Historische Lexikographie zwischen Tradition und Innovation 9783110493924, 9783110491975

For some time, historical lexicography has been suspended between the demands of traditional philology, modern metalexic

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Historische Lexikographie zwischen Tradition und Innovation
 9783110493924, 9783110491975

Table of contents :
Inhalt
Historische Lexikographie zwischen Tradition und Innovation: Eine Einführung
Historische Lexikographie als Grundwissenschaft: Perspektiven
Begegnung der anderen Art. Historische Lexikographie im Arbeitsalltag einer Historikerin des deutschen Sprachraums
Ist die Sprachlexikographie eine Wissenschaft?. Überlegungen aus der Perspektive eines historischen Lexikographen
Historischer Wortschatz: Text- und Autorenwörterbücher
Langue-Philologie – historische Semantik – hermeneutische Linguistik – wie auch immer. Für eine qualitative Diskurslexikographie
Das Digitale Familiennamenwörterbuch Deutschlands. Möglichkeiten und Perspektiven der digitalen Familiennamenlexikographie
Wortfeldüberschneidungen und Wortfeldverschiebungen im Wortfeld „Frau“ und „Mann“
Historische Lexikographie und Fremdwortbildung
Complexiones am augenender. Zum Problem der Lexikographie historischer Wissenschaftssprache unter besonderer Berücksichtigung früher deutscher Fachtexte
Vom Nutzen eines neuen deutschen medizinhistorischen Wörterbuchs
Genauso, nur ganz anders. Vom New English Dictionary zum Oxford English Dictionary Online
Zur Symbiose zwischen „Zettelkasten“ und „Datenbank“ bei der Artikelerstellung im Deutschen Rechtswörterbuch
Zwischen Handschrift und Online-Datenbank. Bemerkungen zur Lexikographie des Mittelhochdeutschen
Historische Lexikographie zwischen Tradition und Zukunft. Überlegungen zur Zukunftssicherung des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs
Fragen des Abbruchs oder der Weiterführung der Tradition des Deutschen Wörterbuchs in der Nachfolge der Brüder Grimm

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Historische Lexikographie zwischen Tradition und Innovation

Studia Linguistica Germanica

Herausgegeben von Christa Dürscheid, Andreas Gardt, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger

Band 129

Historische Lexikographie zwischen Tradition und Innovation Herausgegeben von Anja Lobenstein-Reichmann und Peter O. Müller

ISBN 978-3-11-049197-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-049392-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-049158-6 ISSN 1861-5651 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Anja Lobenstein-Reichmann & Peter O. Müller  Historische Lexikographie zwischen Tradition und Innovation: Eine Einführung | 1 Oskar Reichmann  Historische Lexikographie als Grundwissenschaft: Perspektiven | 13 Francisca Loetz  Begegnung der anderen Art Historische Lexikographie im Arbeitsalltag einer Historikerin des deutschen Sprachraums  | 37 Volker Harm  Ist die Sprachlexikographie eine Wissenschaft? Überlegungen aus der Perspektive eines historischen Lexikographen | 55 Anja Lobenstein-Reichmann  Historischer Wortschatz: Text- und Autorenwörterbücher | 77 Jochen A. Bär  Langue-Philologie – historische Semantik – hermeneutische Linguistik – wie auch immer Für eine qualitative Diskurslexikographie | 101 Rita Heuser & Mirjam Schmuck  Das Digitale Familiennamenwörterbuch Deutschlands Möglichkeiten und Perspektiven der digitalen Familiennamenlexikographie | 131 Rosemarie Lühr  Wortfeldüberschneidungen und Wortfeldverschiebungen im Wortfeld „Frau“ und „Mann“ | 157 Peter O. Müller  Historische Lexikographie und Fremdwortbildung | 187

VI | Inhalt Wolf Peter Klein  Complexiones am augenender Zum Problem der Lexikographie historischer Wissenschaftssprache unter besonderer Berücksichtigung früher deutscher Fachtexte | 213 Jörg Riecke  Vom Nutzen eines neuen deutschen medizinhistorischen Wörterbuchs | 239 Katrin Thier  Genauso, nur ganz anders Vom New English Dictionary zum Oxford English Dictionary Online | 251 Andreas Deutsch  Zur Symbiose zwischen „Zettelkasten“ und „Datenbank“ bei der Artikelerstellung im Deutschen Rechtswörterbuch | 271 Gerhard Diehl & Nils Hansen  Zwischen Handschrift und Online-Datenbank Bemerkungen zur Lexikographie des Mittelhochdeutschen | 287 Henning Wolf  Historische Lexikographie zwischen Tradition und Zukunft Überlegungen zur Zukunftssicherung des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs  | 307 Hartmut Schmidt  Fragen des Abbruchs oder der Weiterführung der Tradition des Deutschen Wörterbuchs in der Nachfolge der Brüder Grimm | 331

Anja Lobenstein-Reichmann & Peter O. Müller

Historische Lexikographie zwischen Tradition und Innovation: Eine Einführung Der Titel des hier vorgelegten Bandes „Historische Lexikographie zwischen Tradition und Innovation“ deutet mit dem Gebrauch der Präposition zwischen die zahlreichen Schwierigkeiten an, mit denen die historische Lexikographie im Spannungsfeld von Tradition und Innovation zu kämpfen hat. So steht sie zwischen mehreren sich immer weiter ausdifferenzierenden Disziplinen, ist je nach Gegenstand einmal in der Sprachwissenschaft, das andere Mal in der Literaturwissenschaft oder der Mediävistik verankert. Man diskutiert sogar, ob sie überhaupt eine Wissenschaft ist oder doch nur eine historische Hilfswissenschaft, gar ein Handwerk (vgl. dazu den Beitrag Harm). Und man wirft ihr vor, zu kostspielig und zu langatmig zu sein, vergleicht sie ironisch mit „Sauriern“ (vgl. Schlaefer 2006: 173), da sie aus einer anderen Zeit stamme sowie unbeweglich und im Aussterben begriffen sei. Aus einer der vornehmsten und traditionsreichsten Tätigkeiten der Germanistik ist eine Disziplin in der Krise geworden, Wolfgang Klein diagnostiziert sogar eine „fundamentale Krise“ (Klein 2015: 288). Diese Einsicht ist freilich nicht neu, sondern den unmittelbar Beteiligten schon seit längerem bewusst (vgl. Müller 2007). So konstatierte schon vor zehn Jahren Michael Schlaefer, damals Arbeitsstellenleiter der Neubearbeitung des Grimm’schen Wörterbuches in Göttingen, eine „Krisensituation“ und nannte neben „Kapazitäts- und Laufzeitproblemen, Konzeptionsbrüchen und Akzeptanzverlusten“ weitere Kritikpunkte, die die methodischen Grundlagen („naiver Sammler-Positivismus“, „vorstrukturalistische Semantik- und Bedeutungskonzepte“) ebenso betreffen wie die Zielsetzungen und die Gestaltung („Unzeitgemäßheit vieler historischer Wörterbücher“; vgl. Schlaefer 2006: 174 f.). Eine Lösung sieht Schlaefer in der Konzentration auf Kleinprojekte, die es eher ermöglichten, „in überschaubarer Zeit Beiträge zur methodischen, wörterbuchtechnischen und konzeptionellen Erneuerung der historischen Lexikographie anzustreben“ (ebd.: 179). Insbesondere die Herausforderungen der digitalen Revolution haben für viele traditionsreiche (nicht nur historische) Wörterbuchunternehmen zur Zerreißprobe, für manches gar zum Abbruch geführt (vgl. dazu den Beitrag Wolf). Doch dies liegt nicht daran, dass sich die Lexikographie grundsätzlich dem digitalen Zeitalter und der modernen Computertechnik verweigert hätte (vgl. Lobenstein-Reichmann 2007b), was gerade auch die Beispiele der großen „jahrhundertealten“ Traditionsunternehmen Deutsches Rechtswörterbuch (vgl. den Beitrag Deutsch) oder Oxford English Dictionary (OED; vgl. den Beitrag Thier)

2 | Anja Lobenstein-Reichmann & Peter O. Müller beweisen. Es kann auch nur bedingt an der prinzipiellen Laufzeit historischer Wörterbuchunternehmen liegen. Denn die Frage nach der Schnelligkeit eines Wörterbuchprojektes ist unabhängig von der Nutzung der neuen Medien. Ein kurzer Blick auf die Entstehungsgeschichten des Mittelhochdeutschen Wörterbuches von Matthias Lexer, aber auch auf das Grammatisch-kritische Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart von Johann Christoph Adelung zeigt, dass das Laufzeitargument relativ ist. Die deutsche Wörterbuchlandschaft ist auch durch mehrere herausragende lexikographische Einzelleistungen geprägt, wobei als Beispiele neben Lexer und Adelung das sechsbändige Schleswig-Holsteinische Wörterbuch von Otto Mensing, das neunbändige Rheinische Wörterbuch (sieben Bände davon allein von Josef Müller verfasst) oder das Schwäbische Wörterbuch von Hermann Fischer genannt werden können, für die Gegenwart auch die Wörterbücher von Jochen Splett (1993; 2009). Erinnert sei schließlich auch an Daniel Sanders, der als Einzelperson in einer Zeit, in der es noch nicht einmal eine Schreibmaschine gab, mehrere heute nicht überholte Wörterbücher vollendet hat. Ein vollständig auf die neuen Medien ausgerichtetes und entsprechend konzipiertes Wörterbuch, oder wie immer man das multimediale Äquivalent nennen mag, gibt es immer noch nicht, obwohl es von den Vertretern einer digitalen Lexikographie seit mindestens zwanzig Jahren angekündigt wird. Wo ist da die versprochene Schnelligkeit? Die Formel von „Schnelligkeit durch neue Medien“ scheint ein wissenschaftspolitisches Programm zu sein, dessen Realisierung zwar wünschenswert ist, aber mit der Realität nicht viel zu tun hat. Was man mit dieser Formel allerdings politisch erreicht hat, ist eine verzerrte Darstellung der Realität der deutschen Lexikographie und ihrer Geschichte. Damit soll nicht bestritten werden, dass es bekanntermaßen Wörterbuchunternehmen gibt, die hundert und mehr Jahre Arbeitszeit in Anspruch genommen haben und dabei personell außerordentlich kostenintensiv sind. Doch bleibt abzuwarten, ob neue Unternehmen bei mindestens gleichem Niveau tatsächlich billiger und schneller sein können. Die konstatierte Krise ist daher auch eine rhetorische Argumentationsfigur. Sie kann jedenfalls nicht grundsätzlich damit begründet werden, dass die historischen Wörterbücher den qualitativen Anforderungen der Moderne nicht standgehalten hätten. Die historische Lexikographie ist, wie viele der hier versammelten Artikel zeigen, konzeptionell wie institutionell durchaus in der Lage, sich von Generation zu Generation innovativ neu zu erfinden und sich damit den Herausforderungen zu stellen, die die jeweilige Gesellschaft ihnen abverlangt. Kathrin Thiers Beitragstitel Genauso, nur ganz anders, der den Weg eines international rezipierten Jahrhundertunternehmens wie des Oxford English Dictionary in die Moderne schildert, könnte auf viele Unternehmen zutreffen. Man kann das Gute und Bewährte der wissenschaftlichen Lexikographie fortsetzen, sich treu bleiben

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und sich dabei dennoch neu erfinden. Moderne historische Lexikographie verteidigt sich als hermeneutische Disziplin mit bedeutungs- und kulturgeschichtlichem Schwerpunkt und zeigt sich dabei nicht nur in neuen digitalen Gewändern, sondern lernt zunehmend auch digital neue Wege zu beschreiten. Doch steht dabei die Erhaltung der Qualität und nicht die Demonstration von Quantität im Vordergrund der Bemühungen. Woran aber misst man die Qualität eines Wörterbuches, vor allem, wenn dieses historisch, und das heißt in erster Linie: kultur- und bedeutungslexikographisch, ausgerichtet ist? Die Antwort ist mit dem konzeptionellen Hinweis bereits gegeben: Sie misst sich an einer semantisch differenzierten Bedeutungserläuterung und am vielfältigen Angebot informativer, die Erläuterung stützender Interpretamente in den weiteren Informationspositionen (vgl. Reichmann 2012). Beides kann nur über hermeneutisches Verstehen durch Menschen, in der Regel durch Philologen und Sprachhistoriker, geleistet werden. Semasiologische Wörterbücher zeichnen sich vor allem durch zwei Qualitätsmerkmale aus: zum einen durch die Semantikkompetenz ihrer Bearbeiter und zum anderen durch deren Textkompetenz (die auf dem Sockel gediegener philologischer Kompetenz beruht). Beide Kompetenzen sind an Einzelpersonen und deren Lese- und Interpretationserfahrung gebunden, damit in ihrem Kern medienunabhängig. Eine neue Generation lexikographischer Unternehmen verfügt nicht mehr über diese Erfahrungen. Vor allem das Qualitätsmerkmal ‚Textkompetenz‘ steht auf dem Spiel, da datenbankorientiertes Arbeiten mit großen Textmassen jeden semantisch wie pragmatisch notwendigen Überblick über das Quellenmaterial, konkreter: über bedeutungskonstitutive Textsorten oder Sinnwelten, über bedeutungsdifferenzierende Einzelargumentationen oder die jeweiligen pragmatischen Werte systematisch verhindern (vgl. zu den Notwendigkeiten dieser Perspektive u. a. die Beiträge von Reichmann und Loetz). Semantikkompetenz ist eng verbunden mit Textkompetenz. Nur wer die bearbeiteten Texte inhaltlich genau kennt, kann den Gebrauch ihrer Wörter resemantisieren. Ein adäquates Resemantisieren ist aber mit einem Massen-Korpus, das – wenn es all das halten soll, was es verspricht – textsortenspezifisch ausgeglichen sein muss, nahezu unmöglich. Besonders diejenigen, die eine pragmatische Gebrauchstheorie vertreten, müssen sich darüber im Klaren sein, dass gerade diese eine maximal erreichbare Text- und Textsortenkompetenz verlangt. Auffällig ist, dass die eigentliche lexikographische Aufgabe, die Erstellung einer den geschichtlichen Gebrauchsskopus lexikalischer Ausdrücke nuanciert spiegelnden Bedeutungserläuterung (einschließlich der dazu nötigen Basiskompetenzen) als Schwierigkeitspotential zwar bewusst ist, die damit verbundene Arbeit allerdings oder vielleicht gerade deswegen vermieden wird (vgl. dazu den Beitrag Wolf). Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) z. B.

4 | Anja Lobenstein-Reichmann & Peter O. Müller basiert immer noch auf den Ergebnissen alter traditioneller Lexikographie (u. a. auf dem Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz und neuerdings auch aus Teilen von Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache). Es hat also vor allem das Medium gewechselt, aber weder die lexikographischen Kernkompetenzen verbessert noch gezeigt, dass es diese in ihrem vollen Ausmaß beherrscht oder gar anwendet (vgl. Lobenstein-Reichmann 2007a: 309). Wo bleibt dabei die Lexikographie? Wie steht es mit der in Verruf geratenen Relevanz historischer Wörterbücher? Warum und wozu brauchen wir in Zukunft noch wissenschaftlich erarbeitete historische Wörterbücher? Um es mit Karl Bühler zu sagen: Der Wortschatz einer Sprache ist ein semantisches Gesamtsystem, das jedem Sprecher zum einen die Darstellungsüblichkeiten und die kognitive Gliederung von natürlicher und sozialer Welt vorgibt, mit dem wir zum anderen kommunikativ wie beziehungssteuernd handeln und mittels dessen wir uns außerdem auch selbst symptomfunktional zu erkennen geben. Damit haben wir den zentralen Gegenstand der einsprachigen Lexikographie dingfest gemacht. Denn genau dieses Abgrenzen, Zu-erklären-Versuchen, dieses Ringen um die Beschreibung von Wörtern, ihrer Inhalte und deren Relationen zueinander, damit auch das Beschreiben historisch und sozial geprägter Welten, des Handelns mit Sprache in ihren Varietäten bzw. auch beim Übersetzen über die Einzelsprachen hinweg ist des Lexikographen tägliches Brot. Lexikographie ist also offensichtlich kein einfaches Handwerk, bei dem vorgegebene Ausdrucksgestalten für sprachlich abgrenzbare Inhaltseinheiten genannt werden, sie ist vielmehr Grundlagenwissenschaft für alle sprachlich verfassten, vermeintlich natürlichen wie gedachten, vermeintlich realen wie fiktionalen, beziehungsexternen wie beziehungsinternen Welten (vgl. den Beitrag Reichmann). Und sie ist dies gleich in einem doppelten Sinn: Es gibt erstens keinen Zugang zur historischen wie gesellschaftlichen Welt außer durch Sprache, damit in erster Linie durch lexikalische Ausdrücke; und es gibt zweitens keinen Zugang zu dieser Welt, außer über je bestimmte Weisen, in der dieser Zugang üblicherweise pro Sprache, Sprachvarietät und Text, damit jeweils sinnhaft vorgeprägt erfolgt. Lexikographie ist dann die Wissenschaft, in der sich eine Sprachgemeinschaft bzw. eine ihrer Gruppierungen darüber vergewissern kann, wie sie ihre Welten zugeschnitten hat und wie sie sich als Ganze und in ihren Untergliederungen in diesem Zuschnitt identifiziert. Sie schafft zudem als angewandte (Sprach- und Kultur-)Wissenschaft den Spagat zwischen Laien und Experten. Wir brauchen also die historische Lexikographie, weil sie die historischen Sprachwelten unserer Gesellschaft erstens aufarbeitet und interpretierend für jeden Sprachteilhaber erschließt, weil sie sie zweitens in ihrer gegenwärtigen bzw. historischen Dimension dokumentiert bzw. archiviert, weil sie

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drittens eine sprachreflexive Komponente hat und somit eine kulturkritische Wissenschaft ist, die in die Gesellschaft hineinwirken kann und auch sollte. Ein Computer, der in der Lage ist, genau dies zu bewerkstelligen, hätte wohl stark menschenähnliche Züge oder wäre eine „eierlegende Wollmilchsau“. Die Legitimationsfrage gerade der historischen Lexikographie stellt sich im Zeitalter der globalen Medienrevolution also noch einmal besonders. Man könnte sogar sagen, dass die Möglichkeiten der neuen Medien daher nicht weniger, sondern mehr Lexikographie erfordern. Wer, wenn nicht Lexikographen, kann die Masse an Sprachdaten bewältigen? Wer, wenn nicht Lexikographen, ist in der Lage, diese Masse sowohl in ihrer Systematizität wie in ihrer gesellschaftlichen Differenziertheit überschaubar zu machen? Wer, wenn nicht Lexikographen, kann die Masse reflexiv-kritisch sichten? Und nicht zuletzt: Wer, wenn nicht der Lexikograph, kommt so nahe an die Semantik historischer Sprecher heran, dass er aus der semantisch- und pragmatisch-kritischen Sichtung heraus zur kulturellen Selbstvergewisserung beitragen könnte? Wenn hier von Wörterbüchern die Rede ist, so sind alle medialen Formen lexikographischer Arbeit gemeint. Die Zeit des Gegeneinanders von traditionellen und modernen Unternehmungen ist eigentlich vorüber. Die alten Zettelkasten-Kanzleien und die modernen elektronischen Lexikographieunternehmen haben sich in der Realität längst annähern müssen. Auf der einen Seite kam es zur Einsicht der „traditionellen“ Printlexikographen, dass die neuen technischen Möglichkeiten, angefangen vom digitalen Korpus über das individuell angepasste Redaktionssystem bis hin zum weltweit möglichen Zugriff für Produktion und Rezeption in vielfacher Weise nützlich sind. Auf der Seite der Computeranhänger folgte nach dem Enthusiasmus der Anfangszeit die Ernüchterung darüber, dass Datensammlungen noch lange kein Wörterbuch ausmachen und dass auch der Computer ihnen die hermeneutische Arbeit, das heißt z. B. das Sichten, Reflektieren, Interpretieren, Abwägen, nicht abnehmen wird. Die Illusion vom schnellen, sich selbst generierenden Superwörterbuch ist einem neuen Realismus gewichen. Und gerade dieser Realismus lässt nicht nur wieder Raum für lexikographische Problem- und Qualitätsdiskussionen, sondern macht es auch wieder möglich, gemeinsam ein neues lexikographisches Selbstbewusstsein zu entwickeln. Schließlich ist das historische Wörterbuch ein Ort des kollektiven Gedächtnisses und des kollektiven Erinnerns; es gehört zu den wichtigsten Konstituenten sowie Speichermedien von Kultur und Geschichte. Wörterbücher bieten als Ort des Gedächtnisses und des Erinnerns Brücken zwischen den Zeitenwelten. Sie stellen Momentaufnahmen einer schwindenden Zeit und die Vorwegnahme des Kommenden dar. Damit prägen sie die kollektive Identität einer Sprachgesellschaft ebenso wie z. B. literatur- oder geschichtswissenschaftliche Texte. Wörterbücher haben damit bei entsprechender Anlage

6 | Anja Lobenstein-Reichmann & Peter O. Müller und Rezeption ein erhebliches Gestaltungspotential auch für die jeweils gegenwärtige Kultur einer Gesellschaft. Und: Wörterbücher sind aufgrund der genannten Funktionen und Eigenschaften die geschichtlich notwendige Antwort auf die immer weiter voranschreitende Wissensakkumulation bzw. Informationsüberflutung unserer multimedialen Zeit. Sie bieten im Wirrwarr der sprachlichen Daten Ordnungs- und Erklärungssysteme an, die aus Daten erst kulturell verfügbares Wissen machen. Aufgabe der Lexikographie ist es, das Netz allumfassender, teils bewusster, großenteils unbewusster sprachkulturell geprägter Inhalte in ihren zeitbezogenen und wandelbaren Seinsweisen zu beobachten und bewusst zu machen (vgl. dazu den Beitrag Reichmann). Dabei geht es nicht nur um einzelne ausgewählte Wörter und ihre Bedeutungen, auch nicht um einzelne Wortfelder, deren Beschreibung die Aufgabe semantischer Einzeluntersuchungen ist. In der einsprachigen Lexikographie geht es um den gesamten Wortschatz einer Sprache als semantisches Netz. Es geht um die Inhalte, die mit jedem Wort einer Sprache zu einem Kulturtext verbunden werden und insgesamt so etwas wie eine lexikalisch fassbare Ideologie bzw. ein Ideologiesystem einer Gesellschaft ausmachen. Man könnte lexikographisches Arbeiten daher auch als besonders dichtes Beschreiben von Kultur, verstanden als Text, betrachten (im Sinne von Geertz 1983). Die Lexikographie gewinnt damit die zusätzliche Aufgabe, Kultur und Ideologie zeitübergreifend zu reflektieren und pragmalinguistisch mit ihren Trägergruppen, mit ihren typischen Textsorten und mit ihren sozialen Bedingungen zu korrelieren. Diese Korrelation ist wiederum die Voraussetzung für ihre sprach- und gesellschaftskritische Handhabung (vgl. dazu die Beiträge Reichmann; Lobenstein-Reichmann; Thier). Historische Lexikographie ist also ein sprachlicher Gestaltungsprozess, in dem Gedächtnis sowohl archiviert und stabilisiert, semantisiert, pragmatisiert, resemantisiert, hermeneutisch umsemantisiert oder gar neu entworfen wird, in dem man Gedächtnis zeitübergreifend identifiziert und sich seiner vergewissert, in dem man es aber auch hinterfragen und kritisieren kann. Der Versuch liegt nahe, eine gedächtnisbezogene Typologie der Wörterbuchlandschaft zu entwickeln, bei der auf der einen Seite die Autorenlexikographie als Zugangsversuch zu einem individuellen Gedächtnis (vgl. den Beitrag Lobenstein-Reichmann) und auf der anderen die Langue-Lexikographie als Zugangsversuch zu einem Kollektivgedächtnis stehen müsste. Im historischen Wörterbuch interpretieren wir geschichtliche Inhaltssysteme, konstituieren damit interpretierte Tradition und stellen sie für die Zukunft zur Verfügung. Historische Wörterbücher sind aber nicht nur das kollektive Gedächtnis und damit Wissen einer Gesellschaft,

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weil sie das kollektive Sprachwissen speichern und spiegeln, sondern weil sie in ihrer auswählenden und normierenden Funktion dafür verantwortlich sind, was als Wissen eines Kollektivs gilt. Man kann ihren Anteil an der Weltbildkonstitution einer Gesellschaft nicht hoch genug einschätzen, vor allem wenn man bedenkt, dass sie schon in Schulen und Universitäten als letzte Instanzen der Richtigkeit institutionalisiert werden. (Lobenstein-Reichmann 2007a: 293 f.)

Moderne Gesellschaften kommen der damit verbundenen reflexiven Verantwortung am besten nach, indem sie sich sowie den nachfolgenden Generationen bewusst machen und bewusst halten, dass gegenwartssprachlicher Wortschatz immer Resultat der Art und Weise ist, wie frühere Sprecher auf Realität Bezug genommen haben. Dies wiederum kann nur durch wissenschaftlich reflektierende Lexikographen geschehen, die sich und ihr Tun reflexiv zu begleiten und zu hinterfragen wissen. Ob sie dies online oder gedruckt tun, ist dabei zweitrangig. Das Fazit lautet also: Wir brauchen historische Wörterbücher, die ausgehend von neueren Handlungs- und Kulturtheorien das Ergebnis strukturellen Ordnens, verbissenen Interpretierens, selbstreflexiver kritischer Sichtung des durchaus digital vorauszusetzenden Textkorpus für Zwecke der Traditionssicherung und -fortführung in teilweise neu zu konzipierenden Artikeltypen zusammenhängend erkennen lassen, Werke, die kollektives Erinnern möglich machen und uns dabei gleichzeitig als semantische, pragmatische und ideologiekritische Navigationstools durch das Dickicht der historischen wie der modernen Sprachwelten führen. Dazu sind wissenschaftliche Lexikographen gefordert, die sich der Schwere der Aufgaben bewusst sind.

Der vorliegende Band Der vorliegende Band ist den Anliegen verpflichtet, die im Vorangehenden behandelt wurden. Die einzelnen Beiträge erweisen zudem in aller Performativität, dass die wissenschaftliche Lexikographie alles andere als tot ist. Dies kann man schon an der Liste der Beiträger sehen, die für die Vielfalt lexikographischer Projekte stehen, z. B. für das Deutsche Wörterbuch (Harm), das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch (Reichmann; Lobenstein-Reichmann; Wolf), das Mittelhochdeutsche Wörterbuch (Diehl & Hansen), das Oxford English Dictionary (Thier), das Deutsche Rechtswörterbuch (Deutsch), die Deutsche Wortfeldetymologie in europäischem Kontext (Lühr), das Digitale Familiennamenwörterbuch (Heuser & Schmuck). In den Beiträgen wird außerdem auf Werke verwiesen, denen aus unterschiedlichen Gründen keine eigene Darstellung gewidmet werden konnte. Erwähnt seien das Deutsche Fremdwörterbuch, das Althochdeutsche Wörterbuch, das Goethe-Wörter-

8 | Anja Lobenstein-Reichmann & Peter O. Müller buch, das Bayerisch-Österreichische Wörterbuch und nicht zuletzt das Schweizerische Idiotikon. Lebendig und innovativ sind auch die vorgetragenen programmatischen sowie konzeptionellen Anforderungen an die gegenwärtige wie die zukünftige Lexikographie. So werden immer wieder lexikographische Lücken diagnostiziert und zeitentsprechende Konzeptionen neuer wissenschaftlicher Wörterbücher gefordert, wie dies z. B. Anja Lobenstein-Reichmann für Autorenund Textwörterbücher, Peter O. Müller für den Bereich der Fremdwortbildung, Wolf Peter Klein für ein Wörterbuch der historischen Wissenschaftssprache sowie Jörg Riecke für ein medizinhistorisches Wörterbuch tun. Tatsächlich werden auch heute noch lexikographische Langfristvorhaben begonnen, so das Digitale Familiennamenwörterbuch Deutschlands, das von Heuser & Schmuck vorgestellt wird, oder Jochen Bärs Zentralbegriffe der klassisch-romantischen „Kunstperiode“ (1760–1840). Wörterbuch zur Literatur- und Kunstreflexion der Goethezeit. Länger etablierte Werke wie das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch werden institutionell verankert. Dieses Unternehmen, das seit Jahren – im Wesentlichen auf privatwissenschaftlicher Basis – kontinuierlich vorangeschritten ist, hat seit Januar 2013 an der Akademie zu Göttingen ein institutionelles Zuhause gefunden und ist nun auch dabei, sich vom Printmedium zum Online-Wörterbuch zu wandeln (vgl. den Beitrag Wolf). Ein Focus der Beiträge liegt daher auch auf der Frage, auf welche Weise Traditionsunternehmen wie das Oxford English Dictionary (vgl. den Beitrag Thier), das Deutsche Rechtswörterbuch (vgl. den Beitrag Deutsch) oder Projekte mit großer lexikographischer Vorgänger-Tradition (das Mittelhochdeutsche Wörterbuch; vgl. den Beitrag Diehl & Hansen) ihren Weg zwischen Tradition und Innovation ins digitale Zeitalter gemeistert haben. Wie sehr die historische Lexikographie zwischen Tradition und Innovation tatsächlich in Legitimationsnöte geraten ist, welchen Charakter und welche Konsequenzen die daraus entstandenen Diskussionen besonders für das Deutsche Wörterbuch hatten, zeigt schließlich der Aufsatz von Hartmut Schmidt. Am Ende einer langen Vorbereitungszeit bleibt den Herausgebern nur noch, allen, die am Gelingen dieses Bandes mitgewirkt haben, von Herzen zu danken. Gemeint sind die mitwirkenden Autorinnen und Autoren, der Verlag de Gruyter für die Aufnahme in die Reihe Studia Linguistica Germanica, außerdem Angelika Haller-Wolf für das kompetente Korrekturlesen und Stefanie Krinninger für das mühselige Herstellen der Satzvorlage.

Göttingen und Erlangen, im Juni 2016 Anja Lobenstein-Reichmann

Peter O. Müller

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Literatur Adelung, Johann Christoph (1793–1801): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders der Oberdeutschen. 4 Theile. 2., verm. und verb. Aufl. Leipzig: Breitkopf. Althochdeutsches Wörterbuch. Auf Grund der von Elias Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig bearb. und hrsg. v. Elisabeth Karg-Gasterstädt. Berlin: Akademie-Verlag 1952 ff. Bayerisch-Österreichisches Wörterbuch. I. Österreich: Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich. Hrsg. im Auftrag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften von der Kommission zur Schaffung des Österreichisch-Bayerischen Wörterbuches und zur Erforschung unserer Mundarten, bearb. v. Viktor Dollmayr, Eberhard Kranzmayer unter Mitwirkung v. Franz Roitinger, Maria Hornung & Alois Pischinger. Wien: Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften 1963 ff. II. Bayern: Bayerisches Wörterbuch. Hrsg. von der Kommission für Mundartforschung, Bayerische Akademie der Wissenschaften. Bearb. v. Josef Denz u. a. München: Oldenbourg 2002 ff. Deutsches Fremdwörterbuch. Von Hans Schulz & Otto Basler; weitergeführt am Institut für deutsche Sprache. 7 Bde. Straßburg [bzw.] Berlin, New York 1913–1983. [Photomechanischer Nachdruck Berlin, New York 1974]. 2. Aufl., völlig neubearb. am Institut für deutsche Sprache. Berlin, New York: de Gruyter 1995 ff. Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. Hrsg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften [Bd. 1–3]/Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin [Bd. 4; teilweise in Verbindung mit der Akademie der Wissenschaften der DDR]/Heidelberger Akademie der Wissenschaften [ab Bd. 5]. Bearb. v. Richard Schröder u. a. Weimar: Böhlau 1914 ff. Online: www.deutsches-rechtswoerterbuch.de (28.04.2016). Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 16 Bde. [in 32]; Quellenverzeichnis. Leipzig: Hirzel 1874–1971. Online: dwb.uni-trier.de. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin in Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Leipzig: Hirzel 1965 ff. Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. 4. Aufl. 10 Bde. auf CD-ROM. Mannheim: Bibliographisches Institut 2011. DWDS = Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. Online: www.dwds.de (28.04.2016). Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Hrsg. v. Robert R. Anderson [für Band 1], Ulrich Goebel, Anja Lobenstein-Reichmann [Einzelbände] & Oskar Reichmann [Bände 3 und 7 in Verbindung mit dem Institut für deutsche Sprache; ab Bd. 9, Lieferung 5 im Auftrag der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen]. Berlin, New York: de Gruyter 1989 ff. Geertz, Clifford (1983): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Goethe-Wörterbuch. Hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften [bis Bd. 1, 6. Lfg.: Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin; bis Bd. 3, 4. Lfg.: Akademie der Wissenschaften der DDR], der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Stuttgart: Kohlhammer 1978 ff. Online: gwb.uni-trier.de.

10 | Anja Lobenstein-Reichmann & Peter O. Müller Klein, Wolfgang (2015): Das Wörterbuch der Zukunft ist kein Wörterbuch. In: Ludwig M. Eichinger (Hrsg.): Sprachwissenschaft im Fokus. Positionsbestimmungen und Perspektiven. Berlin, Boston: de Gruyter, 277–295. Lexer, Matthias (1872–1878): Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Benecke-MüllerZarncke. 3 Bde. Leipzig: Hirzel. Reprografischer Nachdruck Stuttgart: Hirzel 1979. Lobenstein-Reichmann, Anja (2007a): Medium Wörterbuch. In: Friedrich Müller (Hrsg.): Politik, [Neue] Medien und die Sprache des Rechts. Berlin: Duncker & Humblot, 279–313. Lobenstein-Reichmann, Anja (2007b): Allgemeine Überlegungen zur Retrodigitalisierung historischer Wörterbücher des Deutschen. In: Peter O. Müller (Hrsg.): Neuere Entwicklungen in der historischen Lexikographie des Deutschen. [= Thematic Part in:] Lexicographica 23, 173–198. Mensing, Otto (1985 [1925–1935]): Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch. 5 Bde. Reprint der Ausgabe 1925–1935. Kiel, Hamburg: Wachholtz. Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen hrsg. v. Kurt Gärtner, Klaus Grubmüller & Karl Stackmann. Band 1. a – êvrouwe. Stuttgart: Hirzel 2013. Müller, Peter O. (Hrsg.) (2007): Neuere Entwicklungen in der historischen Lexikographie des Deutschen. [= Thematic Part in:] Lexicographica 23, 1–230. OED = James Murray et al. (eds.) (1933): The Oxford English Dictionary. 12 Vol. Oxford: Oxford University Press. –– John Simpson & Edmund Weiner (eds.) (1989): The Oxford English Dictionary, Second Edition. 20 Vol. Oxford: Oxford University Press. –– John Simpson & Michael Proffitt (eds.) (2001 ff.): The Oxford English Dictionary Online. Oxford: Oxford University Press. Online: www.oed.com (28.04.2016). Reichmann, Oskar (2012): Historische Lexikographie. Ideen, Verwirklichungen, Reflexionen an Beispielen des Deutschen, Niederländischen und Englischen. Berlin, Boston: de Gruyter. Rheinisches Wörterbuch. Im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften, der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde und des Provinzialverbandes der Rheinprovinz auf Grund der von J. Franck begonnenen, von allen Kreisen des rheinischen Volkes unterstützten Sammlung bearb. und hrsg. v. Josef Müller. 9 Bde. Bonn: Klopp 1982–1971. Online: woerterbuchnetz.de/RhWB/. Sanders, Daniel (1969 [1876]): Wörterbuch der deutschen Sprache. Mit einer Einführung und Bibliographie v. Werner Betz. 2 Bde. Hildesheim: Olms. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe 1876. Sanders, Daniel (1985 [1873–1877]): Deutscher Sprachschatz geordnet nach Begriffen zur leichten Auffindung und Auswahl des passenden Ausdrucks. [...]. Nachdruck der Ausgabe 1873–1877. Mit einer ausführlichen Einleitung und Bibliographie v. Peter Kühn. Tübingen: Niemeyer. Schlaefer, Michael (2006): Neue Perspektiven in der historischen Lexikographie? In: Ursula Götz & Stefanie Stricker (Hrsg.): Neue Perspektiven der Sprachgeschichte. Internationales Kolloquium des Zentrums für Mittelalterstudien der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, 11. und 12. Februar 2005. Heidelberg: Winter, 173–179. Schwäbisches Wörterbuch. Auf Grund der von Adelbert v. Keller begonnenen Sammlungen und mit Unterstützung des württembergischen Staates bearb. v. Hermann Fischer, zu Ende geführt v. Wilhelm Pfleiderer. 6 Bde. Tübingen: Laupp 1904–1936. Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache. Gesammelt auf Veranstaltung der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich unter Beihülfe aus allen Kreisen des

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Schweizervolkes. Hrsg. mit Unterstützung des Bundes und der Kantone. Begonnen v. Friedrich Staub & Ludwig Tobler, fortgesetzt unter der Leitung v. Albert Bachmann et al. Frauenfeld: Huber 1881 ff. Online: www.idiotikon.ch/online-woerterbuch (28.04.2016). Splett, Jochen (1993): Althochdeutsches Wörterbuch. Analyse der Wortfamilienstrukturen des Althochdeutschen, zugleich Grundlegung einer zukünftigen Strukturgeschichte des deutschen Wortschatzes. 2 Bde. [in 3]. Berlin, New York: de Gruyter. Splett, Jochen (2009): Deutsches Wortfamilienwörterbuch. Analyse der Wortfamilienstrukturen der deutschen Gegenwartssprache, zugleich Grundlegung einer zukünftigen Strukturgeschichte des deutschen Wortschatzes. 18 Bde. Berlin, New York: de Gruyter. Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Hrsg. v. Ruth Klappenbach & Wolfgang Steinitz. 6 Bde. Berlin: Akademie-Verlag 1964–1977.

Oskar Reichmann

Historische Lexikographie als Grundwissenschaft: Perspektiven Abstract: Die historische Lexikographie hat ihre alte Aufgabe erfüllt, den Wortschatz des Deutschen von seinen Anfängen bis hin zur Gegenwart möglichst lückenlos zu verzeichnen. Dies erfolgte ideologisch unter stark nationalpädagogischer und -literarischer Motivation und lexiktheoretisch mit dem Gewicht auf der Dokumentation vorwiegend des Ausdrucksinventars als einer Menge im Kern isoliert gesehener Einheiten mit Darstellungsfunktion. Nach der Implosion des nationalliterarischen Gedankens und dem Aufkommen eines soziopragmatischen Struktur- und Handlungsgedankens droht die herkömmliche Ausrichtung der Lexikographie obsolet zu werden. Der hier vorgelegte Artikel versucht eine Neubegründung auf der Basis sprachstrukturorientierter, soziokognitiver und handlungssemantischer Überlegungen. Das führt zu einer Verlagerung des Interesses von ausdrucksseitig darstellungsfunktionalen Inventarvorstellungen zu größerer Textnähe, zur Betonung fluktuierender sinnweltlicher semantischer Netzwerke, zu damit verbundenen beschreibungssprachlichen Aufgaben. Der Verfasser sieht nur in Veränderungen dieser Art die Möglichkeit, die Lexikographie als Grundwissenschaft für alle historischen Disziplinen mit sprachlich verfasstem Gegenstand neu zu etablieren. Er führt seine Konzeption an zwei Beispielen vor. Keywords: Historische Lexikographie, Lexikographie als Grundwissenschaft, Theorie und Praxis der Lexikographie

|| Prof. Dr. Oskar Reichmann: Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Geiststraße 10, 37073 Göttingen.

1 Allgemeine Kennzeichnungen zur Ausgangslage 1.1 Ein Beitrag, der ‚Perspektiven‘ zum Gegenstand hat, verlangt zu Beginn einige zusammenfassende, in Teilen sicher ungerechte bis gewaltsame Aussagen über die übliche Ausrichtung der historischen Lexikographie. Diese Lexikographie müsste – wenn sie denn Impulse braucht – als zum Beispiel offensicht-

14 | Oskar Reichmann lich ideologisch überholt oder als sprachtheoretisch einseitig oder beschreibungspraktisch ungeschickt beurteilt werden; oder man müsste ihr zugestehen, dass sie ältere Aufgaben im Kern erledigt hat und tatsächlich neue braucht. Wie man im Einzelnen auch argumentieren mag: Perspektiven setzen – nach rückwärts gewandt – ein Unbehagen am Vorhandenen und – nach vorwärts gerichtet – zumindest neue Gewichtungen, wenn nicht gar neue Ideen voraus. Beides ist damit dingfest zu machen. 1.2 Hinsichtlich des Unbehagens am Vergangenen stelle ich fest bzw. diagnostiziere ich (in Stichworten; und zwar in der Regel ebenso für das Niederländische und Englische wie für das Deutsche): – eine gewisse Etymologielastigkeit seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, – damit eine Fixierung auf die Verlängerung des heutigen Deutschen nach rückwärts: je älter die Sprachstufe, desto umfänglicher die Wörterbücher. Erinnert sei zum Beispiel an das Leipziger Althochdeutsche Wörterbuch (Ahd. Wb.) oder den Glossenwortschatz R. Schützeichels.1 Umgekehrt gilt: Je jünger die Sprachstufe, desto spartanischer die Wörterbücher bzw. desto größer die Lücken im Beschreibungsprogramm, – wiederum damit eine besondere Eignung für bildungsideologische, nationalpatriotische bis nationale, auch subnationale Instrumentalisierungen, eine dem entsprechende Priorisierung literarischer Texte bei der Korpusbildung, der Makrostruktur und innerhalb der einzelnen Artikel, darunter in den Belegen,2 sowie eine entsprechende Adressierung an Rezipientengruppen, – eine Höhergewichtung der Ausdrucksseite als der Inhaltsseite des Wortschatzes, – bezüglich der Inhaltsseite eine starke Fokussierung des Interesses auf die Darstellungs- statt z. B. auf die Kognitions- und Handlungsfunktion, – eine oft schmale Basisstruktur aus Lemma, Bedeutungsangabe und Belegdokumentation, – eine isolationistische, vorstrukturalistische und vorhandlungstheoretische, oft statisch orientierte Bedeutungskonzeption und -beschreibung. 1.3 In der Folge dieser theoretischen bis ideologischen Ausrichtungen entstanden priorisierte Wörterbuchtypen. Dazu zähle ich einmal die großen gesamtsprachlichen Nationalwörterbücher des Deutschen, Niederländischen und Engli-

|| 1 Bibliographische Angaben dazu und zu den im Folgenden genannten Wörterbüchern im Verzeichnis der Literatur. 2 Hierzu ausführlich Reichmann (2012: 72–91).

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schen, also das Deutsche Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, das Woordenboek der Nederlandsche Taal und das Oxford English Dictionary. Gemeint sind ferner immer wieder neue, auf die Zeichengestalt orientierte etymologische Wörterbücher (besonders zum Niederländischen), teils als Ableger der genannten Nationalunternehmen. Als dritter Wörterbuchtyp wäre das Sprachstadienwörterbuch zu nennen, vorwiegend und bezeichnenderweise zu denjenigen Sprachstufen, die das Alter der späteren Einzelsprache (gerne über ihre belegten Altstufen hinaus) voraussetzen und genau diejenigen Phasen ihrer Geschichte zum Gegenstand haben, die sich für die bereits erwähnten literarisch-bildungsbürgerlichen Hochwertungen der eigenen Kulturgeschichte in besonderer Weise eignen (so etwa das Mittelhochdeutsche, das Mittelniederländische, das Mittelenglische und mit einigen Besonderheiten auch das Mittelniederdeutsche sowie das ältere Schottische). Einen vierten Gegenstandstyp bilden die großen Mundartwörterbücher, die auf den ersten Blick zwar nicht in die Reihe der bisher genannten Priorisierungen passen, dennoch aber in deren Linie gesehen werden können, jedenfalls dann, wenn man Mundarten als subnationale Größen hohen Alters sowie bedeutender Textgeschichte sieht und ihr volkskundliches Identifizierungspotential anzuerkennen bereit ist. Als Beispiele seien alle Mundartwörterbücher genannt, die – nunmehr bezogen auf das Deutsche – im Rahmen des Wörterbuchkartells von 1913 entstanden bzw. nicht entstanden oder die eine je andere, aber in den hier behaupteten Rahmen passende Begründung hatten. Ich denke an das Rheinische Wörterbuch, das Schwäbische Wörterbuch, das Elsässische Wörterbuch, das Schweizerische Idiotikon und das Bayerisch-Österreichische Wörterbuch mit seinen beiden Abkömmlingen Bayerisches Wörterbuch und Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich. Im Übrigen bin ich mir bewusst, dass der eingangs dieses Beitrags angebrachte Hinweis auf eine gewisse Gewaltsamkeit meiner Skizze für das gerade Gesagte in besonderer Weise gilt. Vielleicht sollte ich noch anfügen, dass ein fünfter Wörterbuchtyp, der im deutschen Sprachraum (diesmal im Unterschied zum Niederländischen und Englischen) immer ein hohes Interesse gefunden hat (aber kaum realisiert wurde), nämlich das Wörterbuch zu nationalgeschichtlich relevanten Autorwerken (z. B. zu M. Luther, J. W. von Goethe), hier hätte genannt werden können. 1.4 Meine Schlussfolgerung zum bisher Gesagten lautet nun: Die Etymologie des Deutschen, Niederländischen und Englischen ist ausdrucksseitig im We-

16 | Oskar Reichmann sentlichen geklärt.3 Selbst wenn es viele Ausdrücke gibt, deren Herkunft und Wurzelbedeutung unbekannt oder zweifelhaft ist, weiß man doch, dass kaum noch Möglichkeiten systematischer Erkenntnisfortschritte bestehen, und kann die Frage insofern ad acta legen. Auch die Geschichte der einzelnen Einheiten ist seit ahd. Zeit bis zur Gegenwart mehr oder weniger dicht belegt, die Basissemantik im motivationsgeschichtlichen und darstellungsfunktionalen Sinne grob beschrieben. Ehedem verbissen verfolgte ideologische Interessen haben sich verflüchtigt: Man sucht nicht mehr die Rückführung eines Ausdrucks auf eine als Indogermanisch/Indoeuropäisch bezeichnete Ursprache;4 man sucht nicht mehr nach einer ‚nationalen‘ Semantik im Sinne von Jacob Grimms ‚Urbegriff‘5; man sucht auch nicht mehr die Gültigkeit eines Wortes in einem der Einzelsprache zukommenden, tendenziell geschichtskonstanten großen Raumblock oder in einem archaischen Winkel dieses Großraums; man ist milder gegen das exogene Wortgut geworden; der Nachweis einer Höhenkammgeschichte des bildungssprachlichen Wortschatzes wird nicht einmal mehr von der Literaturwissenschaft erstrebt, die bezeichnenderweise sogar das GoetheWörterbuch (GWb) kaum wahrnimmt. Kurzum: Die alte historische Lexikographie verfolgte Ziele, die den Interessen des 19. Jahrhunderts entsprachen und an heutigen sprach-, literatur- und kulturbezogenen Fragen vorbeigehen. In dieser Feststellung liegt der eigentliche Grund, dass neue gesamtsprachbezogene Nationalwörterbücher, größere Sprachstadienwörterbücher, Mundartwörterbücher alten Stiles, größere Autorenwörterbücher usw. als nicht mehr bzw. kaum noch bezahlbar gelten und sogenannten digitalen lexikalischen Systemen weichen.6 Das hat nichts damit zu tun, dass der Sprache und damit dem Wortschatz heute keine hohe Rolle mehr zugeschrieben würde. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Die Rolle der Sprache wird gerade heute, speziell seit dem sogenannten linguistic turn, innerhalb der Disziplinen mit einem großenteils sprachlich verfassten Gegenstand, also etwa der Theologie, Philosophie, Soziologie, Geschichtswissenschaft, Rechtswissenschaft, Politik, Psychologie, als grundlegend anerkannt (speziell hinsichtlich der Erkenntnisfunktion). Das schließt natürlich nicht aus, dass der ‚linguistic turn‘ meist nicht wirklich begriffen ist, || 3 Diese Aussage wird aus verschiedenen Blickwinkeln, etwa aus der Sicht des Etymologischen Wörterbuchs des Althochdeutschen (EWA) oder aus der Sicht eines onomasiologisch aufgezogenen etymologischen Wörterbuches (Schröpfer 1979) kritisiert werden können. 4 Durkin (1999): Reduziertes Gewicht eines konstruierten ide. Etymons, statt dessen Nennung einzelsprachlich belegter Formen; besondere Gewichtung des Anglonormannischen; zum Zusammenhang s. Reichmann (2012: 206–210). 5 Dazu ausführlicher Reichmann (1991). 6 So jedenfalls Klein (2004).

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in seinen Konsequenzen oft nicht durchschaut und in der Tagespraxis immer wieder vergessen wird. 1.5 Wenn das, was ich bisher gesagt habe, zumindest seiner Tendenz nach akzeptiert werden sollte, dann kann das nur heißen: Eine Fortführung der alten Lexikographie kann es weiterhin nur noch als Pflege hergebrachter Erkenntnisinteressen und ihrer Wissensbestände, sicher auch zur Behebung einiger unterbelichteter Bereiche, z. B. eher der Semantik- als der Ausdrucksgeschichte, geben. Ansonsten muss eine neue Lexikographie her, und zwar eine solche, die sprachtheoretisch zeitentsprechend neu begründet ist. Sie muss überdies so vermittelt werden, dass sie eine soziologisch ähnlich breite Akzeptanz wie die alte national-literarische Lexikographie zu erreichen in der Lage ist. Die Neubegründung würde ich mir noch irgendwie zutrauen, bei der Vermittlungsaufgabe aber komme ich in schwerwiegende Probleme, drohe dem zwîfel als des herzen nâchgebûr zu verfallen.7 Immerhin müsste ja das nach wie vor herrschende, stark statisch konzipierte metaphysisch realistische Weltbild, dessen Einheiten man nur zu bezeichnen braucht (dies vor allem lexikographisch), durch ein fundamental soziokognitivistisches, kommunikationsrelativistisches, soziopragmatisches Bild ersetzt werden. Noch schwieriger dürfte die Frage zu beantworten sein: Wie kann man das alte ideologische, geradezu ubiquitäre Verständnis der Sprache (eben als Bezeichnungsinventar und -system) durch ein neues, vergleichbar ubiquitäres Verständnis ersetzen? Immerhin bildete das alte Verständnis ja die vermeintlich objektive, unbestreitbare, allgemeine Identifizierungsbasis aller Angehörigen eines sich als Einheit definierenden Volkes; es saß gleichsam in Mark und Bein der Sprachangehörigen. Das neue Verständnis dagegen müsste auf Sozialität ausgerichtet werden, und zwar auf eine solche, die statt der gruppen- und schichtenübergreifenden Einheit die innersprachlichen Verschiedenheiten in ihrem prozessualen Status betonen und sogar die Sprachgrenzen antasten würde. Beiläufig sei bemerkt, dass in dem Maße, in dem dies Letztere erfolgen würde, schon der Geldhahn nicht mehr fließen, sondern nur noch tröpfeln und schließlich versiegen würde.

|| 7 Nach Wolfram von Eschenbach: Parzival, Buch 1, 1.

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2 Zur Neubegründung der historischen Lexikographie 2.1 Ich komme damit zur theoretischen Neubegründung der historischen Lexikographie (wohlgemerkt: das ist nicht die Lösung der Vermittlungsfrage). Zur Neubegründung trage ich vier Thesen vor, die ich zusammenfassend als mein lexikographisches Manifest bezeichne. These 1: Es gibt nichts auf der realen Welt und in allen gedachten Welten, seien es Sachgüter, gesellschaftliche Einrichtungen, Erkenntnisse, Ideologien, Handlungen, Sach- und Sozialbeziehungen, auf das man nicht mittels lexikalischer Einheiten Bezug genommen hätte. Das heißt methodisch gesprochen: Der Zugang zu historischen Welten ist über keinen anderen Zeichentyp effektiver möglich als über lexikalische Zeichen, natürlich als Einheiten von Zeichensystemen und als Konstituenten von Texten sowie Texttraditionen. Damit ist in vereinfachter Form die Darstellungsfunktion im Sinne K. Bühlers (Bühler 1934) angesprochen: Lexikalische Ausdrücke bezeichnen ein ‚Etwas‘, welcher Art dies auch immer sein oder gesehen werden mag. These 2: Jeder lexikalische Zugriff auf ein ‚Etwas‘ (wie gesagt: welcher Art auch immer, in der realen oder in einer gedachten Welt) vollzieht sich auf eine je bestimmte und je einmalige Weise. Die Organisation der amorphen Menge möglicher Zugriffe zu handhabbaren Weisen des Zugriffs erfolgt in sogenannten Sinnwelten. Das seien gruppen- und schichtenüblich eingespielte Rede-, Schreib-, Verstehenssemantiken, Gefüge von lexikalisch als Bedeutungssysteme fassbaren Vorverständnissen, Urteilen, Interessen, Einsichten, Stereotypen, also Sinngefüge wie etwa ‚Recht‘, ‚Alltag‘, ‚Religion‘, ‚Wissenschaft‘. Ihre einzelnen Einheiten lauten z. B. nhd. Verstand, Vernunft, Geist, Witz, Intellekt oder Mord, Totschlag, Verbrechen oder frnhd. glaube, gnade, fromkeit, gerechtigkeit, minne. Keine dieser Einheiten „bezeichnet“ in einem darstellungsfunktional strengen Sinne ein zweifelsfrei vorgegebenes ‚Etwas‘, auf das man sich regresstauglich berufen könnte, etwa im Sinne von ‚sachlich richtig/falsch‘ oder von ‚vernünftig/unvernünftig‘ oder mit ähnlichen ontischen bzw. logischen, zusammengefasst: mit onto-logischen Definitheitsvorstellungen. Wenn dennoch ein ‚Etwas‘ angenommen wird, dann hat es einen eigenen Status, nämlich einen Status kommunikationsinterner Konvenienz; es ist sprachgestaltig (linguaemorph), seiner Seinsweise nach ein Rede- und Schreibinhalt, letztlich eine in Einzeltexten liegende und von Rezipienten interpretativ herausgeschälte Fiktion, die durchaus mit der Fiktion literarischer Texte analogisierbar ist. Das ‚Et-

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was‘ hat denn auch keine klaren oder gar deutlichen Grenzen, weder nach innen noch nach außen. Es ist vielmehr bereits einzelzeichenintern als semantische Verdichtung mit offenem Übergang zu anderen solchen Verdichtungen innerhalb eines semasiologischen (also einzelzeicheninternen) Feldes zu verstehen, und es findet sich in partiell ähnlicher Form (also irgendwie synonym) auch innerhalb der Einheiten eines onomasiologischen Feldes. So wie die gemeinte Basiseinheit – sie heißt in der Regel Semem/Einzelbedeutung – als sprachgestaltige soziale Größe aus einzelnen Texten herausgegliedert werden kann, so integriert sie sich mit anderen Sinnwelten – wiederum innerhalb je gegebener gesellschaftlicher Bedingungen – gleichsam horizontal nach rechts und links und vertikal nach oben oder unten zu immer wieder umgeprägten oder gar anderen Einheiten. Im Ergebnis kann einmal die in Unverständlichkeit mündende semantische Amorphie entstehen und zum anderen die gesamtgesellschaftliche Einheitlichkeit als semantischer Friedenszustand ausbrechen. Aber auch dann gibt es keine Ruhe, denn die Sprechenden reden ja unaufhörlich weiter und tun dies sogar mit Sprechern anderer Sprachen, womit das Sprachspiel der Inhaltskonstitution sich in die Kontaktsprachen bzw. in anderssprachige Kontaktsinnwelten hinein fortsetzt, und zwar proportional zur Dichte des Kontaktes. Eine ihrerseits bereits bedeutungssoziologisch mehrfach ausgefranste und nur als solche existente Kompromisseinheit kann dabei übernommen, abgelehnt, modifiziert, erneut verstromlinienformt werden. Mit der gerade vorgetragenen zweiten These meines Manifestes habe ich die sogenannte Erkenntnisfunktion des Wortschatzes charakterisieren wollen. Ich wollte zusammenfassend sagen: Lexikalische Inhalte (= Wortbedeutungen) sind per definitionem im Fluss, sie konstituieren sich gesellschaftlich im Sprechen, Schreiben, Verstehen als sach- und beziehungsrelationale Entitäten, sie sind damit sprachgestaltig und qualitate qua soziomorph (nicht logomorph); sie sind innereinzelgesellschaftlich und einzelgesellschafts- sowie sprachenübergreifend systematisch offen zueinander; es gibt keine metaphysische Messinstanz für ihre ‚Richtigkeit‘, durchaus natürlich eine mehr oder weniger ausgeprägte Systematizität. These 3: Die soeben gekennzeichneten merkwürdigen (absurdlogischen) Einheiten sind dann, wenn man das Sprechen im Gefolge des ‚pragmatic turn‘ als verbalsymbolisches Handeln ansieht, auch die Einheiten, in denen Sprecher einer Sprache oder Sprachvarietät pro Sinnwelt sozial handelnd auf Realität Bezug nehmen und dabei ein Netz handlungsrelevanter sozialer Beziehungen aufbauen. Das heißt im Sinne des hier Vorgetragenen: Bereits konstituierte und akzeptierte sprachlich-textliche Inhalte, in vorliegendem Zusammenhang: Wortbedeutungen, werden in jedem neuen Sprechen, Schreiben und Verstehen

20 | Oskar Reichmann mit genau der Nuance und nicht anders aufgerufen, wie man sie situativ, mit dem Blick auf einen Bezugsgegenstand, auf einen Partner und auf ein gerade verfolgtes Ziel braucht, wie sie deshalb mit Bewertungen und deontisch8 mit Handlungsinstruktionen aufgeladen sind. Gibt es dazu keine vorgefertigten inhaltlichen Zuschnitte, dann schneidert man sich solche zielentsprechend zurecht, und zwar, wenn es eben geht, dadurch, dass man ein vorhandenes Zeichen neu, in veränderter Bedeutung gebraucht, die damit als ‚handlungsgestaltig‘ (pragmamorph) charakterisiert werden könnte. Lexikalische Inhalte stünden dann in der Folge ähnlich oder gleich gerichteter Handlungen; es gäbe sie nicht außerhalb je spezifischer Handlungen. Diese Sätze waren noch auf den einzelnen Sprechakt bezogen. Hebt man ihn ins Soziale, dann sind die unter These 2 geschilderten soziomorphen Vereinheitlichungen, Modifikationen (usw.) ins Spiel zu bringen, nun aber nicht mehr als letztlich doch kognitiv, sondern eben als (soziomorph) ‚sprechhandlungsgestaltig‘ verstandene und deontisch mit einer Handlungsinstruktion verbundene Prozesse, damit als Prozesstypen. Auf der Hierarchieebene der Einzelsprache würde dann ein einzelsprachliches nun nicht Weltbild – ich habe das Wort vorhin unter These 2 bewusst vermieden –, aber doch ein einzelsprachliches Handlungsbild stehen, eine Behauptung, die etwa in der manchmal breiten nationalen Zustimmung zu Kriegen und erst recht zu Siegen ihre prototypische Veranschaulichung finden könnte. – Zur Einordnung des unter These 3 Gesagten ergänze ich noch, dass diese außer auf die Sprachhandlungstheorie auch auf K. Bühlers Signalfunktion hätte bezogen werden können (Bühler 1934). These 4: Jeder sprachlich Darstellende, Erkenntnisbildende und Handelnde gibt sich durch seine Zeichenwahl und durch seine Zeicheninhalte individuell sowie (für das Folgende relevant) sozial als Angehöriger einer sozialen Formation zu erkennen. Ich wäre damit bei der sogenannten Ausdrucksfunktion im Sinne Bühlers (Bühler 1934) bzw. – terminologisch besser – bei der sogenannten Symptomfunktion von P. von Polenz (Polenz 1974). Sie besagt: Man stellt beim Sprechen nicht nur dar, bildet nicht nur irgendwie geartete Erkenntnisse, handelt nicht nur, sondern liefert auch personenbezogene Information. 2.2 Reduziert man die angesprochenen vier Thesen auf ihre zentralen Punkte, dann fällt Folgendes auf:

|| 8 Vgl. hierzu Hermanns (1989; 1995).

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2.2.1 Von der Zeichengestalt (also der Ausdrucksseite des lexikalischen Zeichens) war höchstens am Rande die Rede. Im Mittelpunkt standen vielmehr sprachliche Bezugswelten und per definitionem im Wechsel befindliche Inhalte. 2.2.2 Diese Inhalte erschienen höchstens in These 1, in Wirklichkeit nicht einmal dort, als vortextlicher bzw. vorsprachlicher Natur. In den Thesen 2 und 3 wurden sie wechselnd als semantische, innertextliche bzw. innersprachliche, soziomorphe, linguaemorphe, sprechhandlungsgestaltige, sprachlich verfasste Konstitute, mithin als nur im Sprechen, Schreiben real existent bzw. als in ihren jeweiligen gesellschaftlichen Überbauten virtuell existent vorgestellt. Umgekehrt ausgedrückt: Es gibt keine interessanten Gegenstände, die sich dieser Existenzform entziehen, es sei denn, man huldige einer völlig anderen Sprachauffassung, bei der dann eine universale Logik in alles Soziale hineinschlagen und diese zu Erscheinungsformen des Universalen machen müsste, was auf einer bestimmten Ebene sicher auch so ist. Die hier vertretene und allein thematisierte Konzeption spiegelte sich auch in Ausdrücken wie Sinngefüge, Bezugswelt, Sinnwelt. These 4 betraf eine dem indexikalischen Zeichen inhärente personenbezügliche Information. 2.2.3 Der Wortschatz einer Sinnwelt, einer Sprache oder einer Sprachengruppe wurde demnach verstanden als die Gesamtheit der lexikalischen Mittel, in denen Menschengruppen in je spezifischer Weise auf Wirklichkeit Bezug nehmen, nach der Art dieser Bezugnahme soziomorphe Erkenntnisse bilden, im Sinne dieser Bezugnahmen und der daraus abgeleiteten Erkenntnisse mit ‚Wirklichkeit‘ als einer sozial geprägten Größe umgehen, in diesem Sinne sachbezogen handeln, Beziehungen gestalten, sich symptomfunktonal in ihren sozialen Zugehörigkeiten kennzeichnen. Dies alles geschieht nach dem Gesagten irgendwo in der Mitte zwischen der semantischen und pragmatischen Unikalität jedes einzelnen Wortes oder gar Semems einerseits und den mannigfachen Weisen seines Gebrauchs andererseits, ferner im Spannungsfeld zwischen der je einmaligen Semantik einer isolierten Äußerung einerseits und den semantischen Gemeinsamkeiten sogar einer Gruppe von Sprachen wie den europäischen andererseits. 2.2.4 Es wurde immer vorausgesetzt, dass jedes einzelne lexikalische Zeichen mit jeder seiner Bedeutungen Teil systematischer Zusammenhänge mindestens semasiologischer, onomasiologischer und motivationeller Art ist und seine Semantik immer in Texten und Texttraditionen erfährt. Die lexikographischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, können nur lauten:

22 | Oskar Reichmann 2.2.4.1 Im Zentrum des Wörterbuchartikels sollte nicht mehr die Lautgeschichte stehen, sondern die Semantik als Gesamtkomplex erkenntnis-, handlungs-, beziehungs- und symptomfunktionaler Aspekte, und zwar differenzlexikographisch, das heißt hier: unter besonderer Gewichtung ihrer je geschichtstypischen Züge.9 Es muss möglich sein, das schon immer Dagewesene gestuft reduziert zu behandeln und das geschichtlich synchron und diachron Besondere hervorzuheben und zu amplifizieren. Das setzt einen systematischen Bezug der Informationen jedes Wörterbuchartikels zu einzelnen Texten, Texttraditionen und ihren soziologischen Trägerschaften, ihren Sozialräumen, ihren Sinnwelten usw. voraus. Falls die pro Wörterbuch dafür vorgegebenen Informationspositionen sich hinsichtlich dieser Aufgabe als ungeeignet erweisen, sind neue Informationspositionen einzuführen. 2.2.4.2 Die Betonung des Geschichtstypischen schließt die ‚Abstraktion‘ als in der Lexikographie wie der Metalexikographie sehr generell verfolgtes Gestaltungsprinzip semasiologischer Felder zwar nicht aus, relativiert es aber doch erheblich. Mit ‚Abstraktion‘ ist in aller Regel ja die Weglassungsabstraktion als eine logische Operation gemeint. Diese besagt nichts anderes als: „Man streiche das Spezifische (was es auch immer sein mag) weg und bringe nur das Allgemeine (was dies auch immer ist), das durch dieses Wegstreichen dann unter der Hand gerne mit der Würde des Wesentlichen ausgestattet wird, obwohl es doch nur ein Allgemeines ist.“ Dieses Allgemeine ist nun aber allzu oft das von Lebensinteressen10 Bereinigte, gleichsam das über den Straßen Schwebende11, nach dem niemand fragt. Eine auf Abstraktion ausgerichtete Lexikographie driftet benutzungspragmatisch gesehen also ins Leere. Daraus kann nur folgen: Man ersetze die Abstraktionsideologie durch das Konzept einer auf geschichtsspezifische ‚Semantiktypen‘ gerichtete Erkenntnis; d. h. auf Darstellungs-, Erkenntnis-, Handlungseinheiten, die als textlich konstituierte, erkenntnisbestimmende plus handlungsverpflichtende gesellschaftliche Würfe im oben unter den Punkten 2 und 3 vorgetragenen Sinne aufzufassen sind. Wenn ich es richtig sehe, entsprechen diese Würfe dem Semagramm im Sinne der Diskussi|| 9 Das Adjektiv differenzlexikographisch kann in verschiedener Weise verstanden werden: pro Zeitebene/Zeitraum (z. B. für das Frnhd.) synchron (z. B. auf Varietätendifferenz bezogen), diachron auf eine Zeitlinie bezogen (z. B. Frnhd./Nhd.) oder sprachvergleichend (z. B. Tschechisch/Deutsch). Hier sind die ersten beiden Varianten gemeint. 10 Mit dem Bestimmungswort Leben dieses Kompositums spiele ich auf die Lebensphilosophie als denjenigen Umbruch in der Philosophiegeschichte an, der den Rationalismus und den Positivismus als Bewerber um die philosophische Grundlage der Lexikographie in Frage stellte. 11 Diese Formulierung in Anlehnung an Peirce (Peirce 1958: 112; Pape 2004: 21).

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onen im Instituut voor Nederlandse Lexicologie. Es geht also nicht darum, dass z. B. ‚abenteuer‘ eine logische differentia specifica zum genus proximum nhd. ‚Wagnis‘ oder ‚minne‘ eine logische differentia specifica zu ‚Liebe‘ bildet, sondern darum, wie man ‚abenteuer‘ oder ‚minne‘ in einer historischen Sinnwelt/Texttradition ersemantisiert hat, wie diese Entitäten damit (fast im biblischen Sinne) als Besonderes ‚erkannt‘ sind, wie man die Welt durch die Brille dieses ‚Wurfes‘ sieht und Aussagen über sie macht, und wie man ‚abenteuer‘ oder ‚minne‘ erpragmatisiert hat, das heißt: wer welchen Standes in welcher Sinnwelt in welchen Texten und in welcher Weise wie mit ihnen ‚gehandelt‘ hat. F. Nietzsche entlarvt das hier Kritisierte in seiner Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1870/73: 880 f.) als das Uebersehen des Individuellen und Wirklichen unter der Herrschaft des Begriffes, der Abstraktion, als Fallenlassen individueller Verschiedenheiten, als Weglassen, Verflüchtigen, als Auflösen des Einmaligen, des Bildes, der Anschauung im Schema und in pyramidaler Ordnung. 2.2.4.3 Wenn ich damit das gesellschaftliche ‚Handeln‘ ins Spiel gebracht habe, dann bedeutet das für den Lexikographen natürlich, dass er – in schärfst möglicher Formulierung, die ich später wieder verwässere – den gesamten Sockel herkömmlicher, oft naiv realistisch-darstellungsfunktionaler, hier und da auch wohl mal erkenntnisfunktionaler Motivation und entsprechender fachstilistischer Fassung aus dem Wörterbuch herauszuhebeln hätte; er hätte diesen Sockel dann in eine andere, nämlich pragmatisch-handlungstheoretische Fassung zu transferieren, im Sinne von ‚textsortenintern zu übersetzen, umzusetzen‘. Bei diesem Verständnis von ‚Übersetzen/Umsetzen‘ geht es mir nicht um die Transferierung eines Einzeltextes aus einer Einzelsprache in einen Einzeltext einer anderen Einzelsprache, sondern um die Umschreibung eines Text‚typs‘, hier: des darstellungsfunktional angelegten Wörterbuchartikels, in einen andern, nämlich den handlungsfunktional (analog: den erkenntnisfunktional) begründeten Texttyp. Das Wörterbuch würde von einer Textsorte, die definiert, darstellt, informiert, hierarchisiert, zu einer solchen, die zu vermitteln sucht, wie man in lexikalischen Einheiten gehandelt und Erkenntnisse gebildet hat. Das Ausmaß dieser Aufgabe – es kann hier nur angedeutet sein – wird erst recht deutlich, wenn man bedenkt, was das alles zusätzlich heißen kann. Hingewiesen sei nur darauf, dass zum Beispiel eine systematische Dynamisierung des darstellungsfunktional eher statisch Gedachten zu erfolgen hat. Dies wiederum würde die Hierarchisierung verflachen.

24 | Oskar Reichmann 2.2.4.4 Dabei ist der im Kern aufklärerische Gedanke an rational begründete Erkenntnissicherheit, an Ergebnisse mit Richtigkeitsstatus und angestrebtem Ewigkeitswert zu ersetzen durch einen soziologisch begründeten Relativismus. Das meine ich nicht als Kapitulation vor den Erfordernissen einer außersoziologischen Wissenschaftlichkeit, sondern positiv als Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlicher Erforschung sozialer Gegenstände. Selbstverständlich bedeutet die Relativität des Gegenstandes auch seine Aspektualität, und beides bedeutet – darauf kommt es mir hier in besonderer Weise an – die Anerkennung auch der Relativität und Aspektualität ihrer lexikographischen Behandlung. Das ist nicht als Einschränkung gemeint, sondern als Bekenntnis zur Möglichkeit kultureller Gestaltung, die wahrzunehmen ist: Der Lexikograph beschreibt nicht nur – rückwärts orientiert – archivalisch irgendetwas Vergangenes, sondern ist – damit gegenwartsorientiert – auch Gestalter der kulturellen Wirklichkeit seiner Zeit. In dem Maße, in dem die gerne angestrebte Beschreibung von Bedeutungen als objektivistisch verstandenen Fakten dazu tendiert, die soziound pragmamorphe Existenzweise vieler Gegenstände zu verschleiern und sie als Gegebenheiten übersozialer Art zu etablieren, hebelt sie den Lexikographen aus dem Dienst an der Gesellschaft heraus, es sei denn, dass dieser sich als Nachlassverwalter versteht. 2.2.4.5 Die Konzentration bisheriger historischer Lexikographie auf eine sogenannte ‚Sprache‘ (Einzelsprache) und die damit verbundene Höhergewichtung des endogenen, literarischen und oft archaischen Wortschatzes gegenüber dem sogenannten exogenen, allgemeineren, jüngeren usw. Wortschatz betrifft zwar geistesgeschichtlich verständliche Heraushebungen besonderer, speziell nationalpatriotisch und bildungsschichtig nutzbarer Sprachbestände innerhalb der Gesamtheit der lingualen Verständigungsmittel einer Großgruppe von Menschen, sie führt aber gerade deshalb zu einer erheblich eingeschränkten Wahrnehmung des viel breiteren kommunikativen Spektrums des heutigen Europa. Sie entspricht nicht dessen Faktizität und auch nicht mehr den heute herrschenden sprach- und geschichtstheoretischen Interessen. Wenn diese tatsächlich dadurch bestimmt sein sollten, dass es im Sinne des Theorems/Ideologems vom ‚linguistic turn‘ zentral um sozio- und linguaemorphe sprechhandlungsgestaltige Inhalte geht, dann folgt daraus, dass die Lexikographie vom alten Ross des nationalkulturell Allgemeinverbindlichen, also von der weitgehend als geschichtskonstant verstandenen, in ihrem Kern schon ewig dagewesenen, selbst die babylonische Sprachverwirrung überlebt habenden Ur-, Haupt-, Hel-

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den-, Kultur-, Nationalsprache herunter muss.12 Dann stellt sich natürlich die Frage, wohin sie sich begeben sollte. Die Antwort kann nur lauten: Historische Lexikographie muss sich gleichsam „vor Ort“ der Bildung der Zeicheninhalte begeben, an die Punkte heranzukommen versuchen, an denen die hier dauernd bemühten und teils mit kryptischen Wortbildungen ausgedrückten, eben sprachlichen Inhalte konstituiert werden. Das könnten für die historische Lexikographie vor allem folgende beiden Orte sein: (a) Einmal kämen all diejenigen Orte in Betracht, an denen Sinnwelten (in welchem engen oder weiten Sinne auch immer) aufeinander prallen, etwa diejenige der Religion mit derjenigen der Wissenschaft, oder diejenige einer neuen Konfession mit derjenigen einer älteren, oder diejenige zwischen mittelalterlichem Realismus und Nominalismus. Es ist klar, das hiermit auch das Aufkommen und die Blütezeit von Fach- und Ideologiewortschätzen, von zeittypisch literarischen Fiktionen ins Visier geraten. (b) Zweitens kämen all diejenigen Orte in Betracht, an denen sich aus zwei oder mehreren historischen Einzelsprachen (im Alten Reich etwa einem Dutzend) ein neues, hier mal als europäisch bezeichnetes besonderes Verständigungssystem entwickelte. Ich meine das Faktum, dass das Deutsche wie das Französische, Tschechische oder Ungarische mindestens ein Jahrtausend lang unter lateinischem Einfluss und das Latein seinerseits unter dem Einfluss sogenannter Volkssprachen stand und dass alle Einzelsprachen plus das Lateinische aus dieser Konstellation heraus einmal gewisse grammatische Gemeinsamkeiten entwickelten und sich zum anderen – und das ist mein eigentliches Anliegen – zu einem europäischen Assoziations- und Bildgeflecht, anders ausgedrückt: einem lexikalisch-semantischen Europäisch integrierten.13 Dass wir heute in einer vergleichbaren Situation, wenn auch mit anderen sprachlichen Mitspielern, stehen, dürfte auf der Hand liegen. 2.2.4.6 Man wird sich als Lexikograph, sofern man der hier vertretenen Semantiktheorie beipflichtet, realisieren müssen, dass man die historische Semantik in die Rolle einer Grundlagendisziplin für alle Wissenschaften mit sprachlich verfasstem Gegenstand hineinargumentiert. In der Tat: Wenn man zumindest all || 12 Dieser Satz bezieht sich mit seinen Anspielungen auf die Sprachtheorie der Barockzeit, insbesondere auf J. G. Schottelius: Von der Teutschen HaubtSprache. 13 Ich verweise hier auf eines meiner langjährigen Anliegen. Es besteht darin, die europäischen Einzelsprachen trotz der Verschiedenheiten der Ausdrucksseite als Resultat einer Kontaktgemeinschaft zu betrachten. Deren Kern läge vor allem in der Lexik, aber auch in der Wortbildungsmorphologie; vgl. Reichmann (1993; 2001a; 2001b; 2014).

26 | Oskar Reichmann diejenigen Inhalte, die man nicht unmittelbar aus zweifelsfrei exophorisch zeigbaren Gegenständen oder aus einer übersozialen anthropologischen Logik herleitet, tatsächlich im Sprechen, Schreiben, Verstehen so konstituiert, wie wir in ihnen kommunizieren, denken, handeln, uns selbst kennzeichnen, und wenn wir diese sozial in je anderer Weise konstituierten Gegenstände auch noch in die Wirklichkeit projizieren, dann entpuppen sich die Gegenstände aller Sozialwissenschaften als semantische und mithin kommunikationsinterne Gegenstände, dann werden die gemeinten Disziplinen zu Bindestrichwissenschaften der Linguistik, und dann würden sie ihr zentrales Augenmerk auf die Punkte legen, an denen Geschichte am geschichtlichsten ist, nämlich auf ihren ewigen Status Nascendi, besser gesagt: ihren Status Agendi, wie er in verbalsymbolischem Handeln besteht. Jedenfalls würden sich die eingefahrenen Grenzen zwischen Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft sowie die Grenzen zwischen Sprachwissenschaft und allen Disziplinen mit sprachlich verfasstem Gegenstand erheblich relativieren. Das wird in dieser Form kein Jurist, kein Geschichtswissenschaftler und erst recht kein Theologe, vielleicht aber doch der eine oder andere Philosoph akzeptieren. Dennoch meine ich gerade als Lexikograph betonen zu müssen, dass zum mindesten ein viel größerer Teil unserer Inhalte, als man gemeinhin denkt, sprachkonstituiert ist. 2.2.4.7 Ich gebe historischer Lexikographie nur dann eine Chance als gesellschaftlich getragene und finanzierte Disziplin, wenn man sie als Grundwissenschaft für alle historischen Disziplinen konzipiert und ihren Gegenstand als textlich bzw. sprachlich verfasst begründet. Wörterbücher mit bloßem, punktuellem Nachschlagewert als Textsorte, die zuverlässige Information vermitteln will, werden damit nicht obsolet, sollten sogar ein Verständnis „mit einem Schlage“ im Sinne Jacob Grimms (Grimm 1854) garantieren. Sie müssen sich aber der Frage stellen, ob sie nicht einer ungezügelten Horizontverschmelzung, der Ähnlich- bis Gleichsetzung des systematisch Verschiedenen Vorschub leisten und ob sie nicht gerade mit dem Grad der Zuverlässigkeit das Geschichtstypische aus dem Blick verlieren. 2.2.4.8 Die lexikalische Konstitution von Inhalts- und Handlungseinheiten hat System. Das bedeutet, dass keine lexikalische Einheit isoliert beschrieben werden sollte, so als sei sie alleine auf der Welt. Sie ist vielmehr in intern-linguistisch systematische und in pragmatische Bezüge zu stellen. Damit werden die onomasiologische Vernetzung, die Phrasematik, die Syntagmatik, die Wortbildungsfruchtbarkeit, die priorisierten textlichen Orte eines Lemmazeichens in Sinnwelten und die Symptomwerte zum obligatorischen Gegenstand des Wör-

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terbuches. Ich habe mit dieser Auflistung natürlich das Informationsprogramm des Frühneuhochdeutschen Wörterbuches (FWB) im Visier.

3 Veranschaulichungen 3.1 Mein Beitrag war von einigen mehrfach variierten Gedanken durchzogen. Besonders hoch gewichtet wurde – einmal der Gedanke von der Konstitution lexikalischer Darstellungs-, Erkenntnis-, Handlungs- und Symptomwerteinheiten im Sprechen, Schreiben, Verstehen, – zum andern der Gedanke, dass es dafür bestimmte kommunikative Orte geben könnte, die ich als Sinnwelten bezeichnet habe, – zum dritten das Übersetzungsproblem darstellungsfunktionaler und/oder erkenntnisfunktionaler in handlungsfunktionale lexikographische Fachsprache und entsprechende Artikelformen bzw. auch umgekehrt, – schließlich die These einer einzelsprachenübergreifenden europäischen lexikalischen Semantik. 3.2 Zum Schluss meines Beitrages müsste ich nun für jeden dieser Punkte mindestens je ein Beispiel bringen, um das Gemeinte zu veranschaulichen. Da dies aus Raumgründen nicht breiter realisierbar ist, beschränke ich mich auf das Übersetzungsproblem, genauer gesprochen: auf das Ergebnis einer gedachten Übersetzung eines darstellungsfunktional orientierten Artikels in eine kognitionsfunktional (dazu 3. 3) und in eine handlungsfunktional (dazu 3. 4.) orientierte Fassung. Das Übersetzungsproblem „von der Darstellung in eine kognitionsorientierte Fassung“ wird am Beispiel des Substantivs frnhd. materie, Bedeutungsansatz 1, veranschaulicht; eine handlungstheoretisch orientierte Fassung eines Wörterbuchartikels erläutere ich am Beispiel des Verbs 2meinen, dort Ansatz 7. 3.3 Der Gebrauch des Substantivs materie findet sich im ersten von insgesamt 8 Bedeutungsansätzen wie folgt erläutert (Abb. 1):

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Abb. 1: Das Substantiv materie 1 im FWB (Bd. 9: 1984)

Die Erläuterung beginnt endozentrisch mit einem Kumulus nhd.-beschreibungssprachlicher Ausdrücke, nämlich: >Urstoff, Substrat, SubstanzStoff, Körper, Gegenstand, Materie< (Lexer: 2061). 3.3.2 Eine Erläuterung wie die gerade vorgeführte muss durch die weiteren Informationspositionen sowie durch die Formulierungen der weiteren Bedeutungsansätze (insgesamt sind es neun) abgesichert werden.15 Ich gehe zunächst (in Auswahl) auf die weiteren Informationspositionen zu Bedeutungsansatz 1 ein und skizziere jeweils mein Anliegen: Die Symptomwertangabe Texte der Sinnwelt Religion/Didaxe weist auf den Kommunikationsbereich hin, in dem über ‚materie 1‘ diskutiert wurde. Die Beziehung zwischen der Thematik ‚materie 1‘ und religiösem/didaktischem Interesse an diesem ‚Gegenstand‘ ergibt sich bereits aus Genesis 1. – Als bedeutungsverwandte Ausdrücke (vgl. die Sigle Bdv.)/partielle Synonyme zu materie 1 erscheinen: ding, element, erde, rüstung, sache, substanz, ton, zeug. Auffallend ist der Bezug zum mehrfach gebrauchten erläuterungssprachlichen Morphem /stoff/, semantisch speziell zu Gewordenes, wortbildungsmorphologisch zu Ausgangsstoff für Formgebung. – Die Syntagmen (unter der Sigle Synt.) spiegeln in ihrer Reichhaltigkeit das Spektrum von Aussagen über ‚materie 1‘; in ihrer Unterschiedlichkeit spiegeln die offenen Ränder die Spielräume des Semems. – Dem gleichen Zweck dienen die Belege, gerade auch in ihrer Frequenz. 3.3.3 Die weiteren Bedeutungsansätze werden im Folgenden nur in Auswahl und mit reduzierter Detailliertheit behandelt. – Der zweite Ansatz schließt mit der Formulierung Material, das der Handwerker zur Herstellung seiner Produkte verwendet, ferner mit Baumaterial und mit Baustoff an Ausgangsstoff in Ansatz 1 an. Dies letztere erscheint angesichts Erläuterung 2 dann übrigens als Allge-

|| 15 Die zugehörigen Texte werden hier nicht mehr wiedergegeben. Ich verweise auf FWB 9: 1984–1991.

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meines zu 2, umgekehrt dieses Zweite als Spezialisierung zu 1 in der Nuance ‚Ausgangsstoff‘. Außerdem verleiht die Formulierung 2 der in 1 bemühten naiven Fassung eine gewisse Gewichtung in dem Sinne, dass der Rohstoffgedanke den Vagheitsskopus von 1 einschränkt. Der Hinweis auf M. Luther (in 2) ist nochmals eine Spezialisierung, so dass der gesamte Skopus von ‚Ausgangsstoff‘ (in 1) über ‚Material/Baumaterial‘ und ‚Baustoff für den Menschen‘ (in 2) als dreistufig vorgeführt wird. – Die Angabe von vier Wortbildungen zu materie 2, nämlich von materiegeld, materiemeister, materien (Verb) und materier, verstärkt ebenfalls rückwirkend die Lesungsmöglichkeit auch von materie 1 als einer stofflichen Gegebenheit. – Ansatz 3 bezieht sich auf ‚Arzneimittel als heilende Stoffe‘. Auch hier können die Formulierungen als Spezialisierung im Verhältnis zu 2 gelesen werden; die angegebenen bedeutungsverwandten Ausdrücke belegen dies. – Gleiches gilt für Ansatz 4 (>Körperflüssigkeit< usw.) mit dem Hinweis auf Belegungen in Fachtexten der Medizin und Pharmazie sowie mit entsprechenden Synonymen und Syntagmen. – Auch unter Ansatz 5 taucht wieder der ‚Stoff‘ auf, diesmal im Sinne von ‚Gegenstand, der einem Text als in form gefasstes Dargestelltes […] zugrundeliegt‘. Form greift das gleiche Wort in Ansatz 1 wieder auf, nunmehr aber ex negativo. – In 6 wiederholt sich das zu 5 Gesagte mit dem Blick auf Gegenstände der Kunst. – Überblickt man die Ansätze 2 bis 6 in ihrer Gesamtheit, so zeigt sich eine Inhaltslinie von ‚vage, allgemein‘ zu ‚zunehmend klar, sogar deutlich‘ und zu ‚speziell‘. – Mit Ansatz 7 kommt eine Größe außerhalb dieser Reihe ins Spiel, nämlich >Grund, Ursache, Anlaß zu einer HandlungAngelegenheit, Sache, Gegebenheit; Verfahrenjn. hintergehen< aus (FWB 9: 2098).

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der eine ganze Lebensform andeutet: Die Verpflichtung wird als reziprok gekennzeichnet, das heißt: Mit der gleichen Unbedingtheit, wie Gott seinen Sohn in den Opfertod gab, hat sich der Mensch mit all seinen Kräften und ausschließlich auf Gott zu richten. Das bedeutet die Forderung der Aufgabe jedes Bezuges auf Irdisches, im Detail ein (frnhd. gesagt:) abscheiden, absterben, verläugnen seiner selbst und ein zukeren, suchen, ansehen Gottes mit dem gemüte (also visionär). Beschreitet man diesen Weg, was als in der Möglichkeit des Menschen liegend vorausgesetzt wird, dann kann das zum haben Gottes, zum erlangen der seligkeit führen. Für den Kenner frnhd. Texte – nur dieser wird mit dem FWB arbeiten – wird sich angesichts dieser Formulierungen sofort die Assoziation zur Mystik ergeben. Diese wird dann zusätzlich durch die Symptomwertangabe Texte der Sinnwelt Religion/Didaxe, speziell der Mystik bestätigt und durch einen umfänglichen Belegblock untermauert. 3.4.1 Die damit analysierte Erläuterung eines von insgesamt 8 Bedeutungsansätzen von frnhd. meinen stellt heraus, dass dieses Verb (mit Ansatz 7) nicht nur eine spezifisch frnhd. Bedeutung hat, sondern dass diese mit einer Handlungsauflage verbunden ist, die in der lexikographischen Beschreibung ebenso zu berücksichtigen ist wie der soziokognitive Bedeutungsteil. Eine Typologie, in welchen grammatischen und fachstilistischen Mustern dies erfolgen könnte, gehört zu den bisher kaum gesehenen Aufgaben der Metalexikographie. 3.4.2 Die Aufgabe verkompliziert sich noch dadurch, dass mit der Erläuterung gleichzeitig der heutige Benutzer des Wörterbuches angesprochen werden sollte. Die Frage lautet dann: Tut man dies in deskriptiver Haltung, mit der Absicht kognitiver Anregung oder in der Absicht der Handlungsbeeinflussung des Nachschlagenden? Das ist eine nicht nur metalexikographische Frage, sondern eine Existenzfrage aller historischer Wissenschaften mit sprachlich verfasstem Gegenstand.

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34 | Oskar Reichmann DWB = Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. [in 32]; Quellenverzeichnis. Leipzig: Hirzel 1854–1971. 2 DWB = Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin in Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Leipzig: 1965 ff. Elsäss. Wb. = Wörterbuch der elsässischen Mundarten. Bearb. v. Ernst Martin & Hans Lienhart. 2 Bde. Straßburg: Trübner 1899–1907 [Nachdruck Berlin, New York: de Gruyter 1974]. EWA = Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen. Hrsg. v. Albert L. Lloyd & Rosemarie Lühr (ab Bd. 2)/Otto Springer unter Mitwirkung von Karen K. Purdy. Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 1988 ff. FWB = Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Hrsg. v. Robert R. Anderson [für Band 1], Ulrich Goebel, Anja Lobenstein-Reichmann [Einzelbände] & Oskar Reichmann [Bände 3 und 7 in Verbindung mit dem Institut für deutsche Sprache; ab Bd. 9, Lieferung 5 im Auftrag der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen]. Berlin, New York: de Gruyter 1989 ff. Grimm, Jacob (1854): Vorwort. In: DWB, Bd. 1. Leipzig: Hirzel, I–LXVIII. GWb = Goethe-Wörterbuch. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Stuttgart: Kohlhammer 1978 ff. Hermanns, Fritz (1989): Deontische Tautologien. Ein linguistischer Beitrag zur Interpretation des Godesberger Programms (1959) der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. In: Josef Klein (Hg.): Politische Semantik. Bedeutungsanalytische und sprachkritische Beiträge zur politischen Sprachverwendung. Opladen: Westdeutscher Verlag. Hermanns, Fritz (1995): Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte. Überlegungen zu Sinn und Form und Gegenstand historischer Semantik. In: Andreas Gardt, Klaus J. Mattheier & Oskar Reichmann (Hrsg.): Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Gegenstände, Methoden, Theorien. Tübingen: Niemeyer, 69–101. Klein, Wolfgang (2004): Vom Wörterbuch zum Digitalen Lexikalischen System. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 136, 10–55. Lexer, Matthias (1872–1878): Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Benecke-MüllerZarncke. 3 Bde. Leipzig: Hirzel. Nietzsche, Friedrich: Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne [1870/73]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 1. München u. a.: dtv u .a. 1976–1977. Neuausg. München: dtv u .a. 1999, 873–890. OED1 = James Murray et al. (eds.) (1933): The Oxford English Dictionary. 12 Vol. Oxford: Oxford University Press. OED2 = John Simpson & Edmund Weiner (eds.) (1989): The Oxford English Dictionary, Second Edition. 20 Vol. Oxford: Oxford University Press. OED3 = John Simpson & Michael Proffitt (eds.) (2001 ff.): The Oxford English Dictionary Online. Oxford: Oxford University Press. Online: www.oed.com (25.09.2015). Öst. Wb. = Bayerisch-Österreichisches Wörterbuch. I. Österreich: Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich. Hrsg. im Auftrag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften von der Kommission zur Schaffung des Österreichisch-Bayerischen Wörterbuches und zur Erforschung unserer Mundarten, bearb. v. Viktor Dollmayr, Eberhard Kranzmayer unter Mitwirkung v. Franz Roitinger, Maria Hornung & Alois Pischinger. Wien: Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften 1963 ff. II. Bayern: Bayerisches

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36 | Oskar Reichmann Wolfram von Eschenbach: Parzival. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Mittelhochdt. Text nach der Ausg. von Karl Lachmann. Übers. und Nachw. v. Wolfgang Spiewok. 2 Bde. Bd. 1: Buch 1–8. Nachdr. Stuttgart: Reclam 2007.

Francisca Loetz

Begegnung der anderen Art1 Historische Lexikographie im Arbeitsalltag einer Historikerin des deutschen Sprachraums Abstract: Historische Lexikographie wie Geschichtswissenschaft arbeiten mit Texten der Vergangenheit. Diese zeugen von einer vermeintlich vertrauten, d. h. einer „anderen“ Sprache. Trotz dieses gemeinsamen Problems, die Sprache der Vergangenheit zu verstehen, wissen beide Disziplinen nur wenig voneinander zu profitieren. Für eine gegenseitige Bereicherung sollte deshalb die Geschichtswissenschaft kritischer mit historischen Lexika umgehen und neben begriffsgeschichtlichen bzw. historisch-semantischen auch sprachpragmatische Ansätze zur Auswertung von Textquellen nutzen. Die historische Lexikographie wiederum könnte mehr leisten, wenn sie die Bildung ihrer Textkorpora gezielt um archivalische Bestände erweiterte und die pragmatische Kennzeichnung ihrer Lemmata verfeinerte. Keywords: Begriffsgeschichte, Diskurs, Frühe Neuzeit, Grimm, Hermeneutik, historische Semantik, Quellenkorpus, Quellensprache, Sachebene, Sprachebene, Sprachpragmatik, Sprechhandlung, Symptomwert, Zedler

|| Francisca Loetz: Universität Zürich, Historisches Seminar, Karl Schmid Strasse 4, CH-8006 Zürich, E-Mail: [email protected]

Die Vergangenheit ist – so der vielzitierte Satz aus einem Roman L.P. Hartleys2 – ein fremdes Land, d. h. zeitliches Ausland und damit die Begegnung mit einem Anderen. Dies lässt sich auch auf den sprachlichen Charakter von Textquellen übertragen. Je älter die Textquellen sind, desto schwieriger wird es, die durch den zeitlichen Abstand verfremdete Sprache zu verstehen. Vor diesem Hintergrund sollte man meinen, dass sich die Geschichtswissenschaft für die Wissenschaft der Sprache, die Linguistik, besonders interessierte. Dies ist nur selten || 1 Ich danke Walter Bersorger, Siegfried Bodenmann, Maria Böhmer und Anja LobensteinReichmann für kritische Lektüre und anregende Rückfragen. 2 Der Satz aus dem 1953 publizierten Roman lautet: „The past is a foreign country: they do things differently there.“ (Hartley 2000: 5)

38 | Francisca Loetz der Fall. Daher verfolge ich in diesem Beitrag ein doppeltes Ziel: Im ersten Schritt geht es um eine Einschätzung, was die historische Lexikographie für die Geschichtswissenschaft hinsichtlich des Umgangs mit Quellentexten leistet. Im zweiten Schritt will ich ausführen, welche Fragen und Wünsche die historische Lexikographie aus Sicht einer Historikerin im deutschen Sprachraum offen lässt. Hierbei geht es mir nicht darum, zwischen linguistischen Schulen und disziplinengeschichtlichen Entwicklungen der Lexikographie oder gar lexikalischen Nachschlagewerken zu differenzieren. Vielmehr will ich den Nutzen der Lexikographie für die Geschichtswissenschaft exemplarisch diskutieren. Da ich aus der Perspektive einer Historikerin der Vormoderne zum Teil mit deutschschweizerischen Beispielen argumentiere, ziehe ich hierfür vorwiegend das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch bzw. das Schweizerische Idiotikon heran. Die Lexikographie steht bei vielen Historikerinnen und Historikern im Ruf, technizistische Korinthenlese zu betreiben, die für Fachfremde der wissenschaftlichen Mühe nicht wert ist. Wer Historiker und Historikerinnen für historische Lexikographie gewinnen will, muss daher um sie werben. Umgekehrt, so mein vielleicht naiver und natürlich nicht unparteiischer Eindruck, berücksichtigen mir Lexikographinnen und Lexikographen die historischen Kontexte, in denen ihr sprachliches Material produziert worden ist, nicht genügend. Inwiefern können historische Lexikographie und Geschichtswissenschaft dennoch voneinander profitieren?

1 Der Zugriff auf Wörter: Geschichtswissenschaft und Quellensprache Während aus klassischer sprachhistorischer Sicht „Frühe Neuzeit“ die Epoche von 1350 bis 1650 bezeichnet,3 erstreckt sich nach historischen Konventionen die Frühe Neuzeit von 1500 bis 1800. Insbesondere für die deutschsprachige Historiographie gehört außerdem die Sattelzeit von 1750 bis 1850 zur Vormoderne.4 Wer Interessierte an Texte aus diesen Zeiträumen heranführen will, stößt auf ein oftmals unterschätztes Problem. Ich meine damit nicht die Tatsache, dass das Lesen der Frakturschrift gedruckter Quellen immer mehr Schwierigkeiten bereitet. Auch will ich nicht darüber klagen, dass das Lesen handschriftlicher Zeugnisse paläographische Kenntnisse und Fertigkeiten voraus-

|| 3 Zur Diskussion der sprachgeschichtlichen Periodisierung vgl. Elspaß (2008: 1–20). 4 Zum Konzept der Sattelzeit vgl. Stefan (2010: 610–613).

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setzt. Ich ziele auf zwei wesentlich andere Probleme ab: Manchmal merken die Interessierten, dass ihnen unvertraute sprachliche Ausdrücke und die Syntax der Quellen Verständnisschwierigkeiten bereiten.5 Sie müssen dann Wege suchen, wie diese Verständnisschwierigkeiten am besten zu bewältigen sind. Manchmal aber realisieren die Interessierten erst gar nicht die Konsequenzen dessen, dass sie es mit einem historischen Text zu tun haben. Sie unterschätzen den historischen und damit fremdsprachlichen Charakter ihrer Textquellen. Dies lässt sich am Begriff ‚Unzucht‘ demonstrieren. In frühneuzeitlichen Ehegerichtsakten des Alten Reichs oder der Alten Eidgenossenschaft finden sich zahlreiche Strafurteile wegen Unzucht. Da wir das Wort heute noch kennen, liegt es nahe, Unzucht als Unzucht zu verstehen. Hier ist es die Aufgabe der Historikerin oder des Historikers, den Quellenbegriff Unzucht von dem Begriff der ‚Unzucht‘ im heutigen Sprachgebrauch zu unterscheiden. ‚Unzucht‘ ist heute ein altertümlicher, inhaltlich recht diffuser und sexualmoralisch konnotierter Begriff. Es bleibt unklar, was genau gemeint ist. Der Quellenbegriff Unzucht hingegen bezeichnet die Formen außerehelichen Geschlechtsverkehrs. Unzucht kann sich auf vorehelichen Geschlechtsverkehr, Ehebruch, Inzest, Prostitution, Homosexualität, Zoophilie und Kindsmissbrauch beziehen.6 Unzucht ist also zwar semantisch sehr vielfältig, bezeichnet aber dennoch etwas Spezifisches: Unzucht markiert die Vielfalt außerehelicher Sexualität gemäß frühneuzeitlicher christlicher Sündenkonzepte. Der heutige Ausdruck „Unzucht“ hingegen verweist pauschal auf etwas Unmoralisches, das nicht mit der religiösen Ablehnung außerehelicher Sexualität zu tun haben muss. Wer diese Unterscheidung übergeht, läuft Gefahr, frühneuzeitliche Ehegerichtsfälle anachronistisch zu interpretieren. Gegenstand der frühneuzeitlichen ehegerichtlichen Prozesse sind keine diffusen moralischen Vorwürfe, sondern sind nach zeitgenössischem Verständnis konkrete Verstöße gegen die göttliche Ordnung. Wie aber gelange ich zu diesem Schluss? Das Schweizer Idiotikon führt das Lemma nicht. Der Versuch aus dem dortigen Unzuchtbuess (Schweizer Idiotikon 1901: 1753), den Sinn von Zucht auf indirektem Wege abzuleiten, führt ins Leere. Das Lemma bezieht sich allein auf Strafen für „Frevel“, die nicht weiter erläutert werden, so dass unklar bleibt, was unter Unzucht zu verstehen ist. Das Früh|| 5 Zu den entsprechenden und insbesondere semantischen Verständnisschwierigkeiten fachunkundiger Leserinnen und Leser von Quellentexten vgl. Reichmann (2012: 55–59). 6 Während der Artikel Unzucht im Schweizerischen Idioticon noch nicht erschienen ist, beschreibt das Zedler’sche Universallexikon des 18. Jahrhunderts Unzucht eindeutig als außerehelichen Geschlechtsverkehr (vgl. Zedler 1746: 2573–2579). Zu den reformierten Schweizerischen Ehegerichten und ihrem Unzuchtsverständnis vgl. einschlägig Burghartz (1999); Schmidt (1995).

