Kunst und Psyche - Berührungspunkte und Begegnungen 9783666450228, 9783647450223, 9783525450222

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Kunst und Psyche - Berührungspunkte und Begegnungen
 9783666450228, 9783647450223, 9783525450222

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Beiträge zur Individualpsychologie

Band 41: Pit Wahl / Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Kunst und Psyche – Berührungspunkte und Begegnungen

Pit Wahl / Ulrike Lehmkuhl (Hg.)

Kunst und Psyche – Berührungspunkte und Begegnungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 36 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über h­ ttp://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-45022-3 Umschlagabbildung: Ausschnitt aus dem Bild: »Zum Teufel – wie schön!« von Hanni Müller-Kranzhoff (2014), Privatbesitz © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Produced in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Jörg Rasche Mutter – Kind – Musik. Psychoanalytische Deutung von Schumanns »Kinderszenen« op. 15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Heike Fischer-Heine Die Bedeutung des Portraitmalens bei Lucian Freud (1922–2011) 33 Insa Fooken Übergangsobjekte, Doppelgänger, Kunst – vom seelischen Mehrwert der Puppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Doris Quiring Vom Ertragen des Unaushaltbaren zum Genießen des Unaussprechlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Josefin zum Felde Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zum Kämpfen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Klaus Branscheid Scheitern, besser scheitern, weiter scheitern – Samuel Beckett oder der Kampf mit dem primären Objekt . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Pit Wahl Gina Kaus: Teufel in Seide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

6Inhalt

Günter Heisterkamp Die Großelternsituation in Malerei, Literatur und Film . . . . . . . 185 Lutz Krüger und Aleš Vápenka Film und Container: Drei leere Container – Film als Container 214 Hermann Stöcker Der Einfluss von Kunsterleben, gesellschaftlichen und persönlichen Beziehungen in Nazifizierung und Demokratisierung von Georg, Jg. 1929 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Tilmann Moser Familienszenen – eine psychoanalytische Deutung von Gemälden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Elisabeth Fuchs-Brüninghoff und Doreen Röseler Menschen in der DGIP. Interview mit Ulrike Lehmkuhl, Gerd Lehmkuhl und Ronald Wiegand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Vorwort

Wer kennt das nicht? Beim Lesen belletristischer Literatur, beim Hören eines bestimmten Musikstücks, beim Betrachten eines Gemäldes oder einer Zeichnung, im dunklen Kinosaal beim Anschauen eines Films – ganz unmittelbar verdichtet sich der Eindruck, dass psychische Phänomene in diesen Ausdrucksformen künstlerischen Schaffens so überzeugend, subtil und ganzheitlich eingefangen werden, wie es den »Profis« im Bereich von Psychotherapie und Beratung häufig nur mit viel Engagement und Anstrengung möglich wird. Insofern erschien es dem Planungsteam der individualpsychologischen Jahrestagungen reizvoll, diese beiden Felder, Kunst und Psyche, in einen Dialog zu bringen und in ihren möglichen Berührungspunkten und Begegnungszusammenhängen aufeinander zu beziehen. Der nun vorliegende Tagungsband ist das Produkt dieses Vorhabens. Hier werden einerseits Kunst und künstlerisch-kreatives Schaffen in ihren »anderen« Formen der Annäherung an seelisches Geschehen in Bezug auf ihre Nutzbarkeit im weiten Feld von Psychoanalyse und Beratung beleuchtet, andererseits wird aber auch gefragt, inwieweit theoretisches Wissen über Seelisches die Kunst wiederum in besonderer Weise begreifen, analysieren und interpretieren kann. Auch wenn in den einzelnen Beiträgen dieses Tagungsbands der beiderseitige »Nutzwert« einer solchen Gegenüberstellung von Kunst und Psyche nicht immer explizit angesprochen wird, geht es dennoch um Fragen wie: Welchen Stellenwert haben künstlerische Perspektiven auf die menschliche Psyche für die »professionelle Seelenarbeit«? Ist Kunst die »bessere« Psychologie? Ermöglicht das theoretische Wissen über die Dynamik des Seelischen einen besseren Deutungszugang zum Verständnis von Kunstwerken? Lässt sich künstlerisches Gestalten psychotherapeutisch anwenden? Ist psychoanalytische Praxis eine Kunstform?

8Vorwort

Die Beiträge dieses Bandes, die weitgehend den Schriftfassungen der Vorträge entsprechen, die auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie 2014 in Berlin gehalten wurden, charakterisieren das oben skizzierte Spannungsfeld in jedem Fall als ein konstruktives Miteinander. Die Zusammenführung von Kunst und Psyche zeigt, dass es sich um eine höchst inspirierende, wechselseitige Bezogenheit für beide Themenbereiche handelt, die gerade in der Konfrontation, im Widerspruch, in der Irritation und selbst in der Provokation ein ungemein innovatives Potenzial besitzt. Die Beiträge setzen sich mit ganz unterschiedlichen Kunstgattungen und dem psychischen Gehalt der jeweiligen Werke auseinander: mit Musik, Malerei, bildender Kunst, Literatur und Film. Lässt man sich darauf ein, stellen sich häufig überraschend neue Erkenntnisse über seelisches Geschehen und seine Determinanten und Auswirkungen ein. Eröffnet wurde die Tagung mit einem musikalischen Vortrag des Psychoanalytikers und Jungianers Jörg Rasche, der anhand der »Kinderszenen« von Robert Schumann unmittelbar hörbar machen konnte, warum keine Kunstform nonverbale seelische Bewegungen so einzigartig erfahrbar und nachvollziehbar machen kann wie die Musik. Neben der inhaltlichen Erläuterung und tiefenpsychologischen Analyse des Werks von Schumann wird im Beitrag deutlich gemacht, wie im klanglichen Ausdruck und melodischen Gehalt dieser musikalischen Miniaturen bedeutsame primäre Beziehungserfahrungen seelisch nachgezeichnet und abgebildet werden. In ihrem Beitrag »Die Bedeutung des Portraitmalens bei Lucian Freud« befasst sich die Psychoanalytikerin Heike Fischer-Heine mit den Beziehungen, die der höchst eigenwillige und exzentrische Künstler Lucian Freud zu seinen Modellen aufbaute und pflegte. Neben der Skizzierung seiner Persönlichkeit und seiner Leidenschaft für den Blick auf alles Menschliche werden biografische Hintergründe und Bezüge ausgeleuchtet und das Schaffen des Künstlers in den Kontext primärer Beziehungserfahrungen gesetzt: zur Mutter, zum Vater und auch zu seinem berühmten Großvater Sigmund Freud. Trotz bekundeter Gleichgültigkeit gegenüber der Psychoanalyse taucht Lucian Freud malerisch tief in die Eigenarten seiner Modelle ein. Aber auch umgekehrt erlaubt die psychoanalytische Betrachtung der Bilder einen erhellenden Einblick in die biografischen Bezüge und das Gesamtwerk des Künstlers.

Vorwort9

Die Entwicklungspsychologin Insa Fooken betrachtet in ihrem Beitrag »Übergangsobjekte, Doppelgänger, Kunst – vom seelischen Mehrwert der Puppen« Puppen als einzigartige anthropomorphe Artefakte, die seit Menschengedenken über alle Kulturen hinweg als Begleiter menschheitsgeschichtlicher Entwicklung fungieren. Neben der Funktion von Puppen als Übergangsobjekte, Doppelgänger, Spiegel für Prozesse der Selbstwerdung und Projektionsfläche für Wünsche und Befürchtungen werden Puppen nicht zuletzt auch als Kunstobjekte betrachtet – in Malerei, Plastik, Literatur und Fotografie. In diesen künstlerischen Ausdrucksformen können Puppen existenzielle Formen des Menschseins zum Ausdruck bringen, menschliches Erleben in einzigartiger Weise transzendieren und gleichzeitig den Menschen wiederum auf sich selbst zurückwerfen. In ihrem klinisch-psychotherapeutischen Beitrag »Vom Ertragen des Unaushaltbaren zum Genießen des Unaussprechlichen« beschäftigt sich die Pädagogin Doris Quiring mit Entwicklungsprozessen in der analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Anhand von drei Fallbeispielen zeichnet die Autorin den schöpferischen Prozess in der gestaltenden Arbeit mit Tonerde nach. So kann sie darlegen, wie in der kreativen, künstlerischen Bearbeitung – jenseits von Worten – unbewuss­te Erfahrungen emotional fassbar und für den therapeutischen Prozess nutzbar gemacht werden können und die so stattfindenden Transformationsprozesse Wege zur Selbstheilung, zur Selbstwerdung und zur heilsamen Verwandlung eröffnen. Josefin zum Felde bezieht sich in ihrem Beitrag »Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zum Kämpfen!« auf dem Hintergrund ihrer beruflichen Erfahrungen als individualpsychologische Beraterin und Supervisorin auf migrationsspezifische Probleme sowie auf Überlegungen zur Integration gesellschaftlicher Randgruppen. Dabei beschäftigt sie sich mit den Möglichkeiten, auf inneren und äußeren Reisen mittels Kreativität und Phantasie auch unter schwierigen Umständen zu mehr Selbstentfaltung und Selbstbestimmung zu gelangen. Unter Bezugnahme auf das grimmsche Märchen »Die Bremer Stadtmusikanten« zeigt sie auf, wie Geschichten und Mythen helfen können, Ängste und Zweifel zu überwinden und neue Perspektiven zu eröffnen. Der Psychoanalytiker Klaus Branscheid arbeitet in seinem Beitrag »Scheitern, besser scheitern, weiter scheitern – Samuel Beckett oder

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der Kampf mit dem primären Objekt« heraus, wie sich die Kenntnis des Werks von Samuel Beckett für das Verständnis (früher) Spaltungsprozesse und schizoider Verarbeitungsmodi auch im Rahmen psychotherapeutisch-psychoanalytischer Arbeit als außerordentlich hilfreich erweisen kann. So hat sich kaum ein Schriftsteller im Rahmen seines Schaffens so eindringlich mit dem Misslingen vornehmlich primärer Beziehungen und dessen Folgen auseinandergesetzt wie Beckett. Dementsprechend wird in Becketts literarischem Werk immer wieder die Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz infrage gestellt und die Thematik des Scheiterns aufgeworfen. Mit seinem collagenartig, unter Nutzung von Bilddokumenten und Filmausschnitten aufbereiteten Beitrag »Gina Kaus: Teufel in Seide« macht der Psychoanalytiker Pit Wahl auf eine bemerkenswerte Schriftstellerin und Künstlerin aufmerksam, die in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts erfolgreich Novellen, Theaterstücke und Romane verfasste, in denen implizit und explizit individualpsychologische Themen behandelt werden. Nach ihrer durch die Nazis erzwungenen Emigration in die USA war Gina Kaus als Drehbuchautorin in Hollywood tätig, geriet aber weitgehend in Vergessenheit. Dennoch wurde ihr 1940 im Exil publizierter Roman »Der Teufel nebenan« im Jahr 1956 unter dem Titel »Teufel in Seide« mit Lilli Palmer und Curd Jürgens in Deutschland verfilmt. Der Vergleich von Schrift- und Filmfassung dieses Werkes wird dabei auch herangezogen, um den zahlreichen Wechselfällen in Leben und Werk von Gina Kaus nachzuspüren. Der Psychoanalytiker und Körpertherapeut Günter Heisterkamp fokussiert die Generationseinheit der Großeltern und nähert sich auf diese Weise in seinem Beitrag »Die Großelternsituation in Malerei, Literatur und Film« dem Thema Kunst und Psyche. Er beschreibt unterschiedliche Konstellationen von Großeltern und Enkelkindern, untersucht, wie diese in ausgewählten Kunstwerken dargestellt werden und wie sie in einen psychologischen Austausch gebracht werden können. Dabei akzentuiert er in besonderer Weise die Frage, was sich – tiefenpsychologisch betrachtet – auf der Beziehungsebene an psychischem Geschehen zwischen Großeltern und Enkelkindern abspielt und worin förderliche bzw. hinderliche Entwicklungsbedingungen für beide Generationen liegen. In ihrem Beitrag »Film und Container: Drei leere Container  – Film als Container« erörtern die beiden Psychologen Lutz Krüger und

Vorwort11

Aleš Vápenka die Möglichkeiten des Films als künstlerisches Medium. Dabei geht es zum einen um die räumliche Dimension eines psychoanalytischen Konzepts, das sich der Metapher des »Containers« bedient. Hier wird mit dem Gedanken gespielt, wie dessen diskursiv besetzte Leere im kulturellen Kontext der Galerie oder des Kinos wiedererkannt und vergleichend zu einem weiteren Verständnis angereichert werden kann. Zum anderen werden mit dem Bild des »Films als Container« die Möglichkeiten untersucht, das Konzept des Containers im Sinne der Funktion einer »hinreichend guten Mutter« für eine psychoanalytische Filmbetrachtung nutzbar zu machen, veranschaulicht am Beispiel des Nachkriegsfilms »Die Mörder sind unter uns«. In seinem Beitrag »Der Einfluss von Kunsterleben, gesellschaftlichen und persönlichen Beziehungen in Nazifizierung und Demokratisierung von Georg, Jg. 1929« greift der Psychoanalytiker Hermann Stöcker eine psychologische Entwicklungsthematik unter Bezug auf zeit- und kulturhistorische Rahmenbedingungen auf. Ausgehend von einem biografischen Bericht sowie einigen lebensgeschichtlichen Dokumenten eines 1929 in Bremen geborenen Mannes wird der Prozess der (individuellen) Nazifizierung bis 1945 und der späteren inneren Umorientierung bis 1960 dargestellt und verstehbar gemacht. Dabei werden familiäre Bedingungen und die Erziehung in den nationalsozialistischen Jugendorganisationen sowie persönliche Kunsterlebnisse und Entwicklungsangebote im Rahmen der amerikanischen und deutschen »Reeducation« in besonderer Weise reflektiert. Der Psychoanalytiker und Körpertherapeut Tilmann Moser setzt in seinem Beitrag »Familienszenen – eine psychoanalytische Deutung von Gemälden« die Prämisse, dass psychoanalytische Arbeit ohne Assoziationen, Metaphern und die Verwendung innerer Bilder nicht vorstellbar und praktizierbar ist. Darüber hinaus verweist er darauf, dass es nicht nur Phantasien oder Einfälle von Patienten sind, die als projektives Material von Bedeutung sind, sondern auch die Bilder, die sich real im Behandlungsraum des Therapeuten befinden. Unter Rückgriff auf eine psychoanalytische Interpretation der Bilder »Frühstück im Atelier« von Eduard Manet (1868) und »Die Begegnung« von Edgar Ende (1933) wird erläutert, wie sich mithilfe von Werken aus der bildenden Kunst (konflikthafte) Familienbeziehungen verstehen und deuten lassen.

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Im letzten Beitrag dieses Tagungsbands sind Teile eines Interviews abgedruckt, das Elisabeth Fuchs-Brüninghoff und Doreen Röseler mit drei Personen geführt haben, die sich in besonderer Weise für die Sache der Individualpsychologie im deutschsprachigen Raum verdient gemacht haben: Ulrike und Gerd Lehmkuhl sowie Ronald Wiegand. Als Zeitzeugen und über Jahre hinweg ehrenamtlich Engagierte, die in ganz unterschiedlichen Funktionen die individualpsychologische Bewegung national und international mitgeprägt haben, stellen sie sich den Fragen einer langjährigen Mitstreiterin und individualpsychologischen Beraterin und einer Kollegin, die erst kürzlich ihre Ausbildung zur individualpsychologischen Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin abgeschlossen hat. Wir hoffen, mit der Wiedergabe dieses Gespräches einen Beitrag zu leisten zur aktuellen Geschichtsschreibung der DGIP und zur Identitätsbildung aller derjenigen, die sich mit der individualpsychologischen Bewegung verbunden fühlen. Wir wünschen all denjenigen, die an der Tagung teilgenommen haben, mit diesem Band eine gute »Nachlese« und denjenigen, die nicht dabei waren, aber Interesse an der Begegnung von Kunst und Psyche haben, viele bereichernde und anregende Erkenntnisse. Pit Wahl und Ulrike Lehmkuhl

Jörg Rasche

Mutter – Kind – Musik Psychoanalytische Deutung von Schumanns »Kinderszenen« op. 15

Mother – child – music. Psychoanalytic interpretation of Schumann’s »Scenes from childhood« op. 15 No other art form allows such a unique experience and emotional comprehension of nonverbal emotional and psychic movements like music. The following contribution refers to Robert Schumann’s »Kinderszenen« (»Scenes from childhood«) and illustrates how vivid and intense tonal and melodical aspects of these musical miniatures picture and trace the experience of significant primary relationships. Zusammenfassung Keine Kunstform kann nonverbale seelische Bewegungen so einzigartig erfahrbar und nachvollziehbar machen wie die Musik. Im folgenden Beitrag wird anhand von Robert Schumanns »Kinderszenen« veranschaulicht, wie lebendig und intensiv klanglicher Ausdruck und melodischer Gehalt dieser musikalischen Miniaturen bedeutsame primäre Beziehungserfahrungen nachzeichnen und abbilden.

In den letzten Jahren ist der frühe Austausch von Mutter, Kind und Vater erneut und vertieft untersucht worden, und im Zusammenwirken mit der Hirnforschung ergeben sich faszinierende Ausblicke auf ein ganzheitliches Verständnis unserer Psyche in unserem Körper und im Geflecht unserer Beziehungen. In diesem Aufsatz soll veranschaulicht werden, welchen Beitrag das Erleben von Musik und die Analyse von musikalischen Kompositionen zum Verständnis und Nachvollzug dessen bieten können, was das Kind, die Mutter, der Vater in der frühen Zeit erleben. Der Versuch bietet sich schon deshalb an, weil das frühe Erleben ja der Sprache verschlossen ist: Es gibt hier noch kein Gedächtnis für Episoden, die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit braucht Zeit, und die frühkindliche Amnesie versperrt den Zugang zurück zum Erleben davor. Musik ist jedoch

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Jörg Rasche

ein Geschehen, das ohne Sprache auskommt und das eng mit körperlichem und emotionalem Erleben verbunden ist. In einem Aufsatz kann von Musik allerdings wenig unmittelbar vermittelt werden. Ein Text wie dieser dient eher der Hinführung, verbunden mit der Aufforderung, sich die »Kinderszenen« von Schumann1 einmal wieder anzuhören2 oder sie selbst zu spielen. Ein paar Sätze sollen jedoch einleitend daran erinnern, dass Sprache und Musik einiges gemeinsam haben. Wenn wir sprechen, benutzen wir eine Sprache mit Wortbedeutungen, einer Syntax und einer Grammatik. Wir bemühen uns, in unserer Sprache Wörter und Wendungen zu verwenden, die für unser Gegenüber verständlich sind, das heißt, wir bewegen uns in einem sprachlichen Kontext, der ziemlich genau definiert ist, was die Sprachebene und verschiedene Konventionen angeht. Wir machen uns selten klar, dass unsere sprachliche Kommunikation von Mitteilungen begleitet ist, die unbewusst sind, von Modulationen der Stimme, von Rhythmen, von Ausdrucksbewegungen oder einer inneren und gegenseitigen emotionalen Dramaturgie, die ebenso wichtig für das Gelingen einer Kommunikation sind wie die reine Semantik. Diese »Sprache hinter der Sprache« scheint, wie wir aus Studien über die Konversationsmuster von Tieren wissen, auch grundlegend zu sein für den Erwerb des Sprechens. Noam Chomsky (1968, dt. 1970) hat in den 1960er Jahren die Hypothese einer »Tiefengrammatik« aufgestellt, der wir unsere Sprachkompetenz verdanken. Sie unterscheidet sich möglicherweise nicht allzu sehr von der (wir können sagen: emotionalen und symbolischen) Basiskommunikation anderer warmblütiger Tiere (insbesondere der Primaten), nur dass diese nicht den Schritt zu einer begrifflichen Sprache gegangen sind – vermutlich weil sie in der Regel den Mund (man sagt: das Maul) brauchten, um etwas anderes, Gegenständliches damit festzuhalten. Bekannt ist die Fabel La Fontaines vom Maître Corbeau, dem Raben mit einem Käse im Schnabel, der ihm hinabfällt zu dem listigen Fuchs, der ihn zum Sprechen verführt. Durch unsere

1 Text und Noten z. B. in der Ausgabe Schumann, R. (1838/2001). Kinderszenen, für Klavier, op. 15 – Urtext. Frankfurt a. M. u. Leipzig: Peters (siehe auch: http://de.wikipedia.org/wiki/Kinderszenen). 2 Z. B. unter: https://www.youtube.com/watch?v=QiMFICjD5Hg

Mutter – Kind – Musik15

Hände haben wir den Mund frei zum Sprechen – und können die Erfahrung machen, dass Reden manchmal Silber ist und Schweigen Gold. Musik wirkt auch, wenn wir sie nicht mit Sprache einholen wollen. Und das Sprechen über Musik führt schnell und grundsätzlich an eine Grenze, jenseits derer die meinende Sprache nicht mehr hinreicht. Ich denke, dass diese Begrenztheit der verbalen Sprache evolutionäre Vorteile gebracht hat (Eindeutigkeit, Sparsamkeit der Mittel), aber auch einen Verlust. Besonders seit der weltanschaulichen Revolution der Aufklärung, eines Descartes oder Newton, gilt in unserer Kultur eigentlich nur das, was sich eindeutig mit Worten (am besten sogar mit Versuchsbeschreibungen oder Formeln) beschreiben lässt. Der ganze Reichtum und die Vielfalt von Mitteilungen, die in jener emotionalen oder symbolischen »Basiskommunikation« enthalten sind, die wir mit höheren Tieren – zumindest mit sozialen Säugetieren – gemeinsam haben, sind in unserer sprachbetonten Kultur ausgeblendet. Die elementare Konversation ist es aber, die das enthält, was wir (sprachlich reduziert) als »Beziehungen« oder »Beziehungsmuster« bezeichnen. Heute wissen wir, dass Beziehungsmuster sogar in der Naturwissenschaft entscheidend sind, nicht Gegenstände. »At the basis of matter there is no matter«, sagen Quantenphysiker. In der alten Wissenschaft, zum Beispiel der Alchemie des 16. Jahrhunderts, sprach man von der Sympathie und Antipathie von Elementen, von der Liebe des Phosphors zum Feuer oder von der gemeinsamen Musik der Planeten auf ihren Umlaufbahnen. Hier gab es noch ein Wissen vom Leben der Natur, vom Geflecht ihrer Beziehungen und von der Verantwortung des Menschen als eines Teils eben dieser Natur (vgl. auch Jung, 1944/2011; 1942–1957/2011). Interessanterweise ist in unserer Kultur die Musik umso mehr zum gesellschaftlichen Anliegen geworden, je mehr die Sprache ihre ganzheitliche Dimension verloren hat. Meine These ist, dass sich das alte partizipierende Bewusstsein, die Denkform des vormodernen Menschen, gewissermaßen in die Musik gerettet hat. Dort gilt noch jede einzelne Stimme, es gilt die Polyphonie, das Aufeinander-Hören, das gemeinsame Hervorbringen von lebenden Ordnungen. Wir brauchen Musik, weil wir ohne diese Denkform, ohne diese »emotionale und symbolische Basiskommunikation« nicht leben können. Musik kompensiert die einseitig rationalistische, sprachbetonte Einstellung unserer Kultur.

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Jörg Rasche

In der Romantik können wir nun beobachten, wie die Entstehung der elementaren Konversation selbst zum Gegenstand der Musik wird. Es war ein langer Weg von Johann Sebastian Bach oder den inneren Dialogen der klassischen Musik bis zur Entdeckung der frühesten Dialoge zwischen Mutter und Kind – und ihrer Gestaltung in musikalischen Kompositionen. Das Schlüsselwerk sind die »Kinderszenen« von Schumann, geschrieben 1838. Es ist schon erstaunlich, zu hören, wie der geniale Robert Schumann, damals 27 oder 28 Jahre alt, diese Basiskommunikation gefunden, im Komponieren erforscht und nachgestaltet hat. Die Musik beschreibt hier ihr eigenes Wesen. Sie entführt den Hörer (und den Spieler) in eine Welt, die für uns alle lange zurückliegt und die wir doch in uns tragen, als »Sprache hinter der Sprache« und als Erfahrung aus unserer frühesten Kindheit. Zugleich lebt in dieser Musik eine aktuelle, lebensnotwendige Qualität unserer Psyche, unseres seelischen Lebens. Es ist eine Qualität der Bezogenheit. Die früheste Form von Bezogenheit ist die von Mutter, Kind – und Vater. Genau davon handeln, wie ich sie verstehe, die »Kinderszenen«. Unentschieden muss bleiben, wie viel davon Robert Schumann selbst bewusst war, als er die Kinderszenen komponierte – bewusst im Sinne von: verbalisierbar im Wissen seiner Zeit. Er muss über ein ungeheures intuitives Wissen verfügt haben. Er hatte zu dem Zeitpunkt selbst noch keine eigenen Kinder.

Klänge vor der Geburt Die Hörerlebnisse eines Kindes – also auch unserer Kindheit – reichen lange vor die Geburt zurück. Das Leben beginnt nicht mit der Geburt, weder das des Körpers noch das der Psyche. Das Netz der Wahrnehmungen entwickelt sich schon im Mutterleib, und akustische Ereignisse spielen dabei eine große Rolle. Gegen Ende des vierten intrauterinen Monats ist das Gehör des Embryos fertig. Von diesem Zeitpunkt an hört das Kind den Puls des mütterlichen Herzens, das rhythmische Rauschen der großen Blutgefäße, es hört die Entfaltung der Lunge beim Atmen, es hört Darmgeräusche und es hört die Stimme der Mutter, die mit dem Kind in ihrem Leib oder mit anderen Leuten spricht. Es hört die Stimme des Vaters (die das Baby auch gleich nach der Geburt erken-

Mutter – Kind – Musik17

nen kann) und die Stimmen der Geschwister. Es nimmt auch Schwingungen wahr, Geräusche und Musik. Schon im Mutterleib werden die ersten Knoten des psychischen Netzwerkes geknüpft, werden Verbindungen zwischen Ereignissen hergestellt. Möglicherweise beginnt hier schon das, was ich als Basiskommunikation bezeichnet habe. Das Kind ist bereits intrauterin verschiedenen »Störungen« ausgesetzt, solchen aus dem mütterlichen Körper selbst (z. B. bei Bewegungen der Mutter, wenn sie etwas »Falsches« gegessen oder wenn sie Kummer hat) oder aus der Umgebung der Mutter, und dann versucht die Mutter, indem sie mit sich »selbst« spricht, das heißt dem unruhigen Kind in ihrem Bauch, sich selbst und das Kind zu trösten und zu beruhigen. Gerade die Stimme der Mutter stellt ein Objekt der Stabilisierung für das »Bauchkind« dar, sie ist die erste Manifestation des Selbst im Leben vor der Geburt. Physiologisch gesprochen können wir sagen, dass die frühen Ereignisse mit Frequenzen zu tun haben, mit Rhythmen, mit Spannung und Entspannung, die fest im körperlichen Erleben verankert sind. Wenn das Kind geboren ist, wird der gemeinsame Körper nach und nach von Formen der Bezogenheit abgelöst, die vermittelt sind über die Pflege des Säuglings, die Ernährung, die Berührung. Alle Sinne sind daran beteiligt, dass ein gemeinsamer Tanz entsteht, aus dem heraus sich Kind und Mutter letztlich voneinander entfernen. Es entsteht eine Dynamik zwischen Ereignissen, die »fürchten machen« (so der Titel einer der Kinderszenen), und solchen, die das Vertrauen nähren. Es öffnet sich durch die Interaktion von Mutter und Kind der gemeinsame Raum, den Winnicott als Übergangsraum bezeichnet hat (Rudnytsky, 1993). Carl Gustav Jung (1928/2014) beschreibt ihn als den Raum, in dem gemeinsame Erfahrungen möglich sind, den Raum eines gemeinsamen (kollektiven) Unbewussten, den zunächst zwei Menschen miteinander teilen. Es entstehen Elemente eines partizipierenden, geteilten Bewusstseins: die Abstimmung der Gefühle (affect attunement) zwischen Mutter und Kind schafft immer wieder einen sicheren Raum für das Erleben der Welt: des »Dritten«. Solche Abstimmungen haben sehr viel mit Klängen, Frequenzen, Rhythmen zu tun, wie sie schon während der Schwangerschaft erlebt wurden. Erstaunlicherweise führt Schumanns Musik bis in diesen Bereich zurück. Die Evidenz eines solchen Erlebens setzt allerdings

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Jörg Rasche

voraus, dass man sich ihm öffnen kann. Musik kann ein »Übergangsraum« sein, in dem dargestellt, ausprobiert, gezeigt und erlebt werden kann, was sich der Sprache verschließt oder über sie hinausreicht. Und wie immer ist es eine Frage der Gegenübertragung, was wir letztlich erleben.

Schumann und die Familie Carus Die Musik der Romantik ist von besonderer Subjektivität und Individualität. Die Epoche der Romantik, als Reaktion und Gegenbewegung zur Aufklärung und Französischen Revolution, hat insgesamt die Entwicklung dessen sehr vorangebracht, was wir heute als unsere Individualität für selbstverständlich nehmen und voraussetzen. Ein Zeichen dafür ist, dass auch die wissenschaftliche Psychologie ein Kind der Romantik ist. An erster Stelle ist hier Carl Gustav Carus zu nennen, Arzt und Philosoph, Psychiatrieprofessor in Leipzig, Freund von Goethe. Er veröffentlichte 1846 das erste Lehrbuch der modernen Psychologie: »Psyche – zur Entwicklungsgeschichte der Seele« (Carus, 1846/1975). Carus beschreibt hier schon die Ideen des Bewusstseins, des Unbewussten und selbst die des kollektiven Unbewussten. Seine Konzepte des absoluten und relativen Unbewussten sind Vorläufer von Jungs archetypischem kollektiven und des persönlichen Unbewussten. Nach Carus kommen aus der Matrix des Unbewussten die heilenden und kompensierenden Kräfte, welche die Einseitigkeiten der persönlichen Erfahrung und Einstellung ausgleichen. Das entscheidende Medium dafür sind Träume. Carus beschäftigte sich als einer der ersten auch mit der Psychologie von Kindern. Man findet bei ihm sogar schon ein Konzept wie die Anima, nämlich den weiblichen Aspekt der männlichen Psyche. C. G. Jung (der seinen Vornamen Karl wie Carus mit C schrieb) sagte einmal, seine Psychologie habe viel mehr mit der von Carus zu tun als mit der von Freud (Ellenberger, 1973, Bd. 1, S. 294). Ein anderes Mitglied der Familie Carus war Ernst August Carus, ebenfalls Arzt, Psychiater, Chirurg, Gründer der ersten orthopädischen Klinik in Sachsen. Sein Nachfolger war übrigens jener Professor Schreber, dessen Sohn unter der schwarzen Pädagogik seines Vaters zu leiden hatte, und dessen Fallgeschichte Freud interpretierte.

Mutter – Kind – Musik19

Familie Carus hatte nun persönlich einiges zu tun mit Robert Schumann. Die Familien Carus und Schumann waren befreundet. Schumann war 1810 in Zwickau in Sachsen geboren. Sein Vater war Buchhändler, liebte Jean Paul, war mehr ein Dichter als ein Geschäftsmann. Die Mutter Schumanns war eine komplizierte, dominierende Person. Mit drei Jahren gab sie Robert in eine Pflegefamilie, wo er bis zum Alter von fünfeinhalb Jahren blieb. Eine ältere Schwester von Robert wurde depressiv und nahm sich das Leben, als Robert dreizehn Jahre alt war. Er spielte oft Klavier für sie, um sie zu erheitern. Doch da war Agnes Carus, die Frau von E. A. Carus, die gerne sang, Robert zum Klavierspiel ermunterte, und für die er frühe Lieder komponierte. Robert war ein begabter Junge, der sich später entscheiden musste zwischen Musik und Schriftstellerei. Er wusste nicht, was er tun sollte, und ging nach Leipzig, um Jura zu studieren. Er war ratlos, vielleicht auch melancholisch, und suchte Hilfe bei Carus, der inzwischen hier Professor war. Carus wurde sein Arzt (Rasche, 2004). Es ging um »Schattenintegration«. Man könnte sagen, dass Schumanns ganzes Werk um die Thematik kreist, Widersprüche und Gegensätze in der eigenen Person zu integrieren. Insofern ist er echter Vertreter der Romantik, er teilte ihre Hoffnungen und ihr Scheitern ebenso wie Novalis, Kleist, Lenau oder Hölderlin. Im Erforschen des Ausdrucks sind die großen Romantiker bis an die Grenzen gegangen oder darüber hinaus. Was sie uns mit ihren Werken schenkten, sind aber gerade deshalb nicht Dokumente einer Pathologie, sondern Protokolle von Erfahrungen, die alle Menschen machen, aber nicht erinnern. Gerade in den »Kinderszenen« gelingt es Schumann, allgemein menschliche, archetypische Erfahrungen festzuhalten und nachzugestalten. Ich kenne keine Protokolle der Begegnungen von Carus und Schumann. Sicher sprachen sie auch über die Psychologie von Kindern. Vielleicht hat Robert hier erste Anregungen für die »Kinderszenen« bekommen. Im Hause Carus war eines Abends (am 31. März 1828) ein Hauskonzert, auf dem ein neunjähriges Mädchen Klavier spielte. Es war Clara Wieck, die Tochter eines fanatischen Klavierlehrers. Robert verliebte sich in die großen Augen des Wunderkindes, er wurde selbst Schüler von Wieck und zog in dessen Haus. Für Clara schrieb er 1837 die Kinderszenen. Vielleicht wollte er ihr etwas Kindheit schenken, die sie nie hatte haben dürfen. Sie schenkte ihm dafür später sechs Kinder.

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Abbildung 1: Notenbeispiel: Von fremden Ländern und Menschen; Quelle: Schumann (1838/2001), vgl. Rasche, 2014, S. 305

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Variationen über die Mutter Die »Kinderszenen« sind nicht, wie man üblicherweise liest, ein loses Bündel hübscher Kinderstückchen. Es sind Variationen über ein Thema, das sich durch alle Stücke zieht und gewissermaßen herbeimusiziert wird. In den Variationen der romantischen Musik steht das Thema nicht fertig am Anfang, sondern wird umkreist wie eine Vision oder ein inneres Bild. »Ich sehe dich in tausend Bildern, Maria, lieblich ausgedrückt, doch keins von allen kann dich schildern, wie meine Seele dich erblickt« (Novalis, 1802/2013). Eine Idee von diesem Thema kann schon das erste der 13 kurzen Stücke geben. Es heißt »Von fremden Ländern und Menschen« (siehe Abbildung 1): Die Melodie in der Oberstimme zeigt einen Anstieg im ersten und einen Abstieg im zweiten Takt. Es ist eine Urmelodie, die in ihrer Schlichtheit an eine Ausdrucksbewegung erinnert, eine Bewegung der Hände wie beim Streicheln eines Kopfes. Wir können diese Tonfolge tatsächlich in fast allen der 13 Stücke der Kinderszenen in der Oberstimme wiederfinden: In Nr. 2 »Curiose Geschichte« gibt es einen bewegten Anfang, nachdem im 3. Takt in der Oberstimme die Tonfolge g-fis-e-d das Thema abschließt (siehe Abbildung 2):

Abbildung 2: Notenbeispiel: Curiose Geschichte (die Handbewegung des Spielers spiegelt die Gestik des aufgeregten Erzählens); Quelle: Schumann (1838/2001), vgl. Rasche, 2014, S. 312

In Nr. 4 »Bittendes Kind« finden wir die Urlinie in reiner Form mit einem kleinen Anstieg am Ende, der wie eine Frage wirkt (siehe Abbildung 3):

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Jörg Rasche

Abbildung 3: Notenbeispiel: Bittendes Kind; Quelle: Schumann (1838/2001), vgl. Rasche, 2014, S. 315

In Nr. 7, der bekannten »Träumerei«, wird die Urlinie eingeleitet mit einem schwärmerischen Anstieg (siehe Abbildung 4), dann erscheint sie in Takt 2 (transponiert nach f):

Abbildung 4: Notenbeispiel: Träumerei; Quelle: Schumann (1838/2001), vgl. Rasche, 2014, S. 319

Wer die Noten zu Hause hat, möge die Urmelodie in den anderen Stücken selbst suchen. Dieser melodische Kern der Kinderszenen hat – für mich – einen symbolischen Gehalt. Es ist eine Auf- und Ab-Bewegung. Sie drückt eine Anspannung und Entspannung aus wie ein Atemzug. Für mich als Sandspieltherapeut ist auch evident, dass sie eine Kontur nachzeichnet wie die eines Bauches oder einer Brust. Die Ausdrucksbewegung entspricht der Botschaft. Sie drückt Zärtlichkeit und Zuwendung aus. Sie öffnet einen Raum und schließt ihn wieder. Sie gleicht dem Singsang einer Mutter für ihr kleines Kind: Die Melodie ist wie eine Ausdrucksbewegung in Tönen. Die Symbolik dieser musikalischen Gestalt ist also mehrfach determiniert. Alle ihre Facetten können auf den Archetyp der Mutter bezogen werden. Deshalb nenne ich das Urthema der Kinder-

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szenen eine »Mutter-Melodie«. Die Zusammenschau der einzelnen Szenen und die verborgene Dramaturgie ihres Ablaufs werden wie Amplifikationen den Zusammenhang mit der Mutter weiter verdeutlichen.

Zyklen der Entwicklung Die Kinderszenen tragen Titel, die Schumann nachträglich den Stücken vorangestellt hat. Sie lauten: 1. Von fremden Ländern und Menschen, 2. Kuriose Geschichte, 3. Hasche-Mann, 4. Bittendes Kind, 5. Glückes genug, 6. Wichtige Begebenheit, 7. Träumerei, 8. Am Kamin, 9. Ritter vom Steckenpferd, 10. Fast zu ernst, 11. Fürchtenmachen, 12. Kind im Einschlummern, 13. Der Dichter spricht. Die 13 Stücke der Kinderszenen lassen sich rein musikalisch in zwei Zyklen oder Spannungsbögen einteilen: Der erste Bogen geht von der 1. Szene »Von fremden Ländern und Menschen« bis zur 5. Szene »Glückes genug«. Die 6. Szene »Wichtige Begebenheit« stellt eine Zäsur dar und eröffnet wie ein Doppelpunkt den zweiten Bogen von Nr. 7 »Träumerei« bis Nr. 12 »Kind im Einschlummern«. Die Nr. 13 »Der Dichter spricht« ist ein Epilog. Diese Gliederung in Spannungsbögen entspricht erstaunlich genau einem psychologischen Geschehen zwischen Mutter und Kind. Jedes Mal beginnt der Bogen mit einer Szene des Einvernehmens, der stillen Harmonie (Nr. 1 bzw. 7), worauf eine Entwicklung von größerer Bewegung folgt (Nr. 2 und 3 bzw. 8 und 9), die zu einer Krise führt und einer Bewegung zurück zur ursprünglichen Harmonie. Das entwicklungspsychologische Muster, das sich hier in der Musik wiederfinden lässt, ist früh von Erich Neumann (1949/1974, 1963/1999) und Michel Fordham (1947, dt. 1970) beschrieben worden, später von Margaret Mahler (1969, dt. 1972) oder neuerdings von Daniel Stern (1977, dt. 2000). Es geht um die Entfaltung der Autonomie in der Bezogenheit von Mutter und Kind, um den inneren Prozess von Mutter und Kind in den Lösungs-, Übungs- und Wiederannäherungsphasen. Neumann hat das Geschehen als ersten »Drachenkampf« bezeichnet, der das Kind aus dem allmächtigen Kreis des mütterlichen Selbst herausführt. Das Kind verlässt immer wieder den schützenden und bergenden Schoß oder die Nähe

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der Mutter, es geht immer wieder bis an die Grenzen des vertrauten Raumes, bis es umkehren muss, um wieder Nähe zu spüren, »aufzutanken« – und um sich alsbald wieder auf neue Abenteuer zu begeben. Hilfreich bei diesem Reifungskampf ist die Präsenz des Dritten, des Vaters, der das Kind vor Ängsten schützt, die aus der Bindung an die Mutter herrühren und vor denen die Mutter das Kind gerade deshalb nicht selbst schützen kann. Auch die archetypische Rolle des Vaters hat Schumann in seiner Musik genial erfasst.

Vorgeburtliche Musik? Musik als Kunst mit Tönen, als Gewebe klingender Ausdrucksbewegungen, als künstlerische Gestaltung von »Sprache hinter der Sprache« erfasst verschiedene Ebenen der Wahrnehmung. Musik lebt zum Beispiel vom Rhythmus, so wie unser unbewusstes physiologisches Leben, das Schlagen des Herzens, die Bewegungen des Atmens oder die des Gehens. Musik lebt auch von Gefühlen, genauer gesagt: vom Wechselspiel der Affekte, die mit musikalischen Anspannungen und Entspannungen verknüpft sind. Sie drücken sich aus im An- oder Absteigen von Melodien oder im mehr oder weniger konsonanten, harmonischen Zusammenklang. Musik lebt vom Schicksal geformter melodischer oder thematischer Linien, und sie lebt vom Spiel der Verknüpfung solcher Linien, vom Spiel der Beziehungen, die diese untereinander aufnehmen. All das, was in der »symbolischen und emotionalen Basiskonversation« eine Rolle spielt, ist auch Element der Musik. Im Mikrokosmos der Kinderszenen Schumanns lassen sich verschiedene Ebenen der Gestaltung und der Wahrnehmung zeigen, die vom physiologischen Erleben bis zum entfalteten symbolischen Geschehen der Ödipus-Phase reichen. So wie der Psychoanalytiker seine Aufmerksamkeit zwischen verschiedenen Ebenen oszillieren lässt, um ein möglichst vollständiges Bild der Übertragungssituation und der archetypischen Konstellation zu erhalten, so kann der Spieler und Hörer von Musik seine Aufmerksamkeit wandern lassen. Er kann in die Musik eintauchen, ohne zu denken. Er kann auch seine Aufmerksamkeit richten auf die physiologischen Rhythmen, die angesprochen werden, auf die Aussage der Ausdrucksbewegungen und wechseln-

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den Intervalle, auf die Stimmungen, die in ihm anklingen, oder auf die symbolische Ebene. Die erste der Kinderszenen, »Von fremden Ländern und Menschen«, ist in diesem Sinne ein erstaunliches Stück, wie es wohl nur die Romantik zuwege bringen konnte. Es übersetzt nämlich direkt ein körperliches Erleben in Musik. Das Stück ist eine Art »Träumerei« wie die Nr. 7, doch zeigt es im Gegensatz zur Nr. 7 eine einfachere rhythmische Struktur. Die Oberstimme öffnet und schließt wie ein Atemzug einen Spannungsraum, wobei die zu- und abnehmende Spannung durch die gegenläufige Bassstimme und die Harmonik der Mittelstimme unterstrichen wird. Die Mittelstimme ist in Triolen geführt. Das Stück wird am besten so gespielt, dass der Melodiebogen von Takt 1 und 2 einem ruhigen Atemzug entspricht. Dann »atmet« die Musik. Das Thema braucht etwa 5 Sekunden. Ein erwachsener Mensch atmet im Durchschnitt 16 bis 20 Mal in der Minute, in großer Entspannung können es 12 ruhige Atemzüge sein. Beim Erwachsenen kommen auf einen Atemzug etwa 6 Herzschläge, was die normale Herzfrequenz von 72 Schlägen ergibt. Wenn die Rhythmen unseres Stückes nun mit den physiologischen Rhythmen von Atem und Herzfrequenz verglichen werden, stellen wir fest, dass die Mittelstimme mit den Triolen 12 Schläge auf einen Atemzug macht. Das ist die doppelte Herzfrequenz des Erwachsenen. Tatsächlich ist es die eines ungeborenen Kindes: Im 5. Monat der Schwangerschaft sind es 155, beim Neugeborenen 135 Schläge in der Minute. Wer also entspannt die erste der Kinderszenen anhört, am besten mit geschlossenen Augen, hört den entspannten Atem der Mutter und die Herzschläge des ungeborenen Kindes – und das mag die frühesten, im eigenen Körpergedächtnis gespeicherten Eindrücke wiederbeleben. Wir hören uns selbst, vor unserer Geburt. Wenn man das Stück selbst spielt und auf den Ausdruck von Spannung und Entspannung der Melodie achtet, atmet man erfahrungsgemäß schneller, nämlich in jedem Takt aus und ein. Das ergibt eine Frequenz von 24 Atemzügen pro Minute – es ist die eines Kindes von vielleicht vier Jahren! Biologische Rhythmen sind flexibel und passen sich den Erfordernissen an. Man kann das Stück schneller oder langsamer spielen, je nachdem, welche Wahrnehmung wichtig erscheint. Es geht um die

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innere Zeit. Wenn man es etwas schneller nimmt, das heißt, vielleicht 4 Sekunden für das Thema braucht, sind Mutter und Kind etwas aufgeregter – wie zum Beispiel bei der Schwangerschaftsuntersuchung, bei der die Frequenzen gemessen werden. Wenn man es langsamer nimmt, vermittelt es Ruhe. Musik hat eine physiologische Wirkung. Sie vermittelt Botschaften, die den Körper direkt erreichen. In Schumanns genialem Stück reichen die Muster tatsächlich bis in archetypisches Körpergeschehen hinab – in Atmung und Herzschlag.

Ausschlüpfen aus der Symbiose C. G. Jung hat einmal gesagt, Musik enthalte so viel archetypisches Material (Hinshaw, 1986, S. 88), dass sie eigentlich Bestandteil jeder Analyse sein müsste. Was ihn erschöpfe, sei, dass diejenigen, die sie spielen, davon nichts wüssten oder ahnten. Die Kinderszenen sind, wie vermutlich die meiste abendländische Musik seit der Renaissance, gleichzeitig auf verschiedenen archetypischen Symbolebenen organisiert: Neben der angedeuteten physiologischen Ebene (der des körperlichen Unbewussten) finden wir auch in der ersten Szene eine höhere Symbolik, die aus der Mutter-Kind-Einheit herausführt. Hier ist das Kind schon geboren und die Mutter singt ihm etwas vor. Man kann sich analytisch fragen: Wo bleibt in diesem Bild von Eintracht der Vater? Die Mittelstimme gibt die Antwort mit rein musikalischen Mitteln: Wenn wir Triolen hören, zählen wir unbewusst bis drei. Die Triolen bilden nun eine harmonische Struktur, die im ersten Takt eine Spannung aufbaut und im zweiten vermindert. Diese Spannung entsteht insbesondere durch die zweite Triole: b-e-g, zusammen mit dem Cis im Bass. Der entscheidende Ton ist das b. Es ist nun, als wolle Schumann ganz sichergehen, dass wir ihn richtig verstehen. Er schlägt eine Brücke zur Sprache. Wenn wir die entsprechenden Töne der folgenden Triolen verfolgen, finden wir die Tonfolge b-a-c-h. Mozart hat einmal gesagt: »Bach ist der Vater, wir sind die Bub’n« (Rochlitz, 1832, S. 309). In der Musik der Romantik wurde Bach zur Vatergestalt schlechthin. Der Name Bachs ist hier ein Klangsymbol, das eine Brücke zwischen einem Affekt (der spannungsvollen Harmonie) und einer archetypischen Beziehungsgestalt stiftet. Hier sind wir schon nahe an einer Semantik

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wie in der gesprochenen Sprache. Der Vater ist also heimlich anwesend, nämlich in der dritten, der mittleren Stimme. Im Übergangsraum der Musik kann auch Triangulierung erlebt werden. Die Überschrift des Stückes »Von fremden Ländern und Menschen« spricht vom Träumen von Mutter und Kind. Das vertraute Neugeborene wird auch als fremd empfunden. Die Entwicklung wird in die fremde Welt hinausführen. Ich kann in diesem Rahmen nur wenige Hinweise auf die verborgene Psychologie der Kinderszenen geben. Die Musik steht für sich, sie wirkt auf unsere Seele, auch ohne dass wir versuchen, mit unserer reduzierenden sprachlichen Logik etwas über ihren archetypischen Gehalt zu sagen. Und doch treibt unsere Neugier uns irgendwann und immer wieder heraus, und wir fragen und wollen verstehen. Genau das schildern die Kinderszenen selbst. In Nr. 2 »Kuriose Geschichte« wird etwas erzählt, was das Kind interessiert und was die Mutter mit lebhaften Bewegungen der Hände unterstreicht. Das Auf und Ab der Hände des Pianisten gleicht exakt solchen Ausdrucksbewegungen der Mutter, wie wir sie auf Videoaufnahmen der frühen Interaktion studieren können (Papoušek, 2000). Es geht mehr um die Geste des Erzählens als um die Geschichte selbst. Die Ausdrucksbewegungen sind der Botschaft analog, dadurch wird eine Affektabstimmung möglich. Das Mutter-Motiv fasst das aufregende Thema im 4. Takt (Oberstimme) zusammen. Das Stück führt musikalisch wiederholt in einstimmige ansteigende Läufe, so als würde ein »Hänschen klein« aufbrechen in die weite Welt. In dem Kinderlied vom »Hänschen klein« ist es übrigens die Mutter, die schließlich weint, so dass der Junge umkehrt. Die Mutter lebt hier stellvertretend und spielerisch den Affekt des Jungen, so dass er umkehren kann zum »Auftanken« auf dem mütterlichen Schoß, ohne seinen kleinen Stolz zu verlieren. Es ist das der notwendige Schritt von der Affektspiegelung zum Spiel mit der Realität, wie es von Fonagy und seinen Mitarbeitern beschrieben wird (Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2000). Die »Kuriose Geschichte« brachte eine erste »Störung« der Homöostase, die Nr. 3, »Hasche-Mann«, geht einen Schritt weiter und schildert ein aufregendes Fangespiel. Man hört geradezu, wie einer das Kind fangen will, das ihm aber entwischt und fröhlich davonhüpft (siehe Abbildung 5):

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Abbildung 5: Notenbeispiel: Hasche-Mann; Quelle: Schumann (1838/2001), vgl. Rasche, 2014, S. 313

Witzigerweise enthält die Melodie des Kindes das Muttermotiv (Oberstimme Takt 2): Der Mutter verdankt das Kind das Selbstvertrauen, das solche Angst-Lust-Spiele ermöglicht. Es übt sich im Spiel mit dem haschenden Mann – in seiner Expansion nimmt das Kind den Kontakt mit dem Väterlichen auf. Damit ist das Grundmuster der Triangulierung musikalisch ausgedrückt. Im Mittelteil des Stückes scheint der Mann das Kind festhalten zu können, das sich windet und schließlich doch wieder weglaufen kann – um sich erneut finden und fangen zu lassen. Zuletzt ist das Kind erschöpft, es sucht wieder die Nähe der Mutter, um »aufzutanken«. Wie bei den Phasen der Loslösung, Übung und Wiederannäherung folgt auf die Aufregung das Bedürfnis nach Ruhe. Das »bittende Kind« der 4. Szene wendet sich an die Mutter, indem es ihre Melodie anruft – das, was »Mutter« nämlich »bedeutet« in der Sprache hinter der Sprache. Das Stück hat Clara Schumann besonders beeindruckt, sie schrieb an Robert: »Diese rührende Einfachheit […] man sieht, wie es bittet mit zusammengefalteten Händen« (Clara Schumann, Brief vom 24. März 1839)3. Die Szene Nr. 5 schließt mit »Glückes genug« den ersten Spannungsbogen der Kinderszenen ab: Das Kind ist wieder bei der Mutter, alles ist gut. Ein bemerkenswerter Unterschied besteht allerdings zur Ausgangsposition im 1. Stück: Jetzt wird das Mutterthema von zwei Stimmen gesungen, die einander antworten. Aus der Symbiose des Anfangs ist eine Dyade geworden (siehe Abbildung 6)! Das genau ist ja das Ziel der Entwicklung, dass aus einem zwei werden, die sich spiegeln und miteinander tanzen. 3 Vgl. www.schumann-ga.de/pdf/Litzmann/Litzmann1/Kapitel 6.pdf, S. 41.

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Abbildung 6: Notenbeispiel: Glückes genug – die eine Stimme wird einen Takt später in der anderen beantwortet; Quelle: Schumann (1838/2001), vgl. Rasche, 2014, S. 316

Was macht fürchten? Für den zweiten Spannungsbogen wird eine »Wichtige Begebenheit« angekündigt. Das Nikolauslied der Nr. 6 kündigt einen archetypischen »Großen Vater« an. Zunächst hören wir danach die berühmte »Träumerei«, ein wahrhaft archetypisches Klangbild des Verwobenseins. Nach dieser glücklichen »Reverie« beginnt wieder ein Geschehen, das das Kind von der Mutter wegführt in die Abenteuer des »ersten Drachenkampfes«. Zunächst spielt es »Am Kamin«, dann geht es als »Ritter vom Steckenpferd« auf die Reise. Es vergisst das Mutter-Thema (das in der Nr. 9 tatsächlich nicht vorkommt), es steigert sich in eine Ekstase der Autonomie hinein. Tief ist der Absturz zum »Fast zu traurig«. Doch dann kommt ein Stück, das in unglaublicher Verdichtung das, was »Fürchten macht«, zusammenfasst (siehe Abbildung 7).

Abbildung 7: Notenbeispiel: Fürchtenmachen; Quelle: Schumann (1838/2001), vgl. Rasche, 2014, S. 324

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Die Szene Nr. 11 beginnt mit einer melancholischen Chromatik, die beendet wird vom Mutter-Motiv in Takt 5, Oberstimme. Alles wird gut werden, auch wenn schlimme Sachen passieren wie die huschenden Sechzehntel ab Takt 9 oder die plötzlichen Forte-Akkorde Takt 21. Vielleicht ist es ein Erwachsener, der mit dem Kind »Fürchtenmachen« spielt – eine ungemütliche Vorstellung. Doch ich erlebe das Stück so, dass hier die Mutter dem Kind vermittelt, dass trotz all der Schrecken der Übungsphase letztlich alles gut werden wird. Die Mutter verarbeitet hier die notwendigen Kümmernisse des Kindes bei sich selbst und gibt sie dem Kind in integrierbarer Form zurück – gerade so, wie wir es bei Winnicott oder Bion lesen können. Die Beruhigung am Ende des zweiten Spannungsbogens der Kinderszenen besteht darin, dass das Kind einschläft. »Schöner kann man die Augen nicht schließen«, schrieb Clara an Robert (Clara Schumann, Brief vom 24. März 1839)4, die dieses Stück besonders liebte. Im Mittelteil dieser Szene beginnt das Kind zu träumen. Es träumt, in kleinen Fragmenten ihrer Melodie, von der Mutter. Es findet nicht ganz das große Glück wieder. Der Traum heilt, doch das Traumbild einer wiedergewonnenen Symbiose wäre letztlich auch nicht genug. Eher geht es darum, einen Raum der Erfahrung und der Integration dieser Erfahrung zu haben. Diesen Raum wird das Kind dann sein ganzes Leben lang zur Verfügung haben. Im Epilog der Kinderszenen, Nr. 13 »Der Dichter spricht«, tritt Schumann selbst auf oder sein Vater, der Dichter. Das Stück beginnt wie ein Bach-Choral und es führt in Fragen hinein. Die Musik versucht im Rezitativ zu sprechen wie mit Worten (siehe Abbildung 8). Die Notenlinie des Rezitativs ist im Werk Schumanns ein besonderes Klangsymbol. Sie steht auch für »Aufschwung« (vgl. op. 12, Nr. 2). Mit dem Sprechen kann eine neue Ebene erreicht werden. Der Choral wird dann wieder aufgenommen. Der Frieden am Schluss des Stückes ist unbeschreiblich. Mit unserer Sprache können wir das ungemein dichte Gewebe solcher Musik nicht annähernd entflechten. Ganz ähnlich verhält es sich beim Gewebe der Konversation, der Kommunikation, der Beziehung, der Liebe oder auch der Fremdheit zwischen Eltern und ihren Kin4 Vgl. www.schumann-ga.de/pdf/Litzmann/Litzmann1/Kapitel 6.pdf, S. 42.

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Abbildung 8: Notenbeispiel: Der Dichter spricht, Mittelteil; Quelle: Schumann (1838/2001), vgl. Rasche, 2014, S. 331

dern. Sprache schafft Klarheit, doch Bezogenheit drückt sich nicht nur in Sprache aus. Musik führt in die Welt elementarer Gefühle und Symbole, eine archetypische und sehr differenzierte »Sprache hinter der Sprache«. In ihr geht es um Bezogenheit, Wandlung und die Möglichkeit des Vertrauens.

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Heike Fischer-Heine

Die Bedeutung des Portraitmalens bei Lucian Freud (1922–2011)

The meaning of Lucian Freud’s portrait-painting (1922–2011) The life of the painter Lucian Freud was eccentric, hidden, self-determined. He shared the passion and the scrutiny for the human nature with his grandfather Sigmund Freud. With his portraits he gained international reputation. He was never interested in psychoanalysis, but through painting he developed a deep understanding of the model’s character and his relation with him/her. This paper offers a psychodynamic approach to his work and its meaning and focuses on some similarity between Lucian and Sigmund Freud. Zusammenfassung Der Maler Lucian Freud führte ein exzentrisches, zurückgezogenes, eigenwilliges Leben. Mit seinem Großvater Sigmund Freud teilte er die Leidenschaft für den genauen Blick auf das Menschliche, mit seinen Portraits erlangte er Weltruhm. Die Psychoanalyse interessierte ihn nie, aber malerisch tauchte er tief ein in die Eigenart seiner Modelle und seine Beziehung zu ihnen. Im vorliegenden Vortrag wird ein psychodynamisches Verständnis entwickelt für Freuds Werk und dessen Wirkung sowie eine Verbindung hergestellt zu seinem Großvater Sigmund Freud.

Lucian Freud gilt als der größte und erfolgreichste Portraitmaler unserer Zeit. Besonders seine Naked Portraits lösten heftige und kontroverse Reaktionen aus und machten ihn weltberühmt. Angesichts der Arbeitsweise Freuds liegt ein Vergleich mit seinem Großvater Sigmund Freud nahe: Für ein Portrait brauchte Freud Monate bis Jahre. Seine Modelle kamen zu festen Zeiten mehrmals in der Woche für einige Stunden zu ihm und begegneten sich in der Regel nicht. Freud benötigte von ihnen eine gewisse meditative Gestimmtheit, damit er sie malen konnte, und er legte Wert auf absolute Pünktlichkeit und Geduld. Freud arbeitete immer an mehreren Bildern gleichzeitig. Es gab pro Tag ca. drei bis vier Sitzungen, davon eine abends

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bzw. nachts. Sein Assistent richtete das Atelier vor jeder Sitzung her, indem er dafür sorgte, dass immer alles gleich war. Freud malte sehr langsam. Die gesamte Prozedur war ein einziges Abwägen. Für jeden Pinselstrich mischte er die Farbe neu. Er malte ab den 50er Jahren nur noch im Stehen, sich dabei bewegend. Freuds Vorgehen war ungeplant, assoziativ und sukzessiv. Er sagte einmal, er wisse auch nicht, wohin die Reise gehe (Gayford, 2011). »My idea of travel is downward travel really. Getting to know where you are, better, and exploring feelings that you know more deeply. I always think that ›knowing someone by heart‹ gives you a depth of possibility which has more potential than seeing new sights, however marvellous and exciting they are« (Debray et al., 2010, S. 76).1

Biografischer Überblick Lucian Michael Freud wurde am 8. 12. 1922 als der mittlere von drei Söhnen der Philologin Lucie Brasch (1896–1989) und des Architekten Ernst Freud (1892–1970) geboren. Er wuchs in einer begüterten, bürgerlichen, säkularisierten jüdischen Familie wohlbehütet in Berlin auf. Er war der Lieblingssohn seiner Mutter Lucie, die ihm ihren Namen vererbte. Freud erlebte seine Mutter als überfürsorglich, übergriffig und in ihrem eindringlichen Interesse an ihm als bedrohlich, so dass er stets versuchte, sich ihr zu entziehen. »From very early on she treated me, in a way, as an only child. I resented her interest; I felt it was threatening« (Feaver, 2002, S. 31). »She used to be a very aggressive woman. She was like that all her life. […] I didn’t like being with her« (Hoban, 2014, S. 93).

Sein Vater Ernst Ludwig, Sohn Sigmund Freuds und ein in Berlin sehr angesehener Architekt, wäre selbst gern Künstler geworden und zeigte sich seinem Sohn und dessen künstlerischem Schaffen gegenüber ablehnend (Lange-Schmidt, 2010). Offenbar war das Verhältnis von Neidund Konkurrenzgefühlen geprägt, was eine Annäherung verhinderte. Der Vater bot Lucian kaum einen Ausweg aus der erlebten Umklammerung durch die Mutter und stellte keine Identifikationsfigur für ihn 1 Die im Text kursiv gedruckten Zitate stammen alle von Lucian Freud selbst.

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dar. So hatte er zeitlebens ein sehr distanziertes Verhältnis zu seinem Vater. Zu seinen beiden Brüdern (jeweils eineinhalb Jahre jünger bzw. älter als er selbst) war das Verhältnis ebenfalls konflikthaft. Eine lebenslange Affinität spürte Lucian Freud zu Tieren, insbesondere zu Pferden, bei denen er sich oft wohler fühlte als mit Menschen. Er war ein hervorragender Reiter, und es wurde ihm ein besonderes Gespür für Pferde nachgesagt (auch dargestellt im Film »Painted Life« von Wright, 2012). »Pferde sind mir nahe, überhaupt alle Tiere, fast noch mehr als Menschen. […] Tiere sind mir immer wichtig gewesen« (Greig, 2014, S. 52).

Die Emigration der Familie 1933 von Berlin nach England war für den damals elfjährigen Lucian ein gravierender Einschnitt (Lange-Schmidt, 2010). Er brach offenbar vollständig mit seiner Herkunft, vergaß Deutsch schneller als er Englisch lernte, sprach aber zeitlebens mit einem deutsch anmutenden Akzent. Auch sein Judentum spielte für ihn keine Rolle mehr. »Ich habe mich nie als Jude empfunden, ich meine als Identität, obwohl ich natürlich Jude war und bin« (Greig, 2014, S. 128).

Angekommen in England wurde der junge Freud zum rebellischen und verhaltensauffälligen Außenseiter, der mehr Zeit in Pferdeställen als in der Schule verbrachte. Freud bezeichnete sich selbst als menschenscheu und war zeitlebens ein Einzelgänger, der enge Bindungen vermied. Als junger Erwachsener führte er in London ein exzentrisches Künstlerdasein mit ausgedehntem Nachtleben. Er hatte zwei kurze Ehen und zahllose Liebschaften. Zwischen 1957 und 1964 wurden zehn seiner Kinder von drei Frauen geboren, die nicht seine einzigen Geliebten waren. Laut Greig (2014) könnte er bis zu 40 Kinder gezeugt haben, 14 sind offiziell anerkannt. Freud hatte mit ihnen kaum etwas zu tun, meist erst, wenn sie sich von ihm malen ließen. Freud suchte die Erregung, entweder im Sex oder im Risiko. So fuhr er im Wahnsinnstempo Auto, er verfiel dem Glücksspiel, insbesondere Pferdewetten, machte Schulden in Millionenhöhe. Er verkehrte sowohl unter Kriminellen als auch in der High Society Londons. Er bezeichnete sich selbst als absoluten Egoisten, der nur tue, was er wolle. »I never question my actions« (Feaver, 2007, S. 12).

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Die Informationen über Freud aus den Interviews mit ihm (Feaver, 2002, 2007; Smee, 2006), die Aussagen der Menschen, die ihn kannten, und besonders die nach Freuds Tod erschienenen Biografien (Greig, 2014; Hoban, 2014) vermitteln den Eindruck eines egoistischen, rücksichtslosen, impulsiven, auch hemmungslosen, jedenfalls bindungsgestörten Menschen, der zugleich eine große Faszination auf andere ausübte, weil er so vital, kraftvoll, anziehend und unterhaltsam war, sein Gegenüber mit besonders scharfem Blick fesseln oder mit schonungsloser Aufrichtigkeit beeindrucken konnte. Immer lebte Freud sehr zurückgezogen. Kaum jemand erhielt seine Telefonnummer. Er vermied es, im Mittelpunkt zu stehen und ließ sich nur von ausgewählten Freunden fotografieren (Dawson, 2014). Er malte zeitlebens wie ein Besessener, Tag und Nacht, er brauchte wenig Schlaf. Mit zunehmendem Alter wurde Freuds Leben etwas ruhiger. Er trieb sich nachts nicht mehr in den Lokalen herum, und auch das Wetten machte für ihn aufgrund seines Reichtums keinen Sinn mehr. Das waghalsige Autofahren und seine Leidenschaft für Frauen behielt er bei. Er verließ London selten und hielt sich hauptsächlich in seinem Atelier und seinen Stammlokalen auf. Dass Freud den Hauptteil seines Lebens im Atelier verbrachte, mag daran liegen, dass er mit der äußeren Realität nur bedingt zurechtkam. Die alltäglichen Dinge dürfte sein Assistent David Dawson weitgehend erledigt haben; seine Finanzen ließ Freud von seinen Agenten verwalten und mit Menschen hatte er außerhalb des Ateliers wenig zu tun, er vermied dauerhafte Nähe und Bindung und suchte die Einsamkeit. Wer intensiven Kontakt zu ihm wollte, musste sich malen lassen. Freud sagte selbst, dass das Malen ihm ermöglichte, mit Menschen zu sein. Wenn er jemanden kennenlernte, dachte er sofort daran, ob er ihn malen könnte, was gleichbedeutend war mit der Frage, ob er mit ihm sein könnte (Howgate, Auping u. Richardson, 2012). Jemanden zu malen, bedeutete für Freud, diesen Menschen kennenzulernen. Und umgekehrt: Das Gemaltwerden war auch für seine Modelle eine einzigartige Möglichkeit, Freud kennenzulernen (auch dargestellt im Film »Portraits«, Auerbach, 2002). »I work every day and night. I don’t do anything else« (Hoban, 2014, S. 145).

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Freud malte schon als Kind alles, was er sah (Weissweiler, 2006), und noch wenige Tage vor seinem Tod am 20. Juli 2011, mit 88 Jahren, malte er an einem Portrait seines langjährigen Assistenten und Vertrauten David Dawson mit seinem Hund Eli. »I hope to paint myself to death« (Feaver, 2007, S. 376).

Die Bedeutung des Malens für Lucian Freud: Malen als Selbstkonstituierung und Beziehungsgestaltung Kreativität bedeutet Lebendigkeit. Die schöpferische Tätigkeit ist dem Leben immanent in dem Sinn, als aus frühesten Erfahrungen, Eindrücken und Interaktionen psychische Struktur gebildet wird auf der Basis kreativer Imagination. Die Gestaltung der inneren und äußeren Realität beruht auf einem kreativen Prozess, in dem Chaos oder Destruktivität in Ordnung oder Struktur verwandelt wird (Holm-Hadulla, 2007). Künstlerische Tätigkeit kann als eine subjektive Form der Lebensbewältigung betrachtet werden, ein Kunstwerk als Ergebnis eines transformativen Prozesses, in dem der Künstler seine innere Objektwelt mit der äußeren verbindet und in veränderter Weise wiedergibt (Gattig, 2007). Das künstlerische Schaffen hängt immer mit der psychischen Dynamik des Künstlers zusammen. Als Psychoanalytiker sind wir natürlich besonders gefragt, künstlerisches Schaffen mit der lebensgeschichtlichen Entwicklung des Künstlers zu erklären. Psychoanalytikern wird zum Teil vorgeworfen, dies zu sehr in den Mittelpunkt der Kunstbetrachtung zu stellen oder sich statt mit dem Werk zu sehr mit dem Menschen zu befassen und so eine tiefe Auseinandersetzung mit dem Werk zu vermeiden (Kuiper, 2008). Bei Freud scheinen Werk und Leben allerdings nahezu identisch zu sein. Natürlich ist alle Kunst autobiografisch, aber bei Freud ist dies in einem ganz konkreten, kontinuierlichen und greifbaren Sinn der Fall. Ein Film (Wright, 2012) über Lucian Freud aus dem Jahr 2012, ausgestrahlt in der BBC, weist mit dem Titel »Painted Life« auf den autobiografischen Charakter seines Werkes hin. »My work is purely autobiographical. It is about myself and my surroundings. It is an attempt at a record« (Howgate et al., 2012, S. 14).

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»The painter makes real to others his innermost feelings about all that he cares for. […] The picture is all he feels about it […]« (Freud, 1954/2010, S. 11/14).

Freud erzählt malend, was er erlebt und was er fühlt. Er hat stets das gemalt, was er sah, die Menschen, die ihn umgaben, das, was er vor Augen hatte, und nahezu alle Menschen, die er malte, hatten emotionale Bedeutung für ihn. Malen steht bei Freud ganz im Zeichen der Selbstkonstituierung und Beziehungsgestaltung. Das Malen ist seine Art, sich die Welt anzueignen. Das Objekt wird mit dem Blick aufgenommen, gleichsam verschlungen, im Inneren des Malers bewegt, durch das Malen in veränderter Weise wiedergegeben und schließlich als eigenständiges, getrenntes Objekt auf der Leinwand wiedergefunden. Man kann den Prozess des Portraitmalens bei Freud unter anderem verstehen als ein stetiges Ringen um die depressive Position, um Subjekt-Objekt-Differenzierung oder um Gegenseitigkeit. Dies spielt bei Freud eine so besondere Rolle, weil er im realen Leben mit Bindung und Nähe schwer zurechtkam. Das Atelier wird hier symbolisch und konkret zum Übergangsraum für dieses Geschehen. Es erscheint als der Raum zwischen Freud und der Welt, in den beide Seiten eintreten und eine besondere Beziehung herstellen. Das dabei entstehende Bild dient zum einen als erweitertes Selbstobjekt, zum andern als Gegenüber, mit dem es zu einem intensiven Gefühlsaustausch während seiner Entstehung kommt (MüllerBraunschweig, 2008). Weil selbst geschaffen, ist dieses Bild-Objekt beherrschbar und damit nicht bedrohlich. Sigmund Freud (1908/2000) sieht das Kunstwerk im Sinne der Sublimierung im Dienst omnipotenter Wunscherfüllung. Das Gefühl der Omnipotenz stellt für Lucian Freud eine wichtige Komponente beim Portraitmalen dar (Lange-Schmidt, 2010). In »Flora with Blue Toenails« (2000–01)2 fällt auf das sich dem Blick des Malers hingebende weibliche Modell der Schatten seines Kopfes: Der Maler blickt von oben auf das Modell wie ein allgegenwärtiger, machtvoller Beobachter. Dies kann als ein Beispiel für Freuds Auseinandersetzung mit dem Konflikt zwischen eigenen Omnipotenzgefühlen und der Realität der anderen im Akt des Portraitierens gesehen werden. Das Portraitieren stellte für 2 Abbildungen der meisten Bilder Freuds, also auch alle hier erwähnten (Titel kursiv gedruckt), sind auf www.wikiart.org zu finden.

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ihn eine Möglichkeit dar, sich selbst mit der Welt der anderen im Bild zu verbinden im Sinne eines Miteinanders. Sigmund Freud (1908/2000) vergleicht die künstlerische Tätigkeit mit dem Spiel des Kindes. Auch Winnicott (1967/2008) verortet kulturelles Erleben im Spiel, in dem Spannungsbereich zwischen Ich und Nicht-Ich, in dem das Kind seine inneren Regungen mit einem äußeren anderen verbindet. Die Realität kann in diesem Stadium noch nicht verkraftet, Omnipotenzgefühle können noch nicht ganz aufgegeben werden. Beim Erwachsenen ist dieser intermediäre Erfahrungsbereich nach Winnicott (1967/2008) unter anderem in der Kunst zu finden. Der Künstler befindet sich während seiner künstlerischen Tätigkeit in genau diesem Übergangsraum: Konkreter Rahmen für diesen Übergangsraum ist bei Freud das Studio. Als Lawrence Gowing, Kunstredakteur und Bewunderer Lucian Freuds, ihn nach seinem Zuhause und seiner Familie fragt (Gowing, 1982, S. 153), antwortet er: »I always had my studio.«

Gowing fragt weiter: »Wives and children?« Antwort: »I could always come back to the studio at night.«

Freuds Antwort scheint ungewöhnlich, ist für ihn aber selbstverständlich, denn sein Atelier ist sein Lebensmittelpunkt und Malen ist für ihn das wichtigste im Leben (auch dargestellt im Film »Portraits«: Auerbach, 2004, und im Film »Painted Life«: Wright, 2012). »His world was the studio and the close circle of people who visited him there to look at or sit for his portraits« (Howgate et al., 2012, S. 35). Gattig (2007, S. 51) beschreibt Malen als Anstrengung, psychisch mithilfe der Kunst zu überleben: »In diesem Zwischenraum spielt der Künstler mit den Inhalten seiner inneren und äußeren Realität, erschafft sich in diesem Spiel, das harte Arbeit ist, seine psychische Existenz, indem er die Arbeitsweise seiner Psyche selbst sichtbar macht.« In seinem Selbstportrait »Man with a Thistle« (1946) sieht man den jungen Freud aus einem Raum durch ein Fenster in die Welt schauen, die in Form einer stacheligen Distel erscheint. Freuds Blick wirkt angespannt, misstrauisch, die Distel wirkt abweisend. Wenn man Freud versteht als einen narzisstischen Menschen mit schizoiden Zügen und einer Angst vor der Welt, erscheint das Atelier für Freud als sicherer

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Ort, in dem er sich und seine Welt strukturieren konnte, und man kann sein Leben als »Leben im Übergangsraum/Atelier« begreifen, wo er sich selbst und seine Beziehungen konstituierte. »I’m not very introspective, but I was very shy, so I tried to overcome it by being exhibitionistic« (Feaver, 2007, S. 15).

Freud begegnet seiner Scheu oder Schüchternheit kontraphobisch. Das Exhibitionistische bezieht sich auf manche seiner Taten, insbesondere als verhaltensauffälliger Jugendlicher oder waghalsiger junger Erwachsener, aber man kann es auch auf das Malen an sich beziehen, besonders auf seine Selbstportraits, in denen er sich – wie seine Modelle – schonungslos und nackt zeigt. »For Freud, self-portraiture was an exercise in stripping away self-delusion« (Howgate et al., 2012, S. 52). Freud versucht so eine Bearbeitung seines narzisstischen Konflikts, denn er will gesehen werden und hat zugleich Angst davor. In seinen Selbstportraits konstituiert er sich selbst, vor seinem Auge und dem der andern zeigt er sich ohne jegliche Idealisierung und hält sich selbst einen Spiegel vor (»Interior with Hand Mirror«, 1967). So zeigt er sich zum Beispiel in »Painter Working, Reflection« (1993) als alter Mann, nur mit Schuhen bekleidet. Das Bild steht zwischen ihm und der Welt, hat vermittelnde Funktion, schützt vor dem direkten Blick, ermöglicht aber auch den Blick auf ihn, jedenfalls auf sein Bild von sich. Auf diese Weise wahrt er die Kontrolle über das, was von ihm gesehen wird, und begrenzt damit seine Angst vor dem Blick der anderen. »… what I’m really interested in is outraging my own« (Feaver, 2007, S. 30).

Für Freud ist der Akt des Malens ein erregender Akt an der Grenze des Möglichen und somit Herausforderung, Weiterentwicklung und Selbsterkenntnis. »I always was alone, and I always wanted to be alone. My mother said, my first word was ›allein‹, which means leave me alone« (siehe auch die Darstellung im Film »Painted Life« von Wright, 2012).

Freud stellt sich als einsamen Egozentriker dar; er ist angespannt, immer auf dem Sprung, wirkt auf andere unruhig und wachsam. Seine Angst ist in manchen frühen Portraits in den Augen des Modells sichtbar, die weit aufgerissen erscheinen (z. B. »Man at Night, Self-Por-

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trait«, 1947–48; »Girl with Leaves«, 1948). Die weiten Augen, dieser einsaugende Blick, von dem man sich verfolgt fühlen kann, löst Angst aus, ist aber auch der Blick des Künstlers, der angstvoll auf den andern starrt, ihn beobachtend inspiziert, damit kontrolliert und so seine eigene Angst vor dem verschlingenden mütterlichen Objekt in Schach hält. »I thought through observation I could make something into my own that might have not have been seen or noticed or noted in that way before« (Feaver, 2002, S. 40).

Das Mittel, um die Welt zu erfassen und sie sich anzueignen, ist bei Freud die genaue Beobachtung. Er ist identifiziert mit dem bohrenden Blick der Mutter und richtet ihn nun auf die Welt, während er selbst sich dem direkten Blick der Mutter-Welt zu entziehen sucht (er kann sich der Welt nur über die Selbstportraits zeigen). Der mit der Ungetrenntheit verbundene innere Konflikt wird im Akt des Portraitierens kompensatorisch bearbeitet. Freud hat in der reaktionsbildenden Abwehr die Kontrolle. Gowing (1982) spricht vom visuellen Verschlingen des Modells durch den Maler, von unbedingter Kontrolle über das attraktive Subjekt. »A painter must think of everything he sees as being there entirely for his own use and pleasure« (Freud, 1954/2010).

Insbesondere in den weiblichen Naked Portraits erscheinen die Modelle oft hingegeben oder ausgeliefert, was sicher auch damit zu tun hat, dass Freud zu vielen weiblichen Modellen intime Beziehungen hatte (z. B. »Naked Girl with Egg«, 1980–81). Er wird in seinen Beziehungen als dominant und besitzergreifend beschrieben (so auch im Film »Painted Life«: Wright, 2012). Chasseguet-Smirgel (1988) sieht einen Ursprung der Kreativität in dem Wunsch, die gute Brust und Quelle des Lebens zu verinnerlichen, sich mit ihr zu identifizieren. Sie benennt also einen Einverleibungsprozess, der das Objekt aussaugt und auslöscht und die eigene Allmacht stärkt. Die hier entstehenden Schuldgefühle bewirken den Wiedergutmachungsimpuls, der zum künstlerischen Schaffen führe (siehe auch »Girl with a White Dog«, 1950–51). Das Einverleiben geschieht bei Lucian Freud auch im sexuell-leiblichen Sinn. Der andere wird einverleibt wie die gute, nährende Brust, die gleichzeitig in ihrer Mächtigkeit zerstört und im Bild als das überlebende

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Objekt wiederaufersteht und damit unsterblich als eigenständiges, getrenntes Objekt im Bild existiert. Und es ist der Versuch, sich mit dem andern zu verbinden, ohne sich auszuliefern. Freud nutzt den anderen als emotionale und existenzielle Quelle; er stellt durch das Portraitieren den andern als Gegenüber und seine Beziehung zu ihm ewig wieder her. Aus objektbeziehungstheoretischer Sicht erschafft der Künstler sich eine Welt, die verloren war, wieder. Die Prozesse der Symbolbildung, der Wahrnehmung äußerer und innerer Realität und damit der Getrenntheit gehören in die depressive Position. Im Prozess des Erlangens der depressiven Position wird die Verschmelzung mit dem idealen Objekt aufgegeben zugunsten einer Unterscheidung von Ich und dem Anderen und einer Integration zuvor getrennter guter und böser Anteile im Objekt. Dieser Prozess ist mit Ängsten verbunden, da die zuvor erlebten Teilobjekte der paranoid-schizoiden Position aufgegeben, zerstört werden. Diese Zerstörung des bisher nur guten Objekts und damit das Gewahrwerden eigener »böser« Anteile im Subjekt ist mit Schuldgefühlen verbunden und mit der Angst vor der Rache des Objekts. Um die depressive Position zu erlangen, müssen diese Ängste bewältigt, die Schuld wiedergutgemacht werden. Die Lösung liegt in der Wiederherstellung des Objekts auf neue Weise, als Ganzes und Getrenntes. Dieser Wiederherstellungswunsch ist nach Hanna Segal (1996) die Grundmotivation des Künstlers. Er arbeitet die Konflikte und Ängste der depressiven Position durch und stellt die verlorene paranoid-schizoide Welt auf neue Weise wieder her. Die Welt der paranoidschizoiden Position, die verloren wurde, wird in der Kunst bearbeitet und wieder erschaffen. So erschafft der Künstler seine eigene Welt und konstituiert damit sein Selbst. »Der Künstler zieht sich in eine Phantasiewelt zurück, die er aber zu vermitteln und zu teilen vermag. Auf diese Weise vollzieht er eine Wiedergutmachung und zwar nicht nur an seinen inneren Objekten, sondern auch an der äußeren Welt« (Segal, 1992, S. 249). Demnach kann man die Portraits Freuds verstehen als unbewussten Versuch, Ungetrenntes in Getrenntes zu verwandeln, Schuldgefühle auszugleichen und das wiederherzustellen, was er zerstörte oder als zerstört erlebte. Die Beziehung zu seiner Mutter ist die Basis für Freuds Art der Beziehungsgestaltung. Als sein Vater 1970 stirbt, begeht seine Mutter

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einen Suizidversuch und ist danach schwer depressiv. Erst da beginnt Freud, seine Mutter regelmäßig zu sehen und zu malen, mehrmals in der Woche holt er sie ab und malt sie bis kurz nach ihrem Tod (»The Painter’s Mother II«, 1972; »The Painter’s mother Resting I«, 1976). »I started working from her, because she lost interest in me; I couldn’t have, if she had been interested« (Feaver, 2002, S. 31).

Seine Mutter nun zu portraitieren, bedeutete, sie wiederherzustellen, nachdem sie sich selbst zerstört hatte und für ihn nicht mehr das übermächtige Objekt war, aber auch das wiederherzustellen, was er selbst zerstört finden und bleiben lassen wollte. So suchte er Schuldgefühle auszugleichen und Beziehung herzustellen. Besonders deutlich wird der Prozess der Zerstörung und Wiederherstellung im Bild »The Painter’s Mother Dead« (1989), wo Freud seine tote Mutter im Bild verewigt. Freud malte auch seinen Vater kurz nach dessen Tod. Es ist ein Akt der Verlebendigung dessen, was verloren wurde. Diese Wiederherstellung im Bild gleicht einem Zeugungsakt: »Ein Kunstwerk zu schaffen, entspricht psychisch der Zeugung« (Segal, 1992, S. 242): »I hoped that if I concentrated enough the intensity of scrutiny alone would force life into the pictures« (siehe auch die Darstellung im Film »Painted Life« von Wright, 2012).

Freud spürt und sichert durch den Akt des Portraitierens/Zeugens seine Potenz/Omnipotenz. Er schafft durch das Portrait etwas Drittes, Eigenes, so wie er Kinder zeugt (»Baby on a Green Sofa«, 1961), zeugt er mit den Portraits neue Eigenleben. Auch seine Kinder zu malen, bedeutete, die Beziehung zu ihnen wiederherzustellen, da er sich bekanntlich um seine Kinder kaum kümmerte.

Freuds Werk: Inhalt und Wirkung »What do I ask of painting? I ask it to astonish, disturb, seduce, convince« (Hoban, 2014, S. 115). »I would wish my portraits being of the people, not like them. Not having a look at the sitter, being them« (Gowing, 1982, S. 190).

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Sieben Jahrzehnte malte Freud dasselbe: Menschen. Der Hauptinhalt von Freuds Werken sind diese Menschen, die ihn interessierten und mit denen er zusammen sein wollte. Wenige Ausnahmen sind die Bilder seiner Umgebung, zum Beispiel seines Gartens (»Two Plants«, 1977– 80; »The Painter’s Garden«, 2003–04). Die malte er, wenn er sich von Beziehungen erholen wollte. Dass er Monate bis Jahre brauchte, um ein Bild fertigzustellen, führte zwangsläufig zu einem intensiven Beziehungsgeschehen und großer Intimität. Freuds Portraits sind Beziehungsbilder. Martin Gayford (»Man with a Blue Scarf«, 2004), der ein Buch über seine Erfahrung als Freuds Modell schrieb, sagt: »Der Prozess ist auf eine so gnadenlose Weise intim, dass die kleinste Differenz wahrscheinlich früher oder später zu Spannungen führt, so wie in einer Ehe oder einer langen Beziehung« (Gayford, 2011, S. 113). Tatsächlich konnte Freud auch heftig werden, wenn ein Bild nicht »funktionierte«. Ein Modell berichtet, sie habe sich auf die von Freud gewünschte Intimität nicht einlassen können, und er habe daraufhin das Bild in einem Wutanfall zerstört, indem er es mit einem Messer durchstach (auch dargestellt im Film »Painted Life«: Wright, 2012). Ein Bild funktionierte nur, wenn die Beziehung funktionierte – aber auch umgekehrt: Wenn die Beziehung nicht mehr funktionierte, wurde sie manchmal in einem Bild beendet und verewigt. In seinem Ansinnen, Menschen zu malen, ließ Freud sich durch nichts beirren, nicht durch den Zeitgeist, nicht durch bestimmte Kunstrichtungen oder Kunstkritiken. Als Autodidakt wollte er sich nicht auf eine Richtung oder Schule festlegen lassen. Freud ging davon aus, dass ein Mensch alles von sich offenbart, wenn man ihn genau beobachtet. Seine Portraits sind eine Synthese aus dem Individuellen des anderen, der Atmosphäre, die durch ihn entsteht, den vorhandenen Gefühlen auf beiden Seiten, dem Interesse des Malers, Lebendiges zu kreieren (Gayford, 2011). Hier wird Kunst zur Lebenserfahrung (Gattig, 2007). In »Some Thoughts on Painting« (1954/2010) beschreibt Freud die Leidenschaft, die Suche danach, etwas Wahres, Lebendiges zu schaffen, die Intuition, Offenheit, Unvoreingenommenheit, aber auch die Selbstkritik, die für das Portraitieren notwendig sind, und die tiefe mit diesem Prozess verbundene Emotionalität. Gleichzeitig müsse der Maler sich aber wieder von seinen Emotionen distanzieren, damit das Subjekt, das ihn interessiert, zu ihm sprechen

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könne. Die Leinwand nimmt in diesem emotionalen Prozess die dritte Position ein, ist die Reflektions-, Projektions- und Identifikationsfläche, das triangulierende, die Beziehung regulierende Element. Im Bild ist schließlich der gesamte Prozess enthalten. Deshalb kann Freud auch nicht aus der Erinnerung oder von einem Foto malen; für diesen Prozess braucht er die Anwesenheit des anderen. »Living people interest me far more than anything else. I’m really interested in them as animals« (Feaver, 2007, S. 36).

Freud zeigt in seinen Bildern oft die Verbindung zwischen Tier und Mensch (z. B. »Naked Man with Rat«, 1977–78; »Sunny Morning – Eight Legs«, 1997). Dass Freud immer wieder betont, dass er Menschen wie Tiere betrachte, sie also einfach in ihrem biologischen Sinn darstelle, kann einerseits als Rationalisierung der in seinen Bildern so offensichtlich vorhandenen psychischen Realität erachtet werden. Andererseits macht Freud mit der Betonung des Animalischen etwas über sich selbst deutlich. Sein Vater stellte ihn einmal so vor: »Dieses wilde Tier ist mein Sohn« (Weissweiler, 2006, S. 399). Freud lebte triebhaft und intuitiv, er folgte seinen Instinkten nicht nur in sexueller Hinsicht und er hinterfragte seine eigenen Gefühle oder die der anderen kaum. Er schien kaum bewusste Schuldgefühle zu haben, auch kaum Mitgefühl mit dem Leiden anderer, seien es nun zum Beispiel seine im KZ umgekommenen Verwandten oder seine betrogenen Geliebten oder seine vernachlässigten Kinder. Freud erlebte die Welt über die genaue Beobachtung. Es könnte sein, dass das psychologische Gespür oder die Empathie, die man Freud zuschreiben könnte, in Wahrheit das Ergebnis seiner außergewöhnlichen Detailtreue ist, entsprechend der Überzeugung, dass sich alles zeigt, wenn man nur ganz genau hinschaut. Freud schaut im biologischen Sinn hin, nicht im psychologischen Sinn. Die Gefühlskraft, die man seinen Bildern zuschreiben kann, ist vielleicht in Wahrheit unserer Empathie für die gezeigte Person geschuldet, denn der Blick, den uns Freud auf sein Modell erlaubt, kann eine solche Nähe erzeugen, die unser Mitgefühl bewirkt. Der Betrachter kann sich identifizieren mit dem Blick des Malers oder mit der Befindlichkeit des Modells. Die extremen und widersprüchlichen Reaktionen auf Freuds Portraits mögen in den verschiedenen Identifikationen des Betrachters begründet sein. Verschiedene Autoren weisen darauf hin, dass beim

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Betrachten eines Bildes die Konflikte des Malers in der Gegenübertragung gespürt werden können (Segal, 1996; Schneider, 1999). Daraus kann man folgern, dass, je nachdem wie der Betrachter seine Konfliktdynamik in Beziehung setzt zu den Themen des Malers und wie bewusst oder unbewusst dies erfolgt und mittels welcher Abwehrmechanismen, schließlich eine Haltung zum Bild entsteht. Lucian Freud ruft auch deshalb so heftige Reaktionen hervor, weil seine Bilder so viele existenzielle und narzisstische Themen beinhalten, dass sie den Betrachter kaum unberührt lassen können. Freuds Bilder zeigen also den Menschen als biologisches Lebewesen in seiner Individualität. Die Geschlechtlichkeit/Sexualität ist in den Naked Portraits allgegenwärtig, weil sie die Individualität des Einzelnen ausmacht. Der Maler und Psychoanalytiker Matthias Oppermann bezeichnet Freuds Naked Portraits als »Anti-Pornographie« (Oppermann, 2008). Es entstehe im Betrachter ein Konflikt zwischen voyeuristischen Impulsen und Erschrecken. Der Betrachter erschrecke über diese Impulse, die aber laut Oppermann an Freuds Werk unbeantwortet abprallen, was eine Art Bloßstellung auslöst, die der Betrachter abwehrt, indem er Freuds Bilder verurteilt. Die Haut ist für Freud besonders spannend, er erlebt sie als unvorhersehbar und überraschend. Die Psychoanalytikerin Rotraut de Clerck (2007) weist auf die zentrale Bedeutung der Haut im psychoanalytischen Denken hin im Sinne eines »Haut-Ichs«; über die Haut vermittelt sich Bindung, Selbstgefühl und Sexualität, die zentralen Themen in Freuds Leben. Freud wollte die Haut in ihren Schattierungen, ihrem Glanz, ihren Erhebungen genau darstellen. Die Haut in seinen Bildern ist lebendig, pulsierend, in Bewegung. De Clerck (2007) meint, beim Betrachten der Naked Portraits spüre der Betrachter selbst seinen Körper (»Benefits Supervisor Sleeping«, 1995; »Nude with Leg Up«, 1992). Freuds Blick urteilt nicht, er erforscht und erkennt. Dass besonders die Naked Portraits Anstoß erregten oder als grausam empfunden wurden, hängt mit dem urteilenden Blick des Betrachters zusammen, nicht mit dem Urteil Freuds. Vielleicht verübelt der Betrachter Freud auch, dass dieser nicht idealisiert, sondern einfach darstellt, was er sieht. Jeder Pinselstrich ist wie eine Deutung, eine Spiegelung, ein Stück Erkennen. Und die Verschiedenheit und Individualität jedes Einzelnen ist spannend, betrachtenswert, aufregend, nicht, weil er besonders ist, sondern

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weil er einzigartig ist. An dieser Stelle findet Freud mit seinem erkennenden Blick eine tiefe Anerkennung für sein Gegenüber. In Freuds Portraits begegnen wir den Grundthemen des Lebens. Das Fleisch und die Haut in seinen Bildern atmen Vergänglichkeit. Die Menschen auf seinen Bildern wirken in sich gekehrt, für sich, vereinzelt, auch einsam. Es sind Bilder von Menschen, die einfach da sind. Diese Bilder zu betrachten, bedeutet auch, sich selbst darin zu sehen, das eigene Menschsein, die Einsamkeit, die eigene Vergänglichkeit. Das, was ist, und das, was nicht ist. Freud lehrt den genauen und akzeptierenden Blick. Er hat sich selbst und die andern so genommen, wie sie sind, und das mag ein Grund dafür sein, dass sich viele Menschen so wohl in seiner Gesellschaft fühlten. Freud liebte das Echte, Ungeschönte, Ungeschminkte, und die Wahrheit seiner Bilder kann deshalb tief berühren.

Lucian Freud und die Psychoanalyse Im Prozess des Portraitierens kann man bei Freud durchaus auch eine psychotherapeutische Dimension finden. Gayford (2010, S. 42) sagt: »Freuds Atelier ist wirklich ein außergewöhnlicher Ort. Vielleicht werden die Menschen an diesem seltsamen Ort während der langen Phase des Modellsitzens am meisten ›sie selbst‹, […], auch wenn das bedeutet, dass sie in Langeweile oder Überdruss versinken oder sich in einem Labyrinth von Gedanken und Assoziationen verlieren.« Das Modellsitzen wird zum Teil wie eine therapeutische Erfahrung beschrieben (so im Film »Lucian Freud. Portraits« von Auerbach, 2004), und auch die eigenen Ansichten Freuds über das Malen in »Some Thoughts on Painting« (1954/2000) lesen sich zum Teil wie Aussagen eines Psychotherapeuten. Lucian Freud interessierte sich aber nie besonders für die Psychoanalyse. Lange-Schmidt (2010) berichtet, er habe zwar ein paar Fallgeschichten gelesen, psychoanalytische Deutungen aber abgelehnt. Mit Psychoanalyse wollte er nie in Verbindung gebracht werden, zur Beerdigung seines Großvaters erschien er nicht. Lange-Schmidt (2010) meint, der 17jährige Lucian habe sich durch seine Ablehnung etwas Eigenes schaffen wollen, sich unabhängig sehen wollen vom übermächtigen Großvater.

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Die wenigen Äußerungen Lucian Freuds über seinen Großvater zeigen, dass er ihn mochte, auch bewunderte, ihn nett, bescheiden und humorvoll fand (Lange-Schmidt, 2010). Freud fühlte sich in seinen künstlerischen Ambitionen von seinem Großvater wohlwollend unterstützt. In jungen Jahren trug er einen Fellmantel von ihm. Lucian Freuds Lieblingsbuch, die Geschichte Ägyptens (Breasted, 1936) voller Abbildungen ägyptischer Masken und Skulpturen (siehe »The Egyptian Book«, 1994), soll sein Kunstverständnis sehr geprägt haben und verbindet ihn mit seinem Großvater Sigmund, der sich ja bekanntlich für antike Kunst interessierte und diese auch sammelte, dieses Buch kannte und daraus zitierte (Haag, 2013). Ein Freund von Lucian sagt, Freud habe seinen Großvater vor allem als Biologen bewundert (siehe auch die Darstellung im Film »Painted Life«: Wright, 2012), die Anatomie sei die Gemeinsamkeit zwischen beiden gewesen. De Clerck (2007) sieht zwischen Lucian Freud und seinem Großvater eine dem Maler unbewusst gebliebene Verbundenheit, verweist auf die transgenerationale Weitergabe geistiger Werthaltungen und meint, Freud habe die Sicht und Erkenntnisse seines Großvaters gerettet, indem er sie malend erneut zur Darstellung brachte. Gowing (1982) beschreibt in seinem Kommentar die Fähigkeit Lucian Freuds, den Menschen in seiner Gesamtheit und in seinem Innersten zu sehen und dies in seiner Körperlichkeit abzubilden. Sigmund Freud sagt: »Das Ich ist vor allem ein körperliches« (Freud, 1923/2000, S. 294). Psyche konstituiere sich im Körperlichen. Für Freud war Nacktheit die selbstverständliche Wahrheit, die nichts Beschämendes hat. De Clerck (2007, S. 101 f.) sieht in dem zudringlichen Blick Lucian Freuds eine Gemeinsamkeit mit seinem Großvater: »Indem Sigmund Freud alle Aspekte des Menschlichen darstellt und nichts auslässt, kommt er gerade zu einer ganzheitlichen Subjektvorstellung in der Untrennbarkeit von Körper und Seele. […] Heute vollzieht sein Enkel, der Maler Lucian Freud, mit seinem ›zudringlichen Blick‹ […] in eben dieser Weise eine schonungslose Erkundung und Darstellung des Individuums. […] Indem Lucian Freud seinem Gegenüber gleichermaßen beharrlich wie Sigmund Freud auf den Pelz rückt, […] dringt auch er zu einem tiefen Verständnis des Seelischen vor. […] Indem Lucian Freud sich über die Schamgrenzen hinwegsetzt und der Intimität seiner Modelle hartnäckig und geduldig nachspürt, kann er sie erst in ihrer Fragilität

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und Verletzbarkeit zeigen. […] Lucian Freud ist nicht nur ein realistischer Maler, sondern ein wahrhaftiger.« Ende 2013 gab es eine große Freud-Retrospektive in Wien. In der Berggasse 19 wurden David Dawsons Fotos vom Atelier Lucian Freuds ausgestellt. So kamen die »Räume« von Großvater und Enkel schlussendlich wieder zusammen.

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Insa Fooken

Übergangsobjekte, Doppelgänger, Kunst – vom seelischen Mehrwert der Puppen

Transitional objects, »doppelgänger«, art – the additional psychic benefits of dolls Dolls are unique anthropomorphic objects or artifacts, respectively, with a human visage. Within living memory they act as companions of mankind’s historical development across cultures. Furthermore, dolls also express and meet significant symbolic functions across lifelong ontogenetic development: they are transitional objects, »doppelgänger«, mirrors for processes of individuation, objects of projection for wishes and fears, and, finally, they are: artwork. As objects and means of art they represent existential forms of humankind thus transcending human beings in a unique way while confronting them with the core of their inner selves as well. Zusammenfassung Puppen sind einzigartige anthropomorphe Dinge bzw. Artefakte mit Menschenantlitz und fungieren seit Menschengedenken über alle Kulturen hinweg als Begleiter menschheitsgeschichtlicher Entwicklung. Auch im Kontext lebenslanger ontogenetischer Entwicklung kommen Puppen wichtige symbolische Funktionen zu: Sie sind Übergangsobjekte, Doppelgänger, Spiegel für Prozesse der Selbstwerdung, Projektionsfläche für Wünsche und Befürchtungen und nicht zuletzt Kunstobjekte, die existenzielle Formen des Menschseins zum Ausdruck bringen und den Menschen in einzigartiger Weise sowohl transzendieren als auch auf sich selbst zurückwerfen können.

Puppen – Annäherungen an ein schillerndes Phänomen »Lebensgefährten. Von Puppen und ihren Menschen« – so lautete der Titel einer Ausstellung, die 2014 in den Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale in Kooperation mit dem Puppentheater Halle im Rahmen eines »Doppelgänger-Festivals« stattfand (Doppelgänger, 2014). Man stellte dort zu recht fest: Puppen erfüllen viele Aufgaben in menschlichen Gesellschaften – sie sind immanenter Teil des Spiel-

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zeugmarkts, sie stellen praktisch-funktionale Bezüge im Alltag her, sie sind aufgeladen mit symbolischer Bedeutung und sie können für transzendentale Bedeutungszusammenhänge stehen. Grundsätzlich verweist der fast unüberschaubare Kosmos der Puppen sowohl auf unterschiedlichste real-dingliche Artefakte als auch auf symbolische und imaginäre Erscheinungs- und Manifestationsformen von menschlichen Ab- und Ebenbildern, die sich im Deutschen alle unter dem schillernden Oberbegriff »Puppe« subsumieren lassen (z. B. Fooken u. Mikota, 2014a). Dabei haben Puppen selbst in ihren profansten Erscheinungsformen als billiges Spielzeug immer auch das Zeug zur ganz »großen Illusion« (Roller, 2014) und können verblüffend wandlungsfähig sein. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Puppen auch bei den Metamorphosen der Insekten eine Rolle spielen. Hier steht die Puppe für das Übergangsstadium zwischen Larve und Imago, dem am Ende geschlechtsreifen Insekt. Dieser schlupfreife Zustand eines »Nichtmehr« und gleichzeitigen »Nochnicht« ist Teil eines Häutungsprozesses mit den Etappen Entlarvung, Verpuppung und Entpuppung, ein dynamischer Prozess, der interessanterweise auch zentrale menschliche Entwicklungsstationen in anschaulicher Weise versinnbildlicht (Fooken, 2012, S. 46 f.). In welchen Kontexten und Betrachtungszusammenhängen begegnen uns Puppen? Die folgende Auflistung erhebt keinen Vollständigkeitsanspruch, verdeutlicht aber exemplarisch das große Spektrum und die Vielfalt des Phänomens, um das es hier geht. So finden sich Puppen: –– in der bildenden Kunst als Abbildungen von Puppen bzw. von Menschen, oft Kindern, mit Puppen, als mehr oder weniger veristische skulpturale Figuren und Plastiken oder als inszenierte Fotografien (Krafft, 1991a; Müller-Tamm u. Sykora, 1999); –– in der darstellenden Kunst des Puppen- oder Puppenfigurentheaters, als geführte Puppen, Handpuppen, Kasperlepuppen, Marionetten (Gross, 2011); –– als fiktive bzw. literarische Charaktere, die zum Leben erweckt werden können, wie es in der Literatur für Kinder geschieht (Kuznets, 1994), eindrucksvoll veranschaulicht durch die literalisierte »Puppe Wunderhold« (Cosmar, 1841; Schmideler, 2014) oder in Form mythischer Figuren wie dem Golem (Fooken u. Mikota, 2014c) oder auch als fiktionales Pop-Wesen wie es die »Biografie« der Häkelpuppe »Wollita« karikiert (Seidel, 2014);

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–– im religiösen Brauchtum, in spirituellen Riten, magischen und/oder sexualisierten Erlebnis- und Beschwörungskontexten, wie als Voodoo-Puppe, Rachepuppe, Sorgenpüppchen, Seelenkind, Krippenfigur, als Bauchrednerpuppe sowie nicht zuletzt als Maskottchen, Talisman und/oder Fetisch (Bächtold-Stäubli, 1935/1936; Mattenklott, 2014); –– als Ausdruck von kreationistischen Göttlichkeitsphantasmen wie beispielsweise bei lebensechten Reborn-Puppen aus Vinyl, die sogar zur »Adoption« freigegeben werden (Feenbabys, 2014); –– als animierte Phantasiewesen in Medien, zum Beispiel als Avatare (Schöffmann, 2014) oder in Horrorfilmen, in denen eine Puppe wie Chucky, die Mörderpuppe, Kultstatus hat (Bayrak u. Reininghaus, 2014); –– als diverse Gebrauchsartikel im Alltags- und Arbeitsleben, sei es als Anatomiepuppe, als Manichino, der Gliederpuppe des Künstlers (Peppel, 2008), als Schaufensterpuppe oder Schneiderpuppe, als Dummy-Puppe im Crash-Test und nicht zuletzt als Sexpuppe (Mínervudottir, 2013); –– als selbsttätige Automaten, Androide und künstliche Menschen (Schöffmann, 2014; Wittkop-Ménardeau, 1962); –– als sozial-emotionale Roboter und hilfreiche Assistenten (Esau, 2010); –– als psychotherapeutisches Medium und Hilfsmittel (Gauda, 2007) und last, not least –– als Kinderspielzeug (Bachmann u. Hansmann, 1971/1977; Fooken, 2012; Fooken u. Lohmann, 2013; Fritz, 1992). Würde man darüber hinaus noch die menschliche Eigenart zur Anthropomorphisierung von Dingen und Vorstellungen mit heranziehen, dann ließen sich angesichts dieses Bedürfnisses nach »Puppifizierung« (Fooken, 2012, S. 93) sicherlich noch weitaus mehr Puppenkontexte benennen. So haben beispielsweise die beiden Psychologen Ellis und Hall (1897) in ihrer historischen Puppenuntersuchung die Allgegenwärtigkeit dieses Phänomens beschrieben, denn hier wurden Hunderte von unterschiedlichsten Objekten in verschiedenen Spielkontexten von Kindern »dollified« (S. 46), das heißt, höchst kreativ als Puppenersatzobjekte genutzt.

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Puppen – magische Seelenwesen, trügerischer Schein oder Seelenqual? »Die Puppe ist das vollrunde Abbild eines Menschen, eine plastische Arbeit, die aber vom Kunstwerk weit entfernt bleibt« – so beginnt das zweibändige Werk über Puppen und Puppenspiele des deutschen Kulturhistorikers Max von Boehn im Jahr 1929 (Boehn 1929, S. 1). Auch wenn Boehn der Puppe zunächst durchaus eine gewisse Affinität zur Kunst konzediert, reduziert er sie letztlich auf ein zwar äußerst reizvolles, aber doch nur profanes Artefakt. »Der erste noch tastende Versuch gestaltender Plastik ist die Puppe« (S. 2) heißt es als Auftakt, aber dann stellt für ihn die Puppe mit ihrem veristischen Anspruch keine Kunst dar, sondern ist »nur« schöner Schein: »Während die Kunst unter Verzicht auf das Unwesentliche und Zufällige nach der Wiedergabe der Seele strebt, hat die Puppe gerade auf das seelische Moment verzichtet, um das Oberflächliche und Äußerliche zu betonen und zu steigern […], strebt sie doch nach vollkommener Täuschung, nicht nach ästhetischer Wirkung. Sie kann eine überraschende Übereinstimmung mit der Natur hervorbringen […], sie kann verblüffen, aber die eigentliche Essenz des Kunstgenusses, die Erhebung der Seele auf ein höheres Niveau, bleibt ihr verschlossen« (Boehn 1929, S. 2).

Das bewertet Walter Benjamin mit seinem feinen Gespür für die »Sprache der Dinge« (1916/1977) anders und rettet in gewisser Weise die höchst komplexe »Seele« der Puppe und ihre Ehre als »Kunstwerk«. In seiner Glosse »Lob der Puppe« (Benjamin, 1930/1969) schätzt er zwar Max von Boehn als kundigen Raritätensammler vielfältiger Puppenmanifestationsformen, äußert aber seine Zweifel daran, ob dieser der Komplexität der Puppenmaterie wirklich gerecht werde. So seien die »Pole des Puppenerdballs: Liebe und Spiel« von ihm nicht in ihrer Eigenart erfasst, die Geständnisse, die »heiße Lippen in die Puppenohren stammeln«, blieben unerhört, vom »unerschöpflichen Magnetismus« der Puppe »Olimpia« E. T. A. Hoffmanns werde nichts erspürt, genauso wenig wie vom »Eros, der da geschunden wieder in die Puppen zurückflattert [und] doch derselbe [ist], der sich in den warmen Kinderhänden einst aus ihr löste« (S. 96 f.). So bleibt die kontroverse Frage: Haben Puppen eine Seele? Die Antworten hängen letztlich vom betrachtenden Gegenüber und dessen

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Fähigkeit und Bereitschaft ab, sich auf so etwas wie einen Dialog mit der Puppe einzulassen. »Die Seele sammelt, was der Blick verleiht«, so formuliert es Barbara Krafft (Krafft, 1991b, S. XI) im Katalog zur Ausstellung »Traumwelt der Puppen«. Weiter heißt es dort: »Das eigene kleine Spiegelbild auf dunklem Grund, das man im Auge eines anderen sieht, gab der Pupille, dem ›Augenpüppchen‹, den Namen. Nach altem Glauben wohnt die Seele in dieser Gestalt sichtbar im Auge. Durch den Blick wiederum vollzieht sich die Beseelung des Menschenabbilds, der Puppe« (S. XI). In diesem Sinne konstituiert sich die Seele der Puppe durch den Blick des Betrachters, dem sich damit traumhafte und phantastische Räume eröffnen. Es entspricht dabei der Logik solcher Traumwelten, dass die Puppe als anthropomorphes Artefakt nie eindimensional ist, sondern viele Facetten aufweist und ambivalente Wirkungen erzeugt – sie kann Spiegelung, Wunschbild, Zerrbild, Substitut, Alter Ego, Hilfs-Ich, Projektion anderer Wirklichkeiten und vieles mehr sein. In ihrer Einführung zu der etwas anders akzentuierten Puppenausstellung mit dem Titel »Puppen – Körper – Automaten. Phantasmen der Moderne« betonen Pia Müller-Tamm und Katharina Sykora (1999, S. 67) weniger den reizvollen Zauber als mehr den trügerischen Schein der Puppe: »Diese exemplarischen Artefakte haben […] einen ambivalenten Charakter: Sie stehen einerseits für das vom Menschen Gemachte, für eine Natur aus zweiter Hand […]. Sie bieten sich andererseits der Belebung durch die Phantasie des Benutzers bzw. Betrachters an.« Aber: Die zunächst scheinbar offene Vieldeutigkeit der Puppe kann sich bedrohlich verengen und entsprechende Empfindungen hervorrufen. Puppen können »eine magische, beängstigende, beunruhigende, irritierende und verunsichernde Wirkung [und in] dieser Doppeldeutigkeit […] ein äußerst widersprüchliches psychisches Drama« (S. 67) entfalten. Insofern wundert es nicht, dass sich die verstörende Wirkung der Puppe als »Kippfigur« in beeindruckender und vielfältiger Weise in Kunst und Literatur nachweisen lässt. Der Doppel- und Vexiercharakter der Puppe, die Puppe als Trugbild, das anzieht und abstößt, als ein Ding, das zu leben scheint und doch tote Materie ist, die irritierende Wirkung der lockenden Versprechung von Tiefe bei gleichzeitigem rüden Abprall an der glatten Oberfläche – all diese Themen finden sich in Rainer Maria Rilkes Puppen-Essay (1914/1921). Rilke schrieb den Text im Jahr 1914 unter dem Eindruck

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der ätherisch wirkenden Wachspuppen in einer Ausstellung der Puppenmacherin Lotte Pritzel in Paris. Dennoch behandelt sein PuppenEssay weniger diese künstlerischen Puppen als die jäh auftauchenden Erinnerungen an Kinderpuppen bzw. an die eigene Kinderpuppe: »Zu einer Zeit, wo noch alle bemüht waren, uns immer rasch und beschwichtigend zu antworten, war sie, die Puppe, die erste, die uns jenes überlebensgroße Schweigen antat, das uns später immer wieder aus dem Raume anhauchte, wenn wir irgendwo an die Grenze unseres Daseins traten. Ihr gegenüber, da sie uns anstarrte, erfuhren wir zuerst […] jenes Hohle im Gefühl, jene Herzpause […]. Sind wir nicht wunderliche Geschöpfe, daß wir uns gehen und anleiten lassen, unsere erste Neigung dort anzulegen, wo sie aussichtslos bleibt?« (S. 10).

Das Motiv der Puppe taucht bei Rilke in unterschiedlichen literarischen Kontexten und Bewertungszusammenhängen auf, wobei auch er sich teilweise auf die zoologische Metaphorik der Prozesse von Entlarvung und Verpuppung bezieht – eine Dynamik, die bei ihm mit Abscheu, Ekel, Befremdung und Furcht verbunden ist. Die Puppe ist ein trügerischer Balg. All diese massiven affektiven Reaktionen gegen die Puppe können mit Rilkes eigenen biografischen Erfahrungen in Verbindung gebracht werden, denn es ist die Geschichte seiner Kindheit, in der die übergriffige Mutter ihn als Mädchen inszenierte und den Puppen auslieferte bzw. nach seiner Erinnerung mit ihm »wie mit einer großen Puppe« spielte (Steiner, 1986, S. 107). »Der Puppe gegenüber waren wir gezwungen, uns zu behaupten, denn wenn wir uns an sie aufgaben, so war überhaupt niemand mehr da. Sie erwiderte nichts, so kamen wir in die Lage, für sie Leistungen zu übernehmen, unser allmähliches breiteres Wesen zu spalten in Teil und Gegenteil, uns gewissermaßen durch sie die Welt, die unabgegrenzt in uns überging, vom Leibe zu halten« (Rilke, 1914/1921, S. 8 f.).

Das, was ihm in der Mutter-Kind-Beziehung widerfahren ist, wird mit gesteigertem Abscheu und enormer literarischer Wucht auf die Puppe verschoben, wobei die Rilke-Forschung davon ausgeht, dass sich in der unheilvollen Ambivalenz gegenüber der Puppe die wiederkehrende Lebens- und Todesangst des Dichters sowie die quälenden Selbstzweifel an seiner künstlerischen Potenz widerspiegeln (Di Noi, 2014). Die psychische Verstörung durch den Anblick einer Puppe gilt auch für die Betrachter der Puppe »Olimpia«, der automatisierten Holz-

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puppe in E. T. A. Hoffmanns Nachtstück »Der Sandmann« (1817/1996), wobei hier das Phänomen einer sich langsam entfaltenden irritierenden Wirksamkeit beschrieben wird. Trotz der zunächst makellosen, trügerisch-perfekten Anmutung eines wunderschönen Mädchens besteht Uneindeutigkeit darüber, ob Olimpia ein lebendes Wesen oder eine Puppe ist, ein künstlich beseelter lebloser Gegenstand. Diese schillernde Unschärfe erzeugt eine Aura des »Unheimlichen«, die aber unterschiedliche Wirkungen entfalten kann: Während manche Menschen so etwas hochgradig beängstigend finden, erleben andere genau dabei lustvolle Schauder. Nicht von ungefähr hat sich in Literatur und Film das Schauer- und Horrorgenre im Zusammenhang mit Puppen fest etabliert. Das gilt gerade auch für Kinder- und Jugendliteratur. So wird im höchst erfolgreichen Jugendbuch »Die Puppenkönigin« von Holly Black (Black, 2013; englisch: »Doll Bones«) mit der »großen Puppenkönigin« als untote, literarische Figur das ganze Spektrum der schwarzen Romantik inszeniert. Lesende Kinder lernen dabei: Manche Puppe hat es faustdick hinter den Ohren, und wenn man mit ihr spielen will, muss man um die Vieldeutigkeit der Puppe wissen. So schreibt Gabrielle Wittkop-Ménardeau (1962, S. 15) in ihrer Kulturgeschichte »Von Puppen und Marionetten«: »[…] selbst ehrbare Puppen haben von Natur aus etwas Zudringliches. Oft, wenn ich vor einem Antiquitätengeschäft stehenblieb, um eine bauchige Kommode oder einen Kupferkessel zu betrachten, geschah es, daß ich von einem winzigen Gesichtchen überrascht wurde, das mich aus dem Halbschatten belauerte. Jedesmal fühlte ich einen Schock. Eine Puppe ist niemals völlig harmlos […]«.

Puppen als Übergangsobjekte in Übergangsräumen Mit dem Aufeinandertreffen von Puppe und Mensch entsteht bei Kindern (wie auch durchaus bei Erwachsenen) oft ein intermediärer und ambivalenzträchtiger Raum des »Dazwischen« und des »Übergangs«. Auch wenn die Puppe ein Objekt ist, das zumeist bereits »da« ist, muss man sich trotzdem für dieses Objekt entscheiden. Denn erst, indem sie als solches gewählt wird, erhält eine Puppe ihre Funktion als Übergangsobjekt. Dabei muss dieser Prozess nicht unbedingt linear und geordnet ablaufen, denn »Übergangsobjekte und Übergangsräume [können] eine beruhigende

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Funktion [haben], zugleich jedoch auch eine gefährliche und bedrohliche Wirkung« (Müller, 2014, S. 93). Dieser intermediäre Raum ist uneindeutig und kann paradoxe Botschaften enthalten. Was sich dort letztlich als sinnvoll erweist, erschließt sich manchmal erst durch einen »Gegensinn«, denn es ist ein Übergangsraum, in dem auch negative Affekte eine zentrale Rolle spielen. So verweist Ulrich A. Müller (2014, S. 100) unter Bezug auf die Konzepte des Übergangsobjekts und Übergangsraums von Donald W. Winnicott (1953, 1973) darauf, dass es sich nicht nur um die »Anerkennung des [Übergangs-]Objekts« handele, sondern gerade auch um die »Destruktivität«, die in besonderer Weise den »Objektgebrauch als Katalysator für die weitere Entwicklung« in Gang setzen könne. So kann es durchaus sein, dass sich erst »am Ende« des Übergangsprozesses so etwas wie ein konstruktiver Wirkraum entfalten kann. Selbst die bei Rainer Maria Rilke beschriebene destruktive Konnotation des Puppenmotivs lässt sich in der Zusammenschau seiner verschiedenen Puppentexte in einem etwas anderen Licht sehen. So konzediert Rilke »am Ende« implizit, dass in der Interaktion von Puppe und Kind eine Konstellation entsteht, in der das Kind im Gegenüber der Puppe »sich und die Welt erkennt« (Bühler-Dietrich, 2006, S. 122). Die Puppe wäre somit nicht nur Bedrohung, sondern kann auch als ein Medium zur Erkenntnisgenerierung gesehen werden. Oder noch anders gesagt: In diesem ambivalenzträchtigen Zwischenraum kann sich das Kind als Subjekt konstituieren und somit erste rudimentäre Erfahrungen von Ich und Du, von Identität und Anderssein machen. »Die Puppe fungiert so als Instanz der Trennung von Noch-Nicht-Subjekt und NochNicht-Objekt«, konstatiert Bühler-Dietrich (S. 122) – das bedeutet Verlust, aber auch Klarheit. Dabei ist nach Gundel Mattenklott (2014) die existenzielle Erfahrung der Getrenntheit bzw. die Verlusterfahrung einer zuvor empfundenen Einheit oder Symbiose das entscheidende Motiv für die Belebung der Puppe. Die Tatsache ihrer Beseelung wiederum stellt die gelingende Kompensation eines vorausgegangenen Verlusts dar – es konstituiert sich ein Übergangsraum im Sinne Winnicotts und die Puppe wird zum Übergangsobjekt. Sicherlich hatte Lucas Cranach der Ältere mit seinem Bild »Caritas« aus dem Jahr 1534 nicht die Absicht, eine Puppe in ihrer Funktion als Übergangsobjekt zu zeigen, sondern eine Allegorie der Nächstenliebe darzustellen (siehe Abbildung 1).

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Abbildung 1: »Caritas« (1534), Lucas Cranach der Ältere (1472–1553); Mu­ seum zu Allerheiligen Schaffhausen, Sturzenegger-Stiftung; Quelle: http:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Lucas_Cranach_-_Caritas_-_1534.jpeg (27. 12. 2014)

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Man sieht eine unbekleidete junge Frau als Mutter zusammen mit drei, sie festhaltenden Kindern, die allegorisch für »Nächstenliebe« (Caritas) steht und den zentralen Fokus des Bildes ausmacht. Dennoch fällt einem puppeninteressierten Betrachter vor allem das kleine, stämmige Mädchen am linken Bildrand auf, das eine (bekleidete) Puppe zärtlich an sich drückt. Verlässt man den historischen Kontext der Entstehungszeit des Bildes, könnte man folgende Interpretation wagen: Allegorie hin, Allegorie her – anders als die geschlossene Gruppe der anderen vier Personen auf diesem Bild wirkt dieses Kind vergleichsweise lebensecht. Es scheint – getrennt vom Rest der Gruppe – ganz intensiv-versonnen bei sich zu sein, als ob es sich einen eigenen Übergangsraum mit seiner Puppe als Übergangsobjekt geschaffen hätte. Mit Müller (2014, S. 93) könnte man auch sagen: »Die illusionäre Aneignung des Erlebten als eigene Erfahrung verschafft dem Kind einen eigenen Raum, in dem es sich erst zu seiner Umgebung in Beziehung zu setzen beginnt.« Die Erfahrung der Getrenntheit von der Mutter bleibt bestehen, das Kind scheint sie aber – in einer Art Lebensbewegung der Verlebendigung, gemäß der von Alfred Adler postulierten doppelten Dynamik (Eife, 2010) – gleichzeitig ichbezogen und mitmenschlich im inniglich-ernsthaften Spiel überwunden zu haben. Somit wird »Anhänglichkeit und Zärtlichkeit« (Adler, 1926/2010, S. 249) für die Puppe hergestellt und gleichzeitig umgekehrt von ihr erfahren. Beim Betrachten dieser Dynamik und der Eigenständigkeit des kleinen Mädchens mit seiner Puppe ist man geneigt, das Diktum des britischen Dichters William Wordsworth »The child is father of the man« etwas abzuändern in: »Das Mädchen ist die Mutter der Frau«. Bezieht man sich noch einmal auf Winnicott, dann betont er, dass dem Kind die Trennung von der Bezugsperson in dem Moment gelingt, in dem es fähig zur Symbolbildung und zur Erschaffung bzw. Wahl eines Übergangsobjekts ist, das heißt in der Lage ist, zwischen »Phantasie und Fakten, zwischen inneren und äußeren Objekten […] zu unterscheiden« (Winnicott, 1973, S. 11). Spielt es dabei eine Rolle, welche Art von Objekt das Übergangsobjekt ist? Meiner Ansicht nach kommt in diesem Zusammenhang der Puppe als gewähltem Übergangsobjekt ein besonderer Stellenwert zu, denn sie ist ein deswegen ein besonderes Objekt, weil sie ein »Ding« mit Menschenantlitz ist. Somit bietet sie sich in besonderer Weise als potenziell konstruktive und destruktive Projektionsfläche sowohl für

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eigene psychische Anteile an als auch für seelische Merkmale abwesender Personen. Nach Mattenklott (2014, S. 31) entsteht hier eine besondere Beziehungsinteraktion, die immer auch eine Art symbolisches Tauschgeschäft bedeutet: Seele gegen Zuwendung. Dabei ist nie so ganz klar, ob die Puppe zunächst ein Stück Seele bekommt und dann Zuwendung gibt oder ob sie es ist, die erst Anteilnahme zeigt und dann beseelt wird. Es ist aber immer auch ein riskantes Tauschgeschäft, denn was ist, wenn die »Puppe […] unersättlich […] [wird und] die ganze Seele forder[t]« (S. 31)? Genau das war ja das Problem im Falle von Rilke, denn bei ihm entpuppte sich der Übergangsraum des Kindes in Bezug auf die Puppe zunächst als ein kaum aufzuhebendes destruktives »Dazwischen«. Andererseits gelang es ihm »am Ende«, die erfahrene Destruktivität mittels schöpferischer Kraft in Literatur und damit in Kunst zu transzendieren. Dabei betont Winnicott ohnehin die grundsätzlich hohe Bedeutung uneindeutiger und offener Übergangsräume als Spiel- und Ermöglichungsräume für eine letztlich zumeist gelingende Entwicklung des Kleinkindes genauso wie für die Entwicklung eines gesellschaftlich bedeutsamen künstlerischen Potenzials. Demgemäß konstatiert auch Laura Praglin (2006) unter Bezugnahme auf Winnicott, dass das Übergangsobjekt gerade als eine Illusion seiner selbst paradoxerweise für (fast) alle Menschen immer auch »die Grundlage des Initiierens von Erfahrung« (o. S.) darstelle. In diesem Zusammenhang geht Winnicott (1973) davon aus, dass der mit dem Übergangsobjekt sich konstituierende intermediäre Erfahrungsbereich »nicht im Hinblick auf seine Zugehörigkeit zur inneren oder äußeren Realität in Frage gestellt wird« (S. 25), so wie Übergangsräume überhaupt »das Leben lang für außergewöhnliche Erfahrungen im Bereich der Kunst, der Religion, der Imagination und der schöpferischen wissenschaftlichen Arbeit« (S. 25) kontinuierlich erhalten blieben. Daraus ergibt sich für ihn »als weiterer Gedanke, daß eine Widersprüchlichkeit, die akzeptiert wird, positiven Wert hat« (S. 25). Der potenziell paradoxe und ambivalente Charakter von Übergangsobjekt und Übergangsraum weist damit langfristig weitaus eher auf Entwicklungschancen hin als auf Risiken, auch wenn ein solch konstruktiver Zugang manchmal erst (mittels eines psychotherapeutischen Haltens) möglich gemacht werden muss. Wie könnte eine derartige Dynamik im Zusammenhang mit Puppen aussehen? In Übergangsräume fließen Erfahrungen beider Realitäten

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ein, der inneren psychischen und der realen äußeren, und es entsteht ein Drittes, ein »Dazwischen«, in dem ein entlastendes und doch entwicklungsbezogenes Objekt, wie beispielsweise eine Puppe oder etwas Puppenähnliches, vom Kind (oder auch von Erwachsenen) in seiner spezifischen Übergangsfunktion »entdeckt«, gewählt und mit spezifischen innerseelischen Erfahrungen verknüpft wird. Dieses Übergangsobjekt existiert bei Kindern außerhalb des Kindes, es gehört nicht zu seinem eigenen Körper und ist somit das erste als Nicht-Ich empfundene Objekt in seinem Leben. Es repräsentiert die Beziehung zum Primärobjekt, zumeist der Mutter, und hält die Bindung aufrecht, lässt aber gleichzeitig auch die sich außerhalb dieser Verbundenheit herausbildende Autonomie zu. In der weiteren Entwicklung kann mit Puppen leidenschaftlich mit Fiktionen und Skripten gespielt werden, bzw. es kann lustvoll so getan werden »als ob«. Auch wenn das nicht immer so expliziert wird, lassen sich viele Darstellungen in Kunst, Fotografie und Literatur wie Veranschaulichungen dieser Erkenntnisse verstehen. So stellt das als »Puppen« (polnisch: Lalki) betitelte Bild des polnischen Malers Witold Wojtkiewicz (siehe Abbildung 2) eindrucksvoll dar, wie man sozusagen »oben« ganz angepasst, anständig und brav Erwachsensein spielen kann und »unten« gleichzeitig karnevalesk die Puppen tanzen lässt. Man kann mit Übergangsobjekten kindliche und erwachsene Bedürfnisse ausbalancieren, man kann sich leidenschaftlich der Phantasie, dem Schauder und den Wonnen hingeben und trotzdem ein Spielbewusstsein bewahren. So ähnlich beschreibt es Klaus Mann in seiner Autobiografie »Kind dieser Zeit« (1932/1983, S. 21): »Wie wunderbar wir gespielt haben! Mit den Puppen war mehr anzufangen, als mit dem Dichter- und Komponistenquartett […], die Puppen wurden wirklich lebendig; das bedeutete natürlich einen ungeheuren Vorteil. Ja, Bobbelchen, Madamchen und all die anderen lebten, sie hatten sogar die kompliziertesten Schicksale. Sie zankten sich, sie bekamen Kinder, sie erwarben Vermögen, verloren es, unternahmen Reisen, litten an bösen Krankheiten. Sie hatten Lieblingsgerichte, so daß sie im Chore riefen: ›Darum – lasst uns – Wurstbrot – schmatzen –‹; einige von ihnen waren so eitel, daß man ihnen ständig neue Kostüme schneidern mußte, andere schienen boshaft und aufsässigen Charakters. – Ich weiß, daß ich mit zehn und elf Jahren noch mit Puppen spielte. Freilich wurden die kleinen Stoff- und Zelluloidgebilde selber beinahe nebensächlich, während die großen Geschichten, die sich um sie spannen, immer selbständiger wuchsen«.

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Abbildung 2: »Puppen« (Lalki) (1906), Witold Wojtkiewicz (1879–1909); Mu­seum Narodowe, Warschau; Quelle: http://commons.org/wiki/Category: Witold_Wojtkiewicz?uselang=de#mediaviewer/File:Woijtkiewicz_Lalki.jpg (30. 8. 2014)

Puppen als Alter Egos und Doppelgänger Puppen stellen nicht nur Übergangsobjekte dar, sondern fungieren auch als Alter Egos und Doppelgänger. Das gilt für den Spielzeugmarkt und pädagogische Kontexte genauso wie für den Bereich von Kunst und Literatur. Gerade in Bezug auf den Markt der industriell gefertigten Kinderpuppen finden sich oft Bestrebungen, Kindern (und Eltern) zu suggerieren, dass sich Puppen und Kinder in ihren Erscheinungsformen angleichen können. Wenn Puppen als »look-alikes« bzw. als Doppelgänger angepriesen werden, heißt das in der Regel, dass die normative Setzung von Aussehen und Styling durch die Puppe vorgegeben wird. So wird seit Langem kontrovers diskutiert, inwieweit serielle PuppenMarkenprodukte den Kindern, vor allem den Mädchen, vorschreiben, wie man zu sein und auszusehen hat. Als prominentestes Beispiel innerhalb dieses Diskurses kann dabei sicherlich die »Barbie«-Puppe gel-

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ten (Fooken, 2012, S. 143 ff.; Nieradka-Steiner, 2014). In lateinamerikanischen Ländern, wie beispielsweise in Brasilien, in denen bereits Schönheitsoperationen an Mädchen durchgeführt werden, setzt sich die kritische pädagogische Forschung mittlerweile intensiv mit »Barbie« und ihresgleichen im Hinblick auf deren Auswