässt seinen Erzähler damit eine Eigenschaft seines Helden attackieren, die er selbst kreiert hat. Der Held von Chrétiens Roman ist nämlich sehr wohl mit einem gewissen sexuellen Interesse ausgestattet und empfindet Vergnügen daran, das schöne Zeltfräulein auch gegen ihren Willen zu küssen, obwohl man ihm beigebracht hat, dass Ring und Kuss nicht erzwungen werden dürfen; vgl. Perceval, V. 541–556; V. 691–697; V. 719–728. 73 Nellmann (Anm. 20), hier Bd. 2, S. 530. Gegen eine Verharmlosung entsprechender Textstellen bei Chrétien wendet sich mit Recht Gravdal (Anm. 32), S. 50. Vgl. auch D. D.R. Owen: Theme and Variations: Sexual Aggression in Chrétien de Troyes. In: Forum for Modern Language Studies 21 (1985), S. 376–386. 74 Vgl. Trînca (Anm. 6), S. 178–180. Vgl. auch Barbara Nitsche: Die literarische Signifikanz des Essens und Trinkens im Parzival Wolframs von Eschenbach. Historisch-anthropologische Zugänge zur mittelalterlichen Literatur. In: Euphorion 94 (2000), S. 245–270. 75 Vgl. V. 4093–4096 / 137,27–30. 76 Der Wortlaut des Verses in D wurde anhand der CD-ROM des Cod. Sang. 857 überprüft; die Angabe ir D im Apparat der Lachmannschen Ausgabe ist unzutreffend.

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tinuität, sozialer Integration und Distinktion“⁷⁷ wurde im vorliegenden Beitrag an einer eigentümlichen Modellierung der descriptio personae, genauer: der Beschreibung weiblicher Körperschönheit, in Wolframs Parzival aufgezeigt. Charakteristisch erscheint zunächst, wie selektiv die Beschreibung weiblicher Körperschönheit verfährt; es wird ein einzelnes Moment eines umfangreicheren Musters herausgegriffen: der zur Evokation von Frauenschönheit geläufige weiß-rote Farbklang. Zudem konnte deutlich gemacht werden, dass die übliche Koppelung von einzelnen Schönheitsmerkmalen mit bestimmten Farben, die ihnen relativ fest zugeordnet erscheinen, einerseits übernommen wird, andererseits jedoch gelöst und teilweise geradezu invertiert wird. Auch die dem Ideal der integritas verpflichtete Verbindung von schönem Körper und schöner Kleidung erscheint gelockert: Fokussiert wird der schöne, teilweise jedoch auch lädierte Körper, nur leicht bekleidet oder in Fetzen gehüllt. Größere Abweichungen vom Standard der Beschreibung von Frauenschönheit in der höfischen Epik ergeben sich überdies durch die jeweiligen situativen Kontexte, in denen die descriptio erscheint: Einmal bezieht sie sich auf eine junge Frau, die nach einer Liebesnacht mit ihrem Ehemann allein in einem Zelt in der Waldeinsamkeit angetroffen wird, schlafend, das andere Mal gilt sie einer gedemütigten und misshandelten Frau, die in ihrer fast vollständigen Nacktheit allgemein beschaubar ist. Mit Jeschûte macht Wolfram eine Figur zum Objekt der descriptio, die zum Opfer von Gewalt wird, und die descriptio stellt nicht zuletzt die erotische Attraktivität ihres Leidens heraus. Dabei resultiert die beunruhigende Engführung von Schönheit, erotischer Anziehung, Gewalt und Leiden vor allem aus der Konturierung eines Erzählers, der mit seinen Bemerkungen und seiner Blicklenkung immer wieder eine Sexualisierung und Komisierung der Frauenfigur betreibt.

77 Zitat aus dem Call for Papers, vgl. die Einleitung zu diesem Band.

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Stephan Fuchs-Jolie

Metapher und Metonymie bei Wolfram Überlegungen zum ‚Personalstil‘ im Mittelalter Im Zusammenhang mit mittelalterlichen literarischen Texten den Begriff ‚Personalstil‘ zu gebrauchen, ist wagemutig und höchst bedenklich, scheint doch notwendig die vermessene Idee impliziert, man könnte  – wie die Philologen in der Nachfolge Lachmanns, mindestens noch bis Carl von Kraus  – ein iudicium über Einzelstellen mit einem selbstsicheren ‚Unverkennbar Wolfram!‘ oder ‚Eines Wolfram nicht würdig!‘ fällen.¹ Wir sind heute solchem philologischen Positivismus auch deshalb abhold, weil uns die Problematik der Kategorien ‚Text‘, ‚Autor‘, gar ‚Person‘ im Manuskriptzeitalter skrupulös vor Augen steht. Und dennoch: Mir scheint, als würde man beim Lesen von Texten auch des Manuskriptzeitalters – zumindest beim Lesen von komplexen, literarisch avancierten Texten – geradezu zwangsläufig so etwas wie ein je eigenes ‚Textprofil‘ eines Textes sukzessive entwickeln, sei es bewusst analytisch, sei es unbewusst, im Rezeptionsvorgang. Wenn man die Idee eines Verstehens im hermeneutischen Sinne nicht gänzlich aufgeben will, so braucht man wohl im Verstehensprozess permanent eine Vorstellung davon – wie vorläufig und variabel und dynamisch diese auch sei – wie in einem Text die Textoberfläche organisiert ist, so dass sie zu Sinn- und Bedeutungsstiftung, zu Tiefenstrukturen beiträgt oder dieser wie auch immer adäquat ist. Wolframs Erzählwerke scheinen mir nun in dieser Hinsicht durch eine Besonderheit gekennzeichnet, die ich in dieser Weise und charakteristischen Häufung in anderen Texten der Zeit nicht finde: Nicht nur wählen Tiefenstrukturen die verwendeten sprachlichen Elemente im Sinne eines aptum, eines Geziemenden aus; umgekehrt nimmt auch die Textoberfläche in verschiedener Weise Einfluss auf die Strukturen des Erzählens. Radikal gesagt: Die Signifikanten schreiben den Text – der Text beginnt, sich selbst zu schreiben. In dieser selbstverständlich

1 Zu Argumenten solcher Form siehe etwa den Beitrag von Carl von Kraus zur Echtheitsdebatte über „Wolframs“ Lied VIII im KLD Kommentar, S. 696–704; von Kraus sieht dort die „Minderwertigkeit bzw. Wertlosigkeit der letzten drei Strophen“ (S. 697, Hervorhebung im Original) vor dem Hintergrund abgebrauchter Sprache und Gedanken als zweifelsfrei erwiesen an. KLD, Bd. 2: Kommentar. Auch noch in jüngster Zeit finden sich vereinzelt Urteile über Textstellen, welche auf der Größe einer „Dichterpersönlichkeit“ gründen. So verurteilt Werner Schröder nachdrücklich unterbliebene Eingriffe in den Text der handschriftlichen Überlieferung von Wolframs Titurel durch die Textedition von Brackert/Fuchs-Jolie als Betrug am „Wolfram-Liebhaber“ (S. 153). „Denn der Editor kennt nach gründlicher Beschäftigung mit ihm einen Dichter besser (sollte es wenigstens)“ (S. 152). Werner Schröder: Rez. zu Wolfram von Eschenbach: Titurel. Hrsg., übers. und mit einem Kommentar und Materialien versehen von Helmut Brackert/Stephan Fuchs-Jolie, Berlin, New York 2002. In: Mittellateinisches Jahrbuch 39,1 (2004), S. 152–154.

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 Stephan Fuchs-Jolie

zugespitzten postmodernistischen Formulierung wird deutlich, dass es im Folgenden nicht um einen ‚Personalstil‘ im Sinne eines individuellen Autorwillens gehen soll, sondern vielmehr um ein charakteristisches Profil jener Texte, die mit der Signatur ‚Ich, Wolfram aus Eschenbach‘ überliefert sind. Es ist ein ganz eigentümliches Zusammenspiel von Metonymie und Metapher, ein spezifisches Verhältnis von analogischem und konnotierendem Denken, das in Wolframs Texten die Oberflächenebene mit Handlungsorganisation und Sinnkonstitution verbindet. Bevor ich das mit kurzen theoretischen Überlegungen und begrifflichen Präzisierungen näher abstrakt erläutere und einen vergleichenden Seitenblick auf Gottfried wage, sei eine kleine Reihe von Textbeispielen, Beispiele aus allen drei epischen Werken Wolframs, genannt. Es sind drei Passagen, die ich schon andernorts besprochen habe,² die mir aber noch immer am geeignetsten scheinen, dieses Verfahren auf den Punkt zu bringen. Bei ihrem ersten Auftreten sitzt Condwiramurs vor dem überwältigten Parzival: als von dem süezen touwe diu rôse ûz ir bälgelîn blecket niwen werden schîn, der beidiu wîz ist unde rôt. (Pz., 188,10–13)³

Das Bild mutet zunächst konventionell an, und natürlich sind sowohl die Rose als auch der glitzernde himmlische Tau Topoi der Schönheitsbeschreibung wie der Mariensymbolik. Hier aber sind zwei Dinge bemerkenswert: einmal das von, einmal das bälgelîn. Das von verstehe ich zunächst einmal kausal: „infolge des süßen Taus macht die Rose neuen, edlen Glanz sichtbar.“ Der Tau bewirkt, dass das verhüllende bälgelîn, die Knospenhülle, aufbricht und sich die eigentliche Schönheit zeigt. Diese Vorstellung, dass der Morgentau in himmlischer Befruchtung das Erblühen der Rose bewirkt, ist literarisch vielfach bezeugt – nach Wolfram. Nun muss man sich aber fragen, was denn in diesem charmanten Vergleich dem bälgelîn auf Seiten Condwiramurs entspricht. Denn es ist ja nicht so, dass erblühende Mädchenschönheit noch kurz zuvor wie eine raue Schale aussieht. Das bälgelîn verweist auf etwas, was außerhalb des Körpers der makellosen Condwiramurs liegt: Es verweist auf die Bewohner der belagerten Stadt Pelrapeire, welche die junge Königin Condwiramurs retten muss und

2 Siehe dazu: Stephan Fuchs-Jolie: al naz von rœte (Tit. 115,1). Visualisierung und Metapher in Wolframs Epik. In: Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschenbach. Actas do Colóquio Internacional 15e 16 de Novembro de 2002. Hrsg. von John Greenfield, Porto 2004 (Revista da Faculdade de Letras do Porto. Linguas e Literaturas, Anexo 13), S. 243–278. 3 Der Text des Parzival wird hier und im Folgenden zitiert nach: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht, mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation von Bernd Schirok, Berlin, New York 1998.

Metapher und Metonymie bei Wolfram 

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nicht kann. Denn von dem schlaffen balc der Untertanen – ein sehr seltenes Wort – ist zweimal dicht bei dieser Textstelle die Rede, einmal kurz zuvor, einmal kurz darauf.⁴ Condwiramurs Schönheit scheint zunächst durch nichts beeinträchtigt – obwohl auch sie großen Hunger leiden muss. So sehr die Zeichen des Leides von der Beschreibung ihres Körpers ferngehalten werden, so subversiv kommen sie im metaphorischen Vergleich wieder hinein, und zwar durch horizontale, metonymische Konnotationen eines einzelnen Bestandteils der Metapher: Das hässliche Draußen, der balc, ist im blühend schönen Inneren des Palastes anwesend. Die querlaufenden Konnotationen der Signifikanten lassen sich nicht unterdrücken. Hat das starke Wort vom balc draußen vor der Tür die kühne Metapher von der Rose im bälgelîn erst hervorgetrieben? Dazu eine zweite Stelle: Im Willehalm wird Rennewart bei seinem Auftreten im Palas von Oransche am Vorabend der zweiten Schlacht so beschrieben: dâ sîn vel was besweizet und der stoup was drûf gevallen, dô er vor den anderen allen kom, als im sîn manheit riet, etswâ ein sweizic zaher schiet den stoup von sînem klâren vel. Rennewartes, des knappen snel, sîn blic gelîchen schîn begêt, als touwic spitzic rôse stêt und sich ir rûher balc her dan klûbet: ein teil ist des noch dran. wirt er vor roste immer vrî, der heide glanz wont im ouch bî. (Wh., 270,12–24)⁵

Anders als bei Condwiramurs hat hier der balc eine klare Entsprechung: Schmutz; und auch der Tau hat seine reale Entsprechung: Schweiß. Es sind sweizic zaher, die den Staub an einzelnen Stellen zum Verschwinden bringen. Wenn der Vergleich stimmig sein soll, dann heißt das, dass auch hier der Tau das Aufbrechen des balc bewirkt, das Verschwinden des Verhüllenden. Zugleich ist aber der Schweiß das, was erst bewirkt, dass er schmutzig ist – und hier ist der Vergleich nicht stimmig, denn bei Rosen ist der Tau für die Bedeckung durch den balc nicht ursächlich. Diese Unstimmigkeit verweist darauf, dass es – ganz ähnlich wie bei Condwiramurs – noch auf etwas anderes ankommt als glitzernde Morgen-Schönheit. Um das zu entdecken, muss man wieder nach ‚außen‘ gehen, d.  h. die paradigmatischen Dimensionen von

4 Pz., 183,19 und Pz., 200,23. 5 Ich zitiere den mhd. Text nach: Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar. Hrsg. von Joachim Heinzle, mit den Miniaturen aus der Wolfenbütteler Handschrift und einem Aufsatz von Peter und Dorothea Diemer, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 9).

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Vergleich und Metapher verlassen. Warum schwitzt Rennewart eigentlich? Es heißt, weil er den anderen allen vorausgelaufen war. Aber das war auf dem Weg nach Oransche, und er ist schon vor langem angekommen. Alle haben längst die Zelte aufgeschlagen, haben sich gewaschen und umgezogen. Rennewart aber schwitzt noch immer. Rennewart ist es, der den Krieg draußen und seinen Schmutz körperlich in den Palas hineinträgt, den Krieg beim höfischen Mahl präsent hält. Nun ist gewöhnlich jener Schmutz, den Männer im Gesicht tragen, der Rüstungsschmutz, der bei der Verwandlung des Kriegers in den festlich-höfischen Menschen abgewaschen werden muss. Rennewart aber ist noch niemals mit Rüstungen in Berührung gekommen, er lehnt ja ritterliche Waffen ausdrücklich ab! Bei ihm ist der Rüstungsschmutz ersetzt durch das Schweiß-Staub-Gemisch. Dass genau solcher Rüstungsschmutz gemeint ist, wird durch folgenden Vers deutlich: wirt er vor roste immer vrî, heißt es. Heinzle kommentiert: „rost muß […] im weiteren Sinne von ‚Schmutz‘ gebraucht sein“.⁶ In der Tat ‚müsste‘ es eigentlich so gebraucht sein – Belege aber finden sich dafür nicht. Wie bei der Beschreibung Condwiramurs setzt Wolfram auch hier ein ‚falsches‘ Wort ein, aber hier nicht ‚falsch‘ auf Seiten des Bildspenders, wie im Falle des bälgelîn, sondern ‚falsch‘ auf Seiten der abzubildenden Sache. Die Substituierung von Schweiß-Schmutz durch Rost kommt noch öfter vor. Kurz darauf heißt es: sîn blic durh rost sah aus wie der vor Karnahkarnanz kniende Parzival – mit Rüstungs-Rost hat aber auch Parzival zu diesem Zeitpunkt nichts zu tun. Die Rede Rennewarts leitet der Erzähler kurz darauf mit den Worten ein: under râme der geflôrte, des vel ein touwic rôse was, ob ez im rosteshalp genas, er sprach. (Wh., 195,4–7)

Durch die Verschiebung zum sachlich falschen Ding rost ist der Vergleich, der ja durch metaphorische Bebilderung das Aussehen anschaulich machen wollte, als Inszenierung des Erzählers ausgewiesen. Der Rost ist bloß Metapher für das, was er bedeuten soll, nicht Beschreibung dessen, was man sehen kann. Die visuelle Evidenz der durch die Metapher gestützten Beschreibung erweist sich bei genauem Hinsehen als unscharf – sie zwingt den Rezipienten, einzelne, ‚unstimmige‘ Elemente zugleich als visualisierende Bildelemente aus anderen, weiteren Zusammenhängen zu begreifen. Condwiramurs bälgelîn und Rennewarts rost sind von außen, quer, syntagmatisch in die Metaphern hineinverschoben  – sie übermalen das Bild mit anderen Bildern

6 Joachim Heinzle: Stellenkommentar zu 195,6. In: Wolfram von Eschenbach: Willehalm (Anm. 5), S. 969  f. Heinzle betrachtet die Stellen 195,6 und 270,12–24 als Parallelstellen und stuft rost in 270,12– 24 als gleichbedeutend mit stoup ein.

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(ausgehungerte Körper, rostverschmierte Ritter); sie bilden in einer Art Überblendung gleichzeitig Verschiedenes ab. Diese einleitenden Beispiele sollten zeigen, dass die spezifische Gebrochenheit, Dunkelheit, Wildheit von Wolframs Bildern sich erhellen lässt, wenn man jeweils die Beziehungen auffindet, die einzelne Signifikanten unterhalten und stiften.⁷ Um das noch etwas genauer beschreiben zu können, will ich kurz darlegen, wie ich die Begriffe des Metaphorischen und des Metonymischen gebrauche – und dabei geht es mir nicht um subtile Metapherntheorie, sondern nur um ein paar Werkzeuge, die mir helfen sollen, die verschränkten Beziehungen der Zeichen und Sinnbildungsprozesse etwas zu sortieren.⁸ Dem berühmten Vorschlag Roman Jakobsons folgend, lässt sich das Verfahren, nach denen sich das sprachliche Syntagma knüpft, grundsätzlich zwei Typen von Beziehungen der Signifikanten zuordnen: metaphorischen und metonymischen Beziehungen.⁹ Ohne im Mindesten eine elaborierte Metapherntheorie vorlegen zu wollen, lässt sich das im Hinblick auf das hier zu Demonstrierende vereinfachend etwa folgendermaßen formulieren: – Die Metapher ist eine Verknüpfungsoperation, die der Aufforderung ‚Ersetze!‘ folgt. Das heißt, dass spezifische Similaritätsaspekte, Ähnlichkeiten, zwischen den mit den Signifikanten zu verbindenden Vorstellungen eine Analogiebeziehung stiften. ‚Metaphorisch‘ soll alles genannt werden, was in der Ordnung des Syntagmas dazu beiträgt, Begriffe, die primär verschiedenen Vorstellungsinhalten angehören, in eine sehr spezifisch restringierte, potentielle Vergleichsbeziehung zu bringen. Das Entscheidende an solcher metaphorischen Relation ist die Stiftung von Beziehung nach einem Paradigma, einem Analogon, das vom Bildspender bestimmt wird. Insofern ist die metaphorische Beziehung eine vertikale, eine paradigmatische, eine denotative. – Metonymische Operationen hingegen sind durch die Produktionsregel ‚Ergänze!‘ bestimmt. Die metonymischen Ergänzungen sind konnotativ, horizontal; sie entstehen aus dem Kontiguitätsprinzip, das die Signifikanten durch real benachbarte Signifikanten syntagmatisch ergänzt. Das, was unter solcher ‚realer Nachbarschaft‘ zu verstehen ist, kann sehr verschieden sein. Nicht nur zeitliche, räumliche, ursächliche, logische oder lebensweltliche Zusammenhänge

7 Die folgenden Thesen zu Wolframs Poetik finden sich umfangreich ausgearbeitet in: Stephan Fuchs-Jolie: Die Gleich-Gültigkeit des Möglichen. Wege zu einer nicht-fragmentarischen Poetik von Wolframs Titurel, Heidelberg (Studien zur historischen Poetik 3) [vorauss. 2015]. 8 Dazu sei an dieser Stelle verwiesen auf: Theorie der Metapher. Hrsg. von Anselm Haverkamp, Darmstadt 21996 (Wege der Forschung 389); Die paradoxe Metapher. Hrsg. von dems., Frankfurt 1998; Ekkehard Eggs: Metapher. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding, Bd. 5, Tübingen 2001, Sp. 1099–1183; ders.: Metonymie. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding, Bd. 5, Tübingen 2001, Sp. 1196–1223. 9 Siehe dazu Roman Jakobson: Der Doppelcharakter der Sprache und die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik. In: Theorie der Metapher (Anm. 8), S. 163–174 [zuerst engl. 1956].

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stiften metonymische Beziehungen, sondern auch jene ‚Realität‘ eines homogenen Raumes, welche die Materialität der Signifikanten repräsentiert: Etymologische, morphologische oder phonetische Beziehungen lassen sich in diesem weiteren Sinne ebenso als metonymische, syntagmatische Ergänzungsregeln betrachten. Jenes Prinzip der kontrastiven Überblendung metaphorischer und metonymischer Beziehungen, das an der ‚tauigen Rose‘ zu beobachten war, scheint mir nun bei Wolfram auf verschiedenen Ebenen sinnstiftend zu wirken, sowohl mikrostrukturell als auch makrostrukturell. Dafür folgen nun jeweils noch ein Wolfram-Beispiel und ein Kontrast mit Gottfried. Im folgenden Fall strukturiert eine zweifache figura etymologica die sich simultan überlagernden metonymischen und metaphorischen Beziehungen der Signifikanten. Im Titurel gesteht Sigune Herzeloyde ihre Liebe zu Schionatulander: ‚Dînes râtes, dînes  trôstes, dîner hulde bedarf ich mit ein ander,  sît ich al gernde nâch friunde iâmer dulde, vil quelehafter nôt. daz ist unwendec. er quelt mîne wilde gedanke  an sîn bant, al mîn sin ist im bendec.‘ (Tit., 121)¹⁰

Die denotativ-metaphorischen Beziehungen weisen auf das Bildfeld der Falkenjagd. Im Titurel erscheinen die Liebenden vielfach als von der Minne Gejagte. Hier nun wird Sigune zunächst durch die Formulierung al gernde und wilde metaphorisch analog zum begierigen, ungezähmten Falken gesetzt, dessen Beute der vermisste Geliebte ist. Doch noch im selben Vers verwandelt sich das Bild, und Sigune ist der an das bant gefesselte Falke; der Geliebte ist der fesselnde, zähmende Falkner. Die Subjekte, Objekte und Prädikate sind nicht oder nur scheinbar durch die Identität und Kohärenz ihrer Denotate miteinander zum Syntagma verbunden, sondern vielmehr durch die konnotative Beziehung, welche die Signifikanten untereinander unterhalten. Was die ineinander gleitenden Metaphern ordnet, ist die doppelte Perspektive auf den Falken, der einmal das Analogon der wilden, naturhaften Freiheit und einmal das Analogon der gezähmten, reglementierten Minnekultur bebildert; es ist die doppelte Perspektive auf gernde und wilde, die im ersten Ungebundenheit bezeichnet, womit im zweiten aber etwas zu Zähmendes konnotiert ist; es ist die doppelte Perspektive, die gedanke mit freiem, freiwilligem Begehren verknüpft, aber in einer kurzschlüssigen Verschiebung den zugehörigen sin als den sich selbst die Fessel suchenden Willen vorstellt: Die wilden gedanke werden in Schionatulanders Fesseln ‚hineingequält‘, und zugleich ist der sin ihm immer schon verbunden. Diese simultane Perspektiven-

10 Der Text des Titurel ist zitiert nach: Wolfram von Eschenbach: Titurel. Hrsg., übers. und mit einem Kommentar und Materialien versehen von Helmut Brackert/Stephan Fuchs-Jolie, Berlin, New York 2002.

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vielfalt wird nicht in distinkte, nacheinander formulierbare Metaphern aufgelöst. An die Stelle kohärenter Metaphern treten konnotative Beziehungen, die Sinnbeziehungen aus der Mehrdeutigkeit einzelner Worte und benachbarter Begriffe schaffen. Diese Mehrdeutigkeit ist sprachlich kondensiert in der doppelten figura etymologica ‚quelehaft – quelt‘ und ‚bant – bendec‘. Die rhetorische Figur wird poetisch fruchtbar gemacht zur Exemplifizierung des entscheidenden Problems, nämlich Bezogenheit und Differenz der Bedeutungspotentiale simultan wahrnehmbar zu machen. So sehr die etymologische Figur einerseits Verbindung auf lexikalischer und phonetischer Ebene schafft und damit die Beziehbarkeit der Bilder behauptet, so sehr weist sie andererseits auf die semantische und metaphorische Differenz hin. Zur Kontrastierung sei ein kleiner Seitenblick auf Gottfrieds Tristan gestattet. Auch hier gibt es eine Stelle, an der die Falkenjagd als Bildfeld für Minnebegehren genutzt wird – auch hier ist der Topos geschickt nach verschiedenen Seiten hin ausgelegt, und doch anders inszeniert als bei Wolfram. Als die junge Isôt an der Hand ihrer Mutter vor den versammelten Hof tritt, der den Gerichtskampf mit dem Truchsess erwartet, erscheint Isôt: suoze gebildet über al, lanc, ûf gewollen unde smal, gestellet in der wæte, als si diu Minne dræte ir selber z’einem vederspil, dem wunsche z’einem endezil, dâ vür er niemer komen kan. (Tr., V. 10893–10899)¹¹

[D]er Minnen vederspil Îsôt (Tr., V. 11985), wie es später an der berühmten Trankszene heißen wird, ist ein Jagdvogel, den sich Frau Minne selbst geschaffen hat. Die Metapher des herrlichen Jagdvogels kann man zwei Paradigmen zuordnen: einmal dem Paradigma des Jagens und Beutemachens und zum zweiten dem Paradigma der kunstvollen Schöpfung, des geschmückten, gezähmten Kulturprodukts. Die Tatsache, dass an dieser Stelle die Thematik des Jagens, der Gefährlichkeit, des Beutetriebs nicht explizit aufgenommen wird, hat manche Übersetzer dazu verleitet, vederspil mit „Lockvogel“ oder „Spielvogel“ zu übersetzen.¹² Doch vederspil ist wohl nichts 11 Den Text des Tristan zitiere ich hier und im Folgenden nach: Gottfried von Strassburg: Tristan und Isold. Hrsg. von Walter Haug/Manfred Günter Scholz. Mit dem Text des Thomas hrsg., übers. und komm. von Walter Haug, 2 Bde, Berlin 2011 (Bibliothek des Mittelalters 10; 11). 12 So übersetzt etwa Friedrich Ranke mit ‚Lockvogel‘. Friedrich Ranke: Tristan und Isold, München 1925 (Bücher des Mittelalters 3), S. 211  f.; Grimms Wörterbuch führt, begründet mit eben dieser Stelle, für ‚Federspiel‘ die Bedeutung ‚Spielvogel‘, d.  h. „ein blendwerk zur abrichtung des falken auf den vogelfang“, an. ‚Federspiel‘. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde in 32 Teilbänden, Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971, Bd. 3, Sp. 1407–1409. Dieser Vorschlag Grimms zeigt, wie effektiv das Paradigma des Jagens und Beutemachens an dieser Stelle ausgeblendet ist.

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anderes als ein abgerichteter Greifvogel.¹³ In der Tat expliziert Gottfried die Metapher in der näheren Umgebung dieser Stelle nur über das tertium der artifiziellen Schönheit: ‚Selbst gedrechselt‘ sei sie, ‚Erfüllung aller Wünsche‘ – also doch Objekt des Betrachtens und Begehrens, und nicht jagendes Subjekt. Warum sie zunächst vederspil genannt wird, bleibt vorläufig noch rätselhaft. Aber Gottfried kommt nach fünfzig Versen Kleiderbeschreibung wieder darauf zurück, und zwar indem er von der ganz unbildlich-real zu verstehenden Schneiderkunst wieder zur Drechslermetaphorik hinübergleitet, zwei Künste, die über die Vorstellung des Kunstvoll-GeschaffenSeins verbunden sind (Siehe zu den letzten Überlegungen im vorliegenden Band den Beitrag von Gerok-Reiter.). Hier wird nun wieder das Drechseln mit dem RaubvogelBild konnotiert: diu zwei, gedræt unde genæt, diu’n vollebrâhten nie baz ein lebende bilde danne daz. gevedere schâchblicke die vlugen dâ snêdicke schâchende dar unde dan: ich wæne, Îsôt vil manegen man sîn selbes dâ beroubete. Si truoc ûf ir houbete einen cirkel von golde. (Tr., V. 10954–10963)

War an der ersten Stelle die Dimension des gefährlich Räuberischen ganz ausgespart und allenfalls als Suggestion präsent, wird dies nun bei der zweiten Stelle explizit: Das Gefiederte wird mit dem Rauben verbunden. Isôt beraubt die Männer, so endet die Passage, bevor es wiederum mit der descriptio ihres Schmucks weitergeht. Von daher wird man die gefiederten schâchblicke als Isôts Blicke verstehen, Isôt also als mit Blicken jagendes Subjekt, als vederspil eben. Andererseits wird ja Isôt zuvor als ein Objekt des Betrachtens beschrieben, als lebende bilde. Insofern sind die räuberischen Blicke auch als gierige Blicke der höfischen Männer zu verstehen. Genau dies hat Gottfried präzise formuliert. Das Umklappen der Perspektive von Isôt als betrachtetes Objekt zum blickenden Subjekt hat er mit einer Scharnierformulierung versehen: dar unde dan flogen die Blicke, in die eine Richtung und in die andere Richtung. Sollten es nur Isôts Blicke sein,¹⁴ so wären sie wohl kaum

13 Dazu siehe Franziska Wessel: Probleme der Metaphorik und die Minnemetaphorik in Gottfrieds von Strassburg Tristan und Isolde, München 1984 (Münsterische Mittelalter-Schriften 54), S. 305. Ebenso der ausführliche Kommentar von Lambertus Okken: Kommentar zum Tristan-Roman Gottfrieds von Strassburg. 2., gründlich überarb. Aufl., 2 Bde, Amsterdam, Atlanta 1996 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 57), Bd. 1, S. 154. 14 So angenommen etwa bei Wessel (Anm. 13), S. 311, die dar unde dan in der Bedeutung von ‚ringsumher‘ verstanden wissen will und den Ausdruck der gefiederten schâchblicke als „quantitative Potenzierung der erotischen Aggression des Minnefalkens Isolde“ deutet.

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dicht wie Schnee. Denn genau dies stellt Gottfried nochmal klar, wenn er – wiederum knapp vierzig Verse später – ein vorläufig letztes Mal Isôt einem Jagdvogel vergleicht: si was an ir gelâze ûfreht und offenbære, gelîch dem sperwære, gestreichet alse ein papegân; si liez ir ougen umbe gân als der valke ûf dem aste; ze linde noch ze vaste hæten si beide ir weide. (Tr., V. 10992–10999)

Nun ist es ganz eindeutig Isôt, die jagt wie ein Falke. Auch Gottfried aktiviert die vielfältigen Potenzen der Metapher, auch er arbeitet mit den vielfältigen metaphorischen und metonymischen Sinndimensionen, welche die Bilder und Signifikanten eröffnen. Doch anders als Wolfram, so scheint es mir, fängt er diese Vielfalt aktiv und explizit ein: Er kappt offensiv ein Sinnpotential (das der Jagd), wo es für die zunächst erwünschte Bedeutung des schönen Artefakts dysfunktional ist; er nimmt das Bild später explizit wieder auf, bringt nun die zuvor vernachlässigte metaphorische Potenz zur Geltung und entfaltet aktiv die Vielfalt der Perspektiven, in die das Bild zu wenden ist. Schließlich endet er mit einem eindeutigen Vergleich. Gottfried nutzt die Evidenz der Metaphern, um die Sinnpotenzen sukzessive zu entfalten; er hierarchisiert und gliedert für den Rezipienten nachvollziehbar die verschiedenen Beziehungen der Bilder und Zeichen und stellt sie in den Dienst einer ratio dessen, was zu erzählen ist. Wolfram dagegen lässt die Sinnpotenzen ineinander gleiten und in aporetischer Überblendung verharren. Dass dies nicht nur mikrostrukturell, sondern auch makrostrukturell die Textoberfläche signifikant profiliert, sei an einem letzten Beispiel gezeigt, an dem kleinen Minneexkurs im Titurel, den ich mit den Versen zitiere, die ihn in die Narration einbinden:¹⁵ Schoynatulander was danoch niht starc an sînem sinne. er wart iedoch in herzen  nôt geslozzen von Sigûnen minne. Owê des, si sint noch  ze tump [ ] ze solher angest, wan, swâ diu minne in der iugent  begriffen wirt, diu wert aller langest! op daz alter minnen sich geloubet, dannoch diu iugent wont in der   minne bant, minne ist krefte unberoubet.

15 Zur folgenden Analyse des Minneexkurses vgl. auch Stephan Fuchs-Jolie/Philipp Giller: wie Gahmuret schiet von Belakânen. Titurel und die Tragödie des Erzählens. In: Tragik vor der Moderne. Hrsg. von Gyburg Radtke/Regina Töpfer, Heidelberg [im Druck].

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Owê, minne, waz touc  dîn kraft under kinder? wan einer der niht ougen hât,   der möhte dich spehen, wârer blinder. minne, du bist alze manger slahte! gar alle schrîbære künden  nimer volschrîben dîn art noch dîn ahte. Sît daz man den rehten  münch in der minne unt och den wâren klôsenære  wol beswert, sint gehôrsam ir sinne, daz si leistent mangiu dinc doch kûme. minne twinget rîter  under helme. minne ist vil enge an ir rûme. Diu minne hât begriffen  daz smal unt daz breite. minne hât ûf erde  unt ûf himele für got geleite. minne ist allenthalben wan ze helle. diu starke minne erlamet an ir  krefte, wirt der zwîfel mit wanke ir geselle. Ane wanc unt âne  zwîfel diu beide was diu maget Sigune  ‹unt› Schoynatulander. (Tit., 47,2–52,2)

Der Erzähler hatte aus der Vorgeschichte Sigunes und Schionatulanders berichtet; das Geschehen ist an jenem Punkt angelangt, an dem nun von der beginnenden Liebe zwischen den beiden erzählt werden sollte. In Vers 47,4 wird diese Liebe zum ersten Mal benannt. An dieser Stelle schaltet der Erzähler vier Strophen ein, die außerordentlich weit gefasste Reflexionen über die Minne bieten. Man sollte erwarten, dass nun die virulenten Themen der Narration aufgegriffen, reflektiert und programmatisch verhandelt würden. Das ist aber nur sehr bedingt der Fall. Auf fast jede Aussage folgt sofort der Widerspruch, fast alles wird sogleich revoziert und auf andere Fragen umgelenkt. Eine programmatische Aussage wird strikt verweigert, als Kommentar zum Erzählten ist der Exkurs regelrecht dysfunktional – davon abgesehen, dass man mit guten Gründen manchen Vers für schier unverständlich halten kann. Dieser Exkurs liest sich wie ein lockerer, unvollständiger Themenkatalog dessen, was über Minne erzählt werden könnte. Doch nicht nur die verhandelten Inhalte begründen keinen kohärenten Zusammenhang. Ähnlich ist es, wenn man auf die Bildlichkeit schaut. Wir finden zahlreiche Bildfelder, die in der Umgebung der Strophen höchst präsent sind (was hinsichtlich der Themen oft nicht der Fall ist): Liebeskrieg, Liebesfessel, das Herz als Gefängnis, allegorisierende Personifizierung der Minne. Fragt man aber, wie dieses Reservoir intern organisiert ist, so bleibt man ratlos. Auch die Tropen und Bilder erhellen nicht Sinn oder Konstruktion der Erzähler-Digression, ja oft nicht einmal den Sinn von Einzelstellen  – im Gegenteil: Sie vergrößern den Aspektreichtum der Exkursstrophen. Der Minneexkurs ist nicht nur eine Ansammlung von bloß potentiellen thematischen Motiven, er ist ebenso sehr eine Ansammlung von Bildern, die in einige Aspekte aufgefaltet werden, die aber in ihrer Gesamtheit eben gerade kein kohärentes Bild mehr vermitteln.

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Wenn also der Exkurs eine thematische und bildliche Ansammlung von Redeweisen über die Minne ist, die erstens in kaum erkennbarer spezifischer Beziehung zur erzählten Geschichte steht und die zweitens permanent ihre eigene Inkohärenz zum Ausdruck bringt, nach welchem Selektionsprinzip geht dann der Erzähler vor? Was regiert das Syntagma? Achtet man nun weniger auf das ‚Was‘, sondern vielmehr auf das ‚Wie‘ der Verknüpfung, so zeigt sich ein Strukturprinzip: Es ist jeweils das Ende einer Strophe mit dem Beginn der nächsten metonymisch-konnotativ verknüpft, quer zu den Themen und Bildfeldern. Ich gehe kurz hindurch: Das Ende der letzten Erzähl-Strophe führt die Metapher des Herzens als Liebesgefängnis ein, mit der Vokabel geslozzen (47,4). Die nächste Strophe, die erste Exkursstrophe, nimmt weder das Thema noch eigentlich die Metapher auf, sondern liefert mit angest (48,1) eine metonymische Ergänzung, die zu geslozzen in einer realen Kontiguitätsbeziehung steht: angest meint wörtlich Enge, dann Bedrängt-Sein, Not. Der Signifikant angest entfaltet eben diese doppelte Beziehung, indem er jenes Eingeschlossen-Sein bezeichnet und zugleich Nöte, in die sich die Liebenden willentlich hineinbegeben, wenn sie Minne selbst ergreifen (48,2). Die verwirrenden Reflexionen über Bindung und Freiheit, zu denen diese Doppeldeutigkeit Anlass gibt und die wiederum die Dichotomie von Jugend und Alter hervortreiben, beenden die Strophe mit der Rede von der krefte der Minne (48,4). Genau dieser Signifikant kraft wird am Beginn der folgenden Strophe aufgenommen (49,1), nicht aber das Thema: Denn kraft der Minne wird nun nicht mehr hinsichtlich der Auswirkungen auf die Liebenden diskutiert, sondern sie verwandelt sich in ein Wahrnehmungs- und Beschreibungsproblem: Über die Macht der Minne, obwohl sie allerorten spürbar ist, lässt sich weder schreiben noch reden, weil sie zu vielgestaltig ist. Die dafür verwendete Formulierung art und ahte (49,4) scheint die Konnotationen zu ermöglichen, welche die nächste Strophe 50 inaugurieren. Denn in dieser geht es ja gerade nicht, wie es eine linear fortgeführte Reflexion erwarten ließe, um Arten und Beschaffenheiten der Minne. Aber es geht um art, Sippen-Herkunft, und um ahte, ständische Zugehörigkeit, nur eben nicht Herkunft und Stand der Minne, sondern derjenigen, die von ihr betroffen sind, um Geistlichkeit und Rittertum. Auch die Abfolge dieser Strophen verdankt sich weniger inhaltlicher Anknüpfung oder dem Fortschreiben einer Metapher, sondern nebeneinandergestellten Mehrdeutigkeiten von Signifikanten. Wenn Strophe 51 nun mit neuerlichen Ubiquitätstopoi beginnt, so verdanken sie sich abermals einer metonymischen Beziehung: Mit dem engen rûme (50,4), mit dem sich die Minne zuweilen begnügt, wenn sie mit dem Ritter unter den Helm schlüpft, wird daz smal unt daz breite (51,1) konnotiert. Eine inhaltliche Ausfaltung der Rede von dem engen Ritterhelm ist dies nicht, denn jetzt geht es nicht um Aufenthaltsorte der Minne, sondern um das, was sie begriffen hât (51,1): Das Thema des Raumes, das in ganz anderen paradigmatischen Zuordnungen eingeführt wurde, wandert als bare Vorstellung, als Stichwort gleichsam hinüber in neue paradigmatische Zusammenhänge, die nun erst in Strophe 51 entfaltet werden. Paradigma des Raumes meint: im Kleinen wie im Großen, unten und oben und ganz unten, auf Erden, im Himmel, in der Hölle. Die Hölle ist – wie in den Prologen von

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Hartmanns Gregorius und Wolframs Parzival¹⁶ – mit zwîvel konnotiert, und dies bildet den Übergang zur nächsten Strophe 52, die Rückkehr vom Exkurs zur Handlung – in schierer Negation: Hölle = zwîfel mit wanke; die Liebenden = Nicht-zwîfel mit wanke. Das ist keine Ratio, die sich noch bemühte, den Eindruck einer Notwendigkeit und Zwangsläufigkeit des Syntagmas zu erzeugen, sondern eine metonymisch-konnotative Kette an der Textoberfläche, gesetzt vom Erzähler, die den Zirkel schließt, um am Ausgangspunkt wieder anzukommen: bei den so reinen Liebenden. Auch für den Minneexkurs gilt, dass weder paradigmatische – also themenbezogene oder metaphorische – noch syntagmatische Beziehungen das Erzählte dominieren: Es ist die eigentümliche Kombination beider Prinzipien, eine Entfaltung meist denotativ-inhaltlicher Perspektiven innerhalb einer Strophe, die verkettet werden durch primär metonymisch-konnotative Beziehungen zwischen den Strophen. Eine kurze Schlussbetrachtung: Es scheint eine Eigenart von Wolframs Umgang mit Topoi und Metaphern zu sein, dass er deren diverse sinnstiftende Beziehungen simultan zur Geltung bringt, und vor allem, dass er sie nebeneinander bestehen lässt, ohne sie in eine Ratio des Erzählten erklärend aufzulösen. Wolframs Umgang mit Metaphern und den Signifikanten, aus denen die Metaphern bestehen, setzt auf Evidenz in einem ganz bestimmten Sinne: Er setzt darauf, Verschiedenes gleichzeitig sichtbar zu machen. Da wir nun kein Organ zur Wahrnehmung von Simultanität haben, lösen wir Leser das beschreibend in ein Nacheinander auf. Was dabei zum Vorschein kommt, ist weniger ein Verfahren der Sinnstiftung des Erzählten, also weniger eine Ratio des zu Erzählenden, sondern vor allem eine Ratio des Erzählens, mithin eine Reflexion auf das ‚Wie‘ des Erzählens einer Geschichte. Wenn das ein so flüchtiger Blick überhaupt erlaubt, könnte man, dieses kontrastierend, über Gottfried sagen: Auch Gottfried arbeitet mit den pluralen paradigmatischen und syntagmatischen Beziehungen seiner Signifikanten. Doch bei ihm steht die Evidenz der Bilder, Metaphern und Vergleiche im Dienste einer Ratio des Erzählten: Die Beziehungs- und Sinnbildungspotentiale der Signifikanten werden expliziert und entfaltet und nachvollziehbar nacheinander für das Erzählte fruchtbar gemacht. Wolframs Texte lassen sich begreifen als Experimente sprachlicher Domestizierung der wilden, nicht zu bändigenden Bezüge der Signifikanten. Dabei erweist sich an entscheidenden Stellen die Sprache als unzulänglich, Kohärenz herzustellen und die Komplexität der fiktionalen Welt einzufangen. Gerade darin enthüllt sie zugleich die Komplexität und Totalität dieser Welt, eben indem sie – um mit Paul de Man zu reden  – die Totalitätsansprüche der Metapher, d.  h. die angemaßte, autoritäre Hie-

16 Hartmann von Aue: Gregorius. Hrsg. von Hermann Paul. Neu bearb. von Burghart Wachinger, Tübingen 2004 (ATB 2), V. 167  f. – Zu den Beziehungen zwischen Hartmanns und Wolframs zwîfelKonzeptionen siehe ausführlich Helmut Brackert: Zwîvel. Zur Übersetzung und Interpretation der Eingangsverse von Wolframs von Eschenbach Parzival. In: Blütezeit. Fs. für L. Peter Johnson. Hrsg. von Mark Chinca/Joachim Heinzle/Christopher Young, Tübingen 2000, S. 335–347.

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rarchisierung von Signifikantenbeziehungen zurückweist und als unzulänglich entlarvt.¹⁷ Gerade dieses Offenlegen der „schwindelerregende[n] Möglichkeiten referentieller Verirrung“¹⁸ scheint mir die produktivste Leistung Wolframs zu sein. Ob das freilich zur Beschreibung eines ‚Personalstils‘ ausreicht, wage ich kaum zu beurteilen. Wie exklusiv, wie vollständig und wie distinkt müsste ein poetisches Prinzip sein, damit es als Beschreibung eines ‚Personalstils‘ gelten dürfte? Ich glaube zumindest, dass sich auf die skizzierte Weise ein poetisches Verfahren relativ präzise beschreiben lässt, das die verschiedenen Dimensionen der Texte Wolframs integrierend erfasst. Insofern dabei die durch metonymische Beziehungen strukturierte Textoberfläche eine sehr charakteristische Rolle spielt, kann dieses poetische Verfahren als stilistisches Phänomen begriffen werden. Doch ist das distinkt und exklusiv genug, mit hinreichender Abgrenzungskraft versehen? Man mag mit einigem Recht einwenden, dass es hier am Ende um Phänomene sprachlicher Referenzialität geht, die von solcher Allgemeinheit sind, dass sie nicht oder wenig zur Abgrenzung bestimmter Textprofile und Stile taugen. Die Zitate zum Dekonstruktivismus legen diesen Gedanken nahe. ‚Personalstil‘, ‚Textprofil‘ ist etwas, was sich am Ende wohl nur im Vergleich bewähren kann. Was sich an diese skizzenhaften Vorüberlegungen anschließen müsste, wäre eine vergleichende Untersuchung möglicherweise verwandter Texte ähnlicher Komplexität mit den gleichen Analysewerkzeugen – zu denken wäre nicht nur an Gottfried, sondern besonders auch an allegorisierende Erzählungen, an die sogenannten Wolfram-Nachfolger, an Minnelyrik mit ihrer komplexen Bildlichkeit. Die hier vorgelegten Ausführungen wollen nichts anderes sein als ein Vorschlag, wie ein solcher Vergleich begonnen werden könnte.

17 Paul de Man: Lesen (Proust). In: ders.: Allegorien des Lesens. Aus dem Amerikanischen von Werner Hamacher/Peter Krumme, Frankfurt a. M. 1988, S. 91–117 [zuerst engl. 1979], S. 96–112. 18 de Man (Anm. 17), S. 40.

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 Stephan Fuchs-Jolie

Andreas Hammer

Hartmann von Aue oder Hans Ried? Zum Umgang mit der Text- und Stilkritik des ‚Ambraser Erec‘ Der Begriff des Stils ist nicht nur für die mittelalterliche Literatur sehr dehnbar und schwer zu bestimmen. Grund dafür ist unter anderem, dass der Stilbegriff auch ein normativer ist: Er ist abhängig von bestimmten Wertvorstellungen, seien es die der zeitgenössischen Rezipienten, seien es die der modernen Forschung; erstere eher subjektiv, letztere um Objektivität bemüht – zumindest wenn es darum geht, einem Autor guten oder eher schlechten Stil zuzuschreiben. Versucht man, anstelle eines solchen wertenden,¹ also auf die Qualität rekurrierenden Stilbegriffs, einen systematischen oder, wie es Paul Zumthor² genannt hat, einen generalisierenden statt eines individualisierenden anzuwenden, so kennzeichnet der Begriff Stil „die Vorstellung einer formalisierenden Veränderung, die auf einen Gegenstand einwirkt. […] Mehr oder weniger explizit heißt Stil also Technik, Brauch“.³ Stil hat somit einerseits sprachliche Voraussetzungen (Mit welchen sprachlichen Mitteln werden z.  B. Gegenstände, Personen, Gefühle etc. beschrieben?), andererseits auch textuelle (Wie wird beispielsweise eine Erzählung oder eine Erzähleinheit aufgebaut und gegliedert?), hierin bildet sich dann der ‚Erzählstil‘ eines Autors ab.⁴ Innerhalb der mhd. Literatur haben sich einige Autoren als sogenannte ‚Klassiker‘ etabliert, und zwar nicht erst in der Sichtweise einer modernen Philologie, sondern durchaus bereits in der unmittelbaren Nachwirkung ihrer Werke im Mittelalter selbst. Einige dieser ‚klassischen‘ Autoren werden von ihrem ‚Kollegen‘ Gottfried von Straßburg im vielzitierten Literaturexkurs des Tristan z.  T. emphatisch gefeiert, so etwa Walther von der Vogelweide oder Hartmann von Aue. Weniger gut weg kommt jener vindære wilder mære (Tristan, V. 4665),⁵ hinter dem die meisten Interpreten

1 Zur Problematik einer solchen normativen Stilistik vgl. Hans-Werner Eroms: Stil und Stilistik. Eine Einführung, Berlin 2008 (Grundlagen der Germanistik 4), S. 195  f. 2 Vgl. Paul Zumthor: Mittelalterlicher ‚Stil‘. Plädoyer für eine ‚anthropologische‘ Konzeption. In: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1986 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 633), S. 483–496, hier S. 483. 3 Zumthor (Anm. 2), S. 483. 4 Vgl. Eroms (Anm. 1), der einerseits sprachliche Voraussetzungen unter den Gesichtspunkten der Textlinguistik (S. 41–56), andererseits Vertextungsstrategien im Sinne von Erzähl- und Beschreibungsmustern (S. 79–106) herausarbeitet, um Kriterien für Stil und Stilistik erfassen zu können. Zumthor (Anm. 2), S. 486, unterscheidet zwischen Textstil und Werkstil. 5 Ich zitiere aus: Gottfried von Strassburg: Tristan und Isold. Hrsg. von Walter Haug/Manfred Günter Scholz. Mit dem Text des Thomas, hrsg., übers. und komm. von Walter Haug, 2 Bde, Berlin 2011 (Bibliothek des Mittelalters 10; 11).

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Wolfram von Eschenbach erkennen: dessen Erzählstil sei derart komplex, dass seine Geschichten noch Ausdeuter bräuchten, seine Sprache zu kompliziert: ir rede ist niht alsô gevar, / daz edele herze iht lache dar (Tristan, V. 4681  f.). Es ist gut möglich, dass mit der darin liegenden Kritik gegen Wolframs ‚geblümten Stil‘ polemisiert wird, dessen bickelworte (Tristan, V. 4641) keinen Lobpreis verdienten. Einer direkten Namensnennung enthält sich Gottfried, möglicherweise auch im Bewusstsein, dass ein kenntnisreiches Publikum die Anspielungen entsprechend richtig deuten würde.⁶ Hier wird ein Dichterkollege aus stilistischen Gründen kritisiert, demgegenüber Gottfried Hartmann von Aue hervorhebt, dessen cristallînen wortelîn (Tristan, V. 4629) er preist und dessen Erzählungen beide ûzen unde innen / mit worten und mit sinnen / durchverwet und durchzieret (Tristan, V. 4623–4625) seien. Was aber genau sagt diese Kritik aus? Was bedeuten bickelworte gegen cristallîn wortelîn? Was ist, wenn man bei Wolfram bleibt, für Gottfried tatsächlich so schlecht an dessen Ausdrucksweise und Erzählstil – und was genau macht Hartmann dagegen zu einem poetischen Genie? Es handelt sich auch bei Gottfried um wertende, normative Urteile, die an ein offenbar als bekannt vorausgesetztes Stilempfinden gerichtet sind, für das es über das gegebene Lob und den Tadel hinaus keiner ausführlicheren Erklärung bedarf. Auf die zeitgenössische Rezeption dürfte dieses Urteil wenig Auswirkung gehabt haben; zumindest zählen Wolframs Parzival und Willehalm zu den am häufigsten überlieferten Werken des deutschsprachigen Mittelalters. Stilurteile sind eben meist Werturteile, sie sind normativ und – mal mehr, mal weniger – subjektiv, weshalb sie auch nicht von jedermann nachvollzogen werden können und müssen. Auch die moderne Philologie, wenngleich um Objektivität bemüht, kann sich einem solch subjektiven Stilempfinden nicht entziehen. Gottfrieds Kritik an Wolfram wird zwar keinesfalls nachvollzogen, sein Lob Hartmanns dagegen schon, der in den Gründerjahren der Germanistik zu einem der am meisten untersuchten und geschätzten Autoren avancierte. Nicht zuletzt der Begründer der textkritischen Editionspraxis, Karl Lachmann, war es, der mit der Edition des Iwein im Jahr 1827 Maßstäbe setzte; er bezeichnete den Iwein als „eines der lieblichsten gedichte der mittelhochdeutschen sprache“.⁷ Sein Verfahren der Konjekturalkritik hat seitdem Schule gemacht, ebenso die Regeln, die er dabei für die Einrichtung eines ‚Normalmittelhochdeut6 Zu diesem Stilmerkmal vgl. Kurt Nyholm: Studien zum sogenannten geblümten Stil, Åbo 1971 (Acta Academia Aboensis. Ser. A, Humaniora 39,4), der allerdings ausschließlich spätmittelalterliche Dichter als ‚Nachahmer‘ Wolframs untersucht; vgl. bes. S. 9–14. Die These, dass hier tatsächlich gegen Wolfram polemisiert wird, ist in der Forschung auf breite Zustimmung gestoßen, vgl. dazu umfassend Sigrid Müller-Kleimann: Gottfrieds Urteil über den zeitgenössischen deutschen Roman. Ein Kommentar zu den Tristanversen 4619–4748, Stuttgart 1990 (Helfant-Studien 6); Werner Hoffmann: Die vindaere wilder maere. In: Euphorion 89 (1995), S. 129–150, sieht neben Wolfram auch Ulrich von Zatzikhoven angesprochen. Gegen die These, hier eine Kritik an Wolfram zu sehen, wendet sich u.  a. Peter Ganz: Polemisiert Gottfried gegen Wolfram? (Zu Tristan Z. 4638  f.). In: PBB 88 (1967), S. 68–85. 7 Iwein, der Riter mit dem Lewen. Getihtet von dem Hern Hartman, Dienstman ze Ouwe. Hrsg. von G[eorg] F[riedrich] Benecke/Karl Lachmann, Berlin 1827, S. III.

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schen‘ setzte. Es sollte bald darauf eine erste Edition des Erec durch Moriz Haupt, den Lachmann als Mentor begleitete, folgen.⁸ Anders als Lachmanns Ausgabe des Iwein entfachte sich darüber ein lange währender Forschungsstreit, der größtenteils mit der prekären Überlieferungssituation dieses Werkes zusammenhängt – und der darum nicht zuletzt auf der Basis von stilistischen Argumenten geführt worden ist. Der folgende Beitrag möchte zeigen, wie schwierig und heikel sich die textkritische Diskussion um den Erec darstellt, zumal wenn hierfür eine stilistische Einordnung Hartmanns und des Erec ins Spiel kommt. Denn anders als Moriz Haupt und seine Nachfolger sich erhofften, ist in vielen Fällen kaum mehr zu unterscheiden, was nun Hartmanns Stil ist oder war – oder was abhängig ist von der Überlieferung und Rezeption des 16. Jahrhunderts, aus dem die einzige Handschrift dieses Textes stammt. Die hier präsentierten Überlegungen und Beobachtungen entspringen den Arbeiten an einer Neuediton des Erec nach dem Text des Ambraser Heldenbuches, d.  h. ohne die bisher obligatorische Rückübersetzung des frnhd. Textes in ein normalisiertes Mittelhochdeutsch und unter Einbeziehung der im Verbund mit dem Erec-Text überlieferten ‚Mantel‘-Erzählung. Sie sollen einen neuen Blick auf die HartmannPhilologie werfen und versuchen, den Text des ‚Ambraser Erec‘ als ein Zeugnis des 16. Jahrhunderts ernst zu nehmen.⁹

Probleme einer Text- und Stilkritik Wohl kein Text des deutschsprachigen Mittelalters besitzt, gemessen an der ihm zugeschriebenen Bedeutung, eine derart prekäre Überlieferungslage wie der Erec Hartmanns von Aue. Annähernd vollständig ist er nur in einer einzigen Handschrift überliefert, dem sogenannten Ambraser Heldenbuch, das der Zollschreiber Hans Ried 1504–1515 im Auftrag Kaiser Maximilians angelegt hat.¹⁰ Für Textkritik und Editionsphilologie stellt das Ambraser Heldenbuch bekanntlich eine große Herausforderung dar, da sich die über drei Jahrhunderte, die zwischen der angesetzten Entstehung des

8 Erec. Eine Erzählung von Hartmann von Aue. Hrsg. von Moriz Haupt, Leipzig 1839. 9 Diese Edition wird erstellt im Rahmen eines DFG-Projekts, das von Timo Reuvekamp-Felber, Victor Millet und mir geleitet wird. Bei Timo Reuvekamp-Felber und Victor Millet sowie den Göttinger Projekt-Hilfskräften Lydia Merten und Hannah Rieger möchte ich mich an dieser Stelle für ihre Anregungen bedanken: Ein Großteil der hier versammelten Überlegungen entspringt den vielfältigen Diskussionen aller an dem Projekt Beteiligten. 10 Eine genaue Beschreibung der Handschrift bietet der Kommentar zur Faksimileausgabe von Franz Unterkircher: Ambraser Heldenbuch. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat des Codex Vindobonensis series Nova 2663 der Österreichischen Nationalbibliothek, Graz 1973 (Codices selecti 43); vgl. auch schon ders.: Das Ambraser Heldenbuch. In: Der Schlern 28 (1954), S. 4–15. Zu Hans Ried und seiner langjährigen Arbeit an diesem Werk vgl. auch Martin Wierschin: Das Ambraser Heldenbuch Maximilians I. In: Der Schlern 50 (1976), S. 429–441; S. 493–507; S. 557–570.

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Werkes und seiner schriftlichen Ausgestaltung liegen, in einer konsequenten Übertragung der mhd. Sprachstufe in ein seinen Zeitgenossen geläufiges Frühneuhochdeutsch durch den Schreiber Hans Ried niederschlagen.¹¹ Ried galt der textkritischen Editionsphilologie lange Zeit als stumpfer Abschreiber, der die großartigen Texte, die er kopierte, weder zu verstehen und schon gar nicht zu würdigen imstande war, so dass Edward Schröder konstatiert: Soll unter diesen Umständen der Herausgeber  – ich meine der kritische, dem Autor und der Literaturgeschichte, nicht dem Schreiber verpflichtete kritische Herausgeber unseres Textes die Hände in den Schoß legen? Nein, ganz gewiß nicht! Nachdem er sich durch gründliches Studium durch Sprache und Prosodie, Sprachstil und Versstil mit dem Dichter ganz vertraut gemacht hat, muss er die Verantwortung übernehmen, auch hier den Schreiber vorsichtig zu korrigieren, selbst auf die unvermeidbare Gefahr hin, den Dichter zu verbessern.¹²

Es geht also darum, den Stil des Dichters nachzuempfinden, und selbst wenn nicht alle Verbesserungen unbedingt nötig seien, so „handeln wir ihm [dem Dichter] gegenüber richtiger und verantwortungsvoller, als wenn wir das Unkraut wuchern lassen, das sich in der Überlieferung eingeschlichen hat“.¹³ So kommt es, dass die kritischen Editionen den Erec mit einem wahren Teppich von Konjekturen unterlegt haben, viele davon aus rein stilistischen oder metrischen Erwägungen heraus. Ein Großteil dieser Eingriffe geht noch auf die beiden Ausgaben von Moriz Haupt zurück (Erstausgabe des Erec 1839, zweite, verbesserte Auflage  1871). Ein Gutteil dieser Konjekturen haben die seitdem erschienenen Editionen bis heute übernommen, mal näher am Riedschen Text, mal weiter von der Handschrift

11 Die sprachlichen Eigenheiten Rieds, die bei der Umwandlung in eine frnhd. Sprachstufe und in den Tiroler Schriftdialekt zu beobachten sind, beschreibt Thomas Thornton: Die Schreibgewohnheiten Hans Rieds im Ambraser Heldenbuch. In: ZfdPh 81 (1962), S. 52–82, der konstatiert, dass Ried „sich stark dem Kanzleistil anschließt“ (S. 53). Seine Untersuchung bietet freilich „eine zu schmale Vergleichsbasis“, wie Kurt Gärtner: Hartmann von Aue im Ambraser Heldenbuch. In: cristallîn wort. Hartmannstudien 1. Hrsg. von Waltraud Fritsch-Rössler, Wien u.  a. 2007, S. 199–212, hier S. 207, bemerkt. Gärtner fordert daher zu Recht eine „zusammenfassende Untersuchung“ (ebd.), welche sämtliche Texte des Ambraser Heldenbuches in Hinblick auf Sprache, Wortschatz und den entsprechenden Veränderungen Rieds erfassen könnte. Er schließt sich dabei Albert Leitzmann an, der bereits im Vorfeld seiner ersten Erec-Ausgabe in einer umfangreichen Studie die sprachlichen Neuerungen Rieds im Erec-Text zu systematisieren versucht hat, vgl. Albert Leitzmann: Die Ambraser Erecüberlieferung. In: PBB 59 (1935), S. 143–234, hier S. 189. Eine solch wünschenswerte Untersuchung steht bis heute aus, bisher sind derartige Fragen detailliert nur zu einzelnen Texten erörtert worden, so in den beiden unveröffentlichten Wiener Dissertationen von Hubert Schützner: Die Abschrift des Iwein im Ambraser Heldenbuch, Diss. masch., Wien 1930; sowie Rudolf Zimmerl: Hans Rieds Nibelungenkopie, Diss. masch., Wien 1930. 12 Edward Schröder: Der Ambraser Wolfdietrich. Grundlagen und Grundsätze der Textkritik. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 1931, Phil.-hist. Klasse 82, Berlin 1931, S. 210–240, hier S. 232. 13 Schröder (Anm. 12), S. 232.

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entfernt.¹⁴ Alle Ausgaben arbeiten sich am z.  T. nur schwer verständlichen Text des Ambraser Heldenbuches ab und versuchen, die frnhd. Sprachstufe des Hans Ried in ein normalisiertes Mittelhochdeutsch rückzuübersetzen, die Verse metrisch zu glätten sowie vermeintliche Sinnentstellungen zu korrigieren. Dass eine solche, den Prinzipien Lachmanns verpflichtete Normalisierung ebenfalls ein Kunstprodukt ist, das von der fraglichen Überzeugung ausgeht, es habe auch im 12./13. Jahrhundert eine Art beständiges Hochdeutsch gegeben, welches nachträglich von den ungebildeten Abschreibern wieder verderbt worden sei, erhöht die Problematik eines derartigen Unterfangens, einem Hartmannschen Originaltext möglichst nahezukommen. Wie sollte man angesichts der dürftigen Überlieferungslage überhaupt noch Hartmanns Sprach- und Versstil, wie es Edward Schröder gefordert hat, rekonstruieren? Dennoch war man sich in den Anfängen der Editionsphilologie mehr oder weniger sicher zu wissen, wie Hartmann gesprochen bzw. geschrieben habe, wie sein Text des Erec ausgesehen hat, wie Hartmann gedichtet hatte – oder haben sollte  – und lieferte dafür vielfach stilistische Begründungen. Für Aussagen zu Hartmanns Stil wurde immer wieder – auch von den Kritikern der ersten Ausgabe Haupts  – Lachmanns Edition des Iwein und das von ihm und Georg Friedrich Benecke erstellte Wörterbuch im Anhang dieser Ausgabe herangezogen. Wie authentisch ein so erstellter Text wirklich ist, bleibt daher nach wie vor die große Frage. Dass man sich dabei mehr oder weniger im Kreis bewegte, schien nicht weiter zu stören: Aussagen zu Hartmanns Stil können nur anhand der Ausgaben getroffen werden, die Rückübersetzung, Normalisierung und eine Fülle von Konjekturen beinhalten, was insbesondere im Falle der Erec-Überlieferung dazu führt, einen Text nach den Merkmalen zu rekonstruieren, die man eigentlich erst daraus gewinnen möchte.¹⁵

14 Vgl. Manfred Günter Scholz: Der Erec-Text zwischen Albert Leitzmann/Ludwig Wolff und Lambertus Okken/Hans Ried. In: cristallîn wort (Anm. 11), S. 260–279, hier bes. S. 262–267, der den Umgang der bisherigen Editoren mit dem Text des Ambraser Heldenbuches anhand von gut dreißig Versen miteinander vergleicht. 15 Zwar ist sich auch die Textkritik des 19. Jahrhunderts dieser Problematik als solcher bewusst, hat damit jedoch wenig Schwierigkeiten, wie beispielsweise aus einer Bemerkung Franz Pfeiffers erkennbar wird: „Man mag dieß Verfahren willkührlich nennen; im Grunde steht aber nur eine Willkühr der andern gegenüber, mit dem wichtigen Unterschied jedoch, daß die Willkühr dort, in den Handschriften, in Unwissenheit und allgemeiner übler Gewohnheit ihren Grund hat, während sie hier auf besserer Erkenntnis, auf Erfahrung und Übung beruht“ (Franz Pfeiffer: Über Hartmann von Aue. In: Germania 4 [1859], S. 185–237, hier S. 185). Zur grundsätzlichen Problematik der Lachmannschen Methode der Textkritik vgl. Magdalene Lutz-Hensel: Prinzipien der ersten textkritischen Editionen mittelhochdeutscher Dichtung. Brüder Grimm – Benecke – Lachmann. Eine methodenkritische Analyse, Berlin 1975 (Philologische Studien und Quellen 77), zu stilistischen Erwägungen vgl. dort S. 389–400; grundlegend für die textkritische Editionsphilologie des 20. Jahrhunderts dann Karl Stackmann: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. In: Kleine Schriften, Bd. 1. Hrsg. von Jens Haustein, Göttingen 1997 (zuerst 1964). Die Forschungspositionen der modernen Textkritik bis heute fasst zusammen Martin Baisch: Textkritik als Problem der Kulturwissenschaft. Tristan-Lektüren, Berlin, New York 2009 (Trends in Medieval Philology 9), hier S. 4–13.

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Wie sehr eine solche Textkritik auf einem mehr oder weniger indifferenten und subjektiv-rekonstruierten Stilempfinden gründet, belegt exemplarisch Franz Pfeiffer, der sich in besonderem Maße berufen fühlte, Hartmanns Original zu ‚retten‘. Zu Haupts Lesart von V. 1247 seiner ersten Ausgabe (V. 1248 der heute gängigen Editionen), er gwaltte mir mit sîner hant (anstelle des handschriftlichen geweltigt mich), muss er „im Namen des Dichters Einsprache erheben: solche Roheiten dürfen ihm nicht aufgebürdet werden“.¹⁶ Hier wie anderswo wird die Textkritik des Erec an den stilistischen Merkmalen des Iwein, aber auch denen anderer Werke Hartmanns (u.  a. des Gregorius und der Lyrik) festgemacht, ohne dabei jedoch in Rechnung zu stellen, dass diese Erkenntnisse ebenfalls nur aus kritischen Ausgaben gewonnen sind (insbesondere Lachmanns Iwein), deren Texte auf ähnliche Weise entstanden und mit vergleichbaren Problemen belastet waren, auch wenn aufgrund der günstigeren Überlieferungssituation diesen Editionen mehr handschriftliches Vergleichsmaterial zur Verfügung stand.¹⁷ Für die Erec-Philologie stellt sich dabei die Frage, inwieweit überhaupt noch stilistische Erwägungen dazu dienen können, eine wie auch immer geartete Authentizität des Hartmann-Textes herzustellen, wie die nachfolgenden Beispiele unterschiedlicher Lesarten aufzeigen. Wie unbesorgt die Konjekturalkritik bisweilen mit dem Erec-Text umging, hat vielleicht am deutlichsten die bekannte Konjektur in V. 8521 um den saelden wec gezeigt, die gegen die Lesart der Handschrift (die von dem selbic weg spricht; so auch Haupts Ausgabe) von Fedor Bech eingeführt und von Leitzmann übernommen wurde und die erst seit wenigen Jahren wieder aus den maßgeblichen Ausgaben verschwunden ist – nicht ohne in der Zwischenzeit erhebliche Forschungsdiskussionen ausgelöst zu haben.¹⁸ Die im Folgenden vorgestellten Lesarten des ‚Ambraser Erec‘ dürften zwar keine derart spektakulären Forschungsmissverständnisse aufdecken, zeigen jedoch, dass der Wortlaut des Ambraser Heldenbuches durchaus einen sinnvollen Text vorhält, der nur sehr selten wirklich unverständlich ist und einer Korrektur bedarf, freilich ohne darin Hartmanns Original sehen zu wollen. Die Lesarten zeigen

16 Pfeiffer (Anm. 15), S. 199. 17 Vgl. z.  B. die Studie von Anthony van der Lee: Der Stil von Hartmanns Erec, verglichen mit dem der Älteren Epik, Utrecht 1950, die Leitzmanns Ausgabe von 1939 zur Grundlage hat und mit anderen Werken (Rolandslied, König Rother, Veldekes Eneit u.  a.), ebenfalls basierend auf den kritischen Ausgaben, hinsichtlich sprachlicher und rhetorischer Stilmittel vergleicht. Diese Ergebnisse wären am handschriftlichen Material des Ambraser Heldenbuches zumindest zu überprüfen. Eine der frühesten Stiluntersuchungen zu Hartmann von Aue (Carl Schmuhl: Beiträge zur Würdigung des Stiles Hartmanns von Aue. Beilage zum Programm der Lateinischen Hauptschule zu Halle, Halle a. d. S. 1881) zieht immerhin vergleichend die Lesarten der Hs. mit ein. 18 Vgl. dazu Manfred Günter Scholz: Der hövesche got und der Saelden wec. Zwei Erec-Konjekturen und ihre Folgen. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Christoph Huber/Burghart Wachinger/Hans-Joachim Ziegeler, Tübingen 2000, S. 135–152.

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jedoch, dass das, was man ‚Hartmanns Stil‘ nennt, einem Text des frühen 16. Jahrhunderts förmlich aufgezwungen wird, ihm aber keinesfalls gerecht werden kann (ob dagegen die Konjekturen Hartmann gerecht werden können, ist keine Stil-, sondern eher eine Glaubensfrage). 1. Als Graf Oringles auf den scheintoten Erec und die ihr Leid klagende Enite trifft, ist er von Enites Schönheit so überwältigt, dass er ihr einen Heiratsantrag macht. Dabei fordert er sie zunächst auf, ihre Klage doch nun endlich sein zu lassen: Zwar sei es richtig, den Ehemann zu betrauern, doch er fährt (nach der Ausgabe von Kurt Gärtner) fort: diz ist der schœniste list / der vür schaden wæne ich vrum ist, / daz man sichs getrœste enzît.¹⁹ Der ‚Ambraser Erec‘ lautet jedoch: für schaden der euch wenig frůmb ist. Das macht auf den ersten Blick wenig Sinn – warum sollte man sich um einen Schaden trösten, der einem wenig nützt?²⁰ Verständlich wird diese Stelle vielleicht, wenn man Oringles Rede weiterverfolgt: Dieser gibt sich erst dann nämlich als Graf zu erkennen, verspricht Enite, ihre Armut in Reichtum zu verwandeln, und leitet seinen Heiratsantrag ein, indem er konstatiert: Secht nu wirt euch wol schein / das euch ewrs mannes todt frumet.²¹ Dies korrespondiert mit der oben getroffenen Aussage: Oringles sucht zunächst Enite damit zu beruhigen, sie solle nicht allzusehr weinen, auch wenn ihr der Schaden augenscheinlich wenig Nutzen bringe, um ihr

19 V. 6230–6232 nach der Ausgabe von Gärtner (Hartmann von Aue: Erec. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Fragmente. Hrsg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 2006 [ATB 39]). Versangaben und Zitate eines normalisierten, rückübersetzten Textes folgen der besseren Nachvollziehbarkeit stets dieser Ausgabe, vergleichend dazu wird die vorläufige Edition des ‚Ambraser Erec‘ hinzugezogen; auch hier richten sich die Versangaben aus Gründen der Nachvollziehbarkeit nach der ATB-Ausgabe. Diese Konjektur, der alle Herausgeber bis ins 21. Jahrhundert folgen, geht auf die Ausgabe von Fedor Bech (Hartmann von Aue. Erster Theil. Erec der wunderære, Leipzig 1867 [Deutsche Classiker des Mittelalters 4]) zurück. 20 Die Lesart der Handschrift hat der Textkritik viel Kopfzerbrechen bereitet. Reinhold Bechstein: Zu Hartmanns Erec. 14. Aventiure. Conjecturen und Restitutionen. In: Germania 25 (1880), S. 319–329, hier S. 319–321, diskutiert die verschiedenen Lesarten (bis Haupts zweiter Auflage nicht weniger als fünf unterschiedliche Vorschläge), nimmt jedoch einen Fehler des Schreibers an, um dann einen eigenen Vorschlag zu machen: für schaden, der niuwan ze frumen ist („Gegen einen Schaden, der nur zum Nutzen gereicht“). Zur Rettung der Konjektur führt er auch stilistische Gründe an: „Aber nun fragt sich’s: ist diese Lesung auch formal Hartmann angemeßen? Darauf ist zu antworten: nein. Hartmann gebraucht niemals niwen auch einsilbig wie Gottfried, sondern stets zweisilbig, entweder niwán oder níuwan; somit gehört niwen nur der Vorlage des Schreibers an; diese Vorlage fehlte also gegen Hartmanns metrischen Gebrauch. Deßhalb muß der Vers ursprünglich gegen das Ende zu anders gestaltet gewesen sein. Ich vermuthe deßhalb: für schaden, der níuwan frúmende (frument) íst. Die Umschreibung des Verbums durch das Part. pras. in Verbindung mit dem Verbum substantivum ist Hartmann geläufig.“ (ebd., S. 321). Dieser, in den späteren Ausgaben nicht beachtete Vorschlag zeigt, wie sehr man sich im Spekulativen verlieren kann, wenn man vermeintliche metrische und stilistische Argumente veranschlagt, um ein verlorenes Original wiederherzustellen. 21 Entspricht V. 6267  f.: sehet, nû wirt iu wol schîn / daz iu iuwers mannes tôt vrumt.

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dann zu eröffnen, dass ihr der Tod ihres Mannes eben doch nützlich sein könne: dann nämlich, wenn sie ihn, den mächtigen Grafen, heirate.²² 2. Nachdem Erec wieder genesen ist und Oringles in seine Schranken verwiesen hat, reitet er mit Enite den Weg von dessen Schloss zurück. Sämtliche Ausgaben führen dann aus: ûf die strâze er kêrte / die er gebâret dar reit (V. 6747  f.: „er kehrte auf die Straße zurück, die er zuvor auf der Bahre gekommen war“). Die Konjektur gebâret (V. 6748) geht auf einen Vorschlag von Reinhold Bechstein zurück, die Handschrift hat nämlich gewert, aus dem Bechstein gebert =  gebârt liest, wobei er einschränkend zugibt, dass Hartmann im Iwein dieses Partizip nur einmal in der Form gebârt gebraucht und möglicherweise nie gebêrt gesagt habe.²³ Damit unterstellt Bechstein nicht nur, dass Hans Ried beim Schreiben dieses Wortes b und w vertauscht hat (was öfter vorkommt), sondern auch, dass er oder seine Vorlage von der geläufigen Form gebart (mit a) auf die Nebenform gebert (mit e) ausweichen.²⁴ Es stellt sich die Frage, warum man so komplizierte Annahmen machen muss, anstatt beim handschriftlichen Text zu bleiben: Entweder, man belässt es bei gewert, dann hieße es, dass Erec die Straße nun wieder gewappnet entlangreitet, nachdem er es zuvor bewusstlos und ohne seine Waffen führen zu können tat. Das wäre zwar sprachhistorisch nicht befriedigend, weil gewehrt (als Nebenform von bewehrt) nur selten und erst im 16. Jahrhundert belegt, ansonsten aber immer in der Formel der ‚gewehrten Hand‘ überliefert ist; es spräche dennoch nichts dagegen, dass zumindest Hans Ried diese Wortbildung geläufig war.²⁵ Genauso bedenkenswert ist ein Vorschlag Okkens, hier einen einfachen Augensprung des Schreibers zu vermuten und statt gewert vielmehr gegenwert zu lesen: Dann hieße das, Erec ritte einfach die Straße wieder in die entgegengesetzte Richtung.²⁶ 3. Zuletzt noch zwei Stellen, bei denen die Lesart der Handschrift zumindest in der Edition von Manfred Günter Scholz bereits Berücksichtigung gefunden hat: Wenn ganz am Anfang der Erec-Handlung zunächst eine Jungfrau zu Iders und dem Zwerg geschickt und von diesem dann mit der Geißel geschlagen wird, so kommentiert der Erzähler (V. 59) nach dem Text des Hans Ried: mit solher abentewr schied sy dann. Desgleichen heißt es nach Erecs Sieg über Iders und dessen Unterwerfungsangebot (V. 964): Des abenteurt In Ereck do. Seit der Ausgabe von Moriz Haupt haben (auf

22 Auf diesen Umstand macht bereits Wilhelm Müller: Zu Hartmann’s Erek. In: Germania 7 (1862), S. 129–140, hier S. 136, aufmerksam und schlug als Lesart vor: für schaden, der ouch frum ist; vgl. dann auch Gustav Ehrismann: Textkritische Bemerkungen. 1. Zum Erec. 2. Zum Iwein. 3. Zum Armen Heinrich. In: PBB 24 (1899), S. 384–391, hier S. 384  f. 23 Vgl. Bechstein (Anm. 20), S. 328  f. 24 „Möglich, dass Hartmann nur gebâret sagte wie im Iwein 1305, doch läßt es sich nicht entscheiden. Jedenfalls war ihm diese Participialbildung geläufig“, Bechstein (Anm. 20), S. 329. 25 Vgl. DWB, Bd. 6, Sp. 5421  f. ‚Echt Hartmannisch‘ wäre der Vers dann freilich nicht mehr. 26 Vgl. die Edition Okkens: Hartmann von Aue: Der Ambraser Erec-Roman. Transkription mit Erläuterungen. Hrsg. von Lambertus Okken, 3 Hefte, Bilthoven 2000–2003, hier Heft 2, S. 369.

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einen Vorschlag Lachmanns) alle anderen Herausgeber abentewr stets in antwurt umgewandelt (mit selher antwurt schiet si dan – Des antwurte im Êrec dô). Auch wenn die Lesart der Handschrift unkonventionell sein mag und „die Wörterbücher aventiuren mit personalem Objekt nicht kennen“²⁷, hat sie hier durchaus ihre Berechtigung: Das Wort Abenteuer bzw. eben âventiure scheint hier geradezu programmatisch verwendet zu sein; zum einen, weil die erste Stelle ja tatsächlich die Initialaventiure Erecs auslöst, der in Vers 492 selbst sagt, dass er auf abenteure reite; in V. 964, unmittelbar nach dem Kampf mit Iders, hat er sie dann erfolgreich bestanden: Er ist einer, der aventiurt, wobei die eigentlichen abenteure jetzt erst ihren Anfang nehmen, so dass der Eindruck entsteht, der Text spiele hier regelrecht mit diesem für den Artusroman konstitutiven Begriff – nicht durch eine ironische Brechung wie im Iwein auf die Frage aventiure, was ist das?, sondern auf der Wortebene.

Der Erec und der ‚Mantel‘: Zwei Fragmente oder ein Text? Abseits einer solchen Text- und Stilkritik ist der aventiure-Begriff noch in anderer Hinsicht programmatisch, und zwar was die Anbindung des Erec an das sogenannte ‚Mantel‘-Fragment betrifft, das in der Handschrift unmittelbar vorangeht, denn bekanntlich fehlt dem Erec des Ambraser Heldenbuches der Anfang. Hartmanns Erzählung ist ein Text vorangestellt, der allgemein als ‚Mantel‘ bezeichnet wird und, wohl im Rückgriff auf ein altfranzösisches Vorbild, von einer Tugendprobe am Artushof erzählt, welche die dortigen Damen mithilfe eines Mantels bestehen müssen. Mitten im Satz, ohne Reim und in der Handschrift durch nichts kenntlich gemacht, setzt dann unvermittelt die Handlung des Erec ein, wie sie aus Chrétiens Vorlage bekannt ist. Aufgrund dieses plötzlichen und unorganischen Überganges ist vielfach vermutet worden, dass Ursache hierfür ein Defekt der Vorlage sein könnte, ein Seitenausfall beispielsweise, der den Schluss des ‚Mantels‘ und den Anfang des Erec verloren gehen ließ, und man hat dem Schreiber Hans Ried gar unterstellt, ihm sei eine solche Lücke gar nicht bewusst gewesen.²⁸ Dagegen stehen Überlegungen, wonach die ‚Mantel‘-Erzählung als Ersatz für einen (wie auch immer verloren gegangenen) Anfang des Erec wohl weniger Hans Ried zuzuschreiben ist, sondern vielmehr bereits

27 Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. von Manfred Günter Scholz, übers. von Susanne Held, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 5), S. 662, Kommentar zu V. 964. 28 Am apodiktischsten vielleicht Volker Honemann: Erec. Von den Schwierigkeiten, einen mittelalterlichen Roman zu verstehen. In: Germanistische Mediävistik. Hrsg. von Volker Honemann/ Tomas Tomasek, Münster u.  a. 1999, S. 89–122, hier S. 90: Hans Ried habe „wohl gar nicht bemerkt, dass hier ein neues Werk begann“.

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seine Vorlage eine solche Kompilation dargestellt haben dürfte.²⁹ Dafür sprechen zahlreiche Bezüge und Verweise auf die Erec-Handlung, die einem Kompilator offenbar bekannt gewesen sein muss. Über die Gründe einer solchen Kompilation kann man nur spekulieren: Ging der Vorlage des Ambraser Heldenbuches der Anfang des Erec verloren und wurde darum durch den des ‚Mantel‘ ersetzt? Handelt es sich beim ‚Mantel‘ überhaupt um eine ursprünglich eigenständige Erzählung, oder diente die altfrz. Verserzählung Du mantel mautaillé nur als Folie, um einen neuen oder anderen Anfang von Hartmanns Erzählung zu schaffen? Immerhin fällt gegenüber der frz. Version eine entscheidende Änderung auf: Ist es dort die Geliebte des Carados, Galatea, welche die als Keuschheitsprobe angelegte Mantelprobe besteht und damit dem Artushof aus der Verlegenheit hilft, so wird hier Enite, die in der frz. Erzählung gar nicht auftaucht, zur Heldin der Mantelprobe gemacht, und zwar kurz vor dem inhaltlichen und syntaktischen Bruch, der nach allgemeiner Forschungsmeinung zum tatsächlichen Anfang des Erec führt. Leitet die Treueprobe Enites zur eigentlichen Erzählung um sie und ihren Ehemann Erec? „Dann wäre der ‚Mantel‘ kein Fragment, sondern der sekundär hinzugedichtete ‚Erec‘-Anfang. […] Es würde sich lohnen, den umfangreichen ‚Mantel‘-Prolog (Vers 1–90) probeweise als sekundär hinzugedichteten ‚Erec‘-Prolog zu lesen.“³⁰ Betrachtet man dahingehend den ‚Mantel‘ genauer, so fällt zunächst der sehr ausführliche und umständliche Prolog auf, der so gar nicht zur eher schlichten und burlesken Handlung, die dann folgt, passen will.³¹ Der Prolog ist sehr allgemein gehalten und wiederholt die typischen Muster arthurischen Erzählens: Mahnung zur Tugendhaftigkeit und Darstellung von Artus als Ideal höfischer Tugend, das in den

29 Vgl. Joachim Bumke: Der Erec Hartmanns von Aue. Eine Einführung, Berlin, New York 2006, S. 11  f. Eine „beabsichtigte[ ] Kompilation von Mantel und Erec“ vermutet bereits Werner Schröder in seiner Ausgabe des Mantel (Das Ambraser Mantel-Fragment, nach der einzigen Handschrift neu hrsg. von Werner Schröder, Stuttgart 1995 [Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Bd. 33,5], hier S. 167). Schröders Ausgabe ersetzt die von Otto Warnatsch (Der Mantel. Bruchstück eines Lanzeletromans des Heinrich von dem Türlin, nebst einer Abhandlung über die Sage vom Trinkhorn und Mantel und die Quelle der Krone, Breslau 1883 [Germanistische Abhandlungen 2]), ist jedoch wie diese streng nach den textkritischen Maßstäben des 19. Jahrhunderts erstellt – mit den oben skizzierten Problemen insbesondere einer normalisierenden Rückübersetzung. Der von Warnatsch aufgestellten These, der Mantel sei der Beginn einer verlorenen Dichtung Heinrichs von dem Türlin, hat Bernd Kratz: Die Ambraser Mantel-Erzählung und ihr Autor. In: Euphorion 71 (1977), S. 1–17, mit guten Argumenten widersprochen. 30 Bumke (Anm. 29), S. 12. Einen solchen Versuch hat Ineke Hess unternommen, auf deren Ergebnisse ich mich im Folgenden stütze, deren Überlegungen ich dabei aber noch in eine etwas andere Richtung treiben möchte – siehe Ineke Hess: Rezeption und Dichtung im Mittelalter. Zur Überlieferung des Mantel im Ambraser Heldenbuch. In: Lesen und Verwandlung. Lektüreprozesse und Transformationsdynamiken in der erzählenden Literatur. Hrsg. von Steffen Groscurth/Thomas Ulrich, Berlin 2011, S. 155–186, hier bes. S. 159–167. 31 Zur ‚Kopflastigkeit‘ des Prologs vgl. Kratz (Anm. 29), S. 5  f.

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Erzählungen um ihn weiterlebt. Die 90 Verse des Prologs zerfallen in drei fast gleich große Einheiten (28–30–32 Verse), die in der Handschrift jeweils durch Initialen voneinander abgesetzt sind.³² Sie führen, kurz gesagt, vom Allgemeinen zum Besonderen: Der erste Block betrachtet ganz grundsätzlich die Differenz zwischen frumbkeit und Untugend, zwischen guten, ehrbaren und bösen, schändlichen Menschen: Sie zu vergleichen sei aufgrund ihrer absoluten Gegensätzlichkeit gar nicht möglich, man kann entweder nur die Tugendhaften, oder aber nur die Bösen einander gegenüberstellen. Der zweite Abschnitt leitet dann über zu Artus: Der künig Artus, so man sait, der je krone der frümbkait trúg in seinen zeiten, davon noch so weiten sein nam ist bekant. (‚Mantel‘, V. 29–33)³³

Das erinnert an den Prolog des Iwein, der aber nicht die frümbkait, sondern vielmehr saelde und êre (Iwein, V. 3)³⁴ programmatisch setzt. Auch dort ist Artus exemplarisch: er hât bî sînen zîten gelebet alsô schône daz er der êren krône dô truoc und noch sîn name treit. (Iwein, V. 8–11)

Die Parallelen gehen noch weiter: Der dritte Abschnitt des ‚Mantel‘-Prologs führt schon zur eigentlichen Erzählung hin und preist nochmals Tugenden und Ehre des König Artus: man höret In heut nennen nicht anders, dann Er heute lebe. sein tugent von der sälden gebe hat im das gefúeget. (‚Mantel‘, V. 66–69)

Der Erzähler fragt sich, weshalb kaum jemand darüber klagt, dass die Quelle der Tugenden nicht mehr auf der Welt sei, dessen Vorbild doch ewig leben solle, ja dass viele seinen Namen sogar in den Wind schlügen. Im Iwein-Prolog heißt es über Artus weiter:

32 Vgl. Hess (Anm. 30), S. 159, die „das Prologende und de[n] Übergang zur eigentlichen Erzählung“ nicht mehr klar voneinander zu trennen sieht. 33 Ich zitiere im Folgenden stets aus der entstehenden Edition des ‚Ambraser Erec‘ (vgl. Anm. 9). 34 Zitiert nach: Hartmann von Aue: Iwein. Text der siebenten Ausgabe von Georg Friedrich Benecke/Karl Lachmann/Ludwig Wolff, Übersetzung und Nachwort von Thomas Cramer, Berlin, New York 42001.

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sî jehent er lebe noch hiute: er hât den lop erworben, ist im der lîp gestorben, sô lebet doch iemer sîn name. er ist lasterlîcher schame iemer vil gar erwert der noch nâch sînem site vert. (Iwein, V. 14–20)

Beide Prologe spielen mit der Vorstellung einer Wiederkehr König Artus, dessen vermeintliche Unsterblichkeit jedoch beide Male auf sein Fortleben in der Erzählung bezogen wird: Nicht die Person, sein Name ist unsterblich, denn es ist die Literatur, die sein Weiterleben ermöglicht. Während der Iwein-Prolog dann aber auf den Autor Hartmann zu sprechen kommt, der eben dieses literarische Weiterleben mit seiner Erzählung ermöglicht, führt dagegen der ‚Mantel‘-Prolog pessimistischer (und etwas holpriger) aus, es werde heutzutage kaum mehr beklagt, sondern hingenommen, dass Artus selbst nicht mehr am Leben sei, im Gegenteil: wie mochten sie im [sc. Artus] der wercke bei gesteen, da sie den namen fliehen? Ich wäne, Sie schamen In täten oder mere. (‚Mantel‘, V. 84–87)

Der Iwein setzt Artus als Vorbild für die Gegenwart, der ‚Mantel‘ dagegen beklagt, dass die arthurischen Tugenden verloren gingen und sein Name nichts mehr bedeute. Beide operieren sie jedoch mit dem literarischen Fortleben im Namen, sie verwenden die gleichen Signalwörter, den gleichen Aufbau, kommen dann lediglich zu einem anderen Befund für die Gegenwart. Zwar sind die Sagen vom Fortleben Artus weitbekannt, ist die literarische Umdeutung seines Weiterlebens in den Erzählungen nicht erst von Hartmann aufgebracht worden, dennoch sind die Ähnlichkeiten in der Formulierung und in der Aussage zu auffällig und machen deutlich, dass der Prolog des ‚Mantel‘ stilistisch am Iwein-Prolog orientiert ist.³⁵ Das zeigt auch der ähnlich gestaltete Aufbau: Der ‚Mantel‘-Prolog beginnt mit mehreren Sentenzen, in denen die Tugendhaften (frúmbkait) mit den Lasterhaften kontrastiert werden; der nächste Abschnitt (V. 29, in der Handschrift mit einer Initiale beginnend) bringt dann Artus ins Spiel: Die Erzählungen über ihn sollen vorbildhaft sein und zur Nachahmung anregen, was dem Erzähler Gelegenheit gibt, davon zu berichten. Mit der nächs35 Parallelen zum Iwein-Prolog beobachtet bereits Max Schiendorfer: Das Ambraser Heldenbuch und die deutsche Schwankliteratur. In: cristallîn wort (Anm. 11), S. 149–171, hier S. 164  f. Vgl. auch den Beitrag von Henrike Manuwald in diesem Band. Zum Iwein-Prolog vgl. Volker Mertens: Imitatio Arthuri. Zum Prolog von Hartmanns Iwein. In: ZfdA 106 (1977), S. 350–357, der den didaktischen Impetus des Prologs herausstreicht und der anhand der verschiedenen Topoi Referenzen zu den Prologen späterer höfischer Dichtungen (Tristan, Wigalois, Willehalm von Orlens u.  a.) erkennt: Der Prolog des Iwein war stilbildend.

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ten Initiale in der Handschrift (V. 59) werden dann erneut Artus und seine Tugendhaftigkeit angesprochen, welche die Menschen heute jedoch, wo er tot ist, gering schätzen.³⁶ Auch inhaltlich sind die Leitgedanken beider Prologe mit der nachfolgenden Erzählung verbunden. Hartmann zeigt im Iwein an seinem Protagonisten, dass das Streben nach Ehre und das ritterliche strîten nach Lob dann problematisch werden, wenn man sie als einzige Aufgabe betrachtet; Iwein muss das im Prolog Geforderte mit seinen Pflichten gegenüber Laudine in Einklang bringen. Der ‚Mantel‘-Prolog lässt sich in vergleichbarer Weise auf die künftige Handlung der Mantelprobe beziehen; es geht um die Unterscheidung und Unvereinbarkeit von tugendhaft und schlecht: nu sehent, wie ungeleiche Si ziehent, wann daz die bösen fliehent, das minnet aber die guten. (‚Mantel‘, V. 13–15)

Artus als Idealfigur der frümbkait wird in der nachfolgenden Erzählung Kai als Lästermaul gegenübergestellt, bei dessen Bosheiten die Aussage des Prologs wiederholt wird, es komme fast nie vor, dass sich Untugend in Tugend verwandele (vgl. V. 16–21); erst dann setzt die eigentliche Handlung mit dem Pfingstfest am Artushof ein.³⁷ Auf der anderen Seite ist der Prolog in seiner Weitschweifigkeit und der – ziemlich konventionellen – Konstatierung allgemeiner Tugend-Grundsätze zugleich weitaus umfassender, als es für die eher schlichte Handlungsführung angemessen wäre. Zudem erhält das Tugendlob des König Artus schon bald Risse, wenn der zuvor als so vollendeter Gastgeber geschilderte König sich als wahrer Tyrann erweist, der mit Gewaltandrohung seine Gäste zum Fest bestellt und unter allen Umständen an seinem Brauch festhält, nicht ohne ein abenteur (vgl. V. 398 und V. 409) zu essen. Bei der Mantelprobe versagt als erste Genover, wodurch ihre fehlende Treue offensichtlich wird: Der kunig ward des ungefreut, daz der mantl so ouget an der künigin solhe untreu. (‚Mantel‘, V. 747–749)

Anbindungen der Handlung an den Prolog sind somit durchaus vorhanden, und dennoch befriedigen sie nicht in vollem Umfang. Weshalb diese Kopflastigkeit, diese umständliche Weitschweifigkeit, die die übliche höfische Erzählweise repetiert, um

36 Ähnlich, mit leichten Änderungen, lässt sich der Aufbau des Iwein-Prologs nach Siegfried Grosse: Beginn und Ende der erzählenden Dichtungen Hartmanns von Aue. In: PBB 83 (1961), S. 137–156, hier S. 149  f., beschreiben, der folgende syntaktische Gliederung angibt: Sentenz  – Beispiel: König Artus – lop und êre zu Lebzeiten – Zeugen dafür – lop nach dem Tode – Sentenz; es folgt der zweite Teil des Prologs mit dem titulus. 37 Vgl. Hess (Anm. 30), S. 174.

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sie anschließend in der burlesken Handlung sogleich wieder in Abrede zu stellen? Weshalb werden Erwartungen geschürt (allen voran die Notwendigkeit der Unterscheidung von Tugendhaftigkeit und Untugend), die die nachfolgende Handlung, bei der eine Dame nach der anderen in der Tugendprobe schmählich versagt, nicht einlöst? Die Ähnlichkeiten zum Iwein-Prolog sind auffällig, aber dieser ist wesentlich kürzer (er umfasst insgesamt 30 Verse von über 8000, der des Lanzelet beispielsweise 40). Wenn es sich beim Ambraser ‚Mantel‘ tatsächlich um eine ursprünglich eigenständige Erzählung gleich dem französischen fablieau gehandelt hat, so kann man zwar über deren tatsächlichen Umfang nur mutmaßen, doch ein Vergleich mit dem französischen Text zeigt, dass die Handlung recht bald zu Ende gewesen sein dürfte. Für eine nur etwas über 1000 Verse lange Dichtung mutet die Ausführlichkeit des Prologs aber doch seltsam an.³⁸ Es muss daher, wie das Joachim Bumke angeregt hat, überlegt werden, ob der Prolog oder sogar der ganze ‚Mantel‘ nicht gezielt auf den nachfolgend überlieferten Erec hin konzipiert ist. Wichtigster Hinweis dafür ist der Auftritt Erecs und Enites am Schluss des ‚Mantels‘, die wie von ungefähr die Szenerie betreten, nachdem nach der Königin auch die übrigen Damen bei der Probe versagt haben: Nu was es an den zeiten daz Erech frauen eniten fúr den künig prachte, der Im des gedachte, ob Si den mantl annäme. (‚Mantel‘, V. 954–958)

Werner Schröder hat hierin den ersten Auftritt Enites am Artushof sehen wollen, wie er bei Hartmann geschildert wird.³⁹ Korrespondenzen zwischen beiden Szenen sind selbstredend augenfällig, dass der ‚Mantel‘ damit jedoch dieselbe Szene ins Auge fasst, scheint mir dagegen wenig plausibel: Denn dieser Szene geht bei Hartmann die breit geschilderte Einkleidung Enites durch die Königin voraus, bei der sie u.  a. auch einen Mantel umgehängt bekommt (Erec, V. 1566–1572); diese Motivdoppelung hat vermutlich Schröder im Blick gehabt. Es kann sich jedoch nicht um denselben Mantel handeln, denn dieser wird Enite von Ginover umgehängt, und erst durch ihre Einkleidung wird Enites höfische Schönheit auch nach außen hin offenbar (vgl. Enites Schönheitspreis im Erec, V. 1698–1735).⁴⁰ Aufgrund der lakonischen Kürze der Szene im ‚Mantel‘ können die beiden Abschnitte auch stilistisch nicht verglichen werden. Enites Auftritt im ‚Mantel‘ ist also nicht ihr erster Auftritt am Artushof, vielmehr wird

38 Vgl. auch die Umfangsberechnungen von Hess (Anm. 30), S. 176, die zudem zeigen, dass dagegen die Länge des Prologs, würde man ‚Mantel‘ und Erec als einen Text betrachten, „nicht überproportional groß“ wäre. 39 Vgl. Schröder (Anm. 29), S. 166  f. 40 Vgl. Hess (Anm. 30), S. 173, welche die inhaltlichen Korrespondenzen der beiden Szenen zusammenfasst.

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sie als amîe Erecs bereits bei den Rezipienten als bekannt vorausgesetzt und hat als solche das Recht und die Pflicht, sich der Mantelprobe ebenfalls zu unterziehen  – und sie besteht sie lediglich mit dem Schönheitsfehler, dass der Saum drei Finger breit zu kurz ist. Damit erweist sich Enite als die treueste Frau am ganzen Hof: sovil was ringer / Ir schulde denn der davor (‚Mantel‘, V. 968  f.). Gegenüber der (mutmaßlichen) französischen Vorlage ist das die entscheidende Änderung: „Im Ausbleiben einer tadellosen Mantelanprobe ist die Möglichkeit einer Steigerung angelegt, zumal da der Preis fehlt.“⁴¹ Der Text des Ambraser Heldenbuches dagegen gelangt nur wenig später mit einer weiteren Schelte des unhöfischen Verhaltens Kais dahin, wo nach überwiegender Auffassung der Forschung der ‚eigentliche‘ Text des Erec Hartmanns von Aue einsetzt. Das praktisch unkommentierte Bestehen der Tugendprobe durch Enite, bei der es ausdrücklich um treue geht, setzt eigentlich eine nachfolgende Erklärung voraus. Eine solche bleibt der Text an dieser Stelle aber gerade schuldig, die Erläuterung wird vielmehr nachgereicht, indem im unmittelbaren Anschluss die Geschichte von Erec und Enite – und damit auch von Enites Treue zu Erec – direkt erzählt wird. Der ‚Mantel‘ würde damit die Erzählung quasi von hinten anfangen, er setzt die erwiesene Treue Enites gegenüber ihrem Mann in der (fast) bestandenen Tugendprobe bereits voraus, um danach zu berichten, worin sich diese gründet. Man müsste den ‚Mantel‘ damit als eine Art ‚cliffhanger‘ verstehen, der zunächst konstatiert, welche Frau am Hofe die größte Treue besitzt – nämlich Enite – um dann auszuführen, wie es dazu gekommen ist. Problematisch bleibt allerdings weiterhin der scharfe Übergang, der ohne Reim und mit deutlichem Orts- und Szenenwechsel nun Erecs Ausritt am Artushof beschreibt, also mit jener Handlung einsetzt, die aus Chrétiens Text bekannt ist.⁴² Es ist jedoch, wie Ineke Hess bemerkt,⁴³ auffällig, dass unmittelbar davor eine Schmähung des boshaften Kais platziert ist, so dass die Figur des Lästermauls mit der Erecs direkt kontrastiert wird. Mit der Gegenüberstellung von Erec und Kai am Ende des ‚Mantels‘ wird der im Prolog aufgegriffene Unterschied zwischen ,tugendhaft‘ und ,untugend-

41 Hess (Anm. 30), S. 172. Ich stimme ihr voll und ganz zu, in Enites Mantelprobe den Höhepunkt der Tugendproben, nicht eine letzte Steigerung vor einem (wie auch immer gestalteten) versöhnlichen Abschluss zu sehen, wie ihn die frz. Version (die Enite ja gar nicht erwähnt) bietet, vgl. ebd., S. 170–173. Schon die Einleitung der Szene (Nu was es an den zeiten, ‚Mantel‘, V. 954) deutet darauf hin. 42 Hess (Anm. 30), S. 176  f., versucht, den Übergang aufgrund der Interpunktionsstörung des Hs.Textes abzumildern und den Vers bey Ir vnd bey Ir weyben, der allgemein als erster Vers des Erec gilt (allerdings noch nicht in der ersten Ausgabe Haupts), als Interpolation eines Kompilators zu erweisen. Zu Recht bemerkt sie jedoch, dass die Setzung der Reimpunkte und die rudimentäre Interpunktion Rieds im Ambraser Heldenbuch einer genaueren Untersuchung bedürften. 43 Vgl. zum Folgenden genauer Hess (Anm. 30), S. 174  f.

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haft‘ ein weiteres Mal aufgegriffen; zuvor schon hat der ‚Mantel‘ „Keie als Exempel für einen untugendhaften Mann unter Tugendhaften entworfen“.⁴⁴ Noch wichtiger sind aber die mit dem oben bereits angesprochenen Begriff des abenteuers verbundenen inhaltlichen Korrespondenzen. Es sind abenteure, die Artus so vehement zu hören verlangt, bevor das Pfingstfest beginnen kann. Mit der Mantelprobe ist es da nur bedingt schon getan, vielmehr folgt die eigentliche aventiure, das abenteure, erst noch, nämlich mit der Erzählung von Erec und Enite, in der die bereits den ‚Mantel‘ bestimmende Treue-Thematik gleichermaßen zentral ist. Umso auffälliger muss dieses Leitwort dann auch am Beginn der ‚eigentlichen‘ Erec-Handlung des Ambraser Heldenbuches erscheinen, eine Positionierung, die durch die Konjekturen jedoch bisher verdeckt war (s.  o.): Mit der entscheidenden Wendung, dass Enite als einzige die Mantel- und damit die Treueprobe besteht, ist endlich das Abenteuer, die aventiure, aufgerufen, die es nun zu erzählen gilt, und für welche die schwankhafte ‚Mantel‘-Szenerie nur das Tableau bildet, um die Treue Enites gegenüber dem Protagonisten Erec narrativ zu begründen. Ob man bei ‚Mantel‘ und Erec überhaupt noch von zwei getrennten Texten sprechen kann, ist, wie eben gezeigt, fraglich; unklar bleibt, wie sehr sich der Schreiber Hans Ried dessen bewusst war. Aufschluss könnten dabei aber die Überschriften und die Tabula des Heldenbuches geben – nicht nur die zum ‚Mantel/Erec‘, sondern die der anderen Texte, namentlich des ersten Abschnitts, der, grob gesagt, von Ritterlichkeit und Minne handelt und der von Hartmann-Texten dominiert wird.⁴⁵ Der nach Strickers Frauenehre erste längere Text, Mauritius von Craûn, ebenfalls unikal im Ambraser Heldenbuch überliefert, erhält in der Tabula, dem vorangestellten ‚Inhaltsverzeichnis‘, folgenden Titel: Von künig Nero einem Wüetterich. der aúch wie ein fraw swanger wolt sein. Und sein Mueter auffschneiden liess. umb sein furwitz willen usw. Auch wie Er Rom zerstöret. wie Karolús nach Erstörung Roms die Land betzwúngen. Dartzů wie Olifer und Růland sich Ritterlich gehalten haben. Und wie Mauritius von kraẃn. liebet die Gräfin. von Beamundt.

44 Hess (Anm. 30), S. 174. Die negative Darstellung und Attribuierung Kaies findet ihre Parallele in der Zwischeneinkehr Erecs am Artushof (vgl. V. 4629–4832)  – ausgerechnet dort, wo eine weitere Lücke im ‚Ambraser Erec‘ vermutet wird, die durch eines der Wolfenbütteler Fragmente teilweise ergänzt wird. 45 Zur inhaltlichen Gliederung des Ambraser Heldenbuches, die meist als Vierteilung angesehen wird, vgl. Martin J. Schubert: Offene Fragen zum Ambraser Heldenbuch. In: exemplar. Fs. für Karl Otto Seidel. Hrsg. von Rüdiger Brandt/Dieter Lau, Frankfurt a. M. u.  a. 2008 (Lateres 5), S. 99–120, hier S. 111–114; vgl. auch Gärtner (Anm. 11), S. 200–202. Gegen eine gattungsgemäße Einteilung spricht sich am deutlichsten Heimo Reinitzer aus, der im Vorwort seiner Ausgabe des Mauritius von Craûn die im Ambraser Heldenbuch versammelten Texte mit „der Thematik der (weiblichen) Liebe als einer die virtutes des Menschen (Mannes) bestimmenden Macht“ verbunden wissen will (Mauritius von Craûn. Hrsg. von Heimo Reinitzer, Tübingen 2000 [ATB 113], S. X).

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Dies entspricht ganz dem frühneuzeitlichen Stil langer Titeleien, doch können Überschrift und tatsächliche Erzählhandlung nicht ganz in Deckung gebracht werden: Von den Schandtaten Neros, Roms Zerstörung und Karls Ritterlichkeit berichtet die Geschichte nämlich nur in den ersten etwa 250 Versen, um dann zu Mauritius überzugehen, dem eigentlichen Helden der Erzählung, dem die Tabula jedoch lediglich einen Satz widmet. Die Überschrift im Textteil der Handschrift ist (wohl auch aus Platzgründen) sogar noch wesentlich kürzer und damit ganz irreführend, denn hier werden lediglich die üblen Taten Neros aufgegriffen, der Rest, den die Tabula noch aufführt, fehlt ganz.⁴⁶ Die Tabula des Heldenbuches ist, wie nicht zuletzt eine kodikologische Untersuchung zeigt (Einfügung zusätzlicher Lagen), nachträglich erstellt worden. Es spricht vieles dafür, dass dieses Inhaltsverzeichnis nicht auf eine Vorlage zurückgeht, sondern eher eine Abschrift der einzelnen Textüberschriften darstellt,⁴⁷ wobei nicht zuletzt das Beispiel des Mauritius von Craûn zeigt, „dass die Tabula gegenüber dem Textteil die modernere, dem präzisen Buchtitel sich annähernde Form wiedergibt“.⁴⁸ Inwieweit Hans Ried die Titeleien der einzelnen Texte seiner Vorlage entnahm oder selbst entwarf, bleibt ungeklärt, klar scheint jedoch, dass namentlich die Überschriften des ersten Abschnitts der eher höfisch geprägten Texte weniger konkrete Titel darstellen, sondern vielmehr Inhaltszusammenfassungen.⁴⁹ Das lässt sich auch am Titel des Iwein zeigen: Von künig Artus hochzeit. auch von seinem Recht. desgleichen Hofgesind. und geschäfften. als von Calogrinant. Chaÿ. her Yban. und annderen. Hier gibt die Überschrift einfach die erste Szene am Artushof wieder (erneut die ersten gut 250 Verse), in der Kalogrenant und Kai, die ansonsten nur Randfiguren sind, zusammen mit dem Protagonisten Iwein auftreten; dass es eigentlich nur um den letztgenannten geht, wird auf diese Weise überhaupt nicht

46 Vgl. dazu Gerhart Lohse: Die Tabula des Ambraser Heldenbuchs. Ein Beitrag zur Arbeitsweise des Hans Ried und zur Textgeschichte des Nibelungenliedes. In: Das Buch und sein Haus. Fs. für Gerhard Liebers. Hrsg. von Rolf Fuhlrott/Bertram Haller, , 2 Bde, Wiesbaden 1979, Bd. 1: Erlesenes aus der Welt des Buches. Gedanken, Betrachtungen, Forschungen, S. 131–141, hier bes. S. 136  f. Eine genaue Beschreibung der Tabula bietet auch der Kommentar zur Faksimileausgabe von Unterkircher (Anm. 10), S. 13  f. 47 Vgl. Lohse (Anm. 46), S. 133  f. Schubert (Anm. 45), S. 107  f., weist darauf hin, dass Ried beim Erstellen der Tabula durchaus grobe Fehler unterlaufen sind, so hat er beim Verzeichnis der Kapitel des Nibelungenliedes eine Lage übersprungen und erst später nachgetragen, weshalb bei den Seitenzahlen mehrfach Sprünge entstehen. Diesen Fehler hat bereits Lohse (Anm. 46), S. 133  f., bemerkt, der noch weitere Versehen und Inkongruenzen aufzählt: Die Tabula ist zur Orientierung für einen Leser daher nur sehr bedingt benutzbar. 48 Lohse (Anm. 46), S. 137. 49 Das ist nicht überall der Fall. Die heldenepischen Texte beispielsweise haben ausnehmend präzise und knappe Titel (z.  B. Ditz puech ist von Chautrun), aber gerade bei den langen Titeleien scheint es, als habe Hans Ried sich dabei nachträglich an den ersten paar hundert Versen der jeweiligen Handlung orientiert, ohne vom Rest der Erzählung besonders Kenntnis zu nehmen. Vgl. auch Lohse (Anm. 46), S. 134  f. mit Anm. 16.

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klar. Bei der ‚Mantel/Erec‘-Kompilation verfährt die Überschrift (fast gleichlautend mit dem Titel der Tabula) zunächst im gleichen Stil: Aber von künig Artus und seinem Hofgesind, auch Helden und handlúngen, Als von herrn Gabein, khai, Irecke, eins Mantls halben, so künig Artus hausfrau und ander Frauen anlegen múesten, dardurch man Innen ward Irer treu.

Auch hier wird wieder nur auf die erste Handlungssequenz angespielt, nämlich die Mantelprobe, doch dann fährt die Überschrift fort: Súnderlich von Erick und seiner hausfrauen ein tail ain schön lesen. Nicht nur um den Mantel geht es, sondern vor allem (sunderlich) um Erec und seine Frau, und anders als z.  B. bei der Titelei des Mauritius von Craûn ist dieser – ja bereits erwähnte – Name ein zweites Mal genannt und mit dem Wort sunderlich vom übrigen Teil der Überschrift abgesetzt. Das mag vorerst nicht mehr als ein Indiz sein, aber es scheint, als sei sich Hans Ried doch bewusst gewesen, dass ab V. 994/995, dem ‚eigentlichen‘ Beginn des Erec, ein neuer Handlungsstrang aufgenommen wird.⁵⁰ Sicherlich bleibt der abrupte Übergang von der einen zur anderen Handlung, der plötzliche Szenenwechsel vom Hof zur Heide mitten im Reim erratisch. Als organisches Ganzes erscheinen ‚Mantel‘ und ‚Erec‘ nicht, wohl aber als gewollte, vielleicht nicht unbedingt gelungene Kompilation, wobei unklar bleiben muss, ob der Kompilator den Text komplett neu geschaffen hat, um ihn der (vielleicht für ihn schon unvollständigen?) Erzählung Hartmanns voranzustellen, oder ob er eine bereits bestehende Erzählung nach diesen Maßgaben umformte. Klar ist jedenfalls: ‚Mantel‘ und ‚Erec‘ sind im Ambraser Heldenbuch als ein Text zu betrachten, nicht nur aus kodikologischen, sondern aus inhaltlichen Gründen. Dafür spricht neben der Überschrift der langatmige Prolog, der stilistische und inhaltliche Elemente des Iwein-Prologs aufnimmt, dafür spricht die Figurenzeichnung Keies, vor allem aber die Treue-Thematik, die beide (‚Mantel‘ und ‚Erec‘) gleichermaßen durchzieht.

50 Weitere Indizien sprechen für eine bewusste Kompilation beider Texte schon in der Vorlage: So hat Ried im Nibelungenlied freie Seiten gelassen, um den Text seiner offensichtlich unvollständigen Vorlage später noch zu ergänzen. Ein solcher Freiraum fehlt zwischen ‚Mantel‘ und Erec, hier ist Ried offenbar stets von einem einzigen Text ausgegangen, wollte jedoch Erec und Enite nochmals gesondert in den Titel aufnehmen.

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Der Erec im Ambraser Heldenbuch – ein Text des 16. Jahrhunderts Bei der Debatte über Lesarten des Ambraser Heldenbuches, die als ‚echt Hartmannisch‘ qualifiziert werden oder eben nicht, muss vor allem bedacht werden, dass der überlieferte Text nicht nur in seinen Überschriften in dieser Form aus dem 16. Jahrhundert stammt. Es bleibt daher stets zu fragen, wie authentisch das, was uns heute überliefert ist, noch überhaupt sein kann. Allgemein wird angenommen, dass Hans Ried mit einer relativ alten Vorlage gearbeitet hat; bereits Moriz Haupt vermutete ihre Entstehung noch im 13. Jahrhundert. An den Fragmenten aus Koblenz und St. Pölten zeigt sich (anders als bei den Wolfenbütteler Fragmenten), dass der Wortlaut des Ambraser Heldenbuches nicht weit von Handschriften abweicht, die ins 14. und sogar 13. Jahrhundert zurückreichen. Die Fragmente enthalten jedoch nur wenige hundert Verse, die für eine Vergleichsbasis viel zu schmal sind. Auf der anderen Seite ist aber auch klar, dass es sich bei Rieds Vorlage ebenfalls um eine bereits bearbeitete Version des Hartmann-Textes gehandelt haben muss. Das ist bereits anhand des vieldiskutierten Namenkatalogs festgestellt worden, dessen zweiter Teil offenbar nachträglich interpoliert worden ist.⁵¹ Ob derartige Interpolationen die Ausnahme sind, oder ob Rieds Vorlage bereits systematisch bearbeitet worden ist, kann nicht mehr festgestellt werden. Dass dies der Fall sein könnte und die Bearbeitung damit noch weitaus jünger gewesen sein müsste als angenommen, ließe sich allerdings anhand von Sprichwörtern vermuten, die im Text auftauchen:⁵² Der Aussage du unwirdest dich / daz du fragest also vil / daz dir niemand sagen wil (V. 5453–5455) liegt das Sprichwort zugrunde „Viel Fragen macht unwert“, das im 15. und 16. Jahrhundert breit bezeugt ist, für das vorher jedoch keine entsprechende Formulierung überliefert ist.⁵³ Ähnliches gilt für Erecs Rede an Mabonagrin, dessen Drohungen er mit den Worten zurückweist:

51 Vgl. dazu ausführlich Michael Müller: Namenkataloge. Funktionen und Struktur einer literarischen Grundform in der deutschen Epik vom hohen Mittelalter bis zum Beginn der Neuzeit, Hildesheim u.  a. 2003 (Documenta onomastica litteralia medii aevi B,3), Kap. 3.3.1, hier bes. S. 172–179. 52 Die folgenden Überlegungen gehen auf eine Anregung von Silvia Reuvekamp zurück, die als erste auf den Zusammenhang von Sprichwörtern und der daraus folgenden Datierbarkeit des ‚Ambraser Erec‘ hingewiesen hat. Die Diskussion steht im Zusammenhang mit dem Handbuch der Sentenzen und Sprichwörter im höfischen Roman des 12. und 13. Jahrhunderts, 2 Bde, Berlin, Boston 2009 und 2012. Bd. 1: Artusromane bis 1230. Hrsg. von Manfred Eikelmann/Silvia Reuvekamp (2012). 53 Vgl. TPMA 3 (1996), „Fragen“, 3.3 (66–77); Eikelmann/Reuvekamp (Anm. 52), S. 20  f.

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ich achte doch nicht auf ewr dro und wil si wol genossen Zwaien pergen grossen. die schwern bei ir sinnen, daz si wolten gewinnen in selbs ein getzames kind, ein grosses, als auch si da sint. da verhangkte des got, daz es ward der leute spot und geparen ein Veltmaůs. (V. 9049–9058)

An dieser Stelle wird auf das bekannte Sprichwort „Unter großem Geschrei gebiert der Berg ein Mäuschen“ angespielt, das zwar bereits in der Antike bekannt und durch die Fabelsammlung des Phaedrus tradiert ist, das jedoch erst im Zuge der humanistischen Antikerezeption auch im deutschen Sprachraum ab dem 15. Jahrhundert Verwendung gefunden hat, während es in den mittelalterlichen Texten nicht nachzuweisen ist.⁵⁴ Auch die Weisheit, man solle, wie es Enites Vater zu Erec sagt, dem Wirt unbedingt seinen Willen lassen (man sol dem wirte lan / seinen willen, das ist guet getan, V. 348  f.), ist zwar vielfach in lateinischen Spruchsammlungen belegt, im Deutschen aber nur durch den sogenannten ‚Rumpf-Cato‘ bezeugt.⁵⁵ Textkritisch interessant wird schließlich die Aussage: „Mit Schlaf gewinnt man keine Ehre“, die im Erec zweimal (V. 2527  f.: wer bejagt noch je / mit schlaffe dhein Eere?; vgl. auch V. 4096–4101) erscheint und hinter der das Sprichwort „Selten erringt der schlafende Mann den Sieg“ vermutet werden kann. Das Sprichwörterlexikon vermag es außer in nordischen Quellen allerdings nur in einem einzigen mhd. Text nachzuweisen: in der Kudrun, die ebenfalls nur durch das Ambraser Heldenbuch überliefert ist.⁵⁶ Die kritische Ausgabe der Kudrun verzeichnet die Sentenz folgendermaßen: ‚Swer an dem morgen früje gerne welle gesigen‘, / sprach Wate der vil alte, ‚der sol sich nicht verligen.‘⁵⁷ Das Verb verligen lässt im Kontext des Erec natürlich besonders aufhorchen, doch ein Blick in die Handschrift zeigt, dass ausgerechnet hier eine Konjektur des Herausgebers vorliegt: Das Ambraser Heldenbuch überliefert den Schluss von Wates Rede nämlich mit der sol lig (fol. CLXrc). Im Schlaf liegend Sieg

54 Vgl. TPMA 1 (1995), „Berg“, 4; Eikelmann/Reuvekamp (Anm. 52), S. 32–35. Volkssprachige Belege lassen sich im deutschen Sprachraum erst bei Martin Luther und Hans Sachs nachweisen. Den darauffolgenden Versen 9059  f. auch sein verbrúnnen grosse haus / von wenigem feure liegt dagegen das Sprichwort „Ein kleiner Funken verbrennt ein ganzes Haus“ zugrunde, das schon früh im deutschsprachigen Mittelalter belegt ist, vgl. TPMA 3 (1996), „Feuer“, 1.4.2 (75–92); Eikelmann/Reuvekamp (Anm. 52), S. 34  f. 55 Vgl. TPMA 13 (2002), „Wirt“, 2.4; Eikelmann/Reuvekamp (Anm. 52), S. 6  f. 56 Vgl. TPMA 10 (2000), „Sieg“, 3.1 (30–32); zur Stelle vgl. Eikelmann/Reuvekamp (Anm. 52), S. 12  f., mit weiteren Hinweisen und Vergleichsmaterial, das im TPMA fehlt. 57 Kudrun. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch hrsg. von Karl Stackmann, Tübingen 2000 (ATB 115), V. 1349,1  f.

Hartmann von Aue oder Hans Ried? 

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und Ehre zu erlangen würde natürlich die Verhältnisse genau umkehren, so dass eine Konjektur an dieser Stelle durchaus gerechtfertigt scheint; sie zeigt aber, wie problematisch das Verhältnis zum tatsächlichen Überlieferungskontext ist, denn genau genommen überliefert nicht die einzige Handschrift der Kudrun, sondern nur die kritische Ausgabe dieses Sprichwort. Diese nur punktuellen Befunde machen deutlich, dass es durchaus unsicher ist, ob die Verwendung all dieser Sprichworte wirklich in jedem Fall bereits Hartmann zugerechnet werden kann.⁵⁸ Denn es ist mehr als verwunderlich, dass einige von ihnen überhaupt keine von Hartmann ausgehende oder zu ihm führende Verwendungstradition besitzen, vielmehr hat sich für die ersten hier genannten Beispiele eine solche erst in der humanistischen Antikenrezeption herausgebildet. Natürlich wäre es prinzipiell möglich, dass Hartmann die hier aufgeführten Sentenzen bereits gekannt und für sein Werk verwendet hat, unerklärlich bleibt dann allerdings, weshalb sie erst drei oder vier Jahrhunderte später schriftlich bezeugt sind. Zu klären wird diese Frage nicht sein, aber es spräche einiges dafür, dass nicht nur Teile des Namenskatalogs sekundär in den Text eingefügt worden sind – durch den Schreiber oder seine Vorlage, an der Hans Ried getreu festgehalten hätte. Zu dessen Zeit, im 16. Jahrhundert, sind alle darin aufgeführten Sentenzen schließlich auch in der Volkssprache bekannt. All dies sind nur Mosaiksteinchen, die jedoch immer wieder das Gesamtbild in Frage stellen, das wir von jenem ersten Artusroman Hartmanns auch weiterhin noch haben, und die darum auch jede stilistische Aussage zu diesem Werk problematisch werden lassen. Trägt man all die kleineren und größeren Indizien zusammen, so ist die Frage eben nicht zu beantworten: Ist es Hartmann von Aue – oder Hans Ried?

58 Die große Anzahl von Sprichwörtern im Erec, von denen viele bereits im 12. Jh. bekannt gewesen sein dürften, belegt eindrucksvoll das Handbuch von Eikelmann/Reuvekamp (Anm. 52), vgl. bereits die methodisch längst obsolete Studie von Wilhelm Weise: Die Sentenz bei Hartmann von Aue, Marburg 1910.

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Henrike Manuwald

Der Mantel im Ambraser Heldenbuch und die Frage nach dem Stil swer sînen roc vor langen hât, ob er dan hinden hôhe gât unz an daz knie, den hât ouch ein wîse man vür einen gouch. (Der wälsche Gast, V. 2067–2070)¹

Kleidung muss gut sitzen, andernfalls sind daraus negative Rückschlüsse auf den Charakter des Trägers zu ziehen: Diese Perspektive auf Kleidung offenbaren jedenfalls die zitierten Verse aus dem Welschen Gast Thomasins von Zerklaere.² Dass Kleidung das ‚Innere‘ von Menschen sichtbar machen kann, exemplifizieren einige mittelalterliche literarische Texte an magischen Kleidungsstücken, die bei Tugendproben zum Einsatz kommen.³ Hier bezieht sich die Kategorie des Passend-Seins sowohl auf den Bereich der Ästhetik als auch auf den der Ethik.⁴ Die imaginäre Bedeutung von Kleidung, die für Kleiderbeschreibungen in literarischen Texten kennzeichnend ist,⁵ erscheint bei den Erzählungen von Tugendproben mithilfe magischer Kleidungsstücke auf die Motivebene rückgebunden. Das bedeutet aber nicht, dass der ,vestimentäre Code‘ in diesen Erzählungen nicht auch mit anderen Bedeutungen aufgeladen sein kann, zum Beispiel aus dem Bereich der Poetologie.⁶ Ralph Howard Bloch insistiert bei seiner

1 Der wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria. Hrsg. von Heinrich Rückert, Quedlinburg, Basel 1852 (Bibl. d. ges. dt. Nat.-Lit. 30), Nachdruck, mit einer Einleitung und einem Register von Friedrich Neumann, Berlin 1965 (Deutsche Neudrucke: Reihe Texte des Mittelalters). 2 Das Zitat ist eingebettet in einen umfassenderen Gedankengang, in dem die Angemessenheit der Bekleidung auch zum richtigen Verhalten in Analogie gesetzt wird (vgl. ebd., V. 2065–2089). 3 Vgl. dazu Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, S. 326–328; ders.: Der Blick in den anderen. In: Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters. XXI. Anglo-German Colloquium London 2009. Hrsg. von Ricarda Bauschke/ Sebastian Coxon/Martin H. Jones, Berlin 2011, S. 11–34, hier S. 28–33. 4 Vgl. Müller, Höfische Kompromisse (Anm. 3), S. 326. Müller erläutert das am Beispiel der Erzählung von der Mantelprobe des Lanzelet, in der das zemen (V. 5836) eine wichtige Rolle spielt (vgl. Ulrich von Zatzikhoven: Lanzelet. Text – Übersetzung – Kommentar. Studienausgabe. Hrsg. von Florian Kragl, Berlin, New York 2009). Der von Müller konstatierte Maßstab der höfischen vuoge ist nur implizit präsent (in V. 6029 bezeichnet das Wort eine Charaktereigenschaft). 5 Vgl. dazu Andreas Krass: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel, Tübingen, Basel 2006 (Bibliotheca Germanica 50), S. 355, mit Bezug auf Roland Barthes: Système de la mode, Paris 1967. 6 Zu entsprechenden „Spielräume[n] des vestimentären Codes“ vgl. Krass (Anm. 5), S. 355–374. Davon zu unterscheiden ist die poetologische Dimension, die Erzählungen von Tugendproben im Artusroman gewinnen können, wenn sie „reflexiv auf die Gattungstradition gerichtet“ sind, indem das Personal früherer Romane aufgerufen wird (vgl. Karina Kellermann: Entblößungen. Die poetolo-

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Analyse des französischen Le Manteau mautaillié⁷ sogar auf einer Identität zwischen Kleidung und Erzählung: Fabliaux verwiesen mehr als andere Genres darauf, dass der Mantel der Repräsentation bzw. der Poesie immer schlecht sitzend und zerrissen sei, unfähig, die Blößen zu bedecken.⁸ Diese Generalisierung der poetologischen Lesart erscheint zu weitgehend, zumal die Engführung von Fabliau und Mantelmotivik nicht zwingend ist.⁹ Jedoch ist die Idee des aptum in der Mantelmotivik so präsent, dass wegen dessen Nähe zu mittelalterlichen rhetorischen Stilvorstellungen¹⁰ die Machart des jeweiligen Textes geradezu von selbst in den Mittelpunkt rückt. Im Folgenden soll daher die gemeinhin als Mantel bezeichnete Versdichtung im Ambraser Heldenbuch¹¹ in Bezug auf ihren ‚Schnitt‘, d.  h. auf eine stilistische Einordgische Funktion des Körpers in Tugendproben der Artusepik. In: Das Mittelalter 8 [2003], S. 102–117, hier S. 114). 7 Le Lai du cor et Le Manteau mal taillé. Les dessous de la Table ronde. Édition, traduction, annotation et postface de Nathalie Koble. Préface d’Emmanuèle Baumgartner, Paris 2005 (Collection Versions françaises). Kobles Edition beruht auf Paris, BnF, fr. 837 (T); vgl. auch die Neuedition nach Paris, BnF, nouv. acq. fr. 1104 (S): The Lay of Mantel. Hrsg. und übers. von Glyn S. Burgess/Leslie C. Brook, Cambridge 2013 (French Arthurian Literature V; Arthurian Archives 18). 8 Vgl. Ralph Howard Bloch: Le mantel mautaillié des fabliaux. Comique et fétichisme. In: Poétique. Revue de théorie et dʼanalyse littéraires 54 (1983), S. 181–198, hier S. 187–190. Zur Identität zwischen Kleidung und Erzählung vgl. ebd., S. 186: „L’identité entre le vêtement qui est passé (,afublé‘) et le conte – le ,flabel‘ – qui est raconté (,afablé‘) est entière.“ 9 Es ist umstritten, ob Le Manteau mautaillié überhaupt als ,fabliau‘ oder nicht eher als ,lay‘ bzw. gar als ,Arthurian romance‘ anzusehen ist. Vgl. eine Zusammenfassung der Forschungsdiskussion bei Burgess/Brook (Anm. 7), S. 53–55; vgl. außerdem zur späteren Integration von Le Manteau mautaillié in einen großepischen Text Beate Schmolke-Hasselmann: L’intégration de quelques récits brefs arthuriens (Cor, Mantel, Espee) dans les romans arthuriens du XIIIème siècle. In: Le récit bref au Moyen Âge. Actes du colloque des 27, 28 et 29 avril 1979. Hrsg. von Danielle Buschinger, Paris 1980, S. 107–128. 10 „Das aptum regiert auch die Beziehung der verba untereinander: so ist ein buntes Gemisch […] verschiedener Stilarten ein Verstoß gegen das innere aptum, wenn man ,Erhabenes mit Niedrigem, Altes mit Neuem, Poetisches mit Gewöhnlichem‘ vermischt (Quint. VIII,3,60) (Beispiel: ‚Der König ritt auf seinem Gaul‘)“, Gert Ueding/Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode, 5., aktualisierte Aufl., Stuttgart, Weimar 2011, S. 224. Obwohl das aptum ursprünglich der elocutio zugeordnet war, ist damit die Lehre der genera dicendi insgesamt berührt, wie sie sich seit der Spätantike in der rota Vergilii manifestierte, denn dort wird ebenfalls eine Mischung von Erhabenem und Niedrigem zurückgewiesen (vgl. Franz Quadlbauer: Die antike Theorie der genera dicendi im lateinischen Mittelalter, Wien 1962 [Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse 241,2], S. 114  f.). Das antike Konzept der drei genera dicendi blieb – zumindest in der theoretischen Auseinandersetzung damit – auch im Mittelalter präsent. Inwieweit es noch als aktuell empfunden wurde, darüber gehen die Meinungen auseinander (vgl. dazu Danièle James-Raoul: La théorie des trois styles dans les arts poétiques médiolatins des XIIe et XIIIe siècles. In: Effets de style au Moyen Âge. Hrsg. von Chantal Connochie-Bourgne/Sébastien Douchet, Aixen-Provence 2012 [Sénéfiance 58], S. 17–26). 11 Der Mantel steht im Ambraser Heldenbuch als einzigem Überlieferungsträger im Verbund mit dem Erec Hartmanns von Aue, wird hier jedoch als eigenständiger Text behandelt (für das Verhältnis zum Erec s.  u.). Für die sprachliche Gestalt des Textes im Ambraser Heldenbuch konnte ich dankenswerter-

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nung hin, näher betrachtet werden. Damit wird an die intensive Stildiskussion in der Geschichte der Forschung zu diesem Text, die kurz skizziert werden soll, angeschlossen. Zwar ist der dort aufgerufene ästhetische Stildiskurs nur onomasiologisch mit dem linguistischen Stildiskurs verbunden, der für die Textanalyse fruchtbar gemacht werden soll,¹² doch lassen sich beide zur rhetorischen Kategorie des aptum in Beziehung setzen. Der Mantel wurde erstmals von Otto Warnatsch eingehend untersucht, der ihn als Bruchstück eines Lanzelet-Romans Heinrichs von dem Türlin identifizieren wollte.¹³ Er setzte die Autorschaft Heinrichs voraus (was in der späteren Forschung kritisiert wurde) und nahm deshalb vor allem die Gemeinsamkeiten mit der Krone in den Blick. Für die Annahme, dass Heinrich der Autor gewesen sei, war  – neben motivischen Parallelen zu den Tugendproben in der Krone – vor allem der dort in der Erzählung über die Handschuhprobe enthaltene Rückverweis des Erzählers ausschlaggebend (V. 23502–23505),¹⁴ dass er selbst schon von dem ‚Becher‘ und dem ‚Mantel‘ erzählt

weise auf die (noch unveröffentlichte) von Andreas Hammer, Victor Millet und Timo ReuvekampFelber erstellte Edition des Textverbundes zurückgreifen, die ich in ihrer derzeitigen Fassung (Stand Oktober 2012) zitiere. 12 Zur Differenzierung zwischen einem rhetorischen, einem ästhetischen und einem linguistischen Stildiskurs vgl. den Beitrag Gert Hübners in diesem Band. Zur Divergenz unterschiedlicher Stilbegriffe vgl. pointierend Willy Sanders: Stil und Stilistik. In: Stilfragen. Hrsg. von Gerhard Stickel, Berlin, New York 1995 (Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 1994), S. 386–391, hier S. 386. 13 Der Mantel. Bruchstück eines Lanzeletromans des Heinrich von dem Türlin, nebst einer Abh. über die Sage vom Trinkhorn und Mantel und die Quelle der Krone. Hrsg. von Otto Warnatsch, Breslau 1883 (Germanistische Abhandlungen 2), Nachdruck Hildesheim 1977. Zur Forschungsgeschichte vgl. auch Ineke Hess: Rezeption und Dichtung im Mittelalter. Zur Überlieferung des Mantel im Ambraser Heldenbuch. In: Lesen und Verwandlung. Lektüreprozesse und Transformationsdynamiken in der erzählenden Literatur. Hrsg. von Steffen Groscurth/Thomas Ulrich, Berlin 2011, S. 155– 185, hier S. 164–166; S. 169  f. Für eine Zusammenfassung des Forschungsstandes vgl. Wolfgang Achnitz: Deutschsprachige Artusdichtung des Mittelalters. Eine Einführung, Berlin, Boston 2012, S. 231–235. 14 Vgl. Heinrich von dem Türlin: Die Krone (Verse 12282–30042). Nach der Handschrift Cod. Pal. germ 374 der Universitätsbibliothek Heidelberg. Nach Vorarbeiten von Fritz Peter Knapp und Klaus Zatloukal hrsg. von Alfred Ebenbauer/Florian Kragl, Tübingen 2005 (ATB 118). Zu Konjekturen an dieser Stelle, die dem Verweis eine größere Offenheit verleihen, vgl. Arno Mentzel-Reuters: Vröude. Artusbild, Fortuna- und Gralkonzeption in der Crône des Heinrich von dem Türlin als Verteidigung des höfischen Lebensideals, Frankfurt a. M. 1989 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur 1134), S. 33; Gudrun Felder: Kommentar zur Crône Heinrichs von dem Türlin, Berlin, New York 2006, S. 592  f. Sie hat die Konjekturen in ihren Text übernommen (vgl. Heinrich von dem Türlin: Diu Crône. Kritische mittelhochdeutsche Leseausgabe mit Erläuterungen. Hrsg. von Gudrun Felder, Berlin, Boston 2012). Auch ohne Konjekturen handelt es sich bei der Stelle nicht zwingend um einen Rückbezug auf ein eigenes Werk (vgl. Werner Schröder: Der Mantel. In: 2VL, Bd. 11 [2010], Sp. 962–965, hier Sp. 964).

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habe.¹⁵ Die Identität der Verfasser von Mantel und Krone suchte Warnatsch an sprachlichen Übereinstimmungen im lautlichen, morphologischen und syntaktischen Bereich, auf dem Gebiet des Wortschatzes und in Vers- und Reimkunst festzumachen. Zu seiner Analyse zählt auch die „Zusammenstellung syntaktischer und stilistischer Eigenheiten“, ohne dass das Verhältnis der beiden Kategorien klar bestimmt würde.¹⁶ Als syntaktisches Merkmal nennt Warnatsch zum Beispiel das Weglassen eines Personalpronomens als Subjekt, wenn es im Kontext schon in einer flektierten Form (ggf. auch als Possessivpronomen) vorgekommen ist. Wie oft sich ein Verfasser dieser Form der Ellipse bedient, zählt für Warnatsch offenbar zum Personalstil; denn er verweist unter anderem darauf, dass dieses Phänomen zu Hartmanns ‚Stil‘ gehöre. Damit wird allerdings deutlich, dass das Element allein kein individuelles Stilmerkmal sein kann und für den Nachweis einer Verfasseridentität nur bedingt aussagekräftig ist. Das trifft umso mehr für das von Mantel und Krone geteilte Formelgut zu, das Warnatsch hervorhebt.¹⁷ Wertende Epitheta finden sich bei Warnatsch dort, wo er den Mantel mit dem Fabliau Le Manteau mautaillié vergleicht, das streckenweise dessen Vorlage gebildet hat. Er nennt die Behandlung des Stoffes „einfacher und roher“ als die im Fabliau und bezeichnet die Darstellung im Mantel als „weniger kunstvoll“.¹⁸ Insgesamt betrachtet Warnatsch den Mantel jedoch als ein der Krone ebenbürtiges Werk.¹⁹ Das Konzept des Personalstils, das den Überlegungen von Warnatsch inhärent ist, wurde in der Rezeption seiner Arbeit bestimmend. Außerdem wurde es mit einem Entwicklungsgedanken verknüpft. So liest man wiederholt, dass Warnatsch den Mantel für ein Jugendwerk gehalten habe.²⁰ Schröder schreibt weiterhin, dass Warnatsch „die spürbar größere stilistische Gewandtheit in der Crone“ damit habe erklären wollen.²¹

15 Aus dem Mantel-Text und aus der Krone schloss Warnatsch (Anm. 13), S. 85  f., auf die Persönlichkeit des Autors, nämlich auf eine „Vorliebe Heinrichs für lüsterne Schilderungen“ und für die Keie-Figur. 16 Vgl. Warnatsch (Anm. 13), S. 91–105, bes. S. 97  f. 17 Sein Vorgehen ist auch in sich nicht ganz konsequent, denn Übereinstimmungen des MantelTextes mit Texten anderer Autoren deutet er als Bezüge zu diesen Werken, wie sie heute unter dem Konzept der Intertextualität erfasst würden (vgl. Warnatsch [Anm. 13], S. 87–91). 18 Vgl. Warnatsch (Anm. 13), S. 3–7, bes. S. 6  f. 19 Vgl. Warnatsch (Anm. 13), S. 109. 20 Vgl. z.  B. Bernd Kratz: Die Ambraser Mantel-Erzählung und ihr Autor. In: Euphorion 71 (1977), S. 1–17, hier S. 2; Mentzel-Reuters (Anm. 14), S. 33; Christine Kasper: Von miesen Rittern und sündhaften Frauen und solchen, die besser waren. Tugend- und Keuschheitsproben in der mittelalterlichen Literatur vornehmlich des deutschen Sprachraums, Göppingen 1995 (GAG 547), S. 110; S. 609  f.; Das Ambraser Mantel-Fragment. Hrsg. von Werner Schröder, Stuttgart 1995 (Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M. 33,5), S. 171. 21 Vgl. Schröder (Anm. 20), S. 171.

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Kontrovers diskutiert worden ist Warnatschs Behauptung, es gebe zahlreiche wörtliche Übereinstimmungen zwischen Mantel und Krone, denn er hatte vor dem Vergleich zum Teil Verse aus dem Mantel nach solchen aus der Krone emendiert.²² Kratz sah sogar so wenige Übereinstimmungen in ,Wortlaut und Stil‘ bzw. Übereinstimmung nur bei ‚naheliegenden Wendungen‘,²³ dass er eine identische Verfasserschaft für beide Werke geradezu ausschloss.²⁴ Dagegen hat Schröder wiederum Ähnlichkeiten in der Diktion nachweisen wollen.²⁵ Während er selbst die Gemeinsamkeiten lediglich als Entlehnungen ansah, wie sie zwischen verschiedenen Autoren vorkommen, hat Hartmut Bleumer sie wieder als Argument für eine Verfasseridentität ins Spiel gebracht.²⁶ Justin Vollmann hat demgegenüber die methodischen Prämissen in Frage gestellt, indem er darauf hinwies, dass ein und derselbe Autor einen Stoff durchaus unterschiedlich gestalten könne.²⁷ Losgelöst von der Frage nach dem Verfasser und seinem Personalstil setzte sich nach Warnatsch die qualitative Bewertung des Mantel fort. Kratz etwa macht ein „Qualitätsgefälle“²⁸ zwischen Krone und Mantel aus: Der Mantel habe einen „langatmigen Prolog“ und biete (gegenüber der ausgefeilten Gedankenführung im Prolog der Krone) im Anfangsteil nur ein „ungeschicktes Hin und Her“.²⁹ Den gesitteteren Umgangsformen im Fabliau stünden Grobheiten und eine holzschnittartige Figurenzeichnung im Mantel gegenüber.³⁰ Auch wenn in den Ausführungen von Kratz inhaltliche Aspekte ebenso eine Rolle spielen und er ausdrücklich zwischen inhaltlichen Übereinstimmungen und der – von ihm bezweifelten – „Signatur Heinrichs“ differenzieren will, ist der Stil-Diskurs präsent, denn Kratz resümiert abschließend, dass der Verfasser „kein großer Meister“ gewesen sei.³¹ Schröder setzt den Verfasser des Mantel explizit vom ‚Stilisten‘ Hartmann ab und stellt fest, dass der „Autor sich nicht über die literarische Durchschnittssprache

22 Vgl. dazu Schröder (Anm. 20), S. 128. Zum Zusammenhang zwischen Stilvorstellungen moderner Herausgeber und deren Editionsprinzipien vgl. den Beitrag von Andreas Hammer in diesem Band. 23 Vgl. Kratz (Anm. 20), S. 7; S. 16  f. 24 Vgl. zustimmend Kasper (Anm. 20), S. 606–612, die mit der Unterschiedlichkeit der Figurengestaltung argumentiert. 25 Vgl. Schröder (Anm. 20), S. 169–171. 26 Hartmut Bleumer: Die Crône Heinrichs von dem Türlin. Form-Erfahrung und Konzeption eines späten Artusromans, Tübingen 1997 (MTU 112), S. 255, Anm. 29. 27 Justin Vollmann: Das Ideal des irrenden Lesers. Ein Wegweiser durch die Krone Heinrichs von dem Türlin, Tübingen, Basel 2008 (Bibliotheca Germanica 53), S. 152  f., Anm. 545. Zum Forschungsstand hinsichtlich der Verfasserfrage vgl. auch Felder, Kommentar (Anm. 14), S. 592  f., Anm. 30. 28 Kratz (Anm. 20), S. 16  f. 29 Vgl. Kratz (Anm. 20), S. 5; S. 9. 30 Vgl. Kratz (Anm. 20), S. 5  f. Auch Kasper (Anm. 20), S. 107–112, sieht die Extreme im Mantel gegenüber dem Fabliau verstärkt und bezeichnet den Mantel als „eine im großen und ganzen miserable Nachdichtung des Fabliau“ (ebd., S. 112). 31 Vgl. Kratz (Anm. 20), S. 3; S. 17. Nach Mentzel-Reuters (Anm. 14), S. 33, bleibt der Mantel „in Stil und Aussagekraft“ deutlich hinter der Krone zurück.

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seines Jahrhunderts erhebt“.³² Dieser Durchschnittssprache widmet Schröder keine weiteren Überlegungen, sondern stört sich vor allen Dingen an der negativen Figurenzeichnung Keies, die mit seinem Amt als Truchsess schwer vereinbar sei; offenbar sei der Widerspruch vom Verfasser gewollt.³³ Im Mantel sei Keie – wie seine amie – auf dem Weg zur Schwankfigur.³⁴ Nach Schröder sind die Satiren und Parodien der Krone, die er als primär ansieht, im Mantel zur Groteske „entartet“.³⁵ Dass die Schwankhaftigkeit auch einen bewusst gewählten Modus darstellen könnte, erwägt Schröder nicht.³⁶ Insgesamt betrachtet er den Mantel-Text als „Romanentwurf“ und kritisiert, dass er „kopflastig“ geworden sei.³⁷ Die Ausführlichkeit des Prologs ist bisher nur von Max Schiendorfer als bewusstes Gestaltungselement interpretiert worden. Er äußert im Rahmen seiner Studie zu Schwankhaftem im Ambraser Heldenbuch die Vermutung, dass mit dem Prolog eine Erwartungshaltung des Rezipienten aufgebaut werde, um sie „dann desto effektvoller zu ‚enttäuschen‘“.³⁸ In den meisten anderen Untersuchungen sind für die Beurteilung des Mantel klassische Artusromane implizite Referenztexte.³⁹ Jedenfalls scheinen daraus bestimmte Ideale normativ abgeleitet zu werden, deren Nichterfüllung beim Mantel moniert wird: So dürfte Wohlbemessenheit die Folie für die wahrgenommene Disproportioniertheit des Mantel-Textes bilden, kunstvolle rhetorische Gewandtheit des Ausdrucks den Maßstab für dessen ‚Einfachheit‘, eine gesittete Sprache die Messlatte für seine Grobheiten. Außerdem werden Kohärenz und eine komplexe Gedankenfüh32 Vgl. Schröder (Anm. 20), S. 130. 33 Vgl. Schröder (Anm. 20), S. 174; S. 176. Dass die Figurenzeichnung im Mantel von der in der Krone abweicht, ist für Schröder auch ein wichtiges Argument dafür, dass beide nicht von demselben Verfasser stammen könnten. 34 Vgl. Schröder (Anm. 20), S. 174; S. 177. Vgl. ähnlich auch Stefan Seeber: Keie der arcspreche – Spott und Verlachen im höfischen Roman um 1200. In: Spott und Verlachen im späten Mittelalter zwischen Spiel und Gewalt. Hrsg. von Stefan Seeber/Sebastian Coxon, Göttingen 2010 (Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbands 57,1), S. 8–22, hier S. 20–22. Zu Seebers wesentlich differenzierteren Einordnung des Gesamttextes s.  u. Anm. 75. 35 Schröder (Anm. 20), S. 176. In einer späteren Veröffentlichung spricht er umgekehrt von einer „versuchsweisen Höfisierung des Fabliaus“ (vgl. Schröder [Anm. 14], Sp. 965). 36 Hess betrachtet dagegen die „Novellistik“ (neben der nachklassischen Artusepik) als Gattungskontext für den Mantel, ohne jedoch darauf einzugehen, inwieweit sich in der von ihr auf die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts angesetzten Entstehungszeit des Mantel schon entsprechende Gattungsmuster verfestigt hatten (vgl. Hess [Anm. 13], S. 175  f.; zur Entstehungszeit S. 156). 37 Vgl. Schröder (Anm. 20), S. 175; ähnlich Kratz (Anm. 20), S. 5  f.; Hess (Anm. 13), S. 176, sieht wie Kratz eine Disproportioniertheit nur dann nicht gegeben, wenn der Prolog auf den Erec bzw. den Textverbund aus Mantel und Erec bezogen wird. 38 Vgl. Max Schiendorfer: Das Ambraser Heldenbuch und die deutsche Schwankliteratur. In: Rahmenthema: Das Ambraser Heldenbuch. Hrsg. von Waltraud Fritsch-Rössler, Wien u.  a. 2008 (Cristallîn wort 1 [2007]), S. 149–171, hier S. 164  f. 39 So argumentiert Schröder (Anm. 20), S. 168, im Hinblick auf die Verfasserfrage damit, dass Warnatsch „zu wenig bedacht [hat], daß sich auf dem Felde des höfischen Artusromans eine bestimmte Redeweise herausgebildet hatte, die frei verfügbar war.“

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rung eingefordert.⁴⁰ Letztere sind zwar Aspekte, welche den Inhalt des Textes betreffen, die aber mit der ‚Einfachheit‘ der Sprache indirekt verbunden sind. Ob alle diese Phänomene jeweils zum ‚Stil‘ gezählt werden, bleibt in den Studien unklar, aber die vorausgesetzte Referenz zum Artusroman zeigt, dass – parallel zur Diskussion um den Personalstil Heinrichs von dem Türlin – ein bestimmter Gattungsstil⁴¹ erwartet wird, dessen Nichtbeachtung als Verletzung des aptum empfunden zu werden scheint.⁴² Die Überlegung, dass der Mantel vielleicht kein Artusroman sein will bzw. tatsächlich mit Stilebenen und der Erwartungshaltung des Rezipienten spielt, ist bisher nicht weiterentwickelt worden. Wenn jetzt der Blick schlaglichtartig⁴³ auf die Faktur des Mantel gelenkt wird, erfolgt bewusst eine Verschiebung von einem ästhetischen Stildiskurs, dem die Diskussion über den Personalstil zuzurechnen ist, hin zu einem linguistischen Stildiskurs, bei dem Funktionen der Ausdrucksform im Mittelpunkt stehen. Da sich ein Textstil nur relational beschreiben⁴⁴ und sich auch nur so historisches Stilwissen rekonstruieren lässt, sollen exemplarisch Vergleichstexte herangezogen werden. Dabei erfolgt keine Beschränkung auf den Artusroman, zugleich soll aber das spezifische Verhältnis zu der über intertextuelle Referenzen aufgerufenen Gattung ‚Artusroman‘ in den Blick genommen werden. Der Aufbau des Mantel-Prologs stellt eine Systemreferenz⁴⁵ zum Artusroman dar: Aus einer Sentenz zu Beginn⁴⁶ werden zunächst allgemeine Überlegungen entwi40 „Einige Formulierungen erinnern an das Artuslob des ‚Iwein‘-Prologs von Hartmann von Aue, jedoch setzt sich die sprunghafte, ungeordnete Abfolge von den nach rhetorischen Regeln gegliederten Prologen Hartmanns und anderer zeitgenössischer Epiker deutlich ab“ (Hess [Anm. 13], S. 160). 41 Zur Frage, ob sich Stile einzelnen Gattungen zuordnen lassen oder ob sie „quer zum System der Gattungen“ stehen, vgl. Dirk Göttsche: 2.10 Stil als Bestimmungskriterium / Gattungsstilistik. In: Handbuch Gattungstheorie. Hrsg. von Rüdiger Zymner, Stuttgart, Weimar 2010, S. 56–58. 42 In Bezug auf die licentia wird in der Rhetorik die Einhaltung des aptum für bestimmte Gattungen gefordert (vgl. Ueding/Steinbrink [Anm. 10], S. 224). 43 Zwar folgt die Analyse dem Textverlauf, sie kann jedoch nur einzelne relevante Aspekte hervorheben. 44 Vgl. z.  B. Barbara Sandig: Textstilistik des Deutschen, 2., völlig neu bearb. und erw. Aufl., Berlin, New York 2006, S. 85–145. 45 Vgl. dazu Manfred Pfister: III.2. Zur Systemreferenz. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. von Ulrich Broich/ Manfred Pfister, Tübingen 1985 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 35), S. 52–58. Pfister (ebd., S. 55) führt auch den Fall auf, dass eine Systemreferenz nur für eine Passage innerhalb eines Textes prägend ist. Aus der Systemreferenz des Prologs ist also noch keine Gattungszugehörigkeit ableitbar. 46 Es doch nicht verdeit, / was zu dheiner frümbkait / gezeuhet und gestat (V. 1–3). Die Verse formulieren eine so allgemeingültige Aussage, die sich auf die Autorität des Erzählers stützt, dass die Bezeichnung Sentenz gerechtfertigt ist (zur Definition vgl. Silvia Reuvekamp: Sprichwort und Sentenz im narrativen Kontext. Ein Beitrag zur Poetik des höfischen Romans, Berlin, New York 2007, S. 15–17; Handbuch der Sentenzen und Sprichwörter im höfischen Roman des 12. und 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Manfred Eikelmann/Tomas Tomasek, Bd. 1: Einleitung und Artusromane bis 1230. Bearb. von

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ckelt (V.  1–28); darauf folgt über die Artusfigur eine Erläuterung der Schreibmotivation (V.  29–58), in einer Einleitung zu der zu erzählenden aventiure wird die Artusfigur in ihrer Tugendhaftigkeit genauer eingeführt (V. 59–90), in einem weiteren Abschnitt sind deren Verhaltensweisen (Siten, V. 101; site, V. 109; V. 115) beschrieben (V. 91–127).⁴⁷ Im ersten Abschnitt des Prologs (V. 1–28) werden die guten den bösen einander gegenübergestellt: Das, was den guten gefalle, könne unmöglich auch den bösen gefallen; es sei zwecklos, danach zu streben, es beiden Gruppen recht machen zu wollen; ein Böser könne niemals tugendhaft werden, und ein Guter würde nicht freiwillig von den Tugenden lassen.⁴⁸ Diese ethischen Überlegungen, die zunächst als Einleitung praeter rem erscheinen, erweisen sich als bestimmend für den gesamten Text. Sie erscheinen exemplifiziert an der Figur Keies, der als durchgehend böse dargestellt wird, und der überlieferte Mantel-Text schließt mit einer Warnung vor Keies Bosheit (V. 986–993).⁴⁹ Die klaren Oppositionen zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse‘ vermitteln ein Schwarzweißdenken, wie man es auch im Welschen Gast Thomasins von Zerklaere findet.⁵⁰ Auch dort werden im Prolog die guoten bzw. vrumen von den unbelehrbaren unguoten bzw. boesen abgesetzt, und Keie ist als Repräsentant der boesen genannt: hân ich Gâweins hulde wol, von reht mîn Key spotten sol. swer wol gevellt der vrumen schar, der missevellt den bœsen gar. swer vrumer liute lop hât, der mac wol tuon der bœsen rât. ist iemen vrum der rehte tuot, daz dunket niht den bœsen guot,

Manfred Eikelmann/Silvia Reuvekamp unter Mitarbeit von Agata Mazurek u.  a., Berlin, Boston 2012, S. 58*–63*). Hess (Anm. 13), S. 159, vermisst dagegen eine „eindeutig als solche zu identifizierende Sentenz zu Beginn.“ 47 Die einzelnen Abschnitte sind in der Handschrift jeweils durch eine Anfangsinitiale markiert. Bumke zählt nur die ersten drei Abschnitte zum Prolog (vgl. Joachim Bumke: Der Erec Hartmanns von Aue. Eine Einführung, Berlin, New York 2006, S. 12); Hess (Anm. 13), S. 159, hält die Prologabgrenzung für uneindeutig und den Prolog für „zerfasert“. Ebenso erscheine die einsetzende Handlung verdoppelt, weil zweimal von einer Einladung zum Fest durch König Artus erzählt werde (ebd., S. 160, Anm. 10). Mentzel-Reuters (Anm. 14), S. 34, geht von einer vorlagenbedingten Doppelung aus. In V. 109–127 wird jedoch das allgemeine Einladungsritual beschrieben, erst ab V. 128 eine konkrete Einladung, weshalb hier der Handlungsbeginn bei diesem Vers angesetzt wird. V. 59–61 werden dementsprechend als Vorverweis innerhalb des Prologs verstanden. 48 Mentzel-Reuters (Anm. 14), S. 34, sieht intertextuelle Bezüge zum Prolog des Wigalois Wirnts von Grafenberg. Dort werden zwar auch ethische Fragen angesprochen, es dominieren jedoch die Angst vor einer Verfälschung der Erzählung und die Aufforderung zur Nachahmung der Guten. 49 Vgl. dazu Seeber (Anm. 34), S. 20–22. 50 Vgl. dazu auch Kasper (Anm. 20), S. 612, die im Mantel in Bezug auf Keie einen „moralisierende[n] Ton“ konstatiert.

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wan swaz der vrume guots tuon mac, daz muoz sîn der bœsen slac. (V. 77–86)

Im Mantel-Prolog wird  – ähnlich wie im Welschen Gast (V. 21–32)  – der Anspruch erhoben, dass das folgende Werk zur frümbkait (V. 2) beitragen soll, und es wird ebenfalls gesagt, dass das, von dem die Bösen sich entfernen wollen, von den Guten geschätzt werde: nu sehent, wie ungeleiche Si ziehent, wann daz die bösen fliehent, das minnet aber die guten. (V. 13–15)

In dieser Kürze und Allgemeingültigkeit gewinnt die Aussage einen sentenzhaften Charakter. Zwar lassen sich Sentenzen, wenn sie in einen literarischen Text integriert sind, gerade nicht auf ihre Lehrhaftigkeit reduzieren, sondern sind oft zur Komplexitätssteigerung eingesetzt,⁵¹ doch werden im ersten Teil des Mantel-Prologs Kontrastierungen von ,gut‘ und ,böse‘ in beinahe repetitiver Weise aneinandergereiht, so dass dieser Abschnitt Züge eines didaktischen Funktionalstils⁵² trägt.⁵³ Die Passage zeigt deutliche Unterschiede zu einer inhaltlich vergleichbaren Aussage in der Figurenrede Kalogrenants im Iwein, dass sich die Natur eines bösen Menschen auch durch gute Lehren nicht verändern lasse:⁵⁴ swer iuch mit lêre bestât, deist ein verlorniu arbeit. irn sult iuwer gewonheit

51 Vgl. dazu die gesamte Studie von Reuvekamp (Anm. 46). 52 Zur Abgrenzung von Funktionalstil und Register vgl. Norbert Dittmar: 23. Register / Register. In: Sociolinguistics / Soziolinguistik. An International Handbook of the Science of Language and Society. Hrsg. von Ulrich Ammon u.  a., 2., vollständig neu bearb. und erw. Aufl., Berlin, New York 2004 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 3,1), S. 216–226, hier S. 223. 53 Eine didaktische Ausrichtung sieht Hardin für den Text insgesamt als gegeben an (vgl. Patricia D. Hardin: The Didactic Nature of Der Mantel: Chivalric Balance. In: Colloquia Germanica 31,2 [1998], S. 97–103). Sie macht sie jedoch nicht so sehr am Prolog fest, sondern nimmt für den ganzen Text einen exemplarischen Charakter an, der durch dessen Platzierung innerhalb des Ambraser Heldenbuchs bestätigt werde. Während Hardins These, dass der Text Beispiele des Missbrauchs ritterlicher Ideale zeige, für einzelne Motive wie die gewaltsame Gastfreundschaft von König Artus zutreffen mag, ist ihre Deutung für den Gesamttext zu wenig gesichert, da der Überlieferungsverbund in erster Linie Aufschluss über die Rezeption des Textes gibt und die am Text entwickelten Thesen teilweise zu gewagt sind (bes. die Deutung der Vergnügungen der Männer während des Festes [V. 284–319] als übertriebenes Rittertum, das dazu geführt habe, dass sich die einsamen Frauen Liebhaber zugelegt hätten; vgl. ebd., S. 99). Wesentlich überzeugender ist die Überlegung von Hess (Anm. 13), S. 175, dass mit der Keie-Figur ein didaktischer Impetus durchgehalten werde; denn sie verkörpert die im Prolog genannten ,Bösen‘ als abschreckendes Beispiel. 54 Vgl. bes. Mantel, V. 22  f.: wie wolt Ir, daz ein böser man / tugende kundt gephlegen.

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durch niemen zebrechen. der humbel der sol stechen, ouch ist reht daz der mist stinke swâ der ist: der hornûz der sol diezen. (V. 202–209)⁵⁵

Abgesehen davon, dass hier eine implikationsreiche Sprechhandlung auf der Figurenebene gegenüber einer autoritätsstiftenden Verwendung von Sentenzen im MantelProlog vorliegt,⁵⁶ sind auch Unterschiede in der Direktheit der Ausdrucksweise zu beobachten: Während der Gedanke im Iwein sogar in der Figurenrede mit sprachlichen Bildern ausgemalt ist,⁵⁷ wird er im Mantel-Prolog auf das Prinzip reduziert. Der Vergleich der beiden Textstellen verdeutlicht, dass mit der denotativen Aussage über die ‚Bösen‘ jeweils nur eine Sinndimension erfasst ist, also der Inhalt nicht von der Form abstrahierbar ist.⁵⁸ Sollte durch die didaktisierende Redeweise im ersten Teil des Mantel-Prologs eine bestimmte Gattungserwartung geschaffen worden sein, so wird sie durch die Nennung von König Artus in Vers 29 gebrochen. Thematisch ist der zweite Teil des Prologs allerdings mit dem ersten eng verknüpft, indem mehrere inhaltliche Elemente der einleitenden Sentenz wiederaufgenommen werden: Das betrifft sowohl das Ideal der frümbkait, denn Artus wird die krone der frümbkait zugeschrieben (V. 29–31), als auch den Gedanken, dass das, was zur frümbkait hinführt, nicht verschwiegen werden soll (V. 1–3).⁵⁹ Mit dem Bezug zu Artus ändert sich gegenüber dem ersten Abschnitt des Prologs jedoch auch der Charakter des Textes, denn hier treten – wie auch im dritten Abschnitt – verstärkt intertextuelle Referenzen zu konkreten Werken auf. Sichern lassen sich vor allem Bezüge zum Iwein.⁶⁰ Sie liegen sowohl auf der Ebene der Formulierung einzelner Verse⁶¹ als auch auf der gedanklicher Übernahmen, wenn die

55 Hartmann von Aue: Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein. Hrsg. und übers. von Volker Mertens, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 6). 56 Zu den Verwendungsmöglichkeiten von Sentenzen vgl. Reuvekamp (Anm. 46), S. 71–76; S. 85–90. 57 Vgl. dazu den Kommentar von Cramer zur Stelle (Hartmann von Aue: Iwein. Text der siebenten Ausgabe von Georg Friedrich Benecke, Karl Lachmann und Ludwig Wolff. Übersetzung und Anmerkungen von Thomas Cramer, 3., durchges. und erg. Aufl., Berlin, New York 1981, S. 178); Reuvekamp (Anm. 46), S. 159–162. 58 Vgl. zu ‚Stil und Synonymie‘ und ‚Stil und Auswahl‘ Bernd Spiller: 22. Stil / Style. In: Sociolinguistics (Anm. 52), S. 206–216, hier S. 207  f. 59 Insofern stehen V. 45–48, anders als Kratz (Anm. 20), S. 9  f., meint, nicht isoliert. 60 Vgl. dazu Warnatsch (Anm. 13), S. 87–89. 61 daz er der êren krône / dô truoc unde noch sîn nam treit. (Iwein, V. 10  f.); Der künig Artus, so man sait, / der je krone der frümbkait / trúg in seinen zeiten, / davon noch so weiten / sein nam ist bekant (Mantel, V. 29–33). Passend zur einleitenden Sentenz des Mantel-Prologs ist der êren krône zur krone der frümbkait abgewandelt. frümbkait als Qualität von Artus begegnet jedoch auch im Iwein, und zwar – in motivischer Nähe zum Mantel – in Zusammenhang mit dem don-contraignant-Motiv (V. 4539).

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laudatio temporis acti mit Reflexionen über werc und maere verknüpft ist. Während im Iwein der Verlust der vreude am Artushof beklagt wird, letztlich aber die heutigen maere über die damaligen werc gestellt werden (V. 48–58), ist im Mantel (V. 40–48) ein anderer Akzent gesetzt, indem nicht der Wert des Erzählens selbst betont, sondern in einer rezeptionsorientierten Betrachtungsweise das (visuelle) Miterleben dem Erzählen übergeordnet wird. Dem Erzählen wird eine notwendige Ersatzfunktion zugestanden, die vor allem in der Vermittlung von Inhalten (V. 49) gesehen wird. Gleichzeitig regt der Text zu einer Reflexion über das Erzählen an, denn mit der Verwendung eines dichten Netzes intertextueller Verweise, deren inhaltliche Implikationen hier nicht im Einzelnen aufgearbeitet werden können, nimmt der Mantel ein für den Artusroman typisches Verfahren auf.⁶² Es wird jedoch nicht nur affirmierend, sondern auch gleichsam dekonstruierend eingesetzt, wenn im nächsten Abschnitt des Prologs die Erfahrung des Verlusts der Artuswelt (vgl. Iwein, V. 48–53) thematisiert wird. Der Prologsprecher scheint hier vor allem seine eigene Zeit zu beklagen, wenn er sich darüber verwundert, dass Artus nicht genügend betrauert werde; allerdings relativiert die Art des Sprechens auch die Überhöhung der Artusfigur, wie nach einer Analyse möglicher intertextueller Bezüge gezeigt werden soll: Mich wúndert, daz nicht enklagent die leut mit gemainem růf, daz es got je geschúf, daz aller tugent orthabe uns ist so gezugket abe, daz | er nicht immer leben solte. (V. 76–81)

In der Krone findet sich ein vergleichbarer Gedanke, wenn gesagt wird, dass die Welt von heute Grund zur Trauer um Artus habe, jedenfalls wenn sie noch denselben ethischen Idealen folgte.⁶³ Ob im Mantel eine konkrete intertextuelle Referenz auf diese Stelle in der Krone vorliegen kann, hängt von der angenommenen Entstehungsreihenfolge der beiden Werke ab.⁶⁴ Zwar sind die von Schröder gesammelten Indizien für eine Priorität der Krone nicht eindeutig, aber er kann für mehrere Stellen des Mantel zeigen, dass sich sinnvolle bzw. sinnstiftende Bezüge zur Krone herstellen lassen.⁶⁵ 62 Vgl. dazu auch Achnitz (Anm. 13), S. 232. 63 Jn möht wol diu werlt chlagen / Chvmberlichen in disen tagen. / Het sich nv leib vnd guot / Gewendet an so reinen muot! (V. 206–209). Vgl. Heinrich von dem Türlin: Die Krone (Verse 1–12281). Nach der Handschrift 2779 der Österreichischen Nationalbibliothek. Nach Vorarbeiten von Alfred Ebenbauer, Klaus Zatloukal und Horst P. Pütz hrsg. von Fritz Peter Knapp/Manuela Niesner, Berlin, New York 2000 (ATB 12). 64 Zur Frage der Chronologie vgl. Mentzel-Reuters (Anm. 14), S. 34  f.; Hess (Anm. 13), S. 165; Achnitz (Anm. 13), S. 234  f. (jeweils ohne Festlegung). 65 Vgl. Schröder (Anm. 20), S. 171–175. Nach Schröder ist V. 888  f. (der sprach: „wo ist kai, der Ee / sovil von Ir treuen sait?“) nicht ohne die Krone verständlich, jedoch erfordert das sovil (das auch im

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Falls im Mantel (etwa bei der Keie-Figur) eine Zuspitzung gegenüber der Krone stattgefunden haben sollte, so gilt das auch für die zitierte Stelle: Die Überlegung, dass die Welt eigentlich trauern sollte, wäre umgewandelt in die Verwunderung, dass der als selbstverständlich vorausgesetzte Trauerakt nicht vollzogen wird. In einer weiteren Volte wird dann gesagt, dass Artus tatsächlich zu beweinen sei, weil ihm die Mehrzahl der Leute heute keine Ehre erweise (V. 82–90). Möglicherweise liegt noch eine weitere Anspielung vor, denn das Verb zucken, das neben ,entreißen‘ auch ,rauben‘ bedeutet,⁶⁶ weckt Assoziationen zur Entführung von König Artus in Strickers Daniel,⁶⁷ die tatsächlich einen allgemeinen Aufschrei zur Folge hat,⁶⁸ Artus aber zugleich als schwachen König erscheinen lässt. Wie das Beispiel zeigt, sind die intertextuellen Referenzen im Einzelnen schwer eindeutig zu bestimmen, auch weil die Datierung des Mantel unsicher ist.⁶⁹ Selbst wenn man sich aber nur auf den Iwein als Prätext stützt, wird deutlich, dass eine inhaltliche Komplexitätssteigerung erfolgt, weil der Rezipient aufgerufen ist, die Gedankengänge zu vergleichen. Zugleich hat aber eine Transformation in eine sehr direkte Ausdrucksweise stattgefunden, wie sie auch schon für den ersten Teil des Prologs charakteristisch war. Ohne Umschweife wird im Indikativ konstatiert, dass Artus zu beweinen ist. Auch inhaltlich wird mit Kontrasten gearbeitet, wenn diese Aussage in der Nähe vom Lob des Artus als aller tugent orthabe (V. 79) steht. Zwar ist es nur logisch, dass es besonders traurig ist, wenn der Ursprung aller Tugenden nicht angemessen geehrt wird, aber der auf semantischer Ebene erfolgende Absturz des Königs zur bemitleidenswerten Figur ist trotzdem bemerkenswert – auch im Hinblick auf das Prinzip des aptum. Mit der Beschreibung der Gebräuche am Artushof wird außerdem die Artusidealität relativiert, denn Artus tritt hier als tyrannischer Gastgeber in Erscheinung, der die Eingeladenen dafür büßen lässt, wenn sie nicht kommen (V.  109–127). Die inhaltlichen Wendungen kann man wie Kratz als „ungeschicktes Hin und Her“⁷⁰ deuten, aber auch als kalkulierten Kontrast ansehen, der zu einer kritischen Lektüre des weiteren Textes wie auch der Prätexte führen kann.

Sinne von ,so eifrig‘ verstanden werden kann) nicht zwingend eine lange Rede, so dass ein Rückbezug zu V. 862 plausibel erscheint. Vor dem Hintergrund der Krone ergäbe sich zusätzlich ein Kontrast zwischen der Sprachlosigkeit Keies im Mantel und seiner Rede auf die Treue seiner Geliebten in der Krone (V. 23911–23958), und zwar auch dann, wenn man sie – gegen Schröder – nicht als ernst gemeinte laudatio versteht, so wie es der Erzählerkommentar (V. 23959–23967) nahelegt. 66 Vgl. BMZ und Lexer, s.v. 67 und zuckte in ûf als einen schoup (V. 6951). Zitiert nach: Der Stricker: Daniel von dem Blühenden Tal. Hrsg. von Michael Resler, 2., neubearb. Aufl., Tübingen 1995 (ATB 92). 68 Sie riefen alle: „owê! / wir gesehen den künic niemer mê!“ (V. 6981  f.). 69 Schröder (Anm. 20), S. 177, und Schröder (Anm. 14), Sp. 965, erwägt eine Datierung in das vierte Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts oder noch später. Nach Achnitz (Anm. 13), S. 235, kommt ein Zeitraum bis zum Ende des 13. Jahrhunderts in Frage, „der Stil und die Reimgrammatik“ (S. 233) sprächen für eine Entstehung in dessen erster Hälfte. 70 Kratz (Anm. 20), S. 9.

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Im Folgenden werden mit der Festschilderung und dem bis zum Eintreten einer aventiure aufgeschobenen Essen im Mantel arthurische Motive aufgenommen.⁷¹ An einer Stelle erfolgt sogar eine Annäherung der sprachlichen Ausdrucksform an den Iwein:⁷² Si begunden etwas, davon Ir mút gefreut was: darnach Si alle růngen. dise liefen, jene sprúngen, dise zuelaufens, jene von stete, […] so schussen jene zu dem zile. man tailte hie einander spile, da schussen Si den schaft, so redeten dise von Ritterschaft, die andern von den frauen, (Mantel, V. 292–308)

dô man des pfingestages enbeiz, männeclîch im die vreude nam der in dô aller beste gezam. dise sprâchen wider diu wîp, dise banecten den lîp, dise tanzten, dise sungen, dise liefen, dise sprungen, dise hôrten seitspil, dise schuzzen zuo dem zil, dise redten von seneder arbeit. dise von manheit. (Iwein, V. 62–72)

Angesichts der Typisierung der Festschilderung im Iwein muss es im Mantel nicht darum gegangen sein, einen für den Iwein spezifischen Gedanken zu zitieren, sondern vielleicht auch nur darum, die Welt des Artusromans aufzurufen. Die Passage ist aber eng an den Gedankengang des Iwein und die Formulierungen der Iwein-Stelle angelehnt, indem zunächst zusammenfassend gesagt wird, dass sich die Gäste verschiedenen Vergnügungen hingeben, die dann im Einzelnen in einer Serie von Anaphern und Parallelismen aufgezählt werden. Die Verse im Iwein sind auf das Formprinzip der Wiederholung von dise ausgerichtet. Demgegenüber wird bei den entsprechenden Versen im Mantel mit variierenden Oppositionen gearbeitet: dise  – jene, hie  – da, dise – die andern.⁷³ In der Iwein-Stelle ist auf diese Weise ihre Literarizität mehr herausgestellt als in der entsprechenden Stelle im Mantel. Signifikante Unterschiede finden sich weiterhin am Anfang und am Ende der zitierten Textpassagen. In beiden Fällen soll zunächst die gesamte Festgesellschaft benannt werden: Der Zugang im Mantel ist kollektivierend (Si begunden etwas  – darnach Si alle růngen), im Iwein dagegen distribuierend und weniger direkt (männeclîch im die vreude nam). Im Iwein wird außerdem der Gedanke des aptum formuliert (jeder wählt sich die Tätigkeit, die am besten für ihn angemessen ist), während im Mantel alle nach der größtmöglichen

71 Koble (Anm. 7), S. 113, erkennt in der vergleichbaren Eröffnungsszene von Le Manteau mautaillié die Kunst der „recyclage“. Mentzel-Reuters (Anm. 14), S. 34, sieht eine besondere Nähe zur Krone, weil sich nur dort die Kombination von Festschilderung und anschließender Tugendprobe finde. 72 Vgl. dazu Warnatsch (Anm. 13), S. 89. 73 Hierin unterscheidet sich der Mantel-Text auch von der entsprechenden Stelle des Iwein im Ambraser Heldenbuch (fol. VIra): In V. 70 liegt dort zwar die Lesart die anndern (statt dise) vor, sonst ist aber dise beibehalten. Die Variationsbreite in der Mantel-Stelle scheint also nicht allein auf die Bearbeitung der Texte im Ambraser Heldenbuch zurückzuführen zu sein.

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Freude streben. Durch die Art der Formulierung kommt im Iwein  – anders als im Mantel – zugleich ein höfisches Ideal zum Ausdruck; das ist auch dort der Fall, wo es im Iwein heißt, dass von seneder arbeit gesprochen werde, womit auf das sehnsuchtsvolle und unerfüllte Streben nach Liebe angespielt ist. Dagegen wird im Mantel das Objekt der Liebe benannt: so redeten dise von Ritterschaft / die andern von den frauen. Einerseits wird also im Mantel der Artusroman inhaltlich und syntaktisch anzitiert, andererseits werden semantische Referenzen vereinfacht, wodurch ein profanierendes Licht auf den Prätext geworfen wird. Dass die neue inhaltliche Schwerpunktsetzung auch innerhalb des Mantel funktionalisiert wird, lässt sich daran zeigen, dass bestimmte Motive systematisch fortgeführt werden, zum Beispiel das Sprechen über die Frauen: In einer Textpassage nur wenig nach der zitierten Stelle wird ausführlich davon erzählt, wie die Männer die Frauen auf dem Weg zur Kirche beobachten und sich darüber unterhalten, welche die schönste sei (V. 334–364). Syntaktisch ist die Stelle ebenso streng mit Anaphern und Parallelismen gestaltet, wie die zitierte Iwein-Stelle; auf semantischer Ebene werden die schwankhaften Elemente des Textes vorbereitet, indem die Männer stolz einzelne Körperteile ihrer Liebsten preisend direkt benennen, die zum Teil später bei der Mantelprobe bloßgestellt werden.⁷⁴ Die sprachliche Direktheit erfüllt so – vor der Folie des als Referenz dienenden Artusromans – die Funktion, eine veräußerlichende Perspektive zu eröffnen, die der verfeinerten Welt der Hartmannschen Artusromane nicht entspricht. In der eigentlichen Erzählung tauchen dann wiederholt Kontrasteffekte und Verletzungen des aptum auf, zum Beispiel durch die Drastik der Komik.⁷⁵ Gegenüber der eingangs aufgerufenen höfischen Welt stellt vor allem die Verwendung bestimmter Sprachregister einen Bruch dar. So sagt der Ritter Unsefte (V. 887) über Keies amie, als sie den Mantel angelegt hat: Ich wän, si etwenne Ir treu vil úbel deckhet, davon Ir der Ars so hinden pleckhet. (V. 896–898)

Eine solche Wortwahl gehört in den Bereich des Schwankhaften. In der schwankhaften Märendichtung könnte man auch Parallelen für die direkten semantischen

74 Zur Funktion des Frauenpreises vgl. auch Kasper (Anm. 20), S. 112. 75 „Der Spott verliert seinen Sinn als üble Nachrede und als Anwurf, da er nicht mehr Ausnahmephänomen ist, sondern allgegenwärtige gesellschaftliche Realität des Hofes bezeichnet – dieser Umstand nimmt ihm die Spitze und öffnet ihn hin zur Brutalität und Derbheit einer Komik, die nicht zur Reflexion über die verbrämt dargestellten Defizite anregen will, sondern die durch ihre Drastik besticht. In der Pauschalisierung wird der groben Dichotomie des Schwankes, der sich auf Typen statt auf Zwischentöne versteht, der Weg bereitet. Der arcspreche dient dabei als böser Türöffner.“ (Seeber [Anm. 34], S. 22).

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Bezüge und die typhaften Figuren finden.⁷⁶ Hier sei – ausgehend von dem konstatierten Bruch, der mit der in der Forschung häufig bemängelten Disproportioniertheit des Mantel in Beziehung zu setzen ist – das (spätere) in seiner Hybridität vergleichbare Märe Der Wirt herangezogen. Dieses in die Mitte des 14. Jahrhunderts datierte Märe wurde interessanterweise nicht in Friedrich Heinrich von der Hagens erste Gesammtabenteuer-Ausgabe aufgenommen, was Heinrich Niewöhner damit erklärt, dass von der Hagen die Nennung von König Artus so stark in den Vordergrund gerückt habe, dass das die Gattungszuordnung verunklärt habe.⁷⁷ In der Eingangssequenz von gut 100 (von insgesamt knapp 600) Versen wird zunächst das Personal eingeführt: ein tugendhafter Mann, ein rekke als sein Gefährte und ein nicht so tugendhafter Knecht. Dann wird das Setting als locus amoenus im Mai beschrieben. Bis zur ersten Erwähnung des Knechts in Vers 63 ist nicht klar, dass der Text schließlich komplett ins Schwankhafte umschlagen wird, indem thematisiert wird, wie die drei miteinander wetteifern, wer vor den Augen des Wirts mit dessen Frau schlafen kann. Der Text bedient sich an einigen Stellen eines teilweise antiquierten heldenepischen Vokabulars (rekke, degen) und greift im Anfangsteil vor allem auf ein höfisches Wortfeld zu, etwa in der Einführung des adeligen Jünglings, in der auch der vrouwen dienst aufgeführt ist: ach got, wie hüeb ouch sich ein klagen, sold er niht leben mangen tac als er noch wol vor alter mac! manger vrouwen herzen grunt sæh man mit herzenleid verwunt, ir roten munt entverwet gar, mit weinen ouch ir ougen klar begozzen, so der uzgewegen niht solde ritterschefte pflegen. künc Artus hat in uzerkorn, den werden degen hochgeborn, und in durch vrouwen dienst gesant zu sinem hof in disiu lant. (V. 32–44)⁷⁸

76 Auf Fischers umstrittene Gattungstypologie sei hier nur aus Gründen der schnelleren Verständigung verwiesen (vgl. Hanns Fischer: Studien zur deutschen Märendichtung, 2., durchges. und erw. Aufl. besorgt von Johannes Janota, Tübingen 1983, S. 101–116). 77 Vgl. Heinrich Niewöhner: Des Wirtes Mære. In: ZfdA 60 (1923), S. 201–219, hier S. 201. Allerdings bezeichnete von der Hagen selbst den Text als „eine unzüchtige erzählung“ (zitiert ebd.). 78 Neues Gesamtabenteuer, das ist Friedrich Heinrich von der Hagen’s Gesamtabenteuer in neuer Auswahl. Die Sammlung der mittelhochdeutschen Mären und Schwänke des 13. und 14. Jahrhunderts. 1. Bd. hrsg. von Heinrich Niewöhner, 2. Aufl. hrsg. von Werner Simon. Mit den Lesarten besorgt von Max Boeters/Kurt Schacks, Berlin 1967, 19. Der Wirt (S. 125–133).

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In Bezug auf Der Wirt wurde darauf hingewiesen, dass „die Verwendung höfischer Stilmittel für Stoffe und ein Milieu […], denen sie nicht angemessen sind“, in zahlreichen Mären zu beobachten sei. Es sei zu fragen, inwiefern eine komische Kontrastwirkung beabsichtigt sei.⁷⁹ Bei dem Märe Der Wirt entsteht mit Sicherheit eine komische Kontrastwirkung dadurch, dass der über etliche Verse hin als höfische Idealfigur eingeführte Jüngling sich keineswegs entsprechend verhält. Auch das Märe könnte man – wie Schröder den Mantel – als „kopflastig“⁸⁰ bezeichnen, wobei beim Märe die Disproportioniertheit eindeutig intendiert zu sein scheint. Vor diesem Hintergrund kann der lange Mantel-Prolog als ein Formzitat⁸¹ verstanden werden, das die inhaltliche Kritik am Artushof formal spiegelt.⁸² Ob man die schwankhaften Elemente im Mantel ebenfalls als intertextuelles Spiel mit Gattungsmustern deuten kann, hängt von der Entstehungszeit des Textes ab. Es ist aber zu Recht darauf hingewiesen worden, dass schwankhaftes Erzählen durchaus vor der Herausbildung des schwankhaften Märes begegne.⁸³ Hilfreich erscheint in diesem Zusammenhang Klaus W. Hempfers auf transhistorische Invarianten zielender Begriff der ,Schreibweise‘,⁸⁴ ohne dass mit der Übernahme dieses Begriffs eine

79 Vgl. Helmut de Boor: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Erster Teil: 1250–1350, 5. Aufl. neubearb. von Johannes Janota, München 1997 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 3,1), S. 241. 80 Schröder (Anm. 20), S. 175. 81 Zur Abgrenzung von ,Formzitat‘ und ,Systemreferenz‘ vgl. Andreas Böhn: Das Formzitat. Bestimmung einer Textstrategie im Spannungsfeld zwischen Intertextualitätsforschung und Gattungstheorie, Berlin 2001 (Philologische Studien und Quellen 170), S. 40–44. Zur Definition von ,Formzitat‘ vgl. auch Bassler, der es aber auf konkrete intertextuelle Übernahmen einschränken will (vgl. Moritz Bassler: 1.3 Formzitat und Gattung. In: Handbuch Gattungstheorie [Anm. 41], S. 50–52). 82 Vgl. dazu Peter Kuon: Gattung als Zitat. Das Paradigma der literarischen Utopie. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der DFG, Würzburg 1986. Hrsg. von Christian Wagenknecht, Stuttgart 1989 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 9), S. 309–325, hier S. 321: „Wo nämlich Gattungen zitiert werden, geht es im allgemeinen nicht um ihren bloßen mimetischen Nachvollzug in verkürzter Form, sondern um ihre kritisch-distanzierte Thematisierung.“ Zu Kuons Konzept von Gattungen als „historische[n] ‚Idealobjekte[n]‘“ vgl. ebd., S. 309  f. 83 Vgl. Nicola McLelland: Ulrich von Zatzikhoven’s Lanzelet. Narrative Style and Entertainment, Cambridge 2000 (Arthurian Studies 46), S. 103; Sebastian Coxon: Der Ritter und die Fährmannstochter. Zum schwankhaften Erzählen in Wolframs Parzival. In: Wolfram-Studien 17 (2002), S. 114–135; zustimmend Stefan Seeber: Poetik des Lachens. Untersuchungen zum mittelhochdeutschen Roman um 1200, Berlin, New York 2010 (MTU 140), S. 107, Anm. 124. Zur Problematik der Definition des Schwankhaften vgl. auch Thomas Gutwald: Schwank und Artushof. Komik unter den Bedingungen höfischer Interaktion in der Crône des Heinrich von dem Türlin, Frankfurt a. M. u.  a. 2000 (Mikrokosmos 55), S. 91–97. 84 Vgl. dazu Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie. Information und Synthese, München 1973 (UTB 133), S. 27; ders.: 1.4 Generische Allgemeinheitsgrade. In: Handbuch Gattungstheorie (Anm. 41), S. 15–19 (mit weiterer Literatur).

Der Mantel im Ambraser Heldenbuch und die Frage nach dem Stil 

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völlige Transhistorizität des Schwankhaften behauptet werden soll. Der Mantel wäre dann ein Text, der intertextuelle Referenzen zum Artusroman mit Schreibweisen des Schwankhaften und auch des Didaktischen kombiniert. Ist dieser ‚Schnitt‘ des Mantel eine Stilfrage? Es hat sich in dieser knappen Analyse gezeigt, dass sich die Machart des Textes durch das Aufzeigen intertextueller Bezüge charakterisieren ließ. Damit können jedoch nur die einzelnen Komponenten des Textes erfasst werden. Für die Beschreibung ihres Zusammenwirkens scheint die Anwendung eines linguistischen Stilbegriffs adäquat.⁸⁵ Dann müsste man aber auch die Funktion des hybriden Stils des Mantel benennen. Vereinfacht gesprochen könnte sie darin liegen, dass die Brüche (vom Höfischen zum Schwankhaften) und die Disproportioniertheit des Textes der schlechten Passform des Mantels entsprechen. Auch auf der Ebene des Erzählens werden auf diese Weise Mängel der Artuswelt offengelegt; die Forderung nach dem aptum wäre gewissermaßen durch die Entsprechung von Form und Inhalt erfüllt. Damit hätte der Mantel aber nicht eine primär poetologische Stoßrichtung, wie sie Bloch in seiner eingangs zitierten Deutung für Le Manteau mautaillié annimmt, sondern der Stil unterstriche das Erzählte. Insofern schließt eine solche Interpretation einen didaktischen Impetus des Textes nicht aus. Methodisch besteht allerdings auch bei dieser Deutung die Gefahr normativer Qualitätsurteile, wie sie unter den Vorzeichen des Personalstils in der Forschungsgeschichte des Mantel immer wieder formuliert worden sind: Anstatt die Disproportioniertheit des Mantel zu kritisieren, behauptet man, der Mantel sei absichtlich zu kurz!⁸⁶ Insofern soll hier keine Intentionalität vorausgesetzt, sondern lediglich konstatiert werden, dass der Text eine solche Lektüremöglichkeit eröffnet. Die Annahme, dass die Form eines Textes ausdeutbar sei, ist gewissermaßen immer schon mit der ‚Frage nach dem Stil‘ verbunden.⁸⁷ Ob sich die Machart des Mantel-Textes allein auf das Motiv des nicht passenden Mantels beziehen lässt, wäre erst durch einen umfassenderen Textvergleich zu erweisen. Hier käme die Krone mit ihren schwankhaften Elementen und intertextuellen An-

85 Die für den Mantel beschriebenen Phänomene haben eine Nähe zu der in der Linguistik diskutierten Mischung von Textmustern, die z.  B. zur Steigerung der Aufmerksamkeit oder zur Etablierung neuer Sichtweisen dienen kann (vgl. dazu Sandig [Anm. 44], S. 164–166). 86 Vgl. dazu Georg Michel: Stilprinzip. In: RLW 3 (2003), S. 518–521, hier S. 519: „Stilbrüche können poetisch intendiert sein (z.  B. auf Komik zielen) oder aber mangelnder kommunikativer Kompetenz entspringen.“ 87 „Wer nach dem Stil fragt, geht davon aus, daß die Art und Weise des Sprachgebrauchs Bedeutung habe, daß sie Sinn mache.“ (Johannes Anderegg: Stil und Stilbegriff in der neueren Literaturwissenschaft. In: Stilfragen [Anm. 12], S. 115–127, hier S. 123). Vgl. dazu, dass insbesondere bei literarischen Texten das ,Was‘ nicht vom ,Wie‘ zu trennen ist, auch Hans-Martin Gauger: Was ist eigentlich Stil? In: Stilfragen (Anm. 12), S. 7–26, hier S. 17.

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spielungen⁸⁸ als systematisches Vergleichsbeispiel wieder in den Fokus der Untersuchung, ebenso – mit anderer Akzentsetzung – der Wigalois Wirnts von Grafenberg mit seinen aus der Kombination verschiedener Textmuster resultierenden erzählerischen Brüchen.⁸⁹ Da Mischungen von Erzähl- und Stilmustern das Vorhandensein etablierter Muster voraussetzen,⁹⁰ könnte man versucht sein, sie als generellere Phänomene des späten Artusromans deuten zu wollen – wenn sich Ähnliches nicht auch schon im Lanzelet Ulrichs von Zatzikhoven beobachten ließe,⁹¹ der allerdings auch nicht ohne die Kenntnis vorheriger Artus-Erzählungen verfasst worden sein wird.⁹² Wenn der Mantel als Text gelesen werden kann, der bestimmte Kohärenzerwartungen erzählerisch durchbricht, hat das auch Konsequenzen für die Beurteilung der Kombination von Mantel und Erec im Ambraser Heldenbuch. Aufgrund der Überschrift, die dem Verbund aus beiden Texten zugeordnet ist, und dem gleichmäßigen Schriftbild geht man davon aus, dass Hans Ried einen einheitlichen Text über verschiedene Repräsentanten des Artushofs aus einer Vorlage abzuschreiben meinte, obwohl der heute allgemein als Erec identifizierte Text unvermittelt mit einem unvollständigen Reimpaar beginnt.⁹³ Auch wegen der in der Handschrift nicht vorhandenen Überleitung überwiegt für den heutigen Leser der Eindruck der Inkohärenz. In der Forschung wurde der Textverbund bisher meist auf inhaltliche Korrespondenzen hin befragt.⁹⁴ Offensichtlich ist der Mantel für die Kombination mit dem Erec zumindest bearbeitet worden; dies ist jedenfalls die plausibelste Erklärung dafür, warum, im Unterschied zu allen anderen Erzählungen von Mantelproben, hier Enite die Probe 88 Vgl. dazu Gutwald (Anm. 83); Vollmann (Anm. 27); Florian Kragl: Zur Poetik der Krone Heinrichs von dem Türlin. In: Heinrich von dem Türlin: Die Krone. Unter Mitarbeit von Alfred Ebenbauer ins Neuhochdeutsche übers. von Florian Kragl, Berlin, Boston 2012, S. 457–496. 89 Vgl. dazu Hans-Jochen Schiewer: Prädestination und Fiktionalität in Wirnts Wigalois. In: Fiktionalität im Artusroman. Dritte Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft in Berlin vom 13.–15. Februar 1992. Hrsg. von Volker Mertens/Friedrich Wolfzettel unter Mitarbeit von Matthias Meyer und Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 1993, S. 146–159. 90 Vgl. dazu grundsätzlich Kuon (Anm. 82), S. 321: „Gattungszitate [können] ihr textuelles wie generisches Sinnpotential nur dann entfalten, wenn sie auf bestimmte historische Gattungszustände bezogen werden.“ 91 Vgl. McLelland (Anm. 83), S. 83–169; dies.: Stil und Dialog. Stilistische Variationen im Lanzelet. In: Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999. Hrsg. von Nikolaus Henkel/Martin H. Jones/Nigel F. Palmer unter Mitwirkung von Christine Putzo, Tübingen 2003, S. 41–59. Vgl. dazu Ulrich von Zatzikhoven: Lanzelet. Hrsg. von Florian Kragl, Bd. 2: Forschungsbericht und Kommentar, Berlin, New York 2006, S. 1009– 1015 (mit einer Problematisierung der von McLelland verwendeten Kategorie des ,postklassischen‘ Artusromans). 92 Zur Datierung und eventuellen Erec-Bezügen vgl. Kragl (Anm. 91), S. 901–907; S. 1055–1057. 93 Vgl. Schröder (Anm. 20), S. 166  f. Zur Interpunktion an der Übergangsstelle vgl. Hess (Anm. 13), S. 176  f., mit einer Transkription der entsprechenden Stelle auf S. 181. 94 Vgl. Schröder (Anm. 20), S. 166  f.; Bumke (Anm. 47), S. 11  f.; Hess (Anm. 13), S. 156–176. Für die Diskussion der handlungslogischen Verknüpfung sei auf den Beitrag von Andreas Hammer in diesem Band verwiesen.

Der Mantel im Ambraser Heldenbuch und die Frage nach dem Stil 

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am besten besteht. Auch lässt sich der Mantel-Prolog auf den Erec beziehen, wenn man die holzschnittartige Denkweise des Mantel übernimmt: Am Ende des Erec erscheinen Erec und Enite als exempla einer guten Lebensweise,⁹⁵ so dass der Text über diese beiden Figuren durchaus als Beitrag zu einer größeren frümbkait des Rezipienten verstanden werden kann. Dass der Mantel jedoch für die Kombination mit dem Erec entscheidend gekürzt⁹⁶ oder gar dem Erec sekundär hinzugedichtet worden sei,⁹⁷ muss nach den vorangegangenen Untersuchungen nicht zwingend angenommen werden. Zu dem didaktisierenden Einstieg und der negativen Weltsicht im Mantel-Prolog passt es, dass absolute Reinheit bei der Mantelprobe nicht erreicht wird und dass der Text auf Keies Bosheit zusteuert, so wie es bei dem überlieferten Zuschnitt der Fall ist. Zum Argument der inhaltlichen Kohärenz tritt das einer funktionalisierten stilistischen Divergenz, denn sie macht die Prologlänge auch unabhängig von einer großepischen Ausrichtung erklärlich. Wenn Brüche im Mantel-Text selbst schon neue Sinndimensionen eröffnen, dann sollte man auch den Mantel-Erec-Verbund nicht allein auf Kohärenz befragen, sondern Perspektiven nachgehen, die sich durch die eben nicht ganz harmonische Kombination der beiden Texte ergeben. Dabei verschränken sich inhaltliche und stilistische Aspekte:⁹⁸ Zum Beispiel zeigen sich bei der Konzeption der Keie-Figur Divergenzen, da Keie im Erec (V. 4633–4664)⁹⁹ vielschichtiger gezeichnet wird als im Mantel. Aber die direkten und didaktisierenden Aussagen über Keie im Mantel stehen keineswegs

95 Vgl. auch bereits V. 996–998 des Textverbundes bzw. V. 2–4 des Erec: ditz was Erech Vilderoilach, / der baiden frumbkait und salden phlag. / Durch den die rede erhaben ist. (zitiert nach Hammer/Millet/Reuvekamp-Felber [Anm. 11]); vgl. dazu: Hartmann von Aue: Erec. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente. Hrsg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff. 7. Auflage besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 2006 (ATB 39). Vgl. dazu auch Hess (Anm. 13), S. 174, Anm. 69. 96 Schröder (Anm. 20), S. 167, hält die Handlung angesichts des ausführlichen Prologs für verlängerungsbedürftig, vor allem, da die Mantelprobe – anders als im Fabliau – nicht mit der Aushändigung des Mantels an eine Siegerin zu einem Abschluss kommt (vgl. ebd., S. 175). Doch weist er selbst (ebd., S. 174) darauf hin, dass der Mantel mit Keies Ausschluss aus der Tafelrunde, soweit man weiß, singuläre inhaltliche Akzente gesetzt hat. Kasper (Anm. 20), S. 112, plädiert dagegen für die Abgeschlossenheit des Mantel. Nach Achnitz (Anm. 13), S. 234, „muss ungeklärt bleiben“, ob der Mantel ursprünglich eine Kurzerzählung oder Teil eines Romans gewesen sei. 97 Das erwägen Mentzel-Reuters (Anm. 14), S. 35  f., und Bumke (Anm. 47), S. 12; zustimmend Hess (Anm. 13), S. 178  f., die allerdings auch auf Divergenzen hinweist. Der syntaktische Bruch an der Übergangsstelle bleibt bei dieser Hypothese ebenso erklärungsbedürftig wie bei der Annahme einer planvollen redaktionellen Zusammenführung zweier ursprünglich unabhängiger Texte. 98 Für einen systematischen Stilvergleich müsste man den Mantel- und den Erec-Teil in der sprachlichen Gestalt, wie Hans Ried sie ihnen gegeben hat, zur Grundlage machen, was demnächst dank der im Entstehen begriffenen Ausgabe möglich sein wird (s.  o. Anm. 11). 99 Zum Versausfall im Ambraser Heldenbuch in der unmittelbar vorangehenden Passage vgl. Gärtner (Anm. 95), S. XV; S. XIX; Hess (Anm. 13), S. 174  f.

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einem durchgehend differenzierten Keie-Bild im Erec gegenüber, sondern Keie wird dort (bei der Herausforderung des verwundeten Erec) auch eindimensional als der valsche Keie bezeichnet (V. 4678). Hier gibt es im Erec nicht nur eine inhaltliche Parallele zum Mantel, sondern auch eine Parallele in der Direktheit der Ausdrucksweise, die zwar schon bald wieder von höfischer Indirektheit überlagert, aber doch punktuell durch den Mantel ‚entblößt‘ wird.¹⁰⁰ Dass der Mantel dem Erec im Ambraser Heldenbuch in mancher Hinsicht schlecht ‚sitzt‘, mag vielleicht ein Ausdruck von Unvermögen sein; zugleich entstehen Reibungsflächen, die zu Reflexionen über die Artuswelt und das Erzählen davon anregen. Damit steht der Mantel-Erec-Verbund im Kontext der Artusroman-Tradition nicht alleine.

100 Hess (Anm. 13), S. 175, die eine harmonisierende Lektüre vornimmt, kommt auf der Ebene der Figurengestaltung ebenfalls zu dem Ergebnis, dass der Mantel keine dem Erec „diametral entgegengesetzte Rezeptionsperspektive evoziert“.

Materialität und Stil

Johannes M. Depnering

Stil und Struktur Die Literarisierung der Predigten Bertholds von Regensburg und ihre materielle Reflexion in den Handschriften Der Doppelcodex Ms. 117 I/II des Couvent des Cordeliers in Freiburg i. Ü. ist einmalig unter den mehr als 300 lateinischen Handschriften mit Predigten, welche dem Franziskaner Berthold von Regensburg (ca. 1210–1272) zugeschrieben werden.¹ Die Besonderheit der Handschrift liegt nicht nur in der Auswahl, sondern auch in der unikalen Bearbeitung der lateinischen Predigten, in welche zudem eine beachtliche Anzahl an deutschen Wörtern eingebettet sind. Jahrzehntelang führte dies innerhalb der Berthold-Forschung zu Spekulationen, ob es eine der ursprünglichsten Handschriften sei, möglicherweise sein viaticum  – das Predigthandbuch für unterwegs.² Trotz der Einsicht, dass in Ms. 117 I/II die echten Bertholdpredigten „gelegentlich […] mit Predigten anderer Autoren ergänzt worden sind“, bemerkt Pascal Ladner, dass „der Berthold-Text dieser Handschrift in vielen Fällen die beste, authentische Lesart bietet“.³ Auch für ihre vor kurzem erschienene Dissertation verwendet Ariane Czerwon Texte dieses Codex als Quelle, um unter anderem zu zeigen, „daß die aus den deutschen Predigten bekannte individuelle Rhetorik Bertholds sich bereits in den lateinischen Sermones des Freiburger Codex angedeutet findet“.⁴ Angesichts der ausführlichen und weitestgehend kritischen Analyse von Ms. 117 I/II durch Laurentius

1 Auflistungen der Handschriften finden sich in Laurentius Casutt: Die Handschriften mit lateinischen Predigten Bertholds von Regensburg O. Min., ca. 1210–1272, Freiburg i. d. S. 1961; Johannes Baptist Schneyer: Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters für die Zeit von 1150– 1350, Münster 1969 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 43). Im Rahmen des ‚e-codices‘ Digitalisierungsprojekts wurde eine digitale Version der Handschrift Ms. 117 I/II sowie eine Beschreibung von Christoph Jörg (2008) online verfügbar gemacht. Siehe http:// www.ecodices.unifr.ch/de/description/fcc/0117–1 und http://www.e-codices.unifr.ch/de/description/ fcc/0117–2. 2 Der Begriff viaticum bezieht sich normalerweise auf die Kommunion, die einem Sterbenden gereicht wird. Die Forschung zu Ms. 117 I/II gebraucht ihn allgemeiner, im Sinne von ‚Wegzehrung‘. Vgl. Laurentius Casutt: Die Beziehungen einer Freiburger Handschrift zum lateinischen Predigtwerk Bertholds von Regensburg. In: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 56 (1962), S. 73–112; S. 215–261. Vgl. zur Forschungslage Ariane Czerwon: Predigt gegen Ketzer. Studien zu den lateinischen Sermones Bertholds von Regensburg, Tübingen 2011; siehe hierzu auch Casutt, S. 74–79. 3 Pascal Ladner: Zur Bedeutung der mittelalterlichen Bibliothek des Franziskanerklosters in Freiburg. In: Zur geistigen Welt der Franziskaner im 14. und. 15. Jahrhundert. Die Bibliothek des Franziskanerklosters in Freiburg/Schweiz. Akten der Tagung des Mediävistischen Instituts der Universität Freiburg vom 15. Oktober 1993. Hrsg. von Ruedi Imbach/Ernst Tremp, Freiburg i. d. S. 1995 (Scrinium Friburgense 6), S. 11–24, hier S. 20. 4 Czerwon (Anm. 2), S. 4.

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Casutt ist dies bemerkenswert. So resümiert Casutt auf Grund seiner inhaltlichen Vergleiche, dass Ms. 117 I zwar in Stücken „unbestreitbar eine größere Anschaulichkeit und Ausdruckskraft“ habe, jedoch diese „Stellen nur als Wasserschosse auf den Bäumen Bertholds wuchern“ und die Handschrift nichts anderes sei als „ein Blutegel, der sich am Leben eines andern voll saugt“.⁵ Ein Ziel dieses Beitrags ist es daher, ein zentrales Element dieser Handschrift zu untersuchen, welches stark zu den Authentizitätsvermutungen beigetragen hat: die volkssprachigen Wörter innerhalb der lateinischen Sermones, von David D’Avray als „islets in a Latin sea“⁶ bezeichnet. Es handelt sich dabei nicht um Interlinearglossen oder Marginalien, sondern um Vokabular, das fortlaufend in die Textzeilen integriert wurde, ohne es durch Rubrizierungen, Unterstreichungen oder Majuskeln hervorzuheben. Die deutschen Einschübe sind dabei gleichmäßig über die gesamte Handschrift verteilt und finden sich sowohl in Predigten, die Berthold von Regensburg zugeschrieben werden können, als auch in Sermones unbekannter Herkunft.

Die Freiburger Handschrift Ms. 117 I/II und ihre Geschichte Der Doppelcodex Ms. 117 I/II bestand ursprünglich aus einem einzelnen Band mit 504 Pergamentblättern in der Größe 185 × 135 mm und wurde gegen Ende des 13. Jahrhunderts geschrieben. Es handelt sich damit um einen der ältesten Codices mit Bertholdpredigten überhaupt.⁷ Die Handschrift gelangte auf unbekannte Weise in Besitz von Friedrich von Amberg (ca. 1350–1432), der zu Beginn des 15. Jahrhunderts Guardian des Franziskanerkonvents in Freiburg i. Ü. war.⁸ Im Jahre 1403 teilte Friedrich die Handschrift in zwei Bände auf und fügte eigenhändig am Ende einer jeden Handschrift ein alphabetisches Register (I, 243r–253v; II, 263r–273r) sowie ein Inhaltsver-

5 Casutt (Anm. 2), S. 232. 6 David D’Avray: The Preaching of the Friars. Sermons diffused from Paris before 1300, Oxford 1985, S. 95. 7 Siehe Casutt (Anm. 1). 8 Nach seinem Noviziat im Franziskanerkloster Regensburg studierte Friedrich von Amberg Philosophie und Theologie in Straßburg, Freiburg i. Br., Paris und Avignon. Im Jahre 1392 wird er zum Magister theologiae ernannt und zum Provinzial der oberdeutschen Minoritenprovinz des franziskanischen Ordens erhoben. 1393 erreicht Friedrich Freiburg i. Ü., wo er in den Jahren 1409 und 1414 als Guardian des Franziskanerkonvents dokumentiert ist und am 27. Juni 1432 stirbt. Die 18 Handschriften aus seinem Besitz werden bis heute im Couvent des Cordeliers in Freiburg aufbewahrt. Zur Biographie siehe Christoph Jörg: Friedrich von Amberg. In: 2VL, Bd. 2 (1980), Sp. 931–933. Zu den Handschriften siehe ders.: Untersuchungen zur Büchersammlung Friedrichs von Amberg. Ein Beitrag zur franziskanischen Geistesgeschichte des Spätmittelalters. In: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 69 (1975), S. 1–117.

Stil und Struktur 

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zeichnis der Predigten (I, 255r–266r; II, 273v–285r) hinzu. Die Bände wurden in Holzdeckel mit weißem Lederüberzug neu eingebunden, mit zwei Metallschließen, aber ohne weitere Verzierungen. Die Spiegelblätter von Ms. 117 I (fol. 1 und 272) enthalten Fragmente aus einer Sammlung theologischer quaestiones; in Ms. 117 II sind sie unbeschrieben. Auf dem Hinterdeckel jedes Bandes ist ein Titelschild angebracht worden mit der Aufschrift Sermones Rusticani prima pars (Ms. 117 I) bzw. Sermones Rusticani secunda pars (Ms. 117 II), geschrieben in einer Textura des 15. Jahrhunderts. Auf dem Vorderdeckel war jeweils eine Kette angebracht, von deren Befestigung noch Spuren sichtbar sind. Dies weist stark darauf hin, dass die Bände, wie in Franziskanerbibliotheken üblich, angekettet auf einem Pult lagen.⁹ Im hinteren Teil jedes Bandes befindet sich der Besitzvermerk Friedrichs (Liber magistri Friderici ordinis minorum, I, 271v, teilweise verdeckt in II, hinterer Spiegel). Es gibt vereinzelt Marginalglossen von Händen des 14. Jahrhunderts, jedoch stammen die meisten Verwendungsspuren von Friedrich, der mittels Rubrizierungen „die inneren Predigtteile mit Randbemerkungen hervorhob, und […] die wichtigsten Predigtgedanken mit schwarzen Randbuchstaben in durchlaufender alphabetischer Reihenfolge [versah]“.¹⁰ Die moderne Foliierung zählt 272 (plus 222a) Blätter in Ms. 117 I und 292 Blätter in Ms. 117 II. Die Predigten sind sorgfältig in einer gotischen Textualis geschrieben worden, allerdings nicht von einer, sondern von zwei Händen, was von der aktuellen Forschung übersehen worden ist.¹¹ Der Schreiberwechsel findet nach den ersten zwei Lagen in Ms. 117 I statt. Auf dem letzten Blatt der zweiten Lage (fol. 25v) hat die erste Hand unterhalb des Schriftraums drei weitere Zeilen hinzugefügt und schließt mit einem langgezogenen A~~M~~e~~n. Casutt bemerkt hierzu richtigerweise, dass

9 Siehe Eva Schlotheuber: Büchersammlung und Wissensvermittlung. Die Bibliothek des Göttinger Franziskanerklosters. In: Schule und Schüler im Mittelalter. Beiträge zur europäischen Bildungsgeschichte des 9. bis 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Martin Kintzinger u.  a., Köln, Weimar, Wien 1996, S. 217–244, hier S. 219; vgl. auch Ladner (Anm. 3), S. 23. 10 Jörg, Untersuchungen (Anm. 8), S. 66. 11 Bereits Schönbach hat einen Handwechsel in den ersten Lagen wahrgenommen – wenn auch an falscher Stelle. Siehe Anton E. Schönbach: Studien zur Geschichte der altdeutschen Predigt, Bd. 8, Wien 1907 (Nachdruck Hildesheim 1968), S. 146. Casutt (Anm. 2), S. 84, Anm. 2, negiert diese Beobachtung, und auch Jörg entgeht bei seiner Beschreibung (Anm. 1), dass es sich tatsächlich um zwei Hände handelt, deren Duktus nur gering voneinander abweicht. Die Distinktheiten der beiden Hände sind die folgenden: In ta-, aber auch fa- und ga-Verbindungen verwendet die erste Hand das ältere doppelstöckige a; bei der zweiten Hand dagegen kommt es zu Ligaturen mit einbogigem a. Das g der ersten Hand ist rund und 8förmig; das g der zweiten Hand dagegen hat einen ausladenden Unterbogen, welcher nach einer Brechung als Haarstrich zum Buchstabenkörper zurückgeführt wird. Daneben verwendet die zweite Hand auch das Rücken-g, welches der Zahl 9 ähnelt. Die erste Hand verwendet ausschließlich rundes s am Wortende, die zweite daneben oft Schaft-ſ. Kleinere Differenzen gibt es zudem bei der Art der Abbreviaturen – die erste Hand verwendet für Wortkürzungen deutlich öfter hochgestellte Buchstaben.

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diese Predigten „offensichtlich eine separate Sammlung, d.  h. ein Heft“¹² bildeten.¹³ Anhand der Anzahl der Schreiber – konkret: dass es sich um mehr als einen handelt – kann bereits geschlussfolgert werden, dass die Sermones von einer oder mehreren Vorlagen kopiert wurden und es sich nicht um direkte Bearbeitungen einer Einzelperson handeln kann. Der Doppelcodex enthält Predigten aus allen fünf lateinischen Sammlungen, die Berthold von Regensburg zugeschrieben werden.¹⁴ In seiner umfangreichen Analyse von Ms. 117 I/II versucht Casutt zu unterscheiden zwischen Predigten, die als vollständig gelten können, Bearbeitungen von Predigten sowie anonymen Predigten bzw. Predigten eines anderen Autors.¹⁵ Allerdings scheinen die Kriterien dieser Klassifikation zu einem gewissen Grade subjektiv zu sein, da Casutt nicht erwähnt, aus welchen Handschriften er Texte zum Vergleich herangezogen hat. Ein weiteres Problem liegt darin, dass es bis heute keine Edition der lateinischen Predigtsammlungen gibt. Dies erschwert eine umfassende Bewertung der Authentizität dieser Bertholdpredigten. Darüber hinaus kritisiert Casutt, dass es von den Germanisten „bisher  – unbegreiflicherweise – unterlassen wurde“, die „zahlreich vorkommenden deutschen Ausdrücke“¹⁶ näher zu untersuchen, um den Sprachraum zu bestimmen, aus dem sie entstammen. Trotz des relativ kleinen Corpus erscheint eine Lokalisierung möglich. Zahlreiche orthografische Merkmale deuten in das bairisch-alemannische Grenzgebiet.¹⁷ Der Konsonant /k/ ist im Anlaut und nach n, r, l zur Affrikata /kx/ verschoben und wird als wiedergegeben, was nicht nur im Bairischen, sondern auch in Schwaben üblich ist:¹⁸ lůtercheit (I, 9ra), chetzermeister (I, 32vb), chlag (I, 192ra), chaufschatz (II, 48vb), unchraut (II, 110rb).¹⁹/b/ im Anlaut wird gewöhnlich als realisiert (bůzze, I, 6rb; bezeichenunge, I, 51va; blinden, II, 110rb), mit nur zwei Ausnahmen,

12 Casutt (Anm. 2), S. 85, Anm. 1. 13 Differenzen finden sich auch in der Predigtzählung. Auf den ersten beiden Lagen von Ms. 117 I sind die Predigten mit I-XVI nummeriert worden, anschließend – von Ms. 117 I, fol. 26r, bis Ms. 117 II, fol. 262v, – mit 1–270. 14 Die lateinischen Predigten liegen in 5 Sammlungen vor: der Rusticanus de Dominicis (RdD) mit 58 Sonntagspredigten, der Rusticanus de Sanctis (RdS) mit 124 Predigten zu besonderen Heiligen, der Rusticanus de Communi (RdC) mit 75 allgemeinen Heiligenpredigten, die Sermones ad Religiosos et quosdam alios (SR) mit 87 Predigten an Ordensangehörige und die Sermones speciales sive extravagantes (SS) mit 48 Predigten für besondere Anlässe; siehe Georg Jakob: Die lateinischen Reden des seligen Berthold von Regensburg, Regensburg 1880, S. 13; Casutt (Anm. 1), S. 4. Als authentisch gelten ausschließlich die drei Rusticani-Sammlungen; siehe Anton E. Schönbach: Studien zur Geschichte der altdeutschen Predigt, Bd. 5, Wien 1906 (Nachdruck Hildesheim 1968), S. 38–43. 15 Casutt (Anm. 2), S. 83–108. 16 Casutt (Anm. 2), S. 261, Anm. 1. 17 Siehe Hermann Paul u.  a.: Mittelhochdeutsche Grammatik, 25. Aufl. neu bearbeitet von Thomas Klein, Tübingen 2007 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte A2), S. 34–42. 18 Paul (Anm. 17), S. 157. 19 Es gibt nur einen Fall mit dem Anlaut (kurzewile, I, 7ra).

Stil und Struktur 

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die

betreffen: pilwiz (I, 56va) und putelinge (II, 249ra), welches neben buttelinge (II, 250vb) zu finden ist. Das anlautende deutet eher in Richtung des Alemannischen. Das gleiche gilt für das Fehlen der Diphthongierung von (wunnchlich, I, 7va; wisheit, II, 8vb), die Wiedergabe von /ei/ als anstelle des ostoberdeutschen (gemeiner, II, 49rb; seitspil, II, 183ra) und den Diphthong /ou/, welcher meist als realisiert wird (erlouffen, II, 72ra; ougentrouf, II, 85rb; jedoch chaufschatz, II, 48vb). Allerdings findet sich ein weiterer Fall von Variation mit houff (I, 33ra) in der alemannischen Schreibweise und hauffe (I, 28vb), geschrieben mit dem bairischen . Der Diphthong /öü/ erscheint als , welcher für Bayern seit dem 13. Jahrhundert belegt ist, ab dem späten 13. Jahrhundert aber auch in Ostschwaben auftaucht.²⁰ Angesichts der konsequenten Verwendung der Affrikata und der Variation unter den weiteren Konsonanten und Vokalen kann man darauf schließen, dass die Predigten wahrscheinlich in der Umgebung von Augsburg bearbeitet und geschrieben wurden, d.  h. in der Übergangszone zwischen dem Bairischen und Alemannischen.

Die deutschen Wörter In mehreren aktuellen Untersuchungen werden das Phänomen der Sprachmischung sowohl in literarischen als auch nicht-literarischen Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit untersucht und die zugrunde liegenden linguistischen Systeme beschrieben.²¹ Im Anschluss an die Bilingualismus-Forschung der Linguisten wird dabei oft das Konzept des Codeswitching als theoretischer und analytischer Hintergrund eingesetzt.²² Als Codeswitching bezeichnet man im Allgemeinen den Gebrauch von zwei oder mehr Sprachen oder Varietäten der gleichen Sprache während eines

20 Paul (Anm. 17), S. 105. 21 Exemplarisch seien genannt Siegfried Wenzel: Macaronic sermons. Bilingualism and preaching in late-medieval England, Ann Arbor 1994; Herbert Schendl: Syntactic constraints on code-switching in medieval English texts. In: Placing Middle English in context. Hrsg. von Irma Taavitsainen u.  a., Berlin 2000 (Topics in English Linguistics 35), S. 67–86; ders.: Mixed language texts as data and evidence in English historical linguistics. In: Studies in the history of the English language. A millenial perspective. Hrsg. von Donka Minkova/Robert Stockwell, Berlin, New York 2002 (Topics in English Linguistics 39), S. 51–78; Nicola McLelland: A historical study of codeswitching in writing: German and Latin in Schottelius’ Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache (1663). In: International Journal of Bilingualism 8 (4) (2004), S. 499–523; Carmen Maria Kämmerer: Codeswitching in Predigten des 15. Jahrhunderts. Mittellatein – Frühneuhochdeutsch, Mittellatein – Altitalienisch/ Altspanisch, Berlin 2006 (Studies in Eurolinguistics 4); Mehrsprachigkeit im Mittelalter. Kulturelle, literarische, sprachliche und didaktische Konstellationen in europäischer Perspektive. Mit Fallstudien zu den Disticha Catonis. Hrsg. von Michael Baldzuhn/Christine Putzo, Berlin, New York 2011. 22 Siehe z.  B. Schendl (Anm. 21), Syntactic constraints; Kämmerer (Anm. 21).

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mündlichen oder schriftlichen Diskurses.²³ Es lassen sich dabei zwei Haupttypen unterscheiden. Der Sprachwechsel am Ende eines Satzes oder Satzteiles wird als intersententiell bezeichnet. Findet Sprachwechsel innerhalb eines Satzes statt, sei es durch eine Phrase, ein Wort oder an Morphemgrenzen, so handelt es sich um intrasententielles Codeswitching.²⁴ Das Corpus für diese Untersuchung der Handschrift Ms. 117 I/II besteht aus 245 Wörtern und Phrasen.²⁵ Allerdings verhält sich das gesamte Vokabular kongruent zum gerade vorgestellten linguistischen Konzept des Codeswitching. Der Grund liegt zum einen darin, dass wir ein anderes Medium im Blick haben – die Datengrundlage der Bilingualismus-Forschung besteht normalerweise aus transkribierter mündlicher Sprache – zum anderen ist die Funktion eine andere. Wie noch erläutert wird, war Ms. 117 I/II höchstwahrscheinlich dazu intendiert, als Predigthilfe zu dienen, und weist folglich textstrukturelle Eigenschaften auf, wie beispielsweise Aufzählungen von Synonymen oder semantische Ausdifferenzierungen, die kaum in einer gewöhnlichen Konversation auftauchen. Aus diesem Grund wähle ich für diese Untersuchung eine Klassifikation mit drei Kategorien, die diese spezifische soziokontextuelle Situation berücksichtigt. Die erste Kategorie der Sprachmischung betrifft nicht das Codeswitching an sich, sondern die bloße Übersetzung (ÜB), welche gelegentlich durch id est oder scilicet eingeleitet wird (1):²⁶ (1) a suo genere ·id est· geslæhte· sippe / mage· (I, 207vb)²⁷

23 Siehe Shahrzad Mahootian: Code Switching and Mixing. In: Encyclopedia of Language & Linguistics, Bd. 2. Hrsg. von Edward K. Brown, 2. Aufl., Amsterdam, London 2006, S. 511–527, hier S. 511. 24 Siehe Mahootian (Anm. 23), S. 512. Darüber hinaus wird Codeswitching meist von Borrowing unterschieden, womit herkömmlicherweise der Gebrauch eines Wortes oder einer Phrase aus einer zweiten Sprache durch einen monolingualen Sprecher gemeint ist, hier S. 513. In dieser Untersuchung wird von einer solchen Weiterdifferenzierung abgesehen, da dies u.  a. aufgrund der vergleichsweise geringen Anzahl an deutschen Wörtern und Phrasen und mangels adäquaten Vergleichsmaterials kaum möglich erscheint. Erschwerend kommt hinzu, dass der Text von einer bilingualen Person verfasst wurde und für Rezipienten intendiert war, die sowohl über lateinische als auch deutsche Sprachkenntnisse verfügen. Zur Problematik der Differenzierung von Codeswitching und Borrowing bei mittelalterlichen Texten siehe zusammenfassend Päivi Pahta: Code-switching in medieval medical writing. In: Medical and Scientific Writing in Late Medieval English. Hrsg. von Irma Taavitsainen/Päivi Pahta, Cambridge 2004, S. 73–99, hier S. 78–80. 25 Als Grundlage für das Corpus wurde die umfangreiche Wortliste von Schönbach (Anm. 14) verwendet, S. 78–92. Allerdings mussten nach Durchsicht der Handschrift mehrere der Einträge Schönbachs berichtigt sowie neue Wörter hinzugefügt werden. 26 Die folgenden Beispiele aus Ms. 117 I/II werden unter Angabe des Bandes und der Blattzahl zitiert. Sämtliche Abkürzungen wurden aufgelöst. Die Interpunktion folgt der Handschrift. Zur Hervorhebung der Sprachmischung wird das Lateinische kursiv, Mittelhochdeutsch dagegen ohne Auszeichnung dargestellt. 27 „von seinem Geschlecht, d.  h. Geschlecht; Sippe; Blutsverwandtschaft.“

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Die zweite Kategorie ist eine spezifische Form des Codeswitching, welche sich auf die Einführung von Fachvokabular (FV) beschränkt. Wörter dieser Kategorie können mit ut eingeleitet sein (2): (2) que fiunt contra Deum et proximum· vt ungelt· vel gemeinung· (I, 2vb)²⁸

Diese Kategorie Fachvokabular unterscheidet sich von der Übersetzung insofern, als hierbei dem deutschen Wort kein lateinischer Begriff vorausgeht oder nachfolgt, der dem gleichen semantischen Feld angehört. Anders ausgedrückt: es fehlt ein adäquates lateinisches Äquivalent. Die dritte Kategorie umfasst die Fälle von Codeswitching (CS), bei denen die Begriffe nicht der Fach-, sondern der Gemeinsprache entstammen, sowie grammatisch komplexere Formen der Sprachmischung (3): (3) Habet ibi deus magnum et innumerabilem exercitum angelorum· hunc in tres schâr divisit· (II, 62vb)²⁹

Im Kontrast zur Kategorie Fachvokabular (FV) integriert Codeswitching (CS) das deutsche Wort vollständig in die lateinische Syntax, und es kommt weder zu einem inhaltlichen Bruch noch zu einer Störung des Leseflusses. Mehrere Begriffe können jedoch beiden Kategorien zugeordnet werden. So wird im folgenden Beispiel (4) ein zentraler Rechtsbegriff aus der Volkssprache verwendet (FV), an welchen eine lateinische Ablativendung angefügt wurde (CS): (4) alij cum hac uel cum hac fraude· alij cum vngelto (II, 97vb)³⁰

Die Unterscheidung von FV und CS soll daher nicht als absolut begriffen werden. Sie wird aber in jedem Fall trennscharf von den Übersetzungen abgegrenzt. Von den 245 deutschen Wörtern und Phrasen, die für diese Studie als Corpus verwendet wurden, gehören 116 zur Kategorie ÜB (47 %) und 54 zur Kategorie FV (22 %). 75 Wörter können der Kategorie CS zugeordnet werden (31 %), darunter 14 Fälle, die auch als Fachvokabular aufgefasst werden können.

28 „die gegen Gott und den Nächsten geschehen, wie Abgaben oder Gebühren.“ 29 „Dort hat Gott ein mächtiges und unzählbares Heer von Engeln. Dieses teilt er in drei Scharen ein.“ 30 „die einen durch derartiges oder durch solchen Betrug, die anderen durch Abgaben.“

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Die Kategorie Übersetzung (ÜB) Es verwundert kaum, dass Nomen die am häufigsten gebrauchten lexikalischen Einheiten der Kategorie ÜB sind. Ein lateinisches Nomen wird in der Regel mit einem deutschen Wort übersetzt (5), gelegentlich mit zwei synonymen Nomen (6), aber nur selten mit einem Adjektiv (7): (5) acuta· suht / est corpori periculosa· (II, 253ra)³¹ (6) Hic sunt superbi multi in ecclesia· horum est magnus tumulus / schober vel hauffe / semihereticorum· (I, 28vb)³² (7) Sunt ut lunatici lvͤnich· (I, 215vb)³³

Bei der Übersetzung in die Volkssprache kann es auf verschiedene Weise zu Abweichungen kommen. In Beispiel (8) vollzieht sich ein Wechsel auf der grammatischen Ebene. Die beiden lateinischen Nomen werden im Deutschen als Adjektiv-NomenPhrase übertragen, offensichtlich um die komplexe Genitivstruktur des Lateinischen zu umgehen: (8) pulchritudinis amenitas· wunnechliche schonheit· sicut stella clara est· (I, 8vb)³⁴

Der Sprachwechsel kann jedoch auch den Inhalt betreffen. Beispiel (9) stammt aus einer Passage, in der das Publikum zur Hinwendung zu Gott aufgerufen wird. Die deutschen Wörter verstärken die lateinische Aussage: (9) nam ualde sepe differre per noctem est differre per annum· jares vrist / immer vrist· (II, 184ra)³⁵

Das lateinische Sprichwort, das hier zitiert wird, existiert auch im Deutschen als ‚Nacht frist iar frist‘.³⁶ Statt diesem wird für die deutsche Übersetzung eine abgewandelte Version eingesetzt, die darauf hinweist, dass ein Aufschub von einem Jahr zu ewigem Verzug führt. Ursprünglich handelt es sich hierbei um ein Rechtssprichwort, nach welchem der Besitz eines Gutes nach einem Jahr und Tag gegen jegliche Klage sicher war.³⁷ In diesem Zusammenhang  – im Rahmen eines Appells zur Umkehr  –

31 „Krankheit, Krankheit, ist dem Körper gefährlich.“ 32 „Hier gibt es viele Hochmütige in der Kirche. Groß ist der Haufen, Schober oder Haufen, dieser Halbketzer.“ 33 „sind wie Wahnsinnige, wahnsinnig.“ 34 „die Wohlgefälligkeit der Schönheit, herrliche Schönheit, ebenso wie der Stern hell ist.“ 35 „Denn sehr oft bedeutet um eine Nacht aufzuschieben um ein Jahr aufzuschieben. Aufschub von einem Jahr, ewiger Aufschub.“ 36 So im Liet von Troye Herborts von Fritzlar (V. 2104). Siehe TPMA 1 (1995), S. 268. 37 Siehe Deutsche Rechtssprichwörter, gesammelt und erklärt von Eduard Graf/Mathias Dietherr, Nördlingen 1864, S. 94, Nr. 178, sowie die Erklärung auf S. 100  f.; vgl. auch Anton E. Schön-

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gewinnt das Sprichwort jedoch an eschatologischer Bedeutung und deutet darauf hin, dass ein zeitlicher Aufschub von Reue und Buße im Diesseits zu einem Verzug im Jenseits führen kann, womit die ewige Verdammnis impliziert wird. In Beispiel (10) trifft man auf eine ungewöhnliche Kombination von ÜB (‚schande‘) und CS (‚sed non scham‘), um die für den Kontext zutreffende Bedeutung des Wortes confusio zu erhalten: (10) confusio / schande / sed non scham· (II, 114ra)³⁸

Der semantische Skopus des lateinischen Begriffs wird modifiziert, indem eine mögliche Übersetzung genannt und eine weitere negiert wird. Bei einigen Beispielen führen die deutschen Wörter zu einer deutlichen Inhibition des Leseflusses. Dies gilt bereits für (5) und (6), bei denen das aufeinander bezogene Subjekt und Verb bzw. Genitivobjekt durch volkssprachige Begriffe voneinander getrennt werden. Noch deutlicher zeigt sich das Moment der Unterbrechung bei den Beispielen (11) und (12): (11) unus illorum qui fortiter currunt contra gegen inferius celum ·id est· contra desideria (I, 153ra)³⁹ (12) peccatum est grauius in modo· an der aht / an der wis / peccati· (II, 122rb)⁴⁰

Bei den hier übersetzten Begriffen handelt es sich um gewöhnliche Funktionswörter, welche in keiner Weise zu einer genaueren Semantik beitragen. Volkssprachige Einschübe wie diese würde man daher am ehesten in Form von Interlinearglossen erwarten. Interessanterweise macht Nigel F. Palmer dieselbe Beobachtung für einen Teil der lateinisch-deutschen Predigten des Franziskaners Marquard von Lindau: Es handelt sich um eine relativ oberflächliche Art von Mischsprache, denn die deutschen Wörter sind in die syntaktische Struktur des Lateins gar nicht integriert, sondern stehen einfach neben ihren lateinischen Äquivalenten. Sie hätten genausogut als Interlinearglossen geschrieben werden können.⁴¹

Dies ist aus zwei Gründen beachtlich, erstens auf Grund der Übersetzungsrichtung, auf die sich obiges Zitat bezieht: Vorlage waren hier deutsche Predigten, die in die la-

bach: Studien zur Geschichte der altdeutschen Predigt, Bd. 2, Wien 1900 (Nachdruck Hildesheim 1968), S. 102. 38 „Schande, Schande, aber nicht Scham.“ 39 „einer von jenen, die tapfer gegen gegen den unteren Himmel laufen, d.  h. gegen das Verlangen.“ 40 „die Sünde ist schwerer in der Art, in der Art, in der Weise, der Sünde.“ 41 Nigel F. Palmer: Latein, Volkssprache, Mischsprache. Zum Sprachproblem bei Marquard von Lindau, mit einem Handschriftenverzeichnis der ‚Dekalogerklärung‘ und des ‚Auszugs der Kinder Israel‘. In: Spätmittelalterliche geistliche Literatur in der Nationalsprache. Hrsg. von James Hogg, Bd. 1, Salzburg 1983 (Analecta Cartusiana 106, 1), S. 70–110, hier S. 96.

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teinische Sprache übersetzt worden sind, wobei insbesondere mystische Begriffe beibehalten wurden, „die zwar ins Lateinische übertragen werden konnten, aber in der lateinischen Übersetzung wohl das spezifische Kolorit der deutschen Mystikersprache eingebüßt hätten“;⁴² zweitens wenn man sich die zeitliche Differenz vor Augen führt: Marquard starb erst im Jahre 1392, d.  h. 120 Jahre nach dem Tode Bertholds und beinahe 100 Jahre nach dem Verfassen der Handschrift Ms. 117 I/II. Vereinzelt findet sich in der Kategorie ÜB auch ein auffällig durchdachter Einsatz der deutschen Glossen, in der Regel um theologische Begriffe zu vereindeutigen (13). Der semantisch ambige Terminus benedicere wird zweifach, mit wechselndem Subjekt, übersetzt, um mögliche Fehlinterpretationen zu vermeiden: (13) Nota dominus benedicit· lobt und segent· similiter et populus benedicit / lobt· (I, 28ra)⁴³

Zugleich ist die inhaltliche Breite unter den Übersetzungen auffällig. Sie reicht von medizinischen Begriffen (ita est de illa / ut de amaro collirio / ougentrouf, II, 85rb)⁴⁴ und Verben mit poetischem Charakter (non scrutetur / grpelst, I, 61va)⁴⁵ bis hin zu biblischen Konzepten und Idiomen aus dem Rechtsbereich, wie in Beispiel (14): (14) Tria etiam habet proximus· der næhst· quorum nullum ei debes auferre· si uis saluari· […] vnum illorum trium sunt res· scilicet· hab· hoc est gt vnd ere· Secundum corpus· tertium anima· (II, 50rb)⁴⁶

Beachtlich ist hierbei der Doppelschritt in der Übersetzung von res. Zunächst wird auf eine gleichermaßen abstrakte, wenn auch kontextabhängigere Bedeutung des lateinischen Terminus zurückgegriffen (‚hab‘). Anschließend wird mit ‚gůt und ere‘ eine Konkretisierung vorgenommen und auf die materielle und immaterielle Komponente des Begriffs verwiesen.

Die Kategorie Fachvokabular (FV) Wie auch in der Kategorie ÜB besteht der Großteil der volkssprachigen Wörter der Kategorie FV aus Nomen (in 46 von 54 Fällen, d.  h. 85 %). Besonders auffällig sind die deutschen Wörter mit lateinischer Endung, wie in Beispiel (15):

42 Palmer (Anm. 41), S. 95. 43 „Merke, der Herr preist/segnet, lobt und segnet, ähnlich wie auch das Volk preist, lobt.“ 44 „so ist es hinsichtlich jener Dinge, wie mit der bitteren Augensalbe, Augenbalsam.“ 45 „du forschst nicht nach, grübelst“; der Negationspartikel wird nicht übersetzt. 46 „Auch der Nächste, der Nächste, hat drei Dinge, von denen du keines wegnehmen darfst, wenn du erlöst werden willst. […] Das erste dieser drei Dinge ist die Sache, nämlich Besitz, d.  h. Eigentum und Ehre. Das zweite ist der Körper, das dritte die Seele.“

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(15) item arbores seu ligna que dicuntur storrones (I, 159vb)⁴⁷

An das mhd. Nomen ‚storre‘, Baumstumpf, wird das lateinische Pluralsuffix der dritten Deklination angefügt und erscheint, als Objekt des Nebensatzes, im Akkusativ. Ein häufig verwendetes rhetorisches Element ist die Enumeratio, welche auch oft in den deutschen Predigten zu finden ist, die Berthold von Regensburg zugeschrieben werden.⁴⁸ Wörter der Kategorie FV erscheinen mehrfach in dieser Art von Aufzählung. Die deutschen Begriffe sind oft synonym, wie in (16), wo verschiedene Typen von Schmeichlern genannt werden: (16) Secundum solatium paruulum quod sibi remanet / hoc est jaherren / vederlesær / adultores / smeicher vel mimi· (II, 60ra)⁴⁹

Innerhalb der Kategorie FV ist erneut Wortmaterial zur Sünde und dem Bösen vorherrschend (bei 21 von 54 Fällen, d.  h. 39 % der Wörter und Phrasen). Verschiedene Begriffe für unlautere oder schlechte Menschen werden vorgestellt (‚werrær‘, I, 202va; ‚lechær‘, I 232rb; ‚gængelerii‘, II, 55vb). Man stößt ebenfalls auf eine Enumeratio magischer und unheimlicher Kreaturen – Kobold, Nachtalp, Drude (‚pilwiz / nahtvarn / nahtvrowen / maren / trvten‘, I, 56va). Auffallend ist weiter die Vielzahl an Rechts- und Finanzbegriffen (in 9 von 54 Fällen, d.  h. 17 %), wie ‚Leitchouf‘ (II, 8va), ‚gemeinung‘ (I, 2vb), und das latinisierte ‚muntmanni‘ (II, 23va).⁵⁰ Dreimal taucht das Wort ‚ungelt‘ auf (I, 2vb; II, 4ra; II, 97ra), womit eine Erwerbssteuer oder Gebühr bezeichnet wird. Diese Art der Abgabe scheint ein wichtiges Beispiel von Unmoral zu sein, da weitere Belege desselben Lexems in der Kategorie CS gefunden werden können.

Die Kategorie Codeswitching (CS) Die Kategorie CS ist insbesondere durch aufwändige grammatische Strukturen geprägt. In Beispiel (17) dient die rhetorische Figur des Parallelismus als Rahmen für ein mehrfaches intrasententielles Codeswitching, d.  h. einen wiederholten Sprachwechsel innerhalb eines Satzes. Die beiden kontrastierenden lateinischen Nomen werden syntaktisch und semantisch auf chiastische Weise in Relation zu den korrespondierenden deutschen Ausdrücken gesetzt:

47 „auch die Bäume oder Hölzer, welche Baumstümpfe genannt werden.“ 48 Vgl. Ute Dank: Rhetorische Elemente in den Predigten Bertholds von Regensburg, Neuried 1995 (Deutsche Hochschuledition 36), S. 18–29. 49 „Zweitens, das sehr kleine Trostmittel, welches bleibt, d.  h. ,Ja, Herr‘ sagende Schmeichler, schmeichelnde Bettler, Schmeichler, Schmeichler oder Spielmänner.“ 50 Vgl. die Lemmata ‚Leitkauf‘, ‚Gemeinung‘ und ‚Mundmann‘ im DRW.

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(17) fideles / et estis infideles· trugnær estis / et dvrnæhtich uos ostenditis· (II, 114vb)⁵¹

Einen in diesem Corpus besonders ungewöhnlichen Fall von Codeswitching stellt die Verwendung des Imperativs in Beispiel (18) dar. Der volkssprachige Satz ‚bewegt iuch ettewes‘, der an ein Publikum gerichtet ist, wird in zwei Konstituenten aufgeteilt, um die lateinische Phrase mit dem Objekt des Gesuchs zu umklammern: (18) o homines […] bewegt iuch etiam pro amico nostro, optimo et summo domino / ettewes· (II, 226ra)⁵²

Auch intersententielles Codeswitching – d.  h. Sprachwechsel an den Satzgrenzen – ist unter den Phrasen der Kategorie CS zu finden, wie in den Beispielen (19) und (20) zu sehen ist: (19) Gilt und gib wider· nulla sine hac [penitentia] valet· […] Gilt und gib wider· Ita dic ubique· (II, 192va)⁵³ (20) tamen ad cautelam dicit vigil / hin dan baz· wer da / wer da· cum tamen nullum videt· (II, 110va)⁵⁴

Diese Art des Codeswitching weist auf Grund der direkten Redewiedergabe deutlich auf eine mündliche Kommunikationssituation hin. Die deutsche Phrase in (19), eine direkte Rede im Imperativ, soll vom Prediger zu seinem Publikum gesprochen werden. Beispiel (20) ist Teil einer Erzählung. Ein Wächter ruft in die Dunkelheit, was wiederum als direkte Rede auf Deutsch wiedergegeben wird. Ein Vergleich mit weiteren mehrsprachigen Predigtsammlungen lässt vermuten, dass diese Fälle von intersententiellem Codeswitching für das Genre der Predigt ungewöhnlich sind.⁵⁵

51 „Treu und treulos seid ihr. Betrüger seid ihr und tadellos zeigt ihr euch.“ 52 „Oh ihr Menschen […] bewegt euch auch für unseren Freund, den besten und größten Herren, ein wenig.“ 53 „Entgelte und gib zurück. Nichts ist von Wert ohne dies [Reue]. […] Entgelte und gib zurück. So sprich überall.“ 54 „Dennoch spricht der Wächter als Vorsichtsmaßnahme: ‚Weiter weg! Wer da? Wer da?‘, obwohl er doch niemanden sieht.“ 55 Für lateinisch-englische Predigtsammlungen wurde dies bereits von Wenzel (Anm. 21) untersucht. Schendl stellt hierzu fest, dass diese zufriedenstellend mit intrasententiellem Codeswitching beschrieben werden können. Schendl, Mixed language texts (Anm. 21), S. 68.

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Die Handschrift Ms. 117 I/II im Vergleich zu anderen Berthold-Handschriften Um die stilistische Bedeutung der volkssprachigen Einschübe in den lateinischen Texten besser zu erfassen, hilft es, sie in Relation zur weiteren lateinischen Bertholdüberlieferung zu betrachten. Eine vergleichbare Glossierung wie in Ms. 117 I/II findet sich in der Handschrift Ms. 497 der UB Leipzig, einer der zuverlässigsten BertholdHandschriften, welche fast alle der Heiligenpredigten enthält. Sie stammt aus dem Zisterzienserstift Altzelle, kann ebenfalls auf das Ende des 13. Jahrhunderts datiert werden und weist 17 deutsche Wörter und Phrasen auf. Die volkssprachigen Begriffe in Ms. 497 sind wie in Ms. 117 I/II direkt in die Zeile integriert, und in Bezug auf den Inhalt schrieb bereits Schönbach, dass sie „durchaus den charakter von glossen tragen“.⁵⁶ Inhaltlich handelt es sich um Elemente des sündigen Lebens (‚erzengel‘, 1rb; ‚vnbillich‘, 13rb; ‚zu der ewigen martyr‘, 111ra), medizinische (‚gelsuht  – herzeslehtich – wetentgiht‘, 152ra) und chemische (‚huttervch‘, 201va) sowie biologisierende (‚unrein vberfluz‘, 186rb) Begriffe. Besonders auffällig ist jedoch, wie oft unter den deutschen Wörtern Begriffe aus der Welt des Handwerks auftauchen. Die Metapher der nauigatio („Seereise“) wird in der Leipziger Handschrift Ms. 497 als ‚chou· hantwerc‘ (19ra) aufgelöst. In der Berthold-Handschrift Ms. Laud misc. 317 der Bodleian Library, Oxford – ursprünglich aus der Kartause Mainz – handelt es sich bei zwei der fünf Randglossen um Werkzeugbezeichnungen (‚steinacker uel stikel‘, 225r; ‚stozbanch‘, 226r). ‚hantwerch‘ ist auch die einzige deutsche Randglosse der Münchner Handschrift clm 2718, welche auf eine abstrakte Formulierung im Text bezogen ist: Quartus locus negotij (fol. 132v, „der vierte Arbeitsort“). In der aus dem Zisterzienserkloster Aldersbach stammenden Komposithandschrift clm 2699 aus der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts findet sich neben BertholdPredigten auch ein anonymer Sermo De omnibus negotiatoribus qualiter uiuant („Über alle Kaufleute, wie sie leben sollen“), welcher ebenfalls eine Glosse mit deutschen Wörtern aufweist. Sie lautet: vel manualia vir Gewantwercher· zimberantwerch· chaufantwerch· Bouantwerch· Spisantwerch· Seitspil antwerch et expone omnia breviter· (fol. 139r). Eine explizite Aufforderung an den Prediger wie et expone omnia breviter („und erläutere alles mit wenigen Worten“) fehlt in der Freiburger Handschrift Ms. 117 I/II. Darüber hinaus handelt es sich bei den volkssprachigen Wörtern in anderen Berthold-Handschriften meist um Randglossen, deren Anzahl, proportional gesehen, verschwindend gering ist. Die Differenz zwischen Ms. 117 I/II und der übrigen Berthold-Überlieferung mit volkssprachigen Wörtern liegt jedoch nicht nur in der Quantität, sondern auch in der Qualität des Wortmaterials. Die Tatsache, dass mehr als die Hälfte der volkssprachi-

56 Anton E. Schönbach: Über eine Grazer Handschrift lateinisch-deutscher Predigten, Graz 1890, S. 40.

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gen Begriffe über eine bloße Übersetzung hinausgehen, verweist nicht nur auf die sprachliche Kompetenz des Autors, sondern auch der Rezipienten, welche in der Lage sein mussten, Einschübe dieser Art zu dekodieren. In einem soziokulturellen Kontext, wo die lateinische Sprache den religiösen Diskurs und viele weitere Bereiche des öffentlichen Lebens dominierte,⁵⁷ stellt sich daher die Frage, warum der Bearbeiter die verschiedenen Arten der Sprachmischung in die Texte der Freiburger Handschrift integriert hat.

Die Intention der Sprachmischung Aufschluss über die Bedeutung von Ms. 117 I/II in der Berthold-Überlieferung liefert zunächst eine Kontrastierung mit dem Predigtkonzept Bertholds von Regensburg. In den ersten Zeilen seines Vorworts zu den Sonntagspredigten formuliert er: Istos sermones ea necessitate coactus sum notare, cum tamen invitissime hoc fecerim, quod, cum predicarem eos in populo, quidam simplices clerici et religiosi, non intelligentes, in quibus verbis et sententiis veritas penderet, voluerunt notare sibi illa, que poterant capere, et sic multa falsa notaverunt. Quod cum ego deprehendissem timui, ne, si talia predicarentur qualia ipsi notaverant, populus in errorem duceretur per falsitates illas, et hoc necessitate coactus sum ipse notare, quod predicavi, ut ad istorum sermonum exemplar alia falsa et inordinate notata corrigerentur.⁵⁸

Berthold sah sich genötigt, seine Predigten selbst aufzuschreiben, um Fehler bei der Niederschrift durch andere Kleriker und so das Predigen falscher Lehren zu verhindern.⁵⁹ Er fordert textuelle Stabilität und Konsistenz, welche in der eigenhändigen Literarisierung gewährleistet werden sollte.⁶⁰ Auch wenn es sich hierbei um einen

57 Vgl. Schendl, Mixed language texts (Anm. 21), S. 53. 58 „Ich bin auf Grund dieser Notwendigkeit gezwungen worden, diese Predigten niederzuschreiben, obwohl ich dies doch höchst ungern getan habe, da, während ich sie dem Volk predigte, einige einfache Geistliche und Ordensleute, die nicht verstanden, in welchen Wörtern und Sätzen die Wahrheit noch unentschieden war, sich jene Dinge, die sie begreifen konnten, aufschreiben wollten, und so viel Falsches aufzeichneten. Nachdem ich dies bemerkt hatte, fürchtete ich, dass, wenn sie derartig predigen würden, wie sie es selbst aufgeschrieben haben, das Volk durch jene Falschheiten in den falschen Glauben geführt würde, und auf Grund dieser Notwendigkeit wurde ich gezwungen, selbst niederzuschreiben, was ich gepredigt habe, so dass nach dem Vorbild dieser Predigten berichtigt werde, was auf anderem Wege falsch und ungeordnet aufgeschrieben worden ist.“ Zit. nach Schönbach (Anm. 14), S. 3. 59 Vgl. hierzu weitere Schlussfolgerungen von Dieter Richter: Die deutsche Überlieferung der Predigten Bertholds von Regensburg. Untersuchungen zur geistlichen Literatur des Spätmittelalters, München 1969 (MTU 21), S. 229–231. 60 Wie zwei weitere Fälle aus dem Bereich der geistlichen Literatur zeigen, ist dies auch im 11. und im 14. Jahrhundert ein Problem. Jean de Fécamp (um 990–1078), der Kaiserin Agnes und ihren Nonnen eine Sammlung von kontemplativen Texten zukommen ließ, warnt in seinem ‚Lettre à l’impératrice

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Topos handeln mag, so liegt diesem Prolog eine gewisse Ernsthaftigkeit zugrunde. Da in Handschriften überlieferte Predigten ihren Inhalt auf indirekte Weise kommunizieren, benötigen sie den Prediger als Medium, der das geschriebene Wort zu einem späteren Zeitpunkt wieder verbalisiert und aktualisiert. In diesem Moment ist die sprachliche Eindeutigkeit für die Wirksamkeit bei den Rezipienten ausschlaggebend. Das vollständige Verstehen des Inhalts einer Predigt erhöht die Chance einer Verhaltensänderung im Diesseits, womit die Wahrscheinlichkeit der Erlösung im Leben nach dem Tode gesteigert wird. Bei den als authentisch geltenden lateinischen Predigten Bertholds handelt es sich jedoch nicht um ausformulierte Texte, sondern um Modellpredigten, welche von gelehrten Geistlichen als Predigthilfe eingesetzt werden sollten.⁶¹ Die Zuhörerschaft dieser Geistlichen bestand in der Regel aus Laien, für welche das Latein in die jeweilige Volkssprache übersetzt werden musste.⁶² Mit den eingeschobenen deutschen Wörtern in der Handschrift Ms. 117 I/II ist man folglich einen weiteren Schritt hin zur gesprochenen Sprache gegangen.⁶³

Agnes‘: si quoslibet inueneris qui libellum hunc uelint habere, moneas eos et diligenter transcribere et scriptum frequenter relegere, usque adeo ut aliquid addi uel subtrahi aut immutari non patiantur in eo. Hoc autem dicimus propter incuriam librariorum, qui non solum ueritatem corrumpunt, sed etiam mendacia mendaciis iungunt. („Falls Du welche finden solltest, die dieses Büchlein haben möchten, ermahne sie sowohl, sorgfältig abzuschreiben, als auch, häufig das Geschriebene wieder zu lesen, so lange, bis sie nicht zulassen, dass irgendetwas in diesem hinzugefügt oder weggelassen oder verändert wird. Dies aber sagen wir wegen der Nachlässigkeit der Schreiber, die nicht nur die Wahrheit korrumpieren, sondern auch Lügen über Lügen anschließen.“). In: Un Maître de la vie spirituelle au XIe siècle. Jean de Fécamp. Hrsg. von Jean Leclercq/Jean-Paul Bonnes, Paris 1946, S. 211–217, hier S. 216. Eine dieser Passage stark ähnelnde Warnung findet sich im Nachwort des Büchlein der Ewigen Weisheit von Heinrich Seuse (ca. 1295–1366): Swer dis buͤchli, daz mit fliss geschriben und geriht ist, well ab schriben, der sol es alles sament eigenlich an worten und sinnen schriben, als es hie stat, und nút dar zů noh dur von legen noh dú wort verwandlen, und sol es denne einest oder zwirunt hier ab durnehtklich rihten, und sol nút sunders dar us schriben […] Wer im út anders tůt, der sol vúrchten gottes rach, wan er beroͮbet got des wirdigen lobes und dú menschen der bessrung und den, der sich dar zů gearbeit hat, siner arbeit. Zit. nach Heinrich Seuse. Deutsche Schriften. Hrsg. von Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907 (Nachdruck Frankfurt a. M. 1961), S. 325. 61 Dagmar Neuendorff hat daher für die lateinischen Bertholdpredigten den Begriff ‚Sermokondensate‘ geprägt, „weil es sich in ihnen nicht um ausgearbeitete Sermones, sondern um structura und materia handelt“. Dies.: Überlegungen zur Textgeschichte und Edition Berthold von Regensburg zugeschriebener deutscher Predigten. In: Mystik  – Überlieferung  – Naturkunde. Gegenstände und Methoden mediävistischer Forschungspraxis. Tagung in Eichstätt am 16. und 17. April 1999, anläßlich der Begründung der „Forschungsstelle für Geistliche Literatur des Mittelalters“ an der Katholischen Universität Eichstätt. Hrsg. von Robert Luff/Rudolf Kilian Weigand, Hildesheim, Zürich, New York 2002 (Germanistische Texte und Studien 70), S. 125–178, hier S. 126, Anm. 8. 62 Vgl. D’Avray (Anm. 6), S. 95 und S. 105. 63 Darüber hinaus lassen sich auch im lateinischen Wortmaterial Hinweise auf Mündlichkeit finden. Rüdiger Schnell bemerkte zu den Ehepredigten Bertholds: „Diese sind auf Mündlichkeit hin ausgerichtet, indem sie dem Kleriker immer wieder Anweisungen geben, wie er diese oder jene Passage in der Predigtsituation, d.  h. im Moment des öffentlichen Predigens umzusetzen habe.“ Rüdiger

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Die Komplexität und Integration des deutschen Wortmaterials variiert jedoch deutlich, wobei offenbar Niveau und intendierte Funktion in Korrelation zueinander stehen. Auf der einfachsten Ebene – insbesondere der Kategorie ÜB – mögen die volkssprachigen Glossen, dem Genre entsprechend, vor allem als Lern- und Lehrhilfen im Rahmen einer Predigtvorbereitung gedacht worden sein. Entweder wird hierbei das Basisvokabular der Zweitsprache nähergebracht, oder es wird das Verständnis weniger bekannter Ausdrücke erleichtert, um schwächeren Lateinkenntnissen – etwa bei einem Mitglied des niederen Klerus – entgegenzukommen. Selten ragen Übersetzungen dadurch hervor, dass sie abstrakte Termini konkretisieren oder durch Kontrastieren vereindeutigen. Eine andere Funktion kommt den Wörtern der Kategorie FV zu. Hier fehlt in der Regel ein adäquates Gegenstück im Lateinischen. Die Einflechtung emotionsgeladener Begriffe aus der Volkssprache – beispielsweise Wörter, welche mit Magie und missliebigen Zeitgenossen assoziiert sind, aufschreckende Interjektionen oder auch Wortmaterial, welches zum Ausdruck von Freude dient – etabliert eine direkte Verbindung zum Alltag der Laien. Wenn das Böse und die Verführungen des Diesseits vermittels vertrauten Vokabulars zueinander in Beziehung gesetzt werden, so dient dies der Veranschaulichung einer präsenten und daher zu überkommenden Gefahr. Die Wörter der Kategorie CS ähneln auf den ersten Blick oft dem Fachvokabular und ansatzweise auch den Übersetzungen. In der Regel sind sie jedoch stärker in die lateinische Syntax integriert, und es lässt sich hier am stärksten ein Moment von Mündlichkeit erkennen. Dies gilt insbesondere für die Beispiele mit intersententiellem Codeswitching, d.  h. mit direkter Rede in der Volkssprache. Auf den ersten Blick scheint dieser Eingriff der Volkssprache in die von Berthold redigierten Predigten vollkommen seinem Konzept einer autorisierten Textsammlung zu widersprechen. Andererseits wird in dem Bearbeitungsstil von Ms. 117 I/II zumindest teilweise die Intention Bertholds fortgeführt.⁶⁴ Die Integration deutschen Vokabulars dient der Bestimmung der Semantik von genau den Wörtern und Phrasen, in

Schnell: Bertholds Ehepredigten zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Mittellateinisches Jahrbuch 32/2 (1997), S. 93–108, hier S. 102. Solche Aufforderungen  – wie expone oder dic  – finden sich auch auffällig oft in der Freiburger Handschrift; siehe Casutt (Anm. 2), S. 223  f. Sie sind so viel häufiger als in den authentischen Predigten Bertholds, dass Casutt sich dazu hinreißen lässt, den Urheber der Freiburger Texte als „Expone-Prediger“ zu titulieren, hier S. 226. Schnell betrachtet Anweisungen dieser Art als Indikatoren einer „intentionalen Mündlichkeit“, hier S. 102. Beinahe synonym hierzu ist der von Hans-Jochen Schiewer geprägte Begriff der „intendierte[n] oder virtuelle[n] Mündlichkeit“, welche, so Schiewer, „in textimmanenten Hinweisen, Marginalien, Interpretamenten und Glossierungen von Predigten zum Ausdruck kommt. Sie signalisieren die Bereitschaft, das Medium zu wechseln, den schriftlich fixierten Text im mündlichen Vortrag zu aktualisieren“. HansJochen Schiewer: Spuren von Mündlichkeit in der mittelalterlichen Predigtüberlieferung. Ein Plädoyer für exemplarisches und beschreibend-interpretierendes Edieren. In: editio 6 (1992), S. 64–79, hier S. 71. 64 Dies betrifft selbstverständlich nicht die inhaltlichen Erweiterungen, Verkürzungen und Umstellungen, die Casutt ermittelt hat; siehe Casutt (Anm. 2), S. 83–108.

Stil und Struktur 

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denen „die Wahrheit schwankt“,⁶⁵ wie es im Vorwort heißt. Durch die präzisere Terminologie hat der anonyme Bearbeiter das inhaltliche Verständnis stärker gesichert, wodurch zugleich die zentrale Botschaft der Predigt besser vermittelt werden kann. Der Autor Berthold von Regensburg tritt dabei in den Hintergrund. Durch die individuelle Adaption ist mit der Freiburger Handschrift eine eigenständige Predigtsammlung entstanden, höchstwahrscheinlich verantwortet durch einen Ordensbruder in der schwäbisch-bairischen Grenzregion. Es handelt sich dabei um eine erstaunlich frühe Bearbeitung des bertholdischen Predigtwerks und zugleich um eine gewisse Loslösung von der auctoritas Bertholds. In der strukturellen Zusammenstellung wird kein Unterschied zwischen bertholdischem Material und Predigten anderer Autoren gemacht.⁶⁶ Der Name Bertholds wird mit den Predigten der Handschrift nie in Verbindung gebracht, weder in den Tituli noch in den Texten selbst. Erst im Jahre 1403 werden die Predigten durch Friedrich von Amberg dem famosissimus predictor dictus frater Bertholdus (I, 265v; ähnlich in II, 285r; „dem berühmtesten Prediger, genannt Bruder Berthold“) zugeschrieben. Das primäre Ziel der Freiburger Handschrift Ms. 117 I/II war offenbar nicht, das Werk Bertholds von Regensburg zu überliefern und verfügbar zu machen, sondern sämtliche Predigten gleichermaßen für eine künftige Aktualisierung aufzubereiten.⁶⁷

65 „veritas penderet“, vgl. oben mit Anm. 58. 66 Casutt spricht der Handschrift sogar jegliche Ordnung ab. Casutt (Anm. 2), S. 109: „Eine systematische Anordnung des Predigtstoffes liegt in dieser Kollektion nicht zugrunde! Weder dogmatische Lehrfolgen, noch moraltheologische Traktate, noch liturgische Zeiten, noch pastorelle Prinzipien lassen sich als wegleitende Prinzipien entdecken.“ 67 Auf Grund der genannten Beobachtungen scheint die von Czerwon angestellte Mutmaßung fragwürdig. Czerwon (Anm. 2), S. 188: „Ziel scheint gewesen zu sein, alles nur denkbare Predigtmaterial Bertholds – oder zumindest was mit seinem Namen in Verbindung zu bringen war – in einer Sammlung zu vereinen.“

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Christina Lechtermann

Schneckenstile Albrecht Dürers Underweysung der Messung (1525) und Hans Sebald Behams Kunst und Lere Buͤchlin (1546) Die Geschichte der Proportionslehre ist das Abbild der Stilgeschichte, mehr noch, bei der Unzweideutigkeit, mit der wir uns auf mathematischem Gebiet miteinander verständigen können, darf sie sogar als ein Abbild gelten, das sein Urbild an Deutlichkeit oft übertrifft.¹

Stil ist eine Kategorie der Kohärenzstiftung. Dieser Befund gilt sowohl für seine normativ-produktive als auch für seine typologisch-taxonomische Dimension. Als Kategorie stiftet Stil Einheitlichkeit, insofern sie „rekurrente[] Formen menschlichen Verhaltens in den verschiedensten Materialien und Medien, insbesondere in den Künsten“ beobachten will, und sie stiftet Einheitlichkeit, insofern durch diese selektive Beobachtung Stilphänomene allererst konstituiert werden.² Selektion und Beobachtung folgen dabei, so fordert es das Konzept, immer schon selbst einem wissensgeschichtlich und fachspezifisch verortbaren ‚Denkstil‘, sind individuell und überindividuell geprägte Operationen und produzieren in ihren quantitativen und qualitativen Befunden immer nur ‚relative‘ Antwortoptionen.³ Eindeutigkeit könne, so erwägt bereits Erwin Panofsky (s.  o.), hier lediglich die Mathematik schaffen – genauer: die Frage danach, ob bestimmte Verfahren (in diesem Fall solche der objektiven und fakturalen Proportion) in der bildenden Kunst verwendet werden. Die Digitalität dieser Frage, die Anspruch auf eine ja/nein-Entscheidung erhebt, bleibt eine scheinbare: Rudimente und Spuren vergangener Verfahren, Ähnlichkeiten, Näherungsformen, Gebrauchsverschiebungen stören ihre Eindeutigkeit und erreichen von Neuem diejenigen Grauzonen, die zu beseitigen sie angetreten war.⁴ Selbst noch im ‚Unzweideutigen der Mathematik‘ erscheint Stil auch als Frage der Wahrnehmung. Was wahrgenommen wird,

1 Erwin Panofsky: Die Entwicklung der Proportionslehre als Abbild der Stilentwicklung. In: ders.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (org. 1955: Meaning in the Visual Arts), Köln 2002, S. 68–124; hier S. 69. 2 Hans Ulrich Gumbrecht: Stil. In: RLW 3 (2003), S. 509–513, hier S. 509, vgl. ebd. S. 510. 3 Burghard Weiss: Stile wissenschaftlichen Denkens / Styles of scientific thinking (Kap. 76). In: Rhetorik und Stilistik / Rhetoric and Stylistics. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung / An International Handbook of Historical and Systematic Research. Hrsg. von Ulla Fix/Andreas Gardt/Joachim Knape, 2 Bde, Berlin, New York 2008 und 2009 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 31,1–2), Bd. 2 (2009), S. 1285–1299. 4 Panofsky (Anm. 1), S. 87: „Die byzantinische Proportionslehre hat, wie wir sahen, bei aller Neigung zum Schematisieren doch bis zu einem gewissen Grade von der organischen Gliederung des Körpers ihren Ausgang genommen; und der Tendenz zur geometrischen Formbestimmung hielt immer noch das Interesse für die Maße das Gleichgewicht.“

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ist die – damit zurück zum Anfang – jeweils erst abzusteckende Summe bestimmter ‚rekurrenter Verhaltensweisen‘ in Bezug auf einen bestimmten Gegenstand. Dabei ist die Kategorie des Stils erneut in zweifacher Weise mit Konzepten von Kohärenz und Einheit verbunden. Zum einen insofern Stilwahrnehmung als Wahrnehmung einer bestimmten ‚Gestalt‘, als in bestimmter Hinsicht ‚holistisch‘ beschrieben werden kann,⁵ zum anderen insofern Stilwahrnehmung sich immer auf etwas, auf einen bestimmten Gegenstand oder zumindest einen Gegenstandsbereich bezieht, also bereits ein bestimmtes Beobachtungsfeld absteckt – sie kann schlechterdings nicht Stilwahrnehmung von allem sein. Abgrenzung und Eingrenzung liegen als Gesten der Gegenstandsbildung damit bereits vor jenem Prozess, der darauf abzielt, aus ggf. lockeren, schwer erkennbaren, historisch fremden Kohärenzen⁶ oder etablierten, institutionalisierten, scheinbar evidenten Kohärenzen (z.  B. Autor, Gattung, Text) die Wahrnehmung einer bestimmten Gestalt zu konstituieren.⁷ Weit mehr als im Falle der Handschrift, die ganz eigenen Kontingenzen unterworfen ist, rechnen wir beim gedruckten ‚Buch‘ mit einem Gegenstand, der, insofern er notwendig planerischen und kalkulatorischen Operationen und technisch-normierten Reproduktionsverfahren unterliegt,⁸ die Wahrnehmung von Gestaltqualitäten über die Kasuistik des einzelnen Textabschnitts, des ‚Eintrags‘, hinaus ermöglicht:

5 Siehe Ulf Abraham: Stil als ganzheitliche Kategorie: Gestalthaftigkeit / Style as an an integral category (gestalt) (Kap. 80). In: Rhetorik und Stilistik (Anm. 3), S. 1348–1367; S. 1348: „Texte kann man lesen, nicht aber ihren Stil. Man muss ihn wahrnehmen. Stil ist ein übersummatives Ganzes. Man hat auch gesagt: Er ist eine Gestalt.“ – Vgl. Ulla Fix: Gestalt und Gestalten. Von der Notwendigkeit der Gestaltkategorie für eine das Ästhetische berücksichtigende pragmatische Stilistik. In: Zeitschrift für Germanistik N. F. 6 (1996), S. 308–323. 6 Zum Konzept historisch alteritärer, alternativer Kohärenzen siehe etwa Peter Strohschneider: Alternatives Erzählen. Interpretationen zu Tristan- und Willehalm-Fortsetzungen als Untersuchungen zur Geschichte und Theorie des höfischen Romans, München 1991 (Habil. masch.); Franziska Wenzel: Textkohärenz und Erzählprinzip. Beobachtungen zu narrativen Sangsprüchen an einem Beispiel aus dem Wartburgkrieg-Komplex. In: ZfdPh 124 (2005), S. 321–340; Armin Schulz: Fremde Kohärenz. Narrative Verknüpfungsformen im Nibelungenlied und in der Kaiserchronik. In: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland/Matthias Meyer, Berlin, New York 2010, S. 339–360. 7 Da die Literatur über das grundsätzlich konstruktive Moment der Wahrnehmung kaum mehr überschaubar erscheint, vgl. hier stellvertretend und mit Blick auf die Geschichte der Stil-GestaltForschung in den Sprach- und Literaturwissenschaften Abraham (Anm. 5), S. 1350: „Da Wahrnehmung ganz grundsätzlich selektiv ist und ohne Interpretation nicht möglich, ist die Wahrnehmung stilistischer Eigenheiten eines Textes immer auch Ergebnis einer Interpretation; sie ist Stilkonstruktion, nicht bloßes Zur-Kenntnis-Nehmen.“ Vgl. mit Bezug auf E. H. Gombrichs (Art and Illusion, 1959) Theorie von Schema und Korrektur bereits Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, 4. Aufl., München 1994, bes. S. 194. 8 Siehe Elizabeth Eisenstein: The printing press as an agent of change. Communications and cultural transformations in early modern Europe, 2 Bde, Cambridge 1979, S. 43–159; Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a. M. 1998 (zuerst 1991), S. 63–123.

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Diese Erwartung bestätigt sich zunächst als Erfahrung von Rekurrenzen im typographischen Erscheinungsbild: eine gewisse Konstanz in der Wahl der Drucktype, der Auszeichnungsformen und insgesamt in der Topographie der gedruckten Seite. Damit geht, zumindest für bestimmte Überlieferungsbereiche, die Erwartung einher, auch hinsichtlich des Inhalts und seiner sprachlichen Präsentation nicht nur Vollständigkeit und Abgeschlossenheit, sondern eine einheitliche stilistische Gestalt beobachten zu können.⁹ Für die ‚Fachprosa‘ oder ‚Fachliteratur‘, die in den 1960er Jahren die germanistische Mediävistik als Gattung erreicht,¹⁰ wurde diese stilistische Gestalt v.  a. im Zusammenhang mit einem spezifischen Anliegen – eben der Vermittlung von Fachwissen und handwerklichen Fertigkeiten  – thematisch. Die pragmatisch-didaktische Funktion dieser Texte, ihr „kommunikativer Sinn“, wie er in den Vorreden z.  B. der Druckschriften Dürers und Behams artikuliert wird, müsste, folgt man dieser Grundannahme, den Texten Gestalt geben:¹¹ z.  B. durch Formen der thematischen Strukturierung und, damit einhergehend, durch Mittel der Zugriffserleichterung (wie etwa Register, Inhaltsverzeichnis), durch bestimmte textliche Verfahren, die Verständlichkeit und Anschaulichkeit sichern, oder durch eine Vereindeutigung der Begrifflichkeit (womöglich im Rahmen eines Glossars).¹² Diese Erwartung erfül-

9 Vgl. Rüdiger Schnell: Handschrift und Druck. Zur funktionalen Differenzierung im 15. und 16. Jahrhundert. In: IASL 32,1 (2007), S. 66–111; S. 91: „Mit dem Druck verstärkte sich die Vorstellung von einem abgeschlossenen Text, an dem nichts mehr zu ändern war. Im Mittelalter war mit dem Abfassen und Niederschreiben eines Erst-Textes für den Verfasser stets die Möglichkeit verbunden, in diesen Text nachträglich durch Korrekturen, Zusätze oder Streichungen, einzugreifen. […] Erst mit dem Buchdruck stellte sich die mediale Opposition von vorläufigem handschriftlichem Text und endgültiger Druckfassung ein.“ 10 Einen Forschungsüberblick bieten: Bernhard Dietrich Haage/Wolfgang Wegner: Deutsche Fachliteratur der Artes in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin 2007 (Grundlagen der Germanistik 43). 11 Vgl. etwa die Definition bei Michael Hoffmann: Stil und Situation – Stil als Situation. Zu Grundlagen eines pragmatischen Stilbegriffs. In: Beiträge zur Stiltheorie. Hrsg. von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Ulla Fix, Leipzig 1990, S. 46–72; S. 65: „Stil vermittelt als ein komplexes Textzeichen kommunikativen Sinn, der auf der Grundlage einer pragmatisch orientierten Abbildung objektiv herzustellender situativer Beziehungen und eines prinzipiengeleiteten Umgangs mit sprachlichen, sprachbegleitenden und nichtsprachlichen Mitteln die Kommunikationssituation repräsentiert, in der fundamentale Ziele realisiert bzw. Themen entfaltet werden.“ 12 Vgl. Hannes Kästner/Eva Schütz/Johannes Schwitalla: ‚Dem gmainen mann zu guttem teutsch gemacht‘. Textliche Verfahren der Wissensvermittlung in frühneuhochdeutschen Fachkompendien. In: Neue Forschungen zur historischen Syntax des Deutschen. Referate der Internationalen Fachkonferenz Eichstätt 1989. Hrsg. von Anne Betten unter Mitarbeit von Claudia Maria Riehl, Tübingen 1990 (Reihe Germanistische Linguistik 103), S. 205–223; Helmut Zedelmaier: Buch und Wissen in der Frühen Neuzeit (15.-18. Jahrhundert). In: Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch. Hrsg. von Ursula Rautenberg, 2 Bde, Berlin 2010, Bd. 1, S. 503–533, bes. S. 512–518; vgl. für die medizinische und pharmakologische Literatur Mechthild Habermann: Deutsche Fachtexte der frühen Neuzeit. Naturkundlich-medizinische Wissensvermittlung im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache, Berlin, New York 2001 (Studia linguistica germanica 61).

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len die fachthematischen Druckschriften des 15. und 16. Jahrhunderts in sehr unterschiedlicher Weise. Im Folgenden will ich am Beispiel von Dürers Underweysung der messung und Behams Kunst und Lere Buͤchlin die Faktur zweier Druckschriften von der Ebene der thematischen Strukturierung bis hin zur Ebene kleinteilig organisierter Text-Bild-Bezüge beobachten. Dabei kann einerseits deutlich werden, inwiefern sich die Bestimmung einer stilistischen Gestalt immer neu verschiebt, andererseits kann – ausgehend vom behaupteten pragmatisch-didaktischen Anspruch, mit dem die Schriften sich ihren Rezipienten empfehlen – der Sammelbegriff ‚Fachliteratur‘ selbst problematisiert werden.

1 Der Druck als Geschlossenheitsbehauptung? 1525 druckt die Offizin des Hieronymus Andreae in Nürnberg Albrecht Dürers VNderweysung der messung/ mit dem zirckel v̄n richtscheyt/ in Linien ebnen vnnd gantzen corporen/ durch Albrecht Duͤrer zuͦo samen getzogē/ und zu nutz allen kunstliebhabenden mit zuͦ gehoͤrigen figuren¹³  – eine ‚Grundlegung‘ und Verstehensvoraussetzung für die 1528 erscheinende Proportionslehre, wie deren Widmung es behauptet.¹⁴ Die Frakturschrift, in der sie gesetzt ist, wurde von Johann Neudörffer (d. Ä.) entworfen und von Hieronymus Andreae geschnitten, Text und Auszeichnungen sind sorgfältig eingerichtet und bieten ein sehr einheitliches Bild, und der Band endet mit einer Liste von Korrekturanweisungen.¹⁵ Ein Register jedoch ist nicht eingerichtet, ebenso wenig ein Inhaltsverzeichnis, die vier Kapitelüberschriften organisieren lediglich die Großabschnitte, Bildbeischriften sind nur unregelmäßig eingefügt. Was in der Underweysung vermittelt werden soll, ist nur sehr lose, im Sinne einer allgemeineren Propä-

13 Das Exemplar (VD16 D 2856), mit dem ich gearbeitet habe, ist digitalisiert über die Sächsische Landesbibliothek Dresden einsehbar: http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/17139/1/. 14 Vgl. Albrecht Dürer: Hierinn sind begriffen vier bücher von menschlicher Proportion. Gedruckt bei Hieronymus Andreae, Nürnberg 1528, Widmungsschreiben: Damit auch dies mein Unterrichtung dest baß verstanden mög werden, hab ich hievor ein Buch der Messung, als nämlich Linien, Ebnen, Korpor [etc.] betreffend, aus lassen gehn, ohn welche diese mein Lehr nit gründlich verstanden mag werden. Darum tut einem iglichen, der sich dieser Kunst unterstehn will, not, daß er zuvor der Messung wohl unterricht sei und einen Verstand überkomme, wie alle Ding in Grund gelegt und aufgezogen sollen werden, wie dann die künstlichen Steinmetzen in täglichem Gebrauch haben. Dann ohn das wirdet er mein Unterrichtung nit vollkommenlich vernehmen mögen. Transkription des Drucks zitiert nach: Albrecht Dürer: Das Gesamtwerk. Hrsg. von Mark Lehmstedt, 2Berlin 2004 (Digitale Bibliothek Band 28). 15 Vgl. mit einer Einführung in die Underweysung Birgit Seidenfuss: Daß wirdt also die Geometrische Perspektiv genandt. Deutschsprachige Perspektivtraktate des 16. Jahrhunderts, Weimar 2006, S. 87–124, bes. S. 103.

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deutik mit dem späteren Druck-Projekt verbunden,¹⁶ folgt auch auf inhaltlicher Ebene lediglich punktuell einem einheitlichen Entwurf und fügt sich nur ungefähr einem übergreifenden Ordnungsschema: Zwar sind die vier Bücher der Underweysung zunächst an den Elementen Euklids orientiert, insofern sie erst Linien, dann Flächen und Körper behandeln, bevor sie die Perspektive erläutern, doch scheint bereits diese Gliederungslogik immer wieder aufgebrochen. So konzentriert sich ein großer Teil des ersten Buchs v.  a. auf Schnecken- und Spirallinien sowie auf die Eierlinie und auf Kegelschnitte. Das zweite Buch bietet neben den Polygonen u.  a. eine große Auswahl möglicher Fußbodenmuster, das dritte behandelt vorwiegend die Säulenkonstruktion, bietet aber auch Anweisungen zum Bau einer Sonnenuhr und schließt mit der Konstruktion zweier Schriftmustersätze ab. Das Vierte verhandelt neben einigen platonischen und archimedischen Körpern das sogenannte ‚delische Problem‘ und endet mit Anweisungen zur Herstellung von Instrumenten für die Erfassung der Perspektive. Weder ein systematisches Nachschlagewerk, noch ein umfassendes Lehrbuch, das sukzessive alle Bereiche der Geometrie abhandelt, entstehen auf diese Weise, sondern eine eklektizistische Zusammenstellung aus Wissenspartikeln von Euklid, Vitruv, Luca Pacioli, Leon Battista Alberti, Johannes Werner (Heinrich Schreiber), den Verfahren deutscher Fialen- und Steinmetzbüchern und vortheoretischem Handwerkerkönnnen.¹⁷ Bereits Leonardo Olschki weist auf die – im Verhältnis zu den italienischen Schriften – geringe „logische Geschlossenheit“, „eigentümliche Gestalt“ und den Anschein des „Flickwerks“ hin, der Dürers erste Druckschrift prägt.¹⁸ Eine Gestalt, die er – ebenso wie Erwin Panofsky – auf die Formel vom Zusammenwirken von ‚Kunst‘ und ‚Gebrauch‘ brachte und die immer noch die Debatten darüber anheizt, wie Dürers ‚Geometrie‘ bzw. geometrischer ‚Denkstil‘ sich zur theoretischen

16 Jeanne Peiffer: Dürers Geometrie als Propädeutik zur Kunst. In: Wissenschaft – Technik – Kunst. Interpretationen – Strukturen – Wechselwirkungen. Hrsg. von Eberhard Knobloch, Wiesbaden 1997 (Gratia 31), S. 89–103. 17 Vgl. Andreas Kühne: Die Kunst in der Natur. Albrecht Dürer als Autor mathematischer und kunsttheoretischer Schriften. In: Ex oriente lux? Wege zur neuzeitlichen Wissenschaft. Begleitband zur Sonderausstellung im Augusteum Oldenburg. Hrsg. von Mamoun Fansa, Mainz 2009, S. 92–105; Elisabeth Hemfort: Albrecht Dürer Unterweisung der Messung. In: Deutsche Architekturtheorie zwischen Gotik und Renaissance. Hrsg. von Hubertus Günther, Darmstadt 1988, S. 58–67. 18 Leonardo Olschki: Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur, 3 Bde, Heidelberg u.  a. 1919–1927, Bd. 1: Die Literatur der Technik und der angewandten Wissenschaften vom Mittelalter bis zur Renaissance, Heidelberg 1919, S. 414  f.; S. 425; S. 437: „Alberti und seine Epigonen versuchten, die gelehrten Kenntnisse systematisch für ein größeres Publikum zu verarbeiten; Dürer stellt die Aufgaben in eine Reihenfolge, die vielleicht ihrer Anwendung in der Kunstpraxis, sonst aber keiner anderen Disposition entspricht. […] Die Italiener folgen selbst in ihrer originellen Produktion […] der progressiven und sachlichen Logik mathematischen Denkens und Darstellens, indem sie sich in beiden Fällen den ihnen vertrauten Aufbau der euklidischen Geometrie zum Muster nehmen. Dürers sprunghafte Art der Darstellung zeigt, daß ihm weniger an logischer Geschlossenheit, als an Nützlichkeit der Lehre gelegen ist.“ Vgl. noch Seidenfuss (Anm. 15), S. 104  f.; S. 108.

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Mathematik verhält.¹⁹ Anders als im Fall der (italienischen) humanistischen kunsttheoretischen Schriften, für die etwa Brian Vickers das Zusammenspiel von Funktionalität, Eklektizismus und Einheit als bestimmend veranschlagt, scheint hier eine Logik der nur lose gruppierten Notizensammlung den Aufbau des Druckwerks nachhaltig zu bestimmen.²⁰ Vickers, der die Bedeutung des Notizbuchs als Medium der Sammlung, Bewahrung und Einübung humanistischen Wissens hervorhebt, kann für Alberti zeigen, wie diese neue eklektizistische Verfahrensweise der Wissensakkumulation kombiniert wird mit einer synthetisierenden rhetorischen Schreib-Praxis, die zwar einen ‚Mosaik-Stil‘ schaffe, diesen jedoch als einheitlichen Entwurf (compositio)  – etwa nach dem Vorbild von Quintilians Institutio Oratoria  – zusammenführe und dies auch mit einer entsprechenden Metaphorik reflektiere.²¹ Bei der Underweysung wird eine solche Synthese weder thematisiert noch wird sie erreicht. Der Text fügt – oft parataktisch aufzählend (‚item‘, ‚ein ander‘) – Verfahren und Verfahrensalternativen aneinander und unterstellt sie nur grob der erwähnten Gliederung von Linie, Fläche, Körper. Rekursionen sind dabei unvermeidlich z.  B., Aiiiv: Nun will ich erstlich wider vornen anheben/ vnnd will etlich gemessen linien zyhen. In einer handschriftlichen Aufzeichnung (Codex des British Museum 5228, fol. 201a), die Rupprich auf 1507–1509 datiert, findet sich dagegen eine andere, systematischere Zusammenstellung von Wissen und Können in Planung, die als Gesamtentwurf der Struktur von Albertis Lehrbuch durchaus vergleichbar scheint.²² Ob diese Liste, welche die Kapitelabschnitte einer umfangreichen Lehrschrift skizziert, wie Olschki vermutet, tatsächlich den Plan einer „geometrischen Enzyklopädie“ dokumentiert,²³ zu der es dann nicht gekommen ist, oder ob die Underweysung vielleicht nur einen ‚Vorabdruck‘ eines geplanten (und dann im Stile Albertis synthetisierten) Großunternehmens

19 Peiffer (Anm. 16), S. 94  f.; vgl. Sibylle Gluch: The Craft’s Use of Geometry in 16th c. Germany: A Means of Social Advancement? Albrecht Dürer & after. In: Anistoriton Journal, Essays, Vol. 10, Nr. 3 (2007), S. 1–16; dies.: Geometria practica und ars pictoria theorica: Albrecht Dürer zwischen Theorie und Praxis. In: Buchmalerei der Dürerzeit. Dürer und die Mathematik. Neues aus der Dürerforschung. Ausgewählte Beiträge der Tagungen im Germanistischen Nationalmuseum 2008. Hrsg. von Georg Ulrich Grossmann, Nürnberg 2009 (Dürer-Forschungen 2), S. 105–114. 20 Brian Vickers: Humanismus und Kunsttheorie in der Renaissance. In: Theorie der Praxis. Leon Battista Alberti als Humanist und Theoretiker der bildenden Künste. Hrsg. von Kurt W. Forster/ Hubert Locher, Berlin 1999, S. 9–74 (übers. von Hubert Locher); vgl. zum humanistischen Gestus der Underweysung Gluch (Anm. 19); zum Fortifikationstraktat Jörn Münkner: Der Wille zur Ordnung. Albrecht Dürers Befestigungslehre (1527) als Sachbuch und herrschaftspragmatisches Pamphlet. In: Buchkultur und Wissensvermittlung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Andreas Gardt/Mireille Schnyder/Jürgen Wolf, Berlin, Boston 2011, S. 231–244. 21 Siehe Vickers (Anm. 20), bes. S. 43–51. Vgl. D. R. Edward Wright: Albertiʼs De pictura: Its Literary Structure and Purpose. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 47 (1984), S. 52–71. 22 Vgl. Hans Rupprich: Dürer. Schriftlicher Nachlaß, 3 Bde, Berlin 1956–1969, Bd. 2 (1966), S. 83–85; S. 91–94; S. 371  f. Vgl. ders.: Die kunsttheoretischen Schriften L. B. Albertis und ihre Nachwirkung bei Dürer. In: Schweizer Beiträge zur allgemeinen Geschichte 18/19 (1960/61), S. 219–239. 23 Olschki (Anm. 18), S. 423  f.

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Speis der Malerknaben dargestellt haben könnte, soll hier nicht diskutiert werden. Festzuhalten ist jedoch, dass dem gedruckten Text keine völlig stringente thematische Struktur eignet. Jedoch beginnt die Underweysung mit einer rhetorisch und argumentativ ausgefeilten Widmung an Meynen in sonders lieben herren vnd fruͤndt, herrn Wilboden Prickheymer, und sie endet auch wieder mit der Anrede: guͤnstiger lieber herr  – so dass, nach Elisabeth Hempford, der Eindruck erweckt werde, „daß das gesamte Werk eine Person direkt anspricht“.²⁴ Der Text gibt sich in dieser Geste also durchaus eine geschlossene Gestalt, die durch das Druckbild der Schlussseite, das die sich zuspitzende Form des Titels wieder aufnimmt und auch die Jahreszahl wiederholt, noch unterstützt wird. Einheitlichkeit, Kohäsion und Kohärenz, wie sie in Werner Eroms Einführung in die Stilistik von 2008²⁵ als Bedingungen dafür angegeben werden, dass Stilgestalten Prägnanz gewinnen, erscheinen hier somit lediglich als eine rahmende Behauptung, die weder hinsichtlich der rhetorischen Stilhöhe noch hinsichtlich der Adressierung in der Underweysung konsistent durchgehalten wird. Ein schlichterer Anweisungs- und Beschreibungsstil löst den rhetorisch aufwendigen der Widmung ab, und auch die Festlegung auf einen Adressaten erscheint im Folgenden nicht mehr eindeutig, denn es werden zunächst – gerade gegen Widmung und Titel, die sich an alle kunstliebhabenden und Handwerker richten – die theoretischen und praktischen ‚Meister‘ als überqualifiziert vom Kreis der Rezipienten ausgeschlossen: Der aller scharff sinnigst Euclides/ hat den grundt der Geometria zuͦsammē gesetzt wer den selben woll versteht/ der darff diser hernach geschrieben ding gar nit/ dann sie sind alleyn den iungen vnd denen so sonst niemandt haben der sie trewlich vnderweyst geschryben. (Aiir)

Dennoch scheinen die Meister, als Lehrer der Jungen, nichtsdestoweniger zunächst Adressaten der Grundlegung der an Euklid orientierten Linienlehre zu bleiben, die den ersten Abschnitt des ersten Buchs bildet.²⁶ Im zweiten Abschnitt, der Schlangen24 Hemfort (Anm. 17), S. 59: „Die Unterweisung ist Dürers Freund Pirckheimer gewidmet. Im Schlußteil wendet sich Dürer wieder an den Adressaten der Widmung. Auf diese Weise erweckt er den Eindruck, daß das gesamte Werk eine Person direkt anspricht.“ – Vgl. zu den Entwürfen des Widmungsschreibens der Proportionslehre Jeffrey R. Ashcroft: Dürer und die kunst des wolredens. Zur Entstehung der Widmung der Vier Bücher von menschlicher Proportion an Willibald Pirckheimer. In: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Elizabeth Andersen/Manfred Eikelmann/Anne Simon unter Mitarbeit von Silvia Reuverkamp, Berlin 2005 (Trends in Medieval Philology 7), S. 467–486. 25 Hans-Werner Eroms: Stil und Stilistik. Eine Einführung, Berlin 2008 (Grundlagen der Germanistik 45), bes. S. 18  f.; S. 41–49. Vgl. Johannes Anderegg: Stil und Stilbegriff in der neueren Literaturwissenschaft. In: Stilfragen. Hrsg. von Gerhard Stickel, Berlin 1995 (Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 1994), S. 115–127. 26 Aiir: IM anfang thut not/ so man die iungen/ messen will leren das si wissen/ was der grund sey darauß man myst/ und wie da gemessen wirdet.

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und Parallellinien erläutert (Aiiv), dominiert dagegen ein unpersönliches ‚man‘, das kaum mehr einem bestimmten Adressaten zugeordnet ist und in dem Sachverhalte, wie etwa die Unendlichkeit parallellaufender Linien oder virtuelle Schnittpunkte, erklärt werden. Gleiches gilt für den dritten Abschnitt, der den Flächen gewidmet ist (Aiiv; Aiiir). Anstelle eines definiten Adressaten, auf den eine besondere Ökonomie der Vermittlung zielen könnte, tritt im Vierten dann ein ‚ich‘ in den Vordergrund, das von sich als Handelndem spricht.²⁷ Die erste Person Singular bestimmt auch die folgenden drei Abschnitte, einen über die Corpora, zwei über die unterschiedlichen Konstruktionsmöglichkeiten von Schneckenlinien. Dabei werden bei entsprechender Gelegenheit bereits hier Anweisungen in der zweiten Person Singular gegeben (Erstlich nym die vorgemacht gefirt ebene, Aiiir). Der achte Abschnitt schließlich, der die zweite Schneckenlinie weiter modifiziert, erscheint sprachlich im reinen Anweisungsstil, das ‚ich‘ ist lediglich noch als virtuelle Stimme präsent, die zu einem ‚Du‘ spricht (Avv): nym eyn zirckel/ setz in mit dem ein fuß in den Punckten .12. Vnd den Andern in den Punckten .i. vnd reyß vondā rund ubersich. – Es ist in diesen ersten Erläuterungen der Underweysung, auch wenn dieser Eindruck entstehen könnte, keine allmähliche Stilfindung oder Überleitung zu verzeichnen, die von der abstrakten Erklärung der Körper, über die Beschreibung von Verfahren, zum ‚Lehrbuch‘ als anweisender Gebrauchsschrift führt, sondern sie dokumentieren lediglich die Bandbreite der Adressen und Präsentations-Formen, zwischen denen im Folgenden immer neu gewechselt wird.²⁸ Der artikulierte didaktische Anspruch, ein Lehrbuch für Anfänger sein zu wollen, wird dabei bereits in der Struktur des ersten Buchs nicht eingelöst. Zwar scheint es mit den Euklidischen Grundlegungen beim unhintergehbar Notwendigen zu beginnen,²⁹ doch geometrische Basisoperationen, wie etwa die Einteilung einer Strecke oder eines Kreisbogens in zwei oder drei Teile, werden erst später erläutert (Biiiiv) und d.  h. erst nachdem die Verfahren bereits zur Konstruktion der planen und aufgezogenen

27 Aiiir: Erstlich wil ich die erst recht ebene mit einer rechten firung vmbtzyhen dem thuͦ ich also/ ich reyß eyn zwerch lini .a.b. damit far ich eben vndersich/ als ferr so lang sie ist/ so wirdet darauß eeyn gefirte ebne/. 28 Der Frage nach der didaktischen Dimension des frühneuzeitlichen Rechenbuchs widmet sich Peter Gabriel: Ein gemeyn leycht buechlein. Zur Didaktik in Adam Ries’ zweitem Rechenbuch im Vergleich zu Widmans Behende vnd hubsche Rechenung. in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaft, Technik und Medizin, 18,4 (2010), S. 469–496. 29 Vgl. zu dieser Topik Gottfried Boehm: Der Topos des Anfangs. Geometrie und Rhetorik in der Malerei der Renaissance. In: Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance. Hrsg. von Ulrich Pfisterer/Max Seidel, München, Berlin 2003 (Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz 4,3), S. 48–59, bes. S. 53–59; vgl. Robert Felfe: Nebenwege der Perspektive. Die Linie als bildnerisches Element zwischen Geometrie und Handwerkspraxis. In: Dynamiken des Wissens. Hrsg. von Klaus W. Hempfer/Anita Traninger, Freiburg i. Br., Berlin, Wien 2007 (Rombach Wissenschaften, Reihe Scenæ 6), S. 61–89, bes.  S. 61–65.

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Schneckenlinien mehrfach gebraucht worden sind. Basisgeometrische Verfahren, wie etwa die Teilung einer Linie mit dem Zirkel, werden damit zunächst als Fertigkeit vorausgesetzt und nachträglich erklärt.³⁰ Sie erscheinen so weder als rein implizites, immer schon gewusstes Wissen noch stehen sie als unverzichtbare Grundübungen voran. Die Traditionen Euklids und Vitruvs (die geometrischen Grundfiguren und die Schnecke des ionischen Säulenkapitels) begründen die Anordnung im ersten Buch der Underweysung – nicht ein pädagogisch zwingender sukzessiver Ausbau von geometrischen Verfahren und Techniken. Mit Blick auf Fachsprache und Begriffsbildung Dürers werden  – durchaus entsprechend zu den hier skizzierten Beobachtungen  – von linguistischer Seite her gerade auch die ‚Verständnisprobleme‘ betont, wie sie zum Argument etwa in den an Dürers Underweysung orientierten Mess- und Perspektivlehren von Johann II. von Pfalz-Simmern (z.  T. in der Forschung unter ‚Hieronymus Rodler‘) und Heinrich Lautensack werden.³¹ Weder eine kohärente inhaltliche Ordnung noch eine einheitliche Adressierung oder eine einsinnig ausgerichtete ‚Sprecherposition‘ prägt also den Text, der sich selbst im Rahmen eines Nachdruckverbots als noch zu erweiternde, als nur vorläufige Fassung ausweist: und darpey meniglich gewarnet haben/ ob sich yemand under=steen wurd mir diß außgangen buͤchlein wider nach zuͦ drucken/ das ich das selb auch wider drucken will/ un̄ außlassen geen mit meren und groͤsserem zuͦsatz dan̄ ietz beschehen ist/ (Qiiir)

Die Underweysung ist also nicht ‚fertig‘ und vollständig, sie ist, und das auch nur 1525, eben in dieser spezifischen Gestalt und keiner anderen ‚in Druck gegeben‘ – und erscheint dezidiert (und anders als z.  B. in der lateinischen Tradition) nicht, nur weil sie gedruckt ist, zugleich als ‚opus perfectum‘.³² Mir geht es hier weder darum, zu entscheiden, ob diese Bemerkung womöglich von einer ‚tatsächlichen Unzufriedenheit‘

30 Biiiiv: Item ehe ich weytter kome will ich vor eyn lini recht in der mitt von einander leren̄ theylen. 31 Vgl. Peter O. Müller: Substantivderivation in den Schriften Albrecht Dürers. Ein Beitrag zur Methodik historisch-synchroner Wortbildungsanalysen, Berlin, New York 1993 (Wortbildung des Nürnberger Frühneuhochdeutsch 1), S. 489: „Berücksichtigt man Dürers Intention, dann ergibt sich hinsichtlich der Rezeption seiner Druckschriften eine Paradoxie: Die Wertschätzung seiner Werke war bei den wissenschaftlich interessierten Rezipienten (Gelehrte; Humanisten) größer als bei der um praktische Fertigkeit bemühten Handwerkerschaft. […] Der Versuch Albrecht Dürers, eine deutsche mathematische Fachsprache zu entwickeln, ist dagegen im ganzen ohne weitreichende Wirkung geblieben.“ – Vgl. ders.: Allen Künstbegirigen zu Güt. Zur Vermittlung geometrischen Wissens an Handwerker in der frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 21 (1993), S. 261–276; ders.: Die Fachsprache der Geometrie in der frühen Neuzeit. In: Fachsprache. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. Hrsg. von Lothar Hoffmann/Hartwig Kalverkämper/Herbert Ernst Wiegand, 2 Bde, Berlin, New York 1998 und 1999 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 14), Bd. 2 (1999), S. 2369–2377. 32 Vgl. Schnell (Anm. 9), S. 78; S. 100.

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Dürers mit seinem Druckwerk zeugt, ob sie womöglich von rein ökonomischen Erwägungen geprägt ist, die ja eine Ankündigung von gleich zwei weiteren Druckwerken durchaus auch motiviert haben könnten, oder ob sie hier schlicht zur Verstärkung des Nachdruckverbots angeführt wird.³³ Festzuhalten bleibt lediglich, dass die Gestalt der Underweysung unterhalb der Gleichmäßigkeit des Druckbilds und der losen Gliederung in vier geometrische Themenfelder sich nicht bruchlos der Topik des Anfangs, der Grundlegung und Anfängerbelehrung fügt, die nichtsdestoweniger immer wieder bemüht wird, und dass sich das Büchlein selbst am Ende gar nicht als vollständige und vollendete Form ausgeben will.

2 Medienstile 1988 rief ein Tagungsband unter dem Titel ‚Materialität der Kommunikation‘, im Anschluss an seinen Vorgänger und damit an die Frage nach ‚Stil als kulturwissenschaftliche[m] Diskurselement‘, die „Suche nach einem neuen diskursiven Niveau der Kulturwissenschaften“ aus.³⁴ Gefragt war nach einer zuverlässigen Historisierung von Stilphänomenen, vor und abseits derjenigen hermeneutischen Prozesse, die in den Stiltheorien selbst immer wieder unter das Verdikt des ‚Intuitiven‘, sogar Irrationalen, wissenschaftlich Ungesicherten gefallen seien.³⁵ Die Stilfrage wurde damit in Richtung einer Frage nach den Prägekräften von Medien und Kommunikationsbedingungen verschoben, wo sie sich „durch die Hintertür“ bereits ein „beachtliches Comeback“ verschafft hatte.³⁶ Nicht nur im Gefolge medienhistorischer Überlegungen sind 33 Wolfgang Schmid (Dürer als Unternehmer. Kunst, Humanismus und Ökonomie in Nürnberg um 1500, Trier 2003 [Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte 1], S. 535  f.) geht bei seinen Überlegungen nur sehr knapp auf die theoretischen Schriften ein. – Die zweite Auflage der Underweysung erscheint posthum (1538, gedruckt durch Hieronymus Formschneider, Nürnberg). 34 Materialität der Kommunikation. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1988. Dies.: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt a. M. 1986. – Zitat: Hans Ulrich Gumbrecht: Flache Diskurse. In: Materialität der Kommunikation, S. 914–923, hier S. 915; vgl. K. Ludwig Pfeiffer: Materialität der Kommunikation? In: Materialität der Kommunikation, S. 15–28. 35 Gumbrecht, Flache Diskurse (Anm. 34), S. 914  f.: „Beim Durchmustern seiner [d.  h. des Stilbegriffs, CL] historischen und systematischen Dimensionen wurde bewußt, daß die Kulturwissenschaften über kein Kriterium verfügten, um Sinnkonfigurationen der Vergangenheit, die durch Verstehen in die Gegenwart geholt werden, von solchen Sinnkonfigurationen zu unterscheiden, die aus der Gegenwart in der [sic., die?] Vergangenheit projiziert werden. Deshalb sollte sich die Suche nach ‚Materialitäten der Kommunikation‘ auf Phänomene konzentrieren, die solche kulturwissenschaftlichen Projektionen abzuweisen imstande wären.“ Vgl. ders.: Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des Stilbegriffs. In: Stil (Anm. 34), S. 726–788. 36 K. Ludwig Pfeiffer: Produktive Labilität. Funktionen des Stilbegriffs. In: Stil (Anm. 34), S. 685–725; hier S. 716. – Pfeiffer bezieht diese Bemerkung auf einen ,Erwartungsstil‘ im Sinne einer Luhmannschen Kommunikationstheorie.

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der Buchdruck sowie auch die bildende Kunst der frühen Neuzeit als Epoche eines neuen kognitiven Stils apostrophiert worden.³⁷ Im Anschluss an eine Geschichte des Menschen, die sich an medienhistorischen Umbrüchen orientiert, führte Michael Giesecke in seiner Untersuchung des ‚Buchdrucks in der frühen Neuzeit‘ sowie im entsprechend betitelten Folgeband den ‚Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel‘ der Frühen Neuzeit auf einen Wechsel „in den dominanten Vernetzungsstrukturen des gesellschaftlichen Informationssystems“ einerseits, andererseits auf neue Formen der Technisierung zurück.³⁸ Für die Wahrnehmungs- und Darstellungskonventionen konstatiert er: Unter Rückgriff auf Vorarbeiten der bildenden Künstler gelingt es […] im 15. und 16. Jahrhundert, eine Theorie der visuellen Wahrnehmung soweit zu operationalisieren, daß mit diesem Programm tatsächlich ein intersubjektiv wiederholbarer und falsifizierbarer Datengewinn möglich wird. Damit avancieren die visuellen Informationen endgültig zur Leitgröße der öffentlichen Kommunikationssysteme in der Neuzeit. […] Der Buchdruck bevorzugt aus verschiedenen Gründen […] die mit den Augen gewonnene und graphisch darstellbare Information.³⁹

Damit ist  – zumindest implizit, denn der Begriff selbst wird weitgehend vermieden, – ein auch stilistischer Wendepunkt beschrieben, der sowohl neue intermediale Darstellungs-Konfigurationen hervorbringt, als auch zur Ausbildung neuer intramedialer Schemata führt. Diese „Besonderheiten der typographischen Information und Informationsproduktion“ ließen sich, so Giesecke, v.  a. „bei jenen Gattungen studieren, die direkt für die Bedürfnisse von Typographeum und Markt geschaffen wurden“⁴⁰ – nämlich der beschreibenden Fachprosa –, weil hier eine bestimmte Form

37 Vgl. z.  B. Michael Baxandall: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien der Renaissance, Berlin 1999 (Original: Oxford 1972); Ian F. Verstegen: Tacit Skills in the Perspective Treatise of the Late Renaissance. In: Cognition and the book. Typologies of formal organisation of knowledge in the printed book of the early modern period. Hrsg. von Karl A. E. Enenkel/Wolfgang Neuber, Leiden u.  a. 2005 (Intersections 4), S. 187–213. – Zu Stil als wissensgeschichtlicher Kategorie siehe Weiss (Anm. 3). 38 Michael Giesecke: Sinnenwandel – Sprachwandel – Kulturwandel, Frankfurt a. M. 1992, S. 218; ders. (Anm. 8). Vgl. zu letzterem Georg Jäger: Die theoretische Grundlegung in Gieseckes ‚Der Buchdruck in der frühen Neuzeit‘. Kritische Überlegungen zum Verhältnis von Systemtheorie, Medientheorie und Technologie. In: IASL 18 (1993), S. 179–196; Jan-Dirk Müller: Überlegungen zu Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. (s.  o.), Frankfurt a. M. 1991. In: IASL 18 (1993), S. 168–178; sowie die medientheoretische Einordnung von Gieseckes Arbeit bei Sven Grampp: Ins Universum technischer Reproduzierbarkeit. Der Buchdruck als historiographische Referenzfigur der Medientheorie, Konstanz 2009, bes. S. 252–256; vgl. Zedelmaier (Anm. 12), bes. S. 503–505. 39 Giesecke (Anm. 38), S. 235  f.; S. 280–301; vgl. ders. (Anm. 8), Kap. 6, etwa S. 649 u. ö.: „Um das Buchwissen verstehen und nutzen zu können, müssen alle beteiligten psychischen Systeme ähnlich projizieren und verarbeiten.“ 40 Giesecke (Anm. 8), S. 512; ders.: Syntax für die Augen. Aspekte der beschreibenden Fachprosa in der Frühen Neuzeit. In: Neuere Methoden der historischen Syntaxforschung. Hrsg. von Anne Betten, Tübingen 1990, S. 336–351; eine besondere Relevanz der Fachprosa betont auch Ute Schneider: Das

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sprachlicher Vermittlung, die Rezeptionsbedingungen typographischer Systeme und ein neuer objektivierender Bildstil zusammenwirkten. Dürer bildet für ihn deswegen einen wichtigen, sogar zentralen Agenten dieses Wandels.⁴¹ Das in dieser Weise als charakteristisch veranschlagte Zusammenspiel zwischen Bild und einem als „Syntax für die Augen“ aufbereiteten Text lässt sich zweifelsohne an zahlreichen Stellen der Underweysung beobachten, etwa wenn anlässlich der Einführung des ‚Punktes‘ seine Virtualität und Unsichtbarkeit eigens problematisiert wird⁴² oder wenn sprachliche Sequenzierungen, einfache Aussagesätze und ostensive Definitionen antreten, die Interaktionssituation etwa einer Werkstatt zu ‚übersetzen‘, die händisches Eingreifen und ‚Zeigen‘ ermöglicht.⁴³ Die stilistische Gestalt der Underweysung ergäbe sich demnach gerade aus einer visualisierenden Darstellung in Bild und Schrift gleichermaßen, denn vor dem Hintergrund eines erweiterten Textbegriffs, der auf den Text als Komplex aus verschiedenen Zeichensystemen zielt (also etwa auch Stimme und Prosodie, oder mise en page, Grapheminventar und Drucktype), ist – so Ulla Fix – zu „akzeptieren, daß die Einheitlichkeit, die wir Stil als Bedingung zuzuschreiben gewohnt sind, nur als multimediales Phänomen erfasst werden kann“.⁴⁴ Doch auch die intermedialen Präsentationsformen folgen, um zur Underweysung zurück zu kommen, unterschiedlichen Schemata und Prinzipien, insofern Bild und Text auf ganz verschiedene Weisen aufeinander bezogen sind. Während den geometrischen Grundlegungen die Figuren als Konkretisierungen von Abstrakta beigestellt sind, begleiten die völlig anders ausgestalteten Bilder die Ausführungen zu den verschiedenen Perspektivapparaten, zeigen die Gerätschaft im Gebrauch und empfeh-

Buch als Wissensvermittler in der Frühen Neuzeit. In: Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Johannes Burkhardt/Christine Werkstetter, München 2005 (Historische Zeitschrift-Beiheft N. F. 41), S. 63–78. 41 Giesecke (Anm. 8), S. 658: „Daß es dazu gekommen ist, hängt nicht zuletzt von dem informationspolitischen Elan Dürers ab. Im Gegensatz zu seinen italienischen Vorläufern und Zeitgenossen wollte er die Perspektivlehre von vornherein allen zugänglich machen.“ 42 Aiir: Diser aller ding anfang vn̄ end sind puncktē / Aber eyn punckt ist ein solch ding/ das weder Groͤß Leng Breyt oder Dicken hat/[…] Wie dan̄ das die hochuerstendigen/ diser kunst woll wyssen/ und darumb erfuͤllt keyn punckt keyn stat/ dann er ist vntzerteylich […] Aber damit die iungen verstendig in gebreuchlicher arbeyt werden/ So will ich inen den puncktē als ein gemel mit eym tupff/ einer federn fuͤrsetzen/ Und das wort punckt darbei schreiben/damit der punckt bedewt wirdet/ punckt/. 43 Giesecke (Anm. 8), S. 528  f.; S. 502: „Zahlreiche Informationsbestände, die bislang nur sensomotorisch oder in den Köpfen weniger Menschen, in Handschriften oder in anderen Medien gespeichert wurden, übersetzt die Renaissance in das typographische Medium und kodiert sie in standardisierten Sprachen und Bildern.“ Vgl. ders.: ‚Volkssprache‘ und ‚Verschriftlichung des Lebens‘ im Spätmittelalter  – am Beispiel der Genese der gedruckten Fachprosa in Deutschland. In: Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht, Heidelberg 1980 (Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters, Begleitreihe 1), S. 39–67. 44 Siehe Ulla Fix: Zugänge zu Stil als semiotisch komplexer Einheit. Thesen, Erläuterungen und Beispiele. In: Perspektiven auf Stil. Hrsg. von Eva-Maria Jakobs/Annely Rothkegel, Tübingen 2001 (Reihe germanistische Linguistik 226), S. 113–126; Zitat S. 185.

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len, insofern sie selbst als perspektivische Szenarien konstruiert sind, den Nutzen dieser Kunst. Die Schriftmusterblätter (Liiiir bis vir) stehen in einem anderen Verhältnis zum Text als die je erläuterten Konstruktionszeichnungen der Einzelbuchstaben (Kiir bis Liiir). Die Figuren, welche die Konstruktion der platonischen und archimedischen Körper bieten, dienen zugleich dazu, als Vorlage auf zwifach gepabt papier übertragen, ausgeschnitten, gefalzt und zu dreidimensionalen Modellen zusammengelegt zu werden. Selbst innerhalb eines Figurenkomplexes, der Schneckenlinie, lassen sich Unterschiede in der Art und Weise beobachten, wie Text und Bild miteinander interagieren und wie sie über Ziffern- und Buchstabenreihen verbunden sind.

3 Schneckenstile I – Dürer Gleich nach der knappen Vorstellung der verschiedenen geometrischen Figuren und Körper greift die Underweysung zurück auf die Linie: Obwohl sich bereits aus einfachen Linien viel machen lasse, heißt es dort,⁴⁵ solle nun gleich mit der Konstruktion einer ‚Schneckenlinie‘ auf einer Ebene begonnen werden. Der Absatz lautet: Diese schneckenlini reiß ich also/ ich mach ein auffrechte lini die sey oben.a. vnden.b. die theyl ich mit dreyen punckten.c.d.e/ in vier gleiche felt/ Darnach teyl ich.d.e. mit einē punckten.f. in zwey gleiche felt/ darnach setzt ich auff die recht seytten der lini ein.g. auff die linck ein.h. dar nach nym ich ein zirckel. (Aiiiv)

Der Zirkel wird nun alternierend in die Punkte d und f gesetzt und ebenfalls abwechselnd auf der Seite h oder g herumgeschlagen: von a nach b, von b nach c, von c nach e usw. Also ist dise lini vertig/ vnd ist zuͤvil dingen gebreuchlich – unter anderem, so lernt man, zum Schmuck eines Säulenkapitells: Und das destbaß zuͦversteeen/ hab ich zwuͦe gerad zwerchlini hie vnden auffgeryssen/auß den zweyen puncktē.a.c. vnd von der schnecken lini hyndersich getzogen. Die Figur (Abb. 1) umfasst mehrere Elemente: die Schneckenlinie selbst mit den Punkten, aus denen heraus sie gezogen wird; die Festlegung der Seiten, auf denen der Zirkel je herum geführt werden muss (g/h); die geraden ‚Ausziehungen‘ nach links, die den Gebrauch am Kopf einer ionischen Säule anzeigen sollen; eine Nebenlinie, die eine durchnummerierte Einteilung in vier Felder aufweist. Diese scheint zunächst lediglich als Verdeutlichung eines ‚Zwischenschritts‘ (Teilung der Linie .ab. in vier gleiche Teile) zu fungieren und erscheint dabei wenig zielführend, denn die Teilung der Linie .ab. soll ja Punkte bestimmen, die bereits die Senkrechte im Zentrum der

45 Aiiiv: Es ist wyßlich/ das auß einer lini allein villerley gestalt getzogen/ vnnd im auffreissen/ angetzeigt muͤgen werden/ Aber erstlich will ich ein schnecken lini/ mit dem zirckel zyhen/.

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Abb. 1: Schneckenlinie (ionische Schnecke), Underweysung der Messung (Aiiiv)

Schnecke anzeigt (a bis f), und keine Strecken. Doch gehört die Visualisierung eines regelmäßigen Rasters, das die Proportionalität zwischen Säule, Basis und Kapitell regelt und ihre Darstellung begleitet, bereits zu den frühen illustrierten (z.  T. volkssprachig kommentierten) Vitruvausgaben.⁴⁶ Wie durch die nach links ausgezogenen Linien schließt die Figur also auch durch die Abbildung der Nebenlinie zugleich an eine Darstellungsform an, die der Säulenlehre entlehnt ist und auf diese – und damit implizit auf Vitruv – zurückweisen könnte. Der darauf folgende Abschnitt stellt eine alternative Schneckenkonstruktion vor. Sie beginnt mit einem Zirkelriss, der in zwölf gleiche Teile geteilt wird, dann folgt ein ryß aus dem Mittelpunkt (a) bis auf die Kreislinie (b). Von dort werden zunächst gegen den Uhrzeigersinn die zwölf Kreispunkte durchnummeriert, die Linie .ab. wird ihrerseits mit 23 geteilt. Diese werden auf ein Richtscheit übertragen, das nun a’ auf a angelegt und mehrfach gegen den Uhrzeigersinn herumgeschoben wird, wobei die Punkte markiert werden, die sich aus der doppelten Zählung auf Kreislinie und Richtscheit ergeben. Weil dies beim zweiten Umlauf der Schneckenlinie jedoch nicht mehr über die Gleichheit der Ziffern organisiert ist, wird eigens angegeben, dass bei der zweiten Runde mit dem Richtscheit die Stellung 1 nun Punkt 13, 2 Punkt 14 usw. hervorbringen soll.⁴⁷

46 Vgl. etwa Cesare Cesarino: Di Lucio Vitruuio Pollione de architectura libri dece traducti de latino in vulgare affigurati, bei: Gottardo da Ponte, Como 1521 (Liiiv). 47 Aiiir: Darumb merck eben auff die zal so kanst du nit irre werden/ Aber so die lini zwyfach vber einanderlaufft/ vnd im zirckelriß nun/12/stett/ aber im vmblauffeten richtscheyt .23. so hab acht das die zal des richtscheytz ordenlich furge/dann zu der zal.i.kumbt.13. auff /2/14/3/15/4/16/5/17/6/18/7/19/8/ 20/9/21/10/22/11/23/.

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Abb. 2: Schneckenlinie (archimedische Spirale) mit Zirkel und Richtscheit, Underweysung der Messung (Aiiiir)

Die Gestalt des Textes wie die des Bildes sind im Druck gekennzeichnet durch die Bemühung, präzise Zuordnungsmöglichkeiten zu schaffen, wie sie in Form von Ziffern hier die obere Hälfte der zweiteiligen Figur (Abb. 2) völlig überziehen und wie sie als kompakter Zahlenblock den Textabschnitt darüber prägen.⁴⁸ Was dabei genau auf der

48 Siehe Zitat Anm. 47. Auf einem Blatt der British Library findet sich eine Notiz Dürers von 1509, die ebenfalls die Konstruktion einer archimedischen Spirale betrifft (London 5229, fol. 80a, Rupprich [Anm. 22], Bd. 3 [1969], S. 319–321, und Tafel 57, Nr. 195). Hier erscheint die Anweisung Teilung der

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zweiteiligen Figur zu sehen ist, erläutert der Text gleich im Anschluss an diese Zuordnungsbemühungen: So man aber dise schnecken lini recht sehen vnd brauchen will/muß man die zirckellini vn̄ das puncktirt riechtscheyt mit allen jren ziffern dannen thuͤn / dardurch dann die schneckenlini gemacht ist worden / vnd allein die schnecken lini mit jren punckten bleiben vnd ledig steen lassen / und wie sie getzogen sollen werden/also hab ich sie zweymal wie obgemelt hie nach auffgeryssen/ Vnnd sonderlich hab ich zuͦ der ledigen schnecken lini zwuͦ gestrackt linien gethan vnnd vberzwerch getzogen gegen der lincken hand / zuͦ gleichenn wincklen / die ober auß dem punckten .12. da das .b. stett / aber die vnder von dem punckten .12. der schnecken lini/auff das man sehe was underschydt sie gegen der ersten hab. (Aiiiir)

Die Linie .ab. der oberen Schnecke (Abb. 2) ist also auf zwei Arten zu lesen: zum einen als eine Hilfslinie, die aber – anders als bei der ersten Konstruktionszeichnung – nicht zur Konstruktion der ‚Schneckenlinie‘ selbst beiträgt, sondern die zur Fertigstellung des Werkzeuges dient, das dann für die Konstruktion der Schneckenlinie benötigt wird, und die hier stellvertretend für das Werkzeug abgebildet ist. Nach dieser Lesart wäre sie so etwas wie ein operatives Substitut, das vor allem deswegen nötig scheint, weil eine beliebig lange Linie am leichtesten mit dem Zirkel gleichmäßig einzuteilen ist und es für dieses Verfahren eine ebene, mit dem Zirkel befahrbare Fläche – also zunächst Papier und nicht gleich das Richtscheit – braucht. Zum anderen könnten die Schnörkel, welche die Linie rechts umfangen, indizieren, dass hier das Werkzeug selbst abgebildet werden sollte, so wie ja auch im oben zitierten Absatz von seiner Wegnahme (und nicht von der Wegnahme einer Hilfslinie) die Rede ist. Was der obere Aufriss der Figur dann zeigen würde, wäre demnach keine reine Konstruktionszeichnung, wie im Fall der ersten Schnecke, sondern eine Schneckenkonstruktion und ihr Werkzeug  – das punktierte Richtscheit, in seiner Ausgangs- und zugleich Endposition. Der untere Aufriss ist dagegen, während auch er über die ausgezogenen Linien den weiteren Gebrauch indiziert, zugleich für eine andere, sowohl für Belange der Geometrie als auch der ‚Kunst‘ relevante Operation vorgesehen: die des vergleichenden Blicks zwischen den Schneckenlinien auf Blatt Aiiiv zu Aiiiir – das man sehe was underschydt sie gegen der ersten hab. Auf die Konstruktion der zweiten Schneckenlinie folgen Anweisungen zu ihrer Abänderung (Aiiiiv bis Avr), die Weiterverarbeitung zu einem Bischofsstab (Av bis Aviv), das ‚Aufziehen‘ der Schnecke in die dritte Dimension sowie weitere Variatio-

Hilfslinie .ab., erheblich verkürzt: Dornoch nym dy leng auws dem centro pis an den circell ris vnd teill sy gleich so jn vill gleich teill als den cyrckell ris vnd tzeichen sy gleich so mit vyll tzalen als den tzirkelris. Mit einer abstrakten Größe, einer leng, nicht mit einer konkreten lini, wird hier operiert. Ebenso verzichtet der Entwurf auf die Festlegung der Ziffern 1 bis 12 bzw. 24, die im Druck die Beschreibbarkeit und genaue Benennbarkeit der einzelnen Schritte garantiert, denn letztlich ist es ja gleichgültig, ob der Kreisriss für diese Konstruktion in 6, 12, 24 oder noch mehr Teile geteilt ist, so lange nur das Verhältnis zwischen ihm und der Einteilung des Richtscheits folgerichtig ist und im Gebrauch das kontinuierliche Vorrücken präzise eingehalten wird.

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nen von Schnecke und Schraube (B bis Biiiv).⁴⁹ Zwei Schneckenlinien auf der Ebene schließen diesen ersten Abschnitt ab. Die vorletzte der beiden (Abb. 3) operiert wie die archimedische Spirale (Abb. 2) über einen in zwölf Teile eingeteilten Zirkelriss und einen entsprechend eingeteilten Radius. Hier jedoch wird er in 36 Felder geteilt, und die so gefundenen Punkte werden nicht auf ein Richtscheit gestochen, sondern – wie bei der ‚einfachen‘ Schnecke zuvor – direkt mit dem Zirkel von der eingeteilten Radiuslinie übernommen: Darnach theyl die lini 12/a/mit 35 punckten in 36 gleiche felt/ vnnd heb die ziffer oben an bey dem punckten.12.herab zuo zelen /1/2/3/[etc] Darnach nym ein zirckel/ vnnd setz in mit dem einen fuß in den Centrum/a/ vnd den andern setz an der lini/12.a.in den punckten.1.von dann reiß krum gegen der streim lini.1.a.Darnach laß den zirckel mit dem ein fuß stetz in den Centrum.a.still steen/ vnd verruck den andern fuß auff der streim lini.12.a.in den andern punckten 2/vnnd reiß damit ein runden/zwischen den zweyen streim linien/1/a/vnd/2/a/ Also verruck den ein fuß des zirckels auff der streim lini 12.a.allweg umb ein grad / vnd reiß mit nach ordnung rund ryß zwischen allen streim linien / byß das du zum dritten mal herum kumbst/ Also wirdet der zirckel durch das verrucken yhe merh ye enger/ byß das er schyr zum Centrum a kumbt. (Biiiir)

Die zweiteilige Figur (Abb. 3) nimmt das Schema, nachdem Schneckenkonstruktion und freigestellte Schneckenlinie nebeneinander gesetzt sind, wieder auf. Wieder ist die freigestellte Linie nach links (wie zu einer imaginären Säule hin) verlängert, doch weist der Text nicht eigens darauf hin. Anders als bei der ersten Konstruktion der archimedischen Spirale jedoch wurde die Einteilung der Linie .a12. hier nicht einzeln nummeriert und angezeigt. Stattdessen steht über der Linie eine groß gesetzte 36, um die 36 gleiche felt anzuzeigen, in welche die Linie geteilt ist. Auch die von .a12. auf die anderen streim linien aufgetragenen Punkte, die den Gang der Schnecke festlegen, sind nicht einzeln gezählt, und nur der Kreismittelpunkt ist mit a gekennzeichnet. Weder Text noch Bild sind hier durch Ziffern dominiert, die Zuordnungsverhältnisse regulieren könnten. Dies könnte sich zum einen der Tatsache verdanken, dass Ziffern, die klein genug wären, um der feinen Einteilung von .a12. beigestellt zu werden, im Druck wohl kaum zu realisieren bzw. schlicht gar nicht zu lesen wären. Doch wäre noch eine andere Begründung denkbar: Die Konstruktion mit dem Zirkel und ohne Richtscheit braucht diese Operatoren nämlich gar nicht, weil ja die jeweiligen Abstände im Zirkel selbst als Öffnungswinkel gespeichert sind. Sie können auf .a12. immer neu abgelesen und entsprechend verrückt werden. Das Werkzeug leistet also hier, was bei der Konstruktion in Abb. 2 über die Bezifferung organisiert ist. Die letzte der beiden Schneckenlinien (Abb. 4) entsteht auf vergleichbarem Wege wie die voraufgehende, dort allerdings ist der Zirkelriss nur durch sechs Punkte, der

49 B: So nun die schnecken lini auff einer rechten ebne getzogē ist/will ich sie nachuolget von vnden vbersich zie=hen leren/ Es ist zuͦ mercken soͤ man etwas machen will / soll man jm vor seyn grundt setzen/ es sey gebaͤw oder anders.

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Abb. 3: Schneckenlinie (archimedische Spirale) nur mit dem Zirkel gezogen, Underweysung der Messung (Biiiir)

Radius nur in acht Abschnitte geteilt,⁵⁰ sodass sie sich rapide erweitert. Dabei ist neben der Konstruktionsskizze auch die freigestellte Figur beziffert, allerdings ohne dass im Text deutlich würde, wozu diese Ziffern dienen. Da diese Schnecke ebenfalls mit dem sich sukzessive schließenden Zirkel konstruiert ist, braucht es die Punkte auch hier nicht für den schrittweisen Herstellungsprozess, vielmehr scheinen sie zum Abgleich von Konstruktionsskizze und freigestellter Linie zu dienen, denn erstere sieht mit den regelmäßig sich verkleinernden 1/6 Kreisbögen der Zirkelzüge einer Schnecke kaum mehr ähnlich. Dieser Schritt allerdings ist nicht im zugehörigen Textabschnitt erläutert, der nach einer kurzen Skizze der Einteilung von Zirkelriss und Linie .a6. das Verfahren abkürzt und auf den Text zur vorhergehenden Konstruktion (Abb. 3) verweist.⁵¹ Dort war bereits erklärt worden, dass nach der Zirkelarbeit die Punkte auf den streimlini verbunden werden müssen. Die Ziffern in Abb. 4 machen entsprechend die Stationen der Zirkelarbeit mit der fertigen Schnecke vergleichbar, bei der die ermittelten Punkte von Hand verbunden worden sind.

50 Biiiir: ITem noch will ich ein schneckenlini ziehen/ reiß auß eim Centrum.a.eyn gantzen zirckelryß/ und theil in mit.6/punckten in 6 gleiche felt/ vnnd setz die zal dartzu/ also das 6 oben stee vnnd zeuͦch auß allen punckten der zirckellni streim linien in Centrum.a.Darnach theil die lini.6.a.mit.7.punckten in 8 gleiche felt/ darnach thuͦe jm wie vor/nym eyn zirckel vnnd setz in mit dem eynn fuß in den Centrum a vnd den andern setz in den pnnckten.1.in der sterim lini.1.a.also thu im fuͦr.vnd fuͦr durch die zal all/ wie du das ab zuͦnemen hast auß der vorrigen schnekcen lini/ soͤlchs hab ich auch hie nach auffgeryssen mit allen noͤttigen beystrychen und ledig. (Abb. Biiiv). 51 Biiiir: also thu im fuͦr.und fuͦr durch die zal all/ wie du das ab zuͦnemen hast auß der vorrigen schnekcen lini/ soͤlchs hab ich auch hie nach auffgeryssen mit allen noettigen beystrychen und ledig.

Schneckenstile 

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Abb. 4: Schneckenlinie (mit zunehmender Windungsöffnung), Underweysung der Messung (Biiiv, oben)

Angesichts der je zwei ersten und letzten Schneckenkonstruktionen des ersten Buchs der Underweysung lassen sich verschiedene Beobachtungen festhalten, welche die jeweilige Gestalt von Text und Bild sowie das Verhältnis von Text, Bild und Zahl kennzeichnen: 1. wechseln die Erläuterungen zwischen Beschreibungsformen (will ich, setz ich, nym ich, reiß ich) und Anweisungsformen (merck eben auff, hab acht, laß); 2. lassen sich – so ähnlich die Schneckenfiguren auf den ersten Blick erscheinen mögen  – sehr unterschiedliche Prinzipien des Text-Bild-Verhältnisses ausmachen; 3. (und damit eng verbunden) eignet den Ziffern und Buchstabenreihen, die Text und Figur beigestellt sind, eine je eigene Operativität. Letztere organisieren einmal die Richtung einer Bewegung (Abb. 1), legen ein anderes Mal die Reihenfolge fest (Abb. 3) oder stiften Vergleichbarkeit zwischen Konstruktionsskizze und fertiger Schnecke (Abb. 4). Ebenso bilden die Figuren einmal Hilfslinien mit ab (Abb. 1), zeigen ein anderes Mal das Werkzeug selbst (Abb. 2), bieten lediglich eine Skala für Abstände (Abb. 3 und 4), verweisen als fertige Schnecke auf den Gebrauch oder als geometrische Anschauungsfigur auf Differenzen in der Konstruktion (Abb. 2). Die ‚Gestalt‘ der Text-Bild-Ziffern-Verbünde ist dabei auf operativer Ebene bestimmt durch die Instrumente, welche die Schneckenlinie jeweils hervorbringen sollen: Zirkel, Zirkel und Richtscheit, Zirkel und Hand. Was eine Figur oder Doppelfigur zeigt, wie Text und Figur aufeinander bezogen werden, ergibt sich aus den Bedingungen der Instrumente: bei der Arbeit mit eingeteiltem Richtscheit müssen Ziffern miteinander in Übereinstimmung gebracht werden (Abb. 2), während der Zirkel die

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Werte selbst speichert und überträgt (Abb. 3). Erst wenn aus dieser Übertragung kaum mehr eine Linienführung abzuleiten ist (Abb. 4), müssen die Buchstaben und Ziffern schließlich auch Konstruktion und Ergebnis ins Verhältnis setzen. Damit jedoch scheint der ‚Stil‘ der Beschreibungen und Anweisungen nicht allein bestimmt durch eine ‚Syntax für die Augen‘, sondern zugleich durch eine ‚Syntax‘ der Hand, ihrer Bewegungen und Werkzeuge. Was und wie Texte erklären, Bilder zeigen und Ziffern zuordnen, verdankt sich – im Rahmen der Schneckenlinien-Konstruktionen – selbst schon Zirkel und Richtscheit.⁵² Es erhält seine Gestalt sowohl von den unterschiedlichen Konstruktionsverfahren wie von den Möglichkeiten, die Text und Bild bieten, nämlich zwei unterschiedliche Momente im Entstehen einer Figur miteinander ebenso zu vergleichen, wie zwei unterschiedlich entstandene Figuren (Abb. 1 und 2). Die zunächst ähnlich wirkenden Bilder von Schneckenlinien und die sequenzierenden, beschreibenden und anweisenden Texte im nüchternen ‚Fachbuchstil‘ erscheinen auf dieser Ebene höchst unterschiedlich – er erscheint als ‚Medienstil‘ nicht nur im Sinne spezifischer Vertextungsformen der Fachprosa, sondern zugleich als Stil der geometrischen Konstruktionsmedien, die dort thematisiert sind – der Gebrauch von Zirkel und Richtscheit, den die Präsentation anleiten soll, schlägt durch auf die Gestalt der Präsentation selbst.

4 Schneckenstile II – Beham Hans Sebald Behams Kunst vnd Lere Buͤchlin ist ein Druckwerk, das die Frage nach dem Stil der ‚Gattung‘ Fachprosa erneut verschiebt. Es wird 1546 in der Frankfurter Offizin Christian Egenolffs gedruckt.⁵³ Verbunden mit einer erneuerten Ausgabe des Rossbüchleins, das 1528 in Nürnberg wegen seiner prekären Materialgrundlage zu einer Auseinandersetzung mit Agnes Dürer und dem Rat der Stadt geführt hatte,⁵⁴ gelangt es bis 1605 zu sechs Wiederauflagen in der Offizin Egenolffs bzw. Egenolffs Erben. 1605 übernimmt es Steinmeyer in Frankfurt fast unverändert in sein Programm. Die sieben Lagen zu je 4 Blättern sind fortlaufend gefüllt, sodass die Ross-

52 Zu Körperlichkeit frühneuzeitlicher Wissensdiskurse siehe Pamela H. Smith: The Body of the Artisan. Art and Experience in the Scientific Revolution, Chicago 2004; dies.: In a Sixteenth-century Goldsmith’s Workshop. In: The Mindful Hand: Inquiry and Invention from the Late Renaissance and Early Industrialisation. Hrsg. von Lissa Roberts/Simon Schaffer/Peter Dear, Amsterdam 2007 (History of Science and Scholarship in the Netherlands 9), S. 20–37. 53 Zitiert wird die Ausgabe von 1552 (VD16 B 1477), ebenfalls Egenolff (http://www.slub-dresden.de/ sammlungen/digitale-sammlungen/werkansicht/cache.off?tx_dlf[id]=10238), hier Ar. 54 Dises buchlein zeyget an vnd lernet ein maß oder proporcion der Ross/ nutzlich iungen gesellen/ malern vnd goltschmidē Sebaldus Beham Pictor noricus faciebat, gedr. bei Friedrich Peypus, Nürnberg 1528. Zum Konflikt mit dem Nürnberger Rat siehe Ilse Hammerschmied: Albrecht Dürers kunsttheoretische Schriften, Frankfurt a. M. 1997, S. 144; Rupprich (Anm. 22), Bd. 2 (1966), S. 57.

Schneckenstile 

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lehre auf Diiv beginnt. Das Buͤchlin präsentiert sich im Inhaltsverzeichnis (Av) als vierteilig: Teil I bietet des Circkels vnd lineals gerechtigkeit/ vbung vn̄ gebrauch; II enthält Menschen angsichter/ nach vorgerissener vierung/ vnd freier handt/ gerecht zumachen; III hat On vnnd ausserhalb der linien/ getter oder vierungen/ mancherley bossen vnd stuck außgescharpffiert fürgerissen; IIII schließt mit Ein maß vnnd gerechte proportion der roß nach allen glidmassen außgetheylt. Im Textverlauf sind die lateinischen Ziffern zwar nicht erneut aufgenommen, doch sind ähnlich lautende Überschriften der Großabschnitte inseriert. Bei Beham trägt sogar jede einzelne Übung eine Überschrift. Der Plan, der im knappen Inhaltsverzeichnis skizziert ist, wird auch umgesetzt: So folgen auf die Vorrede, die das Büchlein den gar einfaltigen Jungen zueignet und betont, dass diese auch on einigen leermeyster auß disem buͤechlin grundtlichen bericht vnd verstandt fassen können (Aiir), die Grundlegungen von Punkt und Linie sowie die Erklärung von Kreis und Quadrat (Aiiv; Aiiir). Es folgt die Konstruktion einiger Polygone (Aiiiv bis Br). Zwei Zirkelübungen (Br bis Biir) beschließen diesen Abschnitt. Die nächsten Blätter (Biiv bis Cr) widmen sich der Frage Wie man̄ gerechte angesichter machē sol/ mit gebrauch der linien vnd vierungen. Der Rest der Lage C bietet etlich auffgerissene ange=sichter/ ausserhalb vnd on für gerissen getter od[er] vierungen/ Deßgleichen andere bossen vnd stellungen nacket vnnd bekleydt/ entworffen/ von freier handt nach rechter Proportion auffgerissen vnd außgescharpffiert/ Angehnden der malerei zur vbung fast dienstlich. Die Blätter Cv, Ciiiv und Ciiiiv sind mit der Signatur Hans Sebald Behams versehen, auf den beiden letztgenannten findet sich zudem die Datierung 1546. Die Lage D beginnt mit dem Bild eines Bauernpaares (mit Krügen und Gans), darauf folgen zwei Querfüllungen mit ‚Maske‘ und Türklopfer. Auf Diiv beginnt das Rossbüchlein, das auf Giir mit End. An.M. D.LII. endet. Schon aufgrund dieser beinahe buchbinderischen Synthese ist für das Buͤchlin auf der Inhaltsebene eine ausgesprochen hybride Faktur zu veranschlagen. Nichtsdestoweniger präsentieren Überschriften und Inhaltsverzeichnis, die ja z.  B. Dürers Underweysung meistenteils fehlen, bei Beham den Aufbau des Buͤchlins deutlich, wenngleich sie ohne die Angabe von Seiten- oder Blattzahlen und ohne die lateinische Zählung kaum den Zugriff organisieren. Aber sie prägen  – gerade im Blick auf die relativ kurzen Erläuterungen  – das Erscheinungsbild des Textes und zeichnen die einzelnen Abschnitte inhaltlich aus. Betrachtet man auch hier das Verhältnis von Bild und Text und fragt, wie für die Underweysung geschehen, auch hier nach der Ziffer als Möglichkeit, dieses Verhältnis zu organisieren, so fällt bereits im Abschnitt zu den geometrischen Grundlegungen auf, wie sehr der Text von selbstreflexiven Bezugnahmen dominiert ist (Aiiv; Aiiir): Der Einführung in Punkt, Linien und Flächen fehlt jeder Verweis auf Euklid, und die gegebenen ‚Erläuterungen‘ gehen fast ganz darin auf, das Verhältnis zwischen Text und Figur zu organisieren, z.  B.: VI. Zum Sechsten die über ort oder ecklini/ ist mit der zifer 6. bezeychnet (Aiiir). Am Umgang mit der Schneckenlinie lässt sich zeigen, dass der didaktische ‚Anspruch‘ des Textes, nach dem sich junge angehende Maler auch ohne Meister aus dem Büch-

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Abb. 5: Schneckenlinie und Kugel, Kunst und Lere Buͤchlin (Bv und Biir)

lein informieren können sollen, nicht nur in der Grundlegung kaum eingeholt wird.⁵⁵ Text und Figur finden sich auf Blatt B (recto und verso), wobei der ‚Text‘ hier lediglich aus einer Überschrift (B unten) besteht, die ankündigt: Von außteylung/vergroͤssung vnd verkleynung des Circkels ein figur. Es folgt ohne weitere Erläuterung eine Figur, die sich auch in der Underweysung (Abb. 3) findet und die gut von dort übernommen worden sein könnte, wäre die Ziffer 36 nicht näher an den äußeren Rand gerückt. Wie unschwer zu erkennen ist, wurde die Figur hier auf dem Kopf stehend eingesetzt. Sie wird also nicht nur nicht erklärt, sondern auch lediglich in ihrem ‚Gesamteindruck‘ abgebildet.⁵⁶ Was dagegen folgt und auch erläutert wird, ist: Ein artige kugel auß dem Circkel=riß zumachen/ des Circkels zuge=wonen/ vnd der Hand frei zuwerden (Bv). Wie bei Dürers Konstruktion der Schneckenlinie mit dem sich zunehmend schließenden Zirkel, die auf Bv über die Figur anzitiert scheint, so wird auch hier zunächst eine Kreislinie in 12. puncten geteilt und entsprechend mit Ziffern bezeichnet. Mit vnuerzuckten Zirkel sollen dann aus jedem der Punkte Kreise gerissen werden, 55 Giesecke (Anm. 8) zitiert die Vorrede Behams gleich an zwei Stellen (S. 526 und S. 648) und beide Male hinsichtlich der Vermittlungsbemühungen des typographischen Mediums, doch ist gerade diese Adressierung m.  E. als eine topische Empfehlung des Buͤchlins aufzufassen, die mehr über seine Strategie der Geltungssicherung als über seine tatsächliche Adressierung aussagt (s.  u.). 56 In späteren Ausgaben, von denen derzeit nur die Ausgabe von Egenolffs Erben (Frankfurt a. M. 1982) und Steinmeyer (Frankfurt a. M. 1605) digitalisiert vorliegen, ist die Figur richtigherum eingesetzt, erläutert wird sie jedoch auch dort nicht.

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die, wo sie sich im Zentrum ‚a‘ kreuzen, einen stern mit zwoͤlff theyln ergeben. Schließlich sollen aus ‚a‘ noch weitere Kreislinien gezogen werden, welche die Schnittpunkte der zwölf zuvor gezogenen Kreise verbinden, sodass sich eine volkomne kugel ergibt. Auf die Tatsache, dass hierzu der Zirkel nun wiederum zu verrücken ist, wird nicht hingewiesen. Die Schneckenlinie scheint in einem Büchlein, das von sich selbst behauptet, in der Rezeption gerade auch ohne Lehrmeister auskommen zu können, und das über den Einsatz von Paratexten den Charakter des Fachbuchs unterstreicht, kaum mehr eine funktionale Dimension zu haben. Vielmehr ist sie zum Ornament reduziert, denn sie steht allein noch als ‚Bild‘ einer in einem aufgeteilten Kreis konstruierten archimedischen Spirale der Stern- und Kugelkonstruktion gegenüber. Sie verweist damit lediglich auf einen bestimmten Wissenszusammenhang, der auch in den Überschriften immer wieder aufgenommen wird, ohne ihn jedoch tatsächlich kommunizieren zu wollen. Sie bildet – so könnte man sagen – ein Stilzitat, das v.  a. als Empfehlung des Büchleins selbst wirksam wird. Behams Buͤchlin empfiehlt sich zwar – wie die Underweysung Dürers, das Geometrie-Buch Wolfgang Schmids⁵⁷ und das Lehrbuch Heinrich Lautensacks⁵⁸ – mit einer entsprechenden Topik als Anfängerbelehrung und grundlegende Zirkel- und Richtscheit-Lehre, zeigt jedoch v.  a. Behams eigenes künstlerisches Können. Dabei ist das, was die ersten eineinhalb Lagen bieten, nur eine sehr schmale Auswahl und erscheint ähnlich zitathaft wie die Einführung der euklidischen Grundfiguren und die der archimedischen Spirale. Eine Konstante jedoch erscheint auffällig: Die Konstruktionen des Sechsecks, Dreiecks, Sieben- und Vierzehnecks operieren alle über ein ähnliches Grundverfahren, in dem sie mit einem durch die unverrückte Zirkelöffnung in sechs Punkte eingeteilten Kreis beginnen und von dort aus weiter verfahren (Aiiiv bis Br). So wird die unverrückte Zirkelöffnung, die ja auch Ausgangspunkt der Stern- und Kugelkonstruktion ist (s.  o. Abb. 5), zur dominierenden Leitfigur in Behams geometrischem Abschnitt. Die nur anzitierte Übung zur Vergrößerung und Verkleinerung des Zirkels steht unausgeführt und unverbunden daneben, wie ja die

57 Das erst buch der Geometria. Ein kurtze vnterweisung / was / vn̄ warauff Geometria gegruͤndet sey / vnd wie man / nach an=weysung der selben / mit dem Circkel vnd Richtscheydt / allerley Lini / Flech / vnd Coͤrper außtheylen / vnd / im fuͤrgegebner proportion / machen soll. Aus bewerten le=ren / gemelter freyen kunst / allen liebhabern der selben / zu einem eingang / vnd allen kuͤnstlichen wercklewten zu sonderm nutz vnd vorteyl zusamen geordnet; Johann Petreius, Nürnberg 1539. Die Schneckenlinien finden sich S. 3 und S. 58–64. 58 Des Circkels vnnd Richtscheyts / auch der Perspe=ctiua / vnd Proportion der Menschen vnd Rosse / kurtze / doch gruͤnd=liche vnderweisung / deß rechten gebrauchs Mit vil schoͤnen Figuren / aller anfahenden Jugent / vnd andern liebhabern dieser Kunst / als Goldschmiden / Malern / Bildhauwern / Steinmetzen / Schrei=nern / [etc.] eigentlich fuͤrgebildet / vormals im Truck nie ge=sehen / sonder jetzunder erstmals von neuwem an tag gegeben / Durch Heinrich Lautensack / Goldschmid vnd Maler zu Franckfurt am Mayn; Georg Rab d. Ä., Sigmund Feyerabend, Heinrich Lautensack, Nürnberg 1564. Die Schneckenlinien finden sich auf Bl. 9 und Bl. 9v.

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stakkatohaft präsentierten euklidischen Figuren kaum alle zur Verwendung kommen. Damit jedoch ist der erste Abschnitt des Buͤchlins durch ein Verfahren dominiert, das in den geometrischen Übungen der Frühen Neuzeit nicht nur als höchst effizientes, sondern als besonders interessantes und elegantes Prinzip galt – nämlich die Arbeit mit unverrückter Zirkelöffnung.⁵⁹ Samuel Y. Edgerton hat bereits 1991 für eine Reihe technischer ‚Fachbücher‘ der italienischen Renaissance die Frage gestellt, ob sie ihrer Erscheinungsform und Funktion nach tatsächlich als belehrende Fachliteratur oder nicht vielmehr als ‚coffee-table books‘ beschrieben werden müssten, deren Gestalt sich nicht mindestens so sehr einer allgemeinen Technikfaszination und dem Bemühen um einen humanistischen Habitus auf Produzenten- wie Rezipientenseite verdankt, wie dem Bestreben, praktische Wissensinhalte zu vermitteln.⁶⁰ Wenn bei Beham Schneckenkonstruktion und euklidische Grundlegung als (unerläutertes) Zitat ‚nur‘ stilistisch an Diskurse handwerklicher Belehrung anschließen, wenn Übungen mehr nach ästhetischen Aspekten ausgewählt werden als nach Maßgabe didaktischer Vermittlungsbemühungen, so impliziert dieser Befund, dass der ‚Stil‘ auch der frühneuzeitlichen deutschen ‚Fachprosa‘ nicht allein mit Blick auf die immer neu postulierte pragmatisch-didaktische Funktion beschrieben werden kann.⁶¹ Vielmehr wäre zu überlegen, ob das ausgestellte Bemühen um die Vermittlung von Wissen nicht auch ein Topos ist, der andere Anliegen kaschieren kann. Gerade für ein Buͤchlin, das ‚elegante‘ Zirkellehren im ‚Stil‘ Dürers mit einem zweiten Lehrteil verbindet, der die maß oder proporcion der Ross nicht nur lehrt, sondern auf wunderbare Weise sukzessive in drei verschiedenen Posen in der Vierung zum Erscheinen kommen lässt und so v.  a. Behams eigene Kunstfertigkeit als ‚Aha‘-Effekt geometrischer Messverfahren inszeniert.

59 Vgl. Martin W. Kutta: Zur Geschichte der Geometrie mit konstanter Zirkelöffnung. In: Nova Acta Leopoldina 71 (1897), S. 69–101. Bereits Moritz Cantor betont, dass die Geometrie mit unverrückter Zirkelöffnung „eine mathematische Lieblingsspielerei italienischer Gelehrter“ bildete. Ders.: Albrecht Dürer als Schriftsteller. In: Neue Heidelberger Jahrbücher 1 (1891), S. 17–33, Zitat S. 22. 60 Samuel y. Edgerton: The Heritage of Giotto’s Geometry. Art and Science on the Eve of the Scientific Revolution, Ithaca, London 1991, bes. Kap. 5: Image and Word in Sixteenth-Century Printed Technical Books, S. 148–192; S. 17: „By the second quarter of the new century [d.  h. 16. Jh., CL], entrepreneur publishers in Germany, Italy, and France were mass-producing what we today would call illustrated coffee-table books on any subject that would sell. Scientific and technological textes […] were among the favorites.“ 61 Vgl. mit Blick auf die Zentralperspektive Edgerton (Anm. 60), S. 6: „In truth, the first Renaissance observers of linear perspective were so astounded that they excitedly proclaimed a ,miracle‘.“

Abkürzungsverzeichnis ABäG AfdA ATB ÄGB

Bibl.d.ges.dt.Nat.-Lit. BMZ DLE DTM DRW DU DVjs DWB

FmSt GAG GRM HZ IASL JEGP KLD LiLi LCI LEXER MF

2 MGG MGH SS MGH SSrG

MLQ MTU

Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur Altdeutsche Textbibliothek Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hrsg. von Karlheinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt/ Burkhart Steinwachs/Friedrich Wolfzettel, Stuttgart, Weimar 2000–2005 Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit Georg Friedrich Benecke/Wilhelm Müller/Friedrich Zarncke: Mittelhochdeutsches Wörterbuch, 3 Bde, Leipzig 1854–1866 Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen Deutsche Texte des Mittelalters Deutsches Rechtswörterbuch Der Deutschunterricht Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde in 32 Teilbde, Leipzig 1854–1961, Quellenverzeichnis 1971. Fotomechanischer Nachdruck der Erstausgabe Leipzig 1985. Frühmittelalterliche Studien Göppinger Arbeiten zur Germanistik Germanisch-romanische Monatsschrift Historische Zeitung Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Journal of English and Germanic Philology Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Carl von Kraus, 2 Bde, Tübingen 1952 und 1958 Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik Lexikon der christlichen Ikonographie. Hrsg. von Engelbert Kirschbaum u.  a., 8 Bde, Rom, Freiburg i. Br. 1968–1976 Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, 3 Bde, Leipzig 1872–1878 Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser/Helmut Tervooren, Bd. 1: Texte, 38., erneut revidierte Aufl. Mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment, Stuttgart 1988 Die Musik in Geschichte und Gegenwart Monumenta Germaniae Historica. Scriptores Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi Modern Language Quarterly Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters

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TRE UTB VL

2

ZfdA ZfdPh

 Abkürzungsverzeichnis

Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen hrsg. von Kurt Gärtner/Klaus Grubmüller/Karl Stackmann, Stuttgart 2006  ff. Oxford German Studies Oxford Medieval Texts Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Patrologia Graeca. Hrsg. von Jaques-Paul Migne, 161 Bde, Paris 1857–1866 Patrologia Latina. Hrsg. von Jaques-Paul Migne, 217 Bde, Paris 1844–1855 Publications of the Modern Language Association of America Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl. Hrsg. von Albert Hauck, 24 Bde, Leipzig 1896–1913 Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. 3 Bde, Berlin, New York 1997–2003 Reclams Universal-Bibliothek Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart Thesaurus proverbiorum medii aevi – Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters, begr. von Samuel Singer. Hrsg. vom Kuratorium Singer der schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, Berlin, New York 1995–2002 Theologische Realenzyklopädie. Hrsg. von Gerhard Krause u.  a., 36 Bde, Berlin 1977–2004 Uni-Taschenbücher Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. 2., völlig neu bearb. Aufl. hrsg. von Kurt Ruh/Burghart Wachinger u.  a., 14 Bde, Berlin, New York 1978–2008 Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur Zeitschrift für deutsche Philologie

Register Abaelard, Petrus 188  f., 208 Adelung, Johann Christoph 25  f., 108  f. Alanus ab Insulis (Alain de Lille) 44–55 Albrecht von Scharfenberg 296–301, 323–340, 355, 362–365, 371 Alcuin of York 254 Ambraser Heldenbuch 427–447, 449–468 Annolied 313 Apuleius von Madauros 294 Aristoteles 19–22, 199, 254 Augustinus, Aurelius 20, 194, 249–251, 258, 310  f., 400  f. Baumgarten, Alexander Gottlieb 25 Beatris von Nazareth 87 Beham, Hans Sebald 489–492, 508–512 Bembo, Pietro 23 Benoît de Sainte-Maure 170–172 Berchorius, Petrus 194, 202 Bernhard von Clairvaux 276–280, 286, 320 Berthold von Regensburg 471–487 Bligger von Steinach 173  f., 181–186, 191–195, 295 Boethius, Anicius Manlius Severinus 164, 247, 252–259 Brentano, Clemens von 287  f., 301 Breri 137  f. Bruno Astensis 193 Capella, Martianus Mineius Felix 247, 254  f., 261 Capellanus, Andreas 358 Chaucer, Geoffrey 382 Chrétien de Troyes, 211, 391–398, 404–407, 410, 435  f., 441  f. Cicero, Marcus Tullius 10  f., 167–170, 184, 199  f. Clanvowe, Sir John 381–383 Dante Alighieri 82, 91, 261 Dares Phrygius 152, 171–173 Dürer, Albrecht 84, 489–512 Ebernand von Erfurt 122 Ebner, Margaretha 286 Egenolff, Christian 508–511 Erlösung 239  f. Euklid 493–497, 509–512

Fleck, Konrad 12, 53–58, 182 Friedrich von Amberg 472  f., 487 Galfred von Vinsauf 7, 22, 32, 162, 167–169 Gerhard von Lüttich 144–146 Giustiniani, Leonardo 383 Goethe, Johann Wolfgang von 24, 28, 31  f., 287  f. Göttweiger Trojanerkrieg 323–338 Gottfried von Straßburg 32, 37, 104, 106  f., 119, 123–128, 134–139, 146, 164, 169  f., 179–223, 227, 237, 251  f., 287–296, 300  f., 419–421, 427  f. Guido von Arezzo 256, 258 Guido de Columnis 144 Hadewijch von Brabant 77–95 Hartmann von Aue 53, 57  f., 105  f., 122  f., 144, 179–181, 184–187, 191–195, 199–202, 211, 295, 404  f., 423  f., 427–447, 449–468 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 28, 100 Heinrich der Teichner 182 Heinrich von dem Türlîn 158, 436, 451–468 Heinrich von Freiberg 125, 169 Heinrich von Meissen, genannt Frauenlob 169, 231–233, 334 Heinrich von Morungen 61–76, 94  f., 99, 109, 112–117 Heinrich von Mügeln 50–52, 58  f., 334 Heinrich von Neustadt 161, 183 Heinrich von Nördlingen 286 Heinrich von Veldeke 58, 129–135, 139, 185  f., 191, 199, 395  f. Herbort von Fritslâr 119, 183, 478 Herrad von Hohenburg 41, 182 Hermann von Sachsenheim 383 Hieronymus Lauretus 193 Hildegard von Bingen 87 Himmlisches Jerusalem 182 Hochzeit 305–321 Hohelied 236  f., 273, 307, 319–321 Homer 36, 171 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 21  f., 42, 48, 319 Hugo von Langenstein 122 Hugo von Monfort 196, 353–388 Hugo von St. Victor 48, 129

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 Register

Isidor von Sevilla 183  f. Jean de Fécamp 285, 484  f. Johannes de Grocheio 251–258 Johannes von Tepl 52  f., 58  f. Kaiserchronik 128  f., 339–352 Konrad, Rolandslied 160  f. Konrad von Fussesbrunnen 122, 246 Konrad von Heimesfurt 122 Konrad von Megenberg 182, 380 Konrad von Stoffeln 125 Konrad von Würzburg, 12, 107, 124–126, 147, 151–175, 191–204, 231, 247–261, 288  f., 296, 299, 339–341, 349, 355, 361, 380  f., 401 Kudrun 182, 325, 446  f. Kürenberger 99, 109–112, 117  f. Lamprecht 129, 151, 182 Lautensack, Heinrich 497, 511 Lohengrin 323–352 Lucidarius 122 Luder von Braunschweig 230, 240, 244–246 Ludwigslied 297 Lutwin 230, 238  f. Mangolt, Bürk 354 Mann, Thomas 287  f. Manteau mautaillié 449–452, 461, 465 ‚Mantel‘ 435–444, 449–468 Marquard von Lindau 479  f. Mascardi, Agostino 23  f. Matthäus von Vendôme 22, 162, 190 Mauritius von Craûn 442–444 Mechthild von Magdeburg 87  f., 263–286 Melker Marienlied 231 Moritz, Karl Philipp 26–28 Nibelungenlied 158, 213, 297, 444

Philipp von Harvengt 307 Philipp von Seitz 230, 236  f. Pico, Giovanfrancesco 23 Platon 43, 47 Propertius, Sextus Aurelius 294 Prosakaiserchronik 342  f., 345–348, 351  f. Quintilianus, Marcus Fabius 20, 184, 199  f., 319, 494 Rhetorica ad Herennium 183 Ried, Hans 427–447, 466–468 Rilke, Rainer Maria 287  f. Rimbaud, Arthur 287  f. Roman d’Énéas 130  f., 395  f. Roth, Philip 36 Rother, Peter 53 Rudolf von Ems 124  f., 147, 151–155, 171  f., 198  f., 296, 324, 341, 343–348 Sächsische Weltchronik 339–352 Saelden Hort 233–235 Schmid, Wolfgang 511 Schreiber, Heinrich 493 Seifrit 146–150 Seuse, Heinrich, 485 Sokrates 164 St. Trudperter Hohelied 273  f., 320 Statius, Publius Papinius 170 Stricker 160–162, 182, 442, 460 Suchenwirt, Peter 359  f., 364, 374–379 Suger von Saint-Denis 100–102 Terenz (Publius Terentius Afer) 39 Theophilus Presbyter 105  f., 133 Theophrast 199 Thomas von Aquin 35, 101–103 Thomas von Britanje (Thomas d’Angleterre)  135–138 Thomasin von Zerklaere 449, 456  f. Tieck, Ludwig 301

Oswald von Wolkenstein 93, 371–373, 380, 383, 388 Otfrid von Weißenburg 104  f., 264  f., 297, 301, 310 Ottokar aus der Gaal 182 Ovid (Publius Ovidius Naso) 170, 294

Ulrich von Etzenbach 146–150 Ulrich von Zatzikhoven 183, 341  f., 440, 449, 451, 464, 466

Pacioli, Luca 493 Passional 230, 240–244 Phaedrus, Gaius Iulius 446

Vadianus, Joachim 22 Väterbuch 230, 240–246 Vasari, Giorgio 24

Register 

Vergil (Publius Vergilius Maro) 42, 48, 95, 170, 395  f. Vita rhythmica 229–238 Vitruv (Marcus Vitruvius Pollio) 493, 497, 502 Vom Rechte 307  f. Walther von der Vogelweide 37, 65  f., 87, 103  f., 107, 119, 123, 182, 227, 232, 291, 364, 427 Wartburgkrieg 123, 325, 330–332, 338, 340 Werner, Johannes 493

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Wernher der Schweizer 228–246 Wigamur 182 Winckelmann, Johann Joachim 28 Wirnt von Grafenberg 174, 323–325, 328, 438, 456, 466 Wolfdietrich 324 Wolfram von Eschenbach 37, 87, 119, 122–125, 138, 144, 147–150, 158–160, 165, 182, 198  f., 296–299, 323–352, 355, 358, 379  f., 384, 391–411, 413–425, 428