40 | Francisca Loetz neuhochdeutsche Wörterbuch wiederum ist noch nicht beim Buchstaben U angelangt. Es bleibt der bei Historikern und Historikerinnen beliebte Griff zum „Zedler“ (Zedler 1732–1754), einem Universallexikon des 18. Jahrhunderts. In ihm ist zu lesen, dass mit Unzucht die verschiedenen Formen außerehelichen Geschlechtsverkehrs assoziiert wurden (vgl. Zedler 1746: 2573–2579). Angesichts der Menge der dort gelieferten Wortbedeutungen muss schließlich aus dem Quellentext erschlossen werden, welche von ihnen gemeint ist. Als Historikerin behelfe ich mir also mit einem Kompendium, welches das Wissen seiner Zeit erfassen will, indem es den sprachkonventionellen Sinn von Ausdrücken definiert. Mangels eines Eintrages in einem Sprachwörterbuch, das ein gegenwärtiges Produkt einer historisch-lexikographischen Bearbeitung ist, benutze ich damit ein Sachwörterbuch, das aus der Feder von Lexikographen meiner Untersuchungszeit stammt. Hier stellt sich mir die Frage, ob der fundamentale Unterschied zwischen den beiden Formen von Nachschlagewerken in der Geschichtswissenschaft genügend reflektiert wird. Die Diskussionen der Lexikographie über den sprachlichen Aussagewert verschiedener Wörterbuchtypen sind jedenfalls in der Geschichtswissenschaft bislang ohne größere Resonanz geblieben.7 Dass der „Zedler“ lediglich als „Indikator für das, was eine Gesellschaft weiß, wissen kann und wissen möchte“ (Frevert 2013: 24), auszuwerten sei, ist in der Geschichtswissenschaft genauso Konsens wie die Tatsache, dass Konversationslexika „einen Blick auf normative Prinzipien und Orientierungen, die sie ihrem Publikum zum Gebrauch anboten“ (Frevert 2011: 16), gewähren. Auch sind die lexikalischen Quellen, aus denen der „Zedler“ seine Einträge kompiliert, recht gut erforscht (vgl. Dorn 2008: 110–115). Wie jedoch die Differenz zwischen Wissensorientierung und Wissensgebrauch, zwischen Zedler’scher Begriffsdefinition und sozialer Wirklichkeit, zwischen Sprach- und Sachebene, abzuschätzen ist, bleibt offen.8 Dies gilt umso mehr, als beim „Zedler“ keine Hinweise über die Arbeitsweise der Redakteure überliefert wurden und die Disparität der Textgattungen, auf die das Universallexikon zurückgreift (vgl. Dorn 2008: 107, 112), in der historischen Auswertung nicht weiter thematisiert wird. Wenn Enzyklopädien unter Einbezug ihrer Referenztexte und „Kontrollbegriffe“ zu Textkorpora für eine || 7 Soweit ich sehe, fehlt eine Auseinandersetzung mit grundlegenden Einführungen in die Lexikographie, wie sie etwa Wiegand vorgelegt hat: Vgl. Wiegand (2010: 1–122). 8 So ist bislang der „Zedler“ in der Geschichtswissenschaft vorrangig als ein Dokument zur Geschichte des Wissens und der Buchgeschichte, nicht der Geschichte der sozialen Wirklichkeit, genutzt worden (vgl. etwa die typischen bibliographischen Verweise in den „Zedlerania“ (http://www.zedleriana.de/zlit.htm [31.03.2015]).

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„historische Semantik der Gefühle“ werden (vgl. Frevert 2011: 17, 19), „ohne dass sie dem zeitgenössischen Wissensstand detailgenau entsprochen“ (Frevert 2011: 19) hätten, sollte deswegen angemessen berücksichtigt werden, dass sich diese Semantik nur auf einen Ausschnitt von normativem Wissen bezieht. Außerdem bleibt fraglich, ob die untersuchten Lemmata einen „ersten Zugang zu dem [gewähren …], wie ihnen [den Menschen, F.L.] dieses Wissen half, Gefühle zu ordnen, zu unterscheiden, abzugrenzen und zu bewerten“ (Frevert 2011: 18). Wie kann der Anspruch eingelöst werden, den semantischen Wandel von Wissensbegriffen mit gesellschaftlichen Prozessen zu verknüpfen, wenn sich diese „nur selten unmittelbar aus den lexikalischen Lemmata herauslesen“ (Frevert 2011: 18) lassen? Die Grenzen der sprachlichen Spurensuche betreffen nicht nur den „Zweifel an der sozialen Durchdringtiefe des Genres“ (Frevert 2011: 19). Es geht nicht nur darum, dass Enzyklopädien an ein begrenztes, gebildetes Publikum gerichtet waren. Es geht um die Frage, ob bzw. wie das enzyklopädisch gesammelte Wissen zum (verbalen) Alltag der Zeitgenossen historisch in Beziehung gesetzt werden kann. Wenn auch viele Historikerinnen und Historiker in ihrer Arbeitspraxis lexikographische Hilfsmittel oftmals verschmähen, ist in der Geschichtswissenschaft unumstritten, dass lexikographische Nachschlagewerke hilfreich sind. Sie dienen der Geschichtswissenschaft quasi als Fremdwörterbücher. Immer dann, wenn ein Wort so gar keinen Sinn zu ergeben scheint, bietet es sich an, sich von der Lexikographie helfen zu lassen und die Lemmaeinträge als Glossar zu verstehen. Wörter wie fast oder dick z. B. können sehr irritieren. Wenn ich etwa in einer Gerichtsakte den Hinweis finde, ein Angeklagter habe „fast und dick geschworen“ und sei wegen Gotteslästerung verurteilt worden, dann werde ich merken, dass fast nicht „nahezu“ und dick nicht den Leibesumfang meinen kann. Wenn ich viele Quellen lese, in denen fast und dick in einem vergleichbaren Sinnzusammenhang auftauchen, werde ich mit der Zeit erschließen können, was diese zwei Wörter bedeuten. Ein Griff zum Frühneuhochdeutschen Wörterbuch oder zum Schweizer Idiotikon wird allerdings mit viel geringerem Aufwand Aufschluss geben. Dem Angeklagten wird vorgeworfen, „sehr“ und „viel“ geschworen – im frühneuzeitlichem Verständnis viele gotteslästerliche Ausdrücke gebraucht – zu haben. Immer dann, wenn ein Text sprachlich keinen Sinn ergibt, ist für Historiker und Historikerinnen der Griff zum lexikographischen Nachschlagewerk in seiner Funktion als Wörterbuch naheliegend. Wie oft aber greifen nun Historiker und Historikerinnen zu einem historischen Wörterbuch? Wenn man den bibliografischen Angaben folgt, wohl selten. Da historische Wörterbücher, wenn überhaupt, am ehesten wie Fremdwörterbücher genutzt werden, erscheint es vielen als überflüssig, auf die konsultierten lexikalischen Einträge zu verweisen. Sollte meine Einschätzung zutreffen, wäre

42 | Francisca Loetz dies ein Hinweis darauf, wie die Geschichtswissenschaft von lexikographischer Arbeit profitiert, ohne dies zu verdeutlichen. Diejenigen Historiker und Historikerinnen wiederum, die sprachliche Erscheinungen zu ihrem Untersuchungsgegenstand machen, interessieren sich nur bedingt für die lexikalische Dimension ihrer Texte. Wenn wir etwa die historische Semantik nehmen, die sich in der Geschichtswissenschaft in fachinterner Kritik an den Schwächen ihrer Ausformung der 1980er-Jahre zu einer eigenen Disziplin entwickelt hat,9 mag aus linguistischer Warte erstaunen, wie hier mit der Geschichte von Wörtern bzw. Begriffen umgegangen wird. Die exemplarische Arbeit Jörn Leonhards zur Semantik des Liberalismusbegriffs mündet in ihrer komparativen Perspektive in eine monumentale Monographie mehrerer hundert Seiten (vgl. Leonhard 2001: insbes. 47–56, 76–80). Hierbei schöpft Leonhard aus diversen lexikalisch-enzyklopädischen Werken wie auch aus vielfältigen politischen Monographien und privaten Unterlagen politischer Akteure, ohne angesichts der Masse des Materials die textsortenspezifischen Unterschiede zwischen den Quellen berücksichtigen zu können. Symptomwerte, semasiologische und onomasiologische Differenzierungen der begrifflichen Liberalismusvarianten kann und will Leonhard daher nicht genauer bestimmen.10 Angesichts des Arbeitsaufwands, den Leonhards Konzept historischer Semantik erfordert, ziehen es Historikerinnen und Historiker im Allgemeinen vor, bekannte Lexika zu konsultieren. Sie begehen dabei methodische Fehler, wenn sie diachrone Sprachentwicklungen unterschätzen oder onomasiologische Differenzierungen übergehen11 und dabei die Typenvielfalt der herangezogenen Nachschlagewerke nicht eingehender reflektieren. Um ein Beispiel für solch einen typischen Ansatz zu nennen: Susanne Rau macht unter einer Kapitelüberschrift „Begriffsgeschichte“ darauf aufmerksam, dass der Wandel von Raumvokabularen als Teil der historischen Raumforschung zu betrachten sei. Rau verweist hierfür auf einige etymologische Nachschlagewerke (vgl. Rau 2013: 55 f.). Als ersten Ausgangspunkt für eine Auswertung von Raumvokabularen benennt sie den „Zedler“, wobei sie dessen Stellenwert für die historische Raumforschung nicht kommentiert. Adelung, Krünitz (vgl. Adelung 1811; || 9 Zur kommentierten Zusammenstellung der Koselleck’schen programmatischen Texte vgl. Koselleck (2006). Zur kritischen Auseinandersetzung mit der Begriffsgeschichte vgl. u. a.: Dutt (2003); Gumbrecht (2006); Steinmetz (2008). 10 Zur Kritik der isolationistischen Betrachtung von Begriffen in der historischen Semantik aus linguistischer Sicht vgl. Reichmann (2012: 68 f.). 11 So in meiner Verkürzung die Kritik Anja Lobenstein-Reichmanns an der Begriffsgeschichte. Vgl. Lobenstein-Reichmann (2011a: 67–76).

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Krünitz 1773–1858) oder andere Nachschlagewerke werden typischerweise nicht genannt. Sie werden in der Historiographie sehr viel seltener herangezogen als „der Zedler“, der als Referenzwerk für die Quellensprache seiner Zeit gehandelt wird. Historikerinnen und Historiker versuchen also die Bedeutung sprachlicher Zeichen der Vergangenheit zu erfassen, verfügen aber zumeist nicht über spezielle lexikographische Kenntnisse. Daher haben sie zumeist keine methodologische Bedenken, verschiedenste Enzyklopädien, Sachwörterbücher, Sprachwörterbücher und andere Texte unterschiedslos als quellensprachliches Material für historische Argumentationen zu nutzen. Sie arbeiten nicht spezifisch „lexikalisch“, sondern summarisch „hermeneutisch“. Mit „lexikalisch“ meine ich hier eine Arbeitsweise, die ein Wort(-feld) als einzelne sprachliche Einheit samt seiner semantischen Bezüge behandelt. Mit „hermeneutisch“ hingegen verbinde ich einen Zugriff auf einen sprachlichen Begriff, der in diesem ein Zeichen für ein gesellschaftliches Phänomen erkennt. So konsultiert etwa die Historikerin Karin Hausen allein das Grimm’sche Wörterbuch, um sich über das Lemma Geschlecht zu informieren, ohne etwa mit „dem Adelung“ zu vergleichen oder auf das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch zurückzugreifen. Sie gewinnt dabei den Eindruck, die anfangs dominante Wortbedeutung des (adeligen) Stammvater-Geschlechts habe im Laufe des 18. Jahrhunderts an Bedeutung verloren, während Geschlecht als Ordnungsbegriff auf zunehmend mehr soziale Gruppierungen und Phänomene und auch – vielleicht angeregt durch die 1735 erstmals und 1758 bereits in 10. Auflage veröffentlichten Linnéschen „Systema Naturae“ – auf Tiere, Pflanzen und anderes mehr ausgedehnt wurde. Außerdem schlägt sich im „Deutschen Wörterbuch“ deutlich nieder, dass seit dem späten 18. Jahrhundert die Qualifizierung der dem weiblichen und männlichen Geschlecht vermeintlich angeborenen Eigenschaften ebenso vermehrte Aufmerksamkeit erhielt wie die anatomischen physiologischen körperlichen Unterschiede der Geschlechter. (Hausen 2013: 162).

Als Historikerin verfolgt Karin Hausen nicht das Ziel, die Onomasiologie von ‚Geschlecht‘ auszudifferenzieren, sondern den Wandel der Wortbedeutungen von ‚Geschlecht‘ als Spur gesellschaftlicher Veränderungen zu deuten. Der interpretatorische Bogen, den Hausen mit Hilfe eines Wörterbuchs schlägt, folgt gängigen interpretatorischen Vorgehensweisen der Geschichtsschreibung. Die vielen Kontroversen um den linguistic turn, der bekanntlich nicht linguistisch argumentiert, haben die Verwendung von historischen Wörterbüchern in der Geschichtsschreibung nicht wesentlich verändert. Meine Unterscheidung zwischen „lexikalisch“ und „hermeneutisch“ führt zurück auf die Frage, was für die Geschichtswissenschaft bzw. die Lexikographie ein Wort ist und wie der Sinn eines Worts erfasst werden kann. Diese Frage

44 | Francisca Loetz will ich nicht weiter verfolgen, sondern lediglich davon ausgehen, dass für Lexikographie wie für Geschichtswissenschaft der Sinn eines Wortes von seinem Kontext abhängt. Was für ein Kontext ist das aber, aus denen die einen historische Zusammenhänge herleiten und die anderen semantische und onomasiologische Felder abstecken? Für die historische Lexikographie ist die Antwort naheliegend: Sie fragt danach, wann welches Wort in welcher Wortbedeutung vorkommt. Der Kontext ist der sprachliche Kontext und Sprache ist die Verkettung von Wörtern nach bestimmten Regeln. Dafür stehen die vielen Textbelege der Wörterbücher, welche die sprachlichen Wendungen nachweisen, in denen das Lemma vorkommt. Wie das Lemma in den jeweiligen Textbelegen zu verstehen ist, deuten die Lexikographinnen und Lexikographen in einem hermeneutischen Prozess.12 Dieser wird allerdings im Wörterbuch nicht als solcher thematisiert. Die historischen Kenntnisse, die in eine lexikographische Interpretationsleistung einfließen, bleiben implizit und weisen somit latent über den eigentlichen Text hinaus. Für die Geschichtswissenschaft liegt die Gewichtung anders: Der Kontext ist der Komplex historischer Zusammenhänge, in denen ein Quellentext entstanden ist. Als Historikerin komme ich nicht an den grundlegenden W-Fragen der Quelleninterpretation vorbei: Wer hat die Quellen wann unter welchen Bedingungen, mit welchen Zielsetzungen, an wen und für wen in welcher Form etc. verfasst, und welche historische Erkenntnis kann ich hieraus gewinnen? Auch ich arbeite also mit einem Sprachverständnis, das das Ergebnis eines Interpretationsprozesses ist. Dieser Interpretationsprozess basiert jedoch nicht allein auf meinem innersprachlichen Material, sondern sucht explizit die Entstehungsbedingungen und Wirkungsabsichten eines Quellentextes mit einzubeziehen, um ein Lemma oder einen Text ausdrücklich als Produkt gesellschaftlicher Interaktionen zu begreifen. Pointiert formuliert könnte man sagen, dass Historikerinnen und Historiker sich letztlich gar nicht dafür interessieren, was Sprache im Sinne eines verbalen Zeichensystems in ihren Textquellen ist. Textquellen sind für sie Zeugnisse, die über das „Transportmittel“ Sprache etwas Vergangenes dokumentieren. Historiker und Historikerinnen interpretieren ihre Textquellen nicht als eine Kombination von Wörtern zu diskursiven Ketten, sondern als eine verbalisierte holistische Momentaufnahme einer Gesellschaft. Ist für die Lexikographie Sprache der Kontext, ist es für die Geschichtswissenschaft die Gesellschaft „hinter“ der Sprache. So stellt Karin Hausen nicht zufällig eine Verbindung zwischen der Linné’schen Pflanzensystematik und der semantischen Akzentverschiebung || 12 Zur Komplexität dieses Prozesses vgl. Reichmann (2012: 211–546).

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von ‚Geschlecht‘ her. Diese Verknüpfung ist plausibel, aber auf der sprachlichen Ebene nicht nachweisbar, da sie im Ausdruck ‚Geschlecht‘ nicht sprachlich artikuliert ist. Inwiefern Sprache Gesellschaft „repräsentiert“, ist jedoch eine Frage, die in historischen Darstellungen oftmals nicht weiter geklärt wird. Probleme dieser Art bewegen sich an der Grenze von Sprachphilosophie, Sprachtheorie und Linguistik bzw. Lexikographie und werden – so meine Einschätzung – in der Geschichtswissenschaft bislang nur unzureichend diskutiert. Kennzeichnend sind eher Vorstellungen vom Umgang mit Sprache, wie sie die Historikerin Kathrin Kollmeier umreißt: Linguistik und Geschichtswissenschaft verfolgten unterschiedliche Erkenntnisinteressen. Die Geschichtswissenschaft ziele auf die „Geschichtlichkeit im Medium von Sprache und Begriffen“ (Kollmeier 2012) nicht nur in verbalen, sondern auch in nicht verbalen Ausdrucksformen wie etwa Bilder, Rituale oder Gesten. Und weiter: Als geschichtswissenschaftlicher Ansatz werden mit dieser Forschungsperspektive [der Historischen Semantik, F.L.] die kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen und Voraussetzungen dessen, wie zu einer bestimmten Zeit Sinn zugewiesen und artikuliert wurde, erforscht und interpretiert. Der spezifische Zugriff der Begriffsgeschichte wählt dazu isolierte, verdichtende Stichwörter, denen eine Schlüsselstellung zugesprochen wird, um sprachförmige Konzeptualisierungen zu erfassen und zu kontextualisieren. Untersucht wird nicht der historische Sprachwandel, der Gegenstand des gleichnamigen Arbeitsfeldes der Linguistik ist. (Kollmeier 2012)

Ich weiß nicht, ob sich Linguistinnen und Linguisten in dieser Beschreibung ihrer Disziplin richtig verstanden fühlen. Mir scheinen die Grenzen zwischen historischer und linguistischer Begriffsgeschichte nicht im Unterschied zwischen „Sprachwandel“ und „Geschichtlichkeit im Medium von Sprache“ zu liegen. Historiker und Historikerinnen untersuchen durchaus „Sprachwandel“, wenn sie die Veränderungen im Gebrauch der von ihnen ausgewählten Begriffe verfolgen. Der entscheidende Unterschied zwischen den Ansätzen scheint mir vielmehr darin zu liegen, dass in der Geschichtswissenschaft zentrale Begriffe gewählt werden, die als sprachliche „Kondensate“ gesellschaftlicher Erscheinungen verstanden und damit als Schlüsselkonzepte behandelt werden. Die historische Lexikographie hingegen wählt nicht aus, sondern sucht (im Prinzip) den gesamten Wortschatz einer Sprachgemeinschaft zu erschließen, wobei die Lemmata Wörter bleiben und nicht zu Worten mutieren. Um eine Metapher zu wagen: Der lexikographische Zugriff auf Lemmata erinnert mich an die möglichst komplette Zusammenstellung von „Atomen“, die spezifische sprachliche Anziehungs- und Abgrenzungskräfte besitzen und somit bestimmte semantische und onomasiologische Felder erzeugen. Die historischsemantischen Ansätze in der Geschichtswissenschaft würde ich hingegen mit

46 | Francisca Loetz einem Zugriff vergleichen, in dem Begriffe als „Moleküle“ betrachtet werden, die sich aus gesellschaftlichen Prozessen heraus zu charakteristischen, sprachlich verfassten Komplexen bilden. Ich ziele nicht auf eine Unterschiedlichkeit im Größenmaßstab („kleines Atom“ vs. „größeres Molekül“), sondern auf eine Unterschiedlichkeit der Funktionen, die den „Atomen“ bzw. „Molekülen“ zugeordnet werden. Die lexikographische Arbeit wirkt auf mich wie die Analyse eines Systems, in dem Wörter sprachinterne Funktionen erfüllen. Historischsemantische Untersuchungen hingegen werten Begriffe als Einheiten, die spezifische sprachexterne Bezüge herstellen. Solange auf historischer Seite eine befriedigende lexikographische Reflexion fehlt, würde ich historisch-semantische oder wissensgeschichtliche Ansätze der geschichtswissenschaftlichen Diskursgeschichte zuordnen.13 Um Missverständnissen vorzubeugen, muss ich hierfür anmerken, dass Diskurs in der Geschichtsschreibung nicht formal als Kette verbaler Äußerungen verstanden wird. Mit Diskursen werden in der Geschichtswissenschaft überwiegend Foucault’sche Vorstellungen der Macht- und Wissensproduktion durch verbal Artikuliertes bzw. Artikulierbares verbunden (vgl. Landwehr 2001 bzw. Landwehr 2010).14 Diesem Verständnis folgen auch diverse linguistische Ansätze, wenn sie Diskurs „als einen thematisch orientierten kollektiven kommunikativen Akt beschreiben, der hinsichtlich Serialität, Argumentationshaltigkeit, Metaphorik, Wissensetablierung, -vermittlung und -distribution etc. ein kulturwissenschaftlicher Gegenstand ist“ (Kämper 2012: 451 f.). Nicht umsonst loten die beiden Disziplinen derzeit aus, wie sie einander ergänzen. Es bleibt abzuwarten, was aus den Initiativen für interdisziplinäre Zusammenarbeit wird und wie sich diese in den digital humanities, die dank der technischen Neuerungen über innovative Formen der Datenverarbeitung verfügen, eventuell auch auf die Lexikographie auswirken (bzw. umgekehrt) werden.15 Als Zwischenfazit halte ich fest, dass die Geschichtswissenschaft bislang nur sehr begrenzt von linguistischen Zugriffen zu profitieren versteht. Was die historische Lexikographie betrifft, so erfüllt sie für die Geschichtswissenschaft meistens die Funktion eines Fremdwörterbuchs in offensichtlich nicht verständlichen Textpassagen. In der Geschichtswissenschaft fehlt eine methodologische || 13 Vgl. auch die Selbstverortung Freverts (2011: 18). 14 Mit „Diskurs“ verbindet sich in der Historiographie auch das Habermas’sche philosophische Konzept vom rationalen, herrschaftsfreien Gespräch zwischen aufgeklärten, gleichberechtigten Bürgern (vgl. Habermas 1985: 390 f.), doch hat dieses Konzept mit der Foucaultrezeption historiographisch stark an Bedeutung verloren. 15 Zu den Aktivitäten im Bereich Computerlinguistik für den deutschsprachigen Raum vgl. http://www.gscl.org/ak-dh.html (12.12.2013).

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befriedigende Reflexion der Lexik von Textquellen weitgehend. Allerdings gilt auch, dass die historische Lexikographie für allgemeinhistorische Zwecke mehr leisten müsste als bislang, um der Geschichtswissenschaft einen besseren Zugriff auf Wörter zu ermöglichen.

2 Historische Lexikographie: Offene Fragen und Wünsche einer Historikerin Am Anfang einer Textquelle steht für Historikerinnen und Historiker, so behaupte ich hier ohne weitere geschichtstheoretischen Nachweise, die Handlung. Menschen schreiben etwas nieder, um es festzuhalten, und vollziehen damit eine Handlung. Am Anfang eines historisch-lexikographischen Eintrags steht jedoch, so mein fachfremder Eindruck, das einzelne Wort, selbst wenn ihm eine „kommunikative Potenz“ zugesprochen wird.16 Mag es noch so semantisch und onomasiologisch fein differenziert werden wie im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch, der Handlungskontext der Sprechenden bleibt offen. Was also fehlt mir, wo sich doch gerade das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch dem sprachpragmatischen Zugriff besonders verpflichtet fühlt? Was die Geschichtswissenschaft und die historische Lexikographie verbindet, ist der Textnachweis. An solchen mangelt es weder im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch noch im Schweizer Idiotikon. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht sind die Belege jedoch völlig aus ihrem Quellenkontext herausgerissen. Eine idiomatische Wendung, ein Halbsatz, eine Wortbildung – was sagen diese für mich als Historikerin aus, wenn ich das Lemma zu meinem eigenen Quellentext in Beziehung setzen will? Möglicherweise habe ich es mit einer ganz anderen Textsorte zu tun, haben daher die Worte in meiner Quelle eine andere Bedeutung als das Lemma in dem Textkorpus, aus dem der Wörterbuchbeleg schöpft. Aus meiner Sicht stellt historische Lexikographie eine Sammlung von Wörtern in ihren Bedeutungsvarianten zur Verfügung. Was ich in meiner Arbeit als Historikerin aber brauche, sind Erläuterungen zu Worten in sprachlichen Handlungsfeldern. Für mich ist die Sprache der Quelle nicht eine Kombination von Wörtern, sondern ist Aktion in Worten. Ich könnte z. B. die

|| 16 Dieser Umstand ist umso unbefriedigender, als die meisten Historikerinnen und Historiker Reichmanns Verständnis von „Kommunikation“ (vgl. Reichmann 2012: 23) folgen dürften und somit gemeinsame Erkenntnisinteressen vorliegen. Zum kommunikativen Potential der Lemmata vgl. Reichmann (2012: 7 f.).

48 | Francisca Loetz Frage verfolgen, ob ein Protestschreiben an einen absolutistischen Fürsten des 17. Jahrhunderts mit anderen Worten arbeitet als ein Protestschreiben an gewählte Vertreter einer Stadtrepublik des 16. Jahrhunderts. Sind die beiden Protestschreiben aus historischer Sicht tatsächlich den gleichen Textsorten zuzuordnen? Für die Beantwortung solcher Fragen wäre es für mich im genannten Beispiel hilfreich, wenn mir die historische Lexikographie Hinweise zum Wandel des perlokutionären Potentials all derjenigen Wörter liefern könnte, die zu dem verbalen Umfeld von „fordern, Einwände erheben, ablehnen“ gehören. Und hier sehe ich zwei zentrale Probleme. Als Historikerin habe ich es erstens mit deutlich vielfältigeren Textsorten zu tun, als sie die lexikographischen Nachschlagewerke trotz sorgfältiger Korpusbildung erfassen. Diese konzentrieren sich auf gedruckte und edierte Quellen oftmals normativen, intellektuellen oder literarischen Charakters. Ist aber ein Selbstzeugnis eines Söldners, ein Visitationsbericht eines Amtsarztes oder der Liebesbrief eines Bauern mit diesem lexikographisch ausgewerteten Korpus vergleichbar? Wie soll ich Passagen sprachlich einordnen, in denen Aussagen vor Gericht von einem Gerichtsschreiber in indirekter Rede protokolliert werden, der plötzlich von der distanzierten Kanzleisprache in die wörtliche, offenbar der Mundart näheren Rede zu wechseln vermag? Geht es hier um Sprachvarianten, wie sie in den Textkorpora der Wörterbücher erfasst sind? Da bräuchte ich lexikographische Hinweise zum Verhältnis der verschiedenen Sprechsituationen bzw. Textgattungen zueinander. Hier, so mein Plädoyer, sollte sich die historische Lexikographie mehr für archivalische Zeugnisse öffnen, um der sprachlichen Vielfalt historischer Quellen besser gerecht zu werden und möglicherweise neue, zentrale Lemmata zu gewinnen oder bekannte Lemmata auf eine innovative Weise zu erschließen. Ich möchte ein Beispiel anführen, um meine Argumentation zu veranschaulichen: In den Zürcher Gerichtsakten der Frühen Neuzeit wird der Quellenbegriff Sodomie fast durchgehend vom Quellenbegriff Bestialität unterschieden. Das Schweizerische Idiotikon kennt Bestialität nicht. Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch führt allein das Lemma bestie. Angesichts der protokollierten Aussagen der gerichtlich Befragten dürften beide Begriffe juristische Fachtermini gewesen sein, denn die Angeklagten und Zeugen benutzen andere Formulierungen, wenn sie mann-männliche Sexualität („Sodomie“) oder Sexualität mit Tieren („Bestialität“) bezeichnen. Bedenkt man, dass die Quellenkorpora beider Wörterbücher vielfach aus gedruckten bzw. edierten und zumeist normativen Rechtstexten schöpfen, haben wir hier also einen Fall vorliegen, in dem mit der Textsorte archivalischer Gerichtsakten das Quellenkorpus der Wörterbücher nicht nur um einen zentralen Begriff der Rechtskultur gezielt ergänzt werden könnte, sondern in dem auch das Verhältnis des gerichtlichen Fachvokabulars

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zum Wortschatz protokollierter mündlicher Aussagen in Beziehung gesetzt werden könnte. Für den Einwand, die Aufarbeitung archivalischen Materials sei – nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern arbeitspraktisch und damit prinzipiell – für die Lexikographie viel zu aufwändig, habe ich großes Verständnis, er überzeugt mich aber nicht. Sicherlich, der Weg ins Archiv, die Zusammenstellung eines Textkorpus aus Unterlagen, die in der Regel nach administrativ und nicht nach linguistisch relevanten Kriterien abgelegt sind, sowie die Entzifferung der Handschriften sind mühsamer als der bequeme und der schnelle Griff zum (heute häufig digital erhältlichen) historischen Druckerzeugnis. Wer jedoch mit älteren Texten arbeitet, sollte auch über paläographische Grundkompetenzen verfügen, um – ich wage diesen für die Wissenschaftswelt heiklen Hinweis – ein Gefühl für Archivalien zu entwickeln. Sonst ist die Gefahr allzu groß, die Welt der gedruckten Texte mit der Welt des allgemeinen Sprachgebrauchs gleichzusetzen. Von linguistischer Seite darf durchaus bemängelt werden, dass von der Geschichtswissenschaft nicht genügend linguistisch befriedigende Quelleneditionen zur Verfügung gestellt werden. Doch sei auch der Hinweis erlaubt, dass Archivquellen im Netz allmählich zugänglich gemacht werden, teils sogar in transkribierter Form.17 In einer Zeit, in welcher der Zugang zu Archivmaterialien dank digitaler Aufarbeitung bedeutend erleichtert wird, sollte es daher für die Lexikographie reizvoll sein, sich der Herausforderung der Erschließung von Archivalien zu stellen und ihre Korpusbildung entsprechend zu überdenken. Könnte es nicht lexikographisch ertragreich sein, sich auf einige Wortfelder oder Quellengattungen exemplarisch zu beschränken, die für archivalische Quellen charakteristisch sind, und damit den Arbeitsaufwand in vernünftigen Grenzen zu halten? Um es an einem Beispiel aus meiner eigenen Arbeit zur Gotteslästerung im frühneuzeitlichen Zürich zu verdeutlichen (vgl. Loetz 2002): Wer Gotteslästerung über theologische und juristische Druckschriften lexikographisch aufarbeitet, bewegt sich auf der Ebene von Normvorstellungen. Von den verbalen Praktiken der Gotteslästerung zeugen Gerichtsakten, in denen blasphemische Sprechhandlungen verhandelt werden. Dank dieser Akten lässt sich zeigen, dass die zeitgenössischen theologisch-juristischen Kategorien der Gotteslästerung nach Fluchen, Schwören und Gott Schmähen in der Gerichtspraxis keine || 17 Vgl. etwa die beispielhafte Edition mitteldeutscher Selbstzeugnisse aus dem Dreißigjährigen Krieg (Medick & Winnige: Mitteldeutsche Selbstzeugnisse), Transkriptionen von Zürcher Sittengerichtsprotokollen des 17. Jahrhunderts (Staatsarchiv des Kantons Zürich: Stillstandsprotokolle) oder die Umfrage zum Schulwesen der Schweiz 1799 (Schmidt et al.: Die Stapfer-Enquête).

50 | Francisca Loetz Rolle spielten. Dies lexikographisch an den gerichtlichen Textsorten mit den diversen Wortfeldern blasphemischer Rede zu untermauern bzw. zu widerlegen, wäre ein Weg, ein frühneuzeitliches Wörterbuch religiöser Wertvorstellungen zu entwickeln. Vielleicht muss gerade angesichts der Zurückhaltung der öffentlichen Hand, Gelder in Wörterbuchprojekte zu investieren, die historische Lexikographie ernsthaft darüber nachdenken, wie sie sinnvolle Teilbereiche eines Sprachraums für ihre Untersuchungen definieren könnte. Wenn die Geschichtswissenschaft das Zustandekommen und die Verwendung von Schriftstücken durch die Zeitgenossen bzw. den Aussagewert von Textquellen einzuschätzen versucht, ist sie immer wieder mit der Frage konfrontiert, welche Rolle Mündlichkeit und Schriftlichkeit in einer Gesellschaft spielen (vgl. z. B. Teuscher 2007). Aber ist es die Aufgabe eines lexikographischen Wörterbuchs, Fragen wie diejenige nach der Produktion und den Gebrauch von Texten zu beantworten? Vermutlich nicht. Dessen ungeachtet sind Textquellen für die Geschichtswissenschaft immer Texte in einem Handlungskontext und insofern Dokumente eines Gebrauchs. Dies ist auch der Grund, warum ich dafür plädiere, zu überlegen, ob bzw. wie der perlokutionäre Charakter in Wörterbüchern berücksichtigt werden könnte. Hier lässt sich prinzipiell einwenden, dass jede Perlokution situationsabhängig, d. h. individuell ist und sich daher einer lexikalischen Erfassung entzieht. Diese theoretische Radikalität halte ich nicht für zwingend, da – wenn ich es richtig sehe – Wörterbücher die zu einem bestimmten Zeitpunkt dominierenden Sprachkonventionen aufnehmen und damit zumindest ein gewisses Spektrum an denkbaren Perlokutionen abstecken könnten. Gerade dies wäre für Historiker und Historikerinnen wertvoll, denn, wenn ich einen zeitlichen Wandel interpretiere, bin ich darauf angewiesen, Kausalitäten herzustellen. Dies allerdings setzt voraus, dass ich die Wirkung einer sprachlichen Handlung einschätzen kann. Hier dürften der historischen Lexikographie zwar Grenzen gesetzt sein, die zu respektieren sind, über die mir Linguistinnen und Linguisten aber dennoch zu großzügig hinweggehen. Wenn z. B. Luther in seinen späten Schriften gegen Juden radikal polemisiert und dies linguistisch als verbale Gewalt eingeordnet wird,18 stellt sich mir die Frage, ob dies wirklich gleichzusetzen ist mit Beleidigungen, die als verbale Ehrverletzungen vor frühneuzeitlichen Gerichten eingeklagt werden und die gleichfalls als verbale Gewalt

|| 18 Vgl. einerseits zu der antijüdischen Polemik der frühen Neuzeit aus linguistischer Sicht: Lobenstein-Reichmann (2013). Für eine Programmatik zur Erforschung von verbaler Gewalt vgl. andererseits: Lobenstein-Reichmann (2011).

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bezeichnet werden.19 Meines Wissens liegen weder aus der Linguistik noch aus der Geschichtswissenschaft Untersuchungen vor, die verbale Attacken in gedruckten theologischen Polemiken und in handschriftlich überlieferten, gerichtlichen Injurienklagen sprachlich miteinander vergleichen. Hier bliebe auf beiden Seiten weiter zu überlegen, wie die Wirkungen sprachlicher Akte in das Verständnis von Sprache bzw. von Sprechen eingebunden werden können. Meine diesbezüglichen Erwartungen sind ambivalent. Auf der einen Seite bin ich eher skeptisch. Ich kann mir vorstellen, dass eine komparatistische lexikographische Untersuchung etwa von Luthers judenfeindlichen Schriften und von Injurienklagen keine nennenswerten historischen Erkenntnisse zu Tage fördern würde. Das Ergebnis würde wohl sein, dass verbale Gewalt im Wesentlichen darauf beruht, die Adressierten zu erniedrigen, auszuschließen oder zu beschämen. Als Historikerin will ich jedoch nicht nur deskriptiv feststellen, dass verbale Gewalt auf bestimmten sprachlichen Strategien beruht, sondern herausfinden, welche spezifische Gestalt diese Strategien in einem bestimmten Zeitraum annehmen und in welcher Weise sie in einer Sprachgemeinschaft Wirkung entfalten. Auf der anderen Seite sehe ich auch Chancen für erweiterte Perspektiven. Sprachpragmatisch formuliert frage ich als Historikerin danach, ob und warum eine verbale Sprechhandlung (nicht) gelingt bzw. (nicht) erfolgreich ist, um hieraus Rückschlüsse auf die Verhaltensnormen und -erwartungen der betreffenden Gesellschaft zu ziehen. Dies kann ich jedoch nur bewerkstelligen, wenn ich die Reaktion der adressierte(n) und umstehenden Person(en) kenne. Warum nicht damit experimentieren, ob die lexikalische Erläuterung eines Wortes um dessen „Reaktionswörter“ quasi als „Schattenlemmata“ ergänzt werden könnte? Diese „Schattenlemmata“ bestünden in den verbalen Antworten, die auf die Perlokutionen des Lemmas quasi als signifikante Kookkurrenzen denkbar wären. Ließen sich dann vielleicht zumindest plausible Annahmen über die perlokutionären Potentiale von verbalen Äußerungen anstellen, die für eine historische Quelleninterpretation aufschlussreich sein könnten? Ließe sich dieser Aspekt nicht integrieren in das Verständnis von Sprache als Beziehungskommunikation?20 Für lohnend hielte ich es ebenfalls, an einem anderen Merkmal sprachhistorischer Lexika konzeptionell weiter zu arbeiten. In der Reihung der semanti-

|| 19 Mittlerweile liegt eine Menge historischer Untersuchungen zum Thema der verbalen Ehrkonflikte vor, ohne jedoch das Konzept der verbalen Gewalt systematisch zu diskutieren. Vgl. als eines vieler möglichen Beispiele Kesper-Biermann, Ludwig & Ortmann (2011). 20 Zu diesem Verständnis vgl. Reichmann (2012: 3–8).

52 | Francisca Loetz schen Varianten nehmen Lexika eine Hierarchisierung nach Symptomwerten vor, ohne dass für mich ersichtlich wäre, wie dieser Symptomwert zustande kommt. In der Ausdifferenzierung des Symptomwerts der semantischen Varianten können für mich, die ich mich als Historikerin für die perlokutionäre Dimension einer sprachlichen Formulierung besonders interessiere, jedoch wichtige Informationen liegen. In meiner Arbeit über die Praxis der verbalen Gotteslästerung in Zürich zum Beispiel hätte ich gerne die Frage gelöst, ob bzw. wie bestimmte Flüche, Schwüre oder andere gotteslästerliche Äußerungen ihrem Schweregrad nach zu unterscheiden sind. Aus dem jeweils verhängten Strafmaß der Verurteilten konnte ich keine Rückschlüsse ziehen, denn das Prinzip der Bestrafung nach der Beurteilung des Einzelfalls erlaubte mir keine befriedigende Zuordnung. Das Schweizerische Idiotikon half genauso wenig weiter. Hier wünschte ich mir, dass die Lexikographie Methoden entwickelte, mit denen sie die soziale Wertung von sprachlichen Ausdrücken genauer differenzierte, als sie es mit pauschalisierenden Kategorisierungen wie z. B. mit einem „pejorativer Ausdruck“ tut. Die historische Lexikographie – so mein Fazit – ist für die meisten Historikerinnen und Historiker ein fernes Land, dessen Bewohnerinnen und Bewohner durch ihre entbehrungsreiche Arbeit mit Wörtern vereinzelt nützliche Dienste leisten. Sollten einige meiner Wünsche erfüllt und einige meiner offenen Fragen an die historische Lexikographie gelöst werden, so würden wir Historikerinnen und Historiker wohl weniger fremdeln, denn die Lexikographie dürfte einiges mehr über Sprache zu sagen wissen als wir ohne sie zu verstehen meinen. Über Texte, die von einer anderen Welt zeugen, könnten sich dann Linguistik und Geschichtswissenschaft näher begegnen und in größerer gegenseitigen Vertrautheit mehr voneinander profitieren als bislang.

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Volker Harm

Ist die Sprachlexikographie eine Wissenschaft? Überlegungen aus der Perspektive eines historischen Lexikographen Abstract: Es hat sich eingebürgert, die Sprachlexikographie nicht als Wissenschaft, sondern als „kulturelle“ bzw. „wissenschaftliche Praxis“ zu bestimmen. Die Argumente, auf deren Basis der Lexikographie die Wissenschaftlichkeit abgesprochen wird, erweisen sich bei näherem Hinsehen allerdings als wenig stichhaltig. Daher wird hier der Versuch unternommen, Sprachlexikographie prinzipiell als Wissenschaft zu fassen. Den sprachhistorischen Wörterbüchern kommt bei dieser Neubestimmung eine zentrale Rolle zu. Die Klassifikation der Lexikographie als Wissenschaft zieht auch eine neuerliche Auseinandersetzung mit der Frage nach sich, wie das Verhältnis der Lexikographie zur Sprachwissenschaft, insbesondere zur Lexikologie, beschaffen ist. Keywords: Angewandte Sprachwissenschaft, Lexikographie, Lexikologie, prototypisches Wörterbuch, Theorie, Wissenschaft, Wörterbuch als Gebrauchsgegenstand || Dr. Volker Harm: Deutsches Wörterbuch, Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Geiststraße 10, 37073 Göttingen, [email protected]

1 Der aktuelle Status der Sprachlexikographie Die Frage, ob die Lexikographie eine Wissenschaft sei, ist seit dem 19. Jahrhundert mehrfach diskutiert und meist negativ beantwortet worden: Das Wörterbuch diene allein dem „Bequemlichkeitszwecke“ und habe „in der Wissenschaft überhaupt keine Stätte, es sei denn diejenige, die man im Studierzimmer dem Sopha gönnt“, heißt es bei von der Gabelentz (1891: 128). Auch das Ergebnis der rezenteren Auseinandersetzung mit dieser Frage geht in eine ähnliche Richtung: Die gegenwärtige Sprachlexikographie, so hält H. E. Wiegand fest, „ist keine Wissenschaft [...], keine angewandte Linguistik, kein Teilgebiet der angewandten Linguistik und kein Zweig der Lexikologie“ (Wiegand 1989: 251; vgl. Wiegand 1998: 33). Mit dieser apodiktischen Aussage sind auch mögliche Kom-

56 | Volker Harm promisse und Konzessionen – etwa dahingehend, dass man der Lexikographie wenigstens den Status einer angewandten Wissenschaft zugesteht – ausgeschlossen. Lexikographie ist, so Wiegand weiter, schlicht „eine Praxis, in der ein Gebrauchsgegenstand hergestellt wird“ (ebd.; vgl. auch Wiegand 1998: 37). Von der Sofa-Metapher, die von der Gabelentz geprägt hatte, ist eine solche Bestimmung des Wörterbuchs als Gebrauchsgegenstand nicht weit entfernt. Wenn in diesem Beitrag erneut die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Sprachlexikographie gestellt wird, und zwar hauptsächlich mit Bezug auf die sprachhistorische Lexikographie, so mag dies müßig erscheinen: Wesentliche Argumente sind bereits vorgebracht und diskutiert worden (zuletzt bei Bergenholtz & Gouws 2012 und Wiegand 2013), und zudem ist es für die praktische Arbeit eines historischen Lexikographen und auch für die Qualität seiner Wörterbucharbeit vermutlich völlig unerheblich, ob er seine Tätigkeit als Wissenschaft, als Praxis, als Handwerk, als Gewerbe oder gar als Kunst betrachtet.1 Man könnte diese Frage also mit einigem Recht als bloß „akademische“ abtun. Es gibt allerdings jüngere Entwicklungen in der Lexikographie und im Wissenschaftsbetrieb, die den Lexikographinnen und Lexikographen eine erneute Auseinandersetzung mit der Frage, was ihre Tätigkeit eigentlich sei und ob diese als eine Wissenschaft verstanden werden könne, geradezu aufzwingen. Eine dieser Entwicklungen ist die rasante Zunahme von Online-Wörterbüchern, die kollaborativ erstellt werden, die also nicht von einzeln verantwortlichen Autoren oder Autorenteams, sondern von einer Internet-Gemeinde interessierter und engagierter Laien bzw. Semi-Profis erarbeitet werden (dazu bereits Storrer 1998; vgl. auch Harm 2004: 214 f. und Harm & Kottsieper 2013). In der historischen Lexikographie haben kollaborativ erstellte Wörterbücher noch keine wesentliche Bedeutung gewonnen, in der gegenwartsbezogenen sowie in der zwei- bzw. mehrsprachigen Lexikographie haben diese Produkte aber bereits zu einem tiefgreifenden Umbruch in der Wörterbuchlandschaft geführt, in dessen Gefolge vordem unangetastete Autoritäten wie der „Duden“ oder der „Brockhaus-Wahrig“ vom Markt verschwunden oder doch mindestens in eine bedenkliche Lage geraten sind. Diese Entwicklung und die sich daraus möglicherweise ergebenden Folgen können der sprachhistorischen Lexikographie, auch wenn sie andere institutionelle Rahmenbedingungen hat, nicht gleichgültig sein. || 1 Zu diesen und weiteren Zuschreibungen vgl. Wiegand (1998: 15–63). – Der locus classicus für die Auffassung, historische Lexikographie sei eine Kunst, ist Wolfgang Schadewaldts Äußerung in der Einführung zum Goethe-Wörterbuch: „Goethe-Lexikographie, als die nach Wörtern aufschlüsselnde Darstellung der Sprach-Welt des Dichters, bestimmt sich hier als Kunst, die [...] als ein gestaltendes und nicht lediglich erkennendes Verfahren, in ihren Operationen die Regeln und Prinzipien frei verfolgt“ (GWb 1: 12*; Hervorhebungen im Original).

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Die zweite rezente Entwicklung, die meines Erachtens eine erneute Auseinandersetzung mit dieser Frage erforderlich macht, ist wissenschaftspolitischer Natur: Für neue Wörterbuchvorhaben, zumal historische, wird es zunehmend schwerer, Fördergelder einzuwerben. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass Wörterbücher oftmals lange und schwer kalkulierbare Laufzeiten in Anspruch nehmen, während die Förderinstitutionen verstärkt auf schneller sichtbare Resultate der eingesetzten Mittel pochen. Das Problem ist vor allem, dass auf Seiten der Gutachter und Geldgeber die Forschungsfragen zum Teil nicht mehr verstanden oder nicht mehr als relevant betrachtet werden, die für lexikographische Unternehmungen leitend sind. Wenn die (historische) Sprachlexikographie innerhalb des Wissenschaftsbetriebs gegenwärtig offenbar nur noch bedingt als förderungswürdig gilt, lohnt sich eine Klärung der grundsätzlichen Frage durchaus, ob sie denn überhaupt eine Wissenschaft sei und, wenn ja, wie sich ihre wissenschaftlichen Fragestellungen bestimmen und ins Feld möglicher Nachbardisziplinen einfügen lassen. Die hier aufgeworfene Frage hat freilich mehrere Facetten: Es geht zwar in erster Linie darum, ob Sprachlexikographie als eine Wissenschaft zu definieren ist oder ob eine andere Subkategorisierung sich möglicherweise als angemessener erweist. In der Diskussion um diese Frage kommen indes auch einzelne wissenschaftliche Disziplinen ins Spiel, die am ehesten eine Anschlussstelle für die Lexikographie bilden oder, je nach Auffassung, nicht bilden: Es geht hier somit auch um das Verhältnis der Sprachlexikographie zur Sprachwissenschaft und vor allem zur angewandten Sprachwissenschaft. Nicht zuletzt ist auch der Bezug zur Lexikologie zu thematisieren, welche als die mit dem Wortschatz befasste sprachwissenschaftliche Disziplin eine natürliche, vom gemeinsamen Gegenstand herrührende Allianz mit der Sprachlexikographie bildet.

2 Negative Bestimmungen: Sprachlexikographie als ‚Nicht-Wissenschaft‘ Wenn eine Frage des Typs „Ist ein X ein Y?“ gestellt wird, sind prinzipiell drei Antworten möglich: „Ja“, „Nein“ sowie „unter bestimmten Bedingungen Ja bzw. Nein“. Für die hier gestellte Frage wären die möglichen Antworten demnach „Lexikographie ist eine Wissenschaft“, „Lexikographie ist keine Wissenschaft“, „Lexikographie ist unter bestimmten Bedingungen eine Wissenschaft, unter anderen Bedingungen keine Wissenschaft“. Mit der letzten Antwort ist die Gefahr, eine falsche Behauptung aufzustellen, am geringsten. Antwortet man eindeutig positiv oder negativ, ist das Falsifikationsrisiko dagegen am größten.

58 | Volker Harm Gleichwohl sind starke Hypothesen, d. h. solche Hypothesen, die größere Verallgemeinerungen machen und deshalb auch radikaler sind, die erklärungsmächtigeren und daher auch die wissenschaftlich interessanteren. Trotz des genannten Risikos sollen hier die starken Hypothesen im Mittelpunkt stehen, da sie den jeweils größeren Erkenntnisgewinn und nicht zuletzt auch die lohnendere wissenschaftliche Auseinandersetzung versprechen. Dabei ist zunächst die Hypothese „Lexikographie ist keine Wissenschaft“ zu diskutieren, da für diese, wie erwähnt, bereits viele gute Argumente vorgebracht worden sind. Diese werden im Weiteren einzeln vorgestellt und besprochen. In einem sich daran anschließenden Abschnitt wird dann die Gegenposition ‚Sprachlexikographie ist eine Wissenschaft‘ erörtert. These I: Lexikographie ist keine Wissenschaft, weil Wissenschaft das Ziel hat, Theorien oder Teiltheorien zu entwickeln. Lexikographie entwickelt keine Theorie und auch keine Teiltheorie. Wiegand, der diese Hypothese maßgeblich formuliert hat, räumt zwar ein, dass „ein einheitlicher Wissenschaftsbegriff nicht gegeben“ sei (Wiegand 1989: 248), versucht aber gleichwohl, die Wissenschaftsauffassungen der Neuzeit auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen: Eine menschliche Tätigkeit, die als wissenschaftlich gilt, hat [...] das Ziel, einen Ausschnitt zu einer Theorie, eine Teiltheorie oder gar eine vollständige Theorie zu erarbeiten. [....] Die verschiedenen Wissenschaften lassen sich als Versuche verstehen, über alltägliches Wissen, über Alltagstheorien systematisch hinauszugehen, um zur zusammenhängenden theoretischen Erkenntnis von je bestimmten Weltausschnitten zu gelangen. Die Lexikographie hat mit einem solchen Streben nichts zu tun. (Ebd.)

Die Auseinandersetzung mit dieser Argumentation wird freilich dadurch erschwert, ja unmöglich gemacht, dass sie – auch wenn sie eine Bestimmung von ‚Wissenschaft‘ mit gutem Grund meidet – mit dem Begriff der ‚Theorie‘ operiert und sich damit eines Terminus bedient, der nicht minder schwierig ist als der der Wissenschaft: Ein einheitlicher und unumstrittener Begriff ‚Theorie‘ existiert ebenso wenig wie ein einheitlicher Wissenschaftsbegriff. Darüber wird man bereits durch die oberflächliche Lektüre der einschlägigen Darstellung im Historischen Wörterbuch der Philosophie (HWPh 10: 1128–1154) belehrt. Dieser Übersichtsartikel verdeutlicht aber auch, dass der Begriff der Theorie in der Wissenschaftsphilosophie ganz überwiegend in Bezug auf die Naturwissenschaften angewandt und diskutiert wird. Für die auf sprachliche Hervorbringungen gerichteten Geisteswissenschaften, speziell für die Philologie, ist die Eignung dieses Begriffs nicht ohne Weiteres zu akzeptieren. So hätte man

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durchaus Probleme, klassische Leistungen der Philologie wie eine Textedition oder einen Stellenkommentar als Theorien über ihren jeweiligen Gegenstand zu bestimmen. In den genannten Fällen geht es um das verstehende Einordnen einer einzelnen Gegebenheit in einen Zusammenhang – den Zusammenhang des Textes, der Textüberlieferung, den Zusammenhang mit anderen Texten desselben Autors oder anderer Autoren usw. Wenn ein Philologe eine Edition von Goethes Faust oder einen Kommentar zur Farbenlehre vorlegt, sind jedenfalls weder Ziel noch Ergebnis dieser Arbeit geradewegs als ‚Theorie‘ (des jeweiligen Textes) zu beschreiben.2 Gleichwohl kann man, freilich auf einem sehr niedrigen Niveau, eine Gemeinsamkeit zwischen naturwissenschaftlichem Erklären und geisteswissenschaftlichem Verstehen postulieren: In beiden Fällen geht es um das begriffliche Ordnen von Dingen – im einen Fall eher um das Einordnen in einen Zusammenhang, im anderen eher um ein klassifikatorisches Zuordnen. Das Herstellen von begrifflicher Ordnung ist zwar eine fundamentale kognitive Fähigkeit. Wissenschaft zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass sie von dieser Fähigkeit in wesentlich höherem Maße Gebrauch macht, als im Alltag üblich und notwendig ist. Eine solche Bestimmung reicht zwar kaum aus, um Wissenschaft zu definieren, die ‚Anstrengung des Begriffs‘, die mit dieser klassifikatorischen bzw. kontextualisierenden Leistung verbunden ist, stellt aber sicher ein grundlegendes Kennzeichen von Wissenschaft dar. Zurück zur Sprachlexikographie: Eine über alltägliche Begriffsarbeit weit hinausgehende und daher grundsätzlich als wissenschaftlich zu bezeichnende Ordnungs- und Abstraktionsleistung findet sich hier allenthalben. Indem z. B. der Verfasser eines Bedeutungswörterbuchs eine Bedeutungsangabe formuliert, stellt er eine generalisierende Hypothese über eine unendlich große Zahl von Verwendungen auf, die im Idealfall in einer hinreichenden Zahl von Belegen im entsprechenden Wörterbuchkorpus repräsentiert sind. Insofern kann man durchaus so weit gehen und behaupten, dass der Lexikograph die ‚Theorie‘ einer bestimmten Wortverwendung und damit auch eines sprachlich bestimmten Weltausschnitts entwirft. Nicht nur das angebliche Fehlen jeglicher Form von theoretischem Bemühen wird als Argument für den nicht-wissenschaftlichen Charakter der Lexikographie ins Feld geführt; auch ein anderes wichtiges Kennzeichen von Wissenschaft, nämlich die Hervorbringung neuer Erkenntnisse bzw. das Streben danach, wird der Sprachlexikographie grundsätzlich abgesprochen:

|| 2 Zum Verhältnis Philologie/Lexikographie speziell Reichmann (2012: 24 f.).

60 | Volker Harm These II: Sprachlexikographie bringt keine neuen Erkenntnisse hervor. Da die Schaffung neuer Erkenntnisse ein Kernmerkmal von Wissenschaft darstellt, ist die Sprachlexikographie keine Wissenschaft. Die Ansicht, dass Wörterbucharbeit nicht dem wissenschaftlichen Erkenntniszuwachs diene, hat Landau (2001: 153) pointiert formuliert und vom Gegensatz Theorie vs. Praxis her zu begründen versucht: Lexikographie „is not a theoretical exercise to increase the sum of human knowledge but practical work to put together text that people can understand“. Dies ist zwar zunächst nur eine an überambitionierte Lexikographen gerichtete Warnung vor allzu theorielastiger Beschreibung; mit der Aussage, dass Lexikographie grundsätzlich nicht zur Mehrung des menschlichen Wissens beitrage, ist freilich eine ernstzunehmende Positionierung im Hinblick auf ihre Wissenschaftlichkeit gegeben. Auf viele Wörterbücher trifft Landaus Feststellung ohne jede Einschränkung zu. Für eine Reihe von Wörterbüchern, gerade für die sprachhistorischen, ist sie aber auch eindeutig nicht zutreffend: Wortartikel etwa des FWB oder des 2 DWB bieten schlicht insofern einen wissenschaftlichen Erkenntniszuwachs, als zahlreiche Sachverhalte und Zusammenhänge vorher entweder nicht oder nur unzureichend dargestellt oder gänzlich anders perspektiviert waren. Dass der hier erreichte Erkenntnisfortschritt aber oftmals gar nicht ins Auge fällt, hängt mit der Textsorte ‚Wörterbuch‘ zusammen: Während die üblichen wissenschaftlichen Publikationsformen Aufsatz und Monographie den Erkenntnisfortschritt, den sie glaubhaft machen wollen, explizit darstellen müssen, wenn sie ihren eigenen Anspruch erfüllen, ist in einem Wörterbuchartikel, wenn er denn neue oder differenziertere Einsichten bietet, nur sehr selten ausdrücklich gesagt, dass ein Erkenntniszuwachs oder eine neuartige Perspektivierung vorliegt. Die Gattungsgepflogenheiten des Wissenschaftsbetriebs verstellen hier somit den Blick auf den Beitrag zum Forschungsdiskurs, den Wörterbücher leisten. Um die mangelnde Diskursivität des traditionellen Wörterbuchtextes auszugleichen, hat sich vor allem im Bereich der sprachhistorischen Wörterbücher ansatzweise eine ‚Paralexikographie‘ entwickelt, die in Form von Aufsätzen und Werkstattberichten kommentierend an die Seite der Wortartikel tritt.3 Nun gibt es zugegebenermaßen Wörterbücher (und es sind nicht wenige), die weder nennenswerte Generalisierungs- und Abstraktionsleistungen erken|| 3 Vgl. beispielhaft Reichmann (2014) zum Artikel Minne im FWB oder die Reihe „Aus der Werkstatt des Althochdeutschen Wörterbuchs“, die künftig regelmäßig in der Zeitschrift Sprachwissenschaft erscheinen soll (in Anlehnung an eine Tradition der PBB (Halle)). Die „Tätigkeitsberichte“ aus der Göttinger Arbeitsstelle des 2DWB sind zugänglich unter www.unigoettingen.de/de/publikationen/118939.html (28.04.2016).

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nen lassen noch neue, wissenschaftlich relevante Einsichten zu einem sprachlich verfassten Gegenstand zu bieten haben (Beispiele hierzu gibt Wiegand 1989: 251). Als wissenschaftlich wird man diese Produkte daher beim besten Willen nicht bezeichnen können. Dies führt zu einem weiteren Argument gegen den Wissenschaftscharakter der Sprachlexikographie. These III: Es gibt viele eindeutig nicht-wissenschaftliche Wörterbücher und diese bilden den Prototyp der Kategorie ‚Wörterbuch‘; daher ist die Lexikographie keine Wissenschaft. Dieses Argument wird – zwar ausdrücklich nicht als alleiniges, aber doch als ein Argument unter anderen – von Wiegand (1998: 41) angeführt. Zum Beweis des nicht-wissenschaftlichen Status der Lexikographie wird dabei einerseits auf die große Zahl offensichtlich unwissenschaftlicher Wörterbuchprodukte hingewiesen (vgl. auch Wiegand 1989: 251 f.), andererseits werden stark praxisbezogene Wörterbücher als Prototypen der Kategorie ‚Wörterbuch‘ herausgestellt. So exemplifiziert Wiegand die These, dass bei der Erarbeitung eines Sprachwörterbuchs „[j]eder linguistischen Entscheidung [...] mindestens eine sprachlexikographische vorgeordnet“ sei (Wiegand 2013: 21), anhand eines einsprachigen Lernerwörterbuchs mit Textproduktionsfunktion.4 Für diesen Wörterbuchtyp gilt wohl in der Tat, dass „sich der Sprachlexikograph zuerst am potenziellen Benutzer orientieren muss und erst dann angemessene Entscheidungen linguistischer Natur über den Wörterbuchgegenstand treffen kann (bzw. treffen sollte)“ (ebd.). Für andere Wörterbuchtypen kann aber kaum eine solche Abfolge von Entscheidungsprozessen postuliert werden. Gerade bei sprachhistorischen Wörterbüchern ist eher davon auszugehen, dass die Reihenfolge der genannten Entscheidungsprozesse umgekehrt verläuft, da am Anfang eine linguistische, d. h. wissenschaftliche Entscheidung über den Gegenstand steht und erst in einem zweiten Schritt eine Entscheidung über eine Zielgruppe getroffen wird. Nicht selten findet sich bei historischen Wörterbüchern auch überhaupt keine Aussage zum Kreis potenzieller Benutzer, und auch die Anlage der Wörterbuchkonzepte lässt diesbezüglich auf schon notorische Weise Klarheit vermissen. In der sprachhistorischen Lexikographie bilden adressatenorientierte Aspekte der Wissensvermittlung zusammen mit Aspekten der Organisation, Ermittlung und Überprüfung von Wissensbeständen die Basis der Wörterbucharbeit (Schlaefer

|| 4 Diese Hierarchisierung von Entscheidungsprozessen ist als Gegenposition zu Atkins (1993: 5) formuliert: „[….] a large proportion of the decisions made by the lexicographer are linguistic decisions“; in diesem Sinne auch Atkins & Rundell (2008: 4).

62 | Volker Harm 2009: 76); eine Reihenfolge oder gar Rangfolge in dem Sinne, dass nichtwissenschaftliche Prozesse und Entscheidungen den wissenschaftlichen zeitlich vorangehen oder konzeptionell vorgeordnet sind, ist für sprachhistorische Wörterbücher in dieser Deutlichkeit nicht auszumachen. Damit sind wir freilich wieder bei der Frage, die sich unmittelbar an die Argumentation III anschließt: Von welchem Wörterbuchtyp ausgehend kann auf die ‚Lexikographie an sich‘ geschlossen werden (wenn man eine solche Kategorie überhaupt etablieren will)? Ist das einsprachige Lernerwörterbuch, das Wiegand heranzieht, oder ein sprachhistorisches Wörterbuch wie der Lexer, das FWB oder der Grimm der typischere Vertreter der Kategorie ‚lexikographisches Produkt‘? Von welchem Vertreter ausgehend können die Eigenschaften ‚der‘ Sprachlexikographie am plausibelsten abgeleitet werden? Eine Antwort auf diese Frage kann hier noch nicht gegeben werden, da diese mit der Klärung weiterer Problemkomplexe zusammenhängt. Festzuhalten ist an dieser Stelle jedoch, dass die Entscheidung, von welchem Wörterbuchtyp auf das Ganze der Lexikographie geschlossen werden soll, in irgendeiner Weise zu begründen ist. Den Typ, der zur eigenen Hypothese passt, jeweils ohne weitere Erläuterung absolut zu setzen, ist nicht angemessen. Mit der Frage nach dem Prototyp der Kategorie ‚Lexikographie‘ ist auch die Frage nach den Merkmalen verbunden, die für eine Klassifikation verwendet werden. Klassifikationen von Gegenständen und Prozessen machen häufig von den Zwecken Gebrauch, die ein Gegenstand bzw. Prozess hat. Der Zweck ist jedenfalls ein verhältnismäßig salientes Merkmal, das sich daher gut zur Klassifikation eignet. Das wohl gewichtigste Argument gegen den Status der Lexikographie als Wissenschaft leitet sich von den Zwecken des lexikographischen Prozesses her: These IV: Lexikographie ist eine Praxis, die den Zweck hat, ein Nachschlagewerk herzustellen. Wissenschaft hat grundsätzlich nicht den Zweck, ein Produkt herzustellen. Lexikographie ist daher keine Wissenschaft. Dieses Argument findet sich wiederum bei Wiegand am prononciertesten und präzisesten vorgetragen: Lexikographie ist eine Praxis, die darauf ausgerichtet ist, daß Wörterbücher entstehen, damit eine andere Praxis, nämlich die kulturelle Praxis der Wörterbuchbenutzung ermöglicht wird. [...] Allen lexikographischen Prozessen ist gemeinsam, daß sie die Eigenschaft haben, eine Praxis zu sein, und zwar eine Praxis, in der ein Gebrauchsgegenstand hergestellt wird. (Wiegand 1989: 251)

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Die Grundthese, dass Lexikographie als Praxis, genauer gesagt als kulturelle Praxis, zu bestimmen sei, in der ein Gebrauchsgegenstand, nämlich ein Nachschlagewerk, hergestellt wird, ist bei Wiegand (1998: 39–41; 2013: 17) noch einmal leicht modifiziert worden, ohne dass sich die Stoßrichtung dieser Argumentation wesentlich geändert hätte. Der These IV ist schwer zu widersprechen: Lexikographie ohne Herstellung eines konkreten Gegenstandes ‚Wörterbuch‘, der für den Gebrauch bestimmt ist, erscheint undenkbar; mindestens die Intention, einen solchen Gegenstand zu produzieren, muss vorausgesetzt werden, wenn von Lexikographie die Rede sein soll. In diesem Punkt unterscheidet sich die Lexikographie klar von allen wissenschaftlichen Fächern und Disziplinen: Man könnte (auch gegen den Anschein) schwerlich in ähnlicher Weise behaupten, dass etwa die Literaturwissenschaft die Wissenschaft sei, die auf die Produktion von Büchern und Aufsätzen über Literatur gerichtet ist, oder die Jurisprudenz als diejenige Wissenschaft aufzufassen sei, die Gesetzeskommentare und Rechtsgutachten hervorbringt. Blickt man auf die Ziele, die sich sprachhistorische Wörterbücher setzen, ergibt sich freilich ein differenzierteres Bild: Die Herstellung eines Produkts ist zwar naturgemäß immer auch Ziel eines sprachhistorischen lexikographischen Vorhabens, dieses Produkt ist jedoch hier in der Regel nur Mittel zu einem anderen Zweck, nämlich der Beschreibung des Wortschatzes (vgl. u. a. die programmatischen Äußerungen bei Bulitta 2010: 366; Diehl & Runow 2010: 379; GWb 1: 12*; 2DWB 1: 3). Die Beschreibung eines Gegenstands ist nun ohne Zweifel ein genuin wissenschaftliches Ziel. Mit dem Ziel, ein Produkt für eine bestimmte kulturelle Praxis bereitzustellen, kann eine wissenschaftliche Gegenstandsbeschreibung nur sehr bedingt gleichgesetzt werden. Wenn sprachhistorische Wörterbücher das Ziel haben, einen bestimmten Objektbereich zu beschreiben, dann kann man die sprachhistorische Lexikographie ohne Umschweife als Wissenschaft bezeichnen, da Beschreiben ein legitimes Ziel wissenschaftlichen Arbeitens ist. Es bleibt freilich die in These IV angesprochene Merkwürdigkeit, dass diese Wissenschaft sich offensichtlich nur einer einzigen Darstellungsform bedient, nämlich des Wörterbuchs. Dass dem so ist, ist jedoch schlicht auf den Gegenstand der Beschreibung zurückzuführen: Den Wortschatz zu beschreiben bedeutet im Wesentlichen, die Wörter zu beschreiben, die ihn ausmachen. Diese Aufgabe kann eben herkömmlicherweise nur ein Wörterbuch leisten. Andere Formen der Wortschatzbeschreibung, wie sie in der Lexikologie üblich sind, können nur verhältnismäßig kleine Wortschatzausschnitte betreffen (den ‚Sinnbezirk des Verstandes‘, die ‚Bezeichnungen für den Mistkäfer in der Germania‘ o. Ä.). Aber auf das Verhältnis von Lexikologie und Lexikographie wird weiter unten noch einzugehen sein.

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3 Positive Bestimmung: Sprachlexikographie als Wissenschaft Wenn die sprachhistorische Lexikographie eine Wissenschaft ist, weil sie die wissenschaftliche Beschreibung eines Gegenstandes zum Ziel hat, stellt sich, wie oben angedeutet, die Frage, ob daraus auch geschlossen werden kann, dass die Sprachlexikographie generell eine Wissenschaft ist. Auf einzelne Wörterbücher zur Gegenwartssprache wie z. B. den zehnbändigen Duden oder das WDG mag das noch zutreffen, da auch hier die Beschreibung des Wortschatzes eine wesentliche Rolle spielt. (So heißt es im Vorwort zum WDG gleich zu Beginn: „Das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache hat die Aufgabe, den heutigen deutschen Wortschatz mit seinen Verwendungen darzustellen.“ WDG 1: 4) Aber ob es auch für das einsprachige Lernerwörterbuch gilt, das Wiegand als Beleg für die Nachrangigkeit wissenschaftlicher Entscheidungen in der Lexikographie herangezogen hatte, bleibt fraglich, da dessen Ziele in der Tat eher praktischer Natur sind. Ein Ausweg aus dieser Schwierigkeit könnte darin bestehen, dass man nach einer Kompromissformel sucht. In diese Richtung geht auch Wiegands rezenter Vorschlag, dem zufolge die Sprachlexikographie zwar grundlegend als „kulturelle Praxis“ bestimmt bleibt, für diese jedoch nunmehr zwei Ausprägungen angenommen werden, nämlich eine nicht-wissenschaftliche Sprachlexikographie (oder Unterhaltungslexikographie) sowie eine wissenschaftliche Sprachlexikographie (vgl. Wiegand 2013: 17, 23; ähnlich bereits Wiegand 1998: 41): „In ersterer ist sie [die Sprachlexikographie, V. H.] eine autodidaktisch erlernbare kulturelle Praxis, in letzterer eine für Staat und Gesellschaft wichtigere, eigenständige kulturelle und wissenschaftliche Praxis, welche in ihrer vielschichtigen Gesamtheit nur von akademisch ausgebildetem Personal überschaut und beherrscht werden kann.“ (Wiegand 2013: 17 nach Wiegand 1998: 154; dazu auch Abb. 1) Vorteil dieser Einteilung wäre, dass das mehrfach zitierte einsprachige Lernerwörterbuch sich gemeinsam mit zweisprachigen Lernerwörterbüchern sowie mit Großwörterbüchern wie dem WDG und dem zehnbändigen Duden, aber auch mit den sprachhistorischen Wörterbüchern in einer gemeinsamen Kategorie „wissenschaftliche Praxis“ wiederfände. Diese wäre damit von reinen Unterhaltungsprodukten mit Nachschlagefunktion abgegrenzt. Damit entsteht eine sehr heterogene Gruppe: Besteht nicht z. B. zwischen einem auf ein spezifisches Alltagsproblem, nämlich das Auffinden von adäquaten Übersetzungsäquivalenten zugeschnittenen zweisprachigen Wörterbuch und dem GoetheWörterbuch, das sich die „aufschlüsselnde Darstellung der Sprach-Welt des

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Dichters“ (GWb 1: 12*) zum Ziel setzt, ein nicht zu übersehender Unterschied? Liegt hier gerade hinsichtlich der Wissenschaftlichkeit der angewandten Methoden und Darstellungsformen nicht ein erhebliches Gefälle vor?

Abb. 1: Zweiteilung nach Wiegand (2013: 23)

Die Aufgliederung der Sprachlexikographie in die beiden Unterkategorien wissenschaftliche vs. nicht-wissenschaftliche Lexikographie wirft aber auch andere Fragen auf: Wie verhalten sich die für die Abgrenzung offenbar nicht unwichtigen Begriffe ‚kulturelle Praxis‘ und ‚wissenschaftliche Praxis‘ zueinander? Stehen beide nebeneinander oder ist die wissenschaftliche Praxis nicht doch eher als Unterform einer demgegenüber allgemeineren kulturellen Praxis zu verstehen? Unterscheiden sich beide Spielarten der Lexikographie wirklich primär in der Leichtigkeit bzw. Schwierigkeit ihres jeweiligen Erlernens und Beherrschens? Muss die wissenschaftliche Praxis, genauso wie die Praxis der Unterhaltungslexikographie, nicht auch autodidaktisch erlernt werden, da es doch so gut wie keinen Ausbildungsgang Sprachlexikographie gibt? Schließen Wissenschaftlichkeit und Unterhaltungswert einander aus? Hängt die Relevanz bzw. Irrelevanz der Sprachlexikographie für Staat und Gesellschaft wirklich mit deren Wissenschaftlichkeit zusammen? Und schließlich: Wie unterscheidet man eine wissenschaftliche Praxis überhaupt von einer Wissenschaft? Gibt es eine solche Unterscheidung auch außerhalb der Lexikographie oder ist sie für dieses Feld einmalig? Könnte man also etwa auch zwischen der Biologie selbst und einer wissenschaftlichen Praxis der Biologie – die aber nicht Teil der Wissenschaft Biologie wäre – unterscheiden? Käme jemand auf den Gedanken, die Arbeit der Wissenschaftler und Techniker am CERN, die mindestens so lange an ihrem „Large Hadron Collider“ bauen, wie manches lexikographische Projekt bis zu seinem Abschluss benötigt, von der Physik als solcher zu trennen und als ‚physikalische Praxis‘ zu etikettieren?

66 | Volker Harm Der von Wiegand vorgeschlagene Kompromiss, die Sprachlexikographie wenn nicht als Wissenschaft, so doch in einer ihrer Ausprägungen als kulturelle und wissenschaftliche Praxis zu definieren, wirft daher mehr Fragen auf, als er beantworten kann, und löst das Klassifikationsproblem letztlich nicht: Der Begriff der ‚wissenschaftlichen Praxis‘ weckt den Anschein einer Ad-hoc-Kategorie, und die Bestimmung als ‚kulturelle Praxis‘ ist viel zu unspezifisch – welches Tätigkeitsfeld unserer Welt wäre nicht als ‚kulturelle Praxis‘ zu bestimmen. Hier sei daher ein anderer Weg gegangen, indem die – zugegebenermaßen sehr starke – Hypothese aufgestellt sei, dass Lexikographie prinzipiell eine Wissenschaft ist. Mit dieser These wird die wissenschaftliche Lexikographie somit ins Zentrum der gesamten Kategorie gerückt, sie bildet den Prototyp, von dem ausgehend die anderen Formen der Sprachlexikographie zu bestimmen sind. Diese Sichtweise erscheint mir deshalb als vertretbar, weil der Aspekt der Wortschatzbeschreibung, der für die wissenschaftliche Lexikographie primär ist, in Abstufungen und Facetten in sämtlichen Ausprägungen der Lexikographie präsent ist – alle Wörterbücher beschreiben einen Wortschatz oder Wortschatzausschnitt, lediglich die Qualität der Beschreibung unterscheidet sich. Diese Qualität ist bei wissenschaftlichen Wörterbüchern am höchsten, weil diese ihre Befunde empirisch, d. h. auf der Basis eines Korpus, erheben und in allen Arbeitsschritten soweit methodengeleitet vorgehen, wie es möglich ist. Damit ist die wissenschaftliche Lexikographie grundsätzlich auch Vorbild für andere Wörterbücher. Erwartungsgemäß verläuft der Wissenstransfer im Bereich der Lexikographie wie in jeder anderen Wissenschaft dann auch eher top-down als bottom-up, nämlich von den wissenschaftlichen Wörterbüchern hin zu den Gebrauchswörterbüchern (mögliche Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel). Während die Klassifikationen von Wiegand (1989; 1998; 2013), aber auch von Bergenholtz & Gouws (2012) nach dem Gegensatz von genus proximum/ differentia specifica eine aristotelische Hierarchie konstruieren, an deren Spitze die jeweils allgemeinste Generalisierung steht, wird hier gewissermaßen eine platonische Begriffsbestimmung mit Hilfe eines ‚Urbildes‘ vorgeschlagen, auf welches alle anderen Manifestationen bezogen sind. Lexikographie kommt in diesem Modell deshalb auch nicht so sehr in zwei (oder mehreren) gleichwertigen Ausprägungen, sondern in Abstufungen vor: Mindestens als ‚reine‘ Wissenschaft, die mit der Beschreibung ein Erkenntnisziel verbindet und empirisch sowie methodengeleitet verfährt, sowie als ‚nützliche‘ oder ‚angewandte Wissenschaft‘, die einen wissenschaftlich fundierten Beitrag zur Lösung eines gesellschaftlichen Problems, etwa eines Übersetzungs- oder Verständnisproblems, zu liefern sucht.

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Tab. 1: Stufenmodell der Lexikographie

Wissenschaftl. Lexikographie

Ziele – Beschreiben/ Erkennen – Adressatenbezug – gute Benutzbarkeit

Gegenstände – Standardvarietät – Sprachgeschichtl. Epoche – Substandardvarietät [...]

Verfahren – Korpusbasierung – Methodisches Vorgehen – Überprüfbarkeit als Standard

II. „ProblemlösungsLexikographie“

– Adressatenbezug – gute Benutzbarkeit – Beschreiben/ Erkennen

– Zweitspracherwerb – Normunsicherheiten

– Korpusbasierung – Methodisches Vorgehen – Überprüfbarkeit als wünschenswert

III. „Unterhaltungslexikographie“

– Unterhaltung

– Gegenstände der Alltagskultur [...]

– Korpusbasierung – Methodisches Vorgehen – Überprüfbarkeit als mehr oder weniger wünschenswert

I.

Wenn hier Lexikographie als eine Wissenschaft deklariert wird, die den Wortschatz idealiter empirisch und methodengeleitet beschreibt, so scheint diese Hypothese möglicherweise deshalb anfechtbar, weil die Aufgabe der Beschreibung – anders als etwa beim FWB oder dem WDG – bei einem zweisprachigen Lernerwörterbuch gegenüber den praktischen Zielen offensichtlich deutlich nachrangig ist bzw. gar nicht existiert. Dies ist gleichwohl kein Argument gegen die Wissenschaftlichkeit von Lexikographie an sich: Es würde auch niemand z. B. der Chemie den Status einer Wissenschaft absprechen, nur weil es die Chemie auch als Industriezweig gibt, in dem chemische Produkte hergestellt werden, oder weil man privat in seinem Keller mit einem Chemiebaukasten experimentieren kann. In einer Wissensgesellschaft wie der unseren setzt naturgemäß die wissenschaftliche Ausprägung den Maßstab. Auch dass die Alchemie als Vorläuferin der Chemie keine Wissenschaft im heutigen Sinne ist, kann nicht als Argument gegen die Wissenschaftlichkeit der Chemie vorgebracht werden. Es gibt also zu vermutlich jeder wissenschaftlichen Disziplin anwendungsbezogene und sogar eher hobbyartige Ausprägungen sowie historische Entwicklungsstufen, die als noch vorwissenschaftlich einzuordnen sind. Dies gilt nicht zuletzt auch für die Grammatik bzw. die Grammatikographie: Die Existenz etwa einer Lernergrammatik oder einer Minimalgrammatik in einem

68 | Volker Harm Reiseführer hat meines Wissens noch niemanden dazu veranlasst, die Stellung der Grammatik als wissenschaftliche Disziplin in Frage zu stellen. Dass die Lexikographie im Unterschied zur Grammatik, aber auch zu anderen Geisteswissenschaften meist einen stärkeren Adressatenbezug aufweist, da ein Wörterbuch ja in der Regel für eine Gruppe potenzieller Nutzer erarbeitet wird, stellt nicht notwendigerweise ein Argument gegen ihren Status als Wissenschaft dar. Nützlichkeit und Anwendbarkeit auf der einen und Wissenschaftlichkeit auf der anderen Seite schließen sich ja durchaus nicht aus – theoria cum praxi. Anstelle einer Zweiteilung der Lexikographie in wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Lexikographie bzw. wissenschaftliche und kulturelle Praxis, die Wiegand (2013) vertreten hat, sei hier ein Stufenmodell vorgeschlagen (s. Tab. 1). In diesem Modell sind ausdrücklich auch Übergänge zwischen den hier angesetzten Positionen vorgesehen.

4 Sprachlexikographie und angewandte Sprachwissenschaft Akzeptiert man die These, dass Sprachlexikographie prinzipiell eine Wissenschaft ist, wäre diese naturgemäß am ehesten der Sprachwissenschaft zuzuschlagen. Eine nähere Bestimmung des Verhältnisses von Lexikographie und Sprachwissenschaft ist häufig an der Frage festgemacht worden, ob die Sprachlexikographie „angewandte Sprachwissenschaft“ sei (Carter 1998: 150; Haß 2011: 45; Wiegand 2013). Die grundsätzliche Schwierigkeit, Lexikographie mit Hilfe des Begriffs der angewandten Sprachwissenschaft in das Feld der Linguistik einzuordnen, hat Geeraerts deutlich gemacht: As a linguistic discipline, lexicography has a rather paradoxical nature. On the one hand, almost everybody will agree to classify lexicography as a form of applied linguistics, but on the other hand, it is virtually impossible to give an adequate reply to the question what linguistic theory lexicography might be the application of. (Geeraerts 1987: 1)

Wenn Geeraerts hier voraussetzt, dass eine angewandte Wissenschaft dadurch definiert sei, dass sie eine Theorie (bzw. mehrere Theorien oder Theoriefragmente) anwende, so liegt damit allerdings kaum eine brauchbare Begriffsbestimmung für „angewandte Wissenschaft/angewandte Sprachwissenschaft“ vor. Auch die forensische Phonetik – um ein prototypisches Beispiel zu nennen – definiert sich nicht deshalb als angewandte Wissenschaft, weil sie irgendeine Theorie der Phonation oder der Akustik auf lebenspraktische Fragestellun-

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gen anwendet. Sie ist aber insofern als eine angewandte Disziplin zu beschreiben, als sie sich Daten, Methoden und Ergebnisse der Phonetik vor dem Hintergrund konkreter Lebenszusammenhänge zunutze macht. Mit allen anderen angewandten Wissenschaften hat sie ferner die Eigenschaft gemeinsam, dass sie sich nicht auf eine einzige Bezugsdisziplin, in diesem Fall die Phonetik, festlegen lässt. Sie wendet auch Methoden der Statistik oder der Dialektologie an, etwa wenn es um regionale Aspekte der Sprecheridentifikation geht. Eine gewisse methodische Vielfalt mindert freilich den Status der forensischen Phonetik als Spielart oder Subdisziplin der Phonetik nicht, da sie primär auf Laut und Stimme gerichtet bleibt. Die für die angewandte Linguistik typische Pluralität in der Methodik geht, wie Wiegand (2013: 15) mit Recht hervorhebt, schlicht darauf zurück, dass die lebenspraktischen Probleme, zu deren Lösung die angewandte Linguistik beitragen soll, uns in der Regel nicht den Gefallen tun, sich an die mühsam gezogenen Grenzen zwischen und innerhalb der Disziplinen zu halten.5 Letztlich wird man Geeraerts skeptischer Einschätzung aber in dem Punkt Recht geben müssen, dass für einen Teil der Sprachlexikographie eine Bestimmung als angewandte Linguistik in der Tat nicht in Frage kommt. Die historische Lexikographie ist kaum angemessen beschrieben, wenn man behauptet, hier würde zur Lösung eines praktischen Problems auf ein Arsenal bereits mehr oder weniger vorgefertigter (sprach)wissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisse zurückgegriffen. In diesem Fall scheint es sich eher umgekehrt zu verhalten: Die Sprachlexikographie schafft Grundlagen, auf die sich andere Teildisziplinen der Sprachwissenschaft und Philologie beziehen können. Dies wirft insbesondere die Frage nach dem Verhältnis zwischen Lexikographie und Lexikologie auf: Ist die Lexikographie angewandte Lexikologie (vgl. Hartmann & James 1998: 86)? Ist vielleicht sogar umgekehrt die Lexikologie insofern angewandte Lexikographie, als sie von deren Daten und Ergebnissen intensiv Gebrauch macht?

|| 5 Eine andere Stoßrichtung hat die Argumentation bei Wiegand (1989: 249); hier wird der Lexikographie gerade deshalb der Status als angewandte Sprachwissenschaft abgesprochen, weil sie nicht ausschließlich auf die Sprachwissenschaft Bezug nimmt: „Denn es werden auch Methoden der Statistik angewendet [...], bei Autorenwörterbüchern auch Ergebnisse der Literaturwissenschaft [...], bei fachlichen Sprachwörterbüchern [...] Ergebnisse z. B. der Medizin oder Jurisprudenz.“

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5 Lexikographie und Lexikologie 5.1 Wortforschung als gemeinsame Bezugsdisziplin Dass Lexikologie und Sprachlexikographie eng aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig befruchten, wird von niemandem bestritten (vgl. die Zusammenstellung einschlägiger Zitate bei Wolski 2005: 1821–1826). Das genaue Verhältnis der beiden Disziplinen zueinander bleibt aber kontrovers: Einerseits wird behauptet, dass die Lexikographie „eine Unterdisziplin der Lexikologie“ sei (Henne 1972: 35), andererseits werden Lexikologie und Lexikographie als grundsätzlich zu trennende Bereiche behandelt (Wiegand 1989: 249; Schippan 1992: 53, Bergenholtz & Gouws 2012: 38). Insgesamt erscheint dabei die Lexikographie gegenüber der Lexikologie oftmals als deren „arme Verwandte“ (Lipka 1995: 381), als minderwertiges, weil bloß auf das Praktische gerichtetes Handwerk, und Lexikographen werden zum Teil explizit als Nicht-Linguisten marginalisiert und von den ‚wahren‘ Sprachwissenschaftlern separiert (vgl. die Angaben bei Ostermann 2015: 46). Versteht man sich indes dazu, Sprachlexikographie prinzipiell und trotz nicht-wissenschaftlicher Erscheinungsformen als Wissenschaft zu betrachten, erweist sich das Verhältnis Lexikologie/Lexikographie als wesentlich unproblematischer. Lexikologie und Lexikographie sind dann ohne weiteres als Schwesterdisziplinen zu fassen, die mit unterschiedlichen Methoden und Schwerpunktsetzungen auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten: die Erforschung des Wortschatzes. Beide wären damit als Ausprägung einer übergeordneten wissenschaftlichen Disziplin zu beschreiben, die hier als ‚Wortforschung‘ apostrophiert sei. Der Schwerpunkt der Lexikographie liegt dabei traditionellerweise auf der Erforschung der Einzelwörter, der Schwerpunkt der Lexikologie eher auf der Gliederung des Wortschatzes (vgl. Harm 2015: 9 f.). Insofern kann das, was Geeraerts für das Verhältnis zwischen Lexikographie und lexikalischer Semantik (als einer Subdisziplin der Lexikologie) festgehalten hat, uneingeschränkt auch für das Verhältnis von Lexikographie und Lexikologie in Anspruch genommen werden: „Lexicography, as a large scale description of word meanings, is – at least in principle – a sister science of lexical semantics.“ (Geeraerts 2010: 46)

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Geeraerts gibt freilich unmittelbar im Anschluss an diese Feststellung zu bedenken: „in actual practice, the relationship is not always close” (ebd.).6

Abb. 2: Wortforschung als gemeinsame Bezugsdisziplin

Wenn also in der Theorie beide Disziplinen als Ausprägungen einer übergeordneten Wissenschaft vom Wortschatz verstanden werden können, wie in Abb. 2 dargestellt, bleibt deren Verhältnis in der Praxis – wenn man Geeraerts hierin folgen will – schwierig. Sind Lexikologie und Lexikographie in der Praxis der Wörterbucharbeit einander doch wesentlich fremd?

5.2 Lexikologie und Lexikographie in der Praxis Die oben eingeführte Abgrenzung zwischen Lexikologie und Lexikographie, der zufolge diese Einzelwörter, jene aber einzelwortübergreifende Strukturen zum Gegenstand hat, greift etwas zu kurz. Die Arbeit an einem einzelnen Wortartikel ist nämlich ohne einen gleichzeitigen Blick auf andere Wörter und größere Segmente des Wortschatzes undenkbar. Dies ist etwas ausführlicher zu erläutern, und zwar anhand des Artikels bilden in 2DWB (5: 223–227). Hier ist zunächst auf die syntagmatischen Relationen einzugehen, in denen das Lemma steht. Um etwa die Bedeutung des Wortes bilden in den folgenden Belegexzerpten überhaupt erfassen und beschreiben zu können, ist ein Blick auf dessen Kollokationspartner im Satz notwendig, d. h. auf die Besetzung der Argumentstellen wie in (1) sowie auf das Vorkommen von Synonymen und Antonymen im || 6 Ein verbindendes Element will Geeraerts (2010: 46) dann doch in der Korpusbezogenheit beider Disziplinen erkennen. Das bleibt freilich zu unspezifisch, da zum einen auch andere sprachwissenschaftliche Teilfächer (etwa die Grammatik und die Pragmatik) zunehmend korpusbasiert arbeiten und zum anderen gerade für die Lexikologie Korpusbasierung möglicherweise weniger zentral ist als für die Lexikographie.

72 | Volker Harm engeren Umfeld wie in (2) oder auf die entsprechende Bezugsgröße der Partizipialform in (3) (hier alle zitiert nach 2DWB 5: 223–227). (1) hs. 15. jh. do sach er einen schonen sarck, .. gebildet mit fogelin (Lancelot) (2) 1455/70 er hat vil kostlich ducher thun sticken, darin vermalet und gebildet .., wie er mit den rittern gefochten hette (Pontus) (3) 1833 aus wachs gebildete glieder (Heine)

Diese syntagmatischen Verfahren ermöglichen eine Monosemierung der entsprechenden Verwendungen des Verbs, im Fall von (1) als ‚verzieren‘, von (2) als ‚bildlich darstellen‘ und von (3) als ‚formen‘. Neben den syntagmatischen Beziehungen eines Wortes spielen natürlich auch die paradigmatischen Relationen eine wichtige Rolle für den Ansatz der Bedeutungspositionen. Mit den angesprochenen Wortkombinationen im Text sind hier bereits Hinweise gegeben: Die Kombination vermalet und gebildet in dem Beleg (2) zeigt, dass bilden in dieser Verwendung offenbar demselben Wortfeld wie vermalen angehört. Die Bedeutungen eines Wortes lassen sich folglich nur dadurch überhaupt identifizieren, dass man sie mit anderen, inhaltlich vergleichbaren Wörtern kontrastiert. Wer bilden semantisch auffächern will, muss somit jede einzelne seiner Verwendungen in Beziehung zu ihren jeweiligen Wortfeldern setzen: In (1) ist bilden den Ornativa zuzuordnen, in (2) eher den objekteffizierenden Verben (Herstellungsverben), und in (3) korreliert es mit Verben, die eine Gestaltung, Formung von etwas Bestehendem bezeichnen (objektaffizierenden Verben). Nicht zuletzt ist die Bezugnahme auf andere Wörter des Feldes auch bei der Formulierung der Bedeutungsangaben unentbehrlich, da sonst schlicht keine sprachlichen Beschreibungsmittel zur Verfügung stünden. Neben den Wortfeldern, in die ein Lexem einzubetten ist, sind natürlich auch die jeweiligen Wortfamilien zu berücksichtigen. So ist für bilden in jedem Fall die Ableitungsbasis Bild relevant. Das Wissen um diesen Zusammenhang ist überaus hilfreich, da das Substantiv in alt- und mittelhochdeutscher Zeit auch ‚Vorbild, Beispiel‘ bedeutet. Dies macht manchen schwierigen Beleg des Verbs überhaupt erst verständlich, so z. B. den im Mittelhochdeutschen belegten Gebrauch ‚jemandem nacheifern, jemanden als Vorbild imitieren‘ (2DWB 5: 223). Die Analyse eines Einzelworts ist folglich ohne die Analyse des entsprechenden Wortschatzausschnitts gar nicht denkbar, da sich die einzelnen Wörter nie aus sich selbst erklären, sondern nur im Zusammenhang mit anderen Wörtern überhaupt verständlich sind. In der täglichen Arbeit des Lexikographen kommt somit auf ganz elementare Weise die Grundeinsicht der modernen, we-

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sentlich vom Strukturalismus geprägten Lexikologie zum Tragen, dass der Wortschatz nicht bloß eine Ansammlung von Einzelfällen, sondern ein System oder doch ein in sich strukturiertes Ganzes ist, in dem die Erkenntnis des Einzelnen nicht ohne die Erkenntnis größerer Zusammenhänge möglich ist. Insofern ist der Lexikograph immer auch praktizierender Lexikologe – auch wenn er sich dessen nicht unbedingt bewusst sein muss.

6 Ausblick Eine Allianz zwischen Lexikologie und Lexikographie besteht somit nicht nur in der Theorie, sondern durchaus auch in der Praxis der Wörterbucharbeit. Wenn das Verhältnis der beiden Spielarten der Wortforschung bereits quasi von Natur aus sehr eng ist, fragt man sich, weshalb dieses in den Sprachwörterbüchern nicht wesentlich sichtbarer gemacht wird. Viele Beobachter glauben jedenfalls in einer unzureichenden Berücksichtigung der lexikologischen Perspektive ein klares Manko der Sprachwörterbücher zu erkennen: „[...] es wäre im Sinne eines nicht zu kleinen Benutzerkreises, wenn Lexikographen/Lexikographinnen mehr von den strukturellen Ergebnissen der Lexikologie mit in ihre immer verdienstvollen Wörterbuchbeschreibungen übernehmen würden.“ (Lutzeier 1995: 5) Das Erstellen von einzelwortbezogenen Wörterbuchartikeln allein, auch wenn in diese in der oben geschilderten Weise unterschwellig stets auch lexikologisches Wissen um Wortschatzstrukturen einfließt, wird damit als unzulänglich bewertet. In Anknüpfung an die eingangs angesprochenen aktuellen Entwicklungen, welche den Status der Lexikographie als ernstzunehmende und förderungswürdige Disziplin zunehmend unsicher erscheinen lassen, gilt also auch hier, dass die Forschungsfragen, die eine einzelwortorientierte Lexikographie verfolgt, nicht mehr verstanden, ihre einzelwortorientierten Ergebnisse nicht mehr als besondere Leistung gewürdigt werden, auch wenn sie von Natur aus stets auf einen größeren, allerdings nicht explizit gemachten Wortschatzzusammenhang ausgerichtet sind. Dies gilt es in der Tat zu ändern, und in rezenteren sprachhistorischen Wörterbuchvorhaben findet sich tatsächlich genau die eingeforderte „Überwindung des ‚Einzelworthorizonts‘“ (Haß 2011: 54). Als Pionierleistung einer lexikologisch ausgerichteten Lexikographie, die auch gegenwärtig noch unerreicht bleibt, kann hier der Verbthesaurus von Ballmer & Brennenstuhl (1986) genannt werden, der den grundlegenden Verbwortschatz des Deutschen auf methodisch abgesicherte Weise gliedert und nach Form und Funktion analysiert. Eine entwickelte Wortschatzperspektive haben aber auch einzelne historische Wörter-

74 | Volker Harm bücher, hier allen voran das FWB, das mit seinen systematisch gebotenen syntagmatischen und paradigmatischen Angabetypen die jeweiligen Einzelwortartikel deutlich transzendiert. Durch den Einsatz des Computers in der Lexikographie werden solche Vernetzungen künftig auch technisch leichter darzustellen sein. Lexikologie und Lexikographie können dann mehr und mehr miteinander verschmelzen. Kritische Fragen nach der Wissenschaftlichkeit und dem wissenschaftlichen Wert einer solchen lexikologischen Lexikographie oder lexikographischen Lexikologie werden sich dann kaum mehr stellen. Mit der gegenwärtig festzustellenden Umorientierung der Lexikographie von einer bloß summierenden hin zu einer strukturierenden Beschreibung des Wortschatzes sichert die Lexikographie ihre Zukunft als wissenschaftliche Disziplin.

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Anja Lobenstein-Reichmann

Historischer Wortschatz: Text- und Autorenwörterbücher Abstract: Autoren- und Textwörterbücher werden in der modernen wissenschaftlichen Lexikographie zu Unrecht stiefmütterlich behandelt. Dies ist insofern erstaunlich, als gerade mit ihrer Erarbeitung eine Möglichkeit vergeben wird, situations-, kontext-, beziehungs- und handlungssensitiv das Sprechen und den Sprachgebrauch einer Zeit zu dokumentieren. Keywords: Historische Lexikographie, Text- und Autorenlexikographie

|| Prof. Dr. Anja Lobenstein-Reichmann: Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Geiststraße 10, 37073 Göttingen

1 Vorbemerkungen „La mort de l’auteur“ titelte Roland Barthes 1968 (Barthes 2000) einen Artikel, in dem er, Julia Kristevas Konzept der universalen Intertextualität aller Texte (Kristeva 1967) aufgreifend, nicht nur den individuellen Autor als Person, sondern auch die Diskussion um die Rolle des Autors bei der Interpretation von Texten zu einem polemisch-programmatischen Ende zu bringen hoffte.1 Wissenschafts- und literaturgeschichtlich haben der Begriff ‚Autor‘ sowie die Wortbedeutung Autor2 einen langen Weg hinter sich. Erwähnt sei nur die Überhöhung während der Genieästhetik des Sturm und Drangs und der Romantik (vgl. Schmidt 2004), in der die individuelle Künstlerperson als wirkmächtiges Subjekt und deren Texte als einzigartige, nur von diesem einen, dem außergewöhnlich schöpferischen Menschen erbringbare Leistungen betrachtet wurden. Dieses Feiern der individuellen Schaffenskraft erfuhr im 19. und 20. Jahrhundert seine ideologische Indienstnahme, die bis hin zur Fiktion eines ‚Gentilgenies‘ reichte. Das einzelne Werk war dann nicht mehr individueller Verdienst einer

|| 1 Obwohl Roland Barthes nicht genannt wird, so ist dieser dennoch Stichwortgeber für Michel Foucault (1969/1994). 2 Hinter dieser Doppelung steht die Frage, ob ‚Autor‘/Autor eine Größe/Entität der Logik ist oder eine semantische (einzelsprachliche) Größe/Identität.

78 | Anja Lobenstein-Reichmann isoliert existierenden singulären Persönlichkeit, es wurde vielmehr als Ausdruck einer überindividuellen Größe wie einer Nation oder einer „Rasse“ angesehen (vgl. dazu die Ausführungen am Beispiel Houston Stewart Chamberlains von Lobenstein-Reichmann 2008: 140). Die nationalistische oder im schlimmsten Fall auch rassistische Einbettung in das Gentilcharisma einer Gemeinschaft gab das im Autor wirksam werdende und gipfelnde Gentilgenie vor und nicht mehr das selbstwirksame große Individuum im allgemeineren Sinne. Im Hinblick auf die nationalsozialistischen Folgen einer solchen Autorkonzeption verwundert es daher wenig, dass sowohl der selbstwirksame als auch der gentilistisch handlangernde Autor-Gott (le „Auteur-Dieu“) ebenso wie der Gott Nietzsches, der ja sozusagen als Generalautor der Menschheitsgeschichte gilt, für tot erklärt wurden. An seine Stelle trat nicht zuletzt der Text als „Gewebe von Zitaten“, zusammengesetzt aus „vielfältigen Schriften“, „die verschiedenen Kulturen entstammen und miteinander in Dialog treten, sich parodieren, einander in Frage stellen“ (Barthes 2000: 190). Diese, einer eher pluralistischen Ideologie anhängende Fokusierung auf den Text und damit auf das geschriebene, überlieferte Wort und seine Funktionen ist vor allem auch eine Umperspektivierung von der Einstimmigkeit zur Vielstimmigkeit, vom Monolog zum Dialog. Was als Intersubjektivitätstheorie Einzug in die Philosophie bzw. Psychologie genommen hat, wird literaturwissenschaftlich und textlinguistisch zur Intertextualitätsmaxime erhoben, bei der Texte im idealen Falle das Ergebnis reziproken und transformierenden Zusammenwirkens von Lesern, Text und Schreibern, kurz vergangener und gegenwärtiger Gespräche sind.3 Im extremsten Fall werden sie aber nur noch als Zitate, wenn nicht sogar als Plagiate und damit kaum weiterentwickelte Fortführung des bereits vorher Gesagten betrachtet und entsprechend bewertet. Dieses Kippen vom schöpferisch-wirkmächtigen Einzel-, geradezu Übermenschen zum, ebenfalls etwas provokativ ausgedrückt: unschöpferischen Diskurswiederkäuer kann schon deshalb nicht zufriedenstellen, weil es mehr ideologisches Programm als alltags- und wissenschaftshermeneutische Realität ist. Es verwundert daher kaum, dass in den letzten Jahren immer wieder von der „Rückkehr des Autors“ die Rede ist, so vor allem auch schon im Titel eines Sammelbandes aus dem Jahr 1999 (Jannidis et al. 1999). Dessen Herausgeber zeigen in ihrer programmatischen Einleitung, wie wichtig eine neue Reflexion der Autorenrolle bei der Interpretation von Texten, der zeittypischen Autorkonzeptionen und der damit eng verbundenen Phänomene Inspiration, Kompetenz,

|| 3 Vgl. Kristeva (1967: 438–465; 1972: 345–375); dies gilt dann auch für Identitäten, vgl. Staemmler (2015).

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Autorität, Individualität, Stil, Intention, Copyright ist (ebd.: 4–7). Sprachkritisch möchte man noch die auktoriale Verantwortung im Allgemeinen und die kommunikative Regresspflicht im Speziellen hinzufügen. Als Gegenstück zum Copyright gebührt diesen beiden Autoraspekten im Zeitalter des anonymen und unlektorierten Internets und der dort üblich gewordenen z. T. anonym verfassten „Shitstorm“-Attacken besondere Beachtung. Der anonyme Autor, letztlich eine contradictio in adiecto, kann für das von ihm Gesagte und Gemeinte weder in einem ruhmreichen noch in einem kritischen Sinne beim Wort genommen werden. Zentrales Differenzkriterium der jeweiligen Autorenkonzeptionen ist die bedeutungskonstitutive Macht, die einem Autor, also einem Individuum, in den verschiedenen Nuancierungen des Begriffs/der Wortbedeutung zugestanden oder aberkannt wird (Jannidis et al. 1999: 19). Ähnliches gilt in entsprechender Weise für die von Autoren verfassten, im Dialog mit anderen konstituierten Texte. Die extensionale Zuschreibungs- und Handlungsdimension des Adjektivkompositums bedeutungskonstitutiv kann, so scheint mir zumindest, dabei recht weit gefasst werden. Sie reicht vom Semantisieren von Einzelwörtern bis zum Semantisieren von Kultur als zu konzipierendem und sich wandelndem Text (Geertz 1995). Um die aktiven Parameter im Vorgetragenen zu stärken, müsste das Konzept ‚-konstitutiv‘ allerdings pragmatisch verdeutlichend um das Bestimmungswort handlungs- erweitert werden. Im Sinne der Deontik von Fritz Hermanns (1995) ist die Handlungskomponente nämlich bereits jedem Semantisieren inhärent, was die Wortbildung Semantisieren als prozessuales Handlungsphänomen ja schon suggeriert. Bedeutungskonstitutiv ist daher im Weiteren auch immer als handlungskonstitutiv zu verstehen.

2 Die lexikographische Landschaft: Autorenwörterbücher und Textwörterbücher Warum diese Vorbemerkungen? Der Tod des Autors, der für die Literaturwissenschaft nur programmatisch ausgerufen worden war, hat in der Lexikographie in gewisser Weise tatsächlich stattgefunden. Aber ist auch hier der Text an seine Stelle getreten? Lexikographie hat die genuine Aufgabe, Bedeutungskonstitutionen zu dokumentieren, zu (re)semantisieren und nicht zuletzt auch in ihrem geschichtlichen Kontext zu (re)pragmatisieren. Erarbeitet man ein Autorenwörterbuch, so hat man als Korpusgrundlage ausschließlich die Schriften eines einzelnen Individuums, das gesellschaftlich und kulturgeschichtlich als besonders und damit als lexikographiewürdig erachtet wird. Geht man textlexikogra-

80 | Anja Lobenstein-Reichmann phisch vor, so erarbeitet man seine Artikel entweder aus einem Einzeltext eines Autors oder aus mehreren Einzeltexten, die (wie im Wörterbuch der Göttinger Frauenlob-Ausgabe) durchaus von einem einzigen Autor stammen können, in der Regel aber aus Einzeltexten eines oder mehrerer Autoren mit einem unter Aspekten ähnlichen bis gemeinsamen Handlungsgegenstand (Deutsches Rechtswörterbuch). Ein Textwörterbuch entspräche dann vielleicht am ehesten demjenigen, was man als zitier- und wohl auch zitatdichte Intertextualität direkt an einem Autor wahrnehmen könnte, ohne sofort diskurslexikographisch argumentieren zu wollen. Autoren- und Textlexikographie sind daher ähnlich zu behandeln. Sie bieten die etwas unterschätzte Möglichkeit situations-, kontext-, beziehungs- und handlungssensitiv am Sprachgebrauch einer Zeit zu arbeiten. Man verfasst beide nicht nur, um individual- oder textspezifische Details von ihrer Gestaltseite her zu dokumentieren oder um Interpretationsschwierigkeiten durchzudeklinieren, sondern man verfasst sie, um ihre bedeutungskonstitutive Leistung, verstanden als Einheit von soziokognitiver und soziopragmatischer Tätigkeit, herauszuarbeiten und um diese Leistung in die Gegenwart des Lexikographen zu vermitteln. Einzeltexte, Textgruppen, Texttraditionen wie Einzelautoren stellen die Lexikographie also historiolinguistisch (begriffs-, ideologie- und kulturgeschichtlich), lexiktheoretisch und kulturpädagogisch vor vergleichbare Aufgaben. Lexikographietheoretisch wird deutlich, dass je nach Autor- und Textkonzeption (bzw. je nach ausgewählter Konzeption von Textzusammenhängen) entsprechend unterschiedliche Wörterbuchkonzeptionen und -realisierungen erforderlich sind. Legt man ein genieästhetisches Modell zugrunde, wäre es absolut unabdingbar, zum Beispiel ein Goethewörterbuch zu verfassen, um die bedeutungskonstitutive Wirksamkeit des Autors Goethe als historisch einzigartiges Genie am Beispiel seiner ebenso einzigartigen Texte zu beschreiben. Das alte Konzept von den ‚Grund- und Wesenswörtern‘ Goethes kam dieser Auffassung recht nahe. Bezogen auf ein irgendwie gefasstes Gentilgenie müsste man in einer speziell dazu ausformulierten lexikographischen Konzeption zeigen, wie sehr dieser Einzelautor den Geist seiner Gemeinschaft, das Wesen seiner Sprache in besonderer Weise zum genialen Ausdruck, zur unverkennbaren literarisch-poetischen Hochgestalt, gar zum kulturellen Höhepunkt brachte. Auf die rechtskonservative Spitze getrieben, hieße das, einen Autor, wie z. B. Goethe oder Luther, so zu beschreiben, als vertrete er gleichsam als Deutschester aller Deutschen die diesen zugeschriebenen Qualitäten in ihrer unbefleckten Reinheit. Doch ein solches Wörterbuch wurde zum Glück nie wirklich konzipiert. Vergleichbares wäre zu herausragenden Textwelten zu sagen. Obwohl im Verfassen von Autoren- und Textwörterbüchern große Chancen liegen, gibt es in der deutschen Lexikographielandschaft außer dem Goethe-

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Wörterbuch nur sehr wenige. Warum hat man Immanuel Kant, Friedrich Schiller, Friedrich Nietzsche oder Martin Luther nicht in vergleichbarer Weise wie Goethe behandelt? Freilich wäre dazu ein historisch einigermaßen haltbares Konzept über die Entität ‚große Persönlichkeit‘ zu entwickeln; außerdem wäre ein ausführbarer Wörterbuchtyp zu entwerfen, der die Persönlichkeitsqualitäten des ausgewählten Autors bis in jede einzelne Informationsposition hin zu beschreiben ermöglicht. Es ist offensichtlich, dass ein solches Vorhaben nur ein Auswahlwörterbuch sein könnte und dass es als Differenzwörterbuch mit der Differenzdimension ‚individuell‘ zu ‚überindividuell/allgemein‘ zu realisieren wäre.4 Legte man im Unterschied zu den gerade traditionell diskutierten Möglichkeiten der Autorenlexikographie ein konstruktivistisch oder dekonstruktivistisch begründetes Modell zugrunde, wären Autorenwörterbücher entweder gänzlich überflüssig, da kein Einzelner, und sei er noch so bedeutend, für sich allein bedeutungskonstitutiv wirken kann. Der Autor wäre ja nur eine von vielen Stimmen, die das längst Gesprochene oder gar Sprechbare zeitspezifisch aushandelt und weiterträgt, er wäre höchstens als namentliche Verknüpfungsstelle von Zitaten zu betrachten. Oder man nutzt genau dieses Phänomen und macht es zur Grundlage der Konzeption. Autoren- und Textwörterbücher bieten hier ihr hohes kulturgeschichtliches Potential an. Während im Diskurs in der Regel die Vielstimmigkeit die Einzelstimme überlagert, so dass sie in ihrer auktorialen Einzigartigkeit wie in ihrer sozialen Verankerung und Verantwortung verloren geht, bliebe sie im Autorenund Textwörterbuch erhalten. Im Unterschied z. B. auch zu Sprachstadienwörterbüchern mit ihren notwendigen Abstraktions- und Typisierungsverfahren sind sie außerdem der Sprachrealität des historischen Sprechens (der Parole) am nächsten, da sie den situations- und kulturspezifisch verortbaren Anteil eines Individuums am bedeutungskonstitutiven Dialog einer Zeit dokumentieren. Versteht man einen Autor und sein Textwirken als intertextuellen Schnittund Kristallisationspunkt einer durch ihn vertretenen Vielstimmigkeit, so müsste man eine Konzeption entwickeln, in der seine Stimme idealiter auf der Matrix seiner soziokommunikativen Kontexte differenz- und zitatlexikographisch zugleich beschrieben wird. Es müsste prinzipiell komparatistisch angelegt sein, im Vergleich zu greifbaren Stimmen der eigenen Zeitgenossen, aber auch derjenigen vergangener Epochen sowie anderer Sprachen. Ein Beispiel für das Darstellen des Zitathaften wurde in dem hier vorgelegten Artikel in einer Fußnote ge-

|| 4 Zu den wenigen Ausnahmen gehören u. a. Blümm (2012) zu Günter Grass; Tauber (1983) zu Hans Sachs oder Schieb (1970) zu Heinric van Veldeke, Eneide.

82 | Anja Lobenstein-Reichmann liefert: Man nimmt an, dass Michel Foucault mit seinen Formulierungen zum Tod des Autors in der Tradition Roland Barthes und Julia Kristevas stand (vgl. Anm. 1). Ihn daher als originär und originell anzusehen, wäre in einem doppelten Sinne problematisch: Erstens, weil das Fortdenken philosophischer Gedanken im Dialog mit dem Gedachten anderer stattfindet und bei Foucault eben auch so stattgefunden hat. Zweitens, weil es seiner eigenen Programmatik des Diskurses geradezu widerspräche. Zum Komparativen mit anderen Sprachen werde ich später ein eigenes Beispiel einführen. Betrachtet man die lexikographische Landschaft zum Deutschen unter ihren konzeptionellen Vorgaben, so wird schnell klar, dass die von mir nur angedachten theoretischen und methodologischen Differenzierungen nur sehr selten reflektiert, die letzteren gar nicht realisiert worden sind. Es gibt zwar eine Reihe von Autoren- und Textwörterbüchern, besonders für die älteren Sprachstufen des Deutschen, doch haben diese z. T. nur den Zuschnitt von bloßen Glossaren zu ihren bestimmten Textausgaben. Oft folgen sie unreflektiert einer einfachen, meist realistisch-isolationistischen Bedeutungsauffassung, arbeiten mit hoch abstrakten synonymischen (systematisch horizontverschmelzenden) Erläuterungen und haben teils keine, teils nur knapp zugeschnittene, teils auch umfängliche Belegteile. Mit Vorliebe bieten sie einzelwortbezogene graphische und morphologische Informationen (vgl. dazu Reichmann 2012: 149). Eine lexiktheoretische Konzeption für Autoren- bzw. Textwörterbücher in dem Sinne, dass der Wortschatz als konstitutiver Teil von Textinhalten in Texttraditionen oder Diskursen verstanden würde, in denen man Sinn-/Bedeutungskonstitute bildet und damit sprachlich sinn- oder bedeutungsstiftend handelt bzw. umgekehrt: in denen man handelt und dabei Sinnkonstitute bildet,5 ist nicht erkennbar.6 Dementsprechend fehlt denn auch jede Möglichkeit, aus der Masse vor allem von Glossaren auch nur relativ einheitlich gesteuerte Beschreibungsmuster abzuleiten, es sei denn, man sehe in den genannten Kennzeichen Hilfen für das Verständnis des jeweils zugrunde gelegten Textes.

|| 5 Diese Aussage soll nur deutlich machen, dass die Reihenfolge von Kognition und Handeln beim Sprechen kaum als Problem gesehen wird: Was ist zuerst, etwa die Kognition, und was folgt daraus, etwa die Handlung? Oder ist das Handeln zuerst und die Kognition die Folge? Bei dieser Frage prallen zwei Menschenbilder aufeinander, das rationalistische und das pragmatische. Wenn man den Menschen als ens rationale sieht, dann wäre die Kognition primär; nimmt man den sogenannten pragmatic turn ernst, müsste das Handeln als gleichzeitig, wenn nicht gar als primär angesetzt werden. 6 Bemühungen wie die von Cornelia Schmitz-Berning zum Vokabular des Nationalsozialismus (Schmitz-Berning 1998) sind die Ausnahme, können metalexikographisch aber auch kritisch reflektiert werden; vgl. dazu Lobenstein-Reichmann (2002: 166–170).

Historischer Wortschatz: Text- und Autorenwörterbücher | 83

Hinzu kommt, dass für die sogenannten sprachnationalen, in einem breiteren Rezeptionsinteresse liegenden Texte oder Texttraditionen kaum lexikographiegeschichtlich relevante, über Versuche hinausgehende abgeschlossene lexikographische Werke vorliegen.7 Als eine der Ausnahmen in diesem Zusammenhang könnte allerdings das Deutsche Rechtswörterbuch (DRW) genannt werden: Es beruht auf einem Korpus, das im Kern aus den rechtsrelevanten Traditionen des Deutschen in ihren westgermanischen Zusammenhängen besteht, allerdings auch auf verwandte, z. B. wirtschaftsgeschichtliche, sowie auf außerrechtliche, z. B. literarische, Traditionen zugreift, falls diese Ausdrücke jedenfalls einen als rechtsrelevant interpretierten Gebrauch haben.8 Entsprechendes gilt für das Autorenwörterbuch, seine lexiktheoretische Konzeption, deren Realisierung und mögliche Beispiele. Dem hier zu erwartenden Einwand, es gäbe doch das Goethe-Wörterbuch und das Luther-Wörterbuch, kann entgegengehalten werden, dass Ersteres qualitativ eine absolute Ausnahme in der Wörterbuchlandschaft bildet und letztlich einem genieästhetischen Ideal verpflichtet bleibt, dass Letzteres dagegen niemals zu einem finanziell abgesicherten Unternehmen wurde und auch keine in der Wissenschaft beachtete Konzeption entwickelt hat. Das Goethe-Wörterbuch steht allerdings vor schwerwiegenden Auswahl-, Umfangs-, Organisations-, Zeit- und Finanzierungsproblemen, vor allem aber vor der Situation, dass selbst der hauptsächlich damit angesprochene literaturwissenschaftliche Leserkreis die Rezeption weitgehend verweigert. Das Luther-Wörterbuch wiederum, bis zum Lemma Hals (publiziert 1872) aus der Feder seines Begründers Philipp Dietz, seit 1993 fortgeführt durch Gustav und Renate Bebermeyer (2015 bis kumpan), krankt nicht nur an seiner lexikographischen Konzeptionslosigkeit, sondern auch an seiner teleologischen Ausrichtung, in der Luther zum „Former“ der unterstellter Weise zuvor nicht kommunikationsfähigen deutschen Schriftsprache stilisiert wird. Auch hier ist der Genieaspekt wieder programmatisch. So lautet der Werbetext des Verlages: 9 Das Hauptanliegen des Wörterbuchs ist es, den Reifungsprozess der neuhochdeutschen Sprache als Schriftsprache, an dem Luther maßgeblich beteiligt war, darzustellen. Es gibt Auskunft über Bedeutung, Funktion und Aussageumfeld des von Luther genutzten Begriffs und vermittelt so eine Vorstellung von der Art und Weise, in der Luther die Sprache

|| 7 Zu diesem gesamten Problemkomplex vgl. Reichmann (1984); Wiegand (1990). 8 Dieser breite Zugriff macht das DRW in Teilen zu einem Parallelwerk zum Deutschen Wörterbuch (DWB) von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Zu weiteren Ausnahmen vgl. Reichmann (1990). 9 http://www.olms.de/search/Detail.aspx?pr=2008645 (26.09.2015).

84 | Anja Lobenstein-Reichmann zum kommunikationsfähigen Instrumentarium formt, mit dem er den religionsmündigen Laien ansprechen und damit dem reformatorischen Anliegen äußerste Wirksamkeit verleihen kann.

Statt also den Wortschatz des Reformators als dessen ureigenste Sinn- und Handlungswelt aus synchron differenzlexikographischer Sicht im Unterschied zum allgemeinen Frühneuhochdeutschen und zu dessen jeweiligen Sinnwelten zu beschreiben, in denen er ja auch gewirkt hat, wird er an der neuhochdeutschen Lexik gemessen, genauer gesagt, an deren Beschreibung im Deutschen Wörterbuch (DWB). Mein Fazit zur Text- und Autorenlexikographie lautet daher zusammengefasst: Wir haben keine Wörterbücher zur Artusepik oder zur Minnelyrik des Mittelalters, keine Wörterbücher zur Dichtersprache des Barock, zur deutschen Klassik, zum Wirtschaftsliberalismus des 19. Jahrhunderts oder zum Ideologiewortschatz des späteren 19. und 20. Jahrhunderts (Lobenstein-Reichmann 2008); wir verfügen auch nicht über handhabbare Konzeptionen zu ihrer Realisierung (vgl. aber Reichmann 1990) und erst recht nicht über vorbildhafte Verwirklichungen. Für die Autorenlexikographie sei formuliert: Wir haben keine wissenschaftlichen Wörterbücher zu Hartmann von Aue, zu Martin Luther, zu Christian Wolff oder zu Karl Marx und noch weniger diesbezügliche Konzepte, in denen die programmatischen Prämissen, wie sie hier vorgetragen wurden, reflektiert werden.10 Da die konzeptionellen Probleme des Text- und des Autorenwörterbuches ähnlicher Natur sind, werde ich das Autorenwörterbuch im Folgenden zwar nicht unbeachtet lassen, im Wesentlichen aber am Textwörterbuch als einem auch für die Autorenlexikographie relevanten Beispiel argumentieren, in dem auch das Zitathafte am besten transparent gemacht werden kann. Dabei werde ich zunächst einige theoretische Aussagen vorausschicken, danach zwei Projektskizzen vorführen, um mein Anliegen zu veranschaulichen. Der theoretische Teil schließt an das Freiburger Konzept textlicher Sinnwelten an11 und nutzt es für die hier ins Auge gefassten Zwecke. Sinnwelten seien danach als der systematische Ort verstanden, an dem Einzelpersonen oder Gruppen ähnlich interessierter Personen aufgrund welcher geschichtlicher und sozialer Einbindungen auch immer einen spezifischen textlichen Zugriff auf eine vorauszusetzende Realität vollziehen und im Sinne dieses Zugriffs textlich handeln (vgl. Anm. 7). Dabei konstituieren sie eine eigene Semantik. Diese wird einerseits als Semantik || 10 Einen Rahmen für derartige Konzepte liefern Reichmann (1984; 1990); Wiegand (1984; 1990). Zu Kant vgl. Roelcke (1989). 11 Dazu Kästner, Schütz & Schwitalla (2000: 1605–1623).

Historischer Wortschatz: Text- und Autorenwörterbücher | 85

eines individuellen und damit einmaligen Sprechaktes verstanden, die andererseits aber eingebunden ist in vorgängiges Sprechen, das heißt in vorgängiges Semantisieren und Pragmatisieren. Dieses komplex eingebettete Sprechen dient nicht nur der Repräsentation einer sprachunabhängig vorausgesetzten Welt, es ist auch nicht eine genaue Wiederholung von Vorangegangenem, sondern es ist infolge seiner Einmaligkeit prinzipiell kreativ und infolge seiner Einbettung immer von semiotischen Prämissen der jeweiligen Sinnwelt abhängig. Karl Oehler (2000: 13) formuliert dies folgendermaßen: „Unsere Lebenswelt ist nicht die Wirklichkeit der Dinge, wie sie an sich selbst sind, sondern eine durch Zeichen erschlossene und gedeutete, verstellte oder entstellte, in jedem Fall geprägte Welt.“ In den Partizipien erschlossen und gedeutet wird eher der individuell einmalige Teil der Erkenntnisbildung greifbar, in gedeutet, verstellt, entstellt, geprägt eher das Produkt. Theoretisch relevant ist dabei der oben bereits mehrfach ins Spiel gebrachte Zusatz, dass das Erkannte zugleich zur Handlung verpflichtet. Es gibt also nicht hier die Erkenntnis und dort die Handlungsverpflichtung, sondern beides in einem, also die sinnwelttypische Erkenntnis in Konsubstantialität mit der sinnwelttypischen Handlungsverpflichtung. Nochmals anders gesagt: Wir haben nicht nur eine Sinnwelt vor uns, sondern auch eine Handlungswelt (die dann auch beide lexikographisch abgetragen werden müssten). Wenn man die Sinn- und Handlungswelten tatsächlich als Orte sieht, an denen Semantik – verstanden als Weltdeutung (eines Autors, einer Autorengruppe oder einer Diskursgemeinschaft) und eine ihr entsprechende Deontik/ Handlungsaufladung – geboren wird, dann kann der Lexikographie nur die Aufgabe zufallen, einige der Orte festzumachen, an denen die Konstitution dieser Semantiken vollzogen und perpetuiert wird, und dann die Rolle der Lexik zusammen mit der ihr inhärenten Deontik zu beschreiben. Orte der hier genannten Art sind vor allem auch auktoriale „Quellorte“, an denen das Gesagte, selbst wenn es nur Zitatcharakter hätte, individuell gewählt, stilistisch geformt und ausformuliert, intentional, funktional oder ideologisch eingesetzt und situativ als Handlungsort verortet wurde. Je größer die Autorität des Sprechers, desto wirksamer ist seine bedeutungskonstitutive Kraft, aber eben auch seine individuelle kommunikative Verantwortung.

3 Wörterbuchskizzen Zur Veranschaulichung des Gemeinten sollen zwei Beispiele vorgestellt werden, zum einen ein mögliches Wörterbuch der Mystik und zum anderen ein Wörter-

86 | Anja Lobenstein-Reichmann buch des europäischen politisch-kulturellen Ideologiewortschatzes des 19. und 20. Jahrhunderts. Beide Projekte kommen nicht ohne Einzelautoren aus; sie werden z. B. Meister Eckhart oder Johannes Tauler bzw. Houston Stewart Chamberlain einen herausragenden Platz im Korpus einräumen; sie haben aber eher dennoch eine Sinnwelt zum Gegenstand, innerhalb deren einzelne Autoren handeln. Auf diese Weise verbinden sich einzelne Texthandlungen einzelner Autoren mit dem Sinn- und Handlungshintergrund, in dem sie leben (ihr Diskursuniversum12), den sie zitieren, selbst aktiv über eigene Modifikationen in die Zukunft weitervermitteln und auf diese Weise zum geschichtlichen Hintergrund für anschließende Modifikationen jüngerer Autoren und deren bedeutungskonstitutive Handlungen machen. Dabei sind drei Anliegen wichtig: Es geht zentral um sinnweltliche thematische Zusammenhänge, dann um handlungskommunikative Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten, zusätzlich aber (und das kommt hier neu ins Spiel) um einzelsprachenübergreifende Zusammenhänge, das heißt letztlich um die Möglichkeit, das Einzelsprachliche in die europäische Dimension der jeweiligen Sinnwelt zu heben.

3.1 Skizze eines Wörterbuches zur Mystik Ein Wörterbuch der Mystik, so die folgende sprachlexikographische Skizze, wäre im Unterschied zu einem „Sachwörterbuch“, wie es etwa von Peter Dinzelbacher (1998) bearbeitet wurde, als sinnweltenbezogenes Wörterbuch zu deutschsprachigen Texten zu konzipieren. Es wäre insofern ein Textwörterbuch, das als Differenzwörterbuch (zum allgemeineren Mittel- und Frühneuhochdeutschen) und als Auswahlwörterbuch (mit speziell ausgewählten Lemmata wie abgescheiden, abscheuern, anderheit, angenommenheit, anhaft, ausfliessen, ausgeberen, ausserkeit, auswendigkeit, einfliessen, beschauen, auslauf 4 >das Sichverlieren an die äußeren DingeAbgründigkeit, Nichtigkeitüber etw. nachdenken, nachsinnen (im allgemeinen Sinne)im Vertrauen auf Gottes einsprechen denkend, einbildend, betrachtend, schauend mit den christlichen Heilstatbeständen beschäftigt sein, etw. in religiöser Andacht zu erkennen trachtenUnterschiedlichkeit, Mannigfaltigkeit< von zählbaren Gegenständen (der ‚res‘ im mittelalterlichen Sinne), und zwar unter einem dominant, aber nicht ausschließlich quantitativen Aspekt.

|| terbuches, und zwar gegenüber dem allgemeinsprachlichen Wörterbuch wie gegenüber dem Wörterbuch zu anderen Sinnwelten. 14 Die zitierten Belege entstammen den Korpusmaterialien des Frühneuhochdeutschen Wörterbuches (FWB) und sind dort nachprüfbar.

88 | Anja Lobenstein-Reichmann Quint, Eckharts Pred. 2, 468, 6 (E. 13./A. 14. Jh.): Alles, das man hie ausserlichen hat an manigfaltigkeyt, das ist da alles innerlich vnnd eyn.

Dem folgt ein zweiter Ansatz, und zwar ein solcher, in dem die Quantität der Dinge einen bestimmten Wurf erhält, nämlich in Richtung auf „Vorkommens-, Erscheinungsvielfalt, innere Verschiedenheit einer als Einheit gedachten und in ihr gründenden, meist religiös fundierten, in der Regel im Singular stehenden Bezugsgröße (z. B. der pein)“. Es geht mithin nicht mehr um die ‚res‘ im prototypisch interrealen Sinne, sondern um die intrareale/innere Verschiedenheit einer bezeichnenderweise prototypisch im Singular stehenden Einheit wie der ‚Pein‘. Gerhardt, Meister v. Prag 108, 1 (Hs. ˹nobd., 1477˺): sullen wir betrubt sein durch die manigueltikeit der pein die vnser herr hat geliden.

Die damit angedeutete Richtung der Gebrauchsänderung geht in Ansatz 3 weiter. In diesem heißt es: im Sinne von 1 und 2 verstandene manigfaltigkeit unter dem Aspekt der wandelbarkeit der einzelnen Gegebenheiten und der den Menschen damit verwirrenden, klein machenden, betrübenden, zerstreuenden Abführung, Ablenkung von got, vom reich gottes, von der (mystischen) geburt (Gottes im Menschen), vom selbst, vom eins, bzw. die Hineinführung in die verlorenheit; impliziert ist die Warnung vor der Existenz in manigfaltigkeit bzw. der Aufruf zu einer Spiritualität wie zu einem Handeln im Sinne der Mystik; vgl. einfaltig 3. Vetter, Pred. Taulers 12, 7 (els., E. 14. Jh.): wanne die manigvaltikeit der bilde die dis wort in dir bedeckent und úbergont, die hinderent dise geburt in dir. Ebd. 217, 8 (1359): das der mensche nút alleine enhat uswendige manigvaltikeit gelossen, sunder och inwendige manigvaltikeit der inren krefte, das sint die bildende krefte in iren bilden und die fantasien und gedenke.

Das Gewicht der Charakterisierung liegt nun auf klein machen, betrüben, zerstreuen, das als „Abführung von Gott“ interpretiert wird, genau gesprochen als Abführung von mystischen Glaubensgegebenheiten wie geburt, selbst, eins bzw. umgekehrt als „Hineinführung in die verlorenheit“. Das ist eine Information, die sich von den wörterbuchüblichen Informationen unterscheidet. Sie ist keine Synonymenangabe; und sie ist auch keine in klassischer Form gehaltene Angabe eines genus proximum und einer differentia specifica. Die Angabe öffnet sich vielmehr von einer eher lexikographischen (kürzeren) zu einer eher lexikologischen (längeren) Information. Diese Informationsarten ähneln normalsprachlichen diskursiven Redeweisen. Sie müssten in einem Wörterbuch der Sinnwelt ‚Mystik‘ zur zentralen Informationsform werden.

Historischer Wortschatz: Text- und Autorenwörterbücher | 89

Die vorgetragenen Formulierungen sind unter mehreren Aspekten genauer zu betrachten: Erstens: manigfaltigkeit 3 ist zunächst einmal irgendwie im Sinne von manigfaltigkeit 1 und 2 und nur mit Vorwissen dieser beiden Ansätze zu verstehen. Diese Aussage verdeutlicht am lexikographischen Beispiel die Konstituierung einer sinnweltspezifischen Semiose von 1 über 2 zu 3. Das heißt: manigfaltigkeit 3 wird nicht unter Rückgriff auf etwas in der Realität zweifellos Vorhandenes erläutert, an das der Rest angehängt wird, sondern manigfaltigkeit 3 wird unter Rückgriff auf semantische Größen, die der Lexikograph selbst eingeführt hat, vermittelt, nämlich auf die Größen manigfaltigkeit 1 und 2. Der metaphysisch gerne in einer vorsprachlichen Realität angesiedelte Referenzpunkt weicht damit einem sprachlich konstituierten. Man springt also von einem sprachlichen Bestand zum andern. Zweitens: In den folgenden Teilen des Beispiels tauchen dann aber doch sogenannte Gegebenheiten auf, die leicht als metaphysischer Referenzpunkt verstanden werden könnten. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich dann aber, dass diese Gegebenheiten immer nur sinnwelteninterne Einheiten sind. Drittens: In diesem Sinne geht es weiter. Die Rede ist insgesamt von einem spirituellen Sprachspiel, in dem got, sein reich, seine sich immer neu vollziehende geburt im Menschen als Glaubenstatsachen angesetzt werden und in dem auch der Mensch, nämlich unter dem pronominalen Ausdruck selbst, als religiös rückgebundene Größe erscheint, die bei Verlust der Rückbindung mannigfach zerstreut, betrübt und dadurch von got weg in die verlorenheit geführt wird. In dem Maße, in dem eine der Größen, de facto got, als metaphysisch unhintergehbare Realität anerkannt wird, entpuppt sich das Sprachspiel dann als ein Existenzspiel bzw. ist es ein Existenzspiel; es liefert als solches Erkenntniszusammenhänge, und es ist – ebenfalls als solches – ein Spiel, das für jeden Menschen handelnd zu vollziehen ist. Man ahnt: Die Erläuterungsmuster eines Wörterbuches zu Texten der Mystik sind auch eine eigene Aufgabe im Gegenstandsbereich der Metalexikographie.

3.2 Skizze eines Wörterbuchs zum europäischen politisch-kulturellen Ideologiewortschatz des 19. und 20. Jahrhunderts Dem zweiten Projekt, einem Wörterbuch des europäischen politisch-kulturellen Ideologiewortschatzes des 19. und 20. Jahrhunderts (1848 bis 1933), liegt die Vorstellung zugrunde, dass sich größere religiöse, soziale, geistesgeschichtliche

90 | Anja Lobenstein-Reichmann Entwicklungen (wie übrigens auch die mittelalterliche Mystik) zwar in Einzelsprachen vollziehen, aber eine Angelegenheit sind, deren eigentlicher Vollzugsort ein einzelsprachenübergreifendes europäisches Bild- und Assoziationsgeflecht ist. Es handelt sich hierbei um ein Text- und Diskurswörterbuch, bei dem es von historischer Relevanz und häufig auch Brisanz ist, dessen konstituierende Einzeltexte wie dessen Diskursteilnehmer in ihrer auktorialen und damit auch ihrer kommunikativen Verantwortlichkeit erkennbar zu machen. Anders als bei der Projektskizze eines Mystikwörterbuches sollen zunächst einige kultur- und gesellschaftsgeschichtlich relevante Prämissen vorangestellt werden, um die Relevanz eines solchen Unternehmens vorzustellen. In der Geschichtswissenschaft wird immer noch die Frage nach einem deutschen Sonderweg diskutiert: Auf dem Weg in die Moderne sei das Deutsche Reich aufgrund seiner späten Industrialisierung, seiner antidemokratischen Eliten und Ideologien einen Sonderweg in Richtung Demokratie gegangen. Kultur- und ideologiegeschichtlich relevante Vorstellungen wie diejenige Thomas Manns oder Arthur Moeller van den Brucks vom besonderen kulturellen Wert Deutschlands im Unterschied zum Beispiel zur französischen Zivilisation hätten dabei eine große Rolle gespielt.15 Solche und ähnliche nationalkonservative Ideologeme hätten schließlich die Deutschen in einer Art politischer Zwangsläufigkeit von einer als allseitig gut angesehenen demokratischen Entwicklung abgehalten, sie hätten sie auch zu einer bildungsbürgerlichen Ersatzentwicklung geführt, die schließlich auf den Nationalsozialismus hinausgelaufen sei. Wenn etwa Thomas Mann einen Gegensatz von ‚Kultur‘ und ‚Zivilisation‘ konstruiert und letztlich den besonderen Wert der eigenen deutschen Kultur und Geistigkeit konstituiert, so ist das nur ein Beispiel für ideologisches Sprechen, ein Beispiel jedoch, das die konstitutive Macht von Semantisierungen und ihren interessegebundenen Instrumentalisierungen exemplifiziert, kurzum: deren Bedeutungs- und Handlungskonstitutionen. Auch von Paul de Lagarde über Richard Wagner und Houston Stewart Chamberlain zu Adolf Hitler und seiner Ideologie geht zwar kein zwangsläufiger Weg, aber es gibt rekonstruierbare semantische Prägungen, deren ideologische Konsequenzen zweifellos im Nationalsozialismus münde(te)n. Terry Eagleton (2000: 7) schreibt: „Man könnte das Wort ‚Ideologie‘ als einen Text bezeichnen, der aus vielen verschiedenen begrifflichen Fäden gewoben ist und von divergierenden Traditionslinien durchzogen wird.“ Ideologiesemantisch ergeben sich daraus mindestens 3 Fragentypen: 1. Die Frage nach der deutschsprachigen Semantisierung derjenigen Begriffe und

|| 15 Vgl. dazu Plessner (1974: 81; 165); umfassend und wegweisend: Wehler (1987–2008); Winkler (2000).

Historischer Wortschatz: Text- und Autorenwörterbücher | 91

Traditionen innerhalb des deutschen Reiches, die eine Ideologie, wie z. B. die nationalkonservative Ideologie und deren Einzelideologeme konstituieren. Es ist die Frage nach der Binnenkomparatistik, also nach den vorausgegangenen wie den gleichzeitig ablaufenden Dialogen und deren verschriftlichter Intertextualität. 2. Die Frage nach der sogenannten nationalen und das heißt auch nationalsprachlichen Einzigartigkeit einer solchen Ideologisierungspraxis. Semantisierungen sind Prozesse der Bildung von Inhalts- und Handlungsmustern, die nicht einzelsprachlich gebunden sind. Man kann und muss daher komparatistisch untersuchen, ob dieselben Semantisierungs- und Begriffsbildungsprozesse nicht auch in anderen Nationalstaaten verlaufen sind. 3. Die letzte Frage gilt den zu den Diskursen reziprok verlaufenden strukturpolitischen Prozessen, die zu transnationalen Bewegungen geführt haben könnten (Industrialisierungsstau, Krise des Bürgertums usw.). Vor allem die beiden ersten Fragen könnten mit Hilfe einer bedeutungs- und handlungsfokussierten Konzeption in einem Ideologiewörterbuch behandelt werden. Man könnte auch sagen, man könne in einem solchen Wörterbuch das individuelle Sprechen wie das Zitathafte und Intertextuelle der Ideologeme dokumentieren. Mit ihm könne man das absolut Besondere eines Autors zeigen, aber auch wie das schon einmal von anderen, besonders von auktorial bedeutenden anderen, in anderen Kontexten, sogar anderen Sprachen Zitierte kontextspezifisch von jemandem wiederholt und damit ideologisch transformiert wird. Das Wort Zitat sollte jedoch nicht nur wörtlich genommen werden. Es bezieht sich auf das Inhalts- wie Ausdrucksseitige, auf das Handlungs- und Bedeutungskonstitutive des Sprechens in seinen wortwörtlichen wie seinen allusorischen, auf jeden Fall auf einen Autor referierenden Dimensionen. Die bildungsbürgerliche Sprache eines Autors wie Chamberlain (vgl. Lobenstein-Reichmann 2008: 665) ist z. B. ein ideologisch restringierter Code, der in seiner Selbstreferentialität die Sprache des Kulturrassismus spiegelt. Es ist eine Fachsprache der besonderen Art. Sie hat eine spezifische lexikalische Semantik, die eingebettet in bildungsbürgerliche Stile und salonfähige Sprachhandlungen unterschwellig vorhandene Hemmungen zu lockern verstand. Sie verharmlost und radikalisiert gleichermaßen. Aber es ist eine Radikalisierung auf der zweiten Ebene: man benutzte allgemeinsprachliche, „harmlose“ Wörter wie Kraft, Wille, Leben oder das einfache Mensch und meinte Rassenkraft, Rasseleben, Rassenwille.

Wie am Beispiel des Mystikerwortschatzes gezeigt wurde, offenbart sich auch diese Sprache nicht immer sofort in ihrer semantischen wie pragmatischen Besonderheit. Das scheinbar so alltägliche Wort Mensch wird sprachhandelnd von einem Rassisten als bedeutungskonstitutiven Ideologem semantisiert und muss als solches auch in besonderer Weise lexikographisch erfasst und bearbei-

92 | Anja Lobenstein-Reichmann tet werden. „Die unterschiedlichen Denkmuster, Wertvorstellungen, Zielsetzungen“ finden hier ihren Ausdruck und werden zu „gruppen-spezifischen Zeichen-Inventaren, Zeichen-Ensembles, Zeichen-Repertoires“ bzw. zu „gruppenspezifischen Anwendungsstrategien“ (Grünert 1974: 12 f.). Wie ein Wörterbuchartikel aufgebaut sein könnte, der eine solche ideologische Ausrichtung resemantisiert und repragmatisiert, soll am Beispiel des Wortes Mensch gezeigt werden, wie es von Chamberlain in seinen deutschen Schriften gebraucht wurde (vgl. dazu den ausführlichen Artikel mit Belegen: Lobenstein-Reichmann 2008: 86–91): Mensch, der 1. >zur Klasse der Säugetiere gehöriges, eine eigene Spezies derselben bildendes, im Unterschied zu Tier mit Sprache, mit der Fähigkeit zu sittlicher Entscheidung, zu Erkenntnis von Gut und Böse ausgestattetes, damit von seiner biologischen Anlage her einerseits der möglichen Herabsinkung zum Tier ausgesetztes, andererseits der Nähe zu Gott fähiges WesenGesamtheit aller Menschen, in der niemand exkludiert istTeilmenge derjenigen Menschen, die sich in Chamberlains Qualifikationsskala als „wahrer“ Mensch vom biologischen Menschen (im Sinne von 1) abheben; der eigentliche Mensch im Unterschied zum negativ ausgegrenzten, da nicht die natürlichen Anlagen zur qualitativen Auszeichnung entwickelnden biologischen MenschenProdukt der Veredelung des Menschen< und b) >Mensch, wo er im Sinne der Chamberlain’schen Tier-/Gott-Dichotomie am menschlichsten ist: deshalb Künstlermensch, Gottmensch, GenieEinzelexemplar der Gattung Mensch, das sich durch bestimmte Kennzeichen von anderen Einzelexemplaren der Gattung unterscheidetkollektives Individuumeine bestimmte Anzahl

|| 16 Ktx = kontextcharakteristische Wörter oder Wendungen. Diese Position dient dem Verständnis assoziativer und konnotativer Relationen, die zur angesetzten Bedeutung merkmalsdistinktiv ergänzend, aber auch oppositionell sein können. Vgl. Lobenstein-Reichmann (2008: 75).

Historischer Wortschatz: Text- und Autorenwörterbücher | 93

von Einzelmenschen, die sich durch positiv bewertete Kennzeichen von anderen Menschen bzw. Menschengruppen unterscheideneinzelner Mensch, der sich in Chamberlains Qualifikationsskala vom wahren Menschen (s. 2) sowie von positiv bewerteten Einzelmenschen (im Sinne von 3) dadurch unterscheidet, dass er in unterstellter Nähe zum Tier über keine oder nur mäßige schöpferische, künstlerische und kognitive Fähigkeiten verfügtMensch im Sinne von 2 und 3, sofern er durch sprachliche Identifikationssignale als mit Chamberlain Gleichdenkender in den Status des Gesinnungsverwandten gehoben und somit als Angehöriger der Gruppe der ebenso Wissenden wie moralisch Fühlenden wie im Sinne dieses Wissens und Fühlens Handelnden angesprochen wirdeinzelne reale PersonPersönlichkeit Nahrungsmittelherstellung > Bäcker) als auch formale (Beckers: Simplex > Flexion > Genitiv > starker Genitiv) Aspekte berücksichtigen und auch kombiniert werden können. Im Folgenden werden die Suchmöglichkeiten anhand der Familiennamen zum Berufsfeld „Bäcker“ illustriert. Insbesondere für interdisziplinäre Fragestellungen (z. B. Spezialisierung des Bäckerhandwerks im Mittelalter) kann ein Überblick über sämtliche, auf diesen Berufszweig zurückgehende Familiennamen aufschlussreich sein, was auf Basis der traditionellen Wörterbücher extrem arbeitsaufwendig ist (siehe Casemir 2009). Einen schnellen Zugriff auf sämtliche Familiennamen für den Bäcker wird das DFD über die Kategoriensuche ermöglichen. Als Treffer werden dann alle Namen angezeigt, die entweder auf Berufsbezeichnungen für den Bäcker zurückgehen (sogenannte direkte Berufsnamen), oder Berufsübernamen für den Bäcker sind, z. B. nach dem vorwiegend hergestellten Produkt (sogenannte indirekte Berufsnamen). Auf primäre Berufsbezeichnungen gehen die Familiennamen Beck (< ahd. becko5) bzw. Böck (mit hyperkorrekter Rundung e > ö) und jüngeres Becker (< ahd. beckāri) zurück sowie aus dem Lateinischen entlehntes Pfister6 (ahd. phistur < lat. pistor) bzw. spätere lat. Übersetzungen || 4 http://www.mhdwb-online.de/ (24.06.2015). 5 Zugrunde liegt das alte Nomen agentis-Suffix ahd. -o, das später zu -e bzw. -Ø abgeschwächt wurde. Konkurrenz besteht im Niederdeutschen mit Namen zu nd. beke ‚Bach‘ (z. B. Beke, Beckmann). 6 Pfister bezeichnete ursprünglich im Unterschied zu Becker den Feinbäcker bzw. einen Bäcker am königlichen Hof oder an einem Kloster (siehe Casemir 2009: 173; Nölle-Hornkamp 1992: 98 f.; vgl. auch DWB, Eintrag Pfister, Pfisterei).

Das Digitale Familiennamenwörterbuch Deutschlands | 141

(Pistor, Pistorius), die v. a. zur Zeit des Humanismus üblich waren, aber auch schon in vorhumanistischer Zeit entstanden und durch das Lateinische als mittelalterliche Urkundensprache bedingt sein können. Zu den häufigsten direkten Berufsnamen für den Bäcker siehe Tab. 1: Tab. 1: Direkte Berufsnamen für den Bäcker (allgemeine Berufsbezeichnung) Typ Beck, Becker Beck(h)

Telef. 24879+64

7

210

Böck

2428

Bek

Typ Pfister

Telef.

Pfister

3669

Pfisterer

1440

Pister

343

Becker

74009

Pisterer

12

Bäcker

2756

Pisters

114

Bakker

499

Pistor

396

Backer

474

Pistori

Bekker

351

Pistorius

Baecker

271

Beckert

1750

Backert

201

Bäckert

47

Beckers

2316

Backers

60

Beckerle

76

17 427

Die Vielfalt des mittelalterlichen Bäckerhandwerks erschließt sich über spezielle Berufsbezeichnungen für den Bäcker nach dem bevorzugt hergestellten Produkt (siehe Tab. 2). Neben Namen nach der Berufsbezeichnung enthält die Datenbank eine Vielzahl indirekter Berufsnamen, die auf Übernamen für den Bäcker zurückgehen, v. a. nach dem hergestellten Produkt (siehe Tab. 3). Prinzipiell ist in allen Fällen neben einer Benennung nach dem Endprodukt auch ein Übername nach der Lieblingsspeise denkbar.

|| 7 Bek ist in Schwaben verbreitet und somit als Variante zu südwestdeutschem Beck zu zählen, wohingegen Peck mit Schwerpunkt in Westfalen aufgrund seiner Verbreitung anderen Ursprungs sein muss.

142 | Rita Heuser & Mirjam Schmuck Tab. 2: Direkte Berufsnamen für den Bäcker (spezielle Berufsbezeichnungen) Name Bretzer, Pritzer

Telef. 40+46

Etymologie < mhd. bretzel, pritzel ‚brot- oder kuchenartiges, süßes, flaches, gewundenes Feingebäck‘ < mhd. brôtbeck ‚Brotbäcker‘

Brodbeck

804

Flader(er)

225+219

< mhd. vlade ‚dünner Kuchen, Fladen‘

27

< mhd. haber ‚Hafer‘ + becker ‚Bäcker‘

Haferbecker Hipp(l)er, -ner Kuchenbecker Küchler, Kücherer Lebküch(n)er Lebzelter Mutsch(el)ler Rögner, Rogner Rög(g)ener Röck(e)ner Semmler, Simmler Weckbecker, -ler Weis(s)-, Weißbecker Wittbecker Zelt(n)er

140+707+2 3 733 1851+91 92+47 8 949+88 395+283 64+21 13+33 2081+157 80+112 175+22+50 51 63+248

< mhd. hipe ‚Hippe, Waffel, gerollter, oblatenförmiger Kuchen‘ < fnhd. kuchenbecker ‚Kuchen-, Feinbäcker‘ < fnhd. kuch(e)ler ‚Kuchenbecker‘ < mhd. lebeküech(n)er ‚Lebkuchenbäcker‘ < mhd. lebezelte ‚Lebkuchen‘ < mhd. mutschelin ‚kleines Weißbrot‘ < mhd. rockener, roggener ‚Roggenbrotbäcker‘

< mhd. semeler ‚Weißbrotbäcker‘ < mhd. wecke ‚keilförmiges Gebäck‘ < mhd. weizbecke ‚Weizenbrotbäcker‘ < mnd. wit ‚weiß‘ + becker ‚Bäcker‘, ‚Weizenbrotbäcker‘ < mhd. zelte ‚flaches Backwerk‘

Tab. 3: Berufsübernamen für den Bäcker (Auswahl)8 Name Pritzel, Bretzel Flade Herrnbrodt Hippel(e) Hippeli, Hippchen Hornaff, Hornof

Telef. 131+89 450 20 288+39 147 199 37+42

Etymologie < mhd. prêzel, brêzel ‚brot- oder kuchenartiges, süßes, flaches, gewundenes Feingebäck‘ < mhd. vlade ‚dünner Kuchen, Fladen‘ < fnhd. herrenbrod ‚feines, weißes Brot‘ < mhd. hipe ‚Hippe, Waffel, gerollter, oblatenförmiger Kuchen‘ < mhd. hornaffe ‚Art Gebäck in Gestalt zweier aneinandergefügter Hörner bzw. in Brezelgestalt‘ (s. DWB, s. v. Hornaffe)

|| 8 Bei den aufgelisteten Namen sind z. T. Bedeutungskonkurrenzen zu beachten (z. B. bei Hornoff im Einzelfall mit Herkunftsnamen zum Siedlungsnamen Hurnaffa (Kreis Wetterau)), Übernamen für den Bäcker bzw. den Liebhaber des betreffenden Gebäcks gehören aber zur Hauptbedeutung.

Das Digitale Familiennamenwörterbuch Deutschlands | 143

Name Krapf(l) Krapp(e) Krappel, Krappen Kuchenbrod Küchle, Küchlin, -el Lebkuchen Oelkuch Pfannkuche(n) Pfan(n)kuch Pfankuche(n) Pankok(e) Pfefferkuch(en) Semmel Strie(t)zel Stritz(e)l Weckbrodt Weisbrod(t) Weissbrod(t) Weißbrod(t)

Telef. 1071+73 1061+159 1061 159 92 200 37+66 16 54 213+178 22+191 10+14 59+423 8+2 154 390+29 55+219 38 448+124 30+60 93+221

Etymologie

< mhd. krapfe, krape ‚hakenförmiges Gebäck, Krapfen‘

< mhd. kuoche ‚Kuchen‘ + brot < mhd. küechelîn, küechel ‚Küchlein‘ < mhd. lebekuoche ‚Lebkuchen‘ < fnhd. ölekuchen ‚in Öl gebackener Kuchen‘ < mhd. phankuoche bzw. mnd. pann(en)koke‚ in einer Pfanne gebackener Kuchen, Eierkuchen, kleines Hefegebäck, Krapfen‘ < mhd. phefferkuoche ‚stark gewürzte Honigkuchen, Lebkuchen‘ < mhd. semele ‚großes Weißbrot‘ < mhd. strützel ‚längliches Brot aus feinem Mehl, Stollen‘ < mhd. wecke, weckbrot ‚keilförmiges Gebäck‘ < mhd. wizbrot ‚Weißbrot‘

Zu den oben genannten Familiennamen finden sich oft weitere, hier nicht aufgeführte Varianten. Besonders groß ist die Variantenvielfalt bei Berufsübernamen, die auf mhd. wizbrot, mnd. witbrot ‚Weißbrot‘ zurückgehen durch unterschiedliche Schreibungen (siehe Tab. 4). Hinzu kommen weitere (hier nicht aufgeführte) Übernamen z. B. nach dem Backvorgang, den verwendeten Backzutaten (Lickteig, Sauerteig), sowie nach der typischen Kleidung (Mehlhose, Mehlhase, Mehlhorn) – wobei Letztere sowohl für den Bäcker als auch für den Müller gebräuchlich waren. Die überaus zahlreichen auf den Bäckerberuf zurückgehenden Familiennamen zeugen von der Wichtigkeit dieses Handwerks im Mittelalter und illustrieren eindrücklich die starke Ausdifferenzierung des Berufsfeldes und Spezialisierung der Bäcker im (ausgehenden) Mittelalter z. B. auf bestimmte Brot(Roggen-, Weizenbrot) und Kuchensorten (Leb-, Pfeffer-, Pfannkuchen), geben einen Einblick in die Vielfalt mittelalterlicher Backerzeugnisse, verschiedene Abhängigkeitsverhältnisse (Heim-, Hof-, Klosterbecker) u.v.m. Gerade über die Suchkategorien und vielfältigen Abfragemöglichkeiten bietet das DFD daher eine breite Datenbasis für weitere Recherchen, gerade auch für Nachbardisziplinen wie die Geschichts- und Kulturwissenschaften.

144 | Rita Heuser & Mirjam Schmuck Tab. 4: Variantenvielfalt am Beispiel des Familiennamens Weisbrod Name Weisbrod Weißbrodt Weisbrodt Wittbrodt Weißbrod Weissbrodt Weissbrod Weißbrot Weisbrot Weissbrot Wittbrot Weihsbrodt Waisbrod Weisbroth Weißbroth Weizhbrodt Wyssbrod

Telef. 448 221 124 96 93 60 30 24 15 4 4 3 1 1 1 1 1

3.4 Verlinkungen Eine Online-Publikation bietet die hervorragende Möglichkeit, auf bereits bestehende digitale Wörterbücher und Nachschlagewerke zu verweisen und entsprechende Links zum Weiterlesen anzubieten, wovon auch das DFD selbstverständlich Gebrauch macht. In einigen Fällen dient der Verweis der weiterführenden Information, die den Rahmen eines Familiennamenwörterbuchs sprengen würden, aber auch der Stützung der Etymologie. Die sinnvolle Nutzung der zahlreichen digital zur Verfügung stehenden Quellen und Hilfsmittel bereichert die Namenartikel um wertvolle Informationen und ergänzt die traditionellen Literaturhinweise in Hinblick auf Sach- und Wortgeschichte, historische Belege und Verbreitung sowie auf grenzübergreifende Recherchen, deren Bedeutung im Folgenden an ausgewählten Beispielen erläutert wird. Sachgeschichte: Gerade im Bereich der indirekten Berufsnamen bietet es sich an, den sachgeschichtlichen Hintergrund genauer zu recherchieren. Oft wurde nach einem Produkt, einem Werkzeug oder einem Handelsgut benannt, das heute unbekannt ist oder dessen Bezeichnung sich gewandelt hat bzw. heute ausgestorben ist. Auch Herstellung und Aussehen können von Interesse sein. Der Familienname Pfannkuchen (DFD, Artikel Pfannkuchen u. ä.), der in zahlrei-

Das Digitale Familiennamenwörterbuch Deutschlands | 145

chen Varianten vorliegt (Pfannkuche, Pfankuch, Pfannenkuche, Pankoke, Pannekoike u. a.) ist ein indirekter Berufsname für einen Bäcker oder Koch, der fladenartige, flache Kuchen herstellt (zu mhd. phankuoche ‚Pfannkuchen, Eierkuchen, kleines Hefegebäck, Krapfen‘).9 Die entsprechende Dialektkarte im Atlas der Deutschen Alltagssprache (AdA) zeigt, dass die Bezeichnung auch heute noch bekannt und weitverbreitet ist.10 In der Zubereitung zeigen sich jedoch regionale Abweichungen. Eine ausführliche und genaue Beschreibung der regionalen Varianten dieser Speise, ihrer Zutaten und Rezepte findet sich in der Online-Version der Oekonomischen Encyklopädie11. Hier bietet sich die Gelegenheit, dem Leser den sachgeschichtlichen Hintergrund mit dem Wissensstand des 18./19. Jahrhunderts zu liefern, der den mittelalterlichen Verhältnissen oft nahe kommt. Während Pfannkuchen noch als Gericht bekannt sind, ist die Bezeichnung Schlegelmilch heute unüblich. Dahinter verbirgt sich die als besonders haltbar und nahrhaft geschätzte Buttermilch. In Familiennamen ist Schlegelmilch (DFD, Artikel Schlegelmilch, Schleemilch u. ä.) mit verschiedenen Varianten vertreten (u. a. Schleemilch, Schlömilch, Schneemilch). Gerade bei Namen, die heute keine Entsprechung mehr in der Appellativik haben, ist der Verweis auf die Wort- und Sachgeschichte besonders wertvoll.12 Bei dem Familiennamen Schneemilch erbrachte die Recherche noch eine weitere, von den etymologischen Familiennamenbüchern bisher vernachlässigte Deutungsmöglichkeit (DFD, Artikel Schneemilch): Eine aus Eiweiß und Milch hergestellte Speise wurde aufgrund ihrer Farbe als Schneemilch oder Schneemus bezeichnet.13 Das „Grammatisch-Kritische Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart“ von Adelung vermerkt entsprechend zu „Schneemilch“: bey den Köchen, süßer Milchrahm welcher mit etwas Eyweiß vermischt, mit einem Rüthchen zu einem Schaume geschlagen wird, da er denn in der Schüssel dem Schnee gleicht; Schneemuß, Schwed. Snömos, Franz. Crême battuë, bey den Griechen αφρογαλα (Adelung, Stichwort Schneemilch [28.07.2015]).

In der onomastischen Literatur wird der Name Schneemilch ausnahmslos als Lautvariante zu Schleemilch gestellt (als Berufsnamen für den Milchbauer oder -händler oder als Übername nach dem Lieblingsgetränk). Nicht in Betracht gezogen wird aber, dass es sich auch um einen Berufsnamen für einen Koch handeln könnte (der das Schneemus herstellt). Da das Alter des Rezepts unbe|| 9 Daneben kann auch eine Übername nach der Lieblingsspeise vorliegen. 10 Atlas der deutschen Alltagssprache, Karte Pfannkuchen (24.07.2015). 11 Oekonomische Encyklopädie, Stichwort Pfannkuchen (24.07.2015). 12 DWB und Oekonomische Encyklopädie, Stichwort Schlägelmilch (24.07.2015). 13 DWB und Oekonomische Encyklopädie, Stichwort Schneemilch (24.07.2015).

146 | Rita Heuser & Mirjam Schmuck kannt ist, bleibt die Deutung zunächst unsicher, kann aber aufgrund der sachgeschichtlichen Recherche im DFD mitberücksichtigt werden. Wortgeschichte: Der Name Beifuß und seine Varianten (DFD, Artikel Beifuß u. ä.) kann leicht missverstanden werden: Etymologisch hat er nichts mit Fuß als Bezeichnung des Körperteils zu tun und gehört somit nicht in eine Gruppe von Namen, die sich als Übernamen vor allem auf auffällige Füße oder Gangarten beziehen (z. B. Kuhfuß, Stolzfuß u. a.). Die Benennung erfolgte vielmehr nach dem Beruf zu mhd. bîbôʒ, bivuoʒ ‚Artemisia vulgaris, Beifuß‘ für einen Gewürzhändler oder den Hersteller von Beifußgewürz. Dies sind die für das Familiennamenwörterbuch relevanten Angaben. Darüber hinaus erfuhr die Pflanzenbezeichnung bereits zu mhd./mnd. Zeit eine volksetymologische Umdeutung, die sowohl wortgeschichtlich als auch für die heutige Form der Familiennamen interessant ist. Dazu werden im Artikel Verweise auf Marzell (2000: 434–436) und Pfeifer (2005: 115) gegeben, ebenso wie Verlinkungen zu den entsprechenden Artikeln im Deutschen Wörterbuch und im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS)14. Berücksichtigt wird auch der Eintrag im Duden Online, der in diesem Fall in Kürze die Etymologie erläutert: mittelhochdeutsch bīvuoʒ, volksetymologisch umgedeutet nach: vuoʒ = Fuß (wohl nach der schon bei Plinius d. Ä. belegten Vorstellung, dass der Wanderer nicht ermüdet, der sich die Pflanze ans Bein bindet) aus: bībōʒ, althochdeutsch bībōʒ, zu: bōʒan = stoßen, schlagen, vielleicht nach der angeblich böse Geister abwehrenden Kraft des alten Heilmit15 tels.

Für die Erklärung von Familiennamen wie Urlaub und Urlauber (Verbreitung siehe Karte 3) helfen moderne Bedeutungsangaben nicht weiter. Das Konzept der arbeitsfreien Zeit zum Zweck der Erholung, die, wo möglich, auch entfernt von Zuhause verbracht wird, ist im Mittelalter und der frühen Neuzeit nicht bekannt. Hier bringt die Recherche im Deutschen Wörterbuch und im „Etymologischen Wörterbuch des Deutschen“ von Pfeifer (2005) Weiteres zutage: Urlaub m. ‚dienst-, arbeitsfreie Zeit, Ferien‘, ahd. urloub (8. Jh.), ablautend oder mit Vokalabschwächung urlub (9. Jh.) ‚Erlaubnis‘, mhd. urloup, urlop, urlob ‚Erlaubnis fortzugehen, Verabschiedung, Abschied‘, asächs. orlō̌f, mnd. ōrlof(t), ōrlef, ōrleve, mnl. o(o)rlof, nl. (älter) oorlof stehen neben dem unter erlauben (s. d.) behandelten Verb. Die alte Bedeutung ‚Erlaubnis‘ wird bereits im Mhd. verengt auf die ‚Erlaubnis, sich zu entfer-

|| 14 Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, s. v. Beifuß (08.07.2015). 15 Duden Online, s. v. Beifuß (08.07.2015).

Das Digitale Familiennamenwörterbuch Deutschlands | 147

nen‘ (die ein Höherstehender gewährt) und in neuerer Zeit auf die ‚zeitweilige Freistellung 16 vom Dienst‘.

Damit ist es möglich, den Namen als Übername zu deuten, für jemanden der, wahrscheinlich oftmals, die Erlaubnis erbat, von seinen Pflichten/Diensten befreit zu werden (DFD, Artikel Urlaub und Urlauber).

Karte 3: Verbreitung der Familiennamen Urlaub und Urlauber (absolut)

Historische Belege: Generell lassen sich Familiennamen nur eindeutig als Patronyme klassifizieren, wenn der Nachweis einer entsprechenden historischen Rufnamenform gelingt. Für den Familiennamen Beifus (DFD, Artikel Beifus) weisen verschiedene Wörterbücher auf die Möglichkeit einer Bedeutungskonkurrenz als Patronym zum jüdischen Rufnamen Beifus (aus Feibusch, Faivus, Phöbos u. a.) hin. Um diese Deutung zu stützen, ist der Nachweis einer entsprechenden Rufnamenform besonders wichtig. In diesem Fall finden sich Belege in den „Akten des Kaiserlichen Reichshofrats (RHR)“, z. B.: 1578 Beyfuß an der Pforten (Jude zu Frankfurt),17 weiteres auch in Dietz (1907: 2–3, 29–31). || 16 Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, s. v. Urlaub; Zitat aus dem Etymologischen Wörterbuch (29.07.2015). 17 RHR digital, Alte Prager Akten, Akte 3437 (24.07.2015).

148 | Rita Heuser & Mirjam Schmuck Fehlt ein historischer Rufnamenbeleg, muss auch die Deutung als Patronym als unzutreffend eingestuft werden oder zumindest als unsicher gelten. Als wertvolle Online-Quelle für Rufnamenbelege kann sich zukünftig das Dictionary of Medieval Names from European Sources (DMNES) erweisen. Das Wörterbuch setzt sich zum Ziel, die in mittelalterlichen europäischen Quellen (zwischen 600 und 1600) erwähnten Rufnamen digital zu erfassen. Seit April 2015 sind Namenstrecken und die entsprechenden europaweit erfassten historischen Belege online recherchierbar.18 Historische Verbreitung: In einigen Fällen erweisen sich Namenkarten mit rezenter Datenbasis zunächst als irritierend: Sie zeigen einen extremen Streubefund. So auch im Fall des Familiennamens Kleinert (siehe Karte 4a). Der Name ist weit gestreut verbreitet und zeigt keine Konzentrationen auf, die bei anderen Namen mit sekundärem -(er)t-Antritt zu beobachten sind (siehe DFA Bd. 3, 2012: 512–531; Kempf & Nowak 2011: 308–311; Nübling 2012: 142 f.). Hier können Recherchen zur historischen Verbreitung von Nutzen sein. Kartiert man den Namen mit dem Programm gen-evolu, das auf dem Reichstelefonbuch von 1942 basiert,19 zeigt sich, dass der Name vor den Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg hauptsächlich in Schlesien verbreitet war (siehe Karte 4b). Diese Daten sind zwar vorsichtig zu bewerten (die Lückenhaftigkeit ist aufgrund der geringen Anzahl von Telefonanschlüssen zu dieser Zeit groß), doch sind sie für eine Interpretation der heutigen Verbreitung äußerst hilfreich. Dieser Befund kann zusätzlich durch Abfragen in den Datenbanken des Vereins für Computergenealogie (Compgen)20 gestützt werden, die unzählige digitalisierte Datensätze aus historischen Adressbüchern, Ortsfamilienbüchern, Grabsteinen, Totenzetteln und genealogischen Rechercheergebnissen umfassen. Mit Einschränkungen sind auch die Datensätze von Family Search21 nutzbar. Im Fall Kleinert deckt sich der historische Kartenbefund und die historischen Namenbelege mit der Feststellung des schlesischen Namenbuchs (Bahlow 2005) und des Duden Familiennamen (2005), dass sich Namen mit der Endung -ert, denen ein Adjektiv zugrunde liegt, in Schlesien konzentrieren (siehe auch DFA Bd. 3, 2012: 524525).

|| 18 http://dmnes.org/names (09.07.2015). 19 http://www.gen-evolu.de/ (09.07.2015). 20 http://compgen.de/ (09.07.2015). 21 https://familysearch.org/ (09.07.2015).

Das Digitale Familiennamenwörterbuch Deutschlands | 149

Karte 4a und 4b: Verbreitung des Familiennamens Kleinert heute und vor 1945 (relativ)

Blick über die Grenzen: Da in zunehmendem Maße Kartierungsprogramme für europäische Nachbarländer zur Verfügung stehen (die meisten basieren auf Telefonanschlüssen bzw. Einwohnerdaten), lohnt sich auch ein Blick über die Grenzen, um Deutungen und Erläuterung eines Familiennamens zu stützen. Kartierungsmöglichkeiten gibt es für u. a. Frankreich, Belgien, die Niederlande, Luxemburg, die Schweiz, Italien und Polen. Für andere Länder sind zumindest Häufigkeitsangaben zu ermitteln (Dänemark, Schweden, Norwegen). Auch im Fall Kleinert zeigt ein Blick auf die Verbreitung der 484 NamenträgerInnen in Polen heute noch einen Schwerpunkt in Schlesien und Posen (Raum Krapkowic, Opole, Poznań).22

|| 22 Kartierung Polen, s. v. Kleinert (07.07.2015).

150 | Rita Heuser & Mirjam Schmuck

Karte 5a und 5b: Verbreitung der Familiennamen Leblanc/Leblang und Leppla (absolut)

In direkter Grenznähe zu Frankreich und Belgien trifft man auf den Namen Leblang, den Gottschald (2006: 319) in Analogie zu Satznamen aus Imperativen wie Lebrecht, Lebsanft als Satzname zum Verb leben stellt (vgl. auch Dittmaier 1956: 66, Hoffrichter 1992: 189), Brechenmacher (1957–63: 2, 161) aber als Herkunftsname zum Siedlungsnamen Leblang (heute Lovnic, Rumänien) in Siebenbürgen interpretiert. Der früheste Nachweis findet sich 1678 in Otterberg (Pfalz): Andreas Le Blang23. Erst ab 1800 treten vermehrt Belege im Gebiet von Siebenbürgen auf.24 Die starke Veränderung des Siedlungsnamens Leblang, der letztlich wahrscheinlich auf einer späten Volksetymologie beruht, macht es eher unwahrscheinlich, dass dieser auf den Familiennamen eingewirkt hat. Dagegen sind in siebenbürgischen Pfarrbüchern Kolonisten aus Kurtrier namens Leblang aus Marpingen (Saarland) erwähnt.25 Diese Belege sowie die heutige Verbreitung deuten darauf hin, dass der Name im 18. Jahrhundert nach Siebenbürgen gelangte und sein Ursprungsgebiet an der Mosel und im Saarland liegt. Dadurch eröffnet sich eine weitere, bisher vernachlässigte Deutungsmöglichkeit. So liegt || 23 Family Search, Datenblatt: Andreas Le Blang (27.07.2015). 24 Family Search, s. v. Familienname Leblang (27.07.2015). Vgl. auch Suchergebnis Leblang bei Compgen (27.07.2015). 25 Vgl. http://www.hfrg.de/index.php?id=419 (27.07.2015).

Das Digitale Familiennamenwörterbuch Deutschlands | 151

es nahe, den Namen etymologisch eher zu frz. Leblanc zu stellen, zumal in diesem Gebiet auch die typische schriftliche Wiedergabe der deutsche Aussprache für die nasalierten Vokale im Auslaut durch auftritt (Heuser 2011: 359, 366, Karte 6). Der Familienname Leblanc (‚der Weiße‘ in Bezug auf die Haarfarbe) ist mit ca. 23 493 NamenträgerInnen in Frankreich26 bzw. 1209 in Belgien27 vertreten. In Deutschland ist er mit 33 Telef. belegt (siehe Karte 5a). Daneben repräsentiert der Familienname Leppla, mit Verbreitung in der Pfalz (Karte 5b), eine weitere eingedeutschte Variante von Leblanc (siehe auch DFA Bd. 3, 2012: 676– 677).28

Karte 6: Verbreitung des Familiennamens Mutschler (absolut)

Zeichnet sich der Verbreitungsschwerpunkt eines Namens in Grenznähe ab, liegt die Vermutung nahe, dass es auch Vorkommen jenseits der Ländergrenzen gibt. Im Falle des im alemannischen Raum verbreiteten Familiennamens Mutschler (Verbreitung siehe Karte 6; Berufsname für einen Bäcker, siehe Tab. 2)

|| 26 Kartierung Frankreich, s. v. Leblanc (23.07.2015). 27 Kartierung Belgien, s. v. Leblanc (23.07.2015). 28 Der Name könnte auch ein Wohnstättenname zu frz. le plat ‚Platte‘ sein, siehe Steffens (2013: 180, Karte 128, 187).

152 | Rita Heuser & Mirjam Schmuck setzt sich die Verbreitung des Namens im Elsass mit 508 NamenträgerInnen29 fort. Damit können grenzübergreifende, regional zusammenhängende Familiennamenlandschaften abgebildet werden.

4 Ausblick: Digitale Vernetzung Seit einigen Jahren entstehen in Europa digitale Kartierungs- und Nachschlagemöglichkeiten für Familiennamen. Neben der noch ausstehenden Printfassung gibt es seit Mai 2012 die Möglichkeit, Namen in Luxemburg und den Nachbarländern mit Hilfe des Luxemburgischen Familiennamenatlas (LFA)30 online zu kartieren, ergänzt um kurze etymologische Angaben. In Arbeit ist ein vergleichbares Projekt zu den Familiennamen Großbritanniens „Family Names of the United Kingdom (FaNUK)“, das unter dem Titel Dictionary of Family Names in Britain and Ireland (FaNBI) online und in einer Printfassung erscheinen wird. Das Vorhaben „Najczęstsze nazwiska w Polsce – współczesność i historia. Słownik elektroniczny“ („Die häufigsten Familiennamen in Polen – Gegenwart und Geschichte. Elektronisches Wörterbuch“, unter der Leitung von Prof. Dr. Katarzyna Skowronek unter Beteiligung von Prof. Dr. Barbara Czopek-Kopciuch) ist nach Vorbild des DFD gestaltet und wurde im Frühjahr 2014 bewilligt. Für Österreich besteht bereits eine digitale Version Familiennamen Österreichs (FamOs).31 Die „Nederlandse Familienamenbank (NFB)“32 wurde vom Meertens Institut erarbeitet und bietet Kartierungsmöglichkeiten, historische Belege und Namendeutungen. In Anbetracht dieser bereits erstellten oder noch in Arbeit befindlichen Familiennamenwörterbücher auf europäischer Ebene bietet es sich an, langfristig an eine umfangreiche Vernetzung zu denken, die über die gegenseitige Verlinkung hinausgeht. Zukünftige Überlegungen könnten in Richtung eines Familiennamenwörterbuchverbundes gehen, vergleichbar mit dem Wörterbuchnetz des Kompetenzzentrums der Universität Trier33. Hier wäre dann eine wörterbuchübergreifende Suche und eine Recherche zu Familiennamen im europäischen Raum denkbar.

|| 29 Kartierung Frankreich, s. v. Mutschler (07.07.2015). 30 http://lfa.uni.lu/ (09.07.2015). 31 hw.oeaw.ac.at/famos (08.07.2015). 32 http://www.meertens.knaw.nl/nfb/ (08.07.2015). 33 http://woerterbuchnetz.de/ (08.07.2015).

Das Digitale Familiennamenwörterbuch Deutschlands | 153

Vernetzungsmöglichkeiten bieten sich auch mit Einträgen zu Familiennamen in der Deutschen Biographie34 bzw. in elexiko35 an. In Planung ist auch ein Austausch mit dem Marburger Projekt Regionalsprache.de (REDE)36 zur dortigen Integration von Namenkarten, die dann zum Vergleich mit entsprechenden Sprach- und Dialektkarten herangezogen werden können.

Abb. 1: Vernetzungsmöglichkeiten des DFD

Die digitale Lexikographie eröffnet folglich auch im Bereich der Onomastik zahlreiche neue Möglichkeiten und Perspektiven, vor allem bei der Überprüfung und Stützung der Namendeutungen und der Erschließung neuer Datenquellen. Das DFD profitiert hierbei nicht nur von vergleichbaren modernen Wörterbüchern, sondern auch im Besonderen von der fortschreitenden digitalen Erfassung historischer Wörterbücher und Quellen. Wünschenswert wären

|| 34 http://www.deutsche-biographie.de/ (08.07.2015). 35 http://www.owid.de/wb/elexiko/start.html (08.07.2015). 36 http://www.regionalsprache.de/ (09.07.2015).

154 | Rita Heuser & Mirjam Schmuck ferner weitere online verfügbare onomastische Datenbanken, etwa zu Flurnamen und zur Siedlungsnamengeographie.

Literatur Bahlow, Hans (1975): Mittelhochdeutsches Namenbuch nach schlesischen Quellen. Ein Denkmal des Deutschtums. Neustadt an der Aisch: Degener. Bahlow, Hans (2005): Deutsches Namenlexikon. Familien- und Vornamen nach Ursprung und Sinn erklärt. 16. Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Berger, Fritz & Otto Etter (1961): Die Familiennamen der Reichsstadt Eßlingen im Mittelalter. Stuttgart: Kohlhammer. Brechenmacher, Josef Karlmann (1957–63): Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Familiennamen. 2 Bde. Von Grund auf neugearb. Aufl. Limburg/Lahn: Starke. Casemir, Kirstin (2009): Familiennamen aus Berufsbezeichnungen. Namengebung und Namenmotivation am Beispiel des Bäckergewerbes. In: Karlheinz Hengst & Dietlind Krüger (Hrsg.): Familiennamen im Deutschen. Erforschung und Nachschlagewerke. Deutsche Familiennamen im deutschen Sprachraum. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 165–191. DFA = Deutscher Familiennamenatlas (2012). Bd. 3: Morphologie der Familiennamen. Berlin, Boston: de Gruyter. Dietz, Alexander (1907): Stammbuch der Frankfurter Juden. Geschichtliche Mitteilungen über die Frankfurter jüdischen Familien 1349–1849. Frankfurt/M.: Goar. Online verfügbar unter https://archive.org/stream/bub_gb_S2ILAAAAIAAJ#page/n3/mode/2up (08.10.2015). Dittmaier, Heinrich (1956): Ursprung und Geschichte der deutschen Satznamen. Zugleich ein Beitrag zur vergleichenden Namenkunde. Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 7, 7–94. Duden Familiennamen. Herkunft und Bedeutung. Bearb. V. Rosa Kohlheim & Volker Kohlheim. 2., völlig neu bearb. Aufl. Mannheim u. a.: Dudenverlag 2005. DWB = Deutsches Wörterbuch (1984). Herausgegeben von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 16 Bde. [in 32]; Quellenverzeichnis. Nachdr. der Ausgabe Leipzig 1854–1954. München: dtv. Online: dwb.uni-trier.de. Gottschald, Max (2006): Deutsche Namenkunde. Mit einer Einführung in die Familiennamenkunde von Rudolf Schützeichel. 6. durchges. und bibliogr. aktualisierte Aufl. Berlin, New York: de Gruyter. Heuser, Rita (2011): Französische Familiennamen in Deutschland. In: Karlheinz Hengst & Dietlind Krüger (Hrsg.): Familiennamen im Deutschen. Erforschung und Nachschlagewerke. Familiennamen aus fremden Sprachen im deutschen Sprachraum. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 349–372. Heuser, Rita & Damaris Nübling (2010): Von Angenendt über Derix, Janssen und Terlinden bis Elspaß. Niederrheinische Familiennamen im Rahmen des Deutschen Familiennamenatlasses. In: Georg Cornelissen & Heinz Eickmans (Hrsg.): Familiennamen an Niederrhein und Maas. Von Angenendt bis Seegers/Zeegers. Bottrop: Pomp, 37–66. Heuser, Rita & Mirjam Schmuck (2014): Das Digitale Familiennamenwörterbuch Deutschlands (DFD). Werkstattbericht und erste Ergebnisse am Beispiel der Komposita mit -müller. Beiträge zur Namenforschung 49 (4), 377–412. Hoffrichter, Kirsten (1992): Echonamen. Heidelberg: Winter.

Das Digitale Familiennamenwörterbuch Deutschlands | 155

Kempf, Luise & Jessica Nowak (2011): Neubert, Grunert, Taubert: Die Erweiterung von -er zu -ert im Licht der Familiennamengeographie. In: Rita Heuser, Damaris Nübling & Mirjam Schmuck (Hrsg.): Familiennamengeographie. Ergebnisse und Perspektiven europäischer Forschung. Berlin, New York: de Gruyter, 305–320. Kunze, Konrad (2004): dtv-Atlas Namenkunde. Vor- und Familiennamen im deutschen Sprachgebiet. 5. überarb. und erw. Aufl. München: dtv. (Digital: Atlas Namenkunde (2005). Vorund Familiennamen im deutschen Sprachgebiet. Berlin: Directmedia Publishing.) Marzell, Heinrich (2000): Wörterbuch der deutschen Pflanzennamen. Bd. 1. Fotomechanischer Nachdr. der Erstausgabe Leipzig: Hirzel 1943. Köln: Parkland-Verlag. Naumann, Horst (2005): Das große Buch der Familiennamen. Alter, Herkunft, Bedeutung. Augsburg: Weltbild. Nölle-Hornkamp, Iris (1992): Mittelalterliches Handwerk im Spiegel oberdeutscher Personennamen. Eine namenkundliche Untersuchung zu den Handwerkerbezeichnungen als Beinamen im „Corpus der altdeutschen Originalurkunden“. Frankfurt/M. u. a.: Lang. Nübling, Damaris (2010): Von Schreiner zu Schreinert oder: auf dem Wege zu einem onymischen Suffix? Der -ert-Ausgang als Ergebnis eines onymischen Verstärkungsprozesses. In: Rüdiger Harnisch (Hrsg.): Prozesse sprachlicher Verstärkung. Typen formaler Resegmentierung und semantischer Remotivierung. Berlin, New York: de Gruyter, 129–155. Nübling, Damaris & Konrad Kunze (2005): Familiennamenforschung morgen. Der deutsche Familiennamenatlas (DFA). In: Andrea Brendler & Silvio Brendler (Hrsg.): Namenforschung morgen. Ideen, Perspektiven, Visionen. Hamburg: Baar, 141–151. Pfeifer, Wolfgang (2005): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 8. Aufl., ungekürzte, durchges. Ausg. München: dtv. Steffens, Rudolf (2013): Familiennamenatlas Rheinland-Pfalz, Hessen, Saarland. UbstadtWeiher u. a.: Verlag Regionalkultur. Zoder, Rudolf (1968): Familiennamen in Ostfalen. 2 Bde. Hildesheim: Olms.

Internet (Stand: Juli 2015): Adelung (Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart): http://woerterbuchnetz.de/Adelung/ Atlas der deutschen Alltagssprache: http://www.atlas-alltagssprache.de Deutsche Biographie: http://www.deutsche-biographie.de/ Deutsches Wörterbuch: http://woerterbuchnetz.de/DWB/ Dictionary of Medieval Names from European Sources (DMNES): http://dmnes.org/names DFD/Digitales Familiennamenwörterbuch Deutschlands: www.familiennamenwoerterbuch.de Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS): http://www.dwds.de/ Duden Online: http://www.duden.de/rechtschreibung Elexiko: http://www.owid.de/wb/elexiko/start.html Familiennamen Österreichs (FamOs): hw.oeaw.ac.at/famos Family Search: https://familysearch.org Gen-evolu: http://www.gen-evolu.de/ Luxemburgischer Familiennamenatlas (LFA): http://lfa.uni.lu/ Mittelhochdeutsches Wörterbuch: http://www.mhdwb-online.de/ Nederlandse Familienamenbank: http://www.meertens.knaw.nl/nfb/

156 | Rita Heuser & Mirjam Schmuck Oekonomische Encyklopädie: http://www.kruenitz1.uni-trier.de/ Wörterbuchnetz Trier: http://woerterbuchnetz.de/ Regionalsprache.de (REDE): http://www.regionalsprache.de/ RHR digital (Akten des Kaiserlichen Reichshofrats): http://www.rhrdigital.de Compgen (Verein für Computergenealogie), Metasuche: http://meta.genealogy.net/

Kartierung (Familiennamen): Belgien: http://www.familienaam.be Frankreich: http://www.nom-famille.com/ Polen: http://www.moikrewni.pl/mapa/

Rosemarie Lühr

Wortfeldüberschneidungen und Wortfeldverschiebungen im Wortfeld „Frau“ und „Mann“1 Abstract: Stellt man die Wörter für ,Mann‘ und ,Frau‘ in den germanischen Sprachen in ihren Wortfeldverband, ergeben sich die Wortfelder ,iuventus‘/ ,senectus‘, ,familia‘, ,matrimonium‘, ,honestas‘, ,fornicatio‘, generisch ,Frau‘, ,Mann‘ und ,Mensch‘. Bei der Distribution der zu diesen Teilwortfeldern gehörigen Wörter geht es um Wortfeldkonstanz und Wortfeldvarianz. Wörter, die nur einem Wortfeld zuzuordnen sind, geben einen Einblick in die mentale Repräsentation der dahinter stehenden Begriffe. So deuten eindeutige Benennungen auf Konzepte, die im Leben und in der Gesellschaft der damaligen Sprecher fest verankert waren. Dabei können Wortfelder mit unmotivierten und motivierten Wörtern gefüllt sein. Sprachhistorische Untersuchungen am älteren Deutsch deuten auf eine Pejorisierung von Bezeichnungen für Frauen gegenüber den Bezeichnungen für Männer hin. Ob solche Pejorisierungen allgemeine Entwicklungstendenzen im Wortschatz von Sprachen widerspiegeln, ist bislang ungeklärt. Keywords: Etymologie, semantischer Wandel, Wortfeldvergleich

|| Prof. Dr. Rosemarie Lühr: DWEE, E-Mail: [email protected]; Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät II, Institut für deutsche Sprache und Linguistik, Unter den Linden 6, 10099 Berlin

1 Die deutsche Wortfeldetymologie Wortfeldüberschneidungen und Wortfeldverschiebungen, also Überschneidungen von Wörtern mit Wörtern anderer Wortfelder und Verschiebungen von Wörtern innerhalb eines Wortfeldes2, sind Untersuchungsgegenstände der „Deutschen Wortfeldetymologie in europäischem Kontext“ (= DWEE), eines Langfristvorhabens der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Es untersucht den || 1 Für kritische Hinweise danke ich Susanne Zeilfelder. 2 Vgl. dazu Lobenstein-Reichmann (2008: 92).

158 | Rosemarie Lühr substantivischen Wortschatz des Deutschen anhand des zentralen Begriffsfeldes „Mensch“ in dem modularen Aufbau dieses Feldes, in seiner historischen Schichtung und in Bezug auf das europäische Sprachareal. Dabei geht es um folgende Leitfragen: Wie wird ein bestimmter Sachverhalt, ein bestimmtes Konzept in einer Sprache oder in einer Gruppe verwandter (oder auch nicht verwandter) Sprachen bezeichnet? Existieren mehrere Versprachlichungen und, wenn ja, wie verhalten sie sich zueinander in geographischer, stilistischer oder quantitativer Hinsicht? Woher kommen die Versprachlichungen? Gib es typische Quellenkonzepte, aus denen sie sich speisen? Im Dialog mit der modernen Sprachwissenschaft und im Kontakt mit zahlreichen anderen Wörterbuch-Projekten fließen folgende grundlegende Aspekte in die Arbeit ein: a) Das DWEE ist sprachhistorisch angelegt. Innerhalb des Deutschen bezieht es sich auf die Sprachstufen Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, Frühneuhochdeutsch, Älteres Neuhochdeutsch, Neuhochdeutsch. b) Was die eigentliche Etymologie angeht, so muss der Kenntnisstand der aktuellen indogermanistischen Forschung adäquat widergegeben werden, also auch die Laryngaltheorie und die Akzent- und Ablauttheorie. c) Der Bedeutungswandel wird nach den Prinzipien der modernen Semantikforschung analysiert, das Benennungsmotiv wird bestimmt und die Wort- und Sachgeschichte einbezogen. Dabei erstreckt sich die Untersuchung jeweils von der frühesten Sprachstufe, gegebenenfalls vom Indogermanischen bis in die Gegenwartssprache, denn je länger der Beobachtungszeitraum für den semantischen Wandel ist, desto eher lassen sich auch über die Einzelwortanalyse hinaus Generalisierungen zum Bedeutungswandel treffen. d) Das jeweilige Wortfeld wird als Ganzes systematisch innerhalb des Deutschen verglichen. Dieser Vergleich zeigt, ob zu den vorhandenen Wörtern in einem Wortfeld neue hinzukommen, Wörter verschwinden oder ihre Bedeutungen verändern. Auch wird gefragt, ob sich bei der Versprachlichung von bestimmten Sachverhalten im Laufe der Zeit Veränderungen ergeben. e) Dass der deutsche Wortschatz nicht isoliert ist, sondern in interkulturellen Bezügen steht, wird durch die Aufnahme von Fremdwörtern und Europäismen, deutschen Lehnwörtern in anderen Sprachen und durch Europhrasen gezeigt.3 Eine entscheidende Innovation bei diesem Projekt ist also || 3 Vgl. dazu unseren von der Fritz-Thyssen-Stiftung geförderten „Miniaturmusterthesaurus“, in dem Aphorismen, Sprichwörter, Sentenzen, Fabeln, Exempla, Parabeln, Schwänke oder Witze zu dem Konzept ‚Arbeit‘ in ihrer Tradierung über Generationen oder Wanderung von einem Kulturraum zum anderen aufgezeigt werden. Geographisch reicht die Erfassung bis in die Kaukasus-Region und nach Anatolien, um so die kulturell vorherrschende Einschränkung auf West- oder Mitteleuropa zu vermeiden. Die Analyse ist kognitiv-linguistisch-philologisch und kulturgeschichtlich-soziologisch (vgl. auch Bock & Lühr 2014).

Wortfeldüberschneidungen und Wortfeldverschiebungen | 159

die Verbindung von Etymologie mit der Organisation des Wortschatzes nach Wortfeldern wie die Einbindung der Wortfeldbezüge in den europäischen Kontext.4

5

Abb. 1: Komponenten des DWEE

Wenn man von der zentralen Leitfrage ausgeht „Was ist ein Mensch, wie nimmt er sich und seine Welt wahr und wie versprachlicht er das?“, dann muss bei der Wortfeldauswahl der Naturbegriff des Menschen den Ausgangspunkt bilden, bevor die kulturellen Bezüge dargestellt werden. In den Wortfeldern werden also zuerst die biologischen und dann die kulturellen Eigenschaften des Menschen behandelt. Das ergibt die folgenden Wortfelder:

|| 4 Eine adäquate Darstellung solch komplexer Forschungen ist nur durch ein Konzept darstellbar, das die Möglichkeiten einer Datenbank voll ausschöpft. Das erarbeitete Material wird vielseitig abfragbar zugänglich gemacht. Denn im Zentrum des Projekts steht die Analyse von Querbezügen auf verschiedenen Ebenen. Daneben werden in projektbegleitenden Printbänden die Resultate der Untersuchungen in einem komprimierten Zugriff aufbereitet und in einer Auswertung einem breiteren Interessentenkreis zugänglich gemacht. 5 Vgl. Lühr (2011; 2012; 2014).

160 | Rosemarie Lühr (A) biologische Eigenschaften des Menschen: Der Mensch und sein Körper (B) kulturelle Eigenschaften des Menschen (B)(1) der Mensch im Alltag: Wohnung, Nahrung, Kleidung (B)(2) Mensch und Mitmensch: Verwandtschaft, Gesellschaft, Recht (B)(3) Mensch und Religion und Ethik (B)(4) Mensch und Wirtschaft (B)(5) Mensch und Wissenschaft und Kunst (B)(6) Mensch und neue Technologien

Bd. 1 Bd. 2 Bd. 3 Bd. 4 Bd. 5 Bd. 6 Bd. 76

Abb. 2: Die Konzeption des Gesamtwortfeldes

Aus der gerade abgeschlossenen Bearbeitung des Gesamtwortfeldes ,Mensch und Mitmensch‘, das die Wortfelder ,Mensch, Verwandtschaft, Gesellschaft und Recht‘ enthält, soll nun ein untergeordnetes Wortfeld dargestellt werden, das, wie man annimmt, Wortfeldverschiebungen zeigt: das Wortfeld ,Frau‘. Es wird dem Wortfeld ,Mann‘ gegenübergestellt. Sprachhistorische Untersuchungen am älteren Deutsch deuten auf eine Pejorisierung von Bezeichnungen für Frauen gegenüber den Bezeichnungen für Männer hin. Ob solche Pejorisierungen allgemeine Entwicklungstendenzen im Wortschatz von Sprachen widerspiegeln, ist bislang ungeklärt. Um dieser Frage nachzugehen, wird der althochdeutsche Bestand der Wörter der Wortfelder ,Frau‘ und ,Mann‘ mit dem der anderen ger|| 6 Bd. 8 enthält Neologismen und eine Synthese.

Wortfeldüberschneidungen und Wortfeldverschiebungen | 161

manischen Sprachen verglichen. Daraus geht hervor, wo Wortfeldüberschneidungen vorliegen und wo tatsächliche Wortfeldverschiebungen eingetreten sind.

2 ,Frau‘ und ,Mann‘ im Alt- und Mittel-, Frühneuhochdeutschen Den Befund im Althochdeutschen hat Kochskämper (1999a) dargestellt: Von den zahlreichen Wörtern für das weibliche Geschlecht, magad, magatīn, diorna, jungfrouwa, itis, hērra, hērōra, quena, wīb, bezeichnet frouwa noch nicht die Ehefrau, sondern steht sowohl für verheiratete als auch unverheiratete Frauen und hat das auf die Stellung der Frau in der Gesellschaft verweisende Merkmal ,von vornehmem Stand‘. Eine Konkurrenzform ist hērra ,Herrin, Herrscherin‘, das aber nur in drei Glossenbelegen (dominatrix) auftritt; vgl. Abrogans herōra ,Herrin, era‘. Zur gleichen Zeit übersetzt itis in den Glossen lat. matrona, und Otfrid spricht von Maria als itis frono. In der Bedeutung ,hochstehende (verheiratete) Frau‘ wird das Wort aber zunehmend durch frouwa ersetzt; vgl. mīn frouwa ,meine Herrin‘ (z. B. mīn frouwa sancta Maria) (Kochskämper 1993: 159). Demgegenüber bezieht sich der Beleg in den Merseburger Zaubersprüchen auf mächtige zauberische Wesen.7 Speziell die junge Frau, das Mädchen bezeichnen magad, magatīn, thiorna, jungfrouwa (puella, virgo, iuvencula, adulescentula) und die Frau im Allgemeinen quena und wīb (mulier, feminina) (Kochskämper 1999a: 71, 95). Mit Kochskämper (1999b: 21–24) sind mehrere Asymmetrien bei diesem Wortfeld festzustellen: a) Bei den Bezeichnungen für den Mann findet sich kein Neutrum. Die neben dem movierten Femininum frouwa vorhandenen Neutra, das Diminutivum magatīn (gelegentlich juncfrouwelīn) und wīb, werden jedoch nicht nur durch das Pronomen iz ,es‘, sondern auch durch siu ,sie‘ wiederaufgenommen.8 Unterschiede zwischen dem grammatischem Genus und natürlichem Sexus waren also im Sprecherbewusstsein vorhanden. b) Der quena steht die virgo intacta, magatīn und diorna, gegenüber, wohingegen bei den Wörtern für ,Mann‘ kein Virginitätskriterium vorhanden ist.

|| 7 Weiteres EWA (V: 235–238). 8 Weiteres bei Fleischer (2012).

162 | Rosemarie Lühr c) Auf Frauen wird häufig mit quena Bezug genommen, auf Männer dagegen mit Eigennamen oder Funktionsbezeichnungen. d) Das Merkmal ,eheliche Beziehung‘ ist im Wortfeld dominant lexikalisiert: quena/mhd. kone, brūt/nhd. Braut, wituwa/nhd. Witwe, kebis ,Nebenfrau‘. e) Beim Wortfeld ,Mann‘ wird jungo, jungeling (iuvenis, adulescens) zur Bezeichnung des Gegensatzes ,jung‘ vs. ,alt‘ oder der mittleren Lebensphase (chind/puer, jungeling/iuvenis, alto/senex) verwendet. Feminine Pendants zu jungo, jungeling, auch jungiro, gibt es nicht. f) Beim Merkmal ,Macht‘ bildet jungo, jungeling, jungiro einen Gegensatz zu hēriro, hērro. Im Wortfeld ,Frau‘ existiert, abgesehen von der genannten Gelegenheitsbildung hērra, keine Entsprechung. g) gomman bezeichnet den Mann im Gegensatz zu Frau, ebenso man; vgl. die Paarformel man unde wīb, Wortbildungen mit -man für männliche Namen, Funktionen, Berufe und die Anrede (guat) man. Daneben bedeutet das Wort man auch ,Mensch‘ . Es wird nie für einzelne Frauen gebraucht. Bereits seit dem 12. Jh. kommt vrouwe auch als Geschlechtsbezeichnung ohne sozialdistinktive Bedeutungskomponente vor. In Verbindung mit einem Eigennamen tritt Frau im 11./12. Jh. auf, bürgerliche Namen finden sich mit diesem Wort erstmals im 14. Jh. (Harm 2005). Ebenfalls im 12. Jh. trat diorna für ,ancilla‘ ein, und zwar unter der Doppelrolle von Maria als virgo und als ancilla domini. diu ,Dienerin‘ war schon weithin untergegangen (EWA II: 681). Wie die weitere semantische Entwicklung bei den Wörtern für ,Frau‘ bis in die Gegenwart deutlich macht, traten vor allem in frühneuhochdeutscher Zeit pejorisierende Wortfeldverschiebungen ein. Die abwertende Bedeutung von Weib und die Bedeutung ‚Dienerin‘ von Magd konnten sich aber erst voll entwickeln, nachdem Frau zur neutralen Bezeichnung geworden war (Kotzenberg 1907; Ludwig 1937). Die Pfade dieser Pejorisierungen haben König (2015) und Nübling (2011) nachgezeichnet. Es kam zur sozialen Degradierung/Deklassierung (Weib ,schlampige, liederliche Frau [Schimpfwort]‘, Frau ,Ehefrau, Frau‘ [nach dem Wegfall von Fräulein], Fräulein > Ø [durch die feministische Sprachkritik], Frauenzimmer ,liederliche Frau‘ [Frauenzimmer ,Gefolge der Fürstin‘]), zur Funktionalisierung (im niedrigen Dienstleistungsbereich) (Magd ,Haus-/Hofangestellte für grobe, einfache Arbeiten‘, Mamsell ,einfache ,Küchenangestellte, Prostituierte‘ [frz. mademoiselle ,hohe, ehrwürdige, junge unverheiratete Frau‘]), zur „Biologisierung/Sexualisierung“ (Dirne ,Prostituierte‘ ab dem 16. Jh.).9 Wie Nübling (2011)

|| 9 Nach Keller (1994; 1995) ist Sprachwandel nur ein Zerrspiegel des Kulturwandels und sozusagen ein Phänomen der „unsichtbaren Hand“. Doch sind mit Kellers Ansatz nur soziale De-

Wortfeldüberschneidungen und Wortfeldverschiebungen | 163

weiter an dem Bedeutungswandel von mhd. juncherre ,junger Herr, Edelknabe‘ zu ,Junker‘ (,Vertreter eines Adelstands, Edelmann‘) und mhd. jungvrouwe ,junge Herrin, Edelfräulein‘ zu Jungfer ,ältere, prüde, zimperliche, unverheiratet gebliebene Frau‘ nachweist, fand hier eine doppelt negative Biologisierung der Frau durch den Mann statt (mit Bezug auf Alter und Fruchtbarkeit). Die Frage ist nun, ob solche Pejorisierungen auch in anderen germanischen Sprachen zu beobachten sind. Dafür wird das Altsächsische, Altfriesische, Altenglische, Altnordische und Gotische herangezogen.

3 ,Frau‘ und ,Mann‘ in den übrigen germanischen Sprachen Bei den Übereinstimmungen und Verschiebungen im deutschen Wortfeld für ,Frau‘ und ,Mann‘ zeigt sich, dass auch Wörter für ,Dienerin‘ und ,Diener‘ relevant sind. Sie werden daher mit aufgenommen, ebenso Wörter für ,alte Frau‘, ,alter Mann‘ wie auch weitere Verwandtschaftsbezeichnungen. Im Vergleich mit dem althochdeutschen Wortfeld für ,Frau‘ und ,Mann‘10 ergibt sich nun folgende Distribution11, wobei Wörter mit mehreren Bedeutungen unter verschiedenen Wortfeldern (eigentlich Teilwortfeldern) erscheinen: Frau ,junge Frau, Mädchen‘ [puella, iuvencula, adulescentula] ahd. magad; as. magath; afries. megeth; ae. mægeþ; got. magaþs ahd. magatīn; afries. meiden; ae. mægden ahd. itis; as. idis; ae. ides ae. méowle; got. mawilo ahd. jungfrouwa; afries. jungfrouwe ahd. diorna; as. thiorna afries. fāmne; ae. fǽmne ahd. jungfrouwilīn (12. Jh.) got. mawi an. brūđs

Mann ,junger Mann, Knabe‘ [puer, iuvenis, adulescens, iunior] afries. mage; ae. magu; an. mǫgr; got. magus ahd. degan; as. thegan; an. þegn ahd. jungiling; afries. jongeling; ae. geongling; an. ynglingr (< mhd.) ahd. knabo, knappo (12. Jh.); afries. knapa; ae. cnafa, cnapa ahd. kneht; as. kneht; ae. cniht ahd. kind; as. kind afries. jongera, jungra ae. cnihtcild

|| gradierungen als Folge von Inflationierung erklärbar: Frau: ,adelige Frau‘ > ,Frau‘, Frau in der Anrede vor Namen, ebenso Herr in der Anrede vor Namen (vgl. dazu Nübling 2011: 351). 10 Vgl. Kochskämpers (1999b: 20) Darstellung für das Althochdeutsche. 11 Zum Altsächsischen vgl. Tiefenbach (2010).

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Frau ae. wīfcild

Mann ae. esne ae. esnemann ae. foregenga ae. gefœ̄ra an. drengr an. sveinn ,alte Frau‘ ,alter Mann‘ [senex] as. quena ahd. alto ahd. altdiu an. karl ,Dienerin‘ ,Diener‘ [ancilla] [servus, famulus, vernaculus, conservus] (mhd. magd); as. magath; afries. megeth; ahd. skalk; as. skalk; afries. skalk; got. magaþs ae. scealc; an. skalkr; got. skalks ahd. diu; as. thiu, thiwi; ae. þéowe; an. þý ahd. ambaht(i); as. ambahteo; ahd. diorna (12. Jh.); an. þerna (< mndd.) ae. ambeht; got. anbahts 12 afries. meiden; ae. mægden (ahd. swein; as. swēn; ae. svān ); afries. fāmne an. sveinn ae. þéowene ahd. knabo, knappo (12. Jh.); ae. scielcen afries. knapa; ae. cnafa, cnapa; ae. geongre an. knapi (< mndd.) ae. wīfmann ahd. asni; ae. esne; got. asneis ae. wíelen (mhd. kneht); afries. kniucht, knecht; ae. mennen ae. cneoht, cniht ae. ciefes as. ambahtman; ae. ambehtman ae. efenþeówen as. jungro; ae. geongra an. ambátt afries. mann; ae. mann an. þjonustkona ae. þéo(w); got. þius ae. þegn; an. þegn ae. þrǽl (< an.); an. þræll afries. thiāner; an. þēnari (< mndd.) ahd. asnā>ri ahd. drigil as. jungling 13 as. weneri as. inkneht afries. tzerl, kerl ae. magu ae. þegn 14 ae. wencel

|| 12 Die spezielle Bedeutung ist ,Schweinehirt‘. 13 Zu as. wennian ,gewöhnen, versehen‘.

Wortfeldüberschneidungen und Wortfeldverschiebungen | 165

Frau

,Dirne, Hure‘ [meretrix scortum] ahd. huor n. ahd. huor(r)a; spätae. hōre; aisl. hóra ahd. hurārara (10. Jh.) as. gemēne wīf ae. hōrcwene ae. ciefes ae. cwene ae. scrætte an. ambátt ‚Hurenkind‘ ahd. huorkind ,junge unverheiratete Frau‘ got. brūþs ahd. magad ,(jungverheiratete) Frau, Ehefrau‘

Mann ae. þéowa ae. geþéowa ae. þéowmann ae. þéowwealh ae. céapcniht ae. efenesne ae. efenþegn ae. efenþéow(a) ae. ambehtmæcg ae. hŷra ae. wicþegn ae. wealh, wíel ae. inbyrdling an. hýi an. þjōnn an. þjōnustumaðr an. drengr an. kefsir got. magus got. andbahts got. þēwis (Kollektiv) ,Dienerchen, kleiner Diener‘ [familicus] ae. þéowincel ae. wíelincel ,Unzucht Treibender‘ got. hors; aisl. hórr; ahd. huorā1ri

,junger unverheirateter Mann‘ afries. knapa ,Ehemann, Bräutigam‘

|| 14 Auch ,Kind‘; zu ae. wancol ,unstet, schwankend‘.

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Frau ahd. brūt; as. brūth; afries. breid; ae. brȳd; an. brūđr; got. brūþs ahd. magatīn ,Ehefrau‘ [coniunx] as. wīf; ae. wīf; an. wīf ae. gebedda; anord. beđja as. frī; an. Frigg ahd. hī(w)a; as. hīwa as. brūd; ae. brŷd as. gimehlida ae. ǽwe ae. geresta ae. resta ae. rihtǽ ae. rihtwīf an. pūsa. spūsa (< afrz.) an. poet. kvǽn, kwān , kvǫ1n an. kona, kvenna, kwinna got. quens ,geschiedene Frau‘ ae. ǽlǽte ,Witwe‘ [vidua] ahd. wituwa; afries. widwe; ae. widewe; got. widuwo ae. lāf ,Nebenfrau‘ ahd. kebis; as. kevis; ae. ciefes ahd. kebisa ahd. kebisweib (12. Jh.) an. ambátt 17 ,Mutter‘ ahd. muoter usw. ,Schwiegertochter‘ got. brūþs

Mann ahd. brūtigomo; as. brūdigomo; afries. breidgoma; ae. brýd(i)guma; an. brūðgumi ,Ehemann‘ [coniunx, maritus] ahd. karl; as. karl ahd. hī(w)o 15 (mhd. gate, gegate ,Gatte‘) ae. ceorl afries. mann an. poet. verr an. pūsi, spūsi (< afrz.) 16 got. aba ahd. hīwun; afries. hiōna, hiūna, hīna; ae. hīwan, hīgan; an. hjón, hjún, hjú (Kollektiv)

,geschiedener Mann‘ – ,Witwer‘ (mhd. witwer)

,Buhle‘ ahd. kebis(i)ling

,Vater‘ ahd. fater usw. an. māgr ,Schwiegersohn‘ got. megs

|| 15 Diese Bedeutung ist selten (EWA IV: 105). 16 1. Thess 4,4 steht got. kas für gr. skeũos ,Gefäß‘ und wurde von Luther als ,Ehefrau‘ übersetzt. Diese Deutung ist aber umstritten. 17 Bei den Verwandtschaftsbezeichnungen für die engere Familie wird nur eine Auswahl getroffen. Es werden vornehmlich Wörter gewählt, die auch noch in anderen Wortfeldern auftreten.

Wortfeldüberschneidungen und Wortfeldverschiebungen | 167

Frau ,Schwiegermutter‘ ahd. swigar; ae. sweger: an. sværa; got. swaihro afries. frouwe ,Großvater‘ an. afe

Verwandte ae. mǽg

,erhabene junge Frau‘ ahd. jungfrouwa; an. jungfrú (< mndd.)

,erhabene Frau, Herrin‘ [matrona, domina, [h]era] ahd. frouwa; as. frōia; afries. frouwe; ae. frōwe ahd. itis; as. idis; ae. ides as. quān; ae. cwēn ahd. her(ō)ra as. frī afries. wīf afries. ethelwīf ae. hlǽfdīge an. frú (< as.) an. Freyja

,Frau‘ [femina, mulier] ahd. quena; ae. cwene; an. kona, kvenna,

Mann ,Schwiegervater‘ ahd. swehur; ae. swēor; aschwed. svēr; got. swaihra an. māgr ,Großmutter‘ got. awo ,Bruder der Mutter‘ 18 ahd. ōheim; ae. ēam; afries. ēm Verwandter ahd. māg; as. māg; afries. mēch; ae. mǽg; an. māgr ahd. gataling; as. gaduling; ae. gædeling; got. gadiliggs an. konr ,erhabener junger Mann‘ (mhd. jungherre); afries. junker (< mhd.); an. jungherra (< mndd.) ,erhabener Mann, Herr‘ [senior, dominus, [h]erus, nobilis] ahd. frō; as. frō, frōio; ae. fréa; got. frauja ahd. degan; ae. þegn; an. þegn 19 as. erl; ae. eorl; an. jarl ahd. truhtin; as. drohtin ahd. hēr(i)ro; as. hero ahd. gomo as. ethiling as. mandrohtin as. thiodan afries. frāna afries. ethelmann ae. ealdorman ae. ceorl an. ǫldungr ,Mann‘ [vir, mas, homo] ahd. man; as. man; afries. man;

|| 18 Urgerm. *awa-haima- enthält als Vorderglied denselben Fortsetzer von idg. *h2euh2o‚Großvater‘ wie lat. avus. Nach Mezger (1960) ist *awa-haima- ein Possessivkompositum „*der das Haus des Großvaters hat“, was durch die Rechtsnachfolge des Mutterbruders beim Tod des Großvaters motiviert ist (Zeilfelder 2015); anders Kluge: s. v. 19 Nächst dem König höchster Titel in Norwegen.

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Frau kvinna; got. qino ahd. wīb; as. wīf; afries. wīf; ae. wīf; an. wīf afries. frouwe; ae. frōwe; an. frouva (< mndd.); an. frú (< as.) as. fēmia; afries. fāmne; ae. fǽmne ae. gebedda; an. beđja ahd. mannin ahd. gomman(n)in as. femia afries. frouwesnoma afries. frouwespersōna ae. geresta, resta ae. ides ae. mǽg ae. mægeþ ae. brȳd ae. frēo ae. wīfmann ae. wīfcynn (Kollektiv) an. dís an. mála an. kella an. kelling 23 an. lafđi (< me. ) 24 an. Freyja got. qineina (Kollektiv)

Mann an. maðr; got. manna ahd. gumo; as. gumo; ae. guma; an. gumi; got. guma ahd. wer; as. wer; an. poet. werr; got. wair 20 ahd. degan; ae. þegn; an. þegn ahd. helid; ae. hæle, hæleÞ; an. hǫlðr, halr ahd. karl; an. karl ahd. gomman afries. tzerl, zerl ae. esne ae. scealc ae. gefœ̄ra ae. swān an. karlmaðr an. afe an. drengr 25 an. seggr an. poet. konr 26 an. poet. fjǫrr

Mensch [homo] ahd. man; as. man; afries. mann; an. maðr; got. manna ahd. gomo; as. gumo; ae. guma; an. gumi ahd. mennisco; as. mennisco; afries. menniska; an. manneskja

|| 23 Ae. hlǽfdīge. 24 Zahlreiche Bezeichnungen für ,Frau‘ sind in der Edda bezeugt: ,Die Töchter nannten sie mit diesen Namen: Snot, Brudr, Swanni, Swarri, Spracki, Fliod, Sprund und Wif, Feima, Ristil‘. Vgl. auch an. selja ,Frau‘, eigtl. ,Geberin‘. 20 ,freier, unabhängiger Mann‘. 25 ‚Gefolgsmann‘. 26 Lühr (1982: s. v. fireo).

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Mensch [homo] ahd. liut (Kollektiv); as. liud (Kollektiv); an. ljōðr, lȳðr (Kollektiv) ahd. firah (Kollektiv) as. barn as. heliđ- (heliđcunni ,Menschengeschlecht)‘ as. liudbarn (Kollektiv) ae. þegn

Bei der Distribution der Wörter in diesen Wortfeldern geht es nun zunächst um Polysemie und Monosemie, dann um die Wortfelder im Einzelnen. In die Beschreibung fließen auch Angaben zu Etymologien ein. Sind Wortfelder nicht nur mit unmotivierten, sondern auch mit motivierten, d. h. in ihrer Grund- oder etymologischen Bedeutung durchschaubaren Wörtern gefüllt, ist dies ein Indiz für Relevanz und Aktualität der in diesen Feldern bezeichneten Wortinhalte.

4 Die Distribution der Wörter für ,Frau‘, ,Mann‘ 4.1 Monosemie Unter den Wörtern für ,Frau‘ und ,Mann‘ finden sich Wörter mit nur einer Bedeutung, die Diminutive ae. méowle und got. mawilo, die gotische Ableitungsbasis mawi ,junge Frau, Mädchen‘, ferner ahd. altdiu ,alte Frau‘ und alto ,alter Mann‘. Ebenso gibt es unter dem Wortfeld ,Dienerin‘ und ,Diener‘ Wörter allein in dieser Bedeutung: ahd. diu; as. thiu, thiwi; ae. þéowe; an. þý; ae. þéowene; an. þjonustkona bzw. ahd. skalk; as. skalk; afries. skalk; ae. scealc (mit Motionsfemininum ae. scielcen); an. skalkr; got. skalks; ae. þéo(w); got. þius; afries. thiāner; an. þjōnn; an. þjōnustumaðr; an. þēnari (< mndd.); ae. geþéowa; ae. þéowmann; ae. þéowwealh; got. þēwis (Kollektiv); ae. þrǽl (< an.); ahd. drigil; an. þræll. Während bei den Wörtern für ,junge Frau, Mädchen‘ das – für die Germanen nicht mehr durchschaubare – mit Jugend einhergehende Merkmal ,stark, kräftig‘ das Benennungsmotiv ist und bei den Wörtern für ,alte Frau‘, ,alter Mann‘ das Benennungsmotiv ,alt‘, das auch ausdrucksseitig mit dem Lexem alt gekennzeichnet ist, ist es bei den weiter verbreiteten Wörtern für ,Dienerin‘ und ,Diener‘ das Merkmal ,laufen‘ (uridg. *tekw- ,laufen‘); vgl. lit. tekũnas ‚Bote,

170 | Rosemarie Lühr Läufer‘. Ebenso weisen an. þræll und das verwandte althochdeutsche Wort drigil (< urgerm. *þragila-, *þrahila-, *þrēhila-) wie das zugehörige Verb got. þragjan ,laufen‘ (EWA II: 775–778) auf diese Art der Benennung; vgl. das aus dem Keltischen entlehnte Wort gall. ambactus, eigtl. ,der Herumgeschickte‘ (vgl. ahd. ambaht(i); as. ambahteo; ae. ambeht; got. anbahts; EWA I: 195 f.). Die Motiviation für diese Benennungen war den Germanen verborgen. Sonderbedeutungen haben die etymologisch durchschaubaren Wörter ae. céapcniht ,(gekaufter) Diener, emptitius‘, ae. hŷra ,(gemieteter) Diener‘, ae. wicþegn ,Wochendiener‘; ae. wealh, wíel ,Welscher, Kelte, Brite, Waliser, Fremder‘ (mit dem Motionsfemininum ae. wíelen). Hinzu kommen einige Wörter zur Bezeichnung des Ehestandes (5.3): Bräutigam; Witwe; ae. lāf ,Witwe‘; ae. ǽlǽte ,geschiedene Frau‘; ahd. kebis; as. kevis; ae. ciefes; ahd. kebisa; ahd. kebisweib (12. Jh.) ,Nebenfrau‘; ahd. kebis(i)ling ,Buhler‘; die Wörter Hure, Hurer. Auch das Wort Mensch, ahd. mennisco, as. mennisco, afries. menniska, an. manneskja (Vries 1977: 378), erscheint nur in dem Wortfeld ,Mensch‘. Deutbar waren für die Germanen nur ae. lāf ,Witwe‘; ae. ǽlǽte ,geschiedene Frau‘; ahd. mennisco usw. ,Mensch‘. Aber unabhängig davon, ob diese Wörter den Sprechern der Germanen motiviert oder unmotiviert vorkamen, die Wörter, die allein einem Wortfeld angehören, geben einen Einblick in die mentale Repräsentation der dahinter stehenden Konzepte. Wenn ein Bedarf an eindeutigen Benennungen dafür besteht, waren sie im Leben und in der Gesellschaft der damaligen Sprecher fest verankert.

4.2 Polysemie Die meisten der angeführten Wörter werden aber polysem verwendet, d.h, sie kommen oftmals auch in anderen Wortfeldern vor. Im Einzelnen sind es die Wortfelder ,iuventus‘/,senectus‘, ,familia‘, ,matrimonium‘, ,honestas‘, ,fornicatio‘, generisch ,Frau‘, ,Mann‘ und ,Mensch‘.

5 Wortfelder 5.1 iuventus/senectus Während das Wortfeld ,iuventus‘ gut besetzt ist, finden sich für das Feld ,senectus‘ nur wenige Wörter (vgl. 4.1; ferner an. karl).

Wortfeldüberschneidungen und Wortfeldverschiebungen | 171

5.2 familia Dabei kommt es bei Wörtern für ,junge Frau, Mädchen‘ wie auch für ,junger Mann, Knabe‘ und ,Dienerin‘ und ,Diener‘ zu Mehrfachverwendungen. So wird die Bezeichnung der männlichen Entsprechung ,Knabe‘ zu got. mawi ,Mädchen‘ (afries. mage; ae. magu; an. mǫgr; got. magus) im Altenglischen und Gotischen auch für ,Knecht‘ gebraucht. Im West- und Ostgermanischen ist in gleicher Weise das Wort ,Magd‘ und das Diminutiv dazu eine Bezeichnung für ,Mädchen, Jungfrau‘ (ahd. magad; as. magath; afries. megith; ae. mægeþ; got. magaþs) und für ,Dienerin‘ ([mhd. magd]; as. magath; afries. megith; got. magaþs; afries. meiden; ae. mægden). Die alte Bedeutung ,junge Frau, Mädchen‘ bzw. ,junger Mann, Knabe‘ ist also bei dieser Wortsippe in den altgermanischen Sprachen weitgehend neben den Bedeutungen ,Dienerin‘ bzw. ,Diener‘ erhalten. Im Althochdeutschen wird magad dann auch für ,junge unverheiratete Frau‘ verwendet (EWA VI: s. v.). Den gleichen Befund zeigen weitere Wörter für ,junger Mann‘ und ,Diener‘: ahd. knabo, knappo (12. Jh.); afries. knapa; ae. cnafa, cnapa; ahd. kneht; as. kneht; ae. cniht; an. drengr vs. ahd. knabo, knappo (12. Jh.); afries. knapa; ae. cnafa, cnapa; an. knapi (< mndd.; [mhd. kneht]; afries. kniucht, knecht; ae. cneoht, cniht; an. drengr. Eigens bezeichnet ist die Übereinstimmung mit dem Konzept ,iuventus‘ mit den Lexemen jung, ,Kind‘ oder mit Diminutivsuffix für ,junge Frau, Mädchen‘, ,junger Mann, Knabe‘ und ,Dienerin‘, ,Diener‘: ahd. jungfrouwa; afries. jungfrouwe; ahd. jungfrouwilīn (12. Jh.); ae. wīfcild; ahd. magatīn; afries. meiden; ae. mægden ,Mädchen‘ vs. ae. mægden; afries. meiden ‚Dienerin‘; ahd. jungiling; afries. jongeling; ae. geongling; an. ynglingr (< mhd.), ae. cnihtcild; afries. jongera, jungra ,puer‘ vs. as. jungro; ae. geongra ,Diener‘, ae. geongre ,Dienerin‘. Da auch die Vorformen von got. magus und mawi in ihrer Bedeutung das Merkmal ,jung‘ enthalten (uridg. *maghu- ‚Sohn‘ > air. m[a]ug, gall. PN Magu-; vgl. jav. maγauua- ‚unverheiratet‘), liegen hier Remotivierungen vor. Grundsätzlich bleibt hier festzuhalten: Das Nebeneinander der Bedeutungen ,junge Frau, Mädchen‘, ,junger Mann, Knabe‘ und ,Dienerin‘, ,Diener‘ weist darauf hin, dass in den altgermanischen Sprachen die Konzepte ,Dienerin‘ und ,Diener‘ nicht grundsätzlich negativ besetzt waren. So ist es nicht verwunderlich, wenn Wörter mit der ursprünglichen Bedeutung ,Dienerin‘ oder ,Diener‘ umgekehrt zu Bezeichnungen für ,junge Frau‘, ,junger Mann‘ werden. Dies ist der Fall bei urgerm. *Þewernō(n)- (Ableitung von urgerm. *Þewa- ,Diener‘) ,Knechtstochter‘. Das Wort hat schon im Abrogans die Bedeutung ,puella, virgo‘ (as. thiorna). Neben dieser Bedeutung ist dann später

172 | Rosemarie Lühr auch die Bedeutung ,Dienerin‘ aufgekommen (ahd. diorna 12. Jh.; an. þerna < mndd.; EWA II: 681–684). Aus einem Wort für ,Diener‘, das auch die neu aufgekomme Bedeutung ,junger Mann‘ hat, kann sich sogar eine Bezeichnung für einen ,erhabenen Mann‘ entwickeln: Das Nebeneinander der Wörter ahd. degan; ae. þegn; an. þegn ,erhabener Mann‘ vs. ahd. degan; as. thegn; an. þegn ,junger Mann‘ vs. ae. þegn; an. þegn ,Diener‘ hat von dem Wort ,Diener‘ seinen Ausgangspunkt genommen (vorurgerm. *tekw-nó-; zu uridg. *tekw- ,laufen‘ (EWA II: 559–561); vgl. oben). Ähnlich verhält es sich bei ahd. asni, got. asneis, ae. esne ,Diener‘ neben ae. esne ,junger Mann, iuvenis, vir‘: Das zweimal im Althochdeutschen belegte Wort steht ebenso wie die Ableitung ahd. asnā\ri im Tatian für lat. mercennarius und bedeutet ,Tagelöhner, Knecht, einer, der um Lohn arbeitet‘, ebenso got. asneis ,Mietling, μισθωτός‘. Im Angelsächsischen war der esne wahrscheinlich ein armer Freier, der um Lohn Dienste verrichtete, aber keinen so niedrigen Rang wie der þeów or wealh hatte (BT: 258; BTSupp: 763). Obwohl also das Bedeutungsmerkmal ,Lohn‘ bei diesem Wort konstitutiv ist (zu afries. esna ,Lohn‘, as. asna ,Zins, Abgabe, Lohn‘) und– für die Sprecher des Germanischen erkennbar – einen Lohn bezeichnete, der ursprünglich für die Erntearbeit entrichtet wurde (zu got. asans ,Ernte(zeit)‘, ahd. aran ,Ernte‘; EWA I: 369 f.), war ein Bedeutungswandel zu ,puer‘ und ,vir‘ möglich. Das deutet darauf hin, dass für alle diese Wörter ein an den Rändern unscharfes gemeinsames Wortfeldkonzept besteht. Es dürfte einen ähnlich weiten Bedeutungsumfang wie lat. ,familia‘ gehabt haben; vgl. an. hýi ,Diener‘ zu ahd. hī(w)a ,Gattin‘; ahd. hī(w)o ,Gatte‘ (8.2) oder ae. foregenga, ae. gefœ̄ra ,junger Mann‘ (eigtl. ,Gefährte‘). Eine untergeordnete Rolle spielen bei dem Wortfeld ,familia‘ dagegen die Konzepte ,Miteinander‘ oder ,Umstände der Geburt‘, wobei die Bezeichnung der Art der Geburt fast nur bei den Bezeichnungen des männlichen Bediensteten vertreten ist. Es sind motivierte Bildungen: vgl. ae. efenþeówen ,Mit-Dienerin‘ vs. ae. efenesne; ae. efenþegn; ae. efenþéow(a) ,Mitdiener‘ und ae. inbyrdling, as. inkneht ,im Haus geborener Sklave‘. Wenn aber in dem Wortfeld ,familia‘ unspezifische Bezeichnungen wie ,Frau‘ und ,Mann‘ gewählt werden, liegt dies daran, dass hier für ,Dienerin‘ und ,Diener‘ das Konzept ,Frau, Mann, die bzw. der zu unserer familia gehört‘, also Zugehörigkeit, impliziert wird, also ,meine Dienerin‘, ,meine Frau‘, ,mein Diener‘, ,mein Mann‘. Das Konzept ,Mitglied des Hausstandes‘ belegen hier eindeutig an. sveinn ,junger Mann‘ (ahd. swein, as. swēn, ae. swān ,Schweinehirt‘), an. sveinn ,Diener‘, ae. swān ,Mann‘, Wörter, die sich zu litau. sváinis ,Schwiegersohn‘ (< *sav-aĩnis; zu lit. sãvas, sãvo ,eigen‘) stellen (Smoczyńki 2007: 642).

Wortfeldüberschneidungen und Wortfeldverschiebungen | 173

Das Konzept ,meine Frau‘, ,mein Mann‘ ist nun auch bei den Bezeichnungen für Eheleute konstitutiv, zu denen nun übergegangen wird. Sie gehören ebenfalls zum Wortfeld ,familia‘, wie auch die Verwendung eines und desselben Wortes zur Bezeichnung von ,Diener‘ und ,Ehemann‘ (ae. gefœ̄ra) nahelegt. ,familia‘ und ,matrimonium‘ gehen hier also ineinander über. Dennoch wird ein eigenes Wortfeld ,matrimonium‘ angenommen, da die Ehe, wie die germanischen Stammesrechte belegen, bei den Germanen eine Rechtsform war.30

5.3 matrimonium Das Konzept ,Ehestand‘ spiegelt sich in mannigfachen Benennungen wieder. Wörter, die aber nur einen Aspekt dieses Standes bezeichnen, sind aber wieder selten: ahd. brūtigomo; as. brūdigomo; afries. breidgoma; ae. brýd(i)guma; an. brūðgumi, eigtl. ,Mann der Braut‘, und Wörter zur Bezeichnung der Ehefrau in einer speziellen Bedeutung, der geschiedenen Frau und Witwe: Ae. ǽwe, eigtl. ,die legitime, rechtmäßige (Frau)‘, ae. rihtǽ ,rechtmäßige Ehefrau‘ (metonymisch aus rihtǽ ,rechtmäßiges Ehebündnis‘), ae. rihtwīf ,rechtmäßige Frau‘ geben einen Hinweis auf die Ehe als gesetzliche Institution, ae.ǽlǽte ist die verlassene (Frau), und das Wort Witwe (mit dem Element *wi- ,auseinander‘) hat ein ähnliches Benennungsmotiv wie ae. lāf ,Witwe‘: ,zurückgelassene (Frau)‘, mit Ausnahme von Witwe alles motivierte Bildungen. Die übrigen Wörter des Wortfeldes ,matrimonium‘ sind wieder mehreren Wortfeldern zuzuordnen. So werden ursprünglich rechtliche Aspekte der Ehe bezeichnende Wörter für die Bezeichnung der Frau im Allgemeinen verwendet: ahd. gimelida ,Ehefrau‘, eigtl. ,die Vermählte, Zugesprochene‘ vs. an. mála ,Frau‘; ferner as. wīf; ae. wīf; an. wīf ,Ehefrau‘ vs. ahd. wīb; as. wīf; afries. wīf; ae. wīf; an. wīf ,Frau‘. War die Ausgangsbedeutung von ahd. wīb usw. ,die sich [für den Mann mit einem Schleier] umhüllt‘, wäre ursprünglich die Braut bezeichnet, das Wort dann auch zur Bezeichnung der jung verheirateten Frau gebraucht und schließlich über ,meine Frau‘ zu der generischen Bedeutung ,Frau‘ erweitert worden. Dass ein solcher Bedeutungswandel möglich ist, macht das im Wortfeld ,Frau‘ zentrale Wort Braut deutlich, dessen etymologische Bedeutung den Sprechern der Germanen wie uns heute nicht mehr präsent ist. Wie das Wort Bräutigam zeigt, war die ursprüngliche Bedeutung tatsächlich

|| 30 Zu Tacitus 18–20 vgl. Schuhmann (2009).

174 | Rosemarie Lühr ,Braut‘.31 Das Wort wurde aber auch für die jungverheiratete Frau verwendet: ahd. brūt; as. brūth; afries. breid; ae. brýd; an. brūđr; got. brūþs. Aus Sicht der Schwiegermutter handelt es sich dabei um die Schwiegertochter, got. brūþs. Gewinnt das Bedeutungsmerkmal ,jung‘ an Gewicht, kann Braut auch die junge unverheiratete Frau, got. brūþs, und weiter das Mädchen, an. brūđr, bezeichnen, im anderen Fall, wenn das Bedeutungsmerkmal ,verheiratet‘ hervortritt, auch die verheiratete Frau, as. brūd; ae. brŷd. Von diesem Gebrauch aus wurde das Wort auch generisch verwendet, ae. brŷd. Auf männlicher Seite findet sich außer dem Wort Wort Bräutigam nur afries. knapa für den jungen unverheirateten Mann und für den jungen Mann. Ein weiterer Aspekt des Wortfelds ,matrimonium‘ ist der Vollzug der Ehe. Die durchsichtigen Wörter ae. gebedda; anord. beđja, eigtl. ,Bettgenossin‘, ae. geresta; ae. resta ,eigtl. ,(Frau) mit der man ruht‘ beruhen auf dieser Vorstellung. Sie werden wiederum für das generische Wort ,Frau‘ gebraucht. Bei den Wörtern für ,Ehemann‘ findet man keine derartigen Bezeichnungen. Nur den Ehemann bezeichnen die aus dem Französischen entlehnten Wörter an. pūsi, spūsi ,Gatte‘ neben pūsa, spūsa ‚Gattin‘. Alle anderen für den ,Ehemann‘ verwendeten Wörter erscheinen auch in weiteren Wortfeldern, wobei der Gebrauch eines Wortes aus dem Wortfeld ,matriomonim‘, ,Ehefrau‘ oder ,Ehemann‘, für generisches ,Frau‘ oder ,Mann‘ wieder auf impliziertem ,meine Frau‘, ,mein Mann‘ beruht – die folgenden Wörter müssen den Germanen sämtlich als unmotiviert gelten (zu ahd. karl usw. vgl. 8.1): an. kona, kvenna, kwinna ,Ehefrau‘ vs. ahd. quena; ae. cwene; an. kona, kvenna, kvinna; got. qino ,Frau‘; got. aba ,Ehemann‘ vs. an. afe ,Mann‘32; ahd. karl, as. karl ,Ehemann‘ vs. ahd. karl; an. karl (an. karlmaðr) ,Mann‘; an. poet. verr ,Ehemann‘ vs. ahd. wer; as. wer; an. poet. werr; got. wair ,Mann‘. Der umgekehrte Fall kommt auch vor: ahd. man, as. man; afries. man; an. maðr; got. manna ,Mann‘ vs. afries. mann ,Ehemann‘.

5.4 cognatio Anders als das Wortfeld ,matrimonium‘ ist das Wortfeld ,cognatio‘ nur schwach ausgeprägt. Es gibt relationale Begriffe, deren Bezeichnungen für die Sprecher des Germanischen etymologisch nicht ableitbar sind: got. megs ,Schwiegervater‘, an. māgr ,Vater, Schwiegervater, Schwager‘, ae. mǽg ,Verwandte‘, ,Ver-

|| 31 Das Wort hat keine gesicherte Etymologie. Man vergleicht lat. Frūtis, Beiname der Göttin Venus (EWA II: 405 f.). 32 Gehört an. afe zu an. afl ,Kraft, Macht‘, war die ursprüngliche Bedeutung wohl ,Ehemann‘.

Wortfeldüberschneidungen und Wortfeldverschiebungen | 175

wandter‘, ein Wort, das auch zur Bezeichnung von ,Frau‘ gebraucht wird (ae. mǽg)33, ferner ahd. gataling, as. gaduling, ae. gædeling ,Verwandter‘, dessen einmal im Gotischen belegte Entsprechung gadiliggs die Bedeutung ,Vetter‘ hat, und schließlich an. konr ,Sohn, Mann‘34. Warum in diesem Feld für so wenige Wörter bezeugt sind, liegt daran, dass es uralte eindeutige Verwandtschaftsbezeichnungen gibt.

5.5 honestas Jedoch besteht in den altgermanischen Sprachen offenbar Bedarf an der Bezeichnung der erhabenen Frau und des erhabenen Mannes, also an Ehrentiteln. Solche Wörter für ,Frau‘ und ,Mann‘ sind ahd. itis; as. idis; ae. ides; ahd. her(ō)ra; afries. ethelwīf; ae. hlǽfdīge (aber an. lafđi ,Frau‘ < me.); as frī vs. ahd. frō; as. frō, frōio; ae. fréa; got. frauja; as. erl; ae. eorl; an. jarl; ahd. hēr(i)ro; as. hero; afries. frāna; as. ethiling; as. mandrohtin; as. thiodan; afries. frāna; afries. ethelmann; ae. ealdorman; an. ǫldungr ,erhabener Mann‘. Sind diese Wörter unmotiviert, wie as. frī, ahd. frō usw., ae. eorl usw., werden neue motivierte Ehrentitel geschaffen. Wörter für ,erhabene Frau‘ können dabei auch zur Bezeichnung von ,virgo‘, ,verheiratete Frau‘ und ,Schwiegermutter‘ verwendet werden, also auch für weitere geachtete Frauenpersönlichkeiten; ahd. itis, as. idis, ae. ides; vgl. as. idis enstio fol (Maria); as. quān; ae. cwēn ,erhabene Frau‘ vs. got. quens ,verheiratete Frau‘; afries. frouwe ,Schwiegermutter‘, in ähnlicher Weise ae. ceorl ,erhabener Mann‘ vs. ae. ceorl ,verheirateter Mann‘. Andere Wörter für ,erhabene Frau‘ und ,erhabener Mann‘ werden des Weiteren zur Bezeichnung von generischem ,Frau‘ verwendet: ahd. itis; as. idis; ae. ides ,erhabene Frau‘ vs. ae. ides ,Frau‘; ahd. frouwa; as. frōia; afries. frouwe; ae. frōwe; an. frú (< as.); an. Freyja ,erhabene Frau‘ vs. afries. frouwe; ae. frōwe; an. frouva (< mndd.); an. frú (< as.); an. Freyja ,Frau‘. Die Frage ist nun, ob hier eine Pejorisierung vorliegt, denn die Entsprechung für das männliche Pendent von ,Frau‘, ahd. frō; as. frō, frōio; ae. fréa; got. frauja, erscheint nicht als generisches ,Mann‘. Dazu sind nun Wörter aus dem Wortfeld ,fornicatio‘ beizuziehen.

|| 33 Urgerm. *mēga- ist wohl eine neugebildete Vddhi-Ableitung zu urgerm. *magu- ,Sohn‘. Das Vorbild für die ē-Stufe ist urgerm. *swēgura- ,Schwager‘ (EWA VI: s. v.; anders zu *mēgaDarms 1978: 81 ff.; vgl. Kroonen 2013: 361). 34 Urgerm. *kuna- zu ahd. kunni usw. (EWA V: 892 f.).

176 | Rosemarie Lühr

5.6 fornicatio Das Wort für ,Nebenfrau‘ ist im Westgermanischen ahd. kebis(a); as. kevis; ae. ciefes (auch ,Hure‘); ahd. kebisweib (12. Jh.)35 – die Kebsehe war eine germanische Eheform. Das Wort Kebse unterscheidet sich von dem Wort für ,Dirne, Hure‘ im Nord- und Westgermanischen: ahd. huor n.; ahd. huor(r)a; spätae. hōre; aisl. hóra; ahd. hurāJrara (10. Jh.); ae. hōrcwene vs. got. hors; aisl. hórr, ahd. hurāJri ,Hurer‘. Während ahd. kebis(a) im Althochdeutschen ein feminines Gegenstück hat, ahd. kebis(i)ling ,Nebenbuhler‘, fehlt im Anordischen bei kefsir ,Sklave‘, eigtl. ,der unfreie Mann in seinem Verhältnis zu der Sklavin, mit der er zusammenlebt‘ (Vries 1977: 304) ein solches, und ohne genaues männliches Gegenstück ist ae. scrætte ,Dirne, Hure‘. Im Altenglischen hat stammverwandtes scritta ,Zwitter‘ (Lühr 1988: 253; Kroonen 2013: 447) eine andere Bedeutung und Bildeweise. Keines dieser Wörter kann aus germanischer Sicht als motiviert gelten. Sie behalten in den germanischen Sprachen ihren Platz im Wortfeld ,fornicatio‘.

6 Movierung Auch feminine Motionsformenen können Pejorisierungen erfahren. Z. B. ist heute bei Bildungen auf -euse eine „Sexualisierung“ eingetreten (Nübling 2009: 209). Im Germanischen finden sich neben den seltenen maskulinen Motionsformen, den eben genannten Wörtern für ,Hurer‘, ,Nebenbuhler‘, und weiter den Wörtern Bräutigam und Witwer, feminine Motivierungen im Altenglischen und Altnordischen bei Wörtern für ,Dienerin‘: ae. þéowene vs. ae. þéo(w) ,Diener‘; ae scielcen vs. ae. scealc ,Diener‘; ae. wíelen vs. ae. wealh ,Diener‘; ae. mennen vs. ae. mann ,Diener‘; ae. wīfmann vs. ae. mann ,Diener‘; an. þjonustkona vs. an. þjōnustumaðr ,Diener‘. Entsprechende Wörter sind auch generisches ahd. mannin, gomman(n)in ,Frau‘ vs. mann ,Mann‘; an. kell ,Frau‘ (< kerla), kelling ,Frau‘ vs. an. karl ,Mann‘ oder ae. wīfcild ,Mädchen‘ vs. ae. cnihtcild ,Knabe‘; ferner ahd. hī(w)a ,Gattin‘ vs. ahd. hī(w)o ,Gatte‘; und die aus dem Altfranzösischen entlehnten Wörter an. (s)púsa ,Ehefrau‘ (afrz. espouser) vs. (s)púsi ,Ehemann‘ (afrz. espous). Keine maskuline Entsprechung haben afries. frouwesnoma (eigtl. ,die die Bezeichnung ,Frau‘ hat‘), afries. frouwespersōna

|| 35 Zur Etymologie vgl. EWA (V: 435 f.)

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,Frau‘. Einen über die Bezeichnung des Sexus hinausgehenden Bedeutungsunterschied oder Pejorisierung findet man bei all diesen Motivierungen nicht.

7 Pejorisierungen Überprüft man nun die Wörter für ,Mann‘ und ,Frau‘ insgesamt auf mögliche Pejorisierungen, so sind bei den Wörtern für ,Dienerin‘ und bei den Wörtern für ,Frau‘ vereinzelte Pejorisierungen belegt: an. ambátt ,Dienerin‘ → ,Dirne‘, ,Nebenfrau‘; ae. cwene; an. kona → ,Dirne‘ (nengl. quean abwertend), während as. gemēne wīf durch das Adjektiv gemēne die Bedeutung ,Hure‘ (scortum, meretrix) erhält. Auch ahd. diu ,Dienerin‘ ist pejorisiert worden. Das macht ahd. altdiu ,alte Frau‘ deutlich. Demgegenüber bedeutet die Verwendung von quena, eigentlich eines Wortes für eine ,erhabene Frau‘, für lat. anus, vetula nicht unbedingt eine Abwertung. Der germanischen Frau kam eine hohe Wertschätzung zu. Zwar hatte die gebärfähige Frau den höchsten Rang, wie aus den Bußen für die Tötung einer Frau in den frühmittelalterlichen Leges hervorgeht, doch waren auch für eine alte Frau Bußsummen zu entrichten (Niederhellmann 1983: 12).

8 Wortfeldüberschneidungen vs. Wortfeldverschiebungen 8.1 Wortfeldüberschneidungen Zeichnet man nun die in den Wortfeldern ,Frau‘ eingetretenen Wortfeldüberschneidungen und Wortfeldverschiebungen nach, so werden diese sprachübergreifend in den germanischen Sprachen und nicht innerhalb von Einzelsprachen behandelt. Dieses Verfahren deckt Parallelen und Divergenzen in der weiträumigen Verbreitung von Wörtern der behandelten Wortfelder auf und ist so für den Vergleich mit nichtgermanischen Sprachen nutzbar. Als Erstes ist zu konstatieren, dass in den germanischen Sprachen vor allem Wortfeldüberschneidungen auftreten. Sie sind bei polysemen Wörtern nachweisbar, also bei Wörtern, die zu mehr als einem Wortfeld gehören und einen Bedeutungszusammenhang zwischen diesen Feldern erkennen lassen. Dabei können sich die Bedeutungen durchaus um einen Bedeutungskern gruppieren und sich in Haupt- und Nebenbedeutungen gliedern (Schippan 1992: 167).

178 | Rosemarie Lühr Im Wortfeld ,familia‘ ergeben sich bei Wörtern für ,junge Frau, Mädchen‘/ ,junger Mann, Knabe‘ und ,Dienerin‘ und ,Diener‘ Wortfeldüberschneidungen. Überschneidungen gibt es auch zum Wortfeld ,iuventus‘ (ahd. jungfrouwa usw.; ahd. jungilin usw.). Dabei kann die alte Bedeutung ,junges Mädchen‘ bzw. ,junger Mann‘ durchaus erhalten sein (as. magath usw.; afries. meiden; ahd. knabo usw.), wie im umgekehrten Fall die alte Bedeutung ,Dienerin‘ neben der neuen Bedeutung ,puella, virgo‘ weiter besteht (as. thiorna). Die Bedeutungsbeziehungen zwischen ,junge Frau, Mädchen‘/,Dienerin‘ vs. ,junger Mann, Knabe‘/,Diener‘ in den Wortfeldern ,iuventus‘ und ,familia‘ sind also bidirektional. Zu den bidirektionalen Relationen gehören auch der Wandel von ,Ehefrau‘, ,Ehemann‘ im Wortfeld ,matrimonium‘ über ,meine Frau‘, ,mein Mann‘ zu generischem ,Frau‘, ,Mann‘ und umgekehrt (an. kona, kvenna, kwinna usw.; got. abi vs. an. afe; ahd. karl usw.; afries. mann usw. vs. an. poet. verr usw.; ahd. gimelida bzw. an. mála ,Frau‘, ahd. wīb usw.). Unidirektional37 ist dagegen der Wandel von ,Diener‘ (über ,mein Mann‘) zu ,Ehemann‘ (ae. gefœ̄ra), von ,junge Frau‘ zu ,junge unverheiratete Frau‘ (ahd. magad), von ,junger Mann‘ zu ,junger unverheirateter Mann‘ (afries. knapa), von ,junge Frau‘ zu ,junge Braut‘ (ahd. magatīn), also die Überschneidung mit dem Wortfeld ,matrimonium‘ sowie von ,rechtmäßige Ehefrau‘ zu generischem ,Frau‘ (an. mála ,Frau‘, ahd. wīb usw.) und die Aufnahme von ,(Frau) mit der man ruht‘ in das Feld ,Frau‘ (ae. geresta, ae. resta). Auch im Wortfeld ,cognatio‘ ist eine Überschneidung zu belegen, mit dem Gebrauch von ,Verwandte‘ auch im Wortfeld von generischem ,Frau‘ (ae. mǽg). Andere Bedeutungswandel verlaufen in verschiedene Richtungen und sind so multidirektional. So wird ,Diener‘ (,familia‘) einerseits zu ,erhabener Mann‘ (ahd. degan usw.) (,honestas‘), andererseits wieder über das Konzept ,mein Mann‘ zu generischem ,Mann‘ (ahd. degan usw.) oder ,Diener‘ zu ,puer‘ (,iuventus‘) und zu ,vir‘ (ahd. asni usw.). Die Verschiebungen führen also vom Wortfeld ,familia‘ zum Wortfeld ,honestas‘ oder von ,familia‘ zu ,iuventus‘ und ,Mann‘. Ein vielschichtiges, ebenfalls multidirektionalen Bedeutungswandel aufzeigendes Wort ist Braut: Während die Bedeutungen ,junge unverheiratete Frau‘ (got. brūþs), ,jung verheiratete Frau‘ (ahd. brūt usw.), ,verheiratete Frau‘ (as. brūd; ae. brŷd) im Wortfeld ,matrimonium‘ verbleiben, finden bei dem Wandel zu ,junge, Frau, Mädchen‘ (an. brūđr), zu ,Schwiegertochter‘ (got. brūþs) und generischem ,Frau‘ (ae. brŷd) wieder Überschneidungen mit anderen Wortfeldern statt, mit ,iuventus‘, ,cognatio‘ und ,Frau‘ as. brūd; ae. brŷd. || 37 Zu einem solchen Bedeutungswandel vgl. Blank (1997: 213).

Wortfeldüberschneidungen und Wortfeldverschiebungen | 179

Auch das Wortfeld ,honestas‘ ermöglicht multidirektionale Wortfeldüberschneidungen, mit dem Wortfeld ,iuventus‘ (ahd. itis usw. ,virgo‘), ,matrimonium‘ (got. qens ,verheiratete Frau‘; ae. ceorl ,verheirateter Mann‘), ,cognatio‘ (afries. frouwe ,Schwiegermutter‘). Die zugehörigen Wörter bezeichnen ebenfalls geachtete Frauenpersönlichkeiten. Doch ist auch hier eine Überschneidung mit den Feldern ,Frau‘ und ,Mann‘ gegeben (ae. ides; afries. frouwe usw.; ae. ceorl). Neben dieser Gruppe von Wörtern mit mannigfachen Beziehungen zu anderen Wortfeldern gibt es nun auch Wörter in den germanischen Sprachen, deren Bedeutung aus einer im Germanischen noch fassbaren alten Bedeutung hervorgegangen ist. Ein Beispiel ist das Wort ahd. karl. Die alte Bedeutung ,alter Mann‘ (vgl. das substantivierte Adjektiv griech. γέροντ- ,Greis‘; EWA V: 411–413) ist im Anordischen und Althochdeutschen bewahrt, sonst sind aber wieder Wortfeldüberschneidungen eingetreten, von ,senectus‘ wohl zuerst zu generischem ,Mann‘, (ahd. karl; an. karl, an. karlmaðr), dann zu ,Ehemann‘ (ahd. karl; as. karl) (,matrimonium‘); vgl. die Bedeutung ,Geliebter, amator‘ im Althochdeutschen. Die Richtung ist also unidirektional. Demgegenüber ist bei der ablautenden Form Kerl die ursprüngliche Bedeutung ,alter Mann‘ verschwunden. Das Wort ist in die Wortfelder ,Ehemann‘ (ae. ceorl ), ,erhabener Mann‘ (ae. ceorl) (,honestas‘), ,Mann‘ (afries. tserl, kerl), ,Dienstmann, Knecht‘ (afries. tzerl, kerl) (,familia‘) eingegangen. Der Übergang hat sich über den Wandel von ,alter Mann‘ → ,geachteter Mann‘ → ,erhabener Mann‘ → ,Ehemann‘ → ,Mann‘ → ,Dienstmann‘ vollzogen. Ein weiteres Beispiel für diese Art von Übergang in andere Wortfelder ist an. drengr. Die ursprüngliche Bedeutung ,dicker Stock‘ ist ebenfalls im Anordischen noch bezeugt. Die Entwicklung ist über ,dicker Stock‘ > ,Knabe‘ > ,Diener‘ > ,Mann‘ verlaufen: ,iuventus‘ → ,familia‘ → ,Mann‘.

8.2 Wortfeldverschiebungen Anders als bei an. drengr stellt sich die Entwicklung bei der Sippe von Knabe dar: ahd. knabo, knappo (12. Jh.); afries. knapa; ae. cnafa, cnapa; ahd. kneht; as. kneht; ae. cniht ,junger Mann‘ vs. ahd. knabo, knappo (12. Jh.); afries. knapa; ae. cnafa, cnapa; an. knapi (< mndd.); (mhd. kneht); afries. kniucht, knecht; ae. cneoht, cniht ,Diener‘; die der Bedeutung ,junger Mann‘ zugrunde liegende Bedeutung ,Knorren‘ ist bei diesen Wortsippen in den germanischen Sprachen nicht mehr bezeugt. Es fand eine metaphorische Übertragung eines Wortes für ,Holzstück‘ auf Menschen statt. Die vermittelnde Bedeutung ist ,Knubbel‘ (Ruhrgebiet Knubbel ,recht dicker Mensch, oft bezogen auf wohl genährte Klein-

180 | Rosemarie Lühr kinder‘); vgl. mndl. cnop ,Knorren, Knoten, Knubbe‘; mndd. knagge ,dickes Holzstück, Pflock‘ (EWA V: 628; 633). Es hat sich also eine Nebenbedeutung zur alleinigen Hauptbedeutung entwickelt. Die Wortfeldverschiebung fand im Westgermanischen statt. Wortfeldverschiebungen von urindogermanischem Alter bezeugen dagegen: ahd. helid; ae. hæle, hæleÞ; an. hǫlðr, halr ,Mann‘ – das Wort bezeichnet im Germanischen den tapferen Mann, den Krieger und gehört zu gall.-lat. Caletes, Caleti, air. calath ,hart, fest‘ usw.;39 ahd. hī(w)a ,Gattin‘; ahd. hī(w)o ,Gatte‘, eine Individualisierung von uridg. *k’eiwo- ,vertraut‘ (aind. śéva- ,lieb, vertraut‘, alat. ceiuis, lat. cīvis ,Bürger‘; EWA IV: 1080 f.). Im Vorurgermanischen wurde zuerst die Bezeichnung einer Eigenschaft zur Charakterisierung eines Mannes verwendet und so in substantivierter Form zur Bezeichnung des Mannes selbst übernommen. Unter den alten Wortfeldverschiebungen findet sich nun auch eine Pejorisierung: Die urgermanischen Wörter ,Hure‘ und ,Hurer‘ < vorurgerm. *keh2rā/ro- ,lieb‘ stellen sich zu lat. cārus ,lieb‘ (EWA IV: 1263–1271). Auch hier liegt also eine Eigenschaftsbezeichnung zugrunde, die im Vorurgermanischen wohl über einen euphemischen Gebrauch zu der Bedeutung ,Hure‘ führte; zu einem Nebeneinander von Bedeutungen wie ,Freudenmädchen, Geliebte, Freundin‘ vgl. lat. amīca. Aber ebenso ist eine alte Bedeutungsverbesserung (Meliorisierung) nachweisbar: as. quān; ae. cwēn ,erhabene Frau‘; got. quens ,verheiratete Frau‘ weisen zusammen mit ved. -jāni- ,Frau‘, jungavest. jąni- ,Weib (im verächtlichen Sinn)‘ auf uridg. *gwēn-i- ,Frau‘, ,Frauchen‘ (neben *gwen-i- > ved. jáni- ,Frau‘, avest. jaini- ,Frau‘). Die deminutive Bedeutung führt auf eine Zugehörigkeitsbildung zurück, wobei nach Nussbaum (2009) folgender Bedeutungswandel eintrat: ,belonging to X‘ → ,X-like‘ → ,a sort of X, an X up to a point‘ (Substantivierung) → ,a small version of X‘.40 Legt man nun für das vorurgermanische Wort die deminutive Bedeutung zugrunde, so könnte sich aus ,Frauchen‘ eine liebevolle Bezeichnung für die Ehefrau entwickelt haben (got. quens), die dann auch zur Bezeichnung der erhabenen Frau verwendet wurde. Dass ein solcher semantischer Wandel möglich ist, machen as. frī ,edle Frau, Ehefrau‘, an. Frigg Name von Ođins Ehefrau, ae. frēo ,Frau‘ deutlich: Die vorurgermanische Vorform *prih2áh2 bedeutete ,die Liebe‘ (aind. priyá- ,lieb, erwünscht, eigen‘ usw., EWA III: 555–558). Während das Etymon von got. qens usw. nicht bekannt ist, ist es bei as. frī usw. wiederum eine uralte Eigenschaftsbezeichnung.

|| 39 EWA (IV: 939); anders Lühr (1982: 413; 2000: 265). 40 Weiteres bei Harđarson (2014: 23 f.)

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9 Zusammenschau Für die Wortfelder ,Frau‘ und ,Mann‘ ergeben sich neben generischem ,Frau‘, ,Mann‘ und ,Mensch‘ in den altgermanischen Sprachen als grundlegende Konzepte ,iuventus‘/,senectus‘, ,familia‘, ,matrimonium‘, ,honestas‘, fornicatio‘. In diesen Wortfeldern existieren Wörter, die eindeutige Repräsentanten dieser Felder sind, weil sie nur in diesen auftreten und allein die Bedeutung ,junge Frau‘, ,alte Frau‘, ,alter Mann‘, ‚Dienerin‘, ,Diener‘, ,Bräutigam‘, ,rechtmäßige Frau‘, ,Witwe‘, ,geschiedene Frau‘, ,Hure‘, ,Hurer‘, ,Nebenfrau‘ und ,Mensch‘ haben. Sie vertreten Basiskonzepte (vgl. dazu Lühr 2015). Doch finden sich einige andere Wörter mit diesen Bedeutungen unter dem Konzept ,familia‘, das durch zahlreiche Wortfeldüberschneidungen gekennzeichnet ist: ,familia‘ besteht im Germanischen eben nicht nur aus der Familie oder Sippe im eigentlichen Sinn, sondern aus allen Personen, die zum Hausstand gehören, also auch aus Dienerinnen und Dienern. So gibt es Wortfeldüberschneidungen nicht nur mit den Feldern für generisches ,Frau‘ und ,Mann‘, sondern auch mit den Wörtern aus den Wortfeldern ,matrimonium‘ und ,honestas‘. Auf ihren Bedeutungsbereich beschränkt bleiben dagegen die Wörter aus dem Wortfeld ,fornicatio‘. Es kommt zu keiner Bedeutungsverbesserung (,Nebenfrau‘, ahd. kebis(a) usw.; ,Hure‘, ahd. huor usw.). Echte Wortfeldverschiebungen liegen in den altgermanischen Sprachen dann vor, wenn ein Wort nur in einem Wortfeld auftritt und nachweislich aus einem anderen Wortfeld stammt. Solche Verschiebungen sind selten, sie begegnen aber bei uralten Bezeichnungen für ,Frauen‘. Darunter findet sich eine Meliorisierung (got. qens usw.; vgl. jungavest. jąni- ,Weib (im verächtlichen Sinn)‘ und eine Pejorisierung (ahd. huor(r)a usw.; vgl. lat. cārus). Pejorisierungen von Wörtern für ,Frau‘ sind auch sonst nicht oft belegt (an. ambátt ,Dienerin‘ → ,Dirne‘, ,Nebenfrau‘; ae. cwene; an. kona → ,Dirne‘; ahd. altdiu ,alte Frau‘). Von einer grundsätzlichen Abwertung von Wörtern für ,Frau‘ in den altgermanischen Sprachen kann also keine Rede sein. Insbesondere stellt der Gebrauch des Wortes ahd. frouwe usw. für generisches ,Frau‘ keine Abwertung dar, sondern spiegelt einen vielfach beobachtbaren Bedeutungswandel wider.42 Ehrenbezeichnungen werden immer wieder neu motiviert. Im Lateinischen z. B. kommt femina, ursprünglich eine ehrende Bezeichnung für eine Frau, die sozial und moralisch ausgezeichnet ist, in der Prosa seit dem 2. Jh. n. Chr. zunehmend für mulier ,Frau‘ in Gebrauch, und lat. domina ,Herrin‘ wird zu italien. donna

|| 42 Zu dem Wandel vom Konkretem zum Abstrakten vgl. Bechmann (2013: 167).

182 | Rosemarie Lühr ,Frau‘ (Adams 1972; Konecny 2002: 217; Hindermann 2013). Umgekehrt kommen auch bei Bezeichnungen für ,Mann‘ Pejorisierungen vor; vgl. dt. Kerl, Bursche. Betrachtet man nun die Füllung der Wortfelder ,Frau‘ und ,Mann‘ mit Wortmaterial im Germanischen und vergleicht hierfür andere indogermanische Sprachen, so gibt es im Altindischen für das Wortfeld ,Frau‘ mehr Lexeme als für das Wortfeld ,Mann‘, d. h., das Wortfeld ,Frau‘ ist lexikalisch stärker differenziert.44 Ebenso existieren in der iranischen Sprache Avestisch mehr Bezeichnungen für die Frau als für den Mann (Oettinger 1986: 121, Anm. 15), im Griechischen mehr speziell für die Ehefrau als für den Ehemann (Coticelli 1988), und im Lateinischen werden die Wörter ,Frau‘ und ,Ehefrau‘ lexikalisch unterschieden, mulier bzw. uxor, während für ,Mann‘ und ,Ehemann‘ nur vir vorhanden ist (Ciacalone Ramat 1969: 108; Delbrück 1889: 425). Auch im Gotischen kommen Wörter für ,Mann‘, womöglich durch die Übersetzung aus dem Griechischen bedingt, öfters vor (Meid 1976). Das eben dargestellte Bild in den germanischen Sprachen wirkt auf den ersten Blick differenzierter: In den Feldern für ,Mann‘ sind mehr Lexeme in der Bedeutung ,junger Mann, Junge‘, ,Diener‘ und ,erhabener Mann‘ bezeugt, für die Frau mehr in der Bedeutung ,Ehefrau‘ und ,Frau‘. Was speziell die Ehefrau angeht, so war ihre Stellung bei den Germanen durch die soziale Wertschätzung der Ehe – sie wird im Sippen- und Familienverband geschlossen – rechtlich geregelt. Gegenüber anderen Frauen, vor allem der Kebse, musste sie so eigens bezeichnet werden (RGA 16: 250). Da viele Wörter für ,Frau‘ aber auch in anderen Wortfeldern vorkommen, somit oftmals eine andere Hauptbedeutung als ,Frau‘ haben, die bei dem Gebrauch für generisches ,Frau‘ noch durchscheint, deuten die germanischen Befunde darauf hin, dass auch bei den Germanen die in den altindogermanischen Sprachen auch sonst vorherrschende Benennungsstrategie herrscht: Der Mann spezifiziert die Frau „in ihren verschiedenen Erscheinungsformen und/oder Rollen […], während seine eigene Stellung der Frau gegenüber keiner so genauen Differenzierung bedarf“ (Kazzazi 2001: 268).

Literatur Adams, J.M. (1972): Latin words for ‚Woman‘ and ‚Wife‘. Glotta 50, 234–255. Adelung, Johann Christoph (1811): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders der Oberdeutschen. 4 Bde. Wien: Bauer.

|| 44 Zum Folgenden Kazzazi (2002: 267 f.).

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Peter O. Müller

Historische Lexikographie und Fremdwortbildung Abstract: Die historische Lexikographie des Deutschen hat den Bereich Fremdwortbildung, deren Ausbildung schwerpunktmäßig in das ältere Neuhochdeutsch (1600–1900) fällt, lange Zeit aus puristischen wie wörterbuchkonzeptionellen Gründen vernachlässigt. Erst mit der Neubearbeitung des Grimm’schen Wörterbuchs und des Deutschen Fremdwörterbuchs, die – wenn auch in großer Auswahl – auch Lehnkombineme (Konfixe, Affixe) als Lemmata berücksichtigen, hat sich dies geändert. Am Beispiel von ex- und aero- zeigt der Beitrag, welches Informationspotential beide Torso-Wörterbücher aufweisen, aber auch die bestehenden Defizite, die – auch im internationalen Vergleich (Oxford English Dictionary, Trésor de la langue française) – deutlich werden. So ist die Zahl der lemmatisierten Lehnkombineme in beiden Neubearbeitungen zu gering, die internationale Perspektive ist unterbelichtet und die lexikographische Konzeption und Terminologie erweist sich als wenig benutzerfreundlich, auch weil beide Werke nicht online nutzbar sind. Von einem Wörterbuch, das die Entstehung und Entwicklung von Lehnkombinemen hinreichend dokumentiert und als internetbasiertes Informationssystem benutzerfreundlich (schneller Zugriff, übersichtliches Informationsportal) und jederzeit aktualisierbar ist, ist die historische Lexikographie des Deutschen noch weit entfernt. Keywords: aero-, Anglizismen-Wörterbuch, combining form, Deutsches Fremdwörterbuch, ex-, Fremdpräfix, Fremdsuffix, Fremdwortbildung, Grimm’sches Wörterbuch, Kombinem, Kombinemartikel, Konfix, Oxford English Dictionary, Trésor de la langue française

|| Prof. Dr. Peter O. Müller: Department Germanistik und Komparatistik, Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg, Bismarckstraße 1, 91054 Erlangen, E-Mail: peter.o.mueller@ fau.de

1 Einleitung Im Rahmen der historischen Lexikographie des Deutschen hat die Fremdwortbildung lange Zeit keine Rolle gespielt. Dies gilt sowohl für vergangenheits- als auch für gegenwartsbezogene Wörterbücher mit sprachhistorischer Ausrich-

188 | Peter O. Müller tung1 und hat mehrere Gründe. Zu nennen ist hier vor allem der seit dem 17. Jahrhundert im deutschen Sprachraum entwickelte Fremdwortpurismus, der in Wörterbüchern wie in Wortbildungsdarstellungen Wirkung zeigte. Lexikographisch wurde der Fremdwortschatz lange Zeit in eigenen Wörterbüchern separiert, die als „Fremdwörterbücher“ oder „Verdeutschungswörterbücher“ betitelt wurden. Prägend wurde Joachim Heinrich Campes „Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke“, in der zweiten Auflage von 1813 als „Ergänzungsband zu Adelung’s und Campe’s Wörterbüchern“ bezeichnet. Campes Wörterbuch folgten viele weitere Werke mit teils erklärender („Fremdwörterbuch“), teils verdeutschender („Verdeutschungswörterbuch“) Intention. Die Bibliographie von Heier (2012) zur deutschen Fremdwortlexikographie zwischen 1800 und 2007 umfasst 434 Titel. Deutschland ist das „Land der Fremdwörterbücher“ (Polenz 1967: 71). Auch der Ergänzungscharakter solcher Werke wird immer wieder herausgestellt, so auch im Deutschen Fremdwörterbuch (DFWB), dessen Notwendigkeit mit der Fremdwortarmut des Grimm’schen Wörterbuchs (DWB) begründet wurde. DFWB und seine Neubearbeitung (2DFWB) sind zugleich die einzigen Fremdwörterbücher mit dezidiert sprachhistorischer Ausrichtung und Belegdokumentation und insofern für die diachrone Fremdwortbildungsforschung von besonderer Bedeutung. Die Neubearbeitung steht dabei im Mittelpunkt des Beitrags. Der weitgehenden lexikographischen Differenzierung zwischen der Dokumentation von Erbwortschatz und Fremdwortschatz entspricht in den traditionellen Wortbildungsdarstellungen eine weit verbreitete Stigmatisierung bzw. Nichtberücksichtigung von Fremdwortbildungen. Wilmanns (1899: 114) etwa bezeichnet es als „Missbrauch“, „die Endung -ieren auch deutschen Stämmen anzuhängen“, und Hans Marchand (1955 [1974: 182] kritisiert noch Mitte des 20. Jahrhunderts: „Books on German word-formation systematically omit treatment of foreign-coined words, obviously on the assumption that only morphemes of Germanic origin have a legitimate claim to a place in word-formation.“ Erst seit den 1960er-Jahren rückte die Fremdwortbildung stärker in den Fokus von Lexikographie und Wortbildungsforschung. So verband Peter von Polenz (1967) seine Kritik am traditionellen (puristischen) Fremdwort-Begriff mit der Forderung, produktive nicht-native Wortbildungselemente systematisch in

|| 1 Zu dieser Differenzierung mit z. T. unscharfen Rändern vgl. Reichmann (2012: 16–27). Zur zweiten Kategorie zähle ich nur Werke, in denen die historische Komponente zentral ist, wie z. B. in Kluge (2012) oder im Deutschen Fremdwörterbuch (DFWB, 2DFWB).

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die germanistische Wortbildungsforschung einzubeziehen und als „Lehnwortbildung“2 zu beschreiben. Nahezu gleichzeitig erfolgte in Darstellungen zur deutschen Wortbildung eine Umorientierung zu primär gegenwartssprachlich ausgerichteten Forschungen zu Wortbildungssystemen unter Einschluss von Fremdmorphemen. Das von Johannes Erben geleitete Projekt „Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache“ des Instituts für deutsche Sprache bildete hier einen Meilenstein.3 Ein dritter Impuls zur Fremdwortbildungsforschung ging ebenfalls vom Institut für deutsche Sprache aus: Dort wurde in den Jahren 1977–1988 das Deutsche Fremdwörterbuch von Hans Schulz und Otto Basler (DFWB) in einer dritten Bearbeitungsphase abgeschlossen (Alphabetstrecke R–Z, Quellenverzeichnis, Wortregister, Nachwort). Dabei wurde auch die unzureichende Erforschung der Wortbildung mit entlehnten Einheiten deutlich und deshalb die Erarbeitung eines „Lexikon[s] der deutschen Lehnwortbildung“ geplant, das eine „synchron-diachrone Darstellung der LWBStrukturen der deutschen Sprache der Gegenwart“ (Kirkness et al. 1987: 9) bieten sollte.4 Dass dieses Projekt, in dem die Fremdwortbildung erstmals auf breiter Basis zum eigenen Forschungsgegenstand erhoben wurde, „in den Problemen der lexikographisch vertretbaren Materialbewältigung stecken geblieben ist“ (Munske 2000: 413) und nur Einzelstudien erschienen sind, bedingt bis

|| 2 Dieser Terminus wurde von Polenz (1967) eingeführt und wird – in der verdeutlichenden Form „Lehn-Wortbildung“ – z. B. auch in der Neubearbeitung des Deutschen Fremdwörterbuchs (2DFWB) verwendet. Die Präferenz dieses Terminus gegenüber „Fremdwortbildung“ wird vor allem mit dem scheinbar stigmatisierenden Charakter von „Fremdwortbildung“ begründet (vgl. Munske 2009: 248–252). In internationaler Perspektive spielt dieses Argument aber keine Rolle. So wird in den einschlägigen Artikeln des Handbuchs Word-Formation (Müller et al. 2015/16) der Terminus „foreign word-formation“, nicht „loan word-formation“ verwendet. Ich präferiere „Fremdwortbildung“ auch deshalb, weil zum Gegenstandsbereich ja gerade auch Wortbildungen gehören, die nicht entlehnt, sondern im Deutschen mit formal nicht assimilierten Fremdmorphemen gebildet sind. 3 Zu den Zielen und zur Geschichte dieses Projekts vgl. Ortner, Ortner & Wellmann (2007). Die in den 1970er-Jahren erschienenen Bände zur verbalen, substantivischen und adjektivischen Derivation enthalten durch den Vergleich mit der Goethezeit (v.a. auf der Basis der Auswertung von Adelungs Wörterbuch) zudem eine diachrone Komponente, die auch hinsichtlich der Fremdwortbildung einen vorsichtigen Vergleich ermöglicht. 4 Die Beiträge von Link (1983, 1988) bieten (nicht deckungsgleiche) Übersichten über die geplante Lemmaliste (entlehnte Präfixe, Suffixe und Konfixe). Der Terminus „Konfix“ für gebundene Grundmorpheme wurde im Rahmen dieses Projekts von Schmidt (1987) in die deutsche Wortbildung eingeführt.

190 | Peter O. Müller heute zahlreiche Defizite in der Erforschung der Fremdwortbildung, und zwar synchron wie diachron.5 Neben der puristisch motivierten Verzögerung der Fremdwortbildungsforschung und der Reserviertheit gegenüber Fremdwortbildungen in der historischen Lexikographie des Deutschen gibt es aber auch noch einen weiteren, wörterbuchkonzeptionellen Grund dafür, dass die Fremdwortbildung lexikographisch lange Zeit unterbelichtet geblieben ist: Der (weitgehende) Verzicht auf die Lemmatisierung von gebundenen Fremdmorphemen (Affixe, Konfixe). Noch vor gut 25 Jahren konnte Link (1988: 248) feststellen, dass diese „in vorhandenen Fremdwörterbüchern oder auch allgemeinen Wörterbüchern des Deutschen allenfalls sporadisch, was die Menge der beschriebenen Einheiten, und nahezu immer völlig unzulänglich, was die – formale, semantische und pragmatische – Beschreibung betrifft, behandelt [werden]“.6 Gerade hierin liegt auch ein großer Mangel im historisch ausgerichteten Deutschen Fremdwörterbuch (DFWB): Lediglich über Band VII, der verschiedene Register enthält (alphabetisch, rückläufig, chronologisch, Herkunft) lassen sich sekundär Informationen zur historischen Entwicklung von Fremdmorphemen systematischer erfassen. Dabei hätte das Oxford English Dictionary (OED1) als Vorbild dienen können, in dem von Anfang an gebundene Einheiten lemmatisiert wurden und bereits in dem 1884 erschienenen Band 1 unter dem Lemma aero- der Terminus „combining form“ eingeführt wurde, der auch heute noch in der englischen Wortbildungslehre fester Bestandteil ist und (cum grano salis) dem deutschen „Konfix“ entspricht.7 Aus dem bisher Gesagten lässt sich erschließen, dass es im Folgenden nur um aktuelle Wörterbücher gehen kann, wenn die Frage zu klären ist, in welcher Weise die Fremdwortbildung in historischen Wörterbüchern des Deutschen || 5 Zum Forschungsstand vgl. Müller (2005, 2009, 2015a). Im Gegensatz etwa zum Französischen (Cottez 1988) und Englischen (Stein 2007) fehlt dem Deutschen auch nach wie vor ein Wortbildungswörterbuch (ausschließlich Kombineme als Lemmata) mit Berücksichtigung nativer und nicht-nativer Morpheme. 6 Wie heterogen die Lemmatisierung entlehnter Kombineme in gegenwartssprachlichen Wörterbüchern des Deutschen erfolgt, zeigen auch die Übersichten bei Müller (1989: 872, 875, 878). 7 Für die aktuelle dritte Auflage (OED3) lautet die verwendete Definition: „A combining form is an element used, either initially or finally, in combination with another element to form a word. For the purposes of OED3, a combining form differs from a prefix or suffix by being generally noun-like or adjective-like and having a relatively full lexical meaning” (McCauley 2006: 96). Der Terminus „Konfix” wird im Allgemeinen entsprechend charakterisiert (und wirft hinsichtlich einer eindeutigen Abgrenzung von Affixen dieselben Probleme auf; vgl. die entsprechenden Beiträge in Müller 2009).

Historische Lexikographie und Fremdwortbildung | 191

präsent ist und welche Informationen man daraus über die Genese und Weiterentwicklung entlehnter Kombineme gewinnen kann. Für das Thema „Fremdwortbildung“ sind dabei natürlich nicht alle modernen historischen Wörterbücher von gleicher Bedeutung, sondern nur solche, die die Schwerpunkte deutscher Fremdwortbildung abdecken. Dies sind die Neubearbeitungen des Grimm’schen Wörterbuchs (2DWB) und des Deutschen Fremdwörterbuchs (2DFWB), die in den Abschnitten 3 und 4 behandelt werden. In Abschnitt 2 gebe ich zunächst einen knappen Überblick über die Entwicklung der Fremdwortbildung im Deutschen als Folie für die Analyse von 2DWB und 2DFWB. Ein abschließendes Resümee fasst – auch im Vergleich mit dem Oxford English Dictionary und dem Trésor de la langue française – zusammen, welches Informationspotential beide Werke der diachronen Fremdwortbildungsforschung verfügbar machen, welche Defizite zu konstatieren sind und welche Desiderata sich daraus für die Zukunft ergeben.

2 Historische Entwicklung der Fremdwortbildung im Deutschen Die Geschichte der deutschen Fremdwortbildung ist bislang noch nicht hinreichend erforscht. So ist nur für einzelne Fremdmorpheme detailliert untersucht, welche Lehnwörter das Muster für Neubildungen abgegeben haben (Leitwörter wie z. B. Exjesuit, vgl. 3), welche Produktivitätsquote und welche morphologischen, semantischen und pragmatischen Entwicklungsprozesse sich zeigen. Zudem bereitet in vielen Fällen die Abgrenzung zwischen Wortentlehnung und deutscher Fremdwortbildung Probleme, denn die Dokumentation und Beschreibung des Neulateins ist nach wie vor unzureichend und auch die Möglichkeit von Polygenese nicht immer auszuschließen.8 Neben den bislang vorliegenden Untersuchungen zur historischen Wortbildung des Deutschen – darunter Analysen zu historischen Wortbildungssystemen, in denen auch die Fremdwortbildung erfasst ist (Überblick bei Müller 2015b) sowie Arbeiten speziell zur Geschichte von Fremdmorphemen (Überblick bei Müller 2005, 2009, 2015a) – stellt || 8 Zu den Defiziten hinsichtlich der Erschließung des Neulateins vgl. Kirkness (2013). Zur neulateinischen Wortbildung bietet der Beitrag von Lindner & Rainer (2015) einen guten Überblick. Für Lexeme, deren Etymologie nicht eindeutig erschließbar ist, hat man in der englischen Lexikographie z. T. eigene Kategorien entwickelt, für das Oxford English Dictionary „modern formation“, für Webster’s Third New International Dictionary „International Scientific Vocabulary“ (Nachweise bei Kirkness 2013: 15–17).

192 | Peter O. Müller auch heute noch das Deutsche Fremdwörterbuch von Hans Schulz und Otto Basler (DFWB) und insbesondere der 1988 publizierte Registerband ein wichtiges Hilfsmittel dar. Allerdings erlaubt dieses Werk aufgrund des Alters nur vorläufige Aussagen, denn die Bände I und II (A–P, 1913–1942) bleiben quantitativ und qualitativ deutlich hinter der im Institut für deutsche Sprache erarbeiteten Alphabetstrecke R–Z zurück. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass dort auch solche Hybridbildungen als „deutsche Lehnwortbildungen“ mitgerechnet sind, bei denen native Morpheme die Wortbildung steuern (z. B. ent-nerven, Reformier-ung), so dass sie nicht zum Bereich der Fremdwortbildung zählen. Insgesamt zeichnet sich ab, dass das Phänomen „deutsche Fremdwortbildung“ erst seit der frühen Neuzeit zu einer nachhaltigen Veränderung der Wortbildung des Deutschen geführt hat, auch wenn die Anfänge schon im Frühmittelalter mit dem Fremdsuffix -āri (< lat. -ārius, nhd. -er: Lehr-er) liegen und im 12./13. Jahrhundert mit weiteren Suffixen französischer bzw. lateinischer Herkunft (-ier-: nhd. add-ier-en, -ier: nhd. Bank-ier, -(er)īe: nhd. Lauf-erei, -lei: nhd. vieler-lei) fortgesetzt wird. Erst zwischen 1500 und 1800 findet der entscheidende Wandel statt, der die Wortbildung des Deutschen nachhaltig umgestaltet hat. Begegnen Fremdsuffixe zu Beginn der Neuzeit nur vereinzelt, so nehmen sie in den folgenden drei Jahrhunderten rapide zu und werden um 1800 gleichwertig neben nativen Affixen genutzt. Humanismus, barocke Hofkultur und Aufklärung bedingen die weitgehende Bindung an gräkolateinische (neulateinische) bzw. französische Entlehnungsgrundlagen und schaffen damit die Voraussetzung für deren Weiterwirken im Rahmen der deutschen Fremdwortbildung. So sind im chronologischen Register des Deutschen Fremdwörterbuchs (DFWB) nach Auswertung von Polenz’ (1999–2013 Bd. II: 102) „bis 1350 nur 18, bis 1500 weitere 68, bis 1600 weitere 216, bis 1700 weitere 266, bis 1800 weitere 596 dt. Lehnwortbildungen“ erfasst, und „die erst im 19. und 20. Jh. erstbelegten ‚Fremdwörter‘ sind zum größeren Teil Lehnwortbildungen mit dem Registerverweis ‚dt.‘“. Während der Gebrauch des Verbalsuffixes -ier- sowie substantivischer Suffixe für die Bezeichnung von Personen (z. B. -ist, -ant) bereits im 17. Jahrhundert stark zunimmt, ergibt sich für adjektivische Suffixe (-abel/-ibel, -al/-ell, -ant/-ent, -är/-ar, -iv, -ös/-os) erst seit etwa 1700 ein erster Anstieg. Ende des 18. Jahrhunderts zeigen sich dann erste Umrisse der Fremdwortbildung mit Konfixen (z. B. graph, log, meter, phil, therm) sowie eine allmähliche Zunahme von Fremdpräfixen eurolateinischer Herkunft (vgl. Polenz 1999–2013 Bd. III: 396): anti-, de(s)-, ex-, extra-, hyper-, in-, inter-, para-, post-, prä-, pseudo-, re-, sub-, trans-, ultra-. Im 19. und 20. Jahrhundert kommen dann weitere Konfixe (audio, bio, geo, öko, phon, tele, thek, video etc.) und Präfixe (etwa die Augmentativpräfixe mega- und super-) hinzu. „Chronologisch liegt […] die Mehrzahl der lat. Entlehnungen im 16./17. Jh., die der französischen

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im 17./18. Jh., die der dt. Lehnwortbildungen im späten 18., 19. und 20. Jh.“ (Polenz 1999–2013 Bd. II: 104). Dieser Befund reflektiert auch die Emanzipation des Deutschen als Wissenschaftssprache, verbunden mit der allmählichen Ablösung des humanistischen Neulateins als gelehrter Lingua franca. Es wird deutlich, dass der Schwerpunkt der historischen Ausbildung der deutschen Fremdwortbildung im älteren Neuhochdeutsch (ca. 1600–1900) liegt. Gerade für diese Zeit fehlt bis jetzt aber ein an das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch (FWB) anschließendes Sprachstadienwörterbuch. Da auch nach wie vor keine Spezialwörterbücher zu historischen (Natur-)Wissenschaftssprachen dieser Zeit vorliegen, kommen als lexikographische Hilfsmittel für Informationen zur Entstehung der Fremdwortbildung nur zwei aktuelle historische Wörterbücher in Betracht, die auch Affixe und Konfixe lemmatisieren: das Grimm’sche Wörterbuch sowie das Deutsche Fremdwörterbuch in ihren Neubearbeitungen (2DWB, 2DFWB). Die folgende Wörterbuchanalyse soll zeigen, wie ergiebig beide Werke – auch im internationalen Vergleich – für die diachrone Fremdwortbildungsforschung sind. Als Orientierungsmaßstab verwende ich dabei die folgende Übersicht über zentrale Kombineme der gegenwartssprachlichen Fremdwortbildung des Deutschen (aus Müller 2015a). Die Affixe sind nach Wortarten unterteilt, die Konfixe nach ihrem Status als initiale und/oder terminale Wortbildungseinheiten. Fremdpräfixe a. Substantiv: a-/an- (Amoral), anti- (Antithese), bi- (Bimetall), de-/des- (Desinteresse), dis- (Disharmonie), ex- (Ex-Monarch), hyper- (Hyperproduktion), inter- (Interdisziplin), ko-/kol-/kom-/kon-/kor(Koautor), mega- (Mega-Hit), meta- (Metakommunikation), non- (Nonexistenz), pan- (Paneuropa), post- (Postmaterialismus), prä- (Präexistenz), pro- (Prorektor), re- (Reimport), semi(Semifinale), sub- (Subkultur), super- (Supertalent), supra- (Suprasystem), top- (Topagent), trans- (Transaktion), ultra- (Ultrafaschist), vize- (Vizepräsident) b. Adjektiv: a-/an- (asozial), anti- (antiliberal), bi- (bilateral), de-/des- (dezentral), dis- (disproportional), ex- (exradikal), extra- (extrakommunikativ), hyper- (hypernervös), in-/il-/im-/ir- (irrregulär), inter- (interaktiv), intra- (intrafamiliär), mega- (megacool), meta- (metakommunikativ), non(nonverbal), pan- (panarabisch), post- (postpubertär), prä- (pränatal), pro- (proenglisch), semi- (semiprofessionell), sub- (subnormal), super- (superintelligent), supra- (supranational), top- (topaktuell), trans- (transsexuell), ultra- (ultrakonservativ)

194 | Peter O. Müller c. Verb: de-/des- (deaktivieren), dis- (disqualifizieren), in- (inaktivieren), ko-/kol-/kom-/kon-/kor(koexistieren), re- (resozialisieren) Fremdsuffixe a. Substantiv: -ade (Robinsonade), -age (Kartonage), -aille (Journaille), -alien (Archivalien), -ament/-ement (Bombardement), -and/-end (Doktorand), -aner (Afrikaner), -ant/-ent (Fabrikant), -anz/-enz (Dominanz), -ar/-är (Revolutionär), -arium (Planetarium), -at (Konsulat), -ee (Resümee), -ese/-iese (Vietnamese), -ess (Stewardess), -esse (Delikatesse), -ette (Operette), -erie (Galanterie), -eur (Boykotteur), -euse (Friseuse), -ie (Aristokratie), -ine (Blondine), -ing (Coaching), -ier (Bankier), -iere (Garderobiere), -ik (Problematik), -iker (Alkoholiker), -ion (Diskretion), -ismus (Aktivismus), -ist (Terrorist), -it (Israelit), -ität (Banalität), -ness (Fairness), -or (Illustrator), -ur (Architektur) b. Adjektiv: -abel/-ibel (diskutabel), -al/-ell (regional), -ant/-ent (charmant), -ar/är (atomar), -esk (clownesk), -iv (instinktiv), -oid (faschistoid), -os/-ös (medikamentös) c. Verb: -ier- (asphaltieren), -ifizier- (personifizieren), -isier- (stabilisieren) Konfixe a. Präkonfixe/Postkonfixe: drom-/-drom (Dromomanie, Hippodrom), graph-/-graph (Telegraph, Graphologe), log-/-log (Logik, Monolog), man-/-man (Manie, monoman), naut-/-naut (Nautik, Astronaut), phil-/ -phil (Philosoph, bibliophil), phob-/-phob (Phobie, anglophob), phon-/-phon (Phonograph, anglophon), therm-/-therm (thermophil, isotherm) b. Präkonfixe: aero- (Aeronaut), allround- (Allround-Talent), astro- (Astronaut), audio- (Audiometer), auto(autonom), bio- (Biotop), biblio- (Bibliothek), chem- (Chemie), cyber- (Cybernaut), elektr(elektrifizieren), euro- (Eurokrat), fanat- (Fanatiker), gastr(o)- (Gastronom), geo- (Geologe), hetero- (heterogen), homo- (homogen), hydr(o)- (Hydroskop), makro- (Makroglossie), mechan- (Mechanismus), mikro- (Mikroskop), mono- (monogam), mont- (Monteur), neo- (Neologismus), öko- (Ökonom), optim- (Optimist), polem- (Polemik), polit- (Politik), poly- (polygam), pseudo- (Pseudonym), psych(o)- (Psychopath), retro- (retrophil), tele- (Telekratie), techn- (Technik)

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c. Postkonfixe: -a/-oholic (Schuhaholic), -gate (Dirndlgate), -gen (telegen), -ical (Jazzical), -itis (Computeritis), -krat (Demokrat), -kratie (Expertokratie), -lekt (Soziolekt), -mat (Automat), -meter (Thermometer), -nom (autonom), -nym (Pseudonym), -ose (Psychose), -skop (Teleskop), -thek (Videothek)

Anders als für Affixe ist für Konfixe auch nicht annähernd Vollständigkeit zu erreichen. Die Zusammenstellung bietet eine an Wortbildungsdarstellungen orientierte Auswahl an Konfixen, denen auch gemeinsprachlich eine gewisse Bedeutung zukommt. Eher randständige bzw. fachsprachliche Kombineme sind nicht erfasst, wobei die Grenzziehung ebenso diskutabel ist wie in manchen Fällen die Affix-Konfix-Differenzierung.9

3 Fremdwortbildung in der Neubearbeitung des Grimm’schen Wörterbuchs Zwar wollte Jacob Grimm mit dem Deutschen Wörterbuch „ausländerei und sprachmengung […] keinen vorschub, sondern […] ihr allen redlichen abbruch thun“ (DWB 1: XXVIII), aber mit zunehmender Bearbeitungsdauer trat diese Intention immer mehr in den Hintergrund, wobei „besonders in der letzten Bearbeitungsphase des DWB Fremdwörter großzügig aufgenommen werden“ (Fratzke 1987: 166). Eine Lemmatisierung von Kombinemen (Affixe, Konfixe) erfolgt jedoch nach wie vor nicht. Mit der Neubearbeitung des DWB, die allerdings nur die Alphabetstrecke A–F umfasst und die heutigen Anforderungen am wenigsten genügenden ersten Bände des DWB (weitgehend von Jacob und Wilhelm Grimm 1852–1878 erarbeitet) ergänzen soll, wurde die nicht-native Komponente weiter gestärkt: „Zum Unterschied von den älteren Bänden des Wörterbuchs finden Wörter fremder Herkunft neben dem Erbgut gleichberechtigte Aufnahme und Behandlung.“ (2DWB, Bd. I: 3). Neu ist nun, dass neben Lexemen auch Kombineme lemmatisiert sind.10 Es handelt sich dabei um fol|| 9 So ist z. B. in dieser Übersicht -itis aus semantischen Gründen nicht als Suffix, sondern als Postkonfix klassifiziert. 10 In den allzu knappen Ausführungen „Zur Anlage der Neubearbeitung“ von Joachim Dückert in Band I ist dieser Sachverhalt überhaupt nicht erwähnt, so dass man auch Kriterien für die Auswahl vermisst. Auch weist die Neubearbeitung, deren Abschluss Ende 2016 erfolgen wird, aufgrund der über 50-jährigen Bearbeitungszeit mit zwei auch durch die zeitweise politische Teilung Deutschlands entfremdeten Arbeitsstellen (Göttingen, Berlin) mehrere konzeptio-

196 | Peter O. Müller gende Morpheme: aero- (I: 1552 f.), agrar- (II: 63), agro- (II: 68), anti- (s. v. anti Adverb III: 13), bio- (V: 283), elektro- (VII: 1214 f.), euro- (s. v. europa VIII: 2445), ex- (VIII: 2469), foto- (IX: 853). Somit ergibt sich folgender Befund: In 2DWB sind gebundene Einheiten der Fremdwortbildung nur in großer Auswahl verzeichnet, wobei terminale Kombineme (Postkonfixe, Suffixe) ganz fehlen. Bei den lemmatisierten Kombinemen handelt es sich mit Ausnahme des Präfixes exausschließlich um Konfixe. Dieser Terminus, von Schmidt 1987 nach französischem Vorbild (confixe) in die germanistische Wortbildungsforschung eingeführt, wird aber in keinem Fall, d. h. auch nicht in den danach erschienenen Bänden, verwendet. Stattdessen erfolgt deren Charakterisierung in wenig überzeugender Form als „Bestimmungswort“ (aero-, agrar, agro-, anti-), als „Präfixoid“ (bio-), „Lehnelement“ (foto-) oder „Nebenform“ (euro- zu Europa-). Zu elektro- findet sich überhaupt keine Kategorisierung. Gemeinsam ist allen Kombinemartikeln in 2DWB, dass sie nur sehr knappe Informationen enthalten, die allenfalls Konturen der historischen Entwicklung erkennen lassen. Am ausführlichsten ist die Erläuterung zu bio- und ex-. Zu exlautet der Eintrag: EX-. gelangt als fremdpräfix in lat. und gr. lehnwörtern mit fremdsprachlicher bedeutung ‚aus, heraus‘ ins deutsche, zum teil mit assimiliertem konsonant (vgl. eklipse, effekt). daneben entsteht ein gegenwartssprachlich sehr produktives präfix, in der bedeutung ‚ehemalig‘, das über (spät)lat. exconsul und wohl frz. nachahmungen in das dt. gelangt. hierzu substantivische und sehr selten (meist ältere) adjektivische präfixbildungen. vereinzelt im 17. jh., sehr produktiv seit der 2. hälfte des 20. jhs., überwiegend in der zeitungssprache.

Es folgt eine alphabetische Übersicht über erstens 24 substantivische und zweitens drei adjektivische Präfixbildungen (exchinesisch 1773, exjesuitisch 1793, exkolonial 1958 – hier wäre auch eine Interpretation als Suffixderivation möglich) mit Angabe des Belegdatums und einem Quellenhinweis. Diese Angabe fehlt bei fünf Sublemmata, die zugleich als Hauptlemmata ausgegliedert sind (Exgeneral, Exjesuit, Exkönig, Exminister, Expräsident). Nur für diese werden Belege angeführt, bei Exjesuit z. B. aus den Jahren 1781, 1827/29, 1941. Ordnet man die alphabetisch gereihten substantivischen Sublemmata chronologisch um, ergibt

|| nelle Divergenzen auf (vgl. Müller 1996). Gegenwärtig (April 2015) sind folgende Teile publiziert: 1. Band (A–Affrikata) 1983, 2. Band (Affront–Ansüßen) 1998, 3. Band (Antagonismen– Anzyklisch) 2007, 4. Band (B–Betreuung) 2013, 5. Band, Lieferung 1–3 (Betrieb–Blues) 2015, 6. Band (D–D-Zug) 1983, 7. Band (E–Empörer) 1993, 8. Band (Emporerheben–Exzitieren) 1999, 9. Band (F–Fux) 2006. Im Gegensatz zu DWB liegt die Neubearbeitung bislang noch nicht digitalisiert vor. Es gibt lediglich für Band IX, Lieferung 1 (F–Fasnacht) einen „Entwurf einer digitalen Version“ (www.dwb-digital.adw-goettingen.gwdg.de/grimm/index.html [10.04.2015]).

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sich folgende zeitliche Verteilung: 1670 Exkonsul, 1678 Exabt, 1781 Exjesuit, Exschuster, 1784 Exminister, 1792 Exkaplan, 1798 Exoffizier, 1817 Exkaiser, 1819 Exkönig, 1844 Exlandrat, 1850 Exresidenz, 1961 Exministerpräsident, Exzentraleuropäer, 1965 Exeuropameister, Exhamburger, Exinnenminister, Exschafhirt, 1966 Exbankräuber, Exbräutigam, Exchefdirigent, Exkolonie, 1967 Exzweitakterkarosserie. Die angeführten ex-Lexeme dokumentieren zwar die in der Erläuterung genannte Produktivität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sie zeigen aber auch, dass das Präfix offenbar schon im 18. Jahrhundert produktiv gewesen ist. Der Verweis auf „frz. nachahmungen“ bleibt dagegen unklar, bei keiner der angeführten ex-Bildungen findet sich dazu ein Hinweis. Auch bleibt fraglich, weshalb für die Zeit von 1850 bis 1960 keine ex-Bildungen angeführt werden. Nicht aus dem Erläuterungstext, aber aus den Beispiellexemen kann man erschließen, dass ex- schon sehr früh, im 18. Jahrhundert, nicht nur mit Lehnwörtern (Abt, Jesuit, Kaplan etc.), sondern auch mit indigenen Lexemen (Schuster) im Rahmen hybrider Bildungen verbunden ist, die die frühe Produktivität bezeugen. Bei ex-Bildungen mit exogenen Lexemen (Exabt, Exminister, Exkaplan etc.) bietet der Artikel dagegen keinen Hinweis, ob hier Wortentlehnungen oder deutsche Fremdwortbildungen vorliegen. Auch fehlt ein Hinweis darauf, dass ex- mittlerweile eine Lexematisierung (Degrammatikalisierung) erfahren hat und in der Bedeutung ‚Ehemalige(r)‘ auch als Substantiv häufig gebraucht wird. Ein Vergleich mit der fast gleichzeitig mit dem 2DWB-Artikel erschienenen Arbeit von Hoppe (1999) ermöglicht folgende ergänzende Informationen: – Das Französische geht innerhalb der modernen Sprachen in der Ausbildung eines Fremdwortbildungsmusters mit ex- voraus. Diese Entwicklung setzt im 17. Jahrhundert ein und führt im 18. Jahrhundert (Französische Revolution) zu einem auch auf andere Sprachen ausstrahlenden Produktivitätsschub. – Die Entwicklung von ex- als produktivem Lehnpräfix erfolgt im Kontext des Verbots des Jesuitenordens (1773). Als Leitwort fungiert Exjesuit, das aber wohl keine deutsche Fremdwortbildung, sondern eine Entlehnung (neulat. exjesuita) darstellt. – Produktiv wurde ex- dann ohne zeitlichen Abstand „in einem erstaunlich raschen Schub in den 70er, 80er und 90er Jahren des 18. Jh.“ (Hoppe 1999: 174), wobei als Basen von Anfang an neben integrierten Fremdwörtern auch indigene Substantive fungierten. Für die Zeit zwischen 1773 und 1800 listet Hoppe (1999: 174) folgende ex-Lexeme auf: 1773 Exjesuit, Ex-Mandarin, 1776 Exgeneral, 1781 exjesuitisch, 1782 Exmönch, 1784 Exminister, Exnonne, Exschuster, Extrojaner, 1785 Exanachoret, 1787 Ex-Major, 1788 Ex-Vizekönig, 1789 Exprediger, 1791 Exilluminat, 1792 Exfrau, Exmagister, 1793 Exreligiose,

198 | Peter O. Müller 1794 Exdekan, Exfranzose, Exprofessor, Ex-Regent, 1794 Exabt, 1796 Exstudent, 1797 Ex-Adeliger, Ex-Edelmann, Ex-König, Exleutnant, Ex-Priester, 1798 Exdirektor, 1799 Exkandidat, Exnachtwächter, Expfarrherr. Der Vergleich mit den Angaben in 2DWB zeigt mehrere Divergenzen. So stehen den fünf dort für das 18. Jahrhundert genannten ex-Lexemen bei Hoppe (1999) 32 gegenüber und in 2DWB fehlt auch ein Hinweis auf Exjesuit (dort erst 1781) als Leitwort und auf den folgenden, auch an mehreren hybriden Wortbildungen ablesbaren Produktivitätsschub. Insofern erweist sich der 2DWB-Artikel als unzureichend. Andere Kombinemartikel in 2DWB fallen deutlich kürzer aus. So ist zum „lehnelement“ foto- vermerkt, dass es „nur als erstelement in zusammensetzungen auftritt. ca. 60 nominale wissenschaftssprachliche zuss., bis in die 1. hälfte des 19. jhs. nur wenige bildungen. bis ende des 20. jhs. in der schreibung photo-“. Auch hier bleibt bei den sechs angegebenen Sublemmata unklar, inwieweit Entlehnungen oder deutsche Fremdwortbildungen vorliegen. Lediglich bei Fotovoltaik („wohl unter einfluß von engl. photovoltaic adj.“) findet sich ein entsprechender Hinweis. Bei dem s. v. Europa- angeführten euro- („als nebenform tritt im 20. jh. das z. t. aus Europa, z. t. aus europäisch gekürzte euro- auf, das (meist) für substantivische zuss. verwendet wird“) fehlt ein Hinweis auf die Verwendung als Substantiv (Euro). Zu aero- heißt es schließlich lapidar, „als bestimmungswort für eine reihe jüngerer, meist substantivischer zusammensetzungen im bereich der technik, zu grch. άήρ, lat. āēr untere luftschicht, dunstkreis, atmosphäre, luft“. Es folgen 19 als Hauptlemmata verzeichnete aero-Lexeme, wobei auch hier Hinweise fehlen, ob es sich um Entlehnungen oder deutsche Bildungen handelt. Erst ein Vergleich mit dem Oxford English Dictionary zeigt, dass es sich z. B. bei Aerobus (2DWB I: 1968; OED3: 1906) und Aerotaxi (2DWB I: 1954, OED3: 1909) um englische Lehnwörter handelt. In OED3 wird auch die internationale Seite des Euromorphems aero- sichtbar: „Compare French aéro(formations in which are found from the late 17th cent.), Italian aero(formations in which are found from the mid 17th cent.), and German Aero(formations in which are found from the 18th cent.).”11 Gegenüber OED, aber auch dem Trésor de la langue française (TLFi) bleibt die aero-Darstellung in 2 DWB sowohl hinsichtlich der Erläuterung als auch der angeführten Beispiele (OED2: über 140, TLF: ca. 120)12 deutlich zurück. Auch der Vergleich mit der

|| 11 OED3 s. v. aero-, comb. form (Zugriff: 16.03.2015). 12 Vgl. Kirkness (1996: 241 f.), der einen detaillierten Vergleich der drei Wörterbücher bietet.

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Neubearbeitung des Deutschen Fremdwörtebuchs (2DFWB) führt zu einem ähnlichen Ergebnis, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

4 Fremdwortbildung in der Neubearbeitung des Deutschen Fremdwörterbuchs Ebenso wie das Grimm’sche Wörterbuch ist auch das Deutsche Fremdwörterbuch aufgrund der langen Entstehungsgeschichte durch eine große qualitative und quantitative Heterogenität geprägt. Mit der 1990 am Institut für deutsche Sprache begonnenen Neubearbeitung soll die von Hans Schulz (Bd. I: A–K, 1913) und Otto Basler (Bd. II: L–P, 1942; Bd. III: Q, Lieferung 1, 1972) erarbeitete Alphabetstrecke A–Q aktualisiert werden. Auch 2DFWB hat also Torso-Charakter. Von den ursprünglich geplanten 12 Bänden liegen mittlerweile sieben Bände vor, die folgende Alphabetabschnitte umfassen: Bd. I: a-Präfix–Antike (1995), Bd. II: Antinomie–Azur (1996), Bd. III: Baby–Cutter (1997), Bd. IV: da capo–Dynastie (1999), Bd. V: Eau de Cologne–Futurismus (2004), Bd. VI: Gag– Gynäkologie (2008), Bd. VII: habilitieren–hysterisch (2010). Ebenso wie 2DWB unterscheidet sich auch 2DFWB von der früheren Ausgabe durch die Lemmatisierung von Kombinemen. Für die bislang vorliegende Alphabetstrecke A–H sind folgende 23 Morpheme als Hauptlemmata erfasst: a- (I: 1–5), aero- (I: 152–161), afro- (I: 185–187), agrar- (I: 225–227), agro- (I: 233–234), air- (I: 238–239), anglo- (I: 540–543), anti- (I: 599–606), audi(o)- (II: 508–513), auto- (II: 548–559), bi- (III: 274–280), bio- (III: 312–326), brain- (III: 478–480), chemo- (III: 682–684), chir(o)- (III: 702–705), ethn(o)- (V: 292–297), eur(o)- (V: 316–320), foto- (V: 1056–1059), franko- (V: 1087–1089), geo- (VI: 222–226), graph(o)- (VI: 522–523), hyper- (VII: 541–550), hyp(o)- (VII: 562–567). Wie diese Übersicht zeigt, werden auch in 2DFWB nur initiale, aber keine terminalen Kombineme (Suffixe, Postkonfixe) als Lemmata gebucht. Mit Ausnahme der Präfixe a-, anti-, bi- (in 2DFWB nicht als Präfix, sondern als „initiale Lehn-Wortbildungseinheit“ bezeichnet), hyper- und hypo- handelt es sich bei den Kombinemen um Präkonfixe. Afro-, air- und brain- stellen Anglizismen dar und sind im Deutschen erst seit dem 20. Jahrhundert belegt, alle weiteren Kombineme sind älter und stehen im Kontext des gräkolateinischen Erbes. Im Vergleich mit 2DWB (A–F) enthält 2DFWB mehrere Pluslemmata (a-, afro-, air-, anglo-, audi(o)-, auto-, bi-, brain-, chemo-, chir(o)-, ethn(o)-, franko-). Dagegen ist elektro- in 2DFWB nur als Sublemma verzeichnet (s. u.), während unverständlicherweise das sehr produktive Präfix ex- nicht aufgenommen ist. Auch die Präfixe de-/des- und dis- sowie produktive Konfixe wie astro-, cyber-, gastro-,

200 | Peter O. Müller hetero-, homo- und hydro- fehlen als Hauptlemmata. In der „Lexikographischen Einführung“ (I: 26*) wird lediglich vermerkt, dass „ausgewählte, im deutschen Wortbildungssystem produktive entlehnte Präfixe bzw. erste Bestandteile von Kombinationen“ (d. h. Präkonfixe) erfasst sind. Wodurch die Auswahl gesteuert ist, bleibt aber unklar, denn das Kriterium „Produktivität“ ist offensichtlich nicht entscheidend, wie die Nicht-Berücksichtigung von ex- sowie die Aufnahme von air- und brain- zeigen.13 Dadurch, dass 2DFWB seine zentrale Aufgabe darin sieht, „den Kernbereich der in der deutschen Standardsprache fest verankerten und geläufigen Fremdwörter und Fremdwortfamilien in ihrer historischen Entwicklung zu beschreiben und zu dokumentieren“ (I: Vorwort V), ergibt sich auch hinsichtlich der Lemmatisierung entlehnter Kombineme eine deutliche Diskrepanz zu Werken mit stärker fachsprachlicher Ausrichtung wie OED oder TLF. So sind etwa in TLF allein innerhalb der Alphabetstrecke A rund 80 Präkonfixe verzeichnet (z. B. acido-, acro-, ambi-, amino-, andr(o)-, archéo-, astro-). Aber auch in Kluge (2012) finden sich innerhalb der Alphabetstrecke A– H immerhin 26 rechtsgebundene Kombineme, die in 2DFWB als Hauptlemmata fehlen (ad-, allo-, allround-, ambi-, anthrop-, äqui-, archi-, astro-, cyber-, deka-, de-, dezi-, dezimal-, di-, dia-, dis-, elektro-, en-, epi-, ex-, extra-, hekto-, hetero-, homo-, hydro-, hygro-). Die Artikel bieten dem Wörterbuchcharakter entsprechend allerdings nur sehr knappe etymologische Informationen, die mit der entwicklungsgeschichtlichen Belegdarstellung in 2DWB und 2DFWB nicht vergleichbar sind. Neben den hauptlemmatisierten Präfixen und Präkonfixen enthält 2DFWB allerdings auch noch eine größere Zahl an sublemmatisierten Kombinemen, darunter auch einige linksgebundene (Suffixe, Postkonfixe). Im Bereich der vorliegenden Alphabetstrecke A–H sind dies: anthropo- (s. v. Anthropologie), aristo(s. v. Aristokratie), elektro- (s. v. elektrisch), galvano- (s. v. Galvanismus), gastro(s. v. Gastronomie), geronto- (s. v. Geront), giganto- (s. v. Gigant), giga- (s. v. Gigant), -(o)gramm (s. v. Grammophon (!)), -ical (s. v. Grusical), gyn(äk)o- (s. v. Gynäkologie), heter(o)- (s. v. heterogen), historio- (s. v. Historiograph), hom(o)(s. v. homogen), -gen (s. v. homogen), homöo- (s. v. Homöopathie), -eske (s. v. Humoreske). Die Erläuterungen zu diesen sublemmatisierten Kombinemen sind || 13 Während air- (ebenso wie afro-) auch im Anglizismen-Wörterbuch (AWB) lemmatisiert ist, fehlt dort brain-. AWB, das den Einfluss der englischen Sprache auf das Deutsche nach 1945 dokumentiert, also kein historisches Wörterbuch ist, verzeichnet im Vergleich mit 2DFWB in der Alphabetstrecke A–H folgende Kombineme: Afro- (1: 15), Air- (1: 19 f.), Allround- (1: 29 f.), Anti- (1: 39–41), Backing- (1: 79), Betweener- (1: 114 f.), Bio- (123–125), -Burger (1: 185), Ever- (1: 442), Fancy- (2: 462 f.), -ival (2: 481 f.), Full-time- (2: 544 f.), Go-Go- (2: 580 f.), Hard-Core- (2: 617), Home- (2: 674). Die Artikel zu afro- und air- sind in AWB weniger informativ als in 2DFWB.

Historische Lexikographie und Fremdwortbildung | 201

allerdings zumeist sehr knapp. Bei einigen produktiven Morphemen wie elektro-, gastro-, giganto-, giga- oder homo- bleibt unklar, weshalb sie nicht hauptlemmatisiert im Rahmen eigener Kombinemartikel abgehandelt sind. Als Artikelintegrate sind sie zudem nur über ein alphabetisches Register auffindbar, das bandweise erst nachträglich eingeführt wurde (s. u.). Hinsichtlich der terminologischen Kategorisierung erweist sich 2DFWB als ebenso unzureichend wie 2DWB: Auch hier wird der Terminus „Konfix“ nicht verwendet. Während dies bei 2DWB insofern erklärbar ist, als dessen Konzeption und teilweise Publikation in die germanistische „Vor-Konfix-Zeit“ fällt, ist dies bei 2DFWB umso unverständlicher, als dessen Bearbeitung im Kontext des Projekts „Deutsche Lehnwortbildung“ steht. Stattdessen erfolgt die Charakterisierung von Konfixen auch hier mit heterogenen, unspezifischen Bezeichnungen („Anfangselement“, „rechtsgebundenes Element“, „erstes Glied von LehnWortbildungen“, „initiale Lehn-Wortbildungseinheit“, „erster Bestandteil“) oder falsch als „Bestimmungswort“. Im Umfang, den detaillierten Erläuterungen sowie der Zahl der Beispiellexeme geht 2DFWB allerdings weit über 2DWB hinaus: Die meisten Kombinemartikel umfassen mehrere Seiten und weisen monographische Züge auf. Und dies nicht nur wegen der Informationsfülle, sondern auch wegen der Informationsvermittlung, die gerade bei den Kombinemartikeln modernen lexikographischen Konzeptionen nur wenig entspricht. Ich möchte dies im Folgenden am Beispiel von aero- (I: 152–161) eingehender erläutern, auch deshalb, weil zu diesem Konfix schon die Untersuchung von Kirkness (1996) zu 2DWB, OED und TLF vorliegt. Am Anfang des Artikels steht eine allgemeine Charakterisierung von aerohinsichtlich Morphologie, Etymologie, Entstehung und Weiterentwicklung als Wortbildungselement im Deutschen, Semantik und Gebrauchsradius: Aero-, aero-, nur gebunden vorkommendes Anfangselement von meist fachspr. verwendeten Subst. und davon abgeleiteten Adj.; seit Anfang 18. Jh. nachgewiesen in teilweise über das Lat. bzw. Gelehrtenlat. (z. B. Aeromantia) oder Frz. (z. B. Aerologie) vermittelten, gleichzeitig aber auch schon selbständig im Dt. gebildeten neoklassischen Kombinationen (z. B. Aerometrie), deren Bestandteile nahezu ausschließlich auf das Griech. zurückgehen. Im Laufe des 18. Jhs. als Wortbildungselement (mit entsprechenden Wortbildungsmustern, s. ganz unten) international rasch verbreitet, daher zahlreiche, in den modernen Kultursprachen (bes. im Frz., Engl. und Dt.) etwa gleichzeitig aufkommende neoklassische Bildungen (vgl. die Polygenese z. B. bei Aeronaut, Aerostatik, Aerolith). Seit dem 19. Jh. voll im Dt. integriert und bis heute, bes. in den Fachsprachen, unvermindert aktiv (zurückgehend auf die griech. Kompositionsform άερο -(!), zu άήρ, Gen. άέρος, ‚Luft(schicht), Dunstkreis, Atmosphäre, Nebel, Gewölk‘, die bereits im Griech. als Bestimmungswort zur Bildung von Zss. diente, z. B. άεροσκοττία ‚Beobachtung der Luft (zur Weissagung)‘, άερομετρέειν ‚die Luft messen‘; vgl. gleichbed., weitaus weniger aktives lat. āero-, aus

202 | Peter O. Müller āēr, Gen. āeris, mit aus dem Griech. übernommenen Bildungen wie aeromantia ‚Luftwahrsagerei‘, aerophobus ‚luftscheu‘, auch in der Nebenform aeri-, z. B. aerivagus ‚in der Luft umherschweifend‘, die heute nur noch in wenigen gelehrten Bildungen auftritt, z. B. Aerial ‚freier Luftraum als Lebensbereich für Landtiere‘ oder aeril, aerisch ‚durch Luft-, Windeinwirkung entstanden‘). In der Bed. ‚Luft-‘, seltener auch ‚Gas-‘ (vgl. 1), bzw. ‚Luft-‘ und bes. ‚Flug-‘ (vgl. 2), vorwiegend im Bereich von Technik und Wissenschaft verwendet:

Die weitere Darstellung ist an den Bedeutungen von aero- sowie dessen bereichsspezifischer Verwendung orientiert und in die Abschnitte 1a, b, c und 2 untergliedert: 1a Zunächst im Bereich der Meteorologie und der wissenschaftlichen Erforschung (von physikalischen Phänomenen) der Atmosphäre sowie der Beschaffenheit von Luft und strömenden Gasen in Kombinationen gebraucht, mit denen vor allem die hier einschlägigen Wissenschaftszweige und damit verbundene Sachverhalte, Verfahrensweisen, Instrumente, o.ä. bezeichnet werden […]

Genannt werden dazu folgende 22, wie allgemein üblich im Fließtext stehende, durch Fettdruck hervorgehobene Beispiellexeme: Aerometrie, Aerometer (fälschlich als „Ableitung“ bezeichnet), aerometrisch, Aeromantie, Aerologie, aerologisch, Aerostatik, aerostatisch, Aerodynamik, aerodynamisch, Aerodynamiker, Aeromechanik, Aerographie, Aeroskopie, Aeronomie, Aeronomiesatellit, Aerobiologie, Aerophysik, Aeroklimatologie, Aerolith, Aerosphäre, Aerosonde. In Abschnitt 1b sind dann wenig benutzerfreundlich drei unterschiedliche Bedeutungen von aero- zusammengefasst (insgesamt 16 Bildungen): b Seit Anfang 19. Jh. auch im naturwissenschaftlich-medizinischen Bereich verwendet, zunächst in der Medizin in der Bed. ‚durch Luft(-einwirkung) hervorgerufen, entstanden, ausgelöst‘ […]

Lexeme: Aerophobie, Aerophagie, aerogen, Aerotherapie, Aerosol, Aerosoltherapie, aerosolieren. Seit dem früheren 20. Jh. auch im Bereich der Biologie in der Bed. ‚auf Luftsauerstoff angewiesen, ihn benötigend‘

Lexeme: aerob, aerozoisch, Aerobier, Aerobiont, Aerobiose, Aerobic(s), aerobisch. Daneben in neuester Zeit gelegentlich im Bereich der Werbung (z. B. Textilbranche) im Sinne von ‚Luft, Sauerstoff durchlassend, luftdurchlässig‘ in mehrgliedrigen Kombinationen wie Aerofit-Sohle und Aero-Jet-Hose (s. Belege 1985, 1986).

Historische Lexikographie und Fremdwortbildung | 203

Abschnitt 1c enthält folgende Bedeutungsangabe: c Seit der zweiten Hälfte des 19. Jhs. selten auch im technischen Bereich nachgewiesen in der Bed. ‚durch Luft erzeugt, mit Hilfe von Luft‘ […]

Lexeme: aerophon, Aerophon, Aerotherm, aerotherm(isch). In Abschnitt 2 wird im Gegensatz zu Abschnitt 1 (a–c) keine spezielle Bedeutung angegeben, sondern es heißt einleitend nur allgemein: 2 Seit dem späten 18. Jh. im Zusammenhang mit der Erfindung des Warmluftballons (1783 durch die Brüder Montgolfier) und den ersten Flugversuchen mit Freiballons und Luftschiffen im Bereich des Flugwesens, der Luft- und Raumfahrt(-technik) […]

Folgende 27 Lexeme werden angeführt: Aeronaut, Aeronautik, aeronautisch, Aerostat, Aerostatik, aerostatisch, Aerostatomanie, Aeropetomanie, Aerodrom, Aeroplan, Aerobatik, Aerobatik-Team, Aerobat, aerobatisch, Aerophotographie, Aeromedizin, Aerosalon, Aeroclub, Aerotaxi, Aerobus, Aeromobil, Aerocar, Aerotrain, Aerotel, Aeropolitik, Aeroimperialismus, Aerophantom. In einem petit gesetzten, zusammenfassenden Abschnitt wird schließlich darauf verwiesen, dass aero- in zwei Wortbildungsmustern verwendet ist: in neoklassischen Kombinationen mit gebundenem Zweitglied (d. h. Konfix-Konfix-Komposita) und später in Kombinationen mit Lexemen (Substantiven, Adjektiven), die seit dem 19. Jahrhundert auftreten und heute dominieren. Mit insgesamt 69 Sublemmata – Hauptlemmata mit aero- fehlen14 – liegt 2 DFWB deutlich über 2DWB (19), aber etwas unter dem großen Fremdwörterbuch von Duden (Duden 2000: 88 Lexeme) sowie rund 50 % unter OED und TLF (vgl. 3). Allerdings muss berücksichtigt werden, dass knapp 30 % der verzeichneten aero-Lexeme keine aero-Bildungen darstellen wie etwa die -isch-Derivate aerometrisch, aerologisch, aerobatisch, Komposita wie Aeronomiesatellit, Aerofit-Sohle, Aerobatik-Team, oder auch aerosolieren und Aerobier. Insgesamt ist die Darstellung sehr informationsreich und man kann die wesentlichen Schritte bei der Ausbildung produktiver Lehnkombineme gut nachvollziehen: 1. Aufkommen von Lehnwörtern (ursprünglich) gräkolateinischer Herkunft (v.a. in humanistischem Kontext mit großem Einfluss des Neulateins,

|| 14 Zu den meisten anderen Kombinemen sind dagegen neben Sub- auch Hauptlemmata verzeichnet, denen z. T. weitere Sublemmata zugeordnet sind, was den Zugriff sehr erschwert.

204 | Peter O. Müller z. B. Aerometrie < aerometria15, aber auch des Französischen, z. B. Aeronaut < Aéronaute). 2. Reanalyse und Morphematisierung von Fremdwortbausteinen als Affixe/Konfixe im Rahmen neoklassischer Neubildungen, zunächst v.a. mit Postkonfixen als zweitem Bestandteil (v.a. 18./19. Jh., vgl. frz. Aéronaute). 3. Verbindung mit nicht-nativen Lexemen als zweitem Bestandteil (v.a. 19./20. Jh., z. B. Aerosonde). 4. Verbindung mit nativen Lexemen im Rahmen hybrider Bildungen (v.a. spätes 19./20. Jh., bei aero- in 2DFWB nicht dokumentiert). 5. Degrammatikalisierung und Verwendung als Lexem (seit 20. Jh., bei aero- in 2 DFWB nicht dokumentiert; vgl. aber Bio und Ex16). Ein eindeutiger Hinweis auf das Einsetzen von Produktivität ist nur bei hybriden Bildungen gegeben. Bei neoklassischen Kombinationen ist dagegen genauer zu untersuchen, ob eine deutsche Fremdwortbildung oder eine Entlehnung17 vorliegt. Hinweise dazu finden sich in 2DFWB allerdings nur zum Teil. So ist z. B. bei Aerophobie ‚(krankhafte) Angst vor frischer Luft‘ auf „gleichbed. älteres frz. aérophobie, engl. aerophoby“ und bei Aerologie auf „gleichbed., deutlich älteres frz. aérologie“ verwiesen, beide Lexeme sind somit als Entlehnungen wahrscheinlich gemacht (auch frz. Aérologie ist im Übrigen aus neulat. aerologia entlehnt). In vielen Fällen fehlen aber entsprechende Hinweise. Dies gilt z. B. für Aerometer und Aeronaut, beide Lexeme mit Frühbelegen aus dem 18. Jahrhundert. Ein Vergleich mit TLFi zeigt aber, dass es sich aufgrund der früheren französischen Belege (s. v. Aérometre, Aéronaute) sehr wahrscheinlich um Entlehnungen handelt, auch wenn Polygenese nicht grundsätzlich auszuschließen ist. Bei Aerostatik („1808 bei Adelung“) und Aerographie („aus Aeround vermutlich im Dt. bereits verfügbarem -graphie“; frühes 19. Jh.) wird hingegen suggeriert, es handle sich um deutsche Fremdwortbildungen. Auch hier macht aber der Vergleich mit TLFi (s. v. Aérostatique Substantiv: 1784, Aérographie 1752) den Status als Entlehnung wahrscheinlich. Schließlich zeigt auch ein Vergleich mit OED, dass Lexemen, die in 2DFWB als „gebildet aus“ erläutert || 15 Der Hinweis im Artikelkopf, es handle sich bei Aerometrie um eine selbständig im Deutschen gebildete Kombination (s. o.), ist falsch. Der Lehnwortstatus geht aus dem im Belegteil genannten Kontext (Christian Wolff: Mathematisches Lexicon, 1716, deutlich hervor: „Aerometria, die Aerometrie ist eine Wissenschafft die Lufft zu messen.“ 16 Das Beispiel ex- zeigt auch, dass die Entwicklungsprofile von Affixen/Konfixen z. T. stark abweichen, denn Schritt 4 ist bei diesem Präfix schon kurz nach dem einsetzenden Produktivitätsschub im 18. Jahrhundert erreicht (vgl. 3). 17 Als Herkunftssprachen fungieren v.a. Griechisch, klassisches Latein, Mittel- und Neulatein, Französisch, Englisch und Italienisch. Dabei ist zwischen Fern- und Nahetymologie zu differenzieren. So wurden viele Gräzismen über das (Neu-)Latein vermittelt und auch Französisch spielt in den Anfängen eine bedeutende Rolle als Relaissprache für Entlehnungen mit gräkolateinischer étymologie origine.

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sind, Entlehnungsstatus zukommt, wie etwa Aerophagie („Anfang 20. Jh. […] aus Aero- und griech. φαγείν ‚essen, schlucken‘ gebildet[..]“; OED3 s. v. aerophagy „after French aérophagie 1891, engl. Erstbeleg 1897) und Aerotherapie (1911 „aus Aero- und → Therapie gebildet[…]“; OED3 s. v. aerotherapy „compare French aérothérapie (1865)“, engl. Erstbeleg 1876). Insgesamt zeigt der internationale Vergleich, dass aero- im Deutschen deutlich weniger produktiv ist, als die Darstellung in 2DFWB vermuten lässt. Zugleich zeigt sich hier ein großer Mangel von 2DFWB: Das Phänomen „Fremdwortbildung“ ist in den Kombinemartikeln weitgehend ohne internationale Verankerung mit Verweis zumindest auf englische (OED) oder französische (TLF) Referenzwerke behandelt. Obwohl es sich um Euromorpheme handelt, sind die Artikel zu wenig übereinzelsprachlich ausgerichtet. Im Anschluss an den Beschreibungsteil folgt im Artikel zu aero- – ebenso wie bei den meisten anderen Kombinemartikeln (aber z. B. nicht bei a- und anti-) – ein Belegteil, der typographisch abgehoben ist (zweispaltig, Petit-Satz). Die Belege sind allerdings außerordentlich unübersichtlich angeordnet: Während zu den Artikeln mit lemmatisierten Lexemen (Lemmata bzw. Sublemmata) die Belege lexembezogen angeführt werden, erfolgt die Reihung bei den Kombinemartikeln bedeutungs-/gebrauchsbezogen, d. h. bei aero- aufgeteilt nach 1a, b, c, 2. Da die Belege im Fließtext ohne typographische Auszeichnung stehen, ist die Durchsicht und das Auffinden von Lexemen sehr mühsam und entspricht nicht dem heutigen Standard. Dazu kommen zwei weitere Probleme: Erstens sind der Beschreibungs- und der Belegteil hinsichtlich der erfassten Sublemmata nicht deckungsgleich. So fehlen bei aero- im Belegteil unter „Aero-, aero- 1a“ neun von 22 der im Beschreibungsteil angeführten Lexeme (Aeromechanik, Aeroskopie, Aeronomie, Aeronomiesatellit, Aerobiologie, Aerophysik, Aeroklimatologie, Aerosphäre, Aerosonde), unter „Aero-, aero- 1b“ neun von 16 (Aerophobie, Aerophagie, Aerotherapie, Aerosoltherapie, aerosolieren, aerozoisch, Aerobier, Aerobiont, Aerobiose), unter „Aero-, aero- 1c“ drei von vier (aerophon(isch), Aerotherm, aerotherm(isch)) und unter „Aero-, aero- 2“ sieben von 27 (Aerobatik, Aerophotographie, Aeromedizin, Aerosalon, Aeroclub, Aerotaxi, Aerotel18). Insgesamt sind also 28 im Beschreibungsteil genannte aero-Lexeme im Belegteil nicht abgebildet, immerhin rund 40 %. Umgekehrt ist es aber auch so, dass im Belegteil aero-Lexeme angeführt werden, die im Beschreibungsteil überhaupt nicht genannt sind. Es handelt sich um 21 von 143 Belegen, also rund 15 % der Beleg-Lexeme (1a: Aerolithenstein, Aerologe; 1b: Aerobie, aerolimnologisch, aero-

|| 18 Diese als „Kurzwort“ bezeichnete Bildung stellt eine Kontamination aus aero- und Hotel dar.

206 | Peter O. Müller fit, Psychoaerobic, Aerosolwolke, Aerosol-Sprühdose, Aerobiclehrerin, AerobicMeisterin; 1c: Aerothermgewächshaus; 2: Dampfaeronaut, Aeronautin, Riesenaeroplan, aeropostal, Aerobusdienst, Aerobus-Verkehr, Aerokartograph, aeropolitisch, Aeronautiker, Aeromodeller). Diese Beleg-Lexeme sind im Grunde unauffindbar, geht man doch davon aus, dass der Beleg- den Beschreibungsteil ababbildet.19 Ein anderer kritischer Punkt ist die Unausgeglichenheit hinsichtlich der Anzahl der Belege eines Lexems. So sind z. B. zu dem seit dem 18. Jahrhundert belegten Lehnwort Aerologie nur zwei sehr späte Belege (1909, 1942) angeführt, während in anderen Fällen unnötige Beleghäufungen auftreten, z. B. bei aerostatisch (13), Aeronautik (8), Aerobic (6), Aerodynamik (5), aerologisch (4). Man hat den Eindruck, dass das ins Stocken geratene Fortkommen von 2DFWB auch mit den Problemen bei der Belegbewältigung zusammenhängt. Seit 2010 ist kein Band mehr erschienen, und wenn man die bisher bearbeitete Alphabetstrecke A–H quantitativ anhand eines Vergleichs mit dem großen Fremdwörterbuch von Duden mit dem noch ausstehenden Teil I–Q relativiert, ergäbe sich bei gleicher Bearbeitungsdichte ein Umfang von „mindestens zehn weitere[n] Bände[n] zu je ca. 800 Seiten“ (Munske 2012: 146).20 Ob dies überhaupt noch in einer vertretbaren Zeitspanne möglich (und für ein nicht das ganze Alphabet umfassendes Werk auch sinnvoll) ist, scheint zweifelhaft, „niemand sollte Wetten auf den Abschluss der Arbeiten riskieren“ (Eisenberg 2012: 156). Seit April 2016 liegen die ersten sieben in Buchform publizierten Bände der Neubearbeitung retrodigitalisiert vor (Zugriff über: www.owid.de/wb/dfwb/start.html). || 19 Ein alphabetisches Bandregister – allerdings ohne Seitenverweise – gibt es erst ab Band 6. Für die Bände 1–5 sind alphabetische Register auf der Projekthomepage (http://www1.idsmannheim.de/lexik/fremdwort/ [20.11.2015]) verfügbar. Dort findet man auch Übersichten zu den für die Alphabetstrecke I–Q vorgesehenen Kombinemartikeln (in-, inter-, ko-, kon-, kontra-, meta-, mono-, multi-, neo-, öko-, pan-, par(a)-, phon(o)-, post-, prä-, primär-, pro-, pseudo-). Darüber hinaus sind auch für diesen Teil zahlreiche artikelintegrierte, d. h. sublemmatisierte Kombineme vorgesehen: ideo- (s. v. Ideologie), idio- (Idio(syn)krasie), ikono- (Ikone), indo(indogermanisch), infra- (Infrastruktur), initial- (Initiale), intra- (intravenös), intro- (Introduktion), kata- (Katafalk), kilo- (Kilometer), kine-/kine(ma)to- (Kinetik/Kinematik), klimato- (Klima), kom- (Kombattant), konter- (Konterbande), kosm(o)- (Kosmos), krypt(o)- (Krypta), makro- (Makrokosmos), maxi- (Maximum), mega- (Megaphon), -meter (Meter), -metrie (Metrum), mikro(Mikrokosmos), mini- (Minimum), miso- (Misanthrop), neuro- (Neurologie), non- (Nonkonformismus), päd(o)- (Pädagoge), paläo- (Paläographie), patho- (Pathos), peri- (Peripherie), petro(Petroleum), phallo- (Phallus), phäno- (Phänomen), phil(o)- (Philanthropie), physio- (Physiognomie), plenar- (Plenum), pneumo- (Pneumatik), poly- (polygam), proto- (Protagonist), provinzial(Provinz), psycho- (Psychologie), pyro- (Pyrotechnik), quasi- (quasi). 20 Die Übersicht zum Publikationsstand auf der Projekthomepage (Zugriff: 20.11.2015) verdeutlicht, dass von den für die zu bearbeitende Alphabetstrecke A−Q vorgesehenen rund 3500 Hauptlemmata bislang (A−H) erst rund 1670 bearbeitet sind, also weniger als die Hälfte.

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Aber auch durch diese komfortablere Zugriffsmöglichkeit entspricht 2DFWB nicht der aktuellen lexikographischen Entwicklung, und die Nachteile werden bei einem Vergleich mit den Online-Fassungen TLFi und OED3 überdeutlich: Während diese beiden Wörterbücher sehr benutzerfreundlich eingerichtet sind (schneller Zugriff, übersichtliches Informationsportal) und jederzeit problemlos aktualisiert werden können21, ist 2DFWB nach wie vor statisch (und erweist sich auch hinsichtlich des Zugriffsprofils als weniger befriedigend). Auf diesen Umstand wird im Vorwort zu den Bänden VI und VII auch hingewiesen: Die zunehmende Verfügbarkeit historischer Primärquellen in digitalisierter Form ermöglicht einerseits neue Erkenntnisse und macht „frühere und von Textsorte und Fachgebiet her breiter gestreute Belege verfügbar, die viel genauere Erkenntnisse über das Aufkommen und die frühe Verwendungsgeschichte eines Lexems ermöglichen“ (Vorwort zu Band VII). Dies bedeutet aber auch einen Verlust an Homogenität, denn der Informationsgehalt älterer Artikel erweist sich nun vielfach als nicht mehr aktuell, kann aber im Rahmen eines in Buchform bzw. lediglich retrodigitalisiert publizierten Wörterbuchs auch nicht ad hoc revidiert werden. Und auch zukünftig „sollen weiterhin die neu erarbeiteten Bände primär im Druck erscheinen und erst dann in einem nachfolgenden Schritt digitalisiert werden“ (Schmidt 2014: 407). Eine grundlegende Innovation läge aber nur in der Fortsetzung als Online-Version mit einem modernen lexikographischen Informationssystem, das heutigen Recherchegewohnheiten und -bedürfnissen entspricht und die Möglichkeit böte, ältere Artikel zeitnah zu aktualisieren. Welcher lexikographische Fortschritt damit verbunden wäre, zeigen OED3 und TLFi.

5 Resümee In Bezug auf die entwicklungsgeschichtliche Darstellung der Fremdwortbildung steht die historische Lexikographie des Deutschen zwischen Tradition und Innovation. Die Neubearbeitung des Grimm’schen Wörterbuchs sowie des Deutschen Fremdwörterbuchs als maßgebliche Werke geht in der Dokumentation der Fremdwortbildung einerseits deutlich über ihre Vorgänger (DWB, DFWB) hinaus. Die Aufnahme von Artikeln zu Lehnkombinemen ist hierfür das deutlichste Merkmal. Allerdings bleibt der grundsätzliche Mangel, dass beide Werke Beispiele einer Torso-Lexikographie sind (2DWB: A–F, 2DFWB: A–Q), deren

|| 21 Vgl. TLF-Étym und den Beitrag von McCauley (2006) mit Beispielen aus OED3.

208 | Peter O. Müller deutsche Wurzeln im 17. Jahrhundert liegen.22 Aber auch aus anderen Gründen erweisen sie sich im internationalen Vergleich als nicht innovativ genug: – Die Zahl der lemmatisierten Lehnkombineme ist zu gering; linksgebundene Kombineme bleiben grundsätzlich unberücksichtigt, aber auch die Auswahl von Präfixen und Präkonfixen erfolgt vergleichsweise selektiv. – Die internationale Perspektive ist unterbelichtet. Die Möglichkeit eines Vergleichs mit Wörterbüchern wie OED3 oder TLFi, auch, um deutlicher zwischen Entlehnungen und deutschen Fremdwortbildungen differenzieren zu können, bleibt ungenutzt. Es fehlen auch artikelinterne Verweise auf solche Referenzwerke und der Charakter von Lehnkombinemen als Euromorpheme kommt zu wenig zum Tragen. – Die lexikographische Konzeption von 2DFWB ist wenig benutzerfreundlich: In den Kombinemartikeln sind die Sublemmata nicht linksbündig gesetzt, sondern in den Fließtext integriert, und die Belegsuche ist zeitaufwendig. Auch der lexikographische Beschreibungsstil ist eher „monographisch“ als wörterbuchspezifisch und erschwert das Auffinden und Erfassen von Informationen. – Die Informationspräsentation ausschließlich in Form eines Printwörterbuchs entspricht nicht mehr heutigen, am Internet ausgerichteten Recherchegewohnheiten und verhindert auch die kontinuierliche Informationsüberarbeitung. Im internationalen Vergleich wirkt die historische Lexikographie des Deutschen in Gestalt von 2DWB und 2DFWB wie ein Oldtimer, dessen traditionelle Werte und altertümlichen Charme man zwar schätzt, der aber technisch mit den Möglichkeiten neuer Modelle nicht mithalten kann. Wo liegt die Zukunft? Zunächst im Ungewissen. Denn will man die lexikographische Situation entscheidend verbessern, geht dies nicht von heute auf morgen, sondern nur im Rahmen eines längerfristigen drittmittel- oder akademiefinanzierten Großprojekts als nationaler Aufgabe mit dem Ziel der Erarbeitung eines neuen Sprachstadienwörterbuchs für die Zeit vom 17. bis 20. Jahrhundert.23 Ein Wörterbuch, das als

|| 22 Am Anfang steht Georg Henischs Teütsche Sprach vnd Weißheit. Thesaurus linguae et sapientiae Germanicae, 1616 in Augsburg erschienen. 23 Ob das geplante „Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (http://dwds.de [20.11.2015]) diese Lücke füllen kann, bleibt fraglich. Eine Recherche in den derzeit zugänglichen Texten aus dem Zeitraum 1600–1900 (http://deutschestextarchiv.de als historische Komponente von DWDS [Zugriff: 20.11.2015]) blieb hinsichtlich aero- unergiebig: 41 Tokens (darunter auch lateinische und

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internetbasiertes Informationssystem konzipiert ist, native und nicht-native Lexeme und Wortbildungsmittel gleichermaßen erfasst, hinsichtlich der Quellenbasis insbesondere auch den Bereich der Fach- und Wissenschaftstexte dieser Zeit fokussiert und eine übereinzelsprachliche, europäische Perspektive aufweist. Mit andern Worten: Ein Wörterbuch, das das Informationspotential von 2 DWB und 2DFWB als Grundstock nutzt und an Vorbilder wie OED3 oder TLFi anknüpft. In diesem Zusammenhang weisen auch allgemeine Überlegungen zur Vernetzung nationaler oder zur Erarbeitung europäischer Wörterbücher im Rahmen des Projekts „European Network of e-Lexicography“ (vgl. Luther 2013) in die richtige Richtung.

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|| französische Lexeme) wurden angezeigt, die zu keinen neuen Erkenntnissen im Vergleich mit 2 DFWB führen.

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Wolf Peter Klein

Complexiones am augenender Zum Problem der Lexikographie historischer Wissenschaftssprache unter besonderer Berücksichtigung früher deutscher Fachtexte Abstract: Der Aufsatz widmet sich der Frage, welche konzeptionellen Probleme bei der lexikographischen Dokumentation historischer Wissenschaftssprache zu bewältigen sind. Dies geschieht in vier Abschnitten, in denen die folgenden Punkte zum Tragen kommen: Definitionsproblem (Was ist historische Wissenschaftssprache?), Disziplinenproblem (Welche Disziplinengliederung könnte der Dokumentation historischer Wissenschaftssprache zugrunde gelegt werden?), Quellen- und Textproblem (Auf welche Quellen und Texte sollte die Dokumentation historischer Wissenschaftssprache zurückgreifen?), Sprachproblem (Welche speziellen Probleme ergeben sich bei der linguistischen Identifikation und Beschreibung historischer Wissenschaftslexik?). Den Rahmen für diese Erörterungen bildet die Überzeugung, dass die detaillierte Dokumentation historischer Wissenschaftssprache aus verschiedenen Gründen ein lexikographisches Desiderat in der gegenwärtigen Forschungslandschaft darstellt. Keywords: Fachsprache, Frühneuhochdeutsch, Lexikographie, Sprachgeschichte, Terminologie, Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftssprache

|| Prof. Dr. Wolf Peter Klein: Universität Würzburg, Institut für Deutsche Philologie, Am Hubland, 97074 Würzburg, E-Mail: [email protected]

1 Einführung Wissenschaftssprachliche Varietäten spielen in der Geschichte der europäischen Kommunikation seit vielen Jahrhunderten eine wichtige Rolle. Das gilt sicher auch – und vielleicht vor allem – für die lexikalische Sprachdimension. Der erhebliche Zuwachs, der sich spätestens seit der frühen Neuzeit in den europäischen Wortschätzen manifestiert, verdankt sich in wesentlichen Teilen der Herausbildung der verschiedenen wissenschaftssprachlichen Terminologien. Diese Bewegung ist schon an und für sich von erheblicher Bedeutung für das

214 | Wolf Peter Klein sprachliche Profil Europas. Die Lexik der Wissenschaften hat darüber hinaus die standardsprachlichen bzw. standardnahen Wortbestände nicht unerheblich beeinflusst.1 So stammen etwa viele Wörter, die im weitesten Sinne mit der Versprachlichung von kognitiven Prozessen, argumentativen Bestandsaufnahmen und intellektuellen Debatten verbunden sind, ursprünglich aus philosophischszientifischen Zusammenhängen.2 Sie mögen uns heute zwar gehoben, aber nicht unbedingt fachwissenschaftlich vorkommen. Wörter wie Konstellation

|| 1 Dies zeigt sich für die deutsche Sprache beispielsweise darin, dass im Duden-GW laut Vorwort „die Fach- und Sondersprachen, insofern sie auf die Allgemeinsprache hinüberwirken“, aufgenommen wurden. Die „Liste der in diesem Wörterbuch vorkommenden Bereiche und Fach- und Sondersprachen“ ist umfangreich; sie umfasst die folgenden Begriffe, die nicht in jedem Fall, aber doch recht häufig für Wissenschaftslexik stehen: Akustik, Anatomie, Anthropologie, Arbeitsrecht, Arbeitswissenschaft, Archäologie, Architektur, Astrologie, Astronomie, Bakteriologie, Ballett, Ballistik, Bankwesen, Bautechnik, Bauwesen, Bergbau, Bergmannssprache, Betriebswissenschaft, bildende Kunst, Biochemie, Biologie, Bodenkunde, Börsenwesen, Botanik, Buchbinderei, Buchführung, Buchwesen, Bürowesen, Chemie, Dichtkunst, Diplomatie, Druckersprache, Druckwesen, EDV, Eisenbahn, Elektronik, Elektrotechnik, Fernsehen, Fertigungstechnik, Film, Finanzwesen, Fischereiwesen, Fliegersprache, Flugwesen, Forstwirtschaft, Fotografie, Frachtwesen, Funktechnik, Funkwesen, Gartenbau, Gastronomie, Gaunersprache, Geldwesen, Genealogie, Genetik, Geografie, Geologie, Geometrie, Geschichte, Gewerbesprache, Gießerei, grafische Technik, Handarbeiten, Handwerk (Gerberei, Böttcherei, Bäckerei usw.), Hauswirtschaft, Heraldik, Hochfrequenztechnik, Hochschulwesen, Holzverarbeitung, Hotelwesen, Hüttenwesen, Imkersprache, Informationstechnik, Jagdwesen, Jägersprache, Kartenspiel, Kaufmannssprache, Kerntechnik, Kindersprache, Kino, Kirchensprache, Kochkunst, Kommunikationsforschung, Kosmetik, Kraftfahrzeugtechnik, Kraftfahrzeugwesen, Kunstwissenschaft, Kybernetik, Landwirtschaft, Literaturwissenschaft, Malerei, Mathematik, Mechanik, Medizin, Meereskunde, Metallbearbeitung, Metallurgie, Meteorologie, Militär, Mineralogie, Mode, Münzkunde, Musik, Mythologie, Nachrichtentechnik, Nachrichtenwesen, Naturwissenschaft[en], Optik, Pädagogik, Paläontologie, Parlamentssprache, Pharmazie, Philatelie, Philosophie, Physik, Physiologie, Politik, Polizeiwesen, Postwesen, Prähistorie, Psychoanalyse, Psychologie, Raumfahrt, Rechtssprache, Religion, Rentenversicherung, Rundfunk, Rundfunktechnik, Schiffbau, Schifffahrt, Schriftwesen, Schule, Schülersprache, Seemannssprache, Seewesen, Sexualkunde, Soldatensprache, Sozialpsychologie, Sozialversicherung, Soziologie, Sport (Boxen, Fußball, Reiten usw.), Sportmedizin, Sprachwissenschaft, Sprengtechnik, Statistik, Steuerwesen, Stilkunde, Straßenbau, Studentensprache, Tabakindustrie, Technik, Telefonie, Textilindustrie, Theater, Theologie, Tiermedizin, Tierzucht, Touristik, Uhrmacherei, Verfassungswesen, Verhaltensforschung, Verkehrswesen, Verlagswesen, Vermessungswesen, Versicherungswesen, Verslehre, Verwaltung, Verwaltungssprache, Viehzucht, Völkerkunde, Völkerrecht, Volkskunde, Waffentechnik, Wasserbau, Wasserwirtschaft, Werbesprache, Winzersprache, Wirtschaft, Wohnungswesen, Zahnmedizin, Zahntechnik, Zeitungswesen, Zollwesen, Zoologie. 2 Auf breiter Front sind diese lexikalischen Bewegungen noch wenig erforscht, vgl. aber die Vorarbeiten und Hinweise von v. Polenz (1988) und, allerdings nur zum Teil lexikalisch, Eisenberg (2011) sowie das Konzept der „alltäglichen Wissenschaftssprache“ nach Ehlich (1995; 1999).

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und Aspekt, Kulminationspunkt und Zenit verdanken wir beispielsweise der vormodernen Astronomie. Insbesondere die allmähliche Herausbildung eines disziplinenübergreifenden Vokabulars hat die Aufnahme wissenschaftlicher Wörter in der Standardsprache sehr gefördert. Daraus ist am Ende das geworden, was man heute oft als Bildungssprache bezeichnet und vor allem mit griechisch-lateinischen Bestandteilen verbunden ist.3 Unter der Perspektive des Sprachkontakts dürfte auch ein großer Teil des sog. Euro-Lateins (Munske & Kirkness 1996) bzw. der Europäismen (Schulz 2005) aus derartigen akademischen Quellen stammen. Zur großen quantitativen Bedeutung der Wissenschaftslexik kommt also der Umstand hinzu, dass sie auch in Austauschprozesse mit anderen Varietäten involviert ist. Darüber hinaus ist sie nicht nur durch Zuwachs, sondern auch durch Reduktionen geprägt. Denn im Zuge des wissenschaftlichen Fortschritts werden viele Termini, die mit überkommenen Konzepten und Denkansätzen verbunden sind, mittlerweile nicht mehr genutzt. Das erschwert den Zugang zu historischen Texten, in denen die alte Wissenschaftslexik in der einen oder anderen Form noch präsent sein kann. Insgesamt wird man daher annehmen können, dass die Entwicklung der wissenschaftlichen Lexik für die lexikologische Analyse und lexikographische Darstellung der europäischen Sprachen von überragender Bedeutung ist. Der oben kurz skizzierte Befund besitzt leider kein Gegenstück in der lexikographischen Dokumentation. Zumindest für die Geschichte der deutschsprachigen Wissenschaftslexik existiert kein übergreifendes Wörterbuch. Wer sich schnell, gründlich und textorientiert über die oft wechselvolle Entwicklung wissenschaftlicher Fachwörter informieren will, kann weder auf ein gedrucktes noch auf ein digitales Nachschlagewerk zurückgreifen. Damit kein Missverständnis entsteht: Natürlich gibt es für bestimmte Ausschnitte der historischen Wissenschaftslexik aussagekräftige Sammlungen, für die Philosophie z. B. das Historische Wörterbuch der Philosophie (HWPh; hrsg. v. Gründer & Ritter), für die Jurisprudenz das von der Preußischen Akademie der Wissenschaften begründete Deutsche Rechtswörterbuch oder für die Botanik das Wörterbuch der deutschen Pflanzennamen von Heinrich Marzell. Und auch in den großen allgemeinsprachlichen (oder auch tendenziell fachsprachlichen) Wörterbüchern und Lexika findet sich seit dem 18. Jahrhundert bis zur Gegen|| 3 Vgl. zur Illustration nur Wörter wie die folgenden: Abstraktion, Alternative, Analyse, Basis, Differenz, diffus, Dimension, Disziplin, Divergenz, Dynamik, Effekt, Energie, Expansion, Figur, Frequenz, graduell, ideal, Impuls, Insekt, Instrument, intensiv, Kalorie, Kapazität, Kombination, Komposition, Konfiguration, Konstante, Kontrast, marginal, Mechanik, organisch, Perspektive, Reduktion, Reflexion, Resonanz, Skala, Spektrum, stabil, statisch, Struktur, Summe, Sympathie, Symptom, zyklisch, zentral und viele andere mehr.

216 | Wolf Peter Klein wart so manch hilfreiche Information zur älteren Wissenschaftslexik (z. B. Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste; Adelung, Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart; Krünitz, Oekonomisch-technologische Encyklopädie; Pierer, Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit; Grimm, J. & W., Deutsches Wörterbuch (DBW; 2 DBW); Schulz & Basler, Deutsches Fremdwörterbuch (DFWB, 2DFWB); Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (FWB)). Diese Nachschlagewerke sind allerdings ganz unterschiedlich konzipiert und definitiv nicht aus einem Guss. Manche stellen faktisch eher die von den Lexemen bezeichneten Sachen in den Mittelpunkt als die Wörter. Die Sprache ist hier also nur ein Vehikel, das man mehr oder weniger schnell hinter sich lässt und durch enzyklopädische Perspektiven ersetzt. Insgesamt existieren große Unterschiede in der Datenaufnahme, Artikelkonzeption und Beschreibungspraxis, die sich noch dazu innerhalb eines gegebenen Werkes mit der Zeit ändern können. Auch das (explizite oder implizite) Bedeutungsverständnis, das den lexikographischen Bemühungen zugrunde gelegt wurde, differiert stark – wenn es überhaupt einigermaßen konsistent expliziert wurde. In Werken des o.g. Typs bleibt es in der Regel recht undeutlich, unter welchen Richtlinien die jeweiligen Nachschlagewerke wissenschaftssprachliche Lexeme aufgenommen und beschrieben haben könnten. Das größte Defizit dieser Werke für die Aufarbeitung der historischen Wissenschaftslexik besteht – um es programmatisch zu fassen – also darin, dass die wissenschaftssprachlichen Wörter lediglich am Rande anders ausgerichteter Projekte, also nicht im Zentrum der jeweiligen Unternehmungen aufgearbeitet wurden. Daraus erwächst notwendigerweise ein fragmentarischer und inkonsistenter Charakter der lexikographischen Erträge zur Geschichte der Wissenschaftssprache. Fazit: Ein systematisch erstelltes, definitiv sprachorientiertes Wörterbuch, das konstitutiv die historische Wissenschaftslexik und ihre Fruchtbarkeit für die Standardsprache der Gegenwart in den Mittelpunkt stellen würde und sowohl mit interdisziplinären Zielen als auch mit avancierten (digital-)lexikographischen Methoden erarbeitet worden wäre, existiert nicht. Ich sehe im Fehlen eines solchen Nachschlagewerks einen großen Mangel. Viele sprachwissenschaftliche und sprachkulturelle Gründe sprechen dafür, dass dieses Defizit möglichst bald behoben werden sollte. Wir werden die deutsche Sprache und unsere in alten Texten zugängliche Vergangenheit besser verstehen, wenn wir eine solche Dokumentation zur Hand haben. Es reicht nicht aus, Wissenschaftslexik nur im Rahmen anderer (ggf. auch groß angelegter) lexikographischer Projekte mitzubehandeln. Dieser Gegenstand hat nämlich ein solch eigenständiges Profil und ist für die allgemeine Sprachentwicklung von solch großer Bedeutung, dass er in einem Projekt sui generis erfasst und bearbeitet werden muss.

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Vor diesem Hintergrund möchte ich hier einige Überlegungen dazu anstellen, welche Probleme bei der Lexikographie historischer Wissenschaftssprache beachtet und möglichst systematisch und einheitlich gelöst werden müssten. Ich werde mich dabei auf einige konzeptionell besonders wichtige Punkte beschränken und sicher nicht alle relevanten Dinge ansprechen, geschweige denn lösen können. Im Mittelpunkt steht die Frage, welche Quellentexte man mit welchen Zielen und Strategien terminologisch aufarbeiten könnte, um ein gehaltvolles Nachschlagewerk zur Geschichte der Wissenschaftssprache zu erstellen. Die Ausführungen stehen im Zusammenhang mit der kontinuierlichen Arbeit an der Würzburger Fachtexte-Datenbank (im Folgenden: Wü-FtDb), die einen einheitlichen Zugang zu digital verfügbaren vormodernen Fach- und Wissenschaftstexten zur Verfügung stellt.4 Es ist geplant, dieses Informationssystem konzeptionell durch weitere Instanzen auszubauen. Die Schwierigkeiten der lexikographischen Rekonstruktion historischer Wissenschaftssprachen verorte ich dabei in vier Dimensionen. Zunächst muss erst einmal Klarheit darüber geschaffen werden, was überhaupt mit dem Begriff Wissenschaftssprache in historischen Zusammenhängen gemeint sein kann; ich sehe darin ein Definitionsproblem (Kap. 2). Dann ist die Frage aufzunehmen, wie man sich bei der lexikographischen Sammlung gegenüber der Vielfalt der wissenschaftlichen Disziplinen verhalten will; das ist also das Disziplinenproblem (Kap. 3). Damit verbunden ist die Frage, an welche Quellen und Texte man anknüpfen sollte, wenn historische Wissenschaftslexik quellengestützt zu dokumentieren ist; wir haben also ein Quellen- und Textproblem (Kap. 4). Zuletzt stellen sich angesichts konkreter wissenschaftlicher Lexeme einige weitreichende Fragen, die mit der Feststellung und Analyse der sprachbezogenen Informationen in einem Wörterbuch zu tun haben – das Sprachproblem (Kap. 5). Weil die unterschiedlichen Probleme desto gravierender werden, je mehr man in die Vergangenheit zurückgeht, werde ich mich exemplarisch meistens auf die Vor- und Frühgeschichte der Wissenschaftslexik beziehen. Wer nämlich für die Aufarbeitung der historisch fernen Zeiträume eine Orientierung gefunden hat, wird sich mutatis mutandis auch in späteren Epochen zurechtfinden. Alles in allem gehe ich davon aus, dass die folgenden Reflexionen einen recht allgemeinen Charakter haben. Insbesondere sind sie nicht auf eine papierförmige oder elektronische Verwirklichungsform festgelegt. Sie gelten also medienunspezifisch sowohl für die Erstellung gedruckter Wörterbücher im klassischen Sinn als auch für die Entwicklung digitaler Informations- bzw. Nachschlagesysteme.

|| 4 Die Datenbank ist zugänglich unter: http://www.fachtexte.germanistik.uni-wuerzburg.de/ (29.04.2015).

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2 Das Definitionsproblem Ausgehend von der Gegenwart kann man Wissenschaftssprache als diejenige Sprachform fassen, die von Wissenschaftlern in der fachinternen Kommunikation über Inhalte ihrer jeweiligen Disziplin genutzt wird. Als Wissenschaftslexik ist sodann – zunächst ebenso problemlos – derjenige wissenschaftssprachliche Wortschatz zu definieren, der nicht bereits in der Standard- bzw. Umgangssprache der Gegenwart vorkommt. Woran erkennt man aber Wissenschaftler? Auch hier liegt momentan ein definitorischer Ansatzpunkt offen zutage: Als Wissenschaftler sind diejenigen Menschen zu begreifen, die an Universitäten oder Forschungsinstituten als Dozenten und Forscher arbeiten. Demnach ist Wissenschaftssprache per definitionem an die Existenz von Personen gebunden, die regulär in bestimmten gesellschaftlichen Institutionen (v. a. Universitäten) arbeiten und untereinander mit verschiedenen Typen von (mündlichen und schriftlichen) Texten kommunizieren. Mit diesen simplen, aber durchaus tragfähigen Festlegungen lässt sich die jüngere Geschichte der Wissenschaftslexik relativ einfach in den Blick nehmen. Für die Zeit vor dem 19. Jahrhundert sieht das freilich etwas anders aus. Dort ergibt sich nämlich die Konsequenz, dass vor dem 14. Jahrhundert im deutschen Sprachgebiet nicht von der Existenz einer Wissenschaftssprache gesprochen werden kann. Denn bekanntlich wurden die ersten deutschen Universitäten in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts gegründet (Wien, Heidelberg, Erfurt). Diese Bestimmung deckt sich in etwa mit dem herrschenden Sprachgebrauch der Germanistik. Für die althochdeutsche Zeit wird zwar, etwa auf medizinischem Feld, von Fachsprachen gesprochen (Riecke 2004), nicht aber von Wissenschaftssprachen. Auch für die Beschreibung der Folgezeit sind seit langem Wörter wie Fachsprache, Fachliteratur, Fachtext und Fachprosa gängig. Ihr Bedeutungsspektrum wird aber normalerweise nicht an die Verwendung von Fachtexten in Universitäten geknüpft (Haage & Wegner 2007: 14 f.). Dieser philologischen Praxis korrespondiert der Umstand, dass vor dem 18. Jahrhundert in den Universitäten so gut wie ausschließlich die lateinische, also nicht die deutsche Sprache genutzt wurde. Für die Universität Freiburg ist das exemplarisch bereits ausführlich analysiert worden (Schiewe 1996). Ähnliches ergibt sich aus disziplinären Querschnitten durch die europäische Sprachgeschichte, z. B. zur Meteorologie (Klein 1999). Auch die prägende Rolle einzelner Persönlichkeiten ist in diesem Zusammenhang immer wieder hervorgehoben worden, etwa die von G. W. Leibniz, Ch. Wolff und J. G. Lichtenberg (Menzel 1996; Pörksen 1983; 1988). Demnach ist die Annahme, dass es vor dem 18. Jahrhundert eine deutsche Wissenschaftssprache gegeben hat, problematisch.

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Aus dem geschilderten Szenario ließe sich nun schließen, dass man bis zum 18. Jahrhundert eben nur lateinische, danach deutsche, später ggf. auch französische und englische Quellen zu bearbeiten hat, wenn man historisches Wissenschaftsvokabular lexikographisch erschließen möchte. Sämtliche deutschen Fachtexte, die vor dem 18. Jahrhundert entstanden sind, fielen so unter den Tisch. Das ist allerdings nicht unproblematisch. Denn damit würde man gerade den Übergangsbereich zwischen der allmählich entstehenden deutschen Standardsprache und der älteren Wissenschaftslexik aus den Augen verlieren – ein innovativer sprachhistorischer Kommunikationszusammenhang geriete aus dem Blick. Die vielen mittel- und vor allem frühneuhochdeutschen Fachtexte repräsentieren nämlich in der Regel Bemühungen von zeitgenössischen Experten, bestimmte wissenschaftliche Inhalte für Laien auszuwählen, in ihrer Muttersprache herzurichten und verständlich zu machen. Die frühen deutschen Fachtexte bereiteten mindestens den Übergang bestimmter Wissenschaftslexeme in die Standardsprache vor, wenn sie ihn nicht sogar schon verursachten. Dieser Schluss lässt sich jedenfalls aus einschlägigen Forschungen der letzten Zeit ziehen. Besonders prominent wirkten hier sicherlich medizinische und biologische Texte, deren alltagspraktische Relevanz für Laien-Kontexte – Heilung von Krankheiten und Verletzungen – offensichtlich ist (z. B. Friedrich 1995; Lehrnbecher 1995; Seidensticker 1997; 1999; Habermann 2001). An zweiter Stelle sind vermutlich astronomisch-astrologische sowie alchemistische und chemische Wissensbestände zu nennen (z. B. Deschler 1977; Barke 1991). Aber auch für Arithmetik und Geometrie, Landvermessung und Rechnungsbuchhaltung, Bauwesen und Architektur, Malerei, Wetterkunde und frühe Formen von Technologie und Militärlexik lassen sich vergleichbare Befunde anführen (z. B. Müller 1993; Klein 2011: 498 ff.; Schulz 2014). Gerade für eine sprachfokussierende Betrachtung der Wirkung neuzeitlicher Wissenschaft wäre es also kontraproduktiv, wenn die frühen deutschen Fachtexte aus einer übergreifend angelegten lexikographischen Dokumentation ausgeschlossen würden. Dafür spricht zudem eine weitere Überlegung, die diese Texte auch definitorisch wieder in die Nähe der Wissenschaftssprache zurückführt. Denn oft handelte es sich bei den Autoren der frühen deutschen Fachtexte um Persönlichkeiten, die entweder mit einem Bein in der lateinischen Universität standen oder die sich bei ihren schriftstellerischen Aktivitäten zumindest an lateinischen Texten der akademischen Gelehrsamkeit orientierten. Johannes Kepler, der je nach Adressatenkreis entweder auf Latein oder auf Deutsch publizierte, ist dafür ein gutes Beispiel. Dabei war die Hierarchie stets klar: Ausschlaggebend ist zunächst die lateinische Versprachlichung wissenschaftlicher Inhalte, alle deutschen Versprachlichungen werden letztlich in (expliziter oder impliziter) Rücksicht auf die lateinischen Vorgaben formuliert.

220 | Wolf Peter Klein Daher ist es auch kein Wunder, dass sich in den eigentlich deutschsprachigen Texten sehr viele lateinische Wörter und Wendungen finden lassen. Vergleichbares wird – womöglich mit gewissen Abstrichen – für andere einschlägige Autoren gelten, wie z. B. Leonhart Fuchs, Konrad Gesner, Walther Hermann Ryff und Daniel Schwenter. Anders gesagt: Hinter vielen deutschen Texten standen damals mittel- oder unmittelbar lateinische (Formulierungskon-)Texte, die direkt in die alten Universitäten, also in die maßgebliche Institutionen der Wissenschaft, hineinführten. Plakativ zugespitzt: Die deutschen Fachtexte der frühen Neuzeit sind in bestimmter Hinsicht stets ein Stück weit lateinisch und manifestieren damit – zumindest sekundär – Wissenschaftslexik. Das alles spricht dafür, in ein lexikographisches Unternehmen zur historischen Wissenschaftssprache die deutschen Fachtexte des 15., 16. und 17. Jahrhunderts zu integrieren, auch wenn damit noch keine wissenschaftssprachlichen Texte im engeren Sinne vorliegen. Im Kern sollte davon allerdings die Definition, dass Wissenschaftslexik an die Präsenz in der Institution Universität gebunden ist, unberührt bleiben. Für die Zeit nach dem 17. Jahrhundert lässt sich diese Eingrenzung jedenfalls mehr oder weniger problemlos als Grundlage für ein lexikographisches Projekt zur Aufarbeitung historischer Wissenschaftslexik nehmen.

3 Das Disziplinenproblem Wer historische Wissenschaftssprache empirisch gehaltvoll aufarbeiten möchte, wird schnell mit der Vielfalt der wissenschaftlichen Disziplinen konfrontiert. Man denke nur an Physik, Astronomie, Chemie, Biologie, Pharmazie, Medizin, Mathematik, Informatik, Maschinenbau, Geographie, Jura, Ökonomie, Philologie, Philosophie, Soziologie, Psychologie, Geschichte und Theologie. Diese Menge, die je nach Perspektive problemlos um viele (Sub-)Disziplinen erweitert werden könnte, wirft die Frage auf, nach welcher Art und Weise man hier vorgehen sollte, um die Situation lexikographisch in den Griff zu bekommen: Ist die Lexik aller Disziplinen aufzunehmen? Oder nur ausgewählte, aber welche dann? Gibt es – zumindest sprachlich – wichtige und weniger wichtige Wissenschaftszweige? Derartige Fragen gewinnen noch an Brisanz, wenn man die Tatsache in Rechenschaft stellt, dass das Gefüge der wissenschaftlichen Disziplinen zu keiner Zeit völlig stabil war. Das Fächerspektrum der vormodernen Universität sowie die ältere Theorie der Wissenschaften unterscheiden sich in der frühen Neuzeit an wesentlichen Punkten von den heutigen Üblichkeiten (z. B. für die frühe Neuzeit: Klein 2004; Schmidt-Biggemann 1983), von der mit-

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telalterlichen Situation ganz zu schweigen. In der Regel kann man also nicht einfach bestimmte Wissenschaften auswählen und dann ihre Lexik durch den Lauf der Geschichte verfolgen. Gleichwohl gibt es über alle Zeiten hinweg gewisse Stabilitäten und Vergleichbarkeiten, die auch mit der sprachhistorischen Relevanz der Wissenschaften zu tun haben. Ganz generell wäre es also wichtig, genau an diese Verwandtschaften anzuknüpfen, um ein möglichst konsistentes lexikographisches Bild zu zeichnen. Woran ist hier zu denken? Beginnt man mit der Frühzeit der Wissenschaftssprache, so ist zunächst die Organisation der alten Universität in den Mittelpunkt zu stellen. Sie bestand bekanntlich aus vier Fakultäten, die als Äquivalent für die zentralen Wissenschaften zu nehmen sind, also Medizin, Jura, Theologie, Philosophie. Diese fakultär organisierten Disziplinen sind durch relativ große organisatorische Konstanz geprägt, was sich terminologisch in einer weit in die Vergangenheit zurückreichenden Geschichte zeigt. Die philosophische Fakultät steht dabei weniger für die Philosophie im heutigen Sinne, sondern als Artisten-Fakultät (Trivium, Quadrivium) für propädeutische Fächer. Daraus erwuchsen mit der Zeit einige neue zentrale Gebiete: Mathematik, Astronomie/Physik/Meteorologie und Philologie (Grammatik, Rhetorik). So ergibt sich ein Spektrum, das grundlegend für die Dokumentation historischer Wissenschaftssprache ist: Medizin (inkl. Pharmazie), Jura, Theologie, Mathematik, Astronomie/Physik und Philologie. Es besitzt auch deshalb eine spezielle Relevanz, weil dahinter in vielen Fällen griechisch-lateinische Texte wirken, die terminologisch bis heute einflussreich sein können. Man denke etwa an die antiken Ursprünge der Medizin, der Grammatik und der Astronomie. Zu diesem Kern kamen zu verschiedenen Zeitpunkten weitere Fächer bzw. Fächergruppen hinzu, die mittlerweile als ebenso zentral gelten müssen. Seit dem 17. Jahrhundert entstand die Chemie, etwas später die moderne Biologie, deren nomenklatorische Wurzeln ebenfalls bis in die Antike zurückreichen. Aus verschiedenen Ursprüngen erwuchs eine Gruppe, die man insgesamt als technologische Wissenschaften bezeichnen könnte, also die Ingenieurswissenschaften i.w.S., inkl. Architektur und Bergbau mit Traditionen bis ins 16. Jahrhundert. Nach zögerlichen Anfängen im 17. und 18. Jahrhundert besaßen diese Disziplinen ihre erste große Blüte im 19. Jahrhundert. Sie manifestiert sich institutionengeschichtlich in der Gründung von technischen (Fach-)Hochschulen, bei denen oft ältere polytechnische Schulen oder technikorientierte Akademien im Hintergrund standen. Zuletzt kam dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Psychologie als eigenständige Wissenschaft hinzu, ähnliches gilt für Soziologie und Ökonomie. Für die Frühzeit, nämlich bis zum Jahr 1700, spiegelt das Profil der Wü-FtDb im Großen und Ganzen die gerade skizzierte Entwicklung. Die

222 | Wolf Peter Klein quantitative Verteilung der dokumentierten digitalen Fachtexte auf Disziplinen stellt sich derzeit dort wie folgt dar: Tab. 1: Anzahl der Digitalisate in der Wü-FtDb nach Sachbereichen (Stand: Januar 2015) Sachbereich Medizin Astronomie/Astrologie Chemie und Alchemie Mathematik Technik/Verwandtes Militär/Kampfkunst Bauwesen/Architektur Bergbau/Metallurgie Biologie Jurisprudenz Philosophie Balneologie (Bäderkunde) Geologie und Geographie Theologie Kochkunst Rhetorik/Formularbücher Wörter- und Handbücher

Digitalisate 808 369 350 318 210 196 190 139 136 130 94 72 62 54 54 53 48

Sachbereich Gartenbau Viehzucht/Haustiere Grammatik Wirtschaft/Handel Pädagogik Weinbau/Bierbrauerei Gynäkologie Land-/Ackerbau Optik Meteorologie Musik/Akustik Schiffsbau/Schifffahrt Jagdwesen/Fischerei Postwesen Druckwesen Textilien und Kleidung

Digitalisate 47 41 34 33 32 30 25 24 19 15 12 11 8 2 1 1

Selbstverständlich ließe sich dieses Bild der Wissenschaftsklassifikation noch an vielen Stellen verfeinern. Bei weitem sind nicht alle Fächer thematisiert worden, in denen man heutzutage ein Studium an einer Universität aufnehmen kann. Es ist hier aber auch nicht das Ziel, eine ausgefeilte Klassifikation der Wissenschaftsgeschichte vorzulegen. Es geht lediglich darum, ein erstes Orientierungsraster für eine lexikographische Dokumentation historischer Wissenschaftssprachen anzudeuten. Denn in der einen oder anderen Form wird die Gliederung der Wissenschaften bei einem solchen Unternehmen sicherlich eine bedeutende Rolle spielen. Aus den obigen Ausführungen ergibt sich jedenfalls, dass die folgende Zusammenstellung den disziplinär geordneten Kern eines großen Nachschlagewerks zur Dokumentation historischer Wissenschaftssprachen darstellen und als Basis für eine systematische Wortschatzklassifikation fungieren könnte:

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Tab. 2: Kerndisziplinen zur Dokumentation historischer Wissenschaftssprache Disziplin Medizin (inkl. Pharmazie) Jura Theologie Mathematik Astronomie/Physik/Meteorologie Philologie Chemie Biologie Technologische Wissenschaften Psychologie Soziologie Ökonomie

Bemerkung

Obere Fakultäten der vormodernen Universität Philosophische Fakultät der (vormodernen) Universität ab 17. Jh. ab 17./18. Jh. Anfänge ab 16. Jh., nachdrücklich seit 19. Jh.

ab 19. Jh.

Das spezifische historische Profil dieser Klassifikation wird deutlicher, wenn man es mit anderen möglichen Klassifikationen vergleicht. In Relation zu einer frühneuzeitlichen Konzeption der Wissenschaften5 sticht z. B. die Aufnahme von Psychologie und Ökonomie ins Auge. Diese Wissenschaften konnten im 17. Jahrhundert noch nicht wahrgenommen werden, müssen aber aus späterer Sicht zentrale Wissenschaftsdisziplinen darstellen. Geht man dagegen von einer maßgeblichen Bibliothekssystematik der Gegenwart, nämlich der so genannten Dewey-Dezimalklassifikation (DDC) aus, so wird klar, dass in der historischen Orientierung an der Fakultätenordnung der alten Universität ein wesentlicher Unterschied zur gegenwärtigen Sicht auf die Wissenschaften und ihre Texte liegt.6 In der Dewey-Klassifikation sind faktisch keine Reflexe der Institutionengeschichte der europäischen Universität mehr vorhanden. Mit dem Raster aus Tabelle 2 versuche ich demgegenüber also eine Systematik zu etablieren, in der einerseits wichtige disziplinäre und universitäre Aspekte der Wissenschafts-

|| 5 Das Konzept eines der berühmtesten Universalwissenschaftler des 17. Jahrhunderts, Johann Heinrich Alsteds, umfasste z. B. die folgenden Instanzen: Philologie, Philosophie (inkl. Physik, Mathematik, Astronomie), Theologie, Jurisprudenz, Medizin, Mechanische Künste sowie andere Disziplinen (u. a. Architektur, Alchemie) (Klein 2004: 309 f.). 6 Die ersten sechs Hauptklassen sehen in der DDC, die den deutschsprachigen Nationalbibliographien zugrunde liegt, wie folgt aus (Alex 2014): Hauptklasse 000: Allgemeines, Informatik, Informationswissenschaft, Hauptklasse 100: Philosophie und Psychologie, Hauptklasse 200: Religion, Hauptklasse 300: Sozialwissenschaften, Hauptklasse 400: Sprache, Hauptklasse 500: Naturwissenschaften und Mathematik, Hauptklasse 600: Technik, Medizin, angewandte Wissenschaften.

224 | Wolf Peter Klein sprachgeschichte greifbar werden, andererseits aber auch ein Bezug auf die aktuelle Gliederung der Wissenschaften möglich wird.

4 Das Quellen- und Textproblem Mit den Darlegungen aus den Kap. 2/3 ergibt sich eine sehr umfangreiche Textmasse, die der Lexikographie historischer Wissenschaftssprache zugrunde gelegt werden müsste. Man denke an wissenschaftliche Aufsätze, Monographien, Hand- und Lehrbücher, Rezensionen sowie disziplinenspezifische Textformen wie Versuchsprotokolle, wissenschaftliche Tagebücher bis hin zu Tagungs- und Verwaltungsakten fachwissenschaftlicher Vereinigungen, möglicherweise sogar populärwissenschaftliche Texte. Das Ganze wäre jeweils noch gefiltert bzw. potenziert durch die Liste der Disziplinen nach Tabelle 2. Angesichts dieser Masse sind also Selektionskriterien für das grundlegende Datenmaterial zu entwickeln. Welche Texte sollten der historischen Wissenschaftslexikographie als primäre Quellen zugrunde gelegt werden? Auf welche Quellen bzw. Quellentypen könnte sich die Erstellung eines Nachschlagewerks zu historischen Wissenschaftssprachen im Kern stützen? Als Leitlinie möchte ich vorschlagen, dass die lexikographische Dokumentation von denjenigen Texten und Textstellen ihren Ausgang nehmen sollte, in denen die zeitgenössischen Forscher selber ihre Termini gesammelt und für den interessierten Kollegenkreis, zumindest rudimentär, inhaltlich erläutert haben. Mit dieser Devise, die im Folgenden als das Zeitgenossenprimat bezeichnet werden soll, rücken die alten Perspektiven auf Wissenschaft in den Vordergrund. Es geht also nicht um die heutige Sicht, in der zum Beispiel die Orientierung an wissenschaftshistorisch bedeutsamen Texten, Entdeckungen oder Erklärungen in den Vordergrund gestellt werden könnte. Für eine Rekonstruktion der alten Wissenschaftssprache ist die Orientierung an den alten Vorgaben aber nur folgerichtig. Denn insbesondere die Bedeutungsangaben zu den Termini werden nur realistisch und tragfähig sein können, wenn sie an den zeitgenössischen Sichtweisen und Theorieformulierungen anknüpfen. Darüber hinaus sollte die historische Dokumentation vor allem Quellen aufnehmen, die schon von ihren Autoren eher als Übersichts- und Nachschlagewerke mit einem gewissen Allgemeinheitsanspruch konzipiert wurden. Mit anderen Worten, je spezifischer und detaillierter ein Werk einen einzelnen wissenschaftlichen Gegenstand isoliert in den Blick nimmt, desto weniger eignet sich ein solcher Text für eine Rekonstruktion der alten Wissenschaftssprache. Er mag womöglich wissenschaftshistorisch weiterführend, gar fortschrittlich und revolutionär sein, für

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die Aufnahme in eine Sprachdokumentation ist er dadurch aber nicht per se geeignet. Die wissenschaftlich weiterführenden Texte zeichnen sich ja nicht selten durch eine innovative Sprache aus, die gerade das Typische und Übliche der jeweiligen Zeit hinter sich lässt und neue, bis dahin ungebräuchliche Wörter und Wendungen für die wissenschaftliche Analyse etabliert. Im weiteren Verlauf kann es dann natürlich gut sein, dass sich der neue Sprachgebrauch mit der Zeit im Kollegenkreis etabliert, in die entsprechenden Nachschlagewerke eingeht und somit für die lexikographische Dokumentation zur Verfügung stehen würde. Mit den obigen Eingrenzungen bietet sich dem Lexikographen immer noch eine breite Palette von Quellen, die sicher nicht vollständig in einem Nachschlagewerk aufgenommen werden kann. Zur Illustration und Erläuterung der Perspektive, die mit dieser methodologischen Entscheidung einhergeht, seien im Folgenden einige Befunde und weiterführende Überlegungen thematisiert. Diesbezüglich lässt sich nämlich noch eine kleine Typologie relevanter Texte bzw. Textstellen entwickeln, die aus dem Zeitgenossenprimat deduziert werden kann. Zentral sollten, wie ausgeführt, diejenigen Wörterbücher und Lexika sein, in denen der wissenschaftliche Wortschatz (oder Teile daraus) von Zeitgenossen für die innerfachliche Diskussion gesammelt und aufbereitet wurde. Man kann sie abkürzend einfach als wissenschaftliche Wörterbücher und Lexika bezeichnen. In der Frühzeit der Wissenschaftssprache konnten entsprechende Werke durchaus Handbuchcharakter besitzen. Die Abgrenzung zwischen eindeutig terminologieorientierten Sammlungen und systematisch konzipierten Übersichtswerken ist nicht immer einfach zu ziehen, oft auch sinnlos. Man denke nur an die zahlreichen vormodernen (Heil-)Pflanzensammlungen („Kräuterbücher“), die einen inhaltlichen Zugang zu einem wissenschaftlichen Gegenstandsbereich und gleichzeitig eine Einführung in die gebräuchliche Terminologie geben wollten. Innerhalb der wissenschaftlichen Wörterbücher und Lexika lassen sich ferner noch diejenigen Terminologiesammlungen hervorheben, die offiziell von wissenschaftlichen Fachgesellschaften herausgegeben wurden, entweder im nationalen oder auch – noch einschlägiger – im internationalen Kontext. Für die Gebräuchlichkeit der Lexik sind solche Werke natürlich von eminenter Aussagekraft, weil sie unmittelbar die Institutionalisierung eines bestimmten Wortschatzes bezeugen. Da in vormoderner Zeit keine wissenschaftlichen Fachverbände existierten, entfällt dieser Punkt allerdings für die Frühzeit. Mit den ersten entsprechenden Publikationen ist im Verlaufe des 18. Jahrhunderts, verschärft dann im 19. Jahrhundert, zu rechnen. Gelegentlich finden sich darüber hinaus einschlägige lexikalische Befunde in versteckten Terminologiesammlungen. Dabei handelt es sich meistens um

226 | Wolf Peter Klein kleinere Zusammenstellungen, die am Rande, aber noch innerhalb wissenschaftlicher Monographien erstellt wurden (z. B. am Ende von Graffenried 1629 die „Lateinischer und annderer Wörtter in disem Wercklein begriffen/außlegung“). Sie sind oft nicht einfach zu identifizieren. Mit viel Glück findet man Hinweise darauf im Titel, was die Suche von Fall zu Fall sehr erleichtern kann (z. B. Junghans 1680). Darüber hinaus können definitorische Abschnitte in wissenschaftlichen Texten (inkl. lexikalisch orientierende Marginalien) für die lexikographische Detail-Dokumentation ebenfalls fruchtbare Daten bieten. Besonders einschlägig sind diejenigen Ausführungen, in denen gleichzeitig mehrere (verwandte) Termini semantisch definiert und voneinander unterschieden werden. Als Beispiel sei hier auf ein Kapitel eines astronomischen Buchs hingewiesen, in dem der Inhalt von Wörtern wie augennender, auffgericht augennender, geneigter augennender, haupts punct, Zenith und Polus des Augennenders systematisch in einen Zusammenhang gebracht wird (Johannes de Sacrobosco 1533: Cap. iiij). Auch die explizite Erläuterung nicht-nativer Wörter gehört an diese Stelle.7 Von besonderem Interesse können dann auch diejenigen Textteile sein, in denen ein Autor ausdrücklich verschiedene (eigene und/oder fremde) Definitionen aufgreift und gegeneinander abwägt.8 Solche definitorischen Abschnitte gibt es in der gesamten vormodernen Wissenschaftsliteratur immer wieder. Gelegentlich manifestieren sie sich auch in mehr oder weniger systematischen Marginalien oder in verwandten typographischen Hervorhebungen. Außerdem ist bei der lexikographischen Datenerhebung an Textteile zu denken, die man lexikalische wissenschaftliche Listen nennen könnte. Ich meine damit alle Formen von Registern, Indices, Kapitelverzeichnissen und Glossaren, in denen dem Leser zeitgenössischer Publikationen lexikalisch basierte Zugriffsstrukturen auf wissenschaftliche Texte bzw. Textteile angeboten wurden. Diese Listen sind deshalb von besonderer Bedeutung, weil dort in der Regel die herausgehobenen, zentralen Termini des jeweiligen Sachbereichs zu finden sind. Als ein Beispiel unter vielen sei etwa auf das Kapitelverzeichnis des großen Planetenbuchs von Sebastian Brenner verwiesen (Brenner 1575). Daraus lässt sich entnehmen, dass Wörter bzw. Phrasen wie Amptmänner der Natur, complexio und natürlich Planet im Zentrum seiner astronomischen Fachlexik || 7 Z. B. zum Terminus Atmosphäre: „Etliche weltweise Mathematici unserer Zeit haben befunden / daß der Begriff der Lufft / von deren wir reden / die Erde umgiebet / und atmosphaera benennet wird / sich erstrecken könne von der Erden 45 Meilen in die Höhe, andere glauben / sie könne sich nicht weiter als 20 Meilen außbreiten, andere geben nur 15. Meilen.“ (d’ Alencé 1688: 2 f.). 8 Vgl. etwa zum Ausdruck Sphäre Johannes de Sacrobosco 1533: Kap. 1.

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standen. Viele wissenschaftliche Publikationen der Vormoderne weisen ähnliche Textstrukturen auf.9 Gelegentlich finden sich dazu flankierende Abbildungen, um die Bedeutungen der Termini visuell zu erläutern (z. B. unmittelbar nach dem Titelblatt in Johannes de Sacrobosco 1533). Auch die lateinisch-deutschen so genannten Apotheken-Taxa, in denen die medizinisch-pharmazeutischen Materialien der frühen Neuzeit für den zeitgenössischen Handel verzeichnet wurden, können zu dieser Gruppe der lexikalischen Listen gerechnet werden. In diesen kaufmännischen Zusammenstellungen wurde im Übergangsfeld zur Allgemeinsprache ein fachlich-wissenschaftlich geprägter Wortschatz verzeichnet, der von der großen Produktivität der damaligen Wissenschaftssprache zeugt.10 Diese Apotheken-Taxa sind leider in der bisherigen sprachhistorischen Forschung bisher noch gar nicht genauer ausgewertet worden, obwohl sich hier verschiedene interessante Perspektiven anbieten würden.

|| 9 Vgl. für die Astronomie z. B. nur Anonymus (1583), Hildebrandt (1620), für physikalische Instrumente d’ Alencé (1688: fol. )0(.) 10 Vgl. dazu im 16. und 17. Jahrhundert exemplarisch nur die folgenden Werke: Andreas Fleck: Volkomene Taxa aller Materialien/ so in den Apoteken verkaufft werden/ (…) im Churfuerstenthumb der Marck Brandeburck. Berlin 1574; Joh. Wittichius: Tax Tefflein: Der Greflichen Schwartzburgischen Apothecken zu Arnstadt. Erfurt 1583; [ohne Autor]: Apothecker Ordnung/ und Taxation. Zerbst 1609; [ohne Autor]: Apotheken Ordnung und Tax der Stadt Osterwick. Goslar 1609; [ohne Autor]: Kurtze/ Nohtwendige Ordnung und Raht/ Auch Verzeichnus und Taxa der Artzneyen/ (…). Helmstedt 1609; Collegium Medicum: Taxa, Oder Wirdegung aller Materialien/ So in der Apotheken zu Wittenberg verkaufft werden. Wittenberg 1611; [ohne Autor]: Verzeichnus und Taxa Deren Gewürtz und Specereyen/ so vornemlich und fast alle Märckte steigen oder fallen. [Ohne Ort] 1613; [ohne Autor]: Der Fürstlichen Stad Lignitz Apoteken Ordnung und Taxa. Liegnitz 1614; [ohne Autor]: Der Stadt Lewenberg Apoteken Tax und Ordnung. Liegnitz 1614; Heinrich Schiller: Etliche bewehrte Mittel gegen die Gefahr der Pest/ sampt derer Ordnung und Taxt. Hanau 1632; Collegium Medicum: Verzeichnüs Und Taxa Oder Würderung Aller Artzneyen und anderer Materien/ so in der Apotheken zu Wittenberg verkaufft werden. Wittenberg 1632; [ohne Autor]: Valor, sive Taxatio Medicamentorum, tam simplicium, quam compositorum, quae in Officinis Magdeburgensibus prostant. Magdeburg 1666; Johann Georg II.: E.E. und Hochweisen Raths der Stadt Leipzig Vor die Apotheken daselbst auffgerichtete (…) Ordnung und Taxa. Leipzig 1669; [ohne Autor]: Tax Und Wirdigung Wie und in was Wehrt die in denen Apothecken Der Graffschafft Schaumburg/ (…) Medicamenta (…) hinfüro verkaufft werden sollen. Rinteln 1670; [ohne Autor]: Apotheken-Ordnung und Taxa Derer in denen Apotheken der (…) Berg-Stadt Freybergk in Meissen/ befindlichen Medicamenten und Materialien. Freiberg 1673; [ohne Autor]: Neu eingerichtete ApotheckerOrdnung und Taxa der Stadt Brieg. Brieg 1675; Johann Georg II.: E.E. und Hochweisen Raths der Stadt Leipzig Vor die Apotheken daselbst auffgerichtete (…) Ordnung und Taxa. Leipzig 1685.

228 | Wolf Peter Klein Zum Schluss sei darauf hingewiesen, dass auch in allgemeinsprachlichenzyklopädischen Wörterbüchern und Lexika Daten für die lexikographische Rekonstruktion historischer Wissenschaftssprache zur Verfügung stehen. Denn im Übergangsfeld von den Fachsprachen zur Allgemeinsprache sind auch viele Wörter in die Lexikographie der Standardsprache eingegangen.11 Derartige Befunde können insofern als Belege für die Strahlkraft einzelner wissenschaftlicher Wörter gelten und je nach Einzelfall auch semantische Wandelprozesse anzeigen, die sich bei der Integration in die Standardsprache ergeben haben. Zusammenfassend lassen sich also die folgenden Textinstanzen für die Rekonstruktion historischer Wissenschaftssprachen festhalten. Sie sind unten nach ihrer lexikographischen Einschlägigkeit und Aussagekraft geordnet. Besonders wichtig für die sprachhistorische Aufarbeitung sind die Terminologiesammlungen von Fachgesellschaften; am ehesten wird man für die innerwissenschaftliche Dokumentation auf die allgemeinsprachlich-enzyklopädischen Sammlungen verzichten können: ↓ Terminologiesammlungen von Fachgesellschaften, ↓ wissenschaftliche Wörterbücher/Lexika, ↓ versteckte Terminologiesammlungen in wissenschaftlichen Texten, ↓ definitorische Abschnitte in wissenschaftlichen Texten, ↓ lexikalische wissenschaftliche Listen, ↓ allgemeinsprachlich-enzyklopäd. Wörterbücher/Lexika mit Wissenschaftslexik. Angesichts des eher traditionellen Zugangs, der sich aus den obigen Quellenformen ergibt, sei noch eine orientierende Schlussbemerkung erlaubt. Selbstverständlich bin ich mir der Tatsache bewusst, dass die Orientierung an zeitgenössischen Wörterbüchern und wörterbuchähnlichen Texten nicht unproblematisch ist. Auch in der Vergangenheit hat sich Wissenschaft in erster Linie in Fließtexten, nicht in Nachschlagetexten verkörpert. Letztere Quellen sind demnach, wenn man so will, konstitutiv sekundär, schlimmstenfalls also fehleranfällig und nicht repräsentativ. Anders als in den hergebrachten Formen der || 11 Zur Illustration vgl. etwa die folgenden Lemmata in Adelung (1793–1801), die explizit bestimmten wissenschaftlichen Disziplinen zugeordnet werden: Aggregat, Arsenik-Butter, Auslader, Barometer, Bestandtheil, Birnprobe, Bleymilch, Busensünde, Eisenkalk, Erdwinde, Flüchtigkeit, Heischesatz, Heuchelbuße, kaltblütig, Menschwerdung, Mutterlauge, Platzkugel, rectificiren, Rothwälsch, Ruhepunct, Scheinmittel, Schlagweite, Scherfläche, Sinnesänderung, Spelze, Steinbrech, Stirnrad, Streichfeuer, sublimiren, Tiegerfuß, Tinctur, Trägheit, Trigonelle, verpuffen, Vorschlag, Wasserstrahl, Wortverstand.

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Sprachlexikographie ist freilich im Bereich der alten wissenschaftssprachlichen Sammlungen wegen ihres expliziten, präzisen Adressatenzuschnitts eher damit zu rechnen, dass hier tatsächlich der reale Sprachgebrauch zugrunde liegt. Während in der überlieferten Sprachlexikographie etwa mit allen Arten von sprachlichen Artefakten zu rechnen ist (z. B. lexikographische Ad-hoc-Bildungen, Übersetzungskonstrukte, Prestige-Prägungen), lagen solche irritierenden Bildungen den zeitgenössischen Lexikographen der Wissenschaftssprache von vorneherein eher fern. Denn der Ausgangspunkt ihrer Arbeit lag in der Regel ja gerade in der Sicherung und Bearbeitung derjenigen Wörter, die für die Arbeit eines (angehenden) Fachwissenschaftlers einschlägig waren. Das bot keinen Raum für die Behandlung von Wörtern, die im realen Sprachgebrauch gar nicht vorkamen. Und bei der grundsätzlichen methodologischen Alternative, also bei einer Orientierung an wissenschaftlichen Fließtexten, wäre zudem eine sehr schwierige Aufgabe zu lösen, die auch durch die fortgeschrittenen Formen der computertechnischen Text-Manipulation nur äußerst schwer in den Griff zu bekommen ist, nämlich die schnelle und eindeutige Aussonderung der wissenschaftlichen Termini aus der Gesamtmenge der Textwörter. Diese Problematik taucht bei der Orientierung an zeitgenössischen Nachschlagetexten aber faktisch gar nicht erst auf, da der fragliche wissenschaftliche Wortschatz als solcher immer schon offen zutage liegt.

5 Das Sprachproblem Im Weiteren stellen sich bei der lexikographischen Beschreibung wissenschaftssprachlicher Lexeme Probleme, die bei jeder Erarbeitung eines Wörterbuchs anfallen: Wie sollen die verschiedenen Wortvorkommen einem Wörterbucheintrag zugeordnet werden (Lemmatisierung), und auf welcher Grundlage und mit welchem Verfahren soll die lexikographische Bedeutungsbeschreibung erfolgen? Nimmt man in dieser Hinsicht die vormodernen Verhältnisse in den Blick, so ergeben sich jedoch besonders gravierende Probleme. Sie hängen insgesamt mit dem ungefestigten, uneinheitlichen Status der frühen Wissenschaftsprachentwicklung zusammen. Ich habe diese konstitutive Instabilität an anderer Stelle begrifflich folgendermaßen gefasst: In der frühen deutschen Wissenschaftssprache herrschte bis mindestens zum 18. Jahrhundert zunächst eine generelle Experimentierphase, die erst mit der Zeit in ein Stabilitätsstadium überging (Klein 2014: 40–44). Demnach ist die frühe deutsche Wissenschaftssprache faktisch durch eine Überlagerung verschiedener Formen von Instabilität geprägt. Die vormodernen Wissenschaftler waren gezwungen, in verschie-

230 | Wolf Peter Klein denen Hinsichten (lexikalisch, orthographisch, morphologisch, semantisch) unterschiedliche Strategien bei der Benennung fachlicher Inhalte auszuprobieren. Zunächst war noch nicht klar, welches Bildungsmuster sich jeweils in der vormodernen fachinternen Kommunikation für die Erstellung eines stabilen Terminus bzw. einer regelrechten Terminologie etablieren würde. Aus den Experimenten, die aus dieser Situation resultierten, ergab sich zunächst notwendigerweise eine große, heterogene Vielfalt von Sprachformen, die sich mit Blick auf die grundsätzlichen Rahmenbedingungen kurz etwas genauer beschreiben lässt: Formseitig sticht zunächst – wie im Frühneuhochdeutschen insgesamt üblich – die orthographische Instabilität der Wörter ins Auge. Das Wort Sphäre begegnet uns beispielsweise mindestens in den folgenden Schreibweisen, bei denen die unterschiedlichen Groß- bzw. Kleinschreibungen noch gar nicht berücksichtigt sind: spheer, spheera, speer, sphaer, spaehr, spher, sphere.12 Der Umstand, dass weite Teile der einschlägigen Lexik lateinisch-griechischen Ursprungs sind, verschärfte die Brisanz dieser Instabilität, da sich sprachliche Integrationsbewegungen bekanntlich häufig in orthographischem Wandel, also durch zeitweilige Doppel- bzw. Mehrfachformen, ausdrücken. Dazu kommt die Tatsache, dass die oft instabile Getrennt- und Zusammenschreibung die einigermaßen stabile Lexikalisierung von (nativen) Wortbildungen unterlief. Diese Problematik wirkte sich gerade in der wissenschaftssprachlichen Kommunikation besonders gravierend aus, weil hier wegen des hohen Benennungs- bzw. Übersetzungsbedarfs viele neue Komposita (und auch Derivationen) gebildet wurden. Diese orthographische Form der Instabilität wurde ferner noch dadurch gesteigert, dass oft auch wortbildungstechnisch und syntaktisch noch nicht klar war, in welche Richtung die Entwicklung weitergehen sollte. Die uneinheitliche Getrennt- und Zusammenschreibung spiegelte oft nur die unscharfe Grenze zwischen Wortbildung und Syntax. Konkret gewendet: Würden sich neu gebildete Wörter gegenüber semantisch ähnlichen syntaktischen Konstruktionen durchsetzen? Oder würden die Ansätze zur Bildung neuer Wörter wieder im Sande verlaufen und eher die unstabilen syntaktischen Konstruktionen, z. B. relativ feste Nominalphrasen aus Substantiv und Adjektiv, genutzt werden? Kamen vielleicht sogar phraseologismusförmige Zwischenformen ins Spiel? Zudem existierten bei Wortbildungen nicht selten Wortbildungsvarianten. Wenn also Wortbildungen gegenüber syntaktischen Konstruktionen ein größeres Durchsetzungspotential besitzen sollten, so war zu Beginn oft unent-

|| 12 Vgl. den Schreib-Usus in Perlach (1531); Johannes de Sacrobosco (1533); Brenner (1575).

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schieden, welche der kursierenden Wortbildungsvarianten mit der Zeit den anderen den Rang ablaufen sollte.13 Aus dem Umstand, dass die deutsche Wissenschaftssprache der Zeit in enger Verbindung mit dem Lateinischen stand, ergaben sich außerdem noch Instabilitäten, die eher mit der Inhaltsseite der sprachlichen Zeichen zu tun haben. Zunächst stand oft auf der Kippe, ob nun ein lateinischer Ausdruck materialiter ins Deutsche übernommen oder eher eine semantisch annähernd identische Übersetzung zum Tragen kommen würde: Meridionallinie oder Mittagslinie, Pol(us) oder Himmelsspitze? Will ein Lexikograph in solchen Fällen nur einigermaßen systematisch lemmatisieren, so wird er geradezu dazu gezwungen, sich grundsätzlich entweder für die nativen oder die entlehnten Varianten zu entscheiden, auch wenn eine solch weitreichende Entscheidung durch den variierenden zeitgenössischen Sprachgebrauch eigentlich überhaupt nicht gedeckt sein mag. Bei einer Übernahme aus dem Lateinischen ist zu allem Überfluss nicht gesichert, ob sich in einem solchen Fall mit der Zeit tatsächlich eine semantische Identität etablierte. Auch auf diesem Transfer-Weg, der vorderhand eher die lexikalische Einheitlichkeit zwischen alter lateinischer und neuer deutscher Wissenschaftssprache sicherte, konnten sich nämlich Instabilitäten ergeben. Sie sind allerdings weniger sichtbar, weil sie sich auf die unterschiedlichen Inhaltsseiten der Wörter als auf ihre (orthographischen, morphologischen) Formseiten beziehen. Ein lexikographischer Ausweg aus dieser prekären Lage könnte, ganz generell, in einer starken und vieldimensionalen Vernetzungsstruktur liegen. Insgesamt lässt sich also resümieren, dass die hohe Instabilität der vormodernen Wissenschaftslexik aus verschiedenen Faktoren resultiert: Neben der orthographischen Problematik des Frühneuhochdeutschen sind die ungefestigten Wortbildungsmuster inklusive konkurrierender Konstruktionen sowie die spezifischen Doppel- und Mehrfachformen im lateinisch-deutschen Spannungs-

|| 13 Illustrierend seien nur die folgenden, mehr oder weniger unsystematisch zusammengestellten Variationen genannt, die vom anfangs recht experimentellen Charakter einiger sprachlicher Einheiten im Spannungsfeld von Syntax, Wortbildung und Schreibung zeugen. Sie stammen aus mathematisch-astronomischen deutschen Schriften, die sich der Konstruktion von physikalischen Messgeräten (v. a. Sonnenuhren) gewidmet haben, so etwa Prägungen mit dem Morphem recht / gerecht: rechter vs. gerechter Winckel, recht wincklecht / rechte winklichte / recht winkelechte, bleyrecht, uffrecht / auffrecht, wagrecht / wagerecht (u. a.), mit dem Morphem Linie: Kreutzlinien / creutzweiß Linie / Creütz linien / Creutz-Lini, Linie des Kontinents / Kontinentslinie, Linie der Stange / Stangenlinie, Mittagslini / Mittaglini (u. a.) (Anonymus 1544; Kessler 1609; Stegmann 1624; Graffenried 1629; Schwelin 1661); himel spitz oder hymelspitz (Johannes de Sacrobosco 1533: 26, 47).

232 | Wolf Peter Klein feld zu nennen. Diese Rahmenbedingungen führen insgesamt dazu, dass die frühe Wissenschaftsterminologie lexikographisch sicher schwerer in den Griff zu bekommen ist als andere Bereiche des deutschen Wortschatzes. In der Wörterbucharbeit drückt sich das insbesondere in der vielschichtigen Problematik der Lemmatisierung aus. Die Betrachtung der Inhaltsseite der alten Fachlexik, also die lexikographische Bedeutungsbeschreibung, wirft darüber hinaus die Frage auf, mit welcher Strategie und nach welcher Methode man hier vorgehen sollte. Welche besonderen Probleme ergeben sich bei der Dokumentation der Wissenschaftslexik? Wie könnten sie bewältigt werden? Diese Fragen sind natürlich an und für sich schon recht komplex und standen schon immer im Zentrum der theoretisch avancierten Wörterbucharbeit in historischer Perspektive (z. B. Reichmann 2012: Kap. 7). Daher kann dieses Problem hier nur kurz angerissen, keineswegs erschöpfend behandelt werden. Wie könnte also ein erster Weg aussehen? Auch hier ist wieder der Bezug auf das oben aufgestellte Zeitgenossenprimat hilfreich. Denn als Maxime sollte zunächst gelten, dass die Bedeutungen der Termini in Relation zu den zeitgenössischen wissenschaftlichen Theorien, philosophischkosmologischen Erklärungsansätzen und realen Handlungspraktiken zu beschreiben sind. Als Beispiel unter vielen sei der Terminus complexio angeführt, der in der deutschsprachigen Astronomie des 16. Jahrhunderts nicht ungebräuchlich war. In einem aussagekräftigen Wörterbucheintrag wäre es nicht ausreichend, die Bedeutung des Worts einfach mit „Beschaffenheit des Körpers“ bzw. – regelrecht irreführend – schlicht mit „Komplexion“ zu umschreiben. Stattdessen müsste man, gegebenenfalls mit einem ausdrücklichen intertextuellen Verweis innerhalb des Nachschlagewerks, auf seine Herkunft aus der traditionellen medizinisch-philosophischen Säftelehre eingehen, ebenso auf seine spezifische astronomische Verankerung, wie sie aus der zeitgenössischen Fachliteratur hervorgeht.14 Wer dieses Hintergrundwissen nicht besitzt, kann den damaligen Sprachgebrauch nicht verstehen, auch wenn das Wort selbst durch den heutigen bildungssprachlichen Usus (komplex, Komplex/Komplexion usw.) auf den ersten Blick bekannt erscheinen mag. Erst mit einem solchen historischen und wissenschaftsgeschichtlichen Bezug wird es möglich sein, andere Vorkommen des Worts complexio in der zeitgenössischen Fachliteratur angemessen und vor

|| 14 Vgl. andeutungsweise HWPh (s. v. Säfte, Säftelehre); zeitgenössisch v. a. Brenner (1575: 3. Teil, Kap. 1 ff.) sowie Perlach (1531: fol. Cir, Ciiir).

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allem kontrastiv korrekt einzuordnen.15 Dasselbe gilt für eine vormoderne native Wortbildung wie augenender. Deren Bedeutung kann fürs Erste – sachlich sicher richtig und weiterführend – mit ‚Horizont‘ gleichgesetzt werden (Reichmann 1994: s. v. augenender). Darüber hinaus erschließen sich aber weitere wichtige Aspekte, wenn man diesen Terminus im Rahmen der einschlägigen, auch metasprachlichen Kontexte der frühen Neuzeit zur Kenntnis nimmt. Dann steht das Wort in Relation zu Ausdrücken wie Polus, ebenmechter und Sphäre; auch seine Erläuterung durch bildliche Skizzen, die die astronomisch-mathematische Struktur des Himmels visuell vor Augen führen sollten, ist hier einschlägig (Johannes de Sacrobosco 1533: Cap. i). Die semantische Verwobenheit mit benachbarten Termini sowie die zeitgenössischen visuellen Bedeutungserläuterungen sollten also in ein lexikographisches Dokumentationssystem integriert werden. Derartige Einbettungen müssen auch bei anderen Wortvorkommen in Rechenschaft gezogen werden. Nur auf dieser Basis könnte dann die Frage erörtert werden, ob das Wort augenender in anderen Texten in derselben, in einer verschobenen oder einer ganz anderen Bedeutung genutzt wird (z. B. Eisenmenger 1585: 122). Noch diesseits der Frage, mit welcher semantischen Theorie und welchem Beschreibungsinstrumentarium die Termini lexikographisch beschrieben werden sollen, ergibt sich also aus den obigen Darlegungen, dass Lemmatisierung und Bedeutungsanalyse historischer Wissenschaftssprache ein hartes Geschäft ist. Fast bei jedem Wort werden weitreichende Entscheidungen zu fällen sein: Welche Lemmaform wird aufgenommen? Inwiefern sollen die Beziehungen zwischen der lateinischen Wissenschaftssprache und den kursierenden Übernahmen bzw. Übersetzungen dokumentiert werden? Wie ist die Bedeutung zu erläutern? Und welche Folgen ergeben sich aus alldem für die simple Frage, ob die verschiedenen Textvorkommen eines Worts ausdrucks- und inhaltsseitig gegebenenfalls denselben Terminus oder einen anderen verkörpern? Denn wenn es um denselben Terminus geht, müssten sowohl Ausdrucks- als auch Inhaltsseite identisch sein. Und um eine solche Aussage empirisch gehaltvoll und einigermaßen reflektiert zu treffen, sind viele sprachlichen Details zu ermitteln und einschneidende theoretische Entscheidungen zu fällen.

|| 15 Vgl. z. B. die quasi-geologische Nutzung des Worts complex(en) bei Paracelsus (De mineralibus liber: 53) und complexiones bei Kirchmaier (1698: 5).

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6 Schluss In den Kapiteln 2 bis 5 wurden vier grundsätzliche Problemkomplexe erörtert, die bei der Lexikographie historischer Wissenschaftssprache – explizit oder implizit – gelöst werden müssen. Dabei ging es hauptsächlich darum, ein erstes Problembewusstsein für die anstehenden Aufgaben zu entwickeln. Die Hinweise auf konkrete Lösungswege, auf denen tatsächlich alle anstehenden Fragen restlos zu klären wären, mussten notwendigerweise fragmentarisch bleiben. Auch wenn die obigen Ausführungen womöglich einen anderen Eindruck erweckt haben, möchte ich am Ende doch unmissverständlich feststellen: Die Schwierigkeiten sind zwar nicht unbeträchtlich, sie können aber prinzipiell bewältigt werden. Das große Ziel einer umfassenden Dokumentation historischer Wissenschaftssprache ist erreichbar, insbesondere dann, wenn man die sehr hilfreichen technischen Möglichkeiten mitbedenkt, die dem Lexikographen heutzutage durch den technischen Fortschritt zur Verfügung stehen. Der Nutzen, den die verschiedenen Wege zur Manipulation und Analyse digital erfasster Texte mittlerweile bieten, ist für die lexikographische Arbeit kaum zu überschätzen. Allerdings wird auf absehbare Zeit immer noch ein nennenswerter manueller Analyseanteil verbleiben, den uns auch die jeweils neueste Computergeneration nicht abnehmen kann. Zuletzt ist noch auf eine andere Schwierigkeit hinzuweisen, die für das skizzierte Projekt noch gar nicht angesprochen wurde. Ich meine den Umstand, dass die Dokumentation historischer Wissenschaftssprache im Grunde ein riesiges Unternehmen darstellt, das zweifellos nicht von einem kleinen LehrstuhlTeam oder einer enthusiastischen Freizeittruppe verwirklicht werden kann. Man müsste über eine umfangreiche, professionell trainierte und für einige Zeit stabile Mannschaft verfügen, um das Projekt mit Aussicht auf Erfolg anzugehen und abzuschließen. Mit anderen Worten, es wären umfangreiche Fördermittel nötig, die in einer großen, gut geplanten kollaborativen Aktion beantragt werden müssten. Dieser Punkt gibt schlussendlich Anlass zur Skepsis. Denn schon die Ausarbeitung eines solchen Antrags ist in der derzeitigen Forschungslandschaft eher unwahrscheinlich, ganz zu schweigen von seiner Aussicht auf Bewilligung. Wir befinden uns ja leider in einer Zeit, in der das historische Bewusstsein deutlich auf dem Rückzug ist und geisteswissenschaftliche Großprojekte kaum eine realistische Chance auf Verwirklichung besitzen. Dass ein „interdisziplinäres deutsches Wörterbuch“ trotz einschlägiger Vorüberlegungen (Henne et al. 1978) niemals realisiert wurde, stimmt in diesem Zusammenhang auch nicht gerade hoffnungsvoll.

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Jörg Riecke

Vom Nutzen eines neuen deutschen medizinhistorischen Wörterbuchs Abstract: Auch wenn die Medizin und das Schreiben und Sprechen über medizinische Themen in der Gesellschaft eine vergleichbar große Bedeutung hat wie das Recht und die Rechtssprache, ist die Medizin in lexikographischer Hinsicht nicht annähernd so gut erschlossen und beschrieben. Ein neues gegenwartsbezogenes medizinhistorisches Wörterbuch könnte daher sowohl der Arzt-Patienten-Kommunikation, als auch der Erschließung historischer Textbestände dienlich sein. Der Beitrag skizziert den Nutzen eines solchen Wörterbuchs und gibt Hinweise zu seiner Konzeption. Keywords: Fachsprachen, Lexikographie, Medizingeschichte, Sprachgeschichte

|| Prof. Dr. Jörg Riecke: Universität Heidelberg, Germanistisches Seminar, Hauptstr. 207–209, 69117 Heidelberg, E-Mail: [email protected]

1 Zur Einleitung Die Frage nach dem Nutzen oder nach den Benutzern eines Wörterbuchs wird heute meist auf die Frage verengt, ob es sich um ein gedrucktes oder elektronisches Nachschlagewerk handeln solle. Die Bedeutung dieser Frage soll hier nicht bestritten werden, sie ist aber in wissenschaftlicher Hinsicht von nachgeordneter Bedeutung. Ein Wörterbuch ist nicht per se besser oder schlechter, weil es in elektronischer oder gedruckter Form vorliegt. Ausschlaggebend für die Qualität eines Wörterbuchs ist weiterhin die lexikographische Kompetenz seiner Bearbeiter. Die neuen Möglichkeiten der Vernetzung und Verknüpfung bis hin zu Wörterbuchverbünden und ein vermeintlich unbegrenzter Speicherplatz können zu gleichen Teilen neue Einsichten eröffnen wie vorhandenes Wissen bis zur Unkenntlichkeit überwuchern. Der oft nicht ohne Stolz präsentierte Hinweis, die „Nutzer“ elektronischer Wörterbücher könnten sich die Daten, die sie für ihre Fragestellungen benötigten, selbst zusammenstellen, führt einerseits leicht zu einer Überforderung, andererseits bestenfalls zu einer Laien- und Hobby-„Linguistik“ wie aus vorwissenschaftlicher Zeit. Stattdessen sollte es die ureigene Aufgabe des Lexikographen sein, über die Auswahl und Deutung ein-

240 | Jörg Riecke zelner Wortbelege hinaus das Orientierungswissen bereitzustellen, das es den Wörterbuchlesern überhaupt erst ermöglicht, Wortbedeutungen und Belegkontexte in ihr je eigenes Wissen zu integrieren. Dies wird bei einem Sprachstadienwörterbuch anders aussehen als bei einem Autorenwörterbuch oder einem im weitesten Sinne Fachwörterbuch. Bei der Erarbeitung eines Wörterbuchs der medizinischen Fachkommunikation und der ihr unterlegten Fach-, Laien- und Vermittlungsdiskurse ist man zudem auch in einer historischen Perspektive sicher gut beraten, nicht nur die Interessen der Sprachwissenschaft, sondern auch die der heutigen Diskursteilnehmer selbst in den Blick zu nehmen. Ein medizinhistorisches Wörterbuch sollte also im Idealfall ebenso für Ärzte und Patienten und nicht zuletzt für die Kommunikation zwischen den Heilberufen einen Nutzen haben. Es sollte daher gleichermaßen Sprach- und Sachwissen vermitteln und ein narratives Wörterbuch sein. Überlegungen zur medialen Form eines neuen medizinhistorischen Wörterbuchs sind daher dem Nachdenken über den Nutzen eines Wörterbuchs nachgeordnet und werden hier nicht weiter vertieft. Von weitaus größerer Bedeutung scheint die Frage zu sein, zu welchem Zweck ein Wörterbuch geschaffen und wie es gestaltet werden sollte.

2 Zur Begründung des Vorhabens Der Plan für die Neukonzeption eines medizinhistorischen Wörterbuchs begründet sich durch die Bedeutung der Medizin in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Das Sprechen und Schreiben über den menschlichen Körper, über Krankheiten, Heilung und Gesundheit ist ein zentraler Bestandteil einerseits der Fach- und Alltagskommunikation, andererseits der Erfassung und Erschließung unserer Welt. Medizin betrifft alle Menschen, Ärzte wie Patienten, Fachleute wie Laien, gleichermaßen zu allen Zeiten. Die Medizin steht daher wie wenige andere Bereiche des Lebens im Spannungsfeld von fachwissenschaftlicher Spezialisierung und menschlichen Alltagserfahrungen. In vergleichbarer Weise trifft dies vermutlich allenfalls auf die Beschäftigung mit dem Recht und der Sprache des Rechts zu, und schon im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde daher das Bedürfnis nach einem Speicher des deutschen Rechtswortschatzes sichtbar. Ein dem daraus hervorgegangenen „Deutschen Rechtswörterbuch“ vergleichbares Wörterbuch ist für den Bereich der Medizin im deutschen Sprachraum allerdings nie konzipiert worden. Die romantische Sicht auf die Welt, die sich in dem Interesse der Brüder Grimm für Volksrechte und Rechtsgeschichte spiegelt, wurde nicht auf die Medizin übertragen. Hier hatte die naturwissenschaftlichrationalistische Haltung der Schulmedizin seit dem 19. Jahrhundert zu einer

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radikalen Ablehnung der älteren medizinischen Konzepte geführt. Die „romantische Medizin“ der Jahre um 1800 in der Tradition der Naturphilosophie Schellings hat in der Wissenschaft vergleichsweise wenig Spuren hinterlassen.1 An der Stelle des die Rechtsgeschichte aufhellenden „Rechtswörterbuchs“2 tritt in der an den Naturwissenschaften orientierten und daher gegenwartsbezogenen Medizin die Veröffentlichung der „Real-Encyklopädie der gesammten Heilkunde“ des Pharmakologen Albert Eulenburg (1840–1917), die den in Deutschland für das gesamte 19. Jahrhundert ambitioniertesten Versuch darstellt, das neue medizinische Wissen der Zeit nicht als Wörterbuch, sondern in enzyklopädischer Vollständigkeit mit ausführlichsten Quellenbelegen darzubieten. Die erste Auflage der Enzyklopädie erschien bei Urban und Schwarzenberg in 15 Bänden von 1880 bis 1883 und bald darauf in zweiter Auflage in 22 Bänden von 1885 bis 1890, gefolgt von neun ergänzenden Jahrbüchern zur laufenden Aktualisierung. Die dritte Auflage von 1894 bis 1901 bot in 26 Bänden abermals eine gründliche Bearbeitung und wurde wiederum 1903 bis 1911 durch neun „Encyklopädische Jahrbücher der gesammten Heilkunde“ ergänzt. Eine vierte und letzte Ausgabe wurde in fünfzehn Bänden 1907 bis 1914 publiziert, diesmal unter der gemeinsamen Leitung mit dem Internisten Theodor Brugsch (1878–1963). Eulenburgs „Real-Encyklopädie“ darf fraglos als das konkurrenzlos führende medizinische Nachschlagewerk des deutschen Sprachraums in der Zeit um die Jahrhundertwende angesehen werden. Es ist noch heute für seine Epoche ein wertvolles Hilfsmittel (vgl. dazu Eckart 2015: 21 f.). Die Abkehr der neuen naturwissenschaftlichen Medizin von ihren Vorläufern, die Eulenburg in seiner „Real-Encyklopädie“ erstmals abbildet, führte, abgesehen vom Bereich der zentralen Körperteilbezeichnungen, auch sprachlich zu einem Bruch und einem Neuanfang auf griechisch-lateinischer fachsprachlicher Basis, und zwar auf Kosten der Volkssprache. Allerdings geschah dies gerade unter Ausklammerung der philosophischen Systeme der griechischrömischen Antike und des christlichen Mittelalters. Der daraus nach und nach hervorgegangene fachsprachlich-medizinische Technolekt der Gegenwart hat sich inzwischen so weit vom alltäglichen Sprechen über Krankheit und Gesundheit entfernt, dass heute ernsthafte Verständnisprobleme in der Arzt-PatientenKommunikation zu beklagen sind. Er kommt zwar den fachsprachlichen Kompetenzen und den Bedürfnissen der ärztlichen Seite entgegen, stellt aber die Patienten in der Regel vor massive Verständnisprobleme. Während in älterer

|| 1 Zur „romantischen Medizin“ siehe Wiesing (1995). 2 Zur Geschichte des „Deutschen Rechtswörterbuchs“ und seiner Vorläufer siehe Deutsch (2013).

242 | Jörg Riecke Zeit das Interesse an der Erläuterung des lateinischen, griechischen oder auch arabischen Fachwortschatzes im Vordergrund stand,3 wäre es vor dem Hintergrund dieser Verständnisprobleme heute alles andere als abwegig, gerade den einheimischen volkssprachigen Wortschatz der Medizin, mit dem im deutschen Sprachraum jahrhundertelang über den Körper, über Krankheiten und über Gesundheit gesprochen wurde, zu sammeln und neu zu erschließen. Dieser Gedanke war bereits eine wichtige Begründung für den Tölzer Badearzt Max Höfler, als er der Öffentlichkeit 1899 sein „Deutsches Krankheitsnamenwörterbuch“ vorlegte. Höfler sah seinerzeit vor allem ein Problem bei der Kommunikation zwischen dialektsprechenden Patienten und standardsprachlich ausgebildeten Ärzten und wollte seinen medizinischen Kollegen eine Hilfe für den Umgang mit ihren nicht medizinisch und nicht standardsprachlich vorgebildeten Patienten geben: Als junger Arzt hörte ich in meiner oberbayerischen Heimat meine Patienten von Glockfeuer, Trudendruck, von Heb, Zipf, Pips, Zitterach etc., als Badearzt meine norddeutschen Patienten von Grieben, Lieschen, Quese etc. sprechen. Die darüber zu Rat gezogenen Bücher der Schulmedizin gaben keinen Aufschluss, und doch sollte der Arzt seine Patienten verstehen. (Höfler 1899, Vorwort: III)

Auch betont er den kulturgeschichtlichen Wert der „oft sehr treffenden“ (ebd.) volkstümlichen Ausdrücke. Allerdings verband er dieses gegenwartsbezogene Motiv für die Ausarbeitung eines medizinischen Wörterbuchs von vornherein auch mit einer vergangenheitsbezogenen Überlegung.4 Nach seiner Einschätzung würden sich nämlich in der medizinischen Kommunikation als gewissermaßen „gesunkenes Kulturgut“ stets noch Relikte älterer, in der Schulmedizin aus dem Gebrauch gekommener medizinischer Systeme finden lassen. (Höfler 1899, Vorwort: V)5 Diesen kulturgeschichtlichen Wert – und damit die Rechtfertigung seiner volksmedizinischen Studien und seines „Krankheitsnamenbuches“ – versucht Höfler darüber hinaus weiter zu begründen. Die Entwicklung therapeutisch verwendbarer volksmedizinischer Heilverfahren erfolgt nach seiner Auffassung nämlich durch zufällige Entdeckungen: „Der Mensch, der Alles aß und Alles versuchte, mußte offenbar auch leicht zum Genusse der giftigen Pflanzen und zu Beobachtungserfahrungen über deren Wirkungen kommen.“ (Höfler 1888: 4; vgl. auch Müller-Pfaff 1988: 143) Neben diesem Lerneffekt durch unerwünschte Wirkun|| 3 Zu den älteren medizinischen Wörterbüchern siehe Riecke (2013) und Eckart (2015). 4 Zur Unterscheidung gegenwartsbezogener und vergangenheitsbezogener historischer Wörterbücher Reichmann (2012: 16–25). 5 Ausführlicher zu Höfler und seinem Wörterbuch: Riecke (2013: 309–313).

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gen spielt auch die Erfahrung, z. B. im Geburtsablauf, und die Handelsbeziehungen mit anderen Regionen eine gewichtige Rolle in der Entwicklung der vom Volk getragenen therapeutischen Ansätze. „Jede Kulturperiode hatte somit ihre Spuren hinterlassen, jedes ärztliche Schulsystem […] spukt darum da und dort jetzt noch.“ (Höfler 1888: 5; vgl. auch Müller-Pfaff 1988: 143) Roger MüllerPfaff fasst Höflers Vorstellung so zusammen: „Volksmedizin stellt sich demgemäß als ein rudimentäres Überbleibsel früherer schulmedizinischer Ansätze, die im Bewußtsein der Menschen fortdauern, dar.“ (Müller-Pfaff 1988: 143) Auch in der Einleitung zum „Krankheitsnamenbuch“ vertritt Höfler die Auffassung, dass sich in nahezu jedem schulmedizinischen System noch überlieferte Ausdrücke finden lassen, an denen das Volk festgehalten habe. (Ebd.: 157) „So viele ärztliche Systeme und Perioden, so viel Krankheitsnamen, die der getreue Widerhall der alten Schullehren und der volksüblichen Auffassungen über Natur und Ursache der Krankheiten sind“. (Höfler 1899: Vorwort, III) Die Beschäftigung mit der Volksmedizin und gegenwartsbezogener Medizingeschichte wird damit in den Gesichtskreis der Schulmedizin des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurückgeholt und erhält eine theoretische Fundierung. Mit der Deutung der gegenwärtigen und vergangenen Volksmedizin als Relikt einer vorausgegangenen gelehrten Schulmedizin nimmt Höfler offensichtlich einen Teilaspekt von Hans Naumanns um 1920 entwickeltem Modell vom „gesunken Kulturgut“ vorweg.6 Damit wäre in der Medizin im weitesten Sinne vor allem auf Systeme verwiesen, die heute von der sogenannten Alternativmedizin, oft in Unkenntnis ihrer Traditionslinien, vertreten werden. Gelegentlich greift aber selbst die heutige Schulmedizin auf Versatzstücke älteren medizinischen Wissens zurück. Max Höflers Leistung, nach einigen Jahren der Vorbereitung ein medizinhistorisches Wörterbuch vorzulegen, verdient große Bewunderung. Höfler ist, was für sein Vorhaben kein Nachteil war, Mediziner. Als Sprachwissenschaftler ist er dagegen Autodidakt und auf die Erkenntnisse der damals verfügbaren sprachwissenschaftlichen Forschungen angewiesen. Auf Vorbilder für seinen Versuch konnte er nicht zurückgreifen, allenfalls für das Gebiet der Anatomie standen ihm Joseph Hyrtls „Die alten deutschen Kunstworte der Anatomie“ zur Verfügung (vgl. Riecke 2013: 304–309 und Eckart 2015). Nur in Form und Aufbau konnte er sich an Johann Andreas Schmellers „Bayrischem Wörterbuch“ orientieren, in inhaltlicher Hinsicht gelangte er verständlicherweise nicht über den damaligen etymologischen und lexikographischen Standard hinaus. Sein „Krankheitsnamen-Buch“ enthält als Abbild seiner Interessen, anders als es sein Titel nahelegt, nicht nur Bezeichnungen für Krankheiten, sondern auch || 6 Zu Naumanns Modell vgl. man Schirrmacher (2000).

244 | Jörg Riecke Bezeichnungen für Organe und Körperfunktionen, auch Veterinärmedizinisches und Aussagen zur Heilwirkung von Pflanzen. Diese Vielfalt weist aber zugleich auch auf ein Problem seines Wörterbuchs, denn durch die breite Anlage sammelte sich eine Stoffmasse an, die in diachronischer, diatopischer, diastratischer und diaphasischer Hinsicht fast unendlich und kaum beherrschbar scheint. Höfler will dem „praktischen Arzte, dem Mediziner überhaupt, dem Freunde der Medizin- und Kulturgeschichte, dem Germanisten, Mythologen, Folkloristen, sogar dem Botaniker“ (Höfler 1899: Vorwort, IV) etwas Brauchbares an die Hand geben. Es verarbeitet dabei ausgedehnte Wissensbestände der im heutigen Sinne alternativen Volksmedizin. Das Wörterbuch beruht auf Höflers medizinischem und volkskundlichem Fachwissen und ebenso auf einer großen Anzahl historischer Quellen. Die Quellenauswahl ist allerdings weniger das Ergebnis einer geordneten Sammlung, vielmehr wird verwendet, was für ihn in Tölz verfügbar war. Ob Höflers Wörterbuch seinen Anspruch, einen Beitrag zur Verbesserung der Arzt-Patienten-Kommunikation zu leisten, erfüllt hat, ist nicht bekannt. Besonders in der Volkskunde wurde Höflers Leistung gewürdigt. Auch die erste Rezeptionsphase, die sich in Höflers Rezensionen spiegelt, hebt den Wert des Wörterbuchs für die – bayerische – Volkskunde hervor. Vor allem aus sprachwissenschaftlicher Sicht wäre aber inzwischen eine Überarbeitung mehr als geboten. Auch ist die Quellengrundlage heute – wenngleich noch längst nicht ideal – weitaus besser als zu Höflers Zeiten. Angesichts der Vielfalt der von Höfler behandelten Stoffe würde eine Überarbeitung wahrscheinlich ein Mehrfaches an Raum einnehmen. Gundolf Keil hat deshalb schon vor längerer Zeit vorgeschlagen, statt einer Überarbeitung des gesamten Höflers ein neues Wörterbuch des medizinischen Wortschatzes des Mittelhochdeutschen zu erarbeiten (Keil 1993: 126). Dies würde sich dann an das inzwischen vorliegende Wörterbuch des althochdeutschen medizinischen Wortschatzes anschließen (vgl. Riecke 2004). Ein solcher – aus germanistischer Sicht durchaus sinnvoller – Vorschlag hätte ein ausschließlich vergangenheitsbezogenes historisches Wörterbuch zum Gegenstand, mit dessen Hilfe etwa mittelhochdeutsche medizinische Texte und Textpassagen in der Literatur und Fachprosa richtig übersetzt und besser verstanden werden könnten. Möchte man jedoch auch die gegenwartsbezogene Komponente des Höflers bewahren, dann wäre eine solche Bearbeitung nicht ausreichend, denn für die heutige klinische Medizin würde sich aus einem vergangenheitsbezogenen Wörterbuch kaum ein vergleichbar großer Nutzen ziehen lassen. Dies wäre nur bei einer völligen Neubearbeitung der Fall, die den von Höfler beabsichtigten Gegenwartsbezug bewahren würde. Durch eine solche Neubearbeitung könnte auch die Medizin vor allem von einer Verbesserung der kommunikativen Bedingungen beim Sprechen über

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Krankheit und Gesundheit profitieren. Der einheimische deutsche Wortschatz der Medizin, mit dem sich Laien über Gesundheit und Krankheit austauschen, würde gespeichert und ginge nicht verloren. Alternativmediziner und Heilpraktiker würden bis an die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Wurzeln des von ihnen angewendeten Heilwissens geführt; vielfach würden Parallelen auch zwischen asiatischen (chinesischen, tibetischen) Konzepten und der vormodernen europäischen Medizin in den Blick geraten. Bisher fehlen Untersuchungen etwa zur Sprache der Homöopathie oder der Lebensreformbewegung um 1900 völlig, von älteren Konzepten wie der Paracelsus- oder Hildegard-Medizin ganz zu schweigen, die – trotz wichtiger Vorarbeiten – noch immer unzureichend erforscht sind. Die heutigen Laiendiskurse, so wie es sie etwa in der sogenannten Hildegard-Medizin gibt, beruhen meist auf ganz veralteten Editionen und daher fehlerhaften Übersetzungen. Wo es in Einzelfällen neue Editionen und Übersetzungen gibt, werden sie noch kaum zur Kenntnis genommen. Ein neues „Handwörterbuch“ würde aber das Wissen der verschiedenen medizinischen Traditionen an einem Ort sammeln, erschließen und für Mediziner wie Laien anwendungsbezogen aktualisieren.

3 Zur Konzeption des Vorhabens Der Hinweis auf veraltete Texteditionen zeigt, welche Bedeutung das Quellenkorpus für die Durchführung des Vorhabens hat. Die Auswahl der Quellen und Überprüfung ihrer digitalen oder sonstigen Verfügbarkeit gehört zu den wesentlichen Vorarbeiten, die für das Handwörterbuch erforderlich sind. Wünschenswert wäre der Aufbau eines digitalen Quellenkorpus nach dem Vorbild des digitalen Quellenkorpus des deutschen Rechtswörterbuchs.7 Eine solche Auswahl müsste für die medizinischen Texte aber erst im Verlauf der konzeptionellen Überlegungen getroffen werden und würde die Arbeit am Handwörterbuch begleiten. Dagegen wäre das digital verfügbare Quellenkorpus noch keine Voraussetzung, um mit der Arbeit am Handwörterbuch zu beginnen. Anders als das Deutsche Rechtswörterbuch würde das medizinische Handwörterbuch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Es würde viel mehr zunächst darauf orientiert sein, an ausgewählten Beispielen den Wortschatz volkssprachiger medizinischer Konzepte und Diskurse zu speichern, zu erschließen, ihn aber auch sukzessive zu aktualisieren. || 7 Zur standardsetzenden Qualität dieser Verbindung im Rechtswörterbuch siehe auch Haß (2010: 12).

246 | Jörg Riecke In diesem Sinne ist ein Wörterbuch, das den Wortschatz des Schreibens über das Thema Krankheit und Gesundheit enthält, im weiteren Sinne ein Diskurswörterbuch, denn es bildet fachmedizinische und laienmedizinische Diskurse in synchroner und diachroner Perspektive ab. Am Wandel der Bezeichnungen und ihrer Verwendungsweisen kann es auch den Wandel innerhalb der Diskurse erhellen. Dies antwortet zugleich in gewisser Weise auf das heute gern beklagte Defizit der Lexikographie, „dass sie Sprache und Sprachgebrauch in isolierte Wörter und Wortgeschichten atomisiere und damit grundlegenden Überzeugungen der modernen Sprachwissenschaft zuwiderlaufe“ (zitiert nach Haß 2010: 47). Grundlegende Überzeugungen einer sich modern verstehenden Sprachwissenschaft sind allerdings nicht in Stein gemeißelt, sondern unterliegen beständiger Veränderung. Daher sei hier noch einmal darauf hingewiesen, dass Wörter nicht nur als Bestandteile von Texten und Diskursen beschrieben werden müssen, sondern auch als je eigenständige Speicher von menschlichen Erfahrungen, Kenntnissen, Überzeugungen und Wertungen. Das neue medizinhistorische Wörterbuch besitzt also eine horizontale Perspektive in Form der Sammlung von charakteristischen Lexemen, die einen bestimmten medizinischen Diskurs zu einer bestimmten Zeit geprägt haben. Es besitzt aber zugleich auch eine vertikale Perspektive, in der die charakteristischen Lexeme als Wissensspeicher je für sich beschrieben werden. Es versteht sich von selbst, dass der Lexikograph in einem zweiten Schritt dann wie im „Frühneuhochdeutschen Wörterbuch“ durch eine „onomasiologische Vernetzung“ Bezüge zwischen den Wörtern herstellt. Nimmt man für die Neubearbeitung den gesamten Zeitraum vom frühen Mittelalter bis etwa zum beginnenden 20. Jahrhundert in den Blick, dann sollte man sich in Anbetracht des Umfangs und der Vielfalt des Stoffes von vornherein von einer semasiologischen, streng alphabetischen Ordnung des Wörterbuchs verabschieden. Stattdessen sollte schon auf der obersten Beschreibungsebene ein onomasiologisches Gliederungsprinzip gelten. In dieser Hinsicht kann ein erster Zugang über die Topographie des menschlichen Körpers erfolgen, ergänzt um die verschiedenen medizinischen Systeme und Traditionen. Die bei allen Veränderungen im Detail doch vergleichsweise konstanten Körperteilbezeichnungen könnten dann selbst in alphabetischer Form in einem ersten Band zusammengestellt werden. Ausgangspunkt sollte hier die Sammlung der althochdeutschen Körperteilbezeichnungen sein (vgl. Riecke 2004, Bd. 2: 2–278). Als Lemma wird die sprachgeschichtlich jüngste Form angesetzt, etwa ausgehend von ahd. bilarn ‚Zahnfleisch‘ wie im Grimmschen Wörterbuch (DWB 2: 24 f.) ein Ansatz Bilern nach dem zuletzt noch im Bairischen belegten Wort. Der Stoff der Krankheits- und Gesundheitsbezeichnungen wird dann nach medizinischen und sachlichen Gesichtspunkten gegliedert und in weiteren Bänden angelagert.

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Von den Körperteilbezeichnungen des ersten Bandes ausgehend könnte dann auf die Systeme, in denen sie eine Rolle spielen, verwiesen werden. An volksprachlich dominierten oder zumindest geprägten Systemen können – in einer offenen Liste – in chronologischer Folge unterschieden werden: Klostermedizin mit Zaubersprüchen, Humoralpathologie, paracelsische Medizin, romantische Medizin, Homöopathie, Heilkunde der Lebensreform und schließlich die Aneignung außereuropäischer medizinischer Systeme. Der Erläuterung des Wortschatzes dieser Systeme sollte jeweils eine Einführung in deren Grundprinzipien vorausgehen, auf die sich die Bedeutungsangaben dann beziehen könnten. Dies würde etwa bei der Beschreibung der Humoralpathologie Hinweise auf die Qualitäten „heiß“, „kalt“, „feucht“ und „trocken“ erfordern, im angeschlossenen Wörterbuchteil würden dann die Belege für diese Adjektive aufgefächert und gedeutet. Zudem würde vom volksprachigen Wortschatz jeweils auf die heute gängige medizinische Fachterminologie Bezug genommen und Querverweise zwischen den verschiedenen – nicht zuletzt der außereuropäischen – Systemen gesetzt. Es liegt auf der Hand, dass ein solches Vorhaben nur in Zusammenarbeit und im Austausch zwischen Medizinern und Sprachwissenschaftlern gelingen kann. Auf der Makroebene ist die Sprachwissenschaft vor allem bei der Erschließung der historischen medizinischen Diskurse und ihrer Aktualisierung in hohem Maße auf medizinisches Expertenwissen angewiesen. Auf der Mikroebene werden bei der Bestimmung einzelner strittiger Wortbedeutungen stets medizinisches und sprachwissenschaftliches Sachwissen aufeinander zu beziehen sein. Dabei ist nicht zu erwarten, dass „intelligente Suchwerkzeuge“ die Arbeit des Lexikographen übernehmen können und „gleichsam jeder zum Lexikographen“ (Klein 2004: 37) wird. Zur Bestimmung von ahd. gelosuht als ‚Gelbsucht‘, ‚Aussatz‘ oder ‚Rheuma‘ im Frühmittelalter ist sprachliches und medizinisches Wissen ebenso gefragt wie für die späteren Jahre bei der Erklärung des heylig bein als Kreuzbein, bei der Deutung der paracelsischen Transplantation, der homöopathischen Potenz oder der Schlacken der Lebensreform. Ein solches Wörterbuch wäre von Nutzen für die Lexikographie und für die Sprachgeschichte, gleichermaßen aber auch für die Medizin und Medizingeschichte und hätte damit den für ein solches Wörterbuch größtmöglichen Benutzerkreis.

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Literatur Bayerisches Wörterbuch. Sammlung von Wörtern und Ausdrücken, die in den lebenden Mundarten sowohl, als in der ältern und ältesten Provincial-Litteratur des Königreichs Bayern, besonders seiner ältern Lande, vorkommen, und in der heutigen allgemein-deutschen Schriftsprache entweder gar nicht, oder nicht in denselben Bedeutungen üblich sind. Mit urkundlichen Belegen, nach den Stammsylben etymologisch-alphabetisch geordnet. Von J. Andreas Schmeller. Stuttgart, Tübingen: Cotta’sche Buchhandlung 1827–1837. Deutsch, Andreas (2013): Von der Idee eines Wörterbuchs zur älteren Rechtssprache – und der Geburt eines Großprojekts im Jahr 1897. Zur Konzeption des Deutschen Rechtswörterbuchs und seiner Vorläufer als vergangenheitsbezogene Nachschlagewerke. In: Michael Prinz & Hans-Joachim Solms (Hrsg.): vnuornemliche alde vocabulen – gute, brauchbare wörter. Zu den Anfängen der historischen Lexikographie. Zeitschrift für deutsche Philologie 132, Sonderheft, 269–297. Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. Hrsg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften [Bd. 1–3]/Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin [Bd. 4; teilweise in Verbindung mit der Akademie der Wissenschaften der DDR]/Heidelberger Akademie der Wissenschaften [ab Bd. 5]. Bearb. v. Richard Schröder u. a. Weimar: Böhlau 1914 ff. Online: www.deutsches-rechtswoerterbuch.de (28.04.2016). DWB = Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 16 Bde. [in 32]; Quellenverzeichnis. Leipzig: Hirzel 1874–1971. Die alten deutschen Kunstworte der Anatomie. Mit Synonymen, Register und alphabetischem Index. Ges. und erl. v. Jos. Hyrtl. Wien: o. V. 1884. Eckart, Wolfgang U. (2015): Venter id est hwamba. „Sprach“-Geschichte der Medizin aus der Perspektive des Unterrichts. In: Albert Busch & Thomas Spranz-Fogasy (Hrsg.): Handbuch Sprache in der Medizin. Berlin, Boston: de Gruyter, 3–25. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Hrsg. v. Robert R. Anderson [für Band 1], Ulrich Goebel, Anja Lobenstein-Reichmann [Einzelbände] & Oskar Reichmann [Bände 3 und 7 in Verbindung mit dem Institut für deutsche Sprache; ab Bd. 9, Lieferung 5 im Auftrag der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen]. Berlin, New York: de Gruyter 1989 ff. Haß, Ulrike (2010): Chancen und Perspektiven der historischen Lexikografie des Deutschen. Lexikographica 26, 45–62. Höfler, Max (1888): Volksmedizin und Aberglaube in Oberbayerns Gegenwart und Vergangenheit. München: Stahl. Höfler, Max (1899): Deutsches Krankheitsnamenbuch. München: Piloty & Loehle. Keil, Gundolf (1993): Lexer und die medizinische Fachsprache. In: Horst Brunner (Hrsg.): Matthias von Lexer. Beiträge zu seinem Leben und Schaffen. Stuttgart: Steiner, 141–157. Klein, Wolfgang (2004): Vom Wörterbuch zum Digitalen Lexikalischen System. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 236, 10–55. Müller-Pfaff, Roger (1988): Max Höfler 1848–1914. Leben und Werk, München: Univ., Diss. Real-Encyclopädie der gesamten Heilkunde. Medizinisch-chirurgisches Handwörterbuch für praktische Ärzte. Hrsg. v. Albert Eulenburg. – 1. Aufl. Berlin, Wien: Urban & Schwarzenberg 1880–1883 (15 Bde.). – 2., umgearb. und verm. Aufl. Wien u. a.: Urban & Schwarzenberg 1885–1890 (Bde. 1–22); 1891–1911 (9; Encyclopädische Jahrbücher der gesamten Heilkunde).

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– 3., gänzlich umgearb. Aufl. Wien u. a.: Urban & Schwarzenberg 1894–1901 (Bde. 1–26), 1903–1911 (9 Ergänzungsbde.; Encyclopädische Jahrbücher der gesamten Heilkunde). – 4., gänzl. umgearb. Aufl. Mit Theodor Brugsch. Berlin u. a.: Urban & Schwarzenberg 1907–1914 (Bde. 1–22); 1920–1938 (22 Ergänzungsbde.; Ergebnisse der gesamten Medizin. Hrsg. v. Theodor Brugsch). Reichmann, Oskar (2012): Historische Lexikographie. Ideen, Verwirklichungen, Reflexionen am Beispiel des Deutschen, Niederländischen und Englischen. Berlin, Boston: de Gruyter. Riecke, Jörg (2004): Die Frühgeschichte der mittelalterlichen medizinischen Fachsprache des Deutschen. 2 Bde. Berlin, New York: de Gruyter. Riecke, Jörg (2013): Über die Anfänge der Geschichte deutscher medizinhistorischer Wörterbücher im 19. Jahrhundert. In: Michael Prinz & Hans-Joachim Solms (Hrsg.): vnuornemliche alde vocabulen – gute, brauchbare wörter. Zu den Anfängen der historischen Lexikographie. Zeitschrift für deutsche Philologie 132, Sonderheft, 299–316. Schirrmacher, Thomas (2000): „Das göttliche Volkstum“ und der „Glaube an Deutschlands Größe und heilige Sendung“. Hans Naumann als Volkskundler und Germanist im Nationalsozialismus. 2 Bde. 1. Aufl. 1992. Neuaufl. in einem Band Bonn: Verlag für Kultur und Wiss. Wiesing, Urban (1995): Kunst oder Wissenschaft? Konzeptionen der Medizin in der deutschen Romantik. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog.

Katrin Thier

Genauso, nur ganz anders Vom New English Dictionary zum Oxford English Dictionary Online Abstract: Zwischen seinen Anfängen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart des 21. Jahrhunderts hat das Oxford English Dictionary große Veränderungen erlebt – und überlebt. Die Welt, in der 1884 die erste Lieferung erschien, unterschied sich tiefgreifend von der heutigen, sprachlich, gesellschaftlich, geopolitisch und besonders auch technologisch. Im Laufe der Jahrzehnte haben sich die äußeren Umstände verändert, unter denen das Wörterbuch geschrieben wurde (und wird); die Welt, die Weltsicht und die Sprache haben sich entwickelt, und neue Technologien boten neue Möglichkeiten für Forschung und Veröffentlichung. Die zugrunde liegenden Ziele, Methoden und Prinzipien in der Redaktionsarbeit blieben dagegen weitgehend konstant, und die Darstellung des Textes spiegelt diese Tradition. Die folgenden Seiten sollen einen Überblick über die Redaktions- und Publikationsgeschichte geben und den langen Weg von den Anfängen zur Internetversion verfolgen. Keywords: Buchdruck, Datenbank, Forschungsgeschichte, Grundprinzipien, Historical Thesaurus, Internet, Kontinuität, Layout, Middle English Dictionary, New English Dictionary, Online, Oxford English Dictionary, Philological Society, Textstruktur, World Wide Web, XML

|| Dr. Katrin Thier: Oxford English Dictionary, Oxford University Press, Great Clarendon Street, Oxford OX2 6DP, GB-England, [email protected]

1 Das erste Wörterbuch: NED und OED1 Die Geschichte des Oxford English Dictionary begann im Jahr 1857, als die Philological Society of London Vorschläge diskutierte, die existierenden Wörterbücher des Englischen zu ergänzen, aus denen bald der Plan für ein New English Dictionary hervorging (Philological Society 1859 & 1860). Zum ersten Mal sollte hier in einem einzigen Werk der Gebrauch der Sprache seit der Mitte des zwölften Jahrhunderts aufgezeichnet werden, mit Definitionen und Textbelegen (für

252 | Katrin Thier gebräuchliche ebenso wie ausgestorbene Bedeutungen), und mit Informationen zu Aussprache, historischen Schreibweisen und Etymologie. Unter den Grundprinzipien waren von Anfang an (Philological Society 1860; vgl. Considine 1996 und Simpson 2002: 3): – eine möglichst umfassende Darstellung des gesamten englischen Wortschatzes; – detaillierte Dokumentation mit Textbelegen aus gedruckten Quellen, einschließlich des ersten bekannten Belegs; – eine chronologische Anordnung der Hauptbedeutungen, mit (ebenfalls chronologisch angeordneten) Hierarchien untergeordneter Bedeutungen, die Bedeutungsentwicklungen reflektieren; – Etymologien, die nach dem Stand der Forschung die Geschichte jedes Wortes soweit wie möglich zurückverfolgen; – Information zur Aussprache für Wörter der lebenden Sprache; – klare verständliche Darstellung mit übersichtlicher Seitengestaltung. Schon seit 1857 waren in der ganzen englischsprachigen Welt freiwillige Leser angeworben worden, die versuchten, Belege aus historischen und modernen Quellen zu sammeln, aus Büchern, Zeitschriften und Zeitungen, aus literarischen Klassikern und modernen wissenschaftlichen Texten (Gilliver 2012). 1879 übernahm Oxford University Press das Projekt als Verlag und stellte James Murray, ein prominentes Mitglied der Philological Society, als Redakteur an. Redaktions- und Produktionsarbeit waren Handarbeit: Die gesammelten Belege waren von Hand auf Zettel geschrieben und der Redaktion per Post zugeschickt worden. Sie wurden von Hand sortiert, Definitionen und Etymologien wurden handschriftlich hinzugefügt und der fertige Text dann mit beweglichen Lettern von Hand gesetzt. Die Variationsmöglichkeit beweglicher Lettern ist nahezu unbegrenzt, und so war es auch ohne große Probleme möglich, in Etymologien nicht-lateinische Schriftzeichen zu verwenden, etwa arabische, hebräische, indische und gelegentlich sogar chinesische, die alle zusammen mit einer Umschrift zitiert wurden, und griechische, die als bekannt vorausgesetzt wurden. Die Produktion der ersten Lieferung begann bereits 1882, zwei Jahre vor der Veröffentlichung, und von da an wurde kontinuierlich gesetzt, während die Redaktion jeweils mit der nächsten Lieferung beschäftigt war (Cowley 1972: [2–3]). Es dauerte fast ein halbes Jahrhundert bis zur Fertigstellung des Werks; die letzte Lieferung erschien erst 1928. In all dieser Zeit wurde das Produktionsverfahren nicht grundlegend verändert, sodass ein einheitliches Erscheinungsbild erhalten blieb. Die Auswahl des Layouts war eine wichtige Entscheidung, die ganz am Anfang getroffen werden musste und für das gesamte Werk gleich bleiben sollte.

Genauso, nur ganz anders | 253

Die Gestaltung musste gleichzeitig zwei Aufgaben erfüllen: Sie musste aus Kostengründen so viel Material wie möglich auf jeder Seite unterbringen, andererseits aber optisch klar die verschiedenen Teile komplexer Einträge voneinander trennen. Das Ergebnis war eine dreispaltige Seiteneinteilung, bei der jeder Eintrag durch verschiedene Schrifttypen und Schriftgrößen intern strukturiert wurde. Damit distanzierte sich Murray bewusst von existierenden Vorbildern, zum Beispiel Émile Littrés Dictionnaire de la langue française (1863–72), das ebenfalls drei Spalten pro Seite hatte, aber im Druck keine weiteren Unterschiede zwischen Definition, Belegen usw. machte und damit sehr unübersichtlich war (K. M. E. Murray 1977: 197–198). Murrays Layout dagegen war darauf ausgelegt, über- und untergeordnete Information optisch zu differenzieren und das Auge auf die Schlüsseldaten zu lenken, etwa das Stichwort, die Bedeutungsnummer oder das Belegdatum. Auch die bibliographischen Informationen in den Belegen wurden typographisch in Kategorien eingeteilt, z. B. wurden Daten fett, Titel kursiv und Autorennamen in Kapitälchen gedruckt. Auf diese Weise war der komplexe Text leicht zugänglich („eloquent to the eye“ in Murrays Worten; Murray 1888: vi), ohne dass viel (teurer) Leerraum entstand. Zur weiteren Platzersparnis ließ Murray auch untergeordnete Einträge für transparente Ableitungen und Komposita zu, die weniger Belege und normalerweise auch keine eigene Aussprache oder Etymologie brauchten, in manchen Fällen nicht einmal eine Definition. Die wissenschaftliche Arbeit der Redaktion, die Definitionen formulieren und Etymologien erforschen musste, stützte sich von Anfang an besonders auf vier Arten von Quellen: die Belege selber, die sprachwissenschaftliche Kompetenz der Redaktion, eigene Recherche (durch eine Projektbibliothek und Zugang zu akademischen Bibliotheken) und Korrespondenz mit Spezialisten in vielen Fachgebieten. Gerade im Bereich der Etymologie ist dabei auch viel eigenständige Forschung betrieben worden. Unter dem Titel A New English Dictionary on Historical Principles (NED) wurde das neue Wörterbuch ab 1884 in Lieferungen veröffentlicht. Es sollte nun innerhalb der nächsten zehn Jahre fertiggestellt werden und im Ganzen vier Bände umfassen. Als einige Jahre später immer noch am Buchstaben A gearbeitet wurde, war klar, dass dieser Plan unrealistisch war. Die Arbeit dauerte um ein Vielfaches länger als geplant, und die letzte Lieferung erschien im April 1928. In gebundener Form war das Werk jetzt in Band 1 bis 10 eingeteilt, wobei allerdings die letzten beiden wegen ihrer Länge in jeweils zwei Halbbänden herausgegeben wurden, sodass im Ganzen zwölf Bücher erschienen. Murray erlebte die Vollendung des NED nicht mehr; er starb 1915. Die Arbeit wurde von seinen Kollegen Henry Bradley (bis zu seinem Tod 1923), William Craigie und C. T. Onions weitergeführt.

254 | Katrin Thier In den mehr als vier Jahrzehnten seit Beginn der Produktion hatte sich die Welt weiter entwickelt, und zusammen mit gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Neuerungen hatte sich auch neues Vokabular gebildet. Solches Material konnte oft nicht mehr vom NED berücksichtigt werden, weil es entstanden war (oder gefunden wurde), als der jeweilige Teil des Alphabets schon in Produktion oder im Druck war. 1933 wurde all dies von Onions und Craigie in einem Ergänzungsband (Supplement) zusammengefasst. Der folgende Abschnitt aus dem Vorwort zeigt, wie weit sich die Welt und auch die Sprache, verändert hatten, seit 1882 die ersten Seiten gesetzt worden waren: On the technical side, it [sc. the Supplement] exhibits the great enlargement of the terminology of the arts and sciences – biochemistry, wireless telegraphy and telephony, mechanical transport, aerial locomotion, psycho-analysis and the cinema […]; on the purely linguistic side, there is the varied development of colloquial idiom and slang, to which the United States of America have made a large contribution, but in which the British dominions and dependencies also have a conspicuous share. (Craigie & Onions 1933: v)

Zusammen mit dem Supplement wurde im selben Jahr das Gesamtwerk mit einigen Textkorrekturen unter dem Titel Oxford English Dictionary (OED1) neu aufgelegt, diesmal in zwölf Bände aufgeteilt. Diese Neuauflage schließt die erste Phase der Geschichte ab. Das Wörterbuch, das versucht hatte, die englische Sprache vom Mittelalter bis zur Gegenwart so umfassend wie möglich darzustellen, war fertig und (mit Hilfe des Supplement) nun auch auf dem neuesten Stand. Nach 1933 wurde die Redaktionsarbeit eingestellt, die Bibliothek wurde aufgelöst, und es wurden keine Belege mehr gesammelt. Unbenutztes Belegmaterial wurde archiviert oder an verwandte Projekte weitergereicht, die bestimmte (zeitlich und regionale) Felder der englischen Sprache eingehender bearbeiten sollten (Burchfield 1972: xii; vgl. Simpson 2002: 4), darunter das Middle English Dictionary in den USA und das Dictionary of the Older Scottish Tongue (DOST) in Schottland, die inzwischen selber wichtige Quellen für die Redaktionsarbeit am OED sind.

2 Neuanfang: das zweite Supplement Die zweite Phase in der Entwicklung des Wörterbuchs begann 1957 mit der Planung eines neuen Ergänzungsbands (zweites Supplement). In dem Vierteljahrhundert seit der Fertigstellung des ursprünglichen OED hatte sich die Welt wiederum stark verändert, und entsprechend hatte sich auch die englische Sprache merkbar weiter entwickelt. Unter der Aufsicht des Neuseeländers Robert Burch-

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field wurde ein neues Redaktionsteam zusammengestellt, um neues Vokabular ausfindig zu machen und altes genauer zu untersuchen. Burchfield war ein Schüler von C. T. Onions und konnte so trotz der langen Pause die redaktionelle Kontinuität bewahren; gleichzeitig aber gab der Neuanfang ihm die Chance, im Rahmen dieser Tradition Neuerungen vorzunehmen. Zum Beispiel wurden erstmals auch Naturwissenschaftler in die Redaktion aufgenommen, um immer komplexer werdendes Fachvokabular zu bearbeiten. Mehr noch als zuvor wurde jetzt Wert darauf gelegt, Formen der Sprache aus der ganzen Welt zu berücksichtigen. Für die Redaktionsarbeit wurde eine neue Bibliothek zusammengestellt, und es wurden wieder Leser rekrutiert, die jetzt zum Teil in bezahlten Leseprogrammen (reading programmes) organisiert waren. Auch die Arbeit in großen Forschungsbibliotheken wurde in dieser Zeit formell zu einem Spezialgebiet: Bestimmte Mitarbeiter sind seit 1959 ausschließlich damit beschäftigt, in bestimmten Bibliotheken Fragen der Redaktion zu beantworten, zunächst in der British Library und den Bibliotheken Oxfords, später auch in Nordamerika. Anders als das NED sollte das zweite Supplement auf einmal in einem Band erscheinen (Simpson 2002: 5). Wie schon beim NED stellte sich jedoch heraus, dass es dafür viel zu viel Material gab, und als Kompromiss wurden schließlich über einen Zeitraum von 14 Jahren vier Bände veröffentlicht; das Material wurde aber nicht weiter in einzelne Lieferungen unterteilt. Die Produktion begann 1964, und von da an wurden im Hintergrund nach wie vor laufend Teile des Werkes gesetzt, sobald sie fertig waren, was auch hieß, dass sie von einem bestimmen Zeitpunkt an nicht mehr verändert werden konnten. Burchfield bemerkt z. B. in der Einleitung zum ersten Band (1972: xiii), dass es 1969 nicht mehr möglich war, das Adjektiv Anguillan hinzuzufügen, das damals in den Nachrichten war, weil Einwohner der ehemals britischen Karibikinsel Anguilla um vollständige Unabhängigkeit kämpften. Das zweite Supplement übernahm auch Murrays ursprüngliches Layout, das sich bewährt hatte, nahm aber einige kleinere Änderungen vor. Anders als im OED1 wurden Stichwörter nicht mehr automatisch mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben, sondern nur noch, wenn der Großbuchstabe Teil der üblichen Form war. Burchfield sah auch weitgehend davon ab, in Etymologien nicht-lateinische Schriftzeichen zu benutzen, wie es inzwischen in der Sprachwissenschaft üblich war; lediglich Griechisch wurde beibehalten. Dies war auch für die neue Produktionstechnologie von Vorteil, denn das zweite Supplement wurde mechanisch mithilfe einer Monotypemaschine gesetzt (Cowley 1972: [12]), die mit einer umfassenden, aber doch nicht unbeschränkten Tastatur die Druckplatte vorbereitete.

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3 OED2: ins digitale Zeitalter Noch bevor der letzte Band dieses Supplement fertig war, wurde 1984 das New Oxford English Dictionary Project gegründet, mit dem Auftrag, eine integrierte Version des OED zu schaffen, in der das Material des ursprünglichen Wörterbuchs und seiner neueren Ergänzungsbände in eine einzige alphabetische Folge gebracht werden konnten. Der riesige Umfang des Gesamtwerks allein machte es nahezu unmöglich, praktisch und finanziell diese Arbeit von Hand zu durchzuführen, selbst mit einer relativ großen Redaktion. Dagegen waren Computer inzwischen kleiner, leistungsstärker, benutzerfreundlicher und preiswerter geworden als in den vorangegangenen Jahrzehnten und konnten nun als Hilfsmittel in Betracht gezogen werden. Gleichzeitig bot ein Computer auch die Möglichkeit, den Text selber auf neue Arten zu benutzen; er konnte zum Beispiel als Ganzes durchsucht werden. Somit wurde der Inhalt des OED von nun an nicht mehr nur als Text, sondern auch als Datenbank betrachtet. Bald zeigte sich auch, dass Textelemente, die vorher markiert worden waren, gezielt aufgelistet und mit automatischen Querverweisen (Hyperlinks) verbunden werden konnten. Das New OED Project bestand aus einer Gruppe von Lexikographen und einer Gruppe von (hausinternen und externen) Informatikern, die im Laufe der folgenden Jahre gemeinsam ein System ausarbeiteten, mit dem Teile des Wörterbuchtexts klarer als bisher unterschieden und nach möglichst vielen Kriterien durchsucht werden konnten, sowohl zunächst von der Redaktion als auch später vom Benutzer. Unter der Leitung von Edmund Weiner, der zuvor ein Mitglied der Supplement-Redaktion gewesen war, ließ sich diese Projektgruppe in ihren Visionen auch nicht von den Grenzen der existierenden Technologie einschränken. Zunächst war eine Onlinepublikation geplant, aber es war auch schon früh ein optischer Datenträger als Alternative im Gespräch (nur wenige Jahre nach der Erfindung der CD; Weiner 1985c: 250), und es wurde sogar spekuliert, dass eines Tages der gesamte Text auf einem einzelnen Chip zur Verfügung stehen könnte (Weiner 1985a: 12). Auch die Möglichkeit, eine Datenbank durch externe „Satellitenmodule“ zu erweitern, wurde bereits erkannt; vorgeschlagen wurde zum Beispiel, andere Wörterbücher zu verknüpfen und den Historical Thesaurus of English einzugliedern (Weiner 1985a: 11). Der Historical Thesaurus ist eine nach semantischen Kategorien geordnete historische Wortliste, die auf dem Text des OED basiert und seit 1965 an der Universität Glasgow in Arbeit war (Kay et al. 2009: xiv–xvi). Zusätzlich war zu diesem Zeitpunkt bereits eine Neubearbeitung des existierenden Textes geplant, sodass die Kon-

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struktion der Datenbank auch zukünftige (und zum Teil noch nicht fertig geplante) Entwicklungen des Textes berücksichtigen musste. Ein Wörterbuch ist in seiner Grundstruktur im Prinzip schon eine Art Datenbank, und daher besonders gut geeignet, in eine elektronische Datenbank umgewandelt zu werden. Es besteht aus einer Reihe von Einheiten (den Einträgen), die selber wieder auf logische Weise in eine Reihe weiterer, definierter Einheiten eingeteilt sind, etwa Etymologie und Bedeutungen – innerhalb der Bedeutungen stehen dann Definition und die Belege, die wieder in Belegtext und bibliographische Angabe zerfallen, usw. Die meisten dieser Elemente sind schon in Murrays ursprünglichem Layout erkannt und zum Teil so klar voneinander unterschieden, dass sie mit einfachen Markierungen direkt computerlesbar gemacht werden konnten. Die typographische Struktur dieses Layouts spiegelt natürlich nicht die gesamte Komplexität des Konzeptes ein Redakteur kann sie aber relativ leicht interpretieren und die tiefere Logik durch Textmarkierungen veranschaulichen. Zusätzlich verbinden schon in der Druckversion Querverweise zusammengehörige Informationen in verschiedenen Teilen des Textes. Für die Digitalisierung des gedruckten Textes wurden verschiedene Möglichkeiten in Betracht gezogen. Schließlich wurde entschieden, OED1 und seine Ergänzungsbände nicht zu scannen, sondern über einen Zeitraum von 18 Monaten von englischen Muttersprachlern einer externen Spezialfirma von Hand eintippen zu lassen; so konnte der komplexe Text mit Textverständnis, und damit so fehlerfrei wie möglich, konvertiert werden. Verschiedene Textelemente konnten so auch schon bei der Eingabe in einfacher Form mit Markup-Tags markiert werden, vor allem, aber von Anfang an nicht ausschließlich, auf typographischer Basis. Zum Beispiel war innerhalb des bibliographischen Teils eines Belegs von vornherein klar, dass Kapitälchen den Autor und Kursivschrift den Titel bezeichneten, und so konnten diese Element schon bei der Eingabe als „Autor“ und „Titel“ markiert werden (nicht nur als „Kapitälchen“ oder „kursiv“). In schwierigeren Bereichen blieb das Markup rein typographisch und konnte von der Redaktion dann später genauer definiert werden, zum Teil automatisiert und zum Teil von Hand. Der so entstandene Text konnte also zu einer voll funktionsfähigen elektronischen Datenbank ausgebaut werden, war aber gleichzeitig schon direkt dazu geeignet, eine Druckversion elektronisch zu setzen (Weiner 1985a: 6–8, 1985b: 67–68). Dieser Text wurde zunächst nach einem intern entwickelten Markup-System strukturiert und zu einem echten Hypertext gemacht; später wurde dieser wiederum in die Konventionen der Standardized Generalized Markup Language (SGML) übersetzt, die sich inzwischen als marktführend erwiesen hatte (Weiner 1985b: 69; Elliott 2000). SGML ist ein flexibles Markup-System, das dem Nutzer

258 | Katrin Thier erlaubt, eigene Tags, Hierarchien und Kodierungen für Sonderzeichen (entity references) zu entwickeln und zu definieren, ohne dass Zeichen außerhalb der universellen ASCII-Zeichengruppe nötig sind. Die so markierten Texte können sowohl von einem Menschen gelesen als auch von einer Maschine interpretiert werden. Ein getrenntes Stylesheet kann die Information dann in eine einfachere typographische Darstellung auf dem Bildschirm (und schließlich im Druck) übersetzen, ohne dabei die zugrundeliegende Information zu verlieren. Der existierende Wörterbuchtext, der auf diese Weise elektronisch aufgearbeitet wurde, war für die Redaktion jederzeit abrufbar und bildete die Grundlage für die Weiterentwicklung des Projekts. Schon 1987 wurde der elektronische Volltext des OED1 (also noch ohne das zweite Supplement) auf CD-ROM auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, in derselben, noch rein textbasierten Form, in der er auch von der Redaktion genutzt wurde. Zur gleichen Zeit wurde auch wieder neues Vokabular bearbeitet. Als der größte Teil der Redaktionsarbeit für das zweite Supplement beendet war (und noch vor der Veröffentlichung des letzten Bandes), war 1984 eine New Words Group gegründet worden, geleitet von John Simpson, einem weiteren Mitglied der Supplement-Redaktion (Simpson 2013: 162–163). Die New Words Group war unabhängig vom New OED Project entstanden, aber beide wurden bald verschmolzen und arbeiteten mit denselben technischen Werkzeugen, besonders mit der Redaktionssoftware, die für diesen Zweck speziell entwickelt worden war. Das Interface stellte den Text zusammen mit seinen Markup-Tags dar, wobei die Hierarchien durch Einrückungen übersichtlich gemacht wurden und durch Farbkodierung verschiedene Textelemente optisch voneinander und von den Tags unterschieden wurden. So blieb der maschinenlesbare Text auch für den menschlichen Redakteur zugänglich. Trotz der vielen Überlegungen, die bereits zu den weiterführenden Möglichkeiten einer elektronischen Publikationsweise angestellt worden waren, war der neue elektronische Text zunächst die Basis für eine weitere gedruckte Ausgabe, die 1989 unter dem Titel Oxford English Dictionary, Second Edition (OED2) in 20 Bänden erschien (gemeinsam herausgegeben von Edmund Weiner und John Simpson). Hierfür wurde Murrays Layout im Prinzip beibehalten, auch wenn einige Änderungen vorgenommen worden waren. Zum Beispiel musste der Stil des OED1 mit dem des zweiten Supplement in Einklang gebracht werden, etwa bei der Groß- und Kleinschreibung der Stichwörter und bei den Sonderzeichen in Etymologien. Im Großen und Ganzen wurde jedoch relativ wenig am Text geändert. Das Hauptziel dieser Auflage war schließlich die Integration der existierenden Bände; die Neubearbeitung war ja bereits als nächster Schritt in Planung. Eine kleine Zahl Korrekturen wurde dennoch vorgenommen; so wurden z. B. einige besonders anstößige Ausdrücke, wie etwa das Kolonialwort

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savage ‚Wilder‘ (für einen Menschen), aus den Definitionen entfernt (Simpson 2013: 165–166). Zusätzlich bestand jetzt die Möglichkeit, eine kleine Anzahl neuer Wörter aufzunehmen, die die New Words Group ausgesucht und bearbeitet hatte. Unter den 5000 Neuzugängen war auch das oben erwähnte Adjektiv Anguillan. Als Nächstes wurde 1992 der gesamte Text des OED2 auf einer einzigen CDROM veröffentlicht, um die elektronische Datenbank auch dem Leser zugänglich zu machen, was ja schon Mitte der 80er-Jahre angestrebt worden war. Die Struktur und Präsentation des Textes wurden dabei weiterhin beibehalten: Auch wenn der Text nicht mehr in den beschränkten Raum von drei Textspalten pro Seite gezwängt werden musste und Navigationshilfen hinzugefügt wurden, ist Murrays Layout immer noch klar erkennbar.

4 Das World Wide Web und OED3 Die inhaltliche Überarbeitung des OED begann direkt nach der Publikation des OED2 unter der Leitung von John Simpson, der schon für das OED2 mitverantwortlich gewesen war. Die neuen Technologien, die sich seit Mitte der 80erJahre stark ausgebreitet hatten, wurden auch für die Redaktionsarbeit immer relevanter. Nach wie vor wurden bewährte Forschungsmittel benutzt – Zettel, Briefe und Bücher –, aber inzwischen waren auch einige Textdatenbanken auf dem Markt, die nach Belegen durchsucht werden konnten (Weiner 1985c: 244). Eine weitere wichtige Neuerung war die elektronische Kommunikation über das Internet, das sich als internationales Computernetzwerk seit den 60er-Jahren entwickelt hatte und zunehmend zu einem Medium akademischen Austausches wurde. Es erlaubte vor allem elektronische Nachrichtenübermittlung und (mit gewissen Einschränkungen) den Austausch von Daten zwischen Individuen. Die Kommunikation mit Spezialisten, die für die Redaktionsarbeit weiterhin wichtig war (und ist), wurde damit schneller und leichter, selbst wenn sich der betreffende Korrespondent in Amerika, Hongkong, Australien oder Südafrika aufhielt. Auf ähnliche Weise konnten (und können) Redakteure vom Büro aus mit den Mitarbeitern kommunizieren, die Materialien in größeren Bibliotheken konsultieren, sowohl innerhalb von Oxford als auch in London, New York und anderswo. Zusätzlich wurde die Bearbeitung der Bücher aus den Leseprogrammen durch den Gebrauch von Computern einfacher. Anstatt Belegzettel mit vielfach wiederholten bibliographischen Angaben schreiben zu müssen, können Mitarbeiter die gelesenen Texte mit Textmarker markieren und bei der Redaktion einreichen; dort werden die Belege direkt in eine Sektion der Wörter-

260 | Katrin Thier buchdatenbank eingetippt und die Belege an die richtige Bibliographie gekoppelt. Zwischen 1993 und 1997 wurden unter dem Titel Additions to the Oxford English Dictionary drei kleine Bände mit neuem Vokabular veröffentlicht, jeweils mit etwa 3000 Einträgen von A bis Z, während im Hintergrund eine grundlegendere Neubearbeitung des existierenden Texts vorbereitet wurde. Um die neue Redaktion nicht von vorneherein mit denselben Problemen, wie Murray sie hatte, zu konfrontieren, wurde entschieden, dieses Mal in der Mitte des Alphabets anzufangen, nachdem die Redaktion des NED ihre anfänglichen Probleme bereits gelöst hatte, und die Arbeit begann beim Buchstaben M (Simpson 2000). Die Grundprinzipien waren die gleichen, nach denen schon die Redaktionen des NED und der verschiedenen späteren Ergänzungen gearbeitet hatten. Das heißt, dass Definitionen und Etymologien systematisch nach dem neuesten Stand der Forschung aufgearbeitet, alle Erstbelege mindestens überprüft und nach Möglichkeit mit früheren Beispielen ergänzt oder durch sie ersetzt werden. Zusätzlich kann nach diesen alten Prinzipien auch neues Vokabular hinzugefügt werden. Wichtig ist auch, dass alle Einträge und Bedeutungen, die einmal aufgenommen worden sind, immer Teil des Wörterbuchs bleiben. Im Rahmen der Grundprinzipien konnten auch verschiedene Arbeitsweisen verbessert und redaktionelle Regeln verfeinert werden (zu diesen vgl. Durkin 2002, Simpson 2008). Eine solche Neuerung ist z. B. die Stellung des Altenglischen, das jetzt konsequent als erste Stufe der englische Sprache behandelt wird, sodass im Bereich der einzelnen Wortgeschichten der Zeitrahmen des neu bearbeiteten OED die gesamte Sprachgeschichte des Englischen umfasst und nicht auf die Zeit nach dem zwölften Jahrhundert beschränkt ist. (Aus praktischen Gründen werden allerdings weiterhin keine Wörter neu aufgenommen, die vor 1200 ausgestorben sind.) Gleichzeitig mit den Vorarbeiten zu dieser Neubearbeitung entwickelte sich im Laufe der 90er-Jahre das World Wide Web, das es (seit 1991) möglich machte, ungeachtet technischer Unterschiede zwischen einzelnen Geräten Daten zu verbreiten und mithilfe von HTML (Hypertext Markup Language; einer Tochter von SGML) über Hyperlinks Dokumente zu verbinden, egal ob sie auf derselben Maschine gespeichert waren oder nicht. Es war leicht, HTML-Dokumente zu schreiben und noch leichter sie zu lesen, und als 1993 auch eine graphische Oberfläche dazu kam, breitete sich das Web rasant aus. Bald standen große Mengen verschiedenster Texte zur Verfügung, nicht unbedingt in besonders komplexer Form, aber doch elektronisch erschließbar. Belege, die seit über hundert Jahren nur durch langsames, oft mühsames Lesen gedruckter Texte gefunden werden konnten, waren plötzlich einfach abrufbar und konnten in kürzester Zeit nach bestimmten Buchstabenfolgen durchsucht werden. Auch

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wenn bereits vorher einige elektronische Texte zur Verfügung gestanden hatten, war die Bedeutung dieser neuen Datenquellen nicht zu unterschätzen, und das World Wide Web wurde so sehr schnell zu einer wertvollen Ressource für die Redaktion. An diesem Punkt lag die Überlegung nahe, das neue Wörterbuch selbst in diesem Medium zu veröffentlichen. Schon Mitte der 80er-Jahre war über eine Online-Publikation einmal nachgedacht worden, damals war jedoch aus technischen Gründen eine CD-ROM für den Nutzer praktischer gewesen (Weiner 1985c: 250). In den 90er-Jahren lieferte das World Wide Web die technologische Grundlage, die eine Onlineversion sinnvoll machte. Das OED war bereits als Hypertext strukturiert und damit in hohem Maße mit der Grundstruktur des World Wide Web kompatibel; durch die CD-ROM stand auch schon ein Modell für die graphische Darstellung zur Verfügung. In seiner ganzen Komplexität konnte das Wörterbuch zwar nicht einfach von einem Browser gelesen werden, aber es war ohne große technische Probleme möglich, die SGML-Kodierung der Datenbank für die Publikation in eine browserlesbare Form zu bringen, auch wenn diese nicht unbedingt die volle Funktionalität der hausinternen Datenbank behielt. Es wurde sehr schnell angefangen mit dem neuen Medium zu experimentieren, und schon 1995 stand der Redaktion ein Prototyp für eine Onlineversion zur Verfügung, mit der sie den Text des OED2 auswerten konnte (Simpson 2013: 169). Das OED als Web-Ressource zu veröffentlichen, ist auch aus der Sicht des Nutzers attraktiv. Wenn auch die durchsuchbare CD-ROM erhebliche Vorteile gegenüber dem 20-bändigen Druckwerk bot, so war sie doch immer noch ein physischer Gegenstand, und auch wenn sie mehr Platz hatte als die Bücher, so hatte sie doch eine absolute und endliche Kapazität. Die CD-ROM wurde seit 1993 mehrmals mit verbesserter Software neu aufgelegt, aber wie bei einem Buch musste sich der Benutzer jedes Mal neu überlegen, ob er die existierende CD ersetzen und eine neue kaufen wollte. Eine Publikation im Internet macht den Text von solchen Erwägungen unabhängiger. die Ein weiterer wichtiger Vorteil der Online-Publikation ist der größere und nicht absolut festgelegte Speicherplatz. Auch wenn selbst ein Internetserver letztlich nicht unbegrenzt groß ist, so ist es doch möglich, die Größe zu ändern und, je nach finanziellen und technischen Gegebenheiten, dem jeweiligen Bedarf anzupassen. Damit wurde eine wichtige Einschränkung des gedruckten Textes beseitigt, und verschiedene Konventionen, die lediglich der Platzersparnis dienten, konnten teilweise oder ganz aufgehoben werden. Zum Beispiel wurden schon zu einem frühen Zeitpunkt die Namen fremder Sprachen in den Etymologien nicht mehr abgekürzt, da manche Abkürzungen für den Leser nicht unbedingt eindeutig waren, selbst wenn sie von der Redaktion konse-

262 | Katrin Thier quent benutzt worden waren. Die abgekürzten Namen im bestehenden Text wurden rückwirkend zur vollen Form erweitert, größtenteils automatisch, aber mit Vorbereitung und anschließender Kontrolle durch die Redaktion. Ähnlich wurden mit der Zeit auch andere, bekanntere Abkürzungen behandelt. In Etymologien wurde z. B. vollautomatisch cf. mit compare ersetzt. Allerdings war immer noch einige Redaktionsarbeit nötig, z. B. um zu entscheiden, wann freq. für frequently stand und wann für frequentative. Nachdem das OED2 und dann die CD-ROM jeweils als Gesamtwerk auf einmal erschienen waren, machte es die Internetpublikation auch wieder sinnvoll, wieder auf das Konzept von Lieferungen zurückzugreifen. Besonders wichtig ist dabei, dass diese Lieferungen jetzt (anders als in Zeiten des NED) nicht mehr gedruckt werden, der Inhalt also auch nie endgültig feststeht, sondern jederzeit korrigiert und ergänzt werden kann. Das ermöglicht auch wieder ein Subskriptionsmodell, mit dem Abonnenten zum vollständigen Text des gedruckten Werks und zusätzlich regelmäßig zu neuen Lieferungen Zugang bekommen, sodass zu jedem Zeitpunkt ein vollständiges, wenn auch noch nicht vollständig überarbeitetes Wörterbuch zur Verfügung steht. Auf diese Weise kann das Projekt zur eigenen Finanzierung beitragen. Wie schon beim NED schließt eine solche schrittweise Publikation nicht aus, dass das Werk einmal vollendet wird. Es kann dann auch wieder als Gesamtwerk gedruckt werden, aber es ist nicht mehr nötig, vor diesem Zeitpunkt irgendeinen Bestandteil unveränderlich zu Papier zu bringen. Unter dem Titel Oxford English Dictionary Online (OED3) werden so seit März 2000 vierteljährlich Teile des überarbeiteten Textes veröffentlicht, zusammen mit einer Auswahl neuen Vokabulars. Die Redaktion arbeitet jeweils systematisch auf die nächste derartige Lieferung zu. Wenn jedoch neue Belege oder neue etymologische Erkenntnisse für bereits bearbeitetes Material gefunden werden oder sich sogar neue Bedeutungen entwickeln, kann jederzeit in den publizierten Text eingegriffen werden; solche Änderungen erscheinen jeweils zusammen mit der nächsten Lieferung. Der Text, der auf diese Weise aktuell gehalten wird, kann so über einen langen Zeitraum überarbeitet werden, ohne die Gefahr, dass Teile veralten; und falls nach Abschluss der Überarbeitung eine Druckversion erstellt wird, wird diese genauer als jede Version zuvor in allen Teilen des Wörterbuchs den Stand des Wissens zu einem bestimmten Zeitpunkt wiedergeben. Wenn schon Mitte der 90er-Jahre die Möglichkeiten des Webs für die Redaktionsarbeit deutlich waren, so waren das doch nur die Anfänge; mit den Jahren wurden immer mehr Texte verfügbar, zum Teil auf komplexere Weise durchsuchbar und zum Teil mit der Möglichkeit, digitale Reproduktionen der gedruckten Seiten zu sehen, sodass die besten (wenn auch bei weitem nicht alle)

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Web-Ressourcen unmittelbar zitierbar wurden, genau wie Bücher in einer Bibliothek. So stellt z. B. Early English Books Online (EEBO) seit 2001 eine umfassende Sammlung vor 1700 in Großbritannien gedruckter, englischsprachiger Bücher zur Verfügung; alle sind als Abbildungen (Scans) einsehbar, und ein hoher Anteil ist zusätzlich in einer sehr genauen Textversion durchsuchbar, die wiederum mithilfe eines einfachen Hyperlinks mit dem relevanten Seitenbild verglichen und überprüft werden kann. Auch wenn nach wie vor auch Belegzettel konsultiert werden, ist EEBO inzwischen die wichtigste Quelle für frühneuenglische Textbelege. Auch das Middle English Dictionary (MED), das ja ursprünglich ein Tochterprojekt des OED war, wurde nach Fertigstellung der gedruckten Version (2001) im World Wide Web zugänglich gemacht und wird von der University of Michigan weiterhin unterhalten und korrigiert.

5 The story continues Die Neubearbeitung des OED und die Vorbereitung der Online-Version waren zunächst nach wie vor auf der Basis des SGML-Textes durchgeführt worden. Das Redaktionssystem war ebenfalls eine weiter entwickelte Version der ursprünglichen Software (Simpson 2013: 169). Es bestand aus einem SGML-Editor, in dem der Text einschließlich seiner Tags angezeigt wurde, optisch durch Farbkodierungen und klar abgesetzte Hierarchien unterschieden. Dieser Text war klar genug, um mit ihm zu arbeiten, und bot auch die Möglichkeit, mithilfe von besonderen Tags Kommentare zu hinterlassen, die im formatierten Text nicht sichtbar waren, aber von der internen Suchmaschine erkannt wurden. Sämtliche Teile des Textes konnten von Hand bearbeitet werden, sowohl der Inhalt als auch das Markup; Querverweise wurden von Hand eingegeben und Sonderzeichen mit entity references kodiert. Zusätzlich konnte jederzeit eine formatierte Version des Textes generiert werden, eine übersichtlichere Ansicht, die Murrays Layout sehr ähnlich war, aber nicht direkt bearbeitet werden konnte. In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts wurden dieses System und die zugehörige Redaktionssoftware deutlich von den Möglichkeiten der Technologie überholt. Daher wurde nun zum ersten Mal seit den 80er-Jahren ein grundlegend neues Redaktionssystem entwickelt. Dazu wurde der gesamte Text in XML umgesetzt, eine Tochter von SGML, die inzwischen begonnen hatte, sich in verschiedenen Bereichen der Textdarstellung durchzusetzen. Wie schon in den 80er-Jahren wurden das Redaktionssystem und die zugrundeliegende Textkodierung von Informatikern einer externen Firma in enger Zusammenarbeit mit den Lexikographen der OED-Redaktion durchgeführt, und wie damals wurde

264 | Katrin Thier auch hier wieder versucht, so viele Möglichkeiten wie möglich für die Zukunft offenzuhalten. Die zugrundeliegenden Unterteilungen jedes Eintrags sind im Großen und Ganzen dieselben wie zuvor, und in einigen Fällen gehen Tags noch auf die allererste Version des elektronischen Texts zurück. Die Möglichkeiten von XML, zusammen mit den gesammelten Erfahrungen von zwei Jahrzehnten Redaktionsarbeit, haben aber dazu geführt, dass das Markup stark verfeinert und neue Kategorien hinzugefügt wurden (vgl. Elliott & Williams 2006: 259). Wie früher ist auch jetzt die Redaktionssoftware so konzipiert, dass der Text zusammen mit den Tags sichtbar ist. Die Textelemente sind wieder nach ihren Hierarchien angeordnet und farblich voneinander abgesetzt; zusätzlich können auch einige Teile der Hierarchie eingeklappt werden, was den Text noch übersichtlicher macht. Tags werden mit einem getrennten Modul generiert, das die Hierarchien prüft, und ein weiteres Modul generiert Querverweise, um Tippfehler zu vermeiden. Ein formatierter Paralleltext steht auch zur Verfügung und kann jetzt sogar bearbeitet werden; die Redaktionsarbeit findet aber nach wie vor hauptsächlich im XML-Volltext statt. Die Entwicklung von Unicode hat es auch möglich gemacht, eine nahezu unbegrenzte Auswahl von Zeichen ohne Hilfe von entity references direkt darzustellen. Das erleichtert die Darstellung des Griechischen und die Arbeit mit Diakritika und mit Sonderzeichen in wissenschaftlichen Transkriptionssystemen in Etymologien; zum Gebrauch anderer nicht-lateinischer Schriftsysteme ist das OED allerdings nicht zurückgekehrt. Das neue System hat auch die Kommunikationsmöglichkeiten weiter verbessert, und Fragen an externe Spezialisten oder Kollegen in Bibliotheken können jetzt direkt im Redaktionssystem gestellt werden und permanent mit dem jeweiligen Beleg, Eintrag oder Teil eines Eintrags verknüpft werden (Elliott & Williams 2006: 259). Redaktionelle Kommentare (z. B. Information zu Quellen und Hintergrund) werden auf ähnliche Weise innerhalb des Eintrags gespeichert, sodass mit der Zeit immer weniger neue Zettel geschrieben werden. In dieser neuen Form sind die Kommentare jetzt elektronisch durchsuchbar und erlauben den verschiedenen Teilen der Redaktion, einander Nachrichten zu hinterlassen. Direkt parallel zum Sortiersystem der Zettel, das auf Murray zurückgeht und noch heute in Gebrauch ist, kann der Status dieser Kommentare als forward („noch offen“) oder superfluous („erledigt“) definiert werden. Auch die Mitarbeiter der Leseprogramme können ihre Belege jetzt in einem elektronischen Format einreichen, das direkt in die Datenbank geladen werden kann. Die wichtigste Neuerung ist jedoch wahrscheinlich die bibliographische Datenbank, die nicht mehr ein Teil des Wörterbuch-Hypertexts ist, sondern eine selbst in XML kodierte relationale Datenbank, die sich mit dem Hypertext nur noch überschneidet. Damit können bibliographische Daten standardisiert wer-

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den und zentral mit Hintergrundinformation (zurzeit vor allem für den Redaktionsgebrauch) versehen werden (Elliott & Williams 2006: 261). Die Übersetzung der Datenbank in XML und die Änderungen, die dabei vorgenommen wurden, erlaubten auch, neue Suchfunktionen und Darstellungsformen an die Leser weiterzugeben. Zu diesem Zweck wurde das Oxford English Dictionary Online Ende 2010 neugestaltet und mit erweiterten Funktionen neu gestartet (vgl. Brewer 2012). In dieser Version ist jetzt der OED3-Text völlig vom OED2 getrennt, das zwar weiter zugänglich bleibt, aber vor allem als Vergleichstext. Zunächst waren jegliche redaktionellen Neuerungen (etwa die erweiterten Abkürzungen) online nur in neuem oder neubearbeitetem Text angezeigt worden, und auch Korrekturen konnten nur in diesen Teilen des Textes vorgenommen werden. Der Rest wurde unverändert vom OED2 übernommen. OED Online bestand damit also aus zwei getrennten Texten, zum einen einer elektronischen Fassung von OED2 für alle Einträge, zum anderen des überarbeiteten OED3, soweit es fertig war. Zum Teil war dabei jedoch für den gelegentlichen Nutzer nicht immer sofort deutlich, ob ein Eintrag überarbeitet war oder nicht, und zusätzlich war nicht immer klar, dass der Text des OED zum großen Teil nicht von 1989 stammte, sondern oft erheblich älter war. In der neuen Version wird in jedem Eintrag deutlich angezeigt, in welchem Jahr er zuerst erschienen ist, zusätzlich steht auch etwas Information zur Publikationsgeschichte zur Verfügung und ein Link zur OED2-Version. Unbearbeiteter OED3-Text basiert zwar nach wie vor auf OED2 und ist auch in vielen Fällen noch so gut wie identisch, aber die erweiterten Abkürzungen (und Ähnliches) werden jetzt überall angezeigt, und inhaltliche Eingriffe sind auch möglich. Solche Eingriffe sind reglementiert und begrenzt, sodass die Redaktion sich weiterhin auf die planmäßige Arbeit konzentrieren kann, aber sie bieten z. B. die Möglichkeit, grobe Anachronismen aus dem alten Text zu entfernen, die zum Teil noch auf das 19. Jahrhundert zurückgingen. In der Vorbereitung auf diese Publikation des Volltextes sind zum Beispiel eine Reihe politischer Bezeichnungen (wenn nicht historisch gebraucht) in Etymologien und Definitionen ersetzt worden, wie etwa Prussia oder (aus der Zeit des zweiten Supplement) Soviet Union. So sprach z. B. die Etymologie von SELTZER n. ‚Selters-Wasser‘ von „… Selters, the name of a village in Hesse-Nassau, Prussia“, jetzt heißt es „… Selters, the name of a village in Hesse, Germany.“ Wichtiger noch war die Möglichkeit, Begriffe aus dem Definitionstext zu entfernen, die heute als abwertend empfunden werden, etwa Negro oder auch native ‚Einheimischer‘ im kolonialen Sinn von ‚Eingeborener‘. Anders als bei den Abkürzungen ist so etwas größtenteils Redaktionsarbeit. Die entsprechenden Fälle können zwar von einer elektronischen Suchmaschine gefunden werden, in den meisten Fällen kann jedoch nicht ein altes Wort durch ein

266 | Katrin Thier neues ersetzt werden, sondern die Begriffe müssen in den jeweiligen Zusammenhang eingepasst werden. So wurde in der Definition von AX-STONE „some of the natives of South America, Polynesia, and other parts“ zu „indigenous peoples of Australasia, South America, Polynesia, etc.“, und die Etymologie von KOALA änderte sich von „Native name“ zu „< an Australian Aboriginal language“; weitere Details können in beiden Fällen bis zur Bearbeitung des Eintrags warten. Die Präsentation des Textes selber folgt weiterhin der Grundstruktur, die von Murray gelegt wurde, mit denselben Elementen und vergleichbarer typographischer Darstellung, jedoch weit übersichtlicher durch mehr Leerraum, als im Druck jemals sinnvoll wäre. Zusätzlich kann der Leser einzelne Elemente (z. B. Etymologien oder Belege) ein- und ausklappen, sodass er sich auf den Aspekt eines Eintrags konzentrieren kann, für den er sich gerade interessiert. Darüber hinaus ist dieser Kerntext mit mehr Navigationshilfen und zusätzlichen Angeboten umgeben als vorher, denn mit der neuen Version konnten inzwischen auch einige Ideen aus der Planung in den 80er-Jahren verwirklicht werden. So wurden z. B. einige externe Wörterbücher mit bestimmten Einträgen verlinkt, im Moment das hauseigene Oxford Dictionaries Online, das einen einfacheren Zugang zur Gegenwartssprache bietet, das Middle English Dictionary und das (noch unvollendete) Dictionary of Old English der Universität Toronto (DOE). Von einigen bibliographischen Angaben führen zusätzlich auch Links zur Onlineversion des Oxford Dictionary of National Biography (ODNB). Der Historical Thesaurus, der ja von Anfang an als mögliches „Satellitenmodul“ erwogen worden war, war 2009 unter dem vollen Titel A Historical Thesaurus of the Oxford English Dictionary von Oxford University Press in zwei Bänden gedruckt worden (Kay et al. 2009). Eine elektronische Version ist jetzt Teil der Webseite des OED und kann als Navigationswerkzeug benutzt werden, entweder von einer Startseite aus oder jeweils von den einzelnen OED-Bedeutungen aus, mithilfe von Links, die direkt in die Thesaurusnavigation und zu semantisch verwandten OED-Bedeutungen führen. Solange OED3 noch progressiv den Text von OED2 ersetzte, war es sinnvoll, das Wörterbuch in traditioneller Form strikt alphabetisch zu überarbeiten, sodass der neue Text ein langsam wachsender, zusammenhängender Block wurde. Die neue Anordnung von OED2 und OED3 als völlig getrennte Versionen des Gesamtwörterbuchs machte dies weniger wichtig, und so wurde es möglich, anderen Teilen des Alphabets Vorzug zu geben (vgl. Simpson 2013: 170–171). Zunächst wurden ausgewählte Bereiche bearbeitet, während gleichzeitig die einst bei M begonnene alphabetische Neubearbeitung fortgeführt wurde. Seit der Fertigstellung von R (2001) wird überhaupt nicht mehr in großen alphabetischen Blöcken gearbeitet, sondern in kleinen alphabetischen Sequenzen um

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ausgewählte Begriffe herum. Die Kriterien für die Auswahl dieser Begriffe sind verschieden, z. B. wissenschaftliche Ausdrücke, deren Einträge deutlich überholt waren (wie computer und genetic), Wörter, die oft nachgeschlagen werden (etwa einige bekannte Schimpfwörter) und Teile des Kernvokabulars der englischen Sprache (z. B. Farbwörter und Personalpronomina).

6 Zum Schluss In den anderthalb Jahrhunderten seit die zugrunde liegenden Ideen formuliert wurden, hat das Oxford English Dictionary viele, zum Teil dramatische Veränderungen durchgemacht und hat versuchen müssen, sowohl mit der Entwicklung der englischen Sprache mitzuhalten als auch grundlegende technologische Neuerungen zu bewältigen und für sich zu nutzen. Es ist dabei immer in seinen sorgfältig erarbeiteten Grundprinzipien verankert geblieben, die auch durch eine Kontinuität in der Redaktionsleitung ständig weitergegeben wurden. Die technologischen Neuerungen, besonders die Möglichkeiten elektronischer Datenverarbeitung seit dem späten 20. Jahrhundert, sind dabei Werkzeuge, die dafür genutzt werden können, die Grundprinzipien des Wörterbuchs zum Nutzen des Lesers umzusetzen und etablierte Arbeitsweisen nicht zu ersetzen, sondern zu erleichtern. Das OED ist das Produkt einer Vision, und bei jedem Neuanfang in seiner Geschichte konnte diese Vision erweitert werden. Die heutige Technik bietet nie zuvor gesehene Möglichkeiten, frühere Visionen zu erfüllen und neue zu schaffen, ohne je den Rahmen der ursprünglichen Prinzipien zu verlassen. John Simpson ging im Herbst 2013 in Ruhestand; seitdem wird das Projekt von Michael Proffitt geleitet, der ursprünglich ein Mitglied der New Words Group gewesen war. Die Kontinuität der Vision, die bis in die Zeit vor James Murray zurückreicht, ist so für die Zukunft gewahrt.

Danksagung: Ich danke Philip Durkin, Peter Gilliver, Inge Milfull und Edmund Weiner für Informationen zur Geschichte des Projekts und für Kommentare zu meinem Manuskript. Jegliche übrig gebliebenen Fehler sind natürlich meine eigenen.

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Andreas Deutsch

Zur Symbiose zwischen „Zettelkasten“ und „Datenbank“ bei der Artikelerstellung im Deutschen Rechtswörterbuch Abstract: Als Großwörterbuch zur historischen deutschen (und westgermanischen) Rechtssprache wird das „Deutsche Rechtswörterbuch“ (DRW) auf der Basis vorausgewählter mitteleuropäischer Quellen aus rund 1400 Jahren erstellt. Dieses Quellenkorpus mit rund 8500 Siglen wird zum einen über rund 2,5 Millionen sog. „Belegzettel“ mit in Handarbeit ausgewählten Belegnachweisen erschlossen; sie stammen zumeist aus der Anfangszeit des Wörterbuchprojekts. Bereits Mitte der 1980er-Jahre begann der allmähliche Aufbau eines „elektronischen Textarchivs“, das eine komplette Durchsuchung ausgewählter Quellentexte ermöglicht. Inzwischen enthält das elektronische Archiv rund 30 Millionen Wortformen. Dies ermöglicht eine effiziente Suche selbst nach seltenen Wörtern. Auch ist die Belegaufnahme aus den elektronisch verfügbaren Texten deutlich einfacher. Insbesondere bei Wörtern mit zahlreichen Schreibformen und bei sehr häufig belegten Wörtern hat demgegenüber die Belegaufnahme auf Basis der Belegzettel mit ihren intelligent vorausgewählten Fundstellen deutliche Vorteile. Insgesamt stellen „Zettelkasten“ und „Datenbank“ mithin gleichwertige, einander ergänzende Instrumente für die Erstellung von DRWArtikeln dar. Keywords: Belegaufnahme, Belegzettel, Deutsches Rechtswörterbuch, Elektronisches Textarchiv, Semantik, Wörterbuchartikel, Zettelkasten

|| Dr. Andreas Deutsch: Deutsches Rechtswörterbuch, Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Karlstraße 4, 69117 Heidelberg, E-Mail: [email protected]

1 Vorbemerkung Wie wird ein Wörterbuch am besten erstellt, mittels „Belegzetteln“ oder einer Sammlung elektronischer Quellentexte? Die Forschungsstelle des „Deutschen Rechtswörterbuchs“ (DRW) an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hat Erfahrung mit beidem. Denn hier wird die Bedeutung historischer Rechtstermini im Kern auf zwei Wegen eruiert: zum einen auf der Basis von „Belegzet-

272 | Andreas Deutsch teln“, also handschriftlich gefertigten und in Archivkästen sortierten Wortnachweisen, zum anderen mithilfe einer stetig wachsenden Datenbank mit elektronischen Volltexten ausgewählter, zum Korpus gehöriger Quellen.

2 Die Artikelerstellung im Deutschen Rechtswörterbuch Was ist ein „Siebenwette“? Was ein „Sippzahlbrief“? Bedeuteten Wörter wie „sieden“, „singen“ oder „sinnlich“ früher etwas anderes? Mit diesen und ähnlichen Fragen zur historischen Semantik befasst sich die Forschungsstelle „Deutsches Rechtswörterbuch“. Denn anders als der Name vermuten lässt, behandelt das DRW nicht etwa die Terminologie des aktuellen Rechts, sondern die ältere deutsche (und westgermanische) Rechtssprache – vom Beginn der schriftlichen Aufzeichnung bis ins 19. Jahrhundert hinein. Schon aufgrund der großen zeitlichen Spannbreite ist „Rechtssprache“ dabei weit gefasst; es geht nicht nur um die Fachsprache im engeren Sinne, sondern um den Allgemeinwortschatz in seinen rechtlichen Bezügen.1 Es finden sich folglich im DRW nicht nur Artikel zu Wörtern wie „siegeln“, „Sielrichter“ und „Sistierung“, die bereits in ihrer Kernbedeutung rechtlich sind, sondern auch zu Wörtern, deren rechtliche Relevanz sich – wie bei „sieben“, „siech“ oder „Silberblick“ – erst aus dem Kontext ergibt. Rund 1400 Jahre Rechts-, Sprach- und Kulturgeschichte werden so anhand von derzeit rund 95 000 Artikeln zu Wörtern aus den Buchstabenbereichen von A bis S greifbar. Zu den bislang zwölf stattlichen Bänden kommt jedes Jahr ein weiteres Doppelheft mit 320 Druckspalten und zirka 1000 neuen Artikeln hinzu. Über die Onlineversion (www.deutsches-rechtswoerterbuch.de) ist das DRW weltweit für jeden frei zugänglich. Die Ermittlung der Semantik historischer Rechtswörter stellt oft genug eine Herausforderung dar. Bisweilen scheinen Wörter noch heute geläufig, hatten aber bei genauerer Betrachtung in der Vergangenheit eine völlig andere Bedeutung. Oft genug wandelt sich die Semantik eines Wortes im Laufe der Geschichte mehrfach. Hinzukommen regionale Unterschiede, die nicht unterschätzt werden dürfen, stammen die Quellen des DRW doch aus unterschiedlichsten Teilen Europas – vom Baltikum bis Norditalien, von Siebenbürgen bis Westfriesland und Großbritannien (vgl. etwa Deutsch 2011, Balode 2010, Popkema 2010, Pavlovska 2009, Falkson & Lemberg 2009, Lill 2003). Bei der Artikelerstellung || 1 Zur Rechtssprache vgl. etwa Deutsch (2013b: 23-33); Schmid (2015: 214).

Zur Symbiose zwischen „Zettelkasten“ und „Datenbank“ | 273

gilt es daher zunächst, die einzelnen Wortbedeutungen (im jeweiligen rechtlichen Kontext) anhand des verfügbaren Belegmaterials herauszuarbeiten. Im fertigen Artikel spiegelt sich die semantische Bandbreite in der (je nach Komplexität des Wortes unterschiedlich intensiven) Untergliederung wider.2 Die einzelnen Bedeutungen werden im DRW häufig durch Synonyme erläutert, seltener – und zumeist nur ergänzend – durch be- oder umschreibende, also phrastische Erklärungen (vgl. Reichmann 2013). Letztere benötigen regelmäßig mehr Platz, sprengen daher schnell den für den jeweiligen Artikel eingeplanten Rahmen. Als großes Belegwörterbuch muss das DRW den – jeweils hinter den Bedeutungserklärungen folgenden – Belegzitaten hinreichend Raum lassen. Sie enthalten zusätzliche semantische Informationen. Stets abgebildet wird zudem das erste nachweisbare Vorkommen eines Wortes. Je nach Relevanz des Wortes und soweit es der Platz erlaubt, sollen die Belegzitate zudem alle Zeiten und Regionen, in denen das Wort nachweisbar ist, abdecken. Ferner sollten die Belege einen (je nach Größe des Artikels unterschiedlich ausführlichen) Überblick über die jeweils vorkommenden Schreibformen bieten. Grundlage der Wörterbucharbeit ist ein Korpus ausgewählter Quellentexte, das alle behandelten rechtshistorischen Epochen und Rechtsräume gleichermaßen abdeckt. Da das DRW in seiner Konzeption Jacob Grimms (1854: XIV) weiter Definition der deutschen Sprache folgt, wonach selbst „die friesische, niederländische, altsächsische und angelsächsische noch der deutschen sprache in engerm sinn zufallen“, berücksichtigt das DRW-Korpus alle Sprachen und Sprachstufen der gesamten westgermanischen Sprachfamilie. So werden etwa die – im Wesentlichen lateinisch verfassten – sogenannten germanischen Volksrechte (Leges Barbarorum, 5. Jh. bis ins 9. Jh.) wegen ihrer volkssprachlichen Einsprengsel ebenso miteinbezogen wie altenglische (zirka 600–1100 n. Chr.), althochdeutsche (600–1050), altsächsische (800–1200) und altfriesische Quellen (800–1500). Neben mittelhochdeutschen (1050–1350), mittelniederländischen (1200–1600) und mittelniederdeutschen (1200–1650) Texten gehören zudem frühneuhochdeutsche (1350–1650) und neuhochdeutsche Texte (ab 1650) zum Korpus (vgl. etwa Lemberg 2007; Falkson, Lemberg & Lill 2002). Das DRW-Korpus ist in rund 8500 Quellensiglen unterteilt. Vielfach bezieht sich eine solche Sigle auf einen einzelnen Rechtstext, so meint „Ssp.“ den Sachsenspiegel von 1224/35. „CCC.(Schöffer)“ bezeichnet die Constitutio Criminalis Carolina, also die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, in ihrer berühmten Erstausgabe. Oft beziehen sich die Siglen aber auch auf komplette Quellensammlungen; so steht „CorpAltdtOrUrk.“ für das Korpus der Altdeut|| 2 Zur Artikelstruktur im DRW: Lobenstein-Reichmann (2010).

274 | Andreas Deutsch schen Originalurkunden bis zum Jahr 1300, „EidgAbsch.“ für die Amtliche Sammlung der ältern Eidgenössischen Abschiede, „LivlUB.“ für das vielbändige Liv-, Esth- und Curländische Urkundenbuch. Nicht selten verbergen sich hinter einer Sigle sogar ganze Zeitschriften- oder Buchreihen, beispielsweise die seit 1872 erscheinenden Hansischen Geschichtsblätter (HansGBl.) oder die seit 1850 bestehende Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins (ZGO).

3 Zettelkasten versus Datenbank? Traditionell wird dieses umfängliche Korpus über ein in Karteikästen (sogenannten „Zettelkästen“) alphabetisch vorsortiertes handgeschriebenes Belegarchiv erschlossen. Es besteht aus rund 2,5 Millionen „Belegzetteln“, die vornehmlich in der Gründungsphase des DRW, ab zirka 1900, erstellt wurden. Hierfür wurden von rund 250 Freiwilligen die zum Korpus gehörigen Quellen nach interessanten Belegstellen durchforstet und nach einem vorgegebenen Schema exzerpiert.3 Manche Exzerptoren haben auf dem Belegzettel außer dem jeweils nachgewiesenen Wort den umgebenden Satz oder Absatz mitvermerkt, sodass ein kurzer Blick auf den Zettel genügt, um den Kontext zu erfassen. Zumeist sind auf dem Belegzettel aber nur das belegte Wort sowie die Quellensigle mit exakter Fundstelle nachgewiesen. Aus heutiger Sicht erscheint die Belegaufnahme aus dem Zettelkasten für viele „altmodisch“, „umständlich“ oder gar „museal“. Zweifellos hat sie auch ganz objektive Nachteile. Die in der Regel handschriftlich verfassten Belegzettel sind oft nur schwer zu entziffern. Die darauf verzeichneten Belege müssen zeitaufwendig anhand der in Büchern abgedruckten Originaltexte überprüft werden. Das Abschreiben der Belegstellen aus den Quellen birgt die Gefahr von Tippfehlern (Speer 2007: 266). Zudem erfassen die Exzerpte niemals alle Belege eines Wortes und erst recht nicht alle Wörter eines Quellentextes. Zu einigen seltener verwendeten Wörtern oder Wortbedeutungen finden sich daher nur wenige, bisweilen zu wenige Belege im Zettelkasten. Mit dem Aufbau eines „elektronischen Textarchivs“ mit ausgewählten Quellentexten wurde in der Forschungsstelle des DRW bereits Mitte der 1980er-Jahre begonnen. Heute umfasst die DRW-Quellentext-Datenbank rund 30 Millionen Wortformen und wird kontinuierlich weiter ausgebaut. Die Mehrzahl der enthaltenen Quellen wird auch über den Zettelkasten erschlossen. Soweit aus urheber-

|| 3 Zur Gründungsphase des DRW vgl. etwa Deutsch (2010a: 26–30); Lemberg & Speer (1997).

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rechtlichen Gründen zulässig und aufgrund der Textaufbereitung technisch ohne weiteres möglich, sind die Texte im Wesentlichen auch im Internet verfügbar – zum Teil im „DRW-Textarchiv“, das direkt über www.deutsches-rechtswoerter buch.de aufrufbar ist, zum Teil über www.drqedit.de. DRQEdit ist eine als DFGProjekt erstellte Onlineedition der wichtigsten zwischen 1450 und 1600 im Druck erschienenen deutschsprachigen Rechtstexte (hierzu: Bedenbender 2013). Diese internen wie externen elektronischen Recherchemöglichkeiten werden ergänzt durch die rund 5,4 Millionen Wortformen aus Belegen des DRW. Da das Wörterbuch komplett als digitaler Text vorliegt, ist es sowohl über die Onlineversion als auch über die bei der Artikelerstellung verwendete Datenbanksoftware FAUST vollständig durchsuchbar. Hierdurch ergeben sich vielfältige zusätzliche Treffer; sie können insbesondere zum Auffinden von im Wörterbuch bereits berücksichtigten Synonymen oder Phrasemen hilfreich sein. Die Vorteile der Belegaufnahme direkt aus der Datenbank liegen auf der Hand: Die Software ermöglicht eine Kopie der als Belegtexte vorausgewählten Textabschnitte direkt in die Belegdatenbank. Sigle und Fundstelle werden hierbei zumeist automatisch in die betreffenden Felder miteingetragen. Ein Abtippen der Belege erübrigt sich; das bringt eine gewisse Zeitersparnis und vermeidet Fehler. Anders als auf der Basis der Belegnachweise im Zettelkasten lassen sich über das elektronische Archiv theoretisch alle Belege zu einem Wort in einer Quelle aufsuchen. Dies erlaubt dem Artikelbearbeiter einen vollständigeren und damit potentiell auch objektiveren Blick auf die Quelle. Trotz seines im Vergleich zu anderen (weniger speziellen) Textdatenbanken geringen Umfangs bietet das DRW-Textarchiv sehr oft deutlich mehr Belege zu einem Wort als der Zettelkasten. Dies klingt vielversprechend: Will man ein klares Bild über die Entwicklung eines Wortes und seine semantische Ausdifferenzierung gewinnen, ist eine breite und damit fundierte Beleglage zweifellos unerlässlich.

4 Seltene Wörter: Im Zettelkasten zu wenige Treffer Vor allem bei Wörtern, die nur selten vorkommen, die daher im Zettelkasten nur mit sehr wenigen Belegzitaten nachgewiesen sind, kann die Datenbank eine sehr wichtige und nützliche Ergänzung sein. Dies gilt selbst bei eher schlichten, (jedenfalls aus rechtshistorischer Sicht) monosemen Wörtern. Zu „Sortenzettel“ beispielsweise weist der Belegkasten nur wenige Fundstellen nach, so immerhin den Erstbeleg von 1601:

276 | Andreas Deutsch zwey hundert gulden zu fünzehen [!] patzen an müntz vnnd valor, wie der derwegen ge4 fertigte sortenzettel außweist (1601 Hohenzollern/DRWArch.).

Eine präzise Worterklärung wurde erst durch Hinzuziehung weiterer Belegstellen, sei es aus dem Textarchiv, sei es aus dem bereits gedruckten Wörterbuch, möglich. „Sortenzettel“ ist ein Verzeichnis von (z. B. eingenommenen) Münzen unterschiedlicher Sorte, also Art und Güte. Selbst wenn der Zettelkasten die wichtigen Belegstellen zu einem Wort nachweist, kann es durchaus dienlich sein, von der betreffenden Quelle einen elektronischen Volltext zu haben, um alle weiteren Fundstellen des Wortes in der Quelle aufspüren zu können. Obgleich diese zusätzlichen Belegstellen oft nicht so aussagekräftig sind wie die vom Exzerptor ausgewählten, können sie dazu beitragen, die Wortverwendung und damit auch die Semantik besser fassbar zu machen. Ein gutes Beispiel hierfür sind einige aus heutiger Sicht nur schwer verständliche Fremdwörter, die zum Großteil selbst in großen Fremdwörterbüchern nicht gebucht sind: Wort Skussion

Bedeutung Konkurseröffnung, Konkursverfahren; Schuldenruf

Belegbeispiel „daß nach ergangner scussion oder schuldenruff nur diejenige schuldner nicht mehr molestirt werden mögind, welche unverschuldter dingen durch unglück etc. um das ihrige kommen“. (Leu,EidgR. IV 623, 1746)

Skossion

im Wechselrecht: Zahlungsempfang, Einlösung (eines Wechsels)

„die acceptation der girirten wechsel-briefe, wenn solche zur scossion gesandt werden“. (Siegel,CJCamb. I 321, 1716)

Skotion

wie

„daß, wann einer wechsel-brief auf sicht annihm, er gehalten seyn solle in wenigst 14 tagen darnach solche zur acceptation oder scotion zusenden“. (Leu,EidgR. IV 176, 1746)

Skotation

Grundstücksübereignung mittels rechtssymbolischen Akts, Schöte

„dieienige feyerlichkeit, da durch die uebergabe eines erdenkloses das eigenthum auf den andern gebracht wurde: … scotation“. (Wiesand 979, 1762)

Skortation

außerehelicher Beischlaf; häufig als Straftat geahndet

„wöllen etlich den concubinat … kein scortation oder hůrey lassen sein, sagen auch die recht, lassen den concubinat zů“. (Franck,Sprw. II 198r, 1541)

Skossion

|| 4 Die Belege werden hier wie im DRW wiedergegeben, wobei bei der Übertragung auf einzelne spezielle Sonderzeichen verzichtet wird. Die Siglen lassen sich mithilfe des Quellenverzeichnisses in http://www.deutsches-rechtswoerterbuch.de auflösen.

Zur Symbiose zwischen „Zettelkasten“ und „Datenbank“ | 277

Manch ein Wort, das gemäß Zettelkasten wie ein Hapaxlegomenon oder eine Zufallsbildung erscheint, lässt sich bei Zugrundelegung einer breiteren Materialbasis – über das elektronische Textarchiv – noch weitere Male nachweisen. So befand sich zum Wort „Sorgsamkeit“ nur ein einziger „Zettel“ im Kasten: ein Beleg von 1808 aus Feuerbachs „Peinlichem Recht“: die culpa ist um so strafbarer … je mehr der schuldige durch seine besonderen verhältnisse zur gehörigen sorgsamkeit verpflichtet war (Feuerbach,PeinlR.4 106, 1808).

In der (auch online verfügbaren) elektronischen Quellenedition DRQEdit fand sich ein zweiter Beleg zum betreffenden Wort – aus dem 1528 erstmals gedruckten Formularbuch von Alexander Hugen (dazu: Deutsch 2008): [in kriegsleüffen warnungen der stett:] fleißlich bittende, solichs andern … auch zuuerkünden, sich mit hůtte vnd ander sorgsamkeit dagegen wissen zurichten (Hugen 1528 Bl. 131v.).

Hiermit ließ sich ein Bedeutungsspektrum „Vorsicht, Vorsichtsmaßnahme, Vorsorge“ herausarbeiten. Wie im genannten Beispiel kommt es gar nicht selten vor, dass sich mithilfe der Datenbank deutlich ältere Zusatzbelege finden lassen. So stammt der einzige im Zettelkasten nachgewiesene Beleg zum Wort „Sohnstochter“ von 1762: vorbehalt zu gunsten der sohns-töchter, in ansehung ihres großvatters säßhaus, gewehr, kleider und kleinodien (BernStR. VII 2 S. 889, 1762).

Dieses Datum liegt deutlich nach der für die Erstellung von DRW-Wortartikeln vorgegebenen Zeitgrenze. Komposita dürfen grundsätzlich nur dann Berücksichtigung finden, wenn ein Erstbeleg vor 1700 nachweisbar ist (vgl. etwa Deutsch 2010b: 420). Wäre also nur der späte Beleg aus dem Zettelkasten vorhanden, müsste der Artikel entfallen. Ein zusätzlicher elektronischer Beleg aus DRQEdit zeigt auf, dass das Wort tatsächlich schon im 16. Jahrhundert verwendet wurde, mithin ein Artikel erstellt werden muss: der vasall kan die lehen von der verlassen sonstochter nit empfahen (Zasius, Lehnr.(Lauterbeck) Bl. Mv., 1553).

Ein paar weitere, im Wörterbuch aus Platzgründen nicht abgedruckte Belege lassen ferner vermuten, dass „Sohnstochter“ als Kompositum vornehmlich im alemannischen Raum gebräuchlich war. Die verbesserte Beleglage kann mithin auch dazu dienen, ein klareres Bild über die geographische Verbreitung eines Wortes oder Wortfeldes zu gewinnen. Gäbe es zur „Sohnstochter“ einen Beleg

278 | Andreas Deutsch aus einer anderen Region, würde dieser im DRW nach Möglichkeit mitabgebildet werden, damit der Artikelleser erkennt, dass es sich um ein überregional gebräuchliches Wort handelt. Diesen beachtlichen Vorteilen der Belegaufnahme über die Datenbank stehen aber ebenso bedeutende Nachteile gegenüber.

5 Vielfältige Schreibformen: In der Datenbank schwer auffindbar Schwierig gestaltet sich die Belegaufnahme aus einer Datenbank bei Wörtern, die in sehr verschiedenen Schreibformen vorkommen: Bevor diese Schreibformen nicht eruiert sind (z. B. über den Zettelkasten), wird eine Datenbanksuche nur eingeschränkt erfolgreich sein. Im historischen Wortschatz gibt es immer wieder Termini, die derart variantenreich sind, dass von einer Standardschreibform in den Quellen kaum die Rede sein kann. Ein – noch überschaubares – Beispiel ist das „Sigental/Sigentor“, eine vornehmlich im Mittelalter gebräuchliche Bezeichnung für „Sakristei“. Es ist unter anderem in folgenden Schreibformen belegt: sigiture, 9. Jh.; sigantri, 9. Jh.; sigantori, 9. Jh.; sigindri, 11. Jh.; sigoltür, 1311; sigentor, 1320/30; sigeltor, 1328/29; sigentor, 1358; sigeltor, 14. Jh.; sigental, 1414/18; sigentor, 15. Jh.; sigental, 1601.

Und dies sind nur die für den DRW-Artikel ausgewählten Schreibformen. Ähnliche Probleme ergeben sich bei den Wörtern „Sigrist“ und „Sigerstein“, zwei Bezeichnungen für einen Sakristan, Mesner. Aber selbst bei auf den ersten Blick einfachen und vertrauten Wörtern kann die Schreibformensuche schwierig werden. Wer würde etwa – ohne entsprechende Vorinformation – daran denken, dass bei einem Wort wie „Schultheiß“ auch Formen wie „schulz“, „scout“ oder „skelta“ miteinzubeziehen sind? Gerade bei einem Wörterbuch wie dem DRW, das mehrere Sprachen und zahlreiche Sprachstufen berücksichtigt, kann die Bandbreite der Schreibvarianten schnell unüberschaubar werden. Falls ein Wort bereits in anderen Nachschlagewerken vollständig erfasst ist, kann theoretisch auch eine Zusammenschau dieser Werke die notwendigen Informationen über Schreibformen liefern. Vielfach wird es aber erst das DRW sein, das nach erfolgter, sorgfältiger Belegzusammenstellung ein – nach Möglichkeit repräsentatives und damit aussagekräftiges – Bild der verbreiteten Schreibvarianten liefert. Die Beachtung von Schreibvarianten bei

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der Belegauswahl gehört daher zum Kern der Arbeit der DRW-Lexikographen. Ausgangspunkt kann hierbei – gerade in komplizierteren Fällen – nur der Zettelkasten sein, in welchem die durch die Quellenexzerpte eruierten Schreibformen gesammelt sind. Auf der Basis der hierdurch ermittelten Informationen lassen sich selbstredend spielend weitere (vielleicht nützliche, vielleicht aber auch entbehrliche) Belege über die Datenbank eruieren. Bei einem rechtlich vielschichtigen Wort wie „Schultheiß“ wird es bei der Belegauswahl und Artikelgestaltung freilich zuallererst um die Erfassung des (rechtshistorisch relevanten) Bedeutungsspektrums gehen. Alle nachweisbaren Schreibformen werden daher auch im DRW nicht berücksichtigt werden können. Dennoch bildet der DRW-Artikel „Schultheiß“ im Ergebnis weit über hundert unterschiedliche Schreibformen ab. Bereits ein kurzer Blick auf den Variantenreichtum zeigt, dass eine Datenbanksuche ohne Vorinformationen (etwa aus dem Zettelkasten) zum Scheitern verurteilt wäre; nicht einmal der Anfangsbuchstabe ist in allen Belegen derselbe: escultaizo scelta sceltata schautetten schelta scheltata scheltum scholt scholteissen scholteisz scholteti scholtheisen scholtis scholtiss scholtisse scholtissen scholtus schoute

schoutet schoyltesse schoyltessen schulcze schuldacio schuldheißen schuldtheyß schulteis schulteise schulteiss schulteize schulten schúlteß schultessen schultesz schultete schulteyze schultez

schultezen schulthaissen schulthaize schůlthaizen schulthaizzen schultheis schultheisen schultheiß schultheissen schultheißen schultheisz schultheize schultheizen schultheizsen schultheizze schulthes schulthessen schulthesz

schultheysen schultheyss schultheyßen schultheyze schultis schultisse schultys schultze schultzen schultzheisen schulz schulzen scolten scout scoutate scoute scouten scouthate

scudassius sculdahis sculdais sculdaissihis sculdasius sculdassi sculdhais sculdhaisus sculdheyzen sculta scultaiz scultechte sculteiten sculteizin sculten scultete sculteto scultetus

scultezi scultezin sculthacio sculthaizium scultheite scultheiten scultheti scultheto scultichten skelta skeltata solteto zulheysse (und andere mehr)

Einen besonderen Formenreichtum entwickeln häufig Verben. Selbst zu einem auf den ersten Blick simplen Wort wie „setzen“ weist der zugehörige DRWArtikel mehr als hundert Schreibformen nach, wovon einige auch für Sprachwissenschaftler nicht ohne weiteres voraussehbar sein dürften:

280 | Andreas Deutsch gesaczet gesaczt gesaczten gesat gesatt gesatz gesatzet gesatzt gesazt geseczet geseczt geset gesettes gesettet gesetton gesetzen gesetzet

gesetzit gesetzt gesetzte gesetzteme gesetzten gesetzter gesezet gesezt gesezzen gesezzet geßaczt gezesezt gezet ghesad ghesast ghesat gheset

ghesettet gúesezzet gvisezzet sad saß saste sat sateden satta satte satten satzend satzt satzte satzten satztend satztú

sazte sazten secczen secz seczcen secze seczen seczin seczn seczt seczzent setczen sethten sett setta settan sette

settede setteden setten settende settene settens settet setton setzcen setze setzen setzende setzene setzet setzin setzn setzt

setzte setzten setzzen seydcin sez sezen sezent sezin sezt sezzen sezzet sezzüt sötzen sözen sözt zetczn zetten

6 Häufig belegte Wörter: In der Datenbank zu viele Treffer Bei häufig vorkommenden Wörtern wie „setzen“, „Schuld“ oder auch (dem in den historischen Texten nicht trennbaren) „schon/schön“ ergeben sich bei einer Datenbankrecherche schnell mehrere tausend Treffer. Eine solche Belegzahl lässt sich insbesondere hinsichtlich der semantischen Ausdifferenzierungen nicht mehr überblicken. Schlimmer noch: Da viele Rechtswörter auch in der Allgemeinsprache vorkommen, bildet ein großer Anteil der elektronischen Treffer die (für das DRW nur am Rande relevante) allgemeinsprachliche Wortverwendung ab. Selbst eine sehr sorgfältige Auswahl der ins elektronische Archiv aufgenommenen Texte kann dies nicht verhindern. Bei Verben wie „setzen“ oder „sitzen“ wird daher sogar eine deutliche Mehrzahl der Treffer redundant und ohne besonderen Aussagewert sein. In solchen Fällen bietet der „Zettelkasten“ mit seinen bedachtsam ausgewählten Belegstellennachweisen einen sehr viel effizienteren und zuverlässigeren Zugang.

Zur Symbiose zwischen „Zettelkasten“ und „Datenbank“ | 281

Beispiel „setzen“: Zettelkasten: alle Schreibformen komplett rund

2400 Belege

Treffer im elektronischen Textarchiv: – allein für die gewöhnliche Schreibform des Infinitivs (setzen): – allein für die niederdeutsche Schreibform des Infinitivs (setten):

7415 Belege 2319 Belege

Beispiel „schön/schon“: Zettelkasten: alle Schreibformen komplett Treffer im elektronischen Textarchiv: – allein für die Schreibform „schon“: – allein für die spezielle Schreibform „scho(e)ne“:

39 Belege

3604 Belege 771 Belege

Verschärft wird das Problem bei Schreibvarianten, die sich verschiedenen Wörtern zuordnen lassen. Dies erhöht nicht nur die Zahl der Treffer in der Datenbank. Anders als im Zettelkasten muss bei jedem einzelnen Beleg vor seiner möglichen Verwendung zusätzlich festgestellt werden, zu welchem Wort er eigentlich gehört. So lassen sich über die DRW-Datenbank zur Schreibform „sant“ 2967 Belege nachweisen – eine Anzahl, die sich innerhalb eines vernünftigen Zeitrahmens nicht mehr überprüfen lässt. Offen ist, ob es sich um Belege für Sand, Sankt, senden oder noch ein anderes Wort handelt. „Sol“ war die (zum Beispiel in der deutschen Schweiz geläufige) Bezeichnung einer französischen Zwölfpfennigmünze. Nur drei – durchweg aussagekräftige – Belege liefert dazu der DRW-Zettelkasten. Müßig erscheint demgegenüber die Suche nach der Münze in einem Meer von über 40 000 Datenbanktreffern allein zur Schreibform „sol“: Beispiel „sol“: Zettelkasten: alle Schreibformen zu „Sol“ (französische Zwölfpfennigmünze) komplett nur Treffer im elektronischen Textarchiv: allein für die Schreibform „sol“:

3 Belege

41 821 Belege

Nach kursorischer Durchsicht gehören diese Belege zu Sohle, Sole, sollen und weiteren Wörtern. Ob überhaupt ein Beleg zu „Sol“ darunter ist, bleibt fraglich. Ein noch extremeres Beispiel stellt „sein“ dar: Gemeint sein kann damit sowohl das Verb als auch das Possessivpronomen. Beim Verb werden hierbei die

282 | Andreas Deutsch meisten in der Datenbank nachgewiesenen Fundstellen allein die – für das DRW irrelevante – Hilfsverbfunktion betreffen, sodass eine Durchforstung der in den unterschiedlichen Schreibformen weit über 100 000 Treffer gänzlich sinnlos wäre: Beispiel „sein“: Verb oder Possessivpronomen? Im Zettelkasten auf rechtlich Relevantes beschränkt und dem richtigen Wort zugeordnet: – zum Pronomen alle Schreibformen komplett 77 Belege – zum Verb alle Schreibformen komplett 121 Belege Treffer im elektronischen Textarchiv: – allein für die Schreibform „sein“ (z. B. als Infinitiv): – allein für die Schreibform „seyn“ (z. B. als Infinitiv):

85 116 Belege 11 822 Belege

Hat man allerdings – unter Heranziehung des Zettelkastens – einzelne auffällige Wortverwendungen, etwa besondere Kollokationen, Paarformeln oder Phraseme, eruiert, kann es sich als nützlich erweisen, in der Datenbank gezielt nach gleichartigen oder ähnlichen Formulierungen zu suchen, um sich der besonderen Semantik – beispielsweise einem metaphorischen Wortgebrauch (hierzu Lobenstein-Reichmann 2013) – sicherer annähern zu können. Wenngleich also eine Suche nach „sein“ alleine sinnlos wäre, erwies sich eine Recherche nach „vor jemandem sein“ oder auch „hinter jemandem sein“ (unter Berücksichtigung entsprechender historischer Schreibweisen) als sachdienlich. „Hinter jemandem sein“ kann, wie sich herausstellte, zwei Bedeutungen haben. In folgendem Beleg von 1457 heißt es so viel wie „für jemanden (als Bürge) einstehen, eintreten“: [M. verpfändet samen und buwes an H. für 10 Gulden] darumb er hinder im ist gegen Moße juden, biß er da von im gelediget und geloßt wirdet von hauptgut und gesuch on schaden (HeilbronnUB. II 52, 1457).

Wohl häufiger meint „hinter jemandem sein“ aber „bei jemandem hinterlegt, in Verwahrung sein“, so etwa in diesem Ausschnitt einer Kölner Chronik: ein breif der fundation sol samt dem rentbreif s. Peter hinder den kirchmeistern sin, der ander fundationbreif sol hinder uns sin (BuchWeinsberg II 83, 1561).

Auch wenn sich im DRW-Artikel selbst aus Platzgründen keine weiteren Belege zu „hinter jemandem sein“ unterbringen ließen (es folgt unter diesem Bedeutungspunkt lediglich noch eine zusätzliche Fundstelle aus dem Buch Weinsberg), war es für die Erstellung des Artikels förderlich, die herausgearbeiteten Bedeutungen durch Zusatztreffer mittels einer Datenbankrecherche zu stützen.

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7 Fazit und Ausblick Für die Erforschung der historischen Rechtssprache gilt somit: Die besten Ergebnisse werden durch eine sinnvolle Kombination von „Zettelkasten“ und „Datenbank“ erzielt. Der Zettelkasten bietet eine intelligente Vorauswahl von Belegstellen. Die Belegzettel wurden von Exzerptoren erstellt, welche die von ihnen ausgewertete Quelle kannten – vielfach sogar über sie geforscht oder die maßgebliche Edition erstellt haben. Die Exzerptoren wählten daher regelmäßig nur aussagekräftige Belege zu in der Quelle relevanten Wörtern aus. Bei häufigen Vorkommen eines Wortes mussten sie sich für einzelne – etwa repräsentative oder definitorische – Fundstellen entscheiden. Wenn ein Wort im Zettelkasten in hoher Zahl belegt ist, spricht dies daher für besondere (rechtshistorische) Relevanz. Die Datenbank – mit elektronischem Textarchiv und der Möglichkeit der Recherche in allen bereits gedruckten DRW-Artikeln – ermöglicht demgegenüber das Auffinden zahlreicher zusätzlicher Belege zu einem Wort. Auch kann eine Quelle gezielt auf alle Vorkommen eines betreffenden Wortes durchsucht werden. Insbesondere bei seltenen Wörtern kann dies die lexikographische Arbeit erheblich erleichtern und verbessern, wenn es etwa darum geht, spezielle Bedeutungen eines Wortes zu eruieren. Bei häufig vorkommenden Wörtern ergeben sich bei einer Datenbanksuche allerdings sehr schnell unüberschaubar hohe Trefferzahlen. Da sich die Datenbanktreffer nicht nach inhaltlicher Qualität gewichten lassen, sieht sich der Bearbeiter dann vor einem Berg sehr ähnlicher und wenig aussagekräftiger Belegstellen, die in vernünftiger Zeit nicht auswertbar sind. Selbst bei sehr oft belegten Wörtern kann eine ergänzende Datenbankrecherche allerdings sinnvoll sein, wenn zusätzliche Kriterien zur Einschränkung des Suchergebnisses verfügbar sind, also etwa im Zettelkasten nachgewiesene auffällige Wortfolgen oder Kombinationen dahingehend überprüft werden sollen, ob es sich z. B. um Phraseme mit einem besonderen Bedeutungsgehalt handelt. Zwar werden Fundstellen aus dem elektronischen Textarchiv bei der Belegaufnahme für das Wörterbuch einfach kopiert; das fehlerträchtige Abtippen des Belegtextes aus der Originalquelle entfällt mithin. Jedoch ist auch ein elektronischer Text – selbst bei sorgfältiger Erstellung und mehrfacher Prüfung – niemals fehlerfrei; eine Überprüfung der „elektronischen Belege“ am Original bleibt also erforderlich. Der größte Nachteil der Belegrecherche über eine Datenbank liegt freilich darin, dass stets nach einer (in der historischen Lexikographie sinnvollerweise scharf bestimmten) Buchstabenfolge gesucht werden muss. Wörter haben aber

284 | Andreas Deutsch in ihrer historischen Schreibung oftmals sehr viele, nicht selten auch äußerst ungewöhnliche Schreibformen. Sind diese vor der Recherche nicht bekannt, werden sie leicht übersehen. Hier bietet der Zettelkasten eine hervorragende Grundlage: Im Zettelkasten nachgewiesene unerwartete Schreibweisen lassen sich über die Datenbank beispielsweise dahingehend überprüfen, ob sie (eher) singulär sind oder doch öfter vorkommen. Hieraus lassen sich wichtige Zusatzinformationen für die Artikelerstellung gewinnen. Die Auswahl der den Wörterbuchartikeln beigegebenen Belege bzw. Belegstellennachweise orientiert sich nämlich nicht nur an den Wortbedeutungen – zugleich soll auch ein (je nach Größe des Artikels unterschiedlich ausführlicher) Überblick über jeweils vorkommenden Schreibformen geboten werden. Die Onlineversion des Wörterbuchs5 ermöglicht dem Nutzer hierzu einen besonders komfortablen Zugriff. Die Artikel sind zwar – wie im gedruckten Wörterbuch – durchgängig neuhochdeutsch lemmatisiert. Über die Suchfunktion „Schreibformen“ kann aber gezielt nach allen hinterlegten historischen Schreibweisen eines Wortes gesucht werden. Auch wer nicht weiß, zu welchem neuhochdeutschen Wort sein (beispielsweise in einem alten Quellentext vorgefundenes) Wort gehört, kann dieses einfach in der historischen Schreibweise eingeben. Die Suche liefert dann nicht nur die verfügbaren Artikel mit Lemma in genau dieser Schreibweise, sondern unter anderem auch alle Artikel, in denen ein Beleg mit entsprechender Schreibform vorkommt. Da die zu jedem DRW-Artikel in der DRW-Datenbank hinterlegten Schreibformen zugleich eine relativ belastbare Grundlage für eine Datenbankrecherche bieten, schließt DRW-Online automatisch eine Suche nach allen entsprechenden Belegen im (online verfügbaren) DRW-Textarchiv an. So faszinierend diese und weitere Möglichkeiten der Datenbankrecherche für den Wörterbuchnutzer sind (hierzu Speer 2007), sollte auch in der virtuellen Welt nie vergessen werden: Ohne den Zettelkasten gäbe es einen gewichtigen Teil der zugrundeliegenden Informationen nicht.

Literatur Balode, Ineta (2010): Baltisch-Deutsch im DRW. Eine Studie zum DRW-Belegkorpus und zu qualitativen und diachronischen Aspekten des baltisch-deutschen Rechtswortschatzes. In: Andreas Deutsch (Hrsg.): Das Deutsche Rechtswörterbuch. Perspektiven. Heidelberg: Winter, 91–126.

|| 5 Für alle frei unter: www.deutsches-rechtswoerterbuch.de. Vgl. auch Bedenbender (2014); zu den Anfängen: Speer (2002).

Zur Symbiose zwischen „Zettelkasten“ und „Datenbank“ | 285

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Gerhard Diehl & Nils Hansen

Zwischen Handschrift und Online-Datenbank Bemerkungen zur Lexikographie des Mittelhochdeutschen Abstract: Der Beitrag skizziert die Entwicklung der mittelhochdeutschen Lexikographie von den ersten Materialsammlungen der frühen Neuzeit über die Zettelkästen des 19. und 20. Jahrhunderts bis zur computer- und korpusgestützten Arbeit im Zeitalter der digitalen Vernetzung. Die Potentiale der neuen technischen Möglichkeiten und Verfahren z. B. im Bereich der historischen Semantik werden in den Blick genommen, gleichzeitig wird aber am Beispiellemma kranc auch deutlich, dass die interpretatorische Sichtung und Durchdringung des Materials weiterhin auf den geschulten Sprachhistoriker und Lexikographen angewiesen ist. Keywords: Bedeutungswandel, Historische Semantik, krank/kranc, Lexikographie, mittelhochdeutsch

|| Dr. Gerhard Diehl / Nils Hansen: Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Geiststraße 10, 37073 Göttingen, E-Mail: [email protected]

Niemand wird unserm jahrhunderte das verdienst absprechen für die gründliche kenntnis unserer frühern sprache mehr geleistet zu haben als je vorher geschehen war: immer noch aber – so hört man von allen seiten klagen – fehlt uns ein mittelhochdeutsches wörterbuch. die klage ist, genauer besehen, ganz und gar ungerecht: die kurze antwort darauf ist ‚es fehlt uns was früher zu leisten nicht möglich war‘. (Benecke 1841: 39)

Als Georg Friedrich Benecke, der gemeinhin als einer der Gründerväter der Germanistik betrachtet wird (vgl. z. B. Stackmann 1991), mit diesen Bemerkungen im Jahr 1843 seine Gedanken „Über ein mittelhochdeutsches Wörterbuch“ einleitet, kann er bereits auf mehrere Jahrhunderte der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den älteren deutschen Sprachstufen zurückblicken, die auch immer wieder Versuche lexikographischer Bestandsaufnahmen umfassen (vgl.

288 | Gerhard Diehl & Nils Hansen Prinz & Solms 2014).1 Es handelt sich dabei zum einen um erste Ansätze einer Sprachstadienlexikographie, wie etwa das „Glossarium ad scriptores linguae Francicae et Alemannicae veteris“ des Johann Schilter (vgl. Mikeleitis-Winter 2014) oder die Bearbeitung des „Glossarium Germanicum Medii Aevi potissimum Dialecti Suaevicae“ des Johann Georg Scherz durch Jeremias Jacob Oberlin (vgl. Diehl 2014). Zum anderen finden sich Vorläufer moderner Ausgabenglossare (vgl. Kössinger 2014) und textsortenspezifische Sammlungen, die – überwiegend reagierend auf das praktische Interesse der zeitgenössischen Jurisprudenz – den Wortschatz der mittelalterlichen Urkundensprache und anderer Rechtstexte erfassen (vgl. z. B. Haltaus 1758; Wittek von Salzberg 1796; Stocker 1798; dazu vgl. Krause 2014). Sie alle lassen sich verorten in der Wissenschaftswelt des 18. Jahrhunderts. Mit einer doppelten Prägung durch humanistisch-polyhistorische Traditionen der Frühen Neuzeit und die Grundprämissen modernen, aufklärungszeitlichen Wissensmanagements, sehen zahlreiche Institutionen und Gelehrte ihre Hauptaufgabe in einem umfassenden Sammeln und Ordnen allen Wissens und seiner systematischen Beschreibung. Der so entstehende Prozess des permanenten Fortschreibens durch die Bestandsaufnahme des jeweils alten und das Verzeichnen des jeweils neuen Wissens findet seinen Niederschlag in Kompendien, Journalen sowie zahllosen Lexika und Wörterbüchern zu den unterschiedlichsten Themenbereichen (vgl. Gierl 2001). Ein großer Teil dieser Arbeiten ist noch ganz dem Wissenschaftsbetrieb der frühen Neuzeit verpflichtet und bedient sich des Lateinischen als Beschreibungssprache. Allerdings findet sich in zunehmendem Maße auch Deutsch bei der Formulierung der lexikographischen Interpretamente. Vor diesem Hintergrund unterschiedlichster Ansätze und Bestrebungen im Feld der historischen Lexikographie müssen die einschränkenden Hinweise des Göttinger Germanisten ernst genommen werden. Denn erst mit der Wende zum 19. Jahrhundert entwickelten sich in der Beschäftigung mit den Texten vergangener Jahrhunderte neue, philologische Arbeitsweisen. Erst jetzt entsteht, nicht zuletzt verknüpft mit den Namen Benecke, Lachmann und Grimm, eine moderne Editionsphilologie. An die Stelle der teilweise wahllosen und von großen Zufälligkeiten bestimmten Veröffentlichung einzelner Handschriftenfunde tritt zunehmend das Bemühen um zuverlässige Editionen der Texte älterer Sprachstufen auf der Basis aller bekannten Handschriften. Sie werden häufig zusätzlich erschlossen durch Werkwörterbücher wie etwa der von Benecke und Lachmann gemeinsam edierte Iwein Hartmanns

|| 1 An älteren Forschungen sei verwiesen auf Kühn & Püschel (1990) und Sonderegger (1998a, 1998b).

Zwischen Handschrift und online-Datenbank | 289

von Aue (Benecke & Lachmann 1827) durch Beneckes auch nach heutigen Vorstellungen immer noch mustergültiges Wörterbuch (Benecke 1833). Erst vor diesem Hintergrund wird es verständlich, wenn Benecke in seinen Erwägungen 1843 selbstbewusst fortfährt: Nachgerade aber ist ein werk der art möglich geworden, und somit ist es auch pflicht ernstlich an die ausführung der arbeit zu denken, ob durch einen mit sorgfältiger umsicht gebildeten verein mehrerer mitarbeiter oder durch einen einzelnen der sich durch seine gelehrsamkeit, seinen eifer, seine muße dazu berufen findet. (Benecke 1841: 39)

So hatte der Göttinger Wissenschaftler zu diesem Zeitpunkt bereits ganz selbstverständlich mit seiner Arbeit an einem allgemeinen mittelhochdeutschen Wörterbuch begonnen. Noch vor dem erscheinen der deutschen grammatik von J. Grimm, also vor dem jahre 1819, hatte Benecke ein alphabetisch geordnetes mittelhochdeutsches glossar angelegt. Es enthielt zahlreiche stellen aus den Minnesingern, […], dann mehrere aus den bereits in früherer zeit herausgegebenen denkmälern, […]. Als die zweite auflage des ersten theils von Grimms deutscher grammatik erschienen war (also nach dem jahre 1822), beschloss er eine vollständigere, etymologisch geordnete lexikalische sammlung anzulegen. […] In dieses verzeichnis pflegte nun Benecke alles, was ihm bei fortgesetztem lesen bemerkenswerthes aufstiess, so einzutragen, dass bald die stelle, in welcher ein wort vorkam, bald auch nur, je nachdem der raum reichte, das citat angeführt wurde […]. Hierbei wurde denn die sammlung bei einzelnen artikeln, für die sich reichliche zusätze fanden, oder für welche der verfasser wegen ihrer dunkelheit oder seltenheit ein besonderes interesse hatte, wohl bedeutend erweitert, andere gingen dagegen ganz leer aus. […] Hatte das material zu einer wörterfamilie sich so gemehrt, dass es nicht mehr übersichtlich war, so pflegte Benecke es geordnet so umzuschreiben, dass raum für neue nachträge blieb. (Müller & Zarncke 1990: Bd. 1: III ff.)

Mit diesen Worten beschreibt Wilhelm Müller, der als Nachfolger Beneckes in Göttingen die Kompilations- und Interpretationsarbeit fortsetzen durfte, im Jahr 1853 in seiner Vorrede zum ersten Band die Geburtsphase des nach seinen Schöpfern „Benecke/Müller/Zarncke“ (BMZ) genannten Mittelhochdeutschen Wörterbuchs. Die Arbeit findet im Jahr 1866 mit dem Erscheinen des letzten Teils des Wörterbuchs ihren Abschluss. Das nach wie vor genutzte Wörterbuch bietet auf der Basis von rund 250 zu seiner Erarbeitungszeit vorliegenden gedruckten Ausgaben vor allem einen guten Überblick über den Wortgebrauch der klassischen Texte der höfischen Literatur um 1200 (vgl. Nellmann 1991; Brunner 1993). Die Erkenntnis, dass dieses Werk keinen Anspruch auf einen repräsentativen Überblick über den gesamten mittelhochdeutschen Wortschatz haben konnte und mit seiner für den täglichen Gebrauch unpraktikablen Anordnung des Materials

290 | Gerhard Diehl & Nils Hansen nach Wortfamilien den Zugang erschwerte, bewegte Samuel Hirzel, den für die Entwicklung der germanistischen Lexikographie so maßgeblichen Leipziger Verleger des Werks, den Germanisten Matthias Lexer mit der Erarbeitung eines alphabetisch angeordneten Handwörterbuchs auf der Basis der vorliegenden Bände zu betrauen (Lexer 1992). Lexer, der für seine Arbeiten auf die Unterstützung der Fachkollegen in Form von Belegsammlungen und das Wissen zahlreicher Korrespondenzpartner zurückgreifen konnte (vgl. Scherer 1869; Steinmeyer 1870; Witzschel 1873),2 „lieferte im Zeitraum von nicht mehr als zehn Jahren ein Werk, dessen Umfang, Gründlichkeit und Sorgfalt man noch heute bestaunen muß“ (Brunner 1993: 18). In diesem Zeitraum veränderte er jedoch nicht nur auftragsgemäß die Anordnung des Materials hin zu einer rein alphabetischen Reihung, sondern vergrößerte vor allem die Quellenbasis und den Lemmabestand. So wertete er rund 470 weitere Werke ganz oder wenigstens teilweise aus und erweiterte damit die bisherige Textbasis der mittelhochdeutschen Lexikographie zum einen um den Zeitraum des Spätmittelalters (teilweise sogar bis ins 16. Jahrhundert hinein) und zum anderen um noch nicht ausreichend berücksichtigte Felder wie etwa Sachliteratur, Geschichtsschreibung oder Vokabulare. Durch diese exzessive Sammeltätigkeit erhöhte er zugleich den Lemmabestand um etwa 34 000 Wortartikel (vgl. Gärtner 1993). Trotz dieser aufsehenerregenden Bilanz resümiert der Lexikograph im Vorwort zum abschließenden Band seines Mittelhochdeutschen Handwörterbuchs eher nüchtern eine absolute vollständigkeit des mhd. wortschatzes wird überhaupt nie erreicht werden können, so lange frische quellen zuströmen und auch die alten bei jeder neuen durchsicht noch ausbeute gewähren. Aber die zellen sind durch die beiden mhd. wörterbücher gebaut und das weitere eintragen in dieselben wird eine verhältnismässig leichte arbeit der nachsammelnden sein. (Lexer 1992: Bd. 3, III)

Als die Überlegungen zu einer grundlegenden Neubearbeitung des mittelhochdeutschen Wortschatzes in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts wieder Schwung aufnahmen (vgl. Bachofer 1988; Iwasaki 1991),3 waren bereits über hundert Jahre des eifrigen Nachsammelns vergangen, seit Matthias Lexer diese || 2 Auch einzelne Artikel des Wörterbuchs legen beredtes Zeugnis von dieser Unterstützung ab, vgl. z. B. die beiden Einträge zum Lemma bartnagel (Lexer 1992 Bd. 1: 132): „bartnagel? stm. im FRANKF. Baumeisterb. V. j. 1437 f.50b sind verrechnet 1XXX 14β 6h. für 6500 bartnegel (bartneil)“ und Lexer, Nachträge (Leipzig 1878: 44) „bartnagel ist, wie mich Birlinger belehrt, der mit einem widerhakenartigen kopfe versehene nagel, bisweilen auch kappennagel genannt“. 3 Interessant auch für die ältere Zeit: Pretzel (1944).

Zwischen Handschrift und online-Datenbank | 291

Sätze notierte. Aber erst im Jahr 1994 konnte mit der Erarbeitung eines neuen mittelhochdeutschen Wörterbuchs in zwei Arbeitsstellen in Göttingen und Trier begonnen werden. Natürlich galt es dabei die zahlreichen, in der Zwischenzeit erweiterten oder aufgefüllten lexikographischen „Zellen“ zu berücksichtigen. Vor allem zu nennen sind die grundlegenden Ausgaben bereits bekannter oder auch weiterer, neu entdeckter Texte. Verschiedene Editionsglossare enthalten die mit dem gängigen Sternchen versehenen Lemmata, welche den Benutzer explizit auf Wörter hinweisen sollen, die von der älteren Lexikographie noch nicht erfasst wurden (vgl. z. B. Steer 1987–2006; Gärtner, Rapp & Welter 2008; Haase, Schubert & Wolf 2013). Außerdem sind natürlich zu nennen die ausführlicheren Wörterbücher zu einzelnen Werken (z. B. Schieb, Kramer & Mager 1970), zu verschiedenen Autoren (z. B. Stackmann 1990; Wießner 1954), zu ganzen Textkorpora (vgl. z. B. WMU) oder Fachsprachen. Gleichzeitig muss sich das MWB nun einordnen in die Landschaft der lexikographischen Großprojekte der deutschen Sprache, auf die bei einer Neubearbeitung des mittelhochdeutschen Wortschatzes rekurriert werden muss. Neben dem Deutschen Wörterbuch (DWB; Grimm’sches Wörterbuch 1854–1971) und seiner Neubearbeitung (2DWB 1983 ff.) sind das vor allem das Althochdeutsche Wörterbuch (AWB 1952 ff.) und das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch (FWB 1989 ff.). Vor diesem Hintergrund sind die Erwartungen und Anforderungen ebenso wie die Aufgaben, Möglichkeiten und Beschränkungen bei der Erarbeitung eines neuen Mittelhochdeutschen Wörterbuchs klar umrissen (vgl. Gärtner & Grubmüller 2000; Baumgarte, Diehl & Runow 2010; Plate 2007). Ziel des Vorhabens kann es nur sein, auf möglichst breiter Quellenbasis den mittelhochdeutschen Wortschatz in den zeitlichen Grenzen von 1050 bis 1350 lexikographisch zu bearbeiten und – hier ergänzen pragmatische Gesichtspunkte die Argumente der sprachgeschichtlichen Periodisierung – die lexikographische Lücke zwischen AWB und FWB zu schließen.4 So bildet ein Korpus von philologisch gesicherten Texten aller Textsorten der gesamten Periode die Basis der lexikographischen Auswertung. Zum einen treten neben dichterische Werke der klassischen hochmittelalterlichen Literatur verstärkt Quellen aus den Berei|| 4 Damit umfasst das MWB einen wesentlich kürzeren Zeitraum als Lexers Handwörterbuch, dessen Material sich bis ins 16. Jahrhundert erstreckt. Das AWB bearbeitet den Wortbestand bis 1050. Es ist häufiger Gegenstand von Verweisen, sofern relevantes älteres Wortmaterial, z. B. im Bereich der Glossenüberlieferung vorliegt. Das FWB setzt mit seiner Erfassung des Materials um 1350 ein. Überschneidungen resultieren aus unterschiedlichen Datierungsprinzipien beider Wörterbücher. Das MWB wählt seine Quellen nach dem Entstehungszeitpunkt aus, das FWB legt das Überlieferungsdatum zugrunde. Zur Periodisierungsdiskussion vgl. Schützeichel (1973); Reichmann (1988); Gärtner (2000).

292 | Gerhard Diehl & Nils Hansen chen der geistlichen Literatur, des Sachschrifttums aber auch der Urkunden und Rechtstexte. Zum anderen werden die bisher vernachlässigten Werke der frühmittelhochdeutschen Periode sowie literatur- und sprachgeschichtlich relevante Werke der nachklassischen Zeit ausgewertet (vgl. Gärtner 2013).5 Das MWB geht im Bereich der historischen Lexikographie von Anfang an neue Wege in der Materialerhebung und Verwaltung der Belege sowie der Ausarbeitung der Artikelstrecken. Bereits in der Planungs- und Vorbereitungsphase ab 1994 wurde konsequent auf die neuen Möglichkeiten der EDV gesetzt (vgl. Recker & Plate 2001). Das Wörterbuch wird erarbeitet auf der Basis eines elektronischen Textarchivs mit einem Bestand von inzwischen rund 150 maschinenlesbaren mittelhochdeutschen Texten oder Textsammlungen, die in verschiedener Tiefe lemmatisiert sind. Hinzu kommen mehr als 60 weitere maschinenlesbare Texte, v. a. aus dem Korpus des Findebuchs (Gärtner 1993), aber auch aus anderen Beständen, die im Lauf der Zeit in das System eingepflegt wurden. Sie können im Fortgang der Artikelarbeit nach Bedarf kontinuierlich nachlemmatisiert werden. Das auf diese Weise ständig erweiterte elektronische Belegarchiv umfasst damit derzeit gut 1, 45 Mio. Belege zu rund 27 000 Artikelstichwörtern. Auf dieser Basis lassen sich bereits relativ verlässlich repräsentative und quantifizierbare Auskünfte über wesentliche Teile des mittelalterlichen deutschen Wortschatzes und seine Verwendungsweisen machen, obwohl damit noch nicht einmal zur Hälfte der voraussichtlich zu bearbeitenden mhd. Wörter Material erfasst ist.6 Damit sind die Grenzen der technischen Möglichkeiten zum aktuellen Zeitpunkt umrissen, denn ergänzend zu den projektintern computergestützt erhobenen Belegen wird das notwendige weitere Material vor allem über andere Wörterbücher der deutschen Sprache erhoben. Neben den älteren mittelhochdeutschen Wörterbüchern sind dies v. a. das DWB, das AWB und das FWB, aber auch WMU und das DRW sowie die bereits erwähnten Autorenwörterbücher und Ausgabenglossare. So bleibt es in erheblichem Maße bei der traditionellen

|| 5 Zu grundlegenden Fragen der Korpusbildung für Wörterbuchprojekte vgl. zuletzt Reichmann (2012: bes. 103–135). 6 Grundlage dieser Berechnungen ist die abzuarbeitende Lemmaliste von rund 85 000 Artikelkandidaten, die aus den Vorgängerwörterbüchern (BMZ, Lexer, Findebuch) kompiliert wurde. Nach den bisherigen Erfahrungen reduziert sie sich jedoch um etwa 25 bis 30 Prozent da – wie bereits erwähnt – v. a. Lexer zahlreiche Quellen aus dem 15. und 16. Jahrhundert ausgewertet hat. Daneben ergeben sich allerdings auch Ergänzungen der Lemmaliste durch die zur Verfügung stehenden Hilfsmittel und neue Textausgaben, sofern diese durch Glossare erschlossen sind. Hochgerechnet dürfte das MWB am Ende auf einen Bestand von 55 000 bis 60 000 Artikeln kommen.

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lexikographischen Handarbeit, obwohl sich im Fortschreiten der Arbeit und angesichts der Zunahme der elektronisch vorliegenden auswertbaren Quellen eine deutliche Abnahme der manuellen Belegerhebung erkennen lässt. Einem anfänglichen Anteil von etwa 40 % Belegen aus der Datenbank stehen aktuell nach fünf Doppellieferungen beinahe 60 % gegenüber. Dahinter stehen weitere Vorteile der computergestützten Belege nicht nur für den Bearbeiter, sondern auch für den Nutzer. Denn über den direkten Link zu den Volltexten in der Online-Version kann man jederzeit unmittelbar den erweiterten Kontext überblicken (vgl. Plate 2010: 256 ff.). So wird die Integration weiterer elektronischer Texte ins Redaktionssystem zur gezielten Erhebung einzelner Belege ebenso wie die Aufnahme bereits komplett lemmatisierter Texte in die lemmabezogene Belegdatenbank weiterhin als große Chance gesehen.7 Demgegenüber erscheint eine dem Projekt der neuen mittelhochdeutschen Grammatik gleichende Basierung auf der Auswertung von Handschriften im Bereich der Wörterbücher nicht sinnvoll. Eine Rückbindung der Belegerhebung an eine je nach Werk oft nicht unerhebliche Menge einzelner Handschriften multipliziert die ohnehin im Bereich des Kernwortschatzes bereits manchmal schwer überschaubare Materialmenge noch einmal um ein Vielfaches, meist jedoch ohne signifikanten Mehrwert für den Lemmabestand insgesamt oder das Bedeutungsspektrum einzelner Lemmata. Während solche Ergänzungen der Lemmaliste gegenüber dem bisherigen Bestand der Wörterbücher in der Regel über den Apparat oder ein Glossar zu ermitteln sind, würde eine an den Handschriften orientierte Materialbasis – nach den bisherigen Erfahrungen und mit Blick auf die bisherigen Arbeiten an der neuen mittelhochdeutschen Grammatik – vor allem die Perspektive auf eine weniger normierte und variantenreichere grammatisch-syntaktische Struktur des Mittelhochdeutschen eröffnen. Immer wieder wird gerade im Bereich der Synsemantika und der Verbvalenzen erkennbar, dass die lexikographischen und grammatischen Grundlagenarbeiten vor allem des 19. Jahrhunderts mit ihrem Übergang von einer deskriptiven Darstellung des Vorhandenen zu einer immer stärker normativen Formulierung besonders der syntaktischen Befunde nicht ohne Folgen auch auf die Tätigkeit der Editoren bleibt. Diese nähern sich gerade in diesem Bereich in ihrer Textge|| 7 Auch die Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank Salzburg ist eine nützliche Ergänzung für die lexikographische Arbeit (http://mhdbdb.sbg.ac.at/ [28.04.2016]). Sie bietet mit ihren unterschiedlichen Recherchemöglichkeiten „den Zugriff auf die wichtigsten Werke der mittelhochdeutschen Dichtung von den verschiedensten Blickwinkeln aus […]. Der Benutzer kann nicht nur nach Wörtern, Zeichenketten und Begriffen aus verschiedenen Quellen suchen, sondern auch so gut wie jede linguistische oder semantische Fragestellung an die Textbasis auswerten“ (ebd.).

294 | Gerhard Diehl & Nils Hansen staltung zunehmend einer mittelhochdeutschen Standardgrammatik an, die die Breite der divergierenden handschriftlichen Überlieferung oft nicht einmal mehr im Apparat erkennbar macht. Vor diesem Hintergrund ist der Aufbau einer umfassenden elektronischen Quellensammlung auf der Basis wissenschaftlich verlässlicher Editionen für grundlegende Forschungen zur deutschen Sprachgeschichte als dringendes Desiderat erneut umrissen. Gleichzeitig zeigen die Erfahrungen, dass in der Regel einzelne Projekte im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten beim Aufbau einer Sammlung für den eigenen Bedarf bald an ihre Grenzen stoßen. Der Aufbau entsprechender Korpora über eine rasche Vernetzung und allgemeine Verfügbarkeit der bisherigen Bestände elektronischer Quellen hinaus ist also auf einer anderen Ebene zu leisten. Entsprechende Arbeiten haben an verschiedenen Wissenschaftsstandorten bereits eingesetzt.8 Das MWB basiert dementsprechend auf einem offenen, sich ständig erweiternden Quellenkorpus, das zum aktuellen Zeitpunkt nach rund 15 Jahren lexikographischen Arbeitens gut 1400 Texte oder Textkorpora vom kurzen Gebetstext oder Kochrezept bis hin zum „Prosalancelot“ oder zur vielbändigen Urkundensammlung umschließt. Das neue Wörterbuch gewährt damit erstmals einen ausgewogenen Überblick über den mittelhochdeutschen Wortbestand, die Gebrauchstypen, Verwendungsweisen und die Bedeutungsentwicklung der einzelnen Lemmata in ihrer zeitlichen, regionalen und textsortenspezifischen

|| 8 Seit 2009 haben die Arbeiten im Rahmen des Großprojekts „Korpus historischer Texte des Deutschen (Deutsch Diachron Digital = DDD)“ auf breiter Basis begonnen. Parallel zur Erstellung eines althochdeutschen Referenzkorpus in Berlin (Korpus alle überlieferten hochdeutschen und altsächsischen Texte des Zeitraums 700–1050, vgl. http://www2.hu-berlin.de/sprachgeschichte/ forschung/altdeutsch.php [28.04.206]), eines mittelhochdeutschen Referenzkorpus in Bochum und Bonn (mit einer vollständigen Berücksichtigung der hochdeutschen Überlieferung von 1050– 1200, und einer strukturierten Auswahl für den Zeitraum von 1200–1350, vgl. http://referenz korpus-mhd.uni-bonn.de/index.html [28.04.2016]) wird in Halle, Bochum und in Potsdam ein Referenzkorpus für die frühneuhochdeutsche Sprachstufe erarbeitet (Auswahl für den Zeitraum 1350–1650, vgl. http://www.germanistik.uni-halle.de/forschung/altgermanistik/referenzkorpus_ fruehneuhochdeutsc/ [28.04.2016]). Das gesamte Vorhaben hat ein deutsches „Nationalkorpus“ zum Ziel, das sich zeitlich vom 8. bis ins 17. Jahrhundert erstreckt. Die Texte sollen für eine breite Nutzung digital verfügbar gemacht werden und damit vor allem für Sprachwissenschaftler eine repräsentative Forschungsbasis darstellen. Ergänzt wird das Spektrum durch ein in Hamburg und Münster erstelltes Referenzkorpus Mittelniederdeutsch/Niederrheinisch, das mittelniederdeutsche und niederrheinische Sprachdenkmäler von 1200 bis 1650 in einer strukturierten Auswahl umfasst (https://vs1. corpora.uni-hamburg.de/ren/index.htm [28.04.2016]).

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Verbreitung. Eine Präsentation aller Belege im Sinne eines Thesaurus wird nicht 9 angestrebt. So sind bis auf Weiteres die Möglichkeiten und Grenzen lexikographischen Arbeitens nach wie vor markiert auf der einen Seite durch den Blick des geschulten Lexikographen bei der genauen Lektüre des einzelnen Texts, durch Sammeln und Sichten in der Nähe des Zettelkastens also, und auf der anderen Seite durch die Arbeit mit komplett lemmatisierten Texten, die über Datenbanken erschließbar gemacht sind. Dennoch gibt es immer wieder Überraschungen: Bisher nur am Rand wahrgenommene Texte entpuppen sich als wahre Fundgruben für neues Wortmaterial, die elektronische Volltextrecherche ermöglicht selbst in bekannten, mehrfach lexikographisch ausgewerteten Texten noch überraschende Funde. Die Arbeit der vergangenen Jahre bietet mehrere Beispiele für diese Phänomene. So hat sich der unbekannte Autor des frühmittelhochdeutschen „Bamberger Glauben“ vor dem suchenden Auge des Lexikographen als außerordentlich kreativer Sprachschöpfer erwiesen (vgl. Diehl 2011). Bei den über 20 nur in diesem Text vertretenen Neologismen handelt es sich überwiegend um z. T. mehrgliedrige Komposita zur Beschreibung der komplexen Gestalt Gottes in der Trinität wie ëbensëlpgegenwertic (Steinmeyer 1916: 136,13), einsëlpwesende (Steinmeyer 1916: 136,16) oder ëbenmagenkraft (Steinmeyer 1916: 139,2). Die mittelhochdeutsche Lexikographie hat den Text bisher weitgehend vernachlässigt,10 obwohl er neben einer Fülle von hapax legomena in signifikanter Weise für einen Text im sprachlichen Übergang zwischen althochdeutscher und mittelhochdeutscher Zeit einerseits letzte Belege für in der althochdeutschen Periode gängiges Wortmaterial aufweist, andererseits Erstbelege für Lemmata liefert, deren Auftreten sich im späteren Mittelhochdeutschen weiterverfolgen lässt. Einen ähnlich interessanten Fall hat vor wenigen Jahren Eberhard Nellmann mit seiner Untersuchung der Reimrede „Das neue Deutsch“ vorgestellt, die er plakativ als „Leckerbissen für Lexikonmacher“ bezeichnet (vgl. Nellmann 2005). Besonderes Interesse verdient der mit 94 Versen relativ kurze Text deshalb, weil er mit Neologismen wie buochbîz (Nellmann 2004: 387, V. 59) und || 9 Dies kann u.U. auch dazu führen, dass ein einzelner Artikel des MWB weniger Belege enthält als die noch stärker am Vollständigkeitsanspruch orientierten Vorgängerwörterbücher. 10 Lexers Mittelhochdeutsches Handwörterbuch berücksichtigt den erstmals 1864 von Müllenhoff & Scherer herausgegebenen Text nicht. Über das Bochumer Korpus hat das Wortmaterial jedoch inzwischen Eingang in die neue mittelhochdeutsche Grammatik gefunden. So weist bereits der Band zur Wortbildung zahlreiche Beispiele nach (vgl. Klein, Solms & Wegera 2009: 348).

296 | Gerhard Diehl & Nils Hansen hôchseicher (Nellmann 2004: 390, V. 83) oder Redensarten wie minnet ainer nit, man gicht, / daz er ‚nit apfel essen müg‘ (Nellmann 2004: 390, V. 76) gerade „den nichtliterarischen Sprachgebrauch zu spiegeln scheint“ (Nellmann 2005: 163). Dieser, nach Nellmann wohl älteste sprachkritische Text der deutschen Literatur gehört allerdings mit einer Entstehung um 1400 bereits als „lexikographische Delikatesse“ (Nellmann 2005: 163) der frühneuhochdeutschen Periode an.11 Dass solche Texte, die erst in den letzten Jahren in den Blick der Wissenschaft geraten sind, Überraschungen auch für den Lexikographen bergen können, versteht sich von selbst. Aber wie stark sogar computergestützte Lexikographie von Zufälligkeiten abhängen kann, solange elektronisch vorliegende Texte nicht konsequent komplett lemmabezogen ausgewertet wurden, kann ein weiteres kleines Beispiel demonstrieren. Konrads von Megenberg „Buch der Natur“ ist in der Edition von Pfeiffer (Pfeiffer 1861) und auf der Basis des vom Herausgeber sorgfältig und detailliert erarbeiteten Glossars bereits mit Lexer in die mittelhochdeutsche Lexikographie eingegangen.12 Auch das MWB wertet den – inzwischen maschinenlesbar vorliegenden – umfangreichen Text lexikographisch aus, allerdings aus Zeitgründen wiederum nur über Pfeiffers Glossar. Doch trotz seines beeindruckenden Umfangs (Pfeiffer 1861: 553–807)13 bleiben nicht nur Vertreter des gängigen mittelhochdeutschen Wortschatzes aus dem Bereich der Autosemantika und das ganze Feld der Synsemantika unberücksichtigt, sondern auch das ein oder andere seltener belegte Lemma. So ist das von Pfeiffer vielleicht als geläufig aufgefasste und dementsprechend ignorierte Kompositum manecvirwecheit „Vielfarbigkeit“ (Pfeiffer 1861: 186,23) erst vor kurzem als zufällige Lesefrucht im Rahmen einer anderen Belegerhebung Bestandteil der mittelhochdeutschen Lemmaliste geworden – ein Beispiel dafür, dass selbst ein umfangreicher Bestand maschinenlesbarer Texte allein nur eine nützliche erste Stufe lexikographischen Arbeitens ist. Angesichts der digitalen Verfügbarkeit größerer Textkorpora und der technisch ausgefeilten Möglichkeiten der lemmabezogenen Materialrecherche rücken auch Fragestellungen der historischen Semantik wieder stärker in den Blickpunkt der Forschung. Soweit historische Semantiker ernsthaft empirisch gearbeitet haben, waren sie in gewissem Sinne schon immer Korpuslinguisten. Wie hätten sie ihren Gegenstand auch sonst er-

|| 11 Im FWB wird der Text nach Ausweis des Quellenverzeichnisses nicht ausgewertet. 12 Insgesamt knapp 4100 Wortartikel bei Lexer enthalten einen oder mehrere Belege aus dem Buch der Natur. Damit gehört der Text zu den besonders häufig herangezogenen Quellen. 13 Das entspricht einem Verhältnis von 2:1 Text : Wörterbuch!

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fassen können. […] Was die Erfindung des Tonbandgeräts für die Konversationsanalyse war, könnten die digitalen Korpora für die historische Semantik sein, nämlich der Auslöser für den Anfang einer neuen Blütezeit. Aufgrund der Arbeit mit größeren Korpora sehen wir Dinge, die wir vorher nicht gesehen haben. Vielleicht können wir mit größeren Datenmengen auch die sanften Bedeutungsübergänge, die immer ein Problem der historischen Semantik waren, besser beobachten – wie unterm Mikroskop – und auch plausibler darstellen. (Fritz 2011: 7)

Entsprechende beispielhafte Arbeiten auf der hier skizzierten breiten Materialgrundlage finden sich in den letzten Jahren auch wieder häufiger im In- und Ausland (vgl. z. B. Bons 2009; Erlei 2010; Geeraerts et al. 2012). An dieser Renaissance der historischen Semantik ist auch die Lexikographie auf der Basis ihrer großen Belegmengen und ihres seriellen Materials beteiligt. In den älteren historischen Sprachstufen erreicht man im Zeitalter der digitalen Korpora oft relativ rasch annähernde Vollständigkeit der Belege und damit einen umfassenden Blick auf die synchrone und diachrone Entwicklung einzelner Wortgeschichten. Dennoch bleiben praktische Schwierigkeiten für eine zuverlässige Befundermittlung und -analyse. Trotz der zunehmenden Analysepotentiale der vorhandenen Großkorpora stößt die zu Recht geforderte kleinschrittige Herangehensweise an die Beschreibung der Prozesse des Bedeutungswandels für das Mittelalter immer wieder an ihre praktischen Grenzen. Angesichts von getrennten sprachlichen oder literarischen Großlandschaften, von unterschiedlichen Trägern der Schriftlichkeit, von Textkontinuitäten ebenso wie Überlieferungslücken bleiben vielfach weiße Flecke, auch wenn sich semantische Entwicklungen mit all ihren räumlichen, zeitlichen, textsortenoder sozialgruppenspezifischen Eigenheiten zunehmend genauer beschreiben lassen. Demonstriert sei das am Beispiel des Adjektivs kranc in seiner mittelhochdeutschen Bedeutungsentfaltung. Das Adjektiv kranc hat in der historisch-semantischen Forschung der vergangenen Jahrzehnte besonders mit Blick auf die in frühneuhochdeutsche Zeit fallende Ablösung von siech als plakatives Beispiel für Synonymenschub Interesse auf sich gezogen (Koller: 1991). Obwohl erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts erstmals belegt, gehört kranc mit annähernd 1000 Belegen zu den hochfrequenten Lemmata im Belegarchiv des MWB und zeichnet sich bereits früh durch ein komplexes Bedeutungsspektrum aus. In frühen Belegen tritt kranc u. a. als Übersetzung für lat. debilis und infirmatus auf (BRZW 27; PSM 26,2; GL

298 | Gerhard Diehl & Nils Hansen 3:384:64)14 und beschreibt sehr allgemein einen Zustand von Schwäche oder Defizienz. Häufig ist es starc bzw. dem Abstraktum sterke oder dem Verb sterken gegenübergestellt, etwa in Wendungen wie starc und niht kranc (OTTOK 31181), ähnlich (substantiviert) die starken, niht die kranken (WHVÖST 8272),15 daneben erscheinen kreftic, kreftigen16, aber auch gesunt, z. B. in der Wendung kranc und niht gesunt (ENIKWCHR 6090).17 Im Bereich der Synonymie tritt neben swach (kranc und swach – KLD:KZL 11:3,13)18 häufiger die Verbindung mit böse auf, was auf eine Bedeutungsverwandtheit in diesem Bereich deutet, während ansonsten deutliche Unterschiede in den beiden Bedeutungsspektren vorliegen: Mînen kranken boesen lîp (ENIKWCHR 14623) oder boese kranke augen (BDN 60,5). Auch alt und junc werden mit kranc zusammen in einer Reihung mit dem gemeinsamen Nenner der Schwäche genannt, z. B. die brudere, die so alt oder so junc oder so cranc sint (STATDTORD 70,31) oder ze jung, ze kranch, ze swach ze alse manlichir geschiht (RVEWCHR 24146)19. Daneben fallen feste Verbindungen auf, darunter besonders die Frauen als das „schwache Geschlecht“, z. B. müede was mîn lîp / kranc für war also ein wîp (UVLFRD 269,20).20 Geradezu sprichwörtlich ist mittelhochdeutsch wohl kranc als ein huon (HESLAPK 728 u. ö.; HIOB 757). Von Anfang an ist kranc in seinem Gebrauch nicht auf physische Schwäche beschränkt, sondern greift auch auf den Bereich des Geistigen über, so im Nibelungenlied: von des swertes klanc / wâren sîne witze worden harte kranc (NIBB 2047,2), ähnlich ich wære kranker sinne (IW 3012) oder dô gienc der helt mit witzen kranc (PARZ 169,15). Im Korpus findet sich kranc in dieser Verwendungsweise etwa noch verbunden mit haz (dir enstet niht wol daz, / daz du durch einen

|| 14 Textsiglen, Referenzsystem und verwendete Editionen entsprechen denen des Mittelhochdeutschen Wörterbuchs (MWB) und sind im Quellenverzeichnis zum 1. Bd. oder online unter http://www.mhdwb-online.de/ (28.04.2016) verifizierbar. 15 Vgl. z. B. noch LBARL 10048; HERB 13913; WH 186,6; MACER 72,12 (sterken), ebenso BDN 89,36 u. 403,3; HESLAPK 21925; ORTOLF 58,4; MECHTH 5:13,4; KVMSPH 23,6. 16 Vgl. z. B. PARZ 328,10; HVBURG 3707 (kreftigen), ebenso BDN 362,2. 17 Vgl. auch LBARL 13569. 18 Vgl. noch Ottok 8477; Minneb 1435; RvEWchr 24146. 19 Vgl. z. B. auch noch alt – OVBAIERL. 73,13, STATDTORD 48,15; vom alter kranc – OTTOK 12115; ein alter kranker betrisig man – MINNEB 4892; alt, kranc, unbehulfen – TAULER 179,2; wand er alt waz und krankes libes – CLOSCHR 73,23. Vgl. auch: solt mîn bœser lîp / hie ligen als ein kranc wîp? – ENIKWCHR 15520; böse houbet und krancke fantasien – TAULER 18,30; durch Gott so merkens rechte / mich so ellend kranken lip – GTROJ 7299; krank und ungesund / und von maniger wunden wund – EBD. 14615; wan menslich sin bloede vnde kranc ist – URKCORP 715,2); dâ von werdent die krefte müede, krank und alt – ECKH 5:11,5. 20 Vgl. z. B. auch noch ENIKWCHR 15520; HERB 1579; TANNHHOFZ 75; RVEBAARL 2397; GTROJ 10960.

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kranken haz / dines swertes has verzigen – HERB 12126) und freude (der junge minnewunde / wart an freuden alsô kranc / daz im ezzen unde tranc / begunde leiden und daz leben – KVWENGELH 2173; OTTOK 31253), aber auch mit muot (sô sint die muotes kranken/ gîtes unde hazzes vol – PARZ 675,24; WH 179,30; RVEBARL 11180), ere (ze Rôme ist's bâbstes êre kranc – FREID 151,25; OTTOK 63486) oder liebe (wan im sine sinne / die kranke liebe selwet [‚vernebelt‘] – VÄT 21873). Früh ist auch die Anwendung auf den unbelebten Bereich belegt; so heißt es im Ende des 12. Jahrhunderts entstandenen „liet von Trôye“ Herborts von Fritzlar vnder des / fragete im Vlixes / maniger hande mere, / wa ir burc were / kranc oder stete (HERB 8085), Spervogel warnt ein schifman mac ein krankez schif schiere überladen (MF:SPERV 6:16,221). Im Parzival wird dem kranken messinc der edel rubîn gegenübergestellt (vgl. PARZ 3,16), womit für diesen Bereich eine Bedeutungsverschiebung von ‚schwach, wenig belastbar‘ hin zu ‚schlecht, wertlos‘ gegeben ist, die – weniger gegenständlich – wohl auch in der Klage über krankiu kunst im Wigalois angenommen werden kann (WIG 11665). In geistlichen Kontexten tritt zudem häufiger das Bild von der schwachen ‚irdischen‘ Materie im Gegensatz zur göttlichen auf.22 Hier kann kranc auch die Konnotation ‚nichtig, leer‘ annehmen, vgl. in der wüesten diser kranken werlt (BDN 162,2). In eine andere Richtung weist eine Anzahl von Belegen, in denen kranc in offensichtlich positiver Konnotation im Kontext von Körperbeschreibungen erscheint. Bereits im Parzival werden juncfrowen erwähnt, die mitten kranc seien (PARZ 423,18), Konrad Fleck beschreibt um 1220 ein prächtiges Pferd unter anderem mit den Worten sîn houbet was rehte kranc, / smal, dürre, cleine (FLORE [S] 2758), im „Guten Gerhard“ Rudolfs von Ems wird über einen armen, aber schönen Jüngling berichtet ze rehte groz, ze rehte smal / was er gewahsen unde lanc / minneclich, ze rehte kranc, / starkiu lide wolgetan, / sinewel und wol gedran (RVEGER 3742) und Kraft von Toggenburg sagt von der Minnedame: mündel rôt si hât, / val hâr lang, / kele blank,/ sîten kranc (SM:KVT 5:2,12). Es muss in den genannten Belegen wohl von der Bedeutung ‚dünn, schlank‘ ausgegangen werden, wozu auch die früh bei Wolfram belegte Bezeichnung krenke für ‚Taille‘ – als der schmalsten Partie des Rumpfes – herangezogen werden kann (PARZ 232,2923). Den Bedeutungsübergang von ‚schwach‘ zu erklären, fällt dabei nicht unbedingt leicht; Rudolf Hildebrand hat in seinem Artikel im DWB sogar erwogen, in ‚dünn, schlank‘ die eigentliche Grundbedeutung von kranc zu sehen || 21 Nach Hs. J., 14. Jh. 22 Vgl. noch daz wir krankier nature geschaffen sint – PRGEORG 63,12; EBD. 325,33; also wart Adam […] von kranker materie gemacht – MECHTH 4:18,12; [als Jesus] unser snöde kranke verdorbene nature an sich nam – TAULER 293,22. 23 Z. B. auch WH 155,1; später noch BRUN 271 u. ö.; OTTOK 7941.

300 | Gerhard Diehl & Nils Hansen (vgl. DWB Bd. 11: 2029). Es ist aber wohl von einem Übergang von ‚schwächlich, schmächtig, dürr‘ hin zu ‚mager, dünn, schlank‘ auszugehen, wie ein Beleg in vergleichbarem Kontext bei Herbort von Fritzlar nahelegen kann: Antenor der was harte lanc, / smal vnde doch nicht kranc, / wol gelidet, wol gestalt (HERB 3222), ähnlich er [Flore] hâte ritterlîchiu bein / unde woldstânde waden, / niht ze cranc noch überladen (FLORE [S] 6856). Zu vergleichen ist auch ein Beleg aus dem Erec, hier wieder von einem Pferd: ez was erwünschet alsô: / weder ze nider noch ze hô, / weder ze kurz noch ze lanc, / weder ze grôz noch ze kranc (ER 7343). Die Ableitung krenke ‚Taille‘ wäre dann als Bildung zur übertragenen Bedeutung von kranc zu verstehen, wozu auch passt, dass krenke bei Wolfram auch in der häufiger belegten Bedeutung ‚Schwäche‘ vorkommt (vgl. z. B. PARZ 810,29). Die zeitliche Nähe von Erstbelegung und möglicher Übertragung sowie die in dieser Frühphase des Wortes generell eher spärliche Überlieferungslage erschwert eine detailliertere Aufklärung des Übertragungsweges indes erheblich. Der Übergang zur modernen Bedeutung ‚krank‘ findet erst in frühneuhochdeutscher Zeit statt und ist mittelhochdeutsch nur in Ansätzen greifbar, am ehesten wohl dort, wo die körperlichen Bedingtheiten der Schwäche näher expliziert werden, z. B. in präpositionalen Fügungen: eyn mensche van vallende eder slegen in deme houede crank (OVBAIERL 81,16); krank an dem fiber (PELZB 134,20); krank in dem houbet (MERSWBGR 149). Insbesondere bei prädikativer Verwendungsweise ist aus neuhochdeutscher Perspektive jedoch die Versuchung groß, bereits im 14. Jahrhundert erste Belege in diesem Sinne zu interpretieren, so etwa bei Konrad von Megenberg: sicht er [der Geier] daz sein muoter kranch ist und niht wol gevliegen mag, sô tœtt er si (BDN 229,13). Bis zum Ende der mittelhochdeutschen Periode erscheint kranc aber noch uneingeschränkt als Gegensatz zu starc, wie ein weiterer Beleg aus dem Buch der Natur illustrieren kann: die hirten versuochent, welhiu schâf geleben mügen über den winter, und sprengent eiskaltez wazzer auf ir aller sterz. welhez dann daz wazzer vast von im schütt, daz ist stark; welhez aber des niht tuot, daz ist krank (BDN 154,22). Auch die Belege des späten 14. und frühen 15. Jahrhunderts, die das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch als frühe Belege für die Bedeutung ‚an einer Krankheit leidend‘ anführt, dürften sich noch am Anfang einer Bedeutungsentwicklung befinden, die ihren Abschluss erst in den kommenden Jahrhunderten findet: Dy firmarie wart so gehalden, das der kompthur czu den kranken herren ging jo in 3 wochen eyns (Ziesemer, Gr. Ämterb. 691,36; preuß. 1410); davon soll mann ein siechenmagt unnd kranckhenpflegern halten (Vock, Urk. Hochst. Augsb. 287,7; schwäb. 1392) (FWB: Bd. 8: 1549 f.). Auch wenn – wie das vorliegende Beispiel zeigt – die digitalen Möglichkeiten angesichts wachsender Korpora und zunehmender Vernetzung der unterschiedlichen Forschungsvorhaben immer größeren Erkenntnisfortschritt ver-

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sprechen und in immer kürzerer Zeit dafür sorgen, dass frische quellen zuströmen und auch die alten bei jeder neuen durchsicht noch ausbeute gewähren (Lexer 1992: Bd. 3, III), wird die wissenschaftliche Lexikographie in absehbarer Zeit dennoch keine verhältnismässig leichte arbeit der nachsammelnden sein (Lexer 1992: Bd. 3, III). Trotz des technischen Fortschritts, bei dem die Maschine zum jetzigen Zeitpunkt bereits oft mehr zu sehen scheint, als das Auge des suchenden Lexikographen, bleibt weiterhin der Blick des geschulten Sprachhistorikers oder Wörterbuchmachers notwendig, um das vorliegende Material in seinen Strukturen und seiner Geschichtlichkeit zu sichten und interpretatorisch zu durchdringen.

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Henning Wolf

Historische Lexikographie zwischen Tradition und Zukunft Überlegungen zur Zukunftssicherung des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs Abstract: Einleitend bietet der Artikel einen Überblick über die Entwicklung der (kommerziellen) deutschsprachigen Lexikographie im Umbruch von Print zu elektronischer Publikation seit Mitte der 1990er-Jahre und formuliert Anpassungsnotwendigkeiten für den Erfolg lexikographischer Produkte in der Zukunft. Danach skizziert er die Konzeption und Geschichte des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs (FWB) als Buchprojekt. Nach einem Überblick über die im digitalen Zeitalter zu antizipierenden Wörterbuchnutzerinteressen schlägt er die Brücke zur Aufbereitung der Daten des FWB für eine die Stärken des Wörterbuchs möglichst umfänglich zugänglich machende Online-Präsentation. Dabei wird v. a. auf die nutzerorientierten Anforderungen eingegangen. Im abschließenden Kapitel werden die mittel- bis langfristigen Entwicklungsperspektiven von FWB-online aufgezeigt. Keywords: Datenauszeichnung, Deutschsprachige Lexikographie, Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Mehrwert digitaler Lexikographie, Nutzerinteresse, Online-Lexikographie, Open access, Suchmöglichkeiten, Usability, Wörterbuchinformationsprogramm

|| Dr. Henning Wolf: Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Geiststraße 10, 37073 Göttingen, E-Mail: [email protected]

1 Grundsätzliche Themenstellung Der Einzug der elektronischen Medien in den Alltag der Menschen im Allgemeinen und die Arbeitswelt im Besonderen hat seit den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts die Art und Weise, wie Informationen nachgeschlagen werden, revolutioniert. Dies haben nicht zuletzt die großen traditionellen Enzyklopädie- und Wörterbuchverlage schmerzlich erfahren müssen. Mit dem Siegeszug des Internets und dem damit einhergehenden Mentalitätswandel hin zu einer für den

308 | Henning Wolf Nachschlagenden vordergründig kostenlosen Nutzung hochwertiger Informationen sowie der Generierung bzw. Bereitstellung zahlreicher offener Inhalte im Internet gerieten die über lange Zeit etablierten Geschäftsmodelle der großen Lexikon- und Wörterbuchverlage unter Druck. Gleichzeitig veränderte sich aber auch die Erwartungshaltung der Wörterbuch- und Lexikonnutzer hinsichtlich der Aufbereitung und Darstellung lexikalischer Informationen. Der Versuch vieler Verlage, der rasant steigenden Nachfrage nach Informationsangeboten im Internet durch kostenpflichtige Angebote gerecht zu werden, setzte sich letztlich nicht durch. V. a. im Bereich der allgemeinen Sachlexikographie scheiterte er eindrucksvoll, wie sich im deutschen Sprachraum am Beispiel Brockhaus zeigen lässt.1 Innerhalb von nur etwa 10 Jahren brach der Markt für allgemeine Nachschlagewerke völlig zusammen. Nachdem der BrockhausVerlag in den 1990er-Jahren mit der 19. Auflage der „Brockhaus Enzyklopädie“2 noch das auflagen- und umsatzstärkste gedruckte Werk seiner damals schon beinahe 200-jährigen Geschichte publiziert hatte und seit 1999 mit dem „Brockhaus multimedial“3 im Bereich der elektronischen Offline-Lexika das (trotz eines vergleichsweise hohen Preis- und Qualitätsniveaus) nach Stückzahlen absatzstärkste Lexikon seiner Geschichte veröffentlichte, brachen die Absätze seit Mitte der Zweitausendnuller-Jahre rasant ein.4 Das kostenpflichtige Online-

|| 1 Dass diese Entwicklung nicht auf den deutschen Sprachraum beschränkt war und ist, lässt sich eindrucksvoll am Beispiel der Encyclopedia Britannica (http://www.britannica.com/ [28.04.2016]) belegen. Diese schwankt seit Mitte der 1990er-Jahre trotz einer – bedingt durch die weltweite Verbreitung der englischen Sprache und einen stabilen Absatz ihrer elektronischen (Online-)Versionen im institutionellen Umfeld v. a. der US-Universitäten und Colleges – vergleichsweise soliden Absatzbasis zwischen den unterschiedlichsten Geschäftsmodellen (reines Buchwerk, kostenpflichtige Offline-Version zusätzlich zur Buchversion, reine kostenpflichtige Online-Version, werbefinanzierte Online-Version usw.) bei gleichzeitigem mehrfachem Besitzer- bzw. Managementwechsel. Ähnliche Entwicklungen lassen sich – parallel zum Siegeszug des Internets – auch für alle anderen europäischen Sprachen und die in ihnen verfassten Enzyklopädien feststellen, soweit sie nicht aus kulturpolitischen Erwägungen heraus (staatlich) subventioniert werden (wie z. B. das Store norske leksikon [https://snl.no/] in Norwegen [Zugriff: 28.04.2016]). 2 Die in 24 Bänden von 1986 bis 1994 erschienene 19. Auflage der Brockhaus Enzyklopdie (BE19) übertraf hinsichtlich ihres Absatzes die Erwartungen des Verlags bei weitem und profitierte hierbei v. a. auch von der deutschen Wiedervereinigung. 3 „Der Brockhaus multimedial“ (BMM) war ein in unterschiedlichen Varianten sowohl als CDROM- als auch DVD-ROM-Lexikon von 1999 bis 2010 jährlich in neuen, überarbeiteten Versionen erscheinendes Multimedia-Lexikon, das bald zum Marktführer in Segment der elektronischen Offline-Lexika avancierte. 4 Bereits seit Ende der 1990er-Jahre gingen die Printabsätze kontinuierlich zurück, während immer mehr elektronische Lexika auf CD-ROM und DVD-ROM verkauft wurden. Diese Entwick-

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Angebot „brockhaus-suche-online“, mit dem der Verlag zunächst versuchte, sein Geschäftsmodell online als Abonnement-Service fortzuführen, schaffte es nicht, ausreichend Kunden zu finden und damit kostendeckend zu werden. Und der vielversprechende Versuch, den kostenlosen Informationsangeboten im Internet und speziell Wikipedia ein eigenes werbefinanziertes und damit für den Nutzer kostenfreies Angebot entgegenzusetzen, wurde 2009 nach einem Besitzerwechsel durch den neuen Eigentümer abrupt beendet.5 Damit war das

|| lung wurde auch im deutschsprachigen Raum v. a. von Microsoft vorangetrieben, das 1993 seine Multimedia-Enzyklopädie „Microsoft Encarta“ erstmals veröffentlichte. Aufgrund des Erfolges der „Encarta“ auch im deutschen Sprachraum erschienen in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre eine ganze Reihe unterschiedlich umfangreicher und anspruchsvoller OfflineLexika deutscher Verlage. 1999 reagierte dann auch der Brockhaus-Verlag und veröffentlichte den „Brockhaus multimedial“, der nach wenigen Jahren die „Encarta“ als Marktführer ablöste. Mit der Zunahme der privaten Internetzugänge, dem Wachstum der Bandbreite dieser Zugänge sowie dem Erscheinen und rasanten Wachstum des kostenlosen Online-Lexikons Wikipedia brach seit Mitte der Zweitausendnuller-Jahre aber auch der Absatz der Offline-Lexika ein, weshalb diese Produktgattung bis um 2010 herum praktisch verschwand. 5 Zum Verständnis der Entwicklungen bei den führenden deutschen Lexikon- und Wörterbuchmarken scheint mir hier ein Exkurs zur Geschichte des Ende der 1990er-Jahre mit Abstand wichtigsten deutschen Lexikon- und Wörterbuchverlags sinnvoll. Der Brockhaus-Verlag bildete seit 1984 zusammen mit dem Meyers Lexikonverlag und dem Duden-Verlag die Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG (BIFAB) mit Sitz in Mannheim, in der damit die beiden wichtigsten deutschsprachigen Lexikonmarken sowie die mit Abstand wichtigste Marke der deutschen gegenwartssprachlichen Wörterbücher gebündelt waren. 1988 übernahm der auf Fremdsprachenwörterbücher spezialisierte Münchner Wörterbuchverlag Langenscheidt KG die Aktienmehrheit an BIFAB. 2009 verkauften die BIFAB-Shareholder die Marke Brockhaus mit dem Gros der dieser Marke zugeordneten Lexikoninhalte im Rahmen eines Asset Deals (ohne Übernahme von Mitarbeitern) an Wissenmedia, die Bertelsmann-Lexikontochter, deren primäres Interesse darin bestand, das geplante und unter dem Namen „Meyers Lexikon online“ bereits erfolgreich erprobte werbefinanzierte Lexikonportal „Brockhaus-online“ zu verhindern, um so das eigene Direktvertriebsgeschäft mit Lexika vermeintlich zu sichern. Nach dem Scheitern dieser Strategie verkündete Bertelsmann 2013 das Ende der Lexikonmarke Brockhaus (vgl. dazu: http:// www.boersenblatt.net/625205/ vom 12.06.2013 [Zugriff: 28.04.2016]). Seit Herbst 2015 versucht die schwedische Nationalenzyklopädie nach skandinavischem Vorbild mit von Bertelsmann lizenzierten Brockhausinhalten unter dem Markennamen Brockhaus im deutschsprachigen Markt ein kostenpflichtiges „Prämiuminhalteangebot“ zu etablieren, das sich vorwiegend an institutionelle Abnehmer richtet (vgl. hierzu: http://www.boersenblatt.net/artikel-als_wissens service_im_netz.1036904.html vom 15.10.2015 [Zugriff: 28.04.2016]; das Angebot ist zu finden unter: https://www2.brockhaus.de/ [28.04.2016]). Vgl. zu den Hintergründen der Entwicklung von „Brockhaus online“ auch http://www.buchreport.de/nachrichten/online/online_nachricht/ datum/2011/01/17/die-suchmaschine-ist-der-brockhaus-von-heute.htm vom 17.1.2011 (Zugriff: 28.04.2016).

310 | Henning Wolf Ende der Lexikonmarke Brockhaus besiegelt, die sich trotz ihres hohen Ansehens in der Bevölkerung und eines glaubwürdigen Qualitätsversprechens nicht mit ihren traditionellen Angeboten gegen den Wandel behaupten konnte und deren Aus im Sommer 2014 endgültig verkündet wurde. Aber nicht nur bei der Sachlexikographie, sondern auch im Bereich der Sprachlexikographie verspürten die Verlage seit Beginn des 21. Jahrhunderts den zunehmenden Druck des Internets. Bei den Fremdsprachenwörterbüchern erwuchs ihnen – ähnlich wie der Sachlexikographie durch Wikipedia – eine Vielzahl von im Rahmen von Community-Projekten erstellten ein- oder mehrsprachigen kostenlosen Konkurrenzprodukten (z. B. leo.org, wictionary.org oder dict.cc u. Ä.), auf deren Basis mittlerweile sogar schon ebenfalls kostenlose Wörterbuch-Apps entstanden sind6. Im Verein mit dem sich immer stärker ins Internet verlagernden Nachschlagen brachte dies auch die etablierten Anbieter mehrsprachiger Wörterbücher in Schwierigkeiten, soweit sie sich nicht in der Lage sahen, ihre Inhalte selbst kostenlos und damit auch für Suchmaschinen erreichbar bereitzustellen, da die Buchabsätze ebenso wie der Verkauf elektronischer Offline-Produkte stark zurückgingen. Als prominentes Beispiel hierfür kann in Deutschland der Marktführer bei Fremdsprachenwörterbüchern, die Langenscheidt KG, genannt werden. Diese verweigerte sich einem kostenlosen Online-Angebot hartnäckig, litt zunehmend unter Absatzrückgängen, schwindender Rentabilität und Personalreduzierung und ging 2013 aus dem Familienbesitz in den Besitz eines externen Investors über, unter dessen Ägide Mitte 2015 erstmals ein kostenfreies, werbegestütztes Online-Angebot7 veröffentlicht wurde. Dass die frühzeitige Hinwendung zum Internet nicht nachteiliger als die geschilderte Langenscheidt-Strategie war, zeigt Langenscheidts Hauptkonkurrent Pons. Der Pons-Verlag veröffentlichte (nach Vorstufen seit 2001) 2008 mit „de.pons.com“8 ein Portal mit zahlreichen frei zugänglichen Wörterbuchinhal-

|| Im Juli 2009 übernahm die Cornelsen Bildungsholding die Aktienmehrheit der nunmehrigen Bibliographisches Institut AG von der Langenscheidt KG und der Familie Brockhaus. Es folgte die Umfirmierung in Bibliographisches Institut und 2010 die Umwandlung in eine GmbH. 2013 wurde der Verlagssitz, verbunden mit der Kündigung nahezu aller Angestellten, nach Berlin verlegt, wo aktuell mit einer neu aufgebauten und deutlich kleineren Belegschaft weiterhin Werke unter den Marken Duden, Meyers, Artemis & Winkler sowie Sauerländer verlegt werden. 6 Als ein Beispiel für eine solche Wörterbuch-App sei hier die kostenlose App „Englisch 3.0“ des Anbieters Livio genannt, deren Inhalte von wictionary.org stammen. 7 Vgl. zum Start des kostenlosen Online-Angebots http://www.boersenblatt.net/artikel-langen scheidt.972529.html?nl=newsletter20150624 vom 24.06.2015 [Zugriff: 28.04.2016]; das Angebot selbst ist zu finden unter http://de.langenscheidt.com/ (28.04.2016). 8 Das kostenlose Online-Angebot von Pons ist zu finden unter http://de.pons.com/ (28.04.2016).

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ten, über das durch einen angeschlossenen Online-Shop die verlagseigenen Produkte vertrieben werden und das zudem werbevermarktet wird. Eine zusätzliche Beschleunigung erfuhr die Entwicklung hin zum Nachschlagen im Internet und zum Einbruch der Verkäufe von gedruckten Fremdsprachenwörterbüchern seit den späten Zweitausendnuller-Jahren mit der Etablierung bandweitenstarker Mobilfunknetze und leistungsfähiger Smartphones, die ein Online-Nachschlagen an nahezu jedem Ort und zu jeder Zeit ermöglichen und damit den Nachschlagenden unabhängig von Bibliotheken und festen (PC-)Arbeitsplätzen machen. Etwas anders als in der zweisprachigen Sprachlexikographie stellt sich die Situation bei der einsprachigen gegenwartssprachlichen Lexikographie dar. Dieser Bereich wird im deutschsprachigen Raum seit Jahrzehnten durch die Wörterbücher des Duden-Verlags dominiert. Dennoch leiden auch die Anbieter solcher Wörterbücher – obgleich es bisher in diesem Segment keine nennenswerten Angebote im Stil von Wikipedia oder leo.org bzw. dict.cc gibt – unter der Konkurrenz des Internets, da sich viele Internetnutzer zunehmend auf Rechtschreibprogramme verlassen oder sich gar bei sprachlich-rechtschreiblichen Fragen an den (natürlich im Hinblick auf „richtig oder falsch“ sehr fragwürdigen) Zahlenverhältnissen bei den Ergebnislisten von Google orientieren und immer weniger in gedruckten Wörterbüchern nachschlagen.9 Dieser Entwicklung trug der Duden-Verlag 2011 durch sein erstes kostenloses Onlineangebot „duden-online“10 Rechnung, bei dem eine umfangreiche Wörterbuchsubstanz in Verbindung mit einer elaborierten Suche im Stil von Google frei ins Netz gestellt wurde. Das Erlösmodell sah dabei zunächst nur eine Finanzierung durch die Bewerbung verlagseigener Produkte auf der Seite und deren Verkauf über einen angebundenen verlagseigenen Online-Shop vor. Der Erfolg gab dem Verlag insoweit recht, als das Angebot seine Nutzerzahlen innerhalb weniger Monate vervielfachte, sodass der Verlag 2013 mit einer allgemeinen Werbevermarktung von „duden-online“ starten konnte. Inwieweit dieses Geschäftsfeld ausreichen wird, die vermutlich auch weiterhin schwindenden Printumsätze zu kompensie-

|| 9 Bei Letzterem bleibt naturgemäß die Frage nach richtig und falsch faktisch unbeachtet, da es selbstverständlich vorkommen kann, dass die Mehrzahl der per Google-Suchergebnis gefundenen Textstellen gegen die jeweils infrage stehende Rechtschreib- und/oder Grammatiknorm verstößt, die selbstverständlich nicht per Mehrheitsentscheid der im Internet Publizierenden zustande kommt, sondern im deutschen Sprachraum hinsichtlich der Rechtschreibung durch den am Institut für deutsche Sprache (IDS) angesiedelten Rat für deutsche Rechtschreibung festgelegt wird (http://www.rechtschreibrat.com/ [28.04.2016]). 10 Das kostenlose Online-Wörterbuch von Duden ist zu finden unter http://www.duden.de/ woerterbuch (28.04.2016).

312 | Henning Wolf ren und auch weiterhin eine qualitativ hochwertige verlagseigene Lexikographie zu sichern, muss die Zukunft zeigen. Die aktuelle Entwicklung bei der Rezeption lexikographischer Inhalte lässt sich vor dem Hintergrund des vorstehend Geschilderten wie folgt zusammenfassen: 1. Das jahrhundertelang durch die Nutzung gedruckter Lexika und Wörterbücher geprägte Nachschlageverhalten hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten rasant zugunsten der Informationsbeschaffung im Internet verändert. In vielen Zusammenhängen und von zunehmend vielen Menschen werden Informationen nur noch im Internet und nicht mehr in haptischen Büchern oder Zeitschriften in Bibliotheken nachgeschlagen. Dieser Trend hat sich durch die Etablierung der mobilen Internetnutzung mithilfe von Smartphones nochmals deutlich verstärkt. 2. Das Nutzungsverhalten der Nachschlagenden hat sich darüber hinaus insoweit verändert, als eine übersichtliche, schnell erfassbare und klar strukturierte Informationspräsentation eine immer größere Rolle spielt, während die Bereitschaft zum Durcharbeiten unübersichtlicher Textmengen fortdauernd deutlich zurückgeht. Dieser Trend zur übersichtlichen und klar strukturierten Visualisierung lässt sich übrigens nicht nur bei elektronischen Produkten, sondern auch bei gedruckten Werken (wie z. B. Magazinen, Ratgeberliteratur, Fachbüchern u. Ä.) beobachten. Insoweit gewinnen eine übersichtliche Nutzeroberfläche (GUI; engl. Graphical User Interface), eine sich intuitiv erschließende Übersichtlichkeit und Nutzbarkeit aller Funktionalitäten (Usability) und das standardkonforme Verhalten der Wörterbuchsoftware an Bedeutung. 3. Die Bereitschaft der Nutzer, im Internet für Informationen Geld zu bezahlen, ist trotz vielfältiger Versuche zahlreicher Rechteinhaber und Informationsproduzenten außerhalb des B2B-Bereichs nach wie vor gering. Dies macht – bei Wegfall der Einnahmen für eine Printverwertung – neue Modelle für die Refinanzierung kommerzieller lexikographischer Projekte nötig. 4. Das Quasimonopol der etablierten Wissenschafts-, Lexikon- und Wörterbuchverlage bei der Publikation umfangreicher Nachschlagewerke besteht nicht mehr. Daneben sind im Internet Formen des Selfpublishing durch Autoren bzw. Autorengruppen (zu denen z. B. auch Wissenschaftler und Wissenschaftsorganisationen zählen), der Vermarktung von lexikographischen Inhalten durch Technologiefirmen und nicht zuletzt communitygetriebene Publikationsformen wie Wikipedia getreten. 5. Gemeinsam ist allen diesen Formen, dass der Hauptzugang (bei allgemeinen Nachschlagewerken im Schnitt mehr als 80 % der Zugriffe) zu allen Nachschlagemedien über die jeweils gängigen Internet-Suchmaschinen (in

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6.

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Deutschland v. a. Google) erfolgt. Kostenpflichtige Angebote schließen sich von diesem Zugang weitestgehend selbst aus. Dies gilt in geringerem Maß auch für die spezialisierte Fachlexikographie, soweit sie nicht nur eine enge Fachklientel ansprechen will. Die Auffindbarkeit der Nachschlagewerke und damit der initiale Schritt zu ihrem Erfolg entscheidet sich also anhand ihrer Sichtbarkeit in den oberen Rängen der Suchergebnisseiten der Suchmaschinen. Damit haben die Suchmaschinenbetreiber faktisch die Verlage als (Haupt-)Vermarkter der Wissensangebote abgelöst, ohne jedoch in einem unmittelbaren Vertragsverhältnis mit den Inhalteproduzenten zu stehen. Die genannten sechs Punkte treffen nicht nur für reichweitenstarke allgemeine Nachschlagewerke zu, sondern gelten – ggf. mit dort weniger einschneidenden Folgen – auch für spezialisierte Fach- und Nischenprodukte und damit auch für wissenschaftliche Nachschlagewerke wie z. B. das „Frühneuhochdeutsche Wörterbuch“.11

Daraus lässt sich für die Problemstellung „Lexikographie zwischen Tradition und Zukunft“ ein klares Diktum ableiten, dessen Gültigkeit sich auch nicht auf die allgemeine Lexikographie beschränkt, sondern tendenziell auch für die fachspezifische, wissenschaftliche Lexikographie gilt: Auf Dauer werden nur diejenigen Lexika und Wörterbücher relevant sein, d. h. in nennenswertem Umfang von ihren potentiellen Nutzern konsultiert werden, die – nicht nur nachgefragte Informationen anhand eines fundierten Informationsprogramms bieten, sondern – diese Informationen auch im Internet kostenfrei für den Nutzer anbieten sowie – sie so aufbereiten, dass diese sowohl durch Suchmaschinen optimal indiziert als auch

|| 11 Bei Fachwörterbüchern und Fachlexika sowie v. a. bei wissenschaftlichen Wörterbüchern ist der Zwang zur Nutzung auch schlecht erreichbarer Publikationen zwar ungleich höher als bei allgemeinen Nachschlagewerken, die Dynamik der vorab geschilderten Entwicklungen gilt dort jedoch ebenfalls, sodass davon auszugehen ist, dass sich auch in diesem Bereich letztlich v. a. diejenigen Nachschlagewerke dauerhaft werden halten können, die sich diesen Entwicklungen anpassen.

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durch die Nutzer schnell erfasst und im Hinblick auf das jeweils individuell Nachgefragte gescannt werden können.12

Im Folgenden möchte ich dies nun am Beispiel des „Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs“ (FWB) näher erläutern. Dazu werde ich zunächst kurz das FWB als traditionelles Print-Wörterbuch vorstellen, bevor ich mich dann dem Ausblick auf das zukünftige „FWB-online“ zuwenden will.

2 Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch als klassisches Printwerk Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch ist ein wissenschaftliches Wörterbuch, das sich an alle mit der Sprache und Geschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit im hochdeutschen Sprachraum Befassten richtet. Damit ist es implizit interdisziplinär ausgerichtet und spricht tendenziell alle Vertreter der Wissenschaftsdisziplinen an, deren Gegenstände hauptsächlich über die textuelle Überlieferung zugänglich bzw. sogar sprachlich konstituiert sind. Neben Germanisten und Historikern (jedweder Ausrichtung) sind dies v. a. auch Juristen und Theologen, aber letztlich auch ein nichtwissenschaftliches Publikum, das sich aus unterschiedlichen Gründen (z. B. Genealogie, Ritterspiele, Rollenspiele usw.) für das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit interessiert. Das FWB beschreibt den Wortschatz des Hochdeutschen von der Mitte des 14. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Es handelt sich also um ein historisches Sprachstadienwörterbuch, das nach seiner Fertigstellung die Lücke zwischen den Wörterbüchern des Mittelhochdeutschen (Benecke/Müller/Zarncke; Lexer; Mittelhochdeutsches Wörterbuch [MWB]) und dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (DWB), das den Wortschatz des Neuhochdeutschen beschreibt, schließen wird. Es wird derzeit als Forschungsprojekt der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen fertig erarbeitet und als Buch im Verlag de Gruyter in Berlin publiziert. Daneben ist – verbunden mit der Aufnahme des

|| 12 Natürlich werden gerade auch im wissenschaftlichen Umfeld weiterhin klassische, teilweise schlecht strukturierte und nur gedruckt vorliegende Nachschlagewerke genutzt werden (müssen), soweit sie unersetzbare Informationen bereitstellen (Primat des Inhaltes). Ihre Nutzungsfrequenz wird sich jedoch sehr wahrscheinlich, verglichen mit leicht zugänglichen und nicht immer inhaltlich zwingend gleichwertigen Alternativen, tendenziell verringern. Damit droht dann bedauerlicherweise auch ein Verlust von Wissen durch Nichtnutzung dieser Werke.

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FWB in das Akademienprogramm – die Erstellung einer kostenlosen OnlinePräsenz des FWB geplant, zu der aktuell die Vorarbeiten laufen.

2.1 Geschichte und Methoden der Erarbeitung Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch wurde 1977 von den Germanisten Robert R. Anderson, Ulrich Goebel und Oskar Reichmann gegründet. Die lexikographische Konzeption des Wörterbuchs und die Zusammenstellung des Quellenkorpus erarbeitete Oskar Reichmann im gleichen Jahr. Die Leitung des Projekts war von Anfang an bei seinem Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Sprachgeschichte an der Universität Heidelberg angesiedelt. Nachdem sich der ursprüngliche Plan der Gründer, ein dreibändiges Werk zu erarbeiten, bald als zu klein dimensioniert erwiesen hatte, wurde schnell klar, dass der Text des nunmehr auf 13 Bände geplanten Werkes nicht von einer einzelnen Person verfasst werden konnte. Deshalb unterteilte Oskar Reichmann die gesamte Wörterbuchstrecke in verschiedene Teilstrecken und versuchte, diese dann von jeweils unabhängig voneinander agierenden Autoren bzw. Autorenteams erarbeiten zu lassen. Dies führte zu dem Ergebnis, dass bis 2012 sieben Bände des Wörterbuchs fertiggestellt werden konnten, deren Erstellung allesamt von Heidelberg aus koordiniert wurde. Seit 2013 wird das FWB nun als Forschungsprojekt der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen fortgeführt. Die Mitarbeiter(innen) der Forschungsstelle werden das Vorhaben voraussichtlich bis zum Jahr 2027 vollenden. Für das FWB wird ein ca. 400 000 Seiten umfassendes Korpus mit mehr als 1000 Textquellen sämtlicher Textsorten aus dem gesamten hochdeutschen Sprachraum aus der Zeit zwischen der Mitte des 14. und der Mitte des 17. Jahrhunderts ausgewertet. Es erfasst dabei nicht nur den allgemeinsprachlichen Wortschatz des Frühneuhochdeutschen, sondern weitgehend auch denjenigen seiner wichtigsten Varietäten, ohne dabei jedoch zu einem Spezialwörterbuch z. B. für bestimmte Dialekte, Fachsprachen, Soziolekte, Einzeltexte oder Einzelautoren zu werden. Von Beginn an folgte das FWB dem zunehmend rasanten Wandel der Technik. Wurden die ersten Lieferungen noch mit der Hand auf Papier geschrieben und gingen als Typoskript an den Verlag, so kam es Ende der 1980er-Jahre erstmals zum Einsatz des Computers bei der Erfassung des Wörterbuchtextes, der dann als Diskette an den Verlag geschickt wurde. Und auch in der Folgezeit nutzten die Herausgeber die Möglichkeiten des technischen Fortschritts. So wurde nicht nur die Datenübermittlung den jeweiligen Standards angepasst

316 | Henning Wolf (CD-ROM, E-Mail), sondern auch für die Datenerfassung, also den eigentlichen redaktionellen Prozess, kamen bald elektronische Redaktionssysteme zum Einsatz. Heute arbeitet die Forschungsstelle Frühneuhochdeutsches Wörterbuch mit einem auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Redaktionssystem13, das zunächst ein auf die Buchherstellung optimiertes Datenformat erzeugt. Die aktuelle Herausforderung besteht darin, die für die Printversion erstellten FWB-Daten in ein für die elektronische Nutzung des FWB optimiertes XML-Format zu konvertieren, in dem möglichst alle im Wörterbuch enthaltenen Informationen ausgezeichnet sind, und damit die Grundlage dafür zu legen, dass das FWB onlinefähig und maschinenlesbar wird. Das Hauptaugenmerk bei diesen Arbeiten liegt darauf, dafür zu sorgen, dass möglichst alle implizit und explizit im FWB enthaltenen Informationsschätze den Nutzern im entstehenden Online-Angebot einfach und übersichtlich zugänglich gemacht werden.

2.2 Aufbau und Informationsprogramm der Artikel Die Artikel des FWB folgen einem eigens für dieses Wörterbuch entwickelten Informationsprogramm. Dieses enthält 13 Positionen, von denen das Lemma, die Bedeutungserläuterung, die Angabe onomasiologischer Felder, von Phrasemen, Syntagmen und Wortbildungen sowie die Belege die wichtigsten sind. Im Einzelnen (und der Reihenfolge ihres Auftretens im Artikel) handelt es sich dabei um die folgenden möglichen Positionen:14 – Lemma – Angaben zur Grammatik (Wortart, Flexionsmorphologie) – Angaben zur Etymologie – Angaben zum Geltungsbereich (Raum, Zeit, Quellentyp) – Bedeutungsangabe – Angaben zur Phrasembildung – Angaben zur onomasiologischen Vernetzung (Synonyme) || 13 Aktuell handelt es sich hierbei um eine speziell auf die Bedürfnisse des FWB angepasste und um zahlreiche Funktionen erweiterte Version des freien Texteditors jEdit (vgl. http:// www.jedit.org/ [28.04.2016]). 14 Natürlich umfassen nicht alle Artikel des FWB alle möglichen Informationspositionen; nicht zu jedem Wort gibt es z. B. Gegensätze oder Wortbildungen. Das Informationsprogramm gibt jedoch die inhaltliche Struktur aller Wörterbuchartikel einheitlich vor und kann damit auch als Gerüst für die semantische Anreicherung der Online-Daten des FWB dienen (siehe dazu 5.1).

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Angaben zur onomasiologischen Vernetzung (Antonyme) Angabe von Syntagmen Angaben zur Wortbildung Quellenzitate mit bibliographischen Kurzangaben sowie Raum- und Zeitangaben Belegstellenangaben

Jede der Positionen kann durch einen je eigenen Kommentar ergänzt werden. Ziel dieses umfangreichen und elaborierten Informationsangebots ist letztlich nicht nur die Bereitstellung der jeweiligen Einzelinformationen, sondern gerade auch bei geisteswissenschaftlich und kulturhistorisch interessanten Wörtern eine Offenlegung der Unterschiede zwischen dem Sprachgebrauch in frühneuhochdeutscher Zeit und dem heutigen und damit dem Unterschied im Denken, Fühlen und Handeln zwischen den heutigen Nutzern des Wörterbuchs und den Menschen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, soweit sich dies im Gebrauch der erfassten Wörter widerspiegelt. Damit versteht sich das FWB explizit nicht nur als Hilfsmittel für alle an den sprachlichen Erzeugnissen der frühneuhochdeutschen Epoche Interessierten, sondern primär auch als eigenes (sprach-)historisches Forschungsprojekt, dessen Erkenntnisse den Nutzern möglichst umfassend und leicht zugänglich gemacht werden sollen.

2.3 Darstellung im Buch Wie alle kommerziell gedruckten Nachschlagewerke unterliegt auch das FWB den räumlichen Beschränkungen, die sich v. a. daraus ergeben, dass die Kosten für die Produktion und den Vertrieb des Buches u. a. abhängig von seinem Umfang sind, weshalb darauf geachtet werden muss, die Inhalte – soweit möglich – zu komprimieren. Dies führt bei allen gedruckten Nachschlagewerken dazu, dass durch Nutzung von Abkürzungen und die Reduzierung von Neuzeilen, Leerzeilen und Durchschuss bzw. allgemein von Weißraum ebenso wie durch eine inhaltliche Informationsverdichtung möglichst viel Information auf möglichst geringem Raum präsentiert wird. Darunter leidet so gut wie immer die Übersichtlichkeit der Informationspräsentation; Ergebnis ist – zumal bei großen Lexikon- oder Wörterbuchartikeln – häufig die „Bleiwüste“. Der Versuch, dem im Rahmen der Buchgestaltung durch Einsatz von Fett-, Kursiv- und Kapitälchendruck entgegenzuwirken und so die Übersichtlichkeit zu verbessern, mildert das Problem, kann es jedoch nicht grundsätzlich beseitigen.

318 | Henning Wolf All diesen Beschränkungen kann sich natürlich auch das FWB in seiner gedruckten Form nicht entziehen. Auch hier gehen unterschiedliche Informationspositionen – höchstens durch Spiegelstriche getrennt – nahtlos und ohne Zeilenumbruch ineinander über, auch hier beginnen neue Belegzitate nicht jeweils in einer neuen Zeile, auch hier finden sich zahlreiche Abkürzungen und Kurztitel, die im Zweifelsfall aufwendig mithilfe des Abkürzungsverzeichnisses bzw. der Quellen- und Literaturverzeichnisse aufgelöst werden müssen usw. Dies geht auch hier zulasten der Übersichtlichkeit der Darstellung und der Einfachheit der Nutzung. Dass Letztere zumal bei Verweisen auf andere Artikel durch die medienbedingte Notwendigkeit, ggf. andere Lieferungen oder Bände des Werkes heranzuziehen und dort nach dem Verweisziel zu suchen, erschwert wird, mag hier nur am Rande angemerkt werden. Und letztlich befördert natürlich auch die rein körperliche Größe eines vielbändigen Wörterbuchs seine allseitige Verfügbarkeit nicht gerade.

3 Überlegungen zur Qualität von Lexikographie zwischen Buch und Internet Um hier gleich einem Missverständnis vorzubeugen: Es geht nicht darum, den über Jahrhunderte mithilfe guter Buchgestaltung optimierten Usus der Darstellung lexikographischer Inhalte in Büchern schlechtzureden. Und schon gar nicht geht es darum, die klassische Lexikographie mit ihren oft hervorragenden und klar strukturierten Inhalten abzuqualifizieren. Worum es stattdessen geht, ist, darauf hinzuweisen, dass der sowieso stattfindende Umbruch in der Nutzung lexikographischer Angebote weg vom Buch und hin zu Online-Angeboten nicht nur hinsichtlich der Nutzungssituation (Verfügbarkeit tendenziell immer und überall), sondern auch hinsichtlich der Präsentation von Lexika und Wörterbüchern neue Chancen eröffnet, welche die Präsentation „zwischen zwei Buchdeckeln, die schließen müssen“ nicht hatte und hat. Dass dabei der auf einer Online-Seite tendenziell unbeschränkt zur Verfügung stehende Raum allein keine Verbesserung per se ist, sondern den Lexikographen und den mit lexikographischen Online-Angeboten befassten Webdesignern nur die Möglichkeit gibt, die gestalterischen Beschränkungen des Buches hinter sich zu lassen und die Informationen übersichtlicher und nutzerfreundlicher zu präsentieren, ist eine Binsenweisheit, die man sich jedoch immer wieder vor Augen führen sollte. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang auch bei Online-Wörterbüchern die bewusste und dem jeweiligen Wörterbuch und seinen Inhalten angepasste Gestaltung der unterschiedlichen Seitentypen des Angebots (Arti-

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kel, Suche, Suchergebnis usw.). Es gilt dabei der Leitsatz „Form follows function“, d. h. die Inhalte und die daraus abzuleitenden Funktionalitäten präjudizieren die Gestaltung. Hierzu haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten bereits bewährte Standards herausgebildet, die jedoch in jedem konkreten Einzelfall bei der Erstellung neuer Wörterbuchseiten dem konkreten Wörterbuch und seinen Inhalten angepasst werden müssen. Dass sich aber natürlich die Qualität eines Wörterbuches nicht in erster Linie daran messen lässt, „wie schön es daher kommt“, sondern wie gut seine Inhalte sind, d. h. wie gut seine lexikographische Konzeption und deren Umsetzung ist, sollte eigentlich selbstverständlich sein, soll aber hier vor dem Hintergrund lexikographischer „Jedermanns-Angebote“ – nicht nur, aber gerade auch im Internet – durchaus betont werden. Denn natürlich kann auch mithilfe der elektronischen Datenverarbeitung immer nur das aus einer lexikalischen Substanz herausgeholt werden, was – um es salopp zu sagen – zuvor von Menschen (bei Nachschlagewerken im Idealfall von gut ausgebildeten und ggf. auf dem entsprechenden Fachgebiet qualifizierten Lexikographen) hineingesteckt wurde.15 Dies ist dort umso wichtiger, wo es sich um Fachlexikographie und/oder wissenschaftliche Lexikographie handelt, deren primäre Rezipienten Fachleute bzw. die wissenschaftliche Community sind und die dementsprechend hohe Ansprüche zu befriedigen haben. Dass die Erarbeitung solcher hochwertiger und oft aus inhaltlichen Gründen umfangreicher Wörterbücher relativ lange Erarbeitungszeit und größere Teams von Lexikographen erfordert, ist evident. Daran ändern auch die modernen informationstechnologischen Möglichkeiten nichts, die hierbei zwar wertvolle Unterstützung leisten können, den qualifizierten Lexikographen aber nicht zu substituieren in der Lage sind. Inwieweit unsere Gesellschaft willens ist, solche Projekte – wie in Vergangenheit und Gegen|| 15 Bei diesem „Hineinstecken“ handelt es sich klassischerweise um die direkte Eingabe von Wörterbuchtext durch Lexikographen. Es kann sich aber auch um die Generierung von Inhalten handeln, die durch das Erstellen und Ausführen von Algorithmen zustande kommen, die bereits anderweitig vorhandene, aber eben auch von Menschen geschriebene Daten auswerten oder miteinander kombinieren. Das Ergebnis einer solchen Textgenerierung muss dann jedoch seinerseits wieder durch fachkompetente Menschen bewertet und weiterverarbeitet werden, welche die Passgenauigkeit und inhaltliche Qualität des Ergebnisses sowie seine Interpretation und Bewertung verantworten müssen. Dass die nach rein formalen Kriterien erfolgende, oberflächliche Zusammenstellung von Textfragmenten nicht zwingend zu Erkenntnisfortschritten führt, sondern oft eher „nur“ als Materialsammlung taugt, belegen schon seit Jahrhunderten zahlreiche Kompilationen. Daran ändern auch die explodierenden Datenmengen im Zeitalter von Big Data nichts Grundsätzliches – im Gegenteil bergen diese die Gefahr, dass das Herausarbeiten des Wesentlichen aus der Menge der sich zahllos wiederholenden Daten noch schwerer zu bewerkstelligen ist als in übersichtlicheren, klassischen Korpora.

320 | Henning Wolf wart – auch zukünftig zu finanzieren, sei es durch Subventionierung der Erstellung mit öffentlichen oder privaten Mittel oder durch Kauf der so erarbeiteten Substanzen, wird darüber entscheiden, ob diese Art der Lexikographie eine Zukunft hat. Der Bedarf dafür wird durch die nach wie vor exponentiell ansteigende Menge des menschlichen Wissens ebenso wenig sinken wie die Ansprüche an hochwertige Nachschlagewerke. Das Medium, in dem diese Werke (überwiegend) genutzt werden, ändert sich, nicht jedoch der Anspruch an die Werke.16

4 Antizipierte Wörterbuchnutzerinteressen im digitalen Zeitalter Vor dem Hintergrund der technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte hat sich eine weitgehende Veränderung der Arbeitsmittel und Arbeitsgewohnheiten gerade auch in den geisteswissenschaftlichen Fächern ergeben. Eine ganz wesentliche Rolle dabei spielen zwei Faktoren, nämlich einerseits die Etablierung des Computers (aktuell v. a. PCs, Laptops, Tablets, Smartphones usw.) als weitgehende Ablösung für handschriftliches Exzerpt und maschinenschriftliches Manuskript sowie andererseits die Durchdringung der Arbeitswelt durch das Internet mit dessen enormem Informationsangebot. Daraus haben sich spezifische neue Benutzungsansprüche gerade auch an lexikographische OnlineProdukte entwickelt, deren wesentliche im Folgenden kurz skizziert werden sollen: 1. Der Regelarbeitsplatz des modernen Wörterbuchnutzers ist zwar nach wie vor sein Schreibtisch, die Bibliothek, das Archiv oder ähnliche Orte, aber sein Instrumentarium und seine Hilfsmittel haben sich verändert. Natürlich arbeitet er auch weiterhin mit Büchern und Archivalien, aber dabei haben die digitalisierten Bibliothekskataloge schon lange die traditionellen Zettelkataloge ersetzt, und zunehmend verdrängen digitalisierte Zeitschriften die gedruckten Zeitschriften sowie digitalisierte Quellen die klassischen, gedruckten Editionen. All dies setzt den Zugang mithilfe des PCs (oder Macs) || 16 Lobenstein-Reichmann hat in zwei Aufsätzen 2007 und 2009 deutlich herausgearbeitet, dass Lexika und Wörterbücher gerade im Zeitalter der aktuellen Medienrevolution, die u. a. eine enorme Ausweitung der zur Auswertung bereitstehenden Datenmenge mit sich bringt, eine unersetzliche Wegweiserfunktion haben, solange sie lexikographisch einwandfrei erarbeitet und qualitativ hochwertig strukturiert sind und damit hermeneutisch erarbeitetes Wissen bieten; vgl. Lobenstein-Reichmann (2007; 2009).

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voraus, der ja sowieso zur eigenen Textproduktion, zur elektronischen Kommunikation, zur Internetrecherche u. v. m. selbstverständlich eingesetzt wird. Und was liegt dann näher, als mithilfe dieses Allroundarbeitsmittels auch möglichst alle anderen machbaren Nachschlagevorgänge ausführen zu wollen und damit eben auch das Nachschlagen in Wörterbüchern. Im Zeitalter von WLAN, Internetsticks, Flatrates und Smartphones stehen diesem Wunsch nach allzeitiger Verfügbarkeit an nahezu jedem Ort kaum mehr wesentliche technische Hindernisse entgegen. Ein für die Nutzer wesentlicher, v. a. auch inhaltlicher Mehrwert gut aufbereiteter und erschlossener digitaler Nachschlagewerke gegenüber dem Buch ist die einfache, zugleich aber auch möglichst zielgerichtete Durchsuchbarkeit der Gesamtsubstanz. Dabei sollte sich diese Durchsuchbarkeit möglichst nicht in einer (letztlich nur die Möglichkeiten des Buchs wiederholenden) Lemma-Suche und einer reinen (letztlich unpräzisen) Volltextsuche erschöpfen. Erfahrene Nutzer elektronischer Medien sind es vielmehr gewohnt, als Standardsuche auf eine google-ähnliche Suche (ein Sucheingabefeld, Eingabemöglichkeiten mit den üblichen Funktionen wie Boolesche Operatoren, Wildcards und Anführungszeichen) zuzugreifen, die ihnen ein nach dem antizipierten breitesten Nutzerinteresse geranktes Suchergebnis liefert. Für den Fall, dass diese Suche nicht das gewünschte/erwartete Suchergebnis bietet, erweisen sich gerade für Nutzer aus dem wissenschaftlich-professionellen Bereich elaborierte „Expertensuchen“, mit deren Hilfe über ein feingliedriges Angebot fakultativ einstellbarer Einstellungen auf die Tiefenstruktur der zu durchsuchenden Substanz zugegriffen werden kann, als hilfreich und zielführend. So lassen sich auch für einen IT-Laien unschwer komplexe Suchanfragen mit Merkmalskombinationen ausführen, deren Ergebnisse durch Lektüre des gedruckten Nachschlagewerks nur extrem aufwändig bis gar nicht zu erlangen wären. Ein weiteres Must-have jeder aktuellen elektronischen Nachschlageapplikation, die sich die Mehrung des Nutzens ihrer Benutzer als ernsthaftes Ziel gesetzt hat, besteht in einem übersichtlichen und klar gegliederten GUI. Dessen Aufbau und Gestaltung sollte sich an den durch die von den zu erwartenden Nutzern schon allein aufgrund ihrer Reichweite vermutlich hauptsächlich besuchten Webseiten (Suchmaschinen wie Google, PortalSeiten wie web.de, Shop-Seiten wie Amazon, Nachrichtenseiten wie Spiegel-online usw.) und der von ihnen genutzten Software (v. a. die OfficeAnwendungen) orientieren. Im Fokus aller Bemühungen sollte dabei die Usability der Seite stehen. Unübersichtliche Seiten, komplizierte Nutzerführungen, verschachtelte Menüs u. Ä. schrecken Nutzer ab und führen erfahrungsgemäß häufig zum frühzeitigen Abbruch der Nutzung von Webseiten.

322 | Henning Wolf Zudem können sie nicht nur die Freude an der Nutzung mindern, sondern auch den Erfolg. Und warum sollte man eine Website, die man (ggf. trotz guter Inhalte) aufgrund ihrer Usability-Mängel öfters ergebnislos und frustriert verlässt oder zumindest nur widerstrebend nutzt, immer wieder gerne aufsuchen? 4. Ein weiterer Mehrwert guter elektronischer Nachschlagewerke ist die interne und externe Vernetzung der Substanzen mithilfe von Hyperlinks. Dabei sollte sich die interne Vernetzung einer Wörterbuchapplikation möglichst nicht nur auf die direkten (auch im Printprodukt entsprechend klar ausgezeichneten) Verweise innerhalb der lexikalischen Substanz beschränken, sondern im Idealfall sollte jedes Wort des Nachschlagewerks durch einfaches Doppelklicken in der Gesamtsubstanz suchbar sein. Die eigentlichen (redaktionell erarbeiteten) Verweise müssen dagegen unbedingt als Hyperlinks ausgeführt sein und so durch einfaches Anklicken einen Sprung zum Ziel des Verweises ausführen. Dass man über die „zurück“-Funktion natürlich jederzeit auch ohne Blättern oder erneute Suche sofort zum Ausgangsverweis zurückkommen kann, versteht sich von selbst. Eine weitere Form der quasi erweiterten internen Verlinkung stellen Links zu Abkürzungs-, Literatur- und Quellenverzeichnissen sowie zu Benutzungshinweisen dar, welche die eigentliche Wörterbuchsubstanz ergänzen und die dort meist nur sehr verkürzt dargestellte Information vervollständigen. Über die interne Verlinkung hinaus erwartet der Nutzer von lexikalischen Online-Werken mittlerweile aber auch eine möglichst weitgehende Vernetzung mit externen Seiten, soweit dies sinnvoll und für die Nutzung der Seite hilfreich ist. Dies gilt für digitalisiert vorliegende, frei zugängliche Literaturtitel ebenso wie für entsprechend verfügbare Quellen. Auf diese Weise wird es dem Wörterbuchnutzer ermöglicht, über die Lektüre der mehr oder minder kurzen Zitate und Belegstellen hinaus auf die Quellen des Wörterbuchs direkt zuzugreifen und so ggf. auftretende Fragen schnell und unkompliziert klären zu können. 5. Ausgehend von Portal- und Shopping-Websites hat sich bei vielen Internetnutzern der Wunsch nach der Individualisierbarkeit von Webseiten auf der Basis eines persönlichen Nutzerbereichs herausgebildet. Mit einem solchen persönlichen Bereich/Zugang können u. a. Lesezeichen gesetzt und verwaltet, Anmerkungen und Notizen angebracht, Suchergebnisse gespeichert und weiterverarbeitet sowie individuelle Artikellisten bearbeitet und verwaltet werden. Im Extremfall kann in einem solchen Bereich sogar die Anlage eigener Wörterbuchartikel durch den Nutzer erlaubt und in Kombination mit einer Austauschplattform ein erster Schritt in Richtung einer

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kollaborativen Weiterentwicklung der zugrundeliegenden lexikalischen Substanz durch die Nutzercommunity gemacht werden. Als Fazit kann also zusammengefasst werden, dass ein Online-Wörterbuch, welches die aktuellen Anforderungen erfüllen will, – erstens auf möglichst allen (auch mobilen) Plattformen jederzeit und an potenziell allen Orten verfügbar sein, – zweitens ausgefeilte Suchmöglichkeiten bereitstellen, – drittens über eine klar strukturierte, intuitiv nutzbare und nach hohen Usability-Standards gestaltete Oberfläche verfügen, – viertens umfassend intern sowie extern vernetzt und – fünftens womöglich noch mit einem persönlichen Bereich für seine Nutzer ausgestattet sein sollte. Inwieweit die aktuellen Planungen für das zukünftige FWB-online diese Herausforderungen aufgreifen und wie ihnen entsprochen werden soll, wird Thema des folgenden Kapitels sein.

5 Das FWB als Online-Wörterbuch Die Online-Präsenz des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs darf nicht als Selbstzweck gesehen werden, sondern dient vor dem Hintergrund des in Absatz 1 Gesagten der Zukunftssicherung des Wörterbuchs und des in ihm enthaltenen Wissens. Deshalb müssen sich alle Planungen an dem Nutzen für die Nachschlagenden messen lassen, da nur dieser „Kundennutzen“ sicherstellt, dass das Wörterbuch auch in Zukunft – und via Internet dann möglichst deutlich mehr als in der analogen Gegenwart – genutzt wird. Insoweit versteht sich FWB-online durchaus auch als ein Pilotprojekt einer nutzerorientierten wissenschaftlichen Online-Lexikographie, das sich die Erfahrungen der einschlägigen kommerziellen Lexikographie zunutze macht. Dabei strebt es einen Ausgleich zwischen den Interessen der Lexikographen sowie den jeweiligen Wörterbuchkonzeptionen einerseits und den über das Web zugreifenden und die dortigen Nutzungsusancen sowie Recherchemöglichkeiten gewohnten Nutzern andererseits an. Aber zunächst ist zu klären, welche Voraussetzungen eigentlich geschaffen werden müssen, damit dieses Ziel erreicht werden kann.

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5.1 Wörterbuchdaten Die Grundvoraussetzung für eine erfolgversprechende und elaborierte elektronische Fassung des FWB ist eine feingliedrige und zielgenaue Auszeichnung der Daten des Wörterbuchs. Denn nur, was semantisch eindeutig fassbar ist und entsprechend ausgezeichnet wurde, kann via Frontend-Darstellung und/oder Suchabfragen dem interessierten Nutzer auch dargeboten werden.

5.1.1 Ausgangsdaten Aufgrund der sich mittlerweile schon über mehr als drei Jahrzehnte erstreckenden Entstehungszeit des FWB liegen die einzelnen Teile des Wörterbuchs in sehr unterschiedlichen Formen vor. Alle bisher veröffentlichten Teile wurden gedruckt und existieren als Bücher oder Einzellieferungen auf Papier. Dies führt hier aber natürlich nicht unmittelbar weiter. Glücklicherweise existieren jedoch für den Großteil des schon veröffentlichten Wörterbuchs XML-Satzdaten, die dem Stand der gedruckten Fassung entsprechen und die daher als schon digitale Grundlage genutzt werden können. Leider fehlte eine solche bereits digitale Form jedoch für die beiden ersten Bände. Bei diesen (nicht unerheblichen) Teilen führte kein Weg an einer Retrodigitalisierung vorbei. Bei diesen nur analog vorliegenden Teilen des FWB müssen wir unterscheiden zwischen den beinahe 300 Seiten Einleitungstexten (Benutzungshinweise, Abkürzungsverzeichnis, lexikographische Einleitung, Quellenverzeichnis, Literaturverzeichnis) und dem noch nicht digitalisierten eigentlichen Wörterbuchtext. Beide mussten grundsätzlich unterschiedlich betrachtet werden und konnten mit verschiedenen Methoden digitalisiert werden. Der eigentliche Wörterbuchtext wurde aufgrund seiner Komplexität und v. a. seiner Sprache (viele frühneuhochdeutsche Zitate in Originalnotation) mithilfe des Double-Keying-Verfahrens (engl. für doppelte Eingabe) händisch zweifach abgeschrieben; die beiden Fassungen wurden dann miteinander verglichen und Abweichungen voneinander erneut manuell anhand der Buchvorlage korrigiert. Mit diesem Verfahren konnte beim FWB eine Genauigkeit von 99,96 % erreicht werden. Es kommt allgemein bei zahlreichen komplexen und v. a. auch alte Sprachformen beinhaltenden Digitalisierungen zum Einsatz. Zielformat dieser Digitalisierung war das XML-Format, in dem auch die bereits existierenden XML-Satzdaten vorliegen.

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Die beinahe 300 Seiten umfassenden Einleitungstexte des Bandes 1 wurden mithilfe des OCR-Verfahrens (von engl. Optical Character Recognition) erfasst. Dieses Texterkennungsverfahren erfordert einen möglichst klar konturierten Textdruck (idealerweise in modernen Schrifttypen) als Ausgangspunkt und eignet sich v. a. für Inhalte, deren Sprache über umfangreiche Wörterbuchsubstanzen erschlossen ist, damit die durch die Texterkennung auf der Basis der Einzelzeichen angenommenen Wörter gegen den Inhalt des zugrundeliegenden Wörterbuchs gecheckt werden können. Abweichungen müssen dann auch hier manuell auf der Basis des gedruckten Standes korrigiert werden. Damit kann im Allgemeinen eine Genauigkeit von etwa 99,95 % erreicht werden. Das Zielformat für die Einleitungstexte war beim FWB nicht wie beim eigentlichen Wörterbuchtext XML, sondern RTF, da diese Texte entweder direkt im CMS der zukünftigen Website eigene Seiten füllen oder als Titelangaben für Quellen- und Sekundärliteraturverzeichnisse Eingang in eine damit verbundene Datenbank finden werden. Neben den genannten Texten, die weitgehend unverändert aus der Buchversion des FWB übernommen werden können, werden jedoch auch noch einige dem Online-Medium geschuldete Texte erstellt werden müssen, wie z. B. Impressum, Nutzungsbedingungen, Disclaimer, Datenschutzerklärung u. Ä.

5.1.2 Datenaufbereitung Die Aufbereitung der Daten aus der Digitalisierung der Einleitungstexte ist mit Abschluss der qualitätsgesicherten Digitalisierung im Wesentlichen abgeschlossen. Die Fließtexte müssen nun „nur“ noch auf die entsprechenden Seiten im CMS des zukünftigen FWB-online eingepflegt sowie die bibliographischen Informationen zu den Quellen und der im FWB genutzten Literatur in entsprechende Datenbanktabellen eingespeist werden, um sie letztendlich den Nutzern von FWB-online zugänglich zu machen. Anders stellt sich die Datenaufbereitung jedoch beim XML der eigentlichen Wörterbuchsubstanz dar, und zwar unabhängig davon, ob das XML direkt aus der Setzerei stammt oder durch die Retrodigitalisierung gewonnen wurde. Denn um die Wörterbuchdaten wirklich in dem oben bereits kurz angerissenen Sinn online effektiv nutzen zu können, muss das auf reine Lay-out-Optimierung hin ausgelegte Satz-XML in ein XML konvertiert werden, das die in den Texten enthaltenen semantischen Informationen auch als explizite semantische Auszeichnungen transportiert, um diese dann auch entsprechend abfragen und

326 | Henning Wolf darstellen zu können. Für das FWB haben wir hierzu auf der Basis von TEI 517 ein Schema entwickelt, das es ermöglicht, möglichst alle implizit und explizit in den Artikeln des FWB enthaltenen Informationen eindeutig auszuzeichnen und damit durch ausgefeilte Abfragemethoden und eine übersichtliche Artikelstruktur für den Nutzer zugänglich zu machen. Grundlagen dafür sind neben den grafischen Auszeichnungen im Satz-XML v. a. das unter 2.2 dargestellte Informationsprogramm des FWB, die dementsprechend reglementierte Artikelstruktur sowie eine weitgehend einheitlich durchgehaltene Terminologie. Die Kombination dieser Faktoren ermöglicht es, eine schrittweise und feingliedrige (Auf-)Konvertierung der Wörterbuchdaten aus dem Satz-XML in das FWB-TEI-XML vorzunehmen, welches dann seinerseits leicht in das HTML weiterkonvertiert werden kann, das auf der Website angezeigt wird. Dass alle diese Prozesse aber natürlich – der hohen Komplexität der Daten und dem langen Entstehungszeitraum sowie den unterschiedlichen Wörterbuchschreibern geschuldet – nicht ohne manuelle Eingriffe und Korrekturen vonstattengehen können, sei hier nur der Vollständigkeit halber kurz angemerkt.18

5.2 Informationsangebot von FWB-online Ziel der ambitionierten Datenaufbereitung ist es, dass die Nutzer von FWBonline auf der Basis der in zahlreichen Konvertierungsschritten erfolgten Auszeichnung der FWB-Daten mit komplexen strukturellen und semantischen Tags möglichst weitgehend alle im Wörterbuch explizit und implizit enthaltenen sprachlichen und nichtsprachlichen Informationen möglichst zielgerichtet, d. h. eben nicht nur im Rahmen einer umfassenden Volltextsuche, abfragen können.

|| 17 Die fünfte Fassung des zur Kodierung und zum Austausch von Texten entwickelten Dokumentformats der gleichnamigen Organisation, das sich zu einem faktischen Standard innerhalb der Geisteswissenschaften entwickelt hat (vgl. http://www.tei-c.org/index.xml [28.04.2016]). 18 Lobenstein-Reichmann (2007: 182 f.; 184 f.) hat die im Zuge der Aufbereitung der Daten für eine digitale Edition eines Printwörterbuchs durch solche korrigierenden Eingriffe in den Textbestand der gedruckten Vorlage auftretende Gewissensfrage nach der Zulässigkeit dieser Korrekturen zu Recht bejaht und die Möglichkeit zur Fehlerkorrektur betont. Speer (2007) hat diese Möglichkeit zu Korrektur und (durchaus auch umfänglichen) Ergänzung mit eindrucksvollen Beispielen aus der Digitalisierungspraxis des Deutschen Rechtswörterbuchs gar als wesentlichen Vorteil der digitalen Variante einer zuvor bereits im Druck erschienenen Wörterbuchsubstanz deklariert. FWB-online wird dem Faktum der (punktuellen) Abweichung der Online-Version von der Buchversion auch insoweit gerecht werden, als die Zitierfähigkeit der Online-Version des FWB unabhängig von der gedruckten Ausgabe sichergestellt werden wird.

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Dabei versteht es sich von selbst, dass als Suche neben – bzw. wohl eher in Kombination mit – einer reinen Lemmasuche, welche sozusagen das Nachschlageverhalten im Buch nachbildet, eine Volltextsuche angeboten wird, welche den gesamten Wörterbuchtext durchsucht. Vorgesehen ist hierbei einerseits eine für den Nutzer einfach zu bedienende Standardsuche à la Google, die die Suchergebnisse nach vom FWB-Team vorgegebenen Kriterien auflisten wird und für das schnelle Nachschlagen von Wörtern das Mittel der Wahl sein dürfte. Daneben wird es jedoch auch eine komplexe, alle Feinheiten der Suchmöglichkeiten umfassende und dem jeweiligen Suchinteresse angepasste individuell konfigurierbare erweiterte Suche geben, die auch die Kombination einzelner, auswählbarer Suchkriterien miteinander ermöglichen wird und mit deren Hilfe sich auch komplexe Suchanfragen einfach und zielgenau formulieren lassen sollen. Wie die Sortierung der Suchergebnisse v. a. der Standardsuche aussehen wird (rein alphabetisch, nach Zeichenähnlichkeit, nach antizipierten Nutzererwartungen, nach Anordnung der Fundstellen im jeweiligen Artikel, nach Artikelgewicht, nach Linkpower der Artikel, nach Wortarten usw. oder wahrscheinlich eine gewichtete Kombination aus verschiedenen dieser Elemente) muss auf der Basis einer detaillierten Betrachtung der finalen Daten genau überlegt und an einem Prototypen gegen Ende der Entwicklung der Website durch intensives Austesten verschiedener Ansätze definiert werden. Auf jeden Fall soll es jedoch möglich sein, ein einmal vorliegendes Suchergebnis seinerseits zu filtern (z. B. nach Wortarten), weiterzubearbeiten und für eine externe Nutzung zu exportieren. Durch die Kombination aus individuell konfigurierbarer, hochkomplexer Suche mit filterbaren sowie weiterverarbeitbaren Suchergebnissen wird es möglich sein, soweit dies der Inhalt des Wörterbuchs gestattet, den unterschiedlichsten Interessenlagen der Nutzer von FWB-online in einem für ein gedrucktes Wörterbuch nicht erreichbaren Ausmaß Rechnung zu tragen. Ein weiteres unabdingbares und für ein elektronisches Wörterbuch selbstverständliches Essential muss es natürlich sein, dass die in der Wörterbuchsubstanz enthaltenen expliziten und impliziten Verweise nicht mehr händisch nachverfolgt werden müssen, sondern dass es möglich sein wird, durch Anklicken des Verweises direkt zum Verweisziel zu springen. Verweise, die in der gedruckten Ausgabe mehrdeutig sind, müssen dazu in einem eigenen redaktionellen Arbeitsgang eindeutig gemacht werden, und nicht bzw. noch nicht eingelöste Verweise (v. a. bei Verweisen in noch nicht bearbeitete bzw. online noch nicht freigegebene Wörterbuchstrecken) müssen insoweit abgefangen werden, als der Nutzer durch einen Hinweistext darüber informiert wird, dass beim Nichterfolgen des Sprungs zum Verweisziel kein technisches Versagen vorliegt,

328 | Henning Wolf sondern das Verweisziel derzeit (noch) nicht erarbeitet wurde bzw. in FWBonline aktuell noch nicht zur Verfügung steht. Neben den wörterbuchinternen Verweisen soll FWB-online aber auch die Verlinkung der Zitate und Belegstellenangaben zu den zitierten anderen Wörterbüchern und Quelleneditionen bereitstellen, soweit diese Editionen digitalisiert zur Verfügung stehen. Wo technisch machbar, werden die Links als Deep Links direkt auf die zitierte Seite führen, wo dies nicht geht, aber zumindest als Surface Links auf die Eingangsseite der zitierten Edition. Damit wird dem Nutzer die Möglichkeit gegeben, die Zitate bzw. Belegstellenangaben direkt an seinem Arbeitsplatz zu überprüfen und weiterzuverfolgen. Und last but not least sei erwähnt, dass FWB-online natürlich hinsichtlich der Ergonomie, des GUIs und einer übersichtlichen Artikeldarstellung alle oben postulierten und aktuell gültigen Anforderung erfüllen soll, damit die Nutzer sich ohne Schwierigkeiten zurechtfinden, ihre Fragen problemlos stellen und so ihr Informationsbedürfnis möglichst umfassend befriedigen können.

6 Zukunftsperspektiven von FWB-online Um die selbstauferlegten Ansprüche an FWB-online auch auf Dauer zu gewährleisten, beabsichtigt die FWB-Arbeitsstelle, die Seite parallel zu der Einpflege der jeweils zweimal im Jahr erscheinenden neuen Lieferungen des noch bis 2027 primär als Printprodukt entstehenden Wörterbuchs nicht nur inhaltlich, sondern auch technologisch fortzuentwickeln und dabei auch möglichen neuen Anforderungen und Benutzerwünschen anzupassen. Dies soll ebenso wie die initiale Umsetzung der Seite in enger Kooperation mit der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (SUB) im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen und der SUB geschehen. Dadurch sollen auch die Chancen für eine qualifizierte Fortführung des FWB-OnlineAngebots über das Ende der Laufzeit des aktuellen Projekts verbessert werden. Wir gehen davon aus, dass die Version 1.0 von FWB-online über die zuvor beschriebenen Grundfunktionen verfügen und damit bereits vom Start an einen deutlichen Mehrwert gegenüber der Buchversion bereitstellen wird. Sie wird jedoch zunächst noch weniger Funktionsumfang haben als spätere Versionen, da wir planen, die komplexeren Datenauszeichnungen, die nicht ohne händische Eingriffe erfolgreich vorgenommen werden können, nachgelagert zum ersten Launch von FWB-online schrittweise vorzunehmen. Die Ergebnisse dieser neu durchgeführten Konvertierungen sollen dann im Rahmen einer kontinuierlichen Weiterentwicklung von FWB-online in Folgeversionen veröffentlicht

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werden und damit die Breite der strukturiert abfragbaren Inhalte der Wörterbuchseite schrittweise erweitern. Außerdem wollen wir im Rahmen dieses Vorgehens auch ganz neue Funktionen wie beispielsweise grafische Darstellungen zu Vernetzungen zwischen Wörterbuchartikeln (z. B. onomasiologische Vernetzung) oder Kartendarstellungen zur räumlichen Verteilung der Zitate und Belegstellen von Großartikeln nachträglich einbauen. Auch lässt sich so ggf. einmal ein persönlicher Bereich für die Nutzer des Wörterbuchs hinzufügen (Stichwort Individualisierung), in dem diese Notizen, Kommentare u. Ä. zum eigenen Gebrauch hinzufügen können. Und natürlich beschäftigen wir uns auch mit Überlegungen, irgendwann einmal ein Matching der FWB-Daten mit den Daten anderer Nachschlagewerke durchzuführen – sei es in Form externer Verlinkungen oder gar der ergänzenden Integration von Fremdsubstanzen in FWB-online. Der zuvor skizzierte Ansatz der kontinuierlichen Weiterentwicklung von FWB-online in Kombination mit den zugrundeliegenden Datenformaten (XML und HTML) und der Nutzung stark verbreiteter Technologien (CMS: Typo3; Suchtechnologie: Lucene und Solr) sowie die Ausrichtung an den üblichen Usancen bei GUI und Usability stimmt das FWB-Team zuversichtlich, dass FWBonline mit einem vertretbaren Aufwand an die in Zukunft sicherlich auftauchenden technischen Weiterentwicklungen und Herausforderungen angepasst und auch nach Abschluss der Wörterbucherarbeitung dauerhaft als OnlineAngebot fortgeführt werden kann. Auch dies ist ein wesentlicher Beitrag zur Zukunftssicherung dieser wertvollen Wörterbuchsubstanz.

Literatur BE19 = Brockhaus Enzyklopädie. 24 Bde. 19., völlig neu bearb. Aufl. Mannheim, Wien, Zürich: Brockhaus 1986–1994. Benecke/Müller/Zarncke = Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. 3 Bde. Leipzig: Hirzel 1854–1866. BMM = Brockhaus multimedial. CD-ROM- und DVD-ROM-Lexikon in jährlich neu erschienenen Versionen. Mannheim, Wien, Zürich: Brockhaus 1999–2010. Brockhaus Online-Angebot (seit2015) = http://www.brockhaus.de/ (28.04.2016). DWB = Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 16 Bde. [in 32]; Quellenverzeichnis. Leipzig: Hirzel 1874–1971. 2 DWB = Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin in Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Leipzig: Hirzel 1965 ff. dict.cc = http://www.dict.cc/ (28.04.2016).

330 | Henning Wolf Duden-online = http://www.duden.de/woerterbuch (28.04.2016). Encyclopedia Britannica = http://www.britannica.com/ (28.04.2016). FWB = Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Hrsg. v. Robert R. Anderson [für Band 1], Ulrich Goebel, Anja Lobenstein-Reichmann [Einzelbände] & Oskar Reichmann [Bände 3 und 7 in Verbindung mit dem Institut für deutsche Sprache; ab Bd. 9, Lieferung 5 im Auftrag der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen]. Berlin, New York: de Gruyter 1989 ff. Langenscheidts kostenloses Online-Wörterbuch = http://de.langenscheidt.com/ (28.04.2016). leo.org = https://www.leo.org/ (28.04.2016). Lexer = Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Benecke-Müller-Zarncke. 3 Bde. Leipzig: Hirzel. Reprografischer Nachdruck Stuttgart: Hirzel 1979. Lobenstein-Reichmann, Anja (2007): Allgemeine Überlegungen zur Retrodigitalisierung historischer Wörterbücher des Deutschen. In: P. O. Müller (Hrsg.): Neuere Entwicklungen in der historischen Lexikographie und Wörterbuchforschung des Deutschen. Berlin, New York: de Gruyter (= Lexikographica 23), 173–198. Lobenstein-Reichmann, Anja (2009): Warum und wozu brauchen wir auch in Zukunft noch einsprachige Wörterbücher? Internetpublikation der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften: http://dwb.bbaw.de/tagung09/pdf/Lobenstein-Reich mann.pdf (28.04.2016). Microsoft Encarta. CD-ROM- und DVD-ROM-Lexikon in jährlich neu erschienenen Versionen. 1993-2009. MWB = Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen hrsg. v. Kurt Gärtner, Klaus Grubmüller & Karl Stackmann. Stuttgart: 2006 ff. Pons Online-Wörterbuch = http://de.pons.com/ (28.04.2016). Speer, Heino (2007): Grenzüberschreitungen – vom Wörterbuch zum Informationssystem. Das deutsche Rechtswörterbuch im Medienwandel. In: Friedrich Müller (Hrsg.): Politik, [Neue] Medien und die Sprache des Rechts. Berlin: Duncker & Humblot, 261–278. Store Norske Leksikon = https://snl.no/ (28.04.2016). TEI = http://www.tei-c.org/index.xml (28.04.2016). wictionary.org (deutsch) = https://de.wiktionary.org/wiki/Wiktionary:Hauptseite (28.04.2016). Wikipedia (deutsch) = https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Hauptseite (28.04.2016).

Hartmut Schmidt

Fragen des Abbruchs oder der Weiterführung der Tradition des Deutschen Wörterbuchs in der Nachfolge der Brüder Grimm Abstract: Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin hat im Jahr 1906 auf Bitte der deutschen Regierung die Verantwortung für die Arbeiten zur Vollendung des Deutschen Wörterbuchs von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm übernommen. Im Jahr 1929/30 hat sie die Berliner Arbeitsstelle gegründet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses lexikographische Grundlagenwerk in den Jahrzehnten der Spaltung Deutschlands, aber in enger Gemeinschaft einer Berliner und einer Göttinger Arbeitsstelle zum Abschluss gebracht. Schon in den fünfziger Jahren entschlossen sich die Akademien in Berlin und Göttingen, „zunächst“ die völlige Neubearbeitung der ältesten Teile des Werks, die die Brüder Grimm zwischen 1852 und 1863 noch selbst erarbeitet hatten, vorzunehmen. Diese Neubearbeitung ist inzwischen nahezu abgeschlossen. Umso deutlicher zeigt sich aber nun, dass auch die übrigen Teile dringend der Neubearbeitung bedürfen. Das Jahrhundertwerk der Brüder Grimm, ihre wichtigste gemeinsame sprachwissenschaftliche Leistung, heute in der ganzen Welt täglich von Tausenden im Internet benutzt, Fundament der gesamten neueren deutschen Wortforschung, kann seine Aufgabe nur erfüllen, wenn es nicht als Museumsstück bewundert, sondern in gründlich erneuerter Form als aktuelles Auskunftsmittel fortgeführt wird. In dieser Situation war die Schließung der Berliner Arbeitsstelle im Dezember 2012 das falsche Signal. Keywords: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Deutsche Wörterbücher, Deutscher Wortschatz, Jacob und Wilhelm Grimm, Lexikographie, Stichwortlisten, Wissenschaftlich-kulturelle Großprojekte

|| Prof. Dr. Hartmut Schmidt: Von 1992–1999: Institut für Deutsche Sprache, Mannheim (Abteilungsleiter für Lexikographie); von 1994–2012: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Deutsches Wörterbuch und Goethe-Wörterbuch (Projektleiter); 13189 Berlin, E-Mail: [email protected]

332 | Hartmut Schmidt

1 Vorbemerkung Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) hat zum Jahresende 2012 ihre Verantwortung für das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm (DWB) aufgekündigt, die einst ihre Vorgängerin, die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, übernommen hatte und die nach dem Zweiten Weltkrieg deren erste Nachfolgerin, die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, mit großem Engagement akzeptiert und gepflegt hatte. Bis 1961/62 konnten Lexikographen aus Ost- und West-Berlin in der Berliner Arbeitsstelle des DWB gemeinsam arbeiten; die Leitung hatte von 1946 bis zum Mauerbau der Westberliner Bernhard Beckmann, selbst noch Schüler Arthur Hübners. Sogar die Akademie der Wissenschaften der DDR, die 1972 als „sozialistische“ Akademie begründet wurde, eine Akademie, die in allen politischen Fragen direkt vom Politbüro der SED abhängig war und die Kooperation mit Westberlinern weitgehend kappte, hat die Arbeit der Lexikographen am Deutschen Wörterbuch zwar erschwert und ihre Zusammenarbeit mit den Göttinger Kollegen behindert, aber die Fortführung der Neubearbeitung nicht eingestellt. In eine tiefe Krise war die Organisationsform der Arbeiten am lexikographischen Erbe der Brüder Grimm schon einmal, nämlich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, geraten. Am 5. Januar 1907 empfahl deshalb das deutsche Reichsamt des Inneren gemeinsam mit den wichtigsten lebenden Bearbeitern des Grimm’schen Wörterbuchs und den Vertretern der Deutschen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften, dass künftig die Gesamtverantwortung für das Wörterbuch bei der Preußischen Akademie liegen solle. Noch im selben Jahr entwickelte die Deutsche Kommission dieser Akademie einen Organisationsplan, und am 1. Juli 1908 übernahm die Deutsche Kommission, wie beschlossen, die Leitung der Arbeiten, um sie, von der Belegsammlung und der Gestaltung der Artikelarbeit bis zur Redaktion der Lieferungen, gründlich zu reformieren (vgl. Schröter 1987: 120 f.). Lange vor dem Abschluss der Erstbearbeitung im Jahr 1960 war klar, dass die Erstbearbeitung in weiten Teilen den heutigen Ansprüchen und auch den heutigen Möglichkeiten der Lexikographie nicht gerecht wurde. Der moderne Wortschatz fehlte in allen älteren Bänden. Der moderne Sprachgebrauch hatte aber auch in vielen guten Wortartikeln noch nicht berücksichtigt werden können. Die in den älteren Bänden zitierten Editionen waren in den meisten Fällen längst überholt. Deshalb wurde in den fünfziger Jahren über die innerdeutsche Grenze hinweg die dringend notwendige Neubearbeitung geplant. Nach einer in Berlin und Göttingen gemeinsam erarbeiteten Probelieferung mit unterschiedlichen Verfahrensvorschlägen, die im Jahr des 100. Todestages Jacob Grimms in

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Berlin einer internationalen lexikographischen Konferenz zur Beratung vorgelegt wurde, konnte 1965 die erste Lieferung der Neubearbeitung erscheinen. In ihr stellte sich die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen auf dem Titelblatt an die Seite der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ein Zeichen dafür, dass beide Akademien nicht nur gemeinsam die Unteilbarkeit der deutschen Sprache betonen, sondern unter schwierigen Umständen auch die Gemeinsamkeit ihrer Erforschung sicherstellen wollten. Das blieb so trotz mancher Gefahren und vieler Einschränkungen, die vor allem die Arbeit der Berliner Arbeitsstelle betrafen. Während der Wende und nach der Begründung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften konnte die bewährte Zusammenarbeit beider Arbeitsgruppen wieder gestärkt werden. Aber am 31. Dezember 2012 löste die Berlin-Brandenburgische Akademie ihre Arbeitsstelle für das DWB auf. Eine letzte Berliner Lieferung, deren Vorwort das späte Datum „Dezember 2013“ trägt, konnte noch erscheinen. Aber diese Berliner Schlusslieferung kam ein Jahr nach dem offiziellen Ende der Berliner Arbeitsstelle heraus. Sie zeigt insofern ein merkwürdiges Gepräge, als sie nicht mehr von dem bisherigen Wissenschaftlichen Projektleiter verantwortet wurde (dieser hatte sich geweigert, die Bedingungen zu akzeptieren, die den Lückenfüller prägen sollten), sondern durch den Sprecher des ‚Zentrums Sprache‘ der BBAW. Diese Lieferung hebt sich von allem ab, was bis dahin im DWB üblich war. Zwar gibt es auch in ihr, der 7. Lieferung des 4. Bandes der Neubearbeitung (bemalen – Betreuung), Artikel, die eine energische Kürzung gut vertragen könnten, aber geradezu erschreckend fällt auf, welche Artikel ihr fehlen. Einige Beispiele seien genannt. Nicht aufgenommen sind ganz unverzichtbare Stichwörter und Stichwortgruppen, z. B.: benötigen, berauben, berechnen/Berechnung, berechtigen/Berechtigung, Bereich, bereichern, bereitstellen, Bereitschaft, bereuen, Bericht, berichtigen/Berichtigung, berüchtigt, berücksichtigen, berühren, Besatzer/Besatzung, besaufen, beschämen, beschauen/beschaulich, Bescheinigung, beschenken, Bescherung, bescheuert, beschirmen, Beschiss, beschließen/Beschluss, beschmutzen, beschneiden/ Beschneidung/beschnitten, beschränken, beschuldigen, beschummeln, beschützen, beschweren/Beschwerde/beschwerlich, beschwindeln, beschwören, besehen, besetzen/Besetzung, besiegen, besinnen/besinnlich, Besitz/Besitzer, besondere (Adj.)/ Besonderheit/besonders, besonnen/Besonnenheit, besorgen/Besorgnis, bessern/Besserung, Bestand/beständig/Bestandteil, bestätigen, bestatten, bestaunen, bestechen/bestechlich, bestehen, bestellen, besteuern, bestimmen, bestrafen, bestrahlen, Besuch/besuchen/Besucher, besudeln, betasten, betäuben, betonen/Betonung, Betrag/betragen, Betreff/betreffen, Betreiber, betreten, Betreuer und viel zu viele weitere unverzichtbare Stichwörter.

334 | Hartmut Schmidt Mit einer solchen Lieferung, einem Verrat an allen bisherigen Kriterien der Stichwortaufnahme sowohl der Erstbearbeitung wie der Neubearbeitung, nicht verursacht durch die Mitarbeiter der Berliner Arbeitsstelle, sondern durch Verantwortungsträger der Akademie, wurde die worthistorische Arbeit in der Nachfolge der Brüder Grimm in Berlin beendet. Ein schwer erträglicher, aber gerade noch möglicher Kompromiss wäre die Behandlung dieser Stichwörter in Kürzestartikeln mit der Nennung ihrer Hauptverwendungen und ihrer zeitlichen Bezeugungsstrecken gewesen. Ihre gänzliche Nichtberücksichtigung bleibt unverzeihlich, ein lexikographisches Vergehen an den Nutzern und eine Blamage der BBAW als Herausgeberin, die allerdings auch das Ansehen der mitherausgebenden Göttinger Akademie berührt und so auch die Ehre und die Interessen des Hirzel-Verlags, der das DWB mehr als 150 Jahre in vorbildlicher Weise verlegerisch betreut und getragen hat. Eine Heilung des Problems würde erfordern, diese Berliner Schlusslieferung zurückzuziehen und so schnell wie möglich durch eine Fassung zu ersetzen, die die Fehlstellen ausfüllt. Wenn das nicht geschieht und auch die Göttinger Arbeitsstelle keine Möglichkeit sieht, für eine verantwortbare Lösung zu sorgen, bleibt diese Abschlusslieferung des vierten Bandes der Neubearbeitung ein öffentlicher Schandfleck der DWB-Geschichte. Abschließend geprüft und, soweit nötig, nachgearbeitet werden müsste allerdings auch der Berliner Anteil am vorzubereitenden Quellenverzeichnis der Neubearbeitung. Die Nutzer des DWB haben einen Anspruch darauf, dass beim Abschluss der Neubearbeitung alle Berliner und Göttinger Quellenwerke zuverlässig genannt werden. Die der Neubearbeitung von A bis F noch immer fehlende Wortstrecke (vom Ende des B bis zu den Stichwörtern auf C) soll nach der bisherigen Planung in der bewährten Weise bis 2016 in Göttingen abgeschlossen werden. Im Vorwort zur ersten Lieferung der Neubearbeitung, das die in den Präsidien der Berliner und Göttinger Akademie verantwortlichen Entscheidungsträger, Theodor Frings und Hans Neumann, 1965 unterzeichnet hatten und das beim Abschluss des ersten Berliner Bandes der Neubearbeitung 1983 auch als Bandvorwort abgedruckt wurde, hieß es noch, dass die Neubearbeitung „zunächst“ die „Neufassung der von Jacob und Wilhelm Grimm selbst geschriebenen Bände mit den Buchstaben A bis F“ leisten solle, also als ersten Schritt die Teile erneuern werde, die die lexikographischen Methoden, die vorhandenen Belegquellen und die Entwicklung wie den Zustand des deutschen Wortschatzes bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts abbildeten. Da bisher nur die Erstausgabe des DWB auch in digitalisierter Form öffentlich zur Verfügung steht, ist ein weltweites Publikum bei Internetanfragen an das DWB noch immer auf genau diesen mehr als einhundertfünfzig Jahre alten Wissensstand beschränkt, obwohl die Bände der Neubearbeitung (bis auf die genannte Lücke) längst vorlie-

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gen. Aber die Hoffnung, dass die im „zunächst“ ausgedrückte Ankündigung jetzt verwirklicht würde, also zumindest die Neubearbeitung auch der anschließenden Wortstrecken aus dem 19. Jahrhundert (H bis R und Teilstücke aus den meisten übrigen Bänden) in Angriff genommen werden könnte, hat getrogen. Mit dem trügerischen, aber mehrfach vorgebrachten Argument, dass eine solche Erweiterung des lexikographischen Auftrags mehrere oder sogar viele Jahrhunderte lexikographischer Arbeit erfordern würde, also eine weitere Teilstrecke gleich ein Mehrfaches der Zeit, die die Erstbearbeitung insgesamt gebraucht hat, wurde in Berlin der Abbruch des Unternehmens begründet, obwohl die längst mögliche und praktizierte Nutzung aller digitalen Hilfen, von denen die Erstbearbeiter nicht einmal träumen konnten, in beiden Arbeitsstellen des DWB, der Berliner und der Göttinger, selbstverständlich ist. Nicht bedacht wurde auch der Umstand, dass viele der späteren Artikel der Erstausgabe für eine erste Neubearbeitung so gut wie unverändert übernommen werden können. Um auch in Berlin eine digital zu erarbeitende und digital nutzbare Beleggrundlage für die weitere Arbeit zu schaffen, hat der Autor dieses Beitrags als wissenschaftlicher Projektleiter der Berliner Arbeitsstelle im Februar 1996 beim Präsidenten der BBAW den rechtzeitigen Beginn des Aufbaus einer Belegsammlung für die Fortsetzung der Arbeit am deutschen Wortschatz im Geist der Brüder Grimm, aber mit den inzwischen zur Verfügung stehenden modernen Mitteln durch digitale Texterfassung, beantragt (vgl. Schmidt 1997). Die BBAW beschloss daraufhin, sich diesen Projektansatz zu eigen zu machen und sich dabei zunächst auch auf eine digitale Darstellungsform zu konzentrieren; das war die Geburtsstunde des DWDS („Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache“). Den Kern des an der BBAW seit etwa 2006, leider weitgehend hinter verschlossenen Türen und ohne offene und gründliche Diskussion der unterschiedlichen Positionen, ausgetragenen Konflikts bildete deshalb nicht die Nutzung der Digitalisierungspotentiale. Umstritten waren vielmehr Fragen, die den Status der historischen Lexikographie betreffen: Welcher wissenschaftliche, vor allem: welcher bedeutungs- und syntaxgeschichtliche, welcher pragmalinguistische und damit auch welcher kulturhistorische Wert soll künftig der Kopfarbeit lexikographisch ausgebildeter und eingearbeiteter Philologen zugebilligt werden? Diese Frage darf verallgemeinert werden: Soll überhaupt noch eine deutsche Akademie der Wissenschaften mit anspruchsvollen sprachhistorischen Aufgaben zum Deutschen betraut werden, und falls ja: Welche Akademie könnte das sowohl aufgrund ihrer Geschichte wie ihrer heutigen Interessen sein? Oder sollte man eine historische, als Orientierungszentrum für alle kulturhistorisch ausgerichteten Disziplinen verstandene Perspektive auf die Entwicklung und Erklärung des Deutschen aufgeben und sich stattdessen auf die

336 | Hartmut Schmidt Schaffung, Sortierung und Darbietung von knapp kommentierten digitalen Datenmengen beschränken? Hierzu gab es zwar an der BBAW über längere Zeit noch freundliche, aber mehr und mehr der Vergessenheit anheimgefallene Lippenbekenntnisse, aber keine dazu passenden Handlungsentscheidungen mehr. Die Analyse historischer Texte, die für jede moderne wortgeschichtliche Arbeit notwendig ist, verlangt jedoch deren gedankliche und lexikalische Aufbereitung durch philologisch und historiolinguistisch ausgebildete Lexikographen. Das erfordert heute die Praktizierung einer offenen Zusammenarbeit und die Herstellung des gegenseitigen Respekts der beteiligten Lexikographen, Informatiker und Computerspezialisten und ist auch heute ohne kompetente philologische Kopfarbeit an Texten und Textbelegen nicht zu leisten. Anstelle einer gründlichen Diskussion dieser Fragen wurde das Engagement der BBAW für die historische Forschungsarbeit zum deutschen Wortschatz aufgegeben und – aus der Sicht der historischen Lexikographie – das anfänglich von großen Hoffnungen auch der Philologen begleitete DWDS zur digitalen Darbietung vorhandener lexikografischer Lexika mit bescheidenen Ergänzungsarbeiten umprogrammiert. Diese Ergänzungsarbeiten waren notwendig, um den lexikographischen Zustand des in der DDR von 1961 bis 1977 in Lieferungen publizierten Wörterbuchs der deutschen Gegenwartssprache, das das Kerngerüst des DWDS darstellt, an einen neueren und gesamtdeutschen Sprachstand heranzuführen. Ob das DWDS in Zukunft lexikographischen Gewinn aus einem möglicherweise in Göttingen anzusiedelnden Projekt „Grimm der Zukunft“ ziehen kann, bleibt offen, solange es für dieses Projekt keine ausreichende Organisationsform und keine sicheren Finanzierungsbedingungen gibt. Alle grundsätzlichen Zweifel, die die Leitung der BBAW zur Schließung der eigenen wortgeschichtlichen Arbeitsstelle veranlasst haben, wird diese Akademie konsequenterweise in dem Maße, in dem sie von der Stichhaltigkeit ihrer Argumente gegen die eigene historische Lexikographie überzeugt ist, auch gegen entsprechende Lösungen an anderen Akademien ins Feld führen müssen, da die Finanzierung aus einem gemeinsamen Topf erfolgt. Dieses Ende der Berliner Arbeitsstelle und die Niederlegung der Verantwortung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften für das lexikographische Erbe der Brüder Grimm geben jedoch nicht nur Anlass zum Nachdenken darüber, welche Umstände zum Abbruch der Arbeiten in Berlin geführt haben, sondern auch darüber, was die Arbeitsstelle vielleicht selbst hätte besser machen sollen oder was am Konzept des bedeutendsten deutschen Wörterbuchs nicht mehr stimmte. Der schärfste Kritiker des DWB schon im Jahr des Abschlusses seiner Erstausgabe war Walter Boehlich. Er hat sich 1961 die Mühe gemacht, das Ergebnis der mehr als hundertjährigen Arbeit am DWB in vielen wichtigen Punkten

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gründlich zu prüfen und aus seiner Kritik Schlüsse zu ziehen. Er sprach sich entschieden gegen eine Teilerneuerung aus, gegen die fehlende Öffentlichkeit der grundlegenden Beschlüsse der Akademien sowie für einen genau überlegten Neubeginn: Warum müssen und können solche Fragen unter Ausschluß der Öffentlichkeit besprochen werden, für die die Arbeit doch bestimmt sein soll? Warum diskutieren nicht wenigstens die Germanisten in großen Gremien das Notwendige und Wünschenswerte? […] wir brauchen ein übersichtliches großes Wörterbuch der deutschen Sprache, das an Umfang den Murray nicht übertreffen sollte und das in einem Zuge hergestellt werden müßte. Daneben aber sollte sofort an einer Handausgabe dieses Wörterbuchs gearbeitet werden, das in großen Zügen dem Modell des „Shorter Oxford English Dictionary“ folgte und wirklich in jedermanns Hand gelangen könnte. Das ist eine Aufgabe, und für sie ist ein Bedürfnis vorhanden. (Boehlich 1961: 53)

2 Das DWB als Symbol der deutschen Einheit und wissenschaftliches Grundlagenwerk Das Deutsche Wörterbuch wurde seit 1837 auf Anregung von Freunden der Brüder Grimm vorbereitet. Es sollte Jacob und Wilhelm Grimm ihren Lebensunterhalt ermöglichen, nachdem sie mit fünf weiteren Göttinger Professoren gegen den Verfassungsbruch des Königs Ernst August von Hannover protestiert und deshalb ihre Göttinger Ämter verloren hatten. Dieses Beispiel bürgerlichen Mutes gegenüber dem Monarchen löste im Jahrzehnt vor der Revolution von 1848 eine Welle der Unterstützung für ihr Wörterbuchprojekt aus und ermöglichte die Gewinnung von nahezu hundert freiwilligen Mitarbeitern für die Schaffung der notwendigen Quellengrundlage. Die allgemeine Sympathie für die Brüder Grimm sorgte aber auch dafür, dass schon die Ankündigung des Wörterbuchs als ein nationales Ereignis begriffen wurde. Das blieb auch so, nachdem die Brüder auf Vermittlung von Alexander von Humboldt durch Friedrich Wilhelm IV. nach Berlin berufen worden waren, um hier ihr Werk auszuarbeiten. Als 1852 die erste, von Jacob Grimm verfasste, Lieferung herauskam, wurde sie durch Alexander von Humboldt, den einflussreichsten Wissenschaftsförderer am preußischen Hof, dessen wissenschaftliche Autorität bis heute weltweit geachtet wird, begeistert begrüßt: Wo sollte ich Worte hernehmen, um Ihnen und Ihrem mir so theuren Bruder zu danken für das großartige Werk, das unser zerspaltenes geistig unzuverödendes Vaterland Ihnen beiden verdankt. Wenn man in trüber Erinnerung an das denkt, was wir 1848 u. 49 hoffen

338 | Hartmut Schmidt konnten, so empfindet man die erste Freude wieder durch Ihr Werk [...]. Grösseres hat kein Volk. (Alexander v. Humboldt am 18. Juni 1852 an Jacob Grimm)

Den Überschwang, mit dem die Mitte des 19. Jahrhunderts die Anfänge des DWB begrüßt hat, teilen wir heute nicht mehr. Aber die wissenschaftliche Leistung seiner besten Teile hat den Status des Werks mit seinen weit über 300 000 Wortartikeln als wichtigstes Auskunftsmittel für alle Fragen, die dem Gebrauch und der Entwicklung des Wortschatzes der deutschen Sprache von ihren Anfängen bis zur Gegenwart gelten, bis heute gesichert. Auch die Aufgabe, die Erkenntnisse vieler anderer verdienstvoller lexikographischer Werke und Studien über den Sprachgebrauch des Deutschen zusammenzuführen, muss weitergeführt werden. Fragen nach der Entwicklung unseres Wortschatzes, nach dem Gebrauch der Wörter unserer Standardsprache in alten und neuen Texten müssen sachkundig beantwortet werden, sonst verlieren wir den Zugang zu unserem sprachlichen Erbe. Ohne konzentrierte Förderung und Weiterführung einschlägiger lexikographischer Arbeiten wird unsere Auskunftsfähigkeit verkümmern. Die Arbeit ist bei weitem noch nicht geschafft, und sie wird nie ganz abgeschlossen sein, solange unsere Sprache gesprochen, geschrieben und gelesen wird. Die Erfahrung, dass sich unsere Sprache von Generation zu Generation weiterentwickelt, macht jeder, der auch nur die eigene Sprache und die seiner Umgebung beobachtet. Schon heute wird täglich tausendfach die Internetfassung des DWB befragt, und das Fragebedürfnis beschränkt sich nicht auf Deutschland, sondern besteht weltweit. Leider bietet die Internetpräsenz des DWB wegen der oben angedeuteten Lücken der Digitalisierung und wegen des Alters vieler Wörterbuchbände eine höchst unterschiedliche Qualität der auf dem DWB beruhenden Auskünfte. Der Gedanke an eine nationalpolitische oder -pädagogische Wirkung der Arbeit am DWB gehört heute der Vergangenheit an, aber in den Jahrzehnten der Spaltung spielte er in der Erinnerung an die Situation in der Mitte des 19. Jahrhunderts und als Hoffnung, die Spaltung noch einmal zu überwinden, wieder eine Rolle. Als DER SPIEGEL am 10. Mai 1961 seine Titelgeschichte dem Abschluss der Erstbearbeitung des Deutschen Wörterbuchs widmete (der eigentliche Abschlussband, das umfangreiche Quellenverzeichnis des DWB, folgte erst 1971) und die Zusammenarbeit von Ost und West zur Erreichung dieses Ziels würdigte, ging er noch auf das Thema der nationalen Bedeutung des Wörterbuchs ein, indem er Stellen aus Jacob Grimms Vorrede zum ersten Band zitierte: Jacob Grimm konstatiere die „in allen edlen schichten der nation anhaltende und unvergehende sehnsucht … nach den gütern, die Deutschland einigen und nicht trennen […]“ (so Grimm 1854, DWB I: VII). Das Nachrichtenmagazin wies durch ein weiteres Zitat darauf hin, dass nicht nur Jacob Grimms eigene Hin-

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wendung zur Wörterbucharbeit durchaus politisch motiviert war, sondern dass diese politische Motivation für die Berliner Arbeitsstelle selbst noch nach der Gründung der DDR galt. Theodor Frings hatte als Direktor des Akademieinstituts für Deutsche Sprache und Literatur gemeinsam mit dem Leiter der Berliner Arbeitsstelle, Bernhard Beckmann, im August 1954 im Vorwort des alphabetisch letzten Bandes der Artikelstrecke, sieben Jahre vor dem Abschluss aller Artikelbände, geschrieben: Als JACOB GRIMM die Bürde des Deutschen Wörterbuches auf sich nahm, tat er es nicht so sehr aus Verantwortung gegenüber der Wissenschaft, als aus dem Gefühle des Dankes und der Pflicht gegenüber seinem Volke und Vaterland. Das Bewußtsein der nationalen Zusammengehörigkeit durch Besinnung auf die Sprache und ihre Vergangenheit zu wecken und zu stärken und so den Weg zu bereiten, der aus der politischen Zerrissenheit zur Einheit führte, das war die vornehmste Aufgabe, die seinem Werke zugefallen war. Sein Anliegen ist wieder unser Anliegen geworden; der Geist, in dem er das Werk begann, ist auch der Geist derer, denen das Geschick die Aufgabe zugewiesen hat, sein Werk zu beenden. (Frings/Beckmann 1954: *2)

Wer aus solchen Zitaten allerdings eine nationalistische Überzeugung Jacob Grimms oder seiner Nachfolger ableiten wollte, sollte auch den letzten Absatz seiner Wörterbuchvorrede zur Kenntnis nehmen, der ausdrücklich jeden engen, staatsbezogenen Nationalbegriff ablehnt und die überstaatliche und überkonfessionelle gemeinsame Sprache aller Deutschsprachigen preist: Deutsche geliebte landsleute, welchen reichs, welchen glaubens ihr seiet, tretet ein in die euch allen aufgethane halle eurer angestammten, uralten sprache, lernet und heiliget sie und haltet an ihr, eure volkskraft hängt in ihr. (Grimm 1854: LXVIII).

Eine künftige Weiterarbeit am DWB sollte, Jacob Grimms eben zitierter Vision entsprechend, nicht staatsnational, also nicht spezifisch und abgrenzend bundesdeutsch, sondern europäisch geprägt sein. Das erfordert die Bereitschaft der herausgebenden Akademien, das Projekt für die Mitwirkung aller europäischen Staaten und autonomen Gebiete zu öffnen, die die deutsche Sprache – allein oder neben anderen – mit welchem genauen Status auch immer gebrauchen. Dabei sollte es nicht um Fragen der Finanzierung gehen, sondern um die angemessene Berücksichtigung der Textquellen aller an der Mitwirkung interessierten deutschen Sprechergruppen und um Prinzipien der Artikelgestaltung, die deren Erwartungen und Ansprüche erfüllen. Dies setzt eine ebenso breite wie tiefgehende Diskussion der gerne verdeckten sprachkritischen Traditionen auch des 19. Jahrhunderts zum Sprachgebrauch voraus (mit Namen wie Carl Gustav Jochmann, Ludolf Wienbarg, später Friedrich Nietzsche, die hier nur stellvertretend genannt seien). Erst von dieser Grundlage her würde der Beweis erbracht

340 | Hartmut Schmidt werden können, dass es dem DWB um Sprachforschung geht und nicht um „deutschländische“ Nationalinteressen. Für die zu wünschende Zukunft des DWB wird die europäische Einbindung des Werks – von der keineswegs einheitlichen Lexik und Grammatik bis hin zum Gebiet der Semantik (dazu Reichmann, z. B. 2001) – eine entscheidende Rolle spielen. Nationale Vorurteile sollten diese Einbindung nicht mehr behindern, denn nur ihre Überwindung erlaubt es der nächsten Generation einer kritischen und erklärenden Lexikographie, die auch die Fragen der Sprachgeschichte ernst nimmt, sich ganz und gar auf die wissenschaftlichen Aufgaben der Wörterbucharbeit zu konzentrieren. Die eminente Bedeutung des DWB hat vor zehn Jahren Wolfgang Klein, das für die wissenschaftliche Lexikographie des Deutschen federführende Mitglied der BBAW, zutreffend charakterisiert: Der Schwerpunkt liegt auf dem Neuhochdeutschen; aber die Entwicklung des Wortschatzes wird seit seinen Anfängen im Althochdeutschen nachgezeichnet. Damit hat das „Deutsche Wörterbuch“ die systematische und historische Grundlage für die gesamte neuere Sprachforschung, aber auch für die gesamte neuere Wörterbuchproduktion geschaffen. Seine semantischen und historischen Analysen waren und sind Ausgangspunkt für zahlreiche Spezialwerke zu den älteren Sprachstufen wie zur deutschen Gegenwartssprache; ebenso bildet es die wissenschaftliche Basis für die Erforschung der Begriffsgeschichte wie der historischen Terminologie wichtiger Fachsprachen. Es ist die überragende Leistung der sprachwissenschaftlichen Germanistik, bemerkenswert auch deshalb, weil es, anders als in den Geisteswissenschaften üblich, nicht das Werk eines Einzelforschers ist, sondern ganzer Forschergruppen und -generationen. (Klein & Schmitt 2004: 167)

3 Die Notwendigkeit einer völligen Neubearbeitung des DWB Jacob Grimm war sich vieler Schwächen der Erstbearbeitung des DWB bewusst: „ihrer natur nach können bücher dieser art erst gut werden bei zweiter auflage“; so schrieb er zwei Jahre vor seinem Tod an Karl Weigand, den Nachfolger in der Wörterbucharbeit (vgl. Kirkness 2010: 382). Er wusste, wie eilig er selbst gearbeitet hatte, wie unvollkommen die anfängliche Beleggrundlage und wie uneinig schon er und sein Bruder Wilhelm über die lexikographischen Prinzipien waren, die ihre Wörterbucharbeit leiteten. Heute haben es die Kritiker leicht, die offenliegenden Mängel der Erstausgabe des DWB zu benennen (dazu genauer Schmidt 2004). Aber diese Mängel wiegen unterschiedlich schwer. Die der Anfangsbuchstaben A bis C werden in Kürze weitgehend behoben sein; die Neubearbeitung des Abschnitts D bis F ist bereits vollendet. Die bei dieser Arbeit ge-

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wonnenen Erfahrungen sind frisch und könnten das Tempo der anschließenden Revisionsarbeiten wesentlich beschleunigen, wenn man sie nutzen wollte. Worum geht es vor allem? Hier können nur die wichtigsten Probleme genannt werden, deren Lösung heute für die Weiterarbeit allerdings unabdingbar wäre. Vorausgeschickt sei ein Punkt, der für den langfristigen Erfolg jeder lexikographischen Arbeitsstelle grundlegend ist: Schon oft ist die Arbeit in der Gruppe als Grundbedingung für das Gelingen langfristiger Projekte angeführt worden. Praktiziert wurde eine solche Gruppenarbeit am DWB erstmals in Göttingen unter der Leitung von Moriz Heyne ab 1889 bis zu seinem Tod im Jahr 1906. Er berichtete über den Erfolg der von ihm eingeführten „collectivarbeit“1: wir glauben, damit zugleich die beste antwort gegeben zu haben auf mancherlei äuszerungen in der presse, die an die fortsetzung des wörterbuchs anknüpften und die nicht immer von wolwollen für das nationale werk, noch weniger von sachkenntnis zeugten. (Heyne in: DWB IX 1899: Vorwort).

Erst 1929/30 konnte auch die Preußische Akademie der Wissenschaften mit der Gründung der Berliner Arbeitsstelle unter Arthur Hübner das Prinzip der Gruppenarbeit am DWB für die ihr noch verbliebenen Artikelstrecken durchsetzen.2 Diese Gruppenarbeit wurde die Grundlage für den Abschluss des Werkes sowohl in Berlin wie nach 1946 auch wieder in Göttingen und für die gemeinsame Neubearbeitung durch beide Akademien. Aber das Stichwort „Gruppenarbeit“ allein genügt nicht. Denn nicht die äußere Organisationsform der Gruppe, sondern die Begeisterung einer solchen Gruppe für ihre gemeinsame Arbeit ist das entscheidende Moment. Sie entsteht durch die feste Überzeugung, an einer wichtigen und wissenschaftlich bleibend lohnenden Aufgabe mitzuwirken, die durch die Sachkenntnis, die Qualifikation und die Verantwortungsbereitschaft jedes einzelnen Gruppenmitglieds und der zuständigen Vertreter aller übergeordneten Leitungspositionen gesichert wird. Die Begeisterung einer Gruppe dafür, gemeinsam einer großartigen Aufgabe zu dienen, muss also gestützt werden sowohl durch das wechselseitige Vertrauen zwischen den Mitarbeitern wie durch das Vertrauen zwischen diesen und den Verantwortlichen in der zuständigen Institution. Jede Störung dieses Vertrauens kann den Erfolg der Arbeit zunichtemachen.

|| 1 Moriz Heyne erwähnte schon 1893 ausdrücklich die Zustimmung und die finanzielle Unterstützung der Regierungen des Reichs und Preußens für die von ihm eingeführte „collectivarbeit“ (Heyne in: DWB VIII [1893]: Vorwort). 2 Hübners Stellungnahme ist in DWB XI, I, 1 Vorwort (1935) nachzulesen.

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3.1 Bearbeitungsprinzipien Als sich nach dem Tod der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm das System der eigenständigen Bandbearbeiter durchsetzte, gab es keine Autorität, die für die Einführung gleichartiger Bearbeitungsprinzipien sorgen konnte. Auch nach der Übernahme der Gesamtverantwortung durch die Preußische Akademie blieben die letzten, längst beauftragten selbständigen Bandbearbeiter parallel zur Berliner Arbeitsstelle tätig und verhielten sich zögerlich, auch widersprechend oder sogar ablehnend gegenüber den 1930/32 eingeführten „Richtlinien“ der Arbeitsstelle. Und selbst in dieser besaßen die „Richtlinien“ eher den Charakter eines Leitfadens als den einer streng einzuhaltenden Verpflichtung. Das Gegenargument gegen verbindliche Richtlinien war immer die an sich richtige Bemerkung „Jedes Wort hat seine eigene Geschichte“. Aber jede künftige Weiterarbeit sollte einheitlichen Arbeitsrichtlinien folgen, die sowohl die Mitarbeiter wie die Leitungen binden. Verbindliche Regelungen sind vor allem für die Artikelgliederungen und die Belegdarbietung notwendig. Den Wortschatz einer Sprachperiode synchron darstellende Sprachstadienwörterbücher sind relativ frei in der Wahl übersichtlicher Gliederungsverfahren; sie können die Artikel ohne Probleme nach Aspekten der Wichtigkeit (vereinfacht: nach der Beleghäufigkeit) der behandelten Gebrauchsweisen gliedern. Die Darstellung der geschichtlichen Abhängigkeit verschiedener Gebrauchsweisen voneinander kann dagegen zurücktreten, wenn ein solches Konzept das Gliederungsproblem vereinfacht. Ein die Entwicklung des Sprachgebrauchs über lange Zeiträume darstellendes wortgeschichtliches Wörterbuch wie das DWB sollte demgegenüber bemüht sein, den historischen Ablauf der entscheidenden Entwicklungsstufen eines Wortes in einer gut begründeten zeitlichen Abfolge dieser Entwicklungsstufen abzubilden. Aber gerade die Arbeit in einer Gruppe erfordert eine Vielzahl weiterer Verabredungen. Sie betreffen in erster Linie ein leitendes (allen anderen übergeordnetes), z. B. semantisches oder syntaktisches Kriterium der Artikelstruktur, an das die übrigen Informationstypen anzuschließen sind. Außerdem sind zu beachten: – die druckräumlichen Proportionen von semantischen, lautgeschichtlichen, grammatischen und anderen stichwortbezogenen Erörterungen, – das oft nicht spannungsfreie Verhältnis von semantischen und sachgeschichtlichen Auskünften, – die Frage knapper oder großzügiger Belegschnitte. Die meisten Bearbeiter möchten ihre wichtigsten Belege großzügig abbilden, aber der knapp be-

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messene Umfang eines Printwörterbuchs, die Durchsichtigkeit der Gliederung und damit die Übersichtlichkeit des Informationsangebots hängt wesentlich auch von der Länge und der Zahl der Belege, die (im sprachhistorischen Wörterbuch) für ein Jahrhundert wiedergegeben werden dürfen, ab. Aber auch ein digital dargestelltes Wörterbuch sollte überschaubare Strukturen anstreben und den Nutzer nicht in ein Dickicht von immer feiner abgestuften oder gar unstrukturierten Informationshalden locken. Der Nutzer sollte auf unkomplizierte Weise die Übersicht über alle ihm in einem Wortartikel angebotenen Informationen gewinnen können. Das ist in den klassischen Informationsverfahren einfacher als in digitalen Systemen mit immer neuen abrufbaren Informationskomplexen. In jedem Fall muss der Überzeugung einzelner Bearbeiter, dass gerade ihre Artikel wichtiger seien als andere und mehr Darstellungsraum erfordern, mit Geduld, aber entschieden begegnet werden. Um hier und in allen anderen Fragen der wissenschaftlichen Qualität des Werkes ein stabiles Verfahren durchzusetzen, müssen natürlich seitens der das Werk tragenden Institution klare Verhältnisse geschaffen werden. Dazu gehört ganz sicher die Regelung der Fragen, welche Verantwortung und welche Befugnisse der Kommission, die die Akademie gegenüber der Arbeitsstelle vertritt, zukommen, welche den Artikelautoren, die die wissenschaftliche Hauptarbeit leisten, welche dem Arbeitsstellenleiter, der alle die Arbeit und die Mitarbeiter betreffenden Vorgänge täglich zu ordnen hat, und welche dem akademischen Leiter oder „Wissenschaftlichen Projektleiter“, der alle Beteiligten berät und nicht nur die Qualität der Artikel abschließend beurteilt und (bei Druckwerken) das Imprimatur erteilt, sondern auch das Gesamtergebnis zu vertreten hat. Wenn in diesen Fragen keine Klarheit besteht und eine Akademie, aus welchen Gründen auch immer, klare Regelungen nicht herbeiführt, wird sie ihrer eigenen Verantwortung nicht gerecht.3

3.2 Lieferungsfolge Was Begeisterung für die Aufgabe vermag, lässt sich leicht an den Lieferungszahlen ablesen. Unübertroffen ist die Leistung Jacob Grimms: Er publizierte

|| 3 Für die Arbeit an den großen Wörterbüchern der BBAW habe ich die Verabschiedung solcher Regelungen durch die beteiligten Akademien seit meiner Beauftragung als Wissenschaftlicher Projektleiter für die Berliner Arbeitsstellen des DWB und des Goethe-Wörterbuchs im Jahr 1994 bis zu meinem Ausscheiden zum Jahresende 2012 vergeblich zu erreichen versucht.

344 | Hartmut Schmidt jährlich im Durchschnitt allein zwei Lieferungen. Wilhelm Grimm, dem alle Kritiker eine sorgfältigere Arbeitsweise nachsagten als seinem genialischen Bruder, schaffte allein eine Lieferung im Jahr, so auch die meisten der frühen Nachfolger. Natürlich muss man berücksichtigen, dass die alten Lieferungen weniger Text enthielten als die der Neubearbeitung. Mitverantwortlich für den großen Lieferungserfolg der Brüder Grimm und ihrer frühen Nachfolger war aber der Umstand, dass ein aufwendiger Arbeitsgang gespart wurde. Sie allein entschieden über die Qualität ihrer eigenen Artikel. Eine um die Qualität der Arbeit besorgte Wörterbuchredaktion gab es nicht. Die Folgen sind an inneren Inhomogenitäten wie an der stattlichen Reihe der 32 Artikelbände des DWB leicht abzulesen. Abhängig ist die Lieferungsarbeit natürlich auch vom auszuwertenden Belegmaterial. Die großartigen Ergebnisse der Belegsammlung 1907–13 hatten zweifellos zur Folge, dass die Fundierung der Artikel wesentlich verbessert wurde, die Mitarbeiter seitdem aber langsamer vorankamen, weil die für jeden Artikel durchzuarbeitenden Belegberge sich immer höher auftürmten. Das kann nur heißen: Irgendwann (und für die einzelnen Informationstypen an unterschiedlicher Stelle) läuft die Korpusausweitung mit dem Blick auf die Ausbeute (den Erkenntnisgewinn) ins Leere und führt arbeitsorganisatorisch zum Stillstand. Das beste Korpus ist mithin nicht das umfänglichste, sondern dasjenige, das bei kleinstmöglichem Umfang die höchstmögliche wissenschaftliche Ausbeute zu erreichen gestattet (dazu Reichmann 2012: 113 ff.). Dennoch veröffentlichte die 1929/30 gegründete Berliner Arbeitsstelle nach Einarbeitung ihrer Mitarbeiter in den Jahren 1936 bis 1939 jährlich drei (1938), sechs (1939), sieben (1936) und acht (1937) Lieferungen. Erst der Krieg unterbrach diese Erfolgsstrecke. Das sind Zahlen, die wir während der Arbeit an der Neubearbeitung nie erreicht haben. Der größere Umfang der neuen Lieferungen allein reicht nicht als Erklärung aus. Die Ursachen liegen nach den Erfahrungen der Berliner Arbeitsstelle in Folgendem: an einem ungünstigen Verhältnis von Artikel- und Redaktionsarbeit, an den Erfordernissen der Qualitätskontrolle (Vieraugenkontrolle jedes Textbelegs vor der Drucklegung am Original), am zeitweilig häufigeren Mitarbeiterwechsel (so auch durch rechtswidrige Umsetzungen von Mitarbeitern seitens übergeordneter Leitungen; vgl. Schmidt 2012: 172 f.), an der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Dazu zählten in Berlin Störungen der Mitarbeiterkontinuität durch Mitarbeiterverluste in den Jahrzehnten der Spaltung Deutschlands und in den 70er-Jahren durch eine Vielzahl von Zusatzprojekten, die der Arbeitsstelle auferlegt wurden.

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3.3 Stichwortauswahl und Artikelrevision Die Stichwortauswahl der Erstbearbeitung des DWB macht im Vergleich der Verfahren der verschiedenen Bearbeiter mitunter einen chaotischen Eindruck. Die Praxis der Aufnahme von Wörtern fremder Herkunft und von Dialektwörtern wechselte von Band zu Band. Zwar wäre ein Hilfsmittel zur bequemen Übersicht über die verschiedenen Wortschätze der deutschen Dialekte ein dringendes Erfordernis, aber gewiss keine Aufgabe, die das DWB zu lösen hat. Reine Dialektwörter gehören nicht in ein Wörterbuch der Allgemeinsprache. Auch Gelegenheitsbildungen und Wörter ohne historische Tiefe und mit geringer Frequenz hätten von der Bearbeitung ausgeschlossen werden können; die Heranführung der Stichwortaufnahme an den Stand der Gegenwart müsste energischer, als es bisher gelungen ist, angepackt werden. Ein digitales Revisionsverfahren ermöglicht die Bearbeitung der Stichwörter nach Wichtigkeit statt nach der ABC-Folge. Nur ein solches Verfahren kann die möglichst schnelle Reparatur der Schwachstellen des DWB und der bisherigen Darbietung der Erstbearbeitung im Internet gewährleisten. Schon eine erste konsequente Modernisierung von etwa 1000 unzureichenden Artikeln und die Einarbeitung von zunächst ebenso vielen unverzichtbaren Stichwörtern in die gänzlich aus dem 19. Jahrhundert stammenden Artikelstrecke von H bis R würde das Erscheinungsbild und die Brauchbarkeit des DWB im Internet entscheidend verbessern. Für diese Operation ist eine vergleichsweise exakt überschaubare Zeitdauer erforderlich. Eine solche Revision der Erstbearbeitung könnte dem DWB wieder einen respektierten Platz neben den anderen großen Wörterbüchern der europäischen Hauptsprachen sichern. Die Fortführung der Neubearbeitung hätte es überdies nach der Erneuerung der Strecke A – F in zunehmendem Maß mit Abschnitten des DWB zu tun, in denen wertvolle Artikelfassungen unserer Vorgänger keiner vollständigen Neufassung mehr bedürften, sondern nur der Kontrolle und Ergänzung fehlender Frühbelege und der Heranführung des Belegbestandes an die Gegenwart. Die Einführung datierter Revisionsvermerke würde den Nutzer über den Bearbeitungsstand informieren; die namentliche Nennung der Artikelautoren wie der Revisoren würde das Verantwortungsbewusstsein der Bearbeiter für ihren Anteil am gemeinsamen Werk stärken.

3.4 Die unterschiedlichen Verfahren der Belegsammlung Es ist selbstverständlich, dass sich die heutige Lexikographie der modernsten Mittel und Methoden bedient. Die bisherigen drei Aktionen zur Schaffung einer

346 | Hartmut Schmidt ausreichenden Beleggrundlage für das DWB mussten sich noch mit der herkömmlichen Kombination von Hand- und Kopfarbeit begnügen. Das gilt ganz und gar für die erste Belegsammlung aus den vierziger und fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts, die den Brüdern Grimm den Beginn der Arbeiten am Wörterbuch durch handschriftliche Auszüge aus einer genau überlegten, aber noch recht beschränkten Quellenmenge ermöglichte. Das gilt ebenso für die zweite große Belegsammlung zwischen 1907 und 1913, die durch die Preußische Akademie der Wissenschaften veranlasst wurde, um den Abschluss der Erstbearbeitung zu sichern. Sogar die zweite dieser frühen Belegaktionen hat sich noch fast ganz auf Texte beschränken müssen, die vor dem 20. Jahrhundert entstanden und gedruckt worden waren, und hat damit bis auf einzelne, die Artikelarbeit begleitende Nachexzerptionen die Auskunftsfähigkeit des DWB bis in die Abschlussbände bestimmt. Als in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Neubearbeitung von A bis F anstand, gingen die beiden Arbeitsstellen verschiedene Wege: Göttingen bevorzugte die großzügige Verfilmung von Texten mit nachträglicher Belegmarkierung auf den Textausdrucken. Berlin befolgte für die Beschaffung des Grundmaterials wiederum das Prinzip der „auswählenden Exzerption“. Das bedeutete, dass Wissenschaftler und sorgfältig angelernte Mitarbeiter Texte durchlasen und nach vorgegebenen Regeln und Frequenzfestlegungen Wortstellen markierten, die anschließend mit Tinte oder Schreibmaschine auf Zettel im Belegformat ausgeschrieben wurden. Das Vorgehen klingt heute altmodisch, aber es hatte einen gewaltigen Vorteil gegenüber heutigen Textdigitalisierungen: In die Zettelkästen kamen nur geprüfte und für notwendig gehaltene Belegtexte, wichtig aus Gründen der Chronologie, der Semantik, der Grammatik oder auch aufgrund textpragmatischer Eigenschaften. Zwar konnten auch bei diesem Verfahren Tausende Belege für ein hochfrequentes Wort zusammenkommen, aber der Bearbeiter durfte sicher sein, dass unmotivierte Beleghäufungen im durchzuarbeitenden Material selten blieben. Digitale Hilfen bei der Strukturierung des zu erarbeitenden Wortartikels standen ihm allerdings noch nicht zur Verfügung. Zusätzlich zur Schaffung des Grundmaterials ließ Berlin, zeitlich genau verteilt, Schreibmaschinenabschriften geeigneter Texte in einem technischen Verfahren vollständig vervielfältigen. Auf diesen Zetteln wurden alle Worteinheiten des Textes erfasst, also „total exzerpiert“. Diese oft als systematisch charakterisierte, besser als mechanisch zu bezeichnende Methode lieferte in bestimmten Zeitabständen nicht nur ausgewählte Textwörter, sondern die notwendigen Belege, um der Zielsetzung des DWB gerecht zu werden, das eben kein auswählendes Wörterbuch ist, sondern von Beginn an immer in vernünftigen Grenzen um eine repräsentative Stichwortliste des Neuhochdeutschen bemüht war. Nur durch diese Ergänzung der auswählenden Exzerption konnte die Berliner Arbeitsstelle den Artikelautoren auch

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den grammatischen Wortschatz (Funktionswörter, Modalverben, Artikelwörter u. Ä.), der in der auswählenden Exzerption kaum die Chance besaß, angemessen erfasst zu werden, in ausreichenden Belegmengen zur Verfügung stellen. Die Methode der „mechanischen“ Exzerption mag in manchen Fällen als Alibilieferant beliebiger Textzeugnisse dienen und auf ihre Weise Systematizität, Authentizität und Vollständigkeit lexikographischer Arbeit eher vortäuschen als gewährleisten, aber bei uns war sie notwendig, um die Lücken der auswählenden Exzerption zu schließen. Das heute leicht zu beschaffende digitale Belegmaterial umfangreicher Textdigitalisierungen erzeugt allerdings für die meisten Textwörter Belegmengen in Größenordnungen, die es notwendig machen, vernünftige automatische Mengenreduktionen vorzunehmen, die den Einsatz der Kopfarbeit erst sinnvoll machen. Solche Mengenreduktionen sollten allerdings künftig durch digitale Tools ermöglicht werden, die ganze Blöcke von gleichartigen Formulierungen zusammenfassen und in eine Reserveposition verweisen, die nur bei wirklichem Bedarf, also für besondere Zwecke, zu berücksichtigen wäre. Lexikographische Arbeit darf nicht dem Erstickungstod durch unnötige Massenware ausgesetzt werden.

4 Die Zukunft des DWB Die Sorge für das DWB war einmal eine Regierungsangelegenheit. Heute sollte das durch die BBAW mit dem Hinweis auf Finanzierungsnöte herbeigeführte Ende der Berliner Arbeitsstelle wenigstens Anlass für öffentliches Nachdenken darüber sein, ob die propagierte „Wissensgesellschaft“ noch lexikographische Grundlagenforschung zur Sprachgeschichte des Deutschen in der Tradition der Brüder Grimm und der anderen großen Lexikographen des 19. und 20. Jahrhunderts betreiben und ermöglichen will oder nicht. „Ermöglichen“ bedeutet allerdings auch den Einsatz von Mitteln und Mitarbeitern in einem Umfang, der ein solches Werk nicht mühsam am Tropf am Leben erhält, sondern seine Ausführung oder Revision in jeweils einer Generation anstrebt. Am 26. November 2012, einen Monat vor der Schließung ihrer DWBArbeitsstelle, gab die BBAW eine Presseinformation heraus, in der es hieß, dass „der ‚Grimm‘ in seiner abgeschlossenen Ausgabe“ (also in der Erstausgabe 1854–1960) in das neue digitale System (DWDS) eingehen werde. Das DWDS erhalte „eine historische Komponente (‚Grimm der Zukunft‘), die derzeit in Zusammenarbeit mit der Göttinger Akademie der Wissenschaften geplant wird und die große Tradition des Grimmschen Wörterbuchs mit den Mitteln der Gegenwart fortsetzt“. Zu merken ist die Umsetzung dieser schönen Absicht bisher

348 | Hartmut Schmidt nicht. Deshalb sei die Mahnung wiederholt: Die Bände der Neubearbeitung sind noch nicht einmal digitalisiert; wer im Internet wortgeschichtliche Auskünfte aus dem Informationsschatz des DWB sucht, wird für den Buchstabenbereich A–F noch immer nur über den Forschungsstand der vor 1863 erschienenen Bände informiert. Die Auskünfte der gedruckten Neubearbeitung werden im Netz verschwiegen. Ich kenne keine andere Wissenschaft, in der ein solcher Zustand geduldet würde. Hoffen wir, dass die Schließung der Berliner Arbeitsstelle kein böses Omen ist und die im November 2012 gegebenen Zusagen der BBAW wahr gemacht werden, damit die Brüder Grimm bei nächster Gelegenheit nicht nur wiederum als die Märchenbrüder gefeiert werden können, sondern auch endlich durch das Engagement der Akademien in Berlin und Göttingen für die Pflege des gemeinsamen wissenschaftlichen Hauptwerks von Jacob und Wilhelm Grimm, ihr Deutsches Wörterbuch.

Literatur Boehlich, Walter (1961): Ein Pyrrhussieg der Germanistik. Der Monat 154, 38–53. Braun, Wilhelm (1987): Das Deutsche Wörterbuch seit seiner Übernahme durch die Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1908 bis zu seinem Abschluß 1960. In: Joachim Dückert (Hrsg.): Das Grimmsche Wörterbuch. Untersuchungen zur lexikographischen Methodologie. Stuttgart: Hirzel, 125–152. DER SPIEGEL 10.05.1961, 15. Jahrgang, Nr. 20, 65–74: „GRIMM-WÖRTERBUCH. A bis Zypressenzweig“ (keine Verfasserangabe. Titelblatt: „Gesammelte Wörter: Brüder Grimm“). DWB: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (1854–1972/1983 ff.). 16 Bde. [in 32]; Quellenverzeichnis. Leipzig: Hirzel 1854–1971. –– Die neunbändige Neubearbeitung von A–F (abgeschlossen bis auf eine Lücke im Bereich B/C, an der noch gearbeitet wird) erschien zunächst ebenfalls in Leipzig, später in Stuttgart: Hirzel 1965 ff. Frings, Theodor & Bernhard Beckmann (1954): Vorwort. In: DWB XVI. Grimm, Jacob (1854): [Vorrede]. In: DWB I, I-LXVIII. Heyne, Moriz (1883): Vorwort. In: DWB VIII. Heyne, Moriz (1899): Vorwort. In: DWB IX. Hübner, Arthur (1935): Vorwort. In: DWB XI, I, 1. Humboldt, Alexander von: Brief vom 18.6.1852 an Jacob Grimm, Nr. 1164 im Grimm-Nachlass der Staatsbibliothek Berlin. Der Brief ist undatiert; das Datum ist erschlossen. Kirkness, Alan (Hrsg.) (2010): Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Rudolf Hildebrand, Matthias Lexer und Karl Weigand. Stuttgart: Hirzel. Klein, Wolfgang & Peter Schmitt (2004): Der alte und der neue Grimm. In: Die Brüder Grimm in Berlin. Katalog zur Ausstellung anläßlich des hundertfünfzigsten Jahrestages seit der Vollendung von Band I des Grimmschen Wörterbuches im Jahr 1854. Stuttgart: Hirzel, 167–176.

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Reichmann, Oskar (2001): Das nationale und das europäische Modell in der Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen. Freiburg/Schweiz: Univ.-Verl. Reichmann, Oskar (2012): Historische Lexikographie. Ideen, Verwirklichungen, Reflexionen an Beispielen des Deutschen, Niederländischen und Englischen. Berlin, Boston: de Gruyter. Schmidt, Hartmut (1997): Plädoyer für eine moderne korpusbasierte deutsche Wortschatzforschung. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 106, 19–29. Schmidt, Hartmut (2004): Das Deutsche Wörterbuch. Gebrauchsanleitung. In: Deutsches Wörterbuch. Elektronische Ausgabe der Erstbearbeitung von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. [„Der Digitale Grimm“]. Frankfurt/M.: Zweitausendeins, 25–64. Schmidt, Hartmut (2012): Erinnerungen an die achtzigjährige Geschichte der Berliner Arbeitsstelle des „Deutschen Wörterbuchs“. In: Berthold Friemel (Hrsg.): Brüder Grimm Gedenken. Bd. 17. Stuttgart: Hirzel, 137–192. Schröter, Ulrich (1987): Von Moriz Heyne zur Deutschen Kommission. Zur Bearbeitung des Deutschen Wörterbuchs von 1867 bis 1908. In: Joachim Dückert (Hrsg.): Das Grimmsche Wörterbuch. Untersuchungen zur lexikographischen Methodologie. Stuttgart: Hirzel, 91–124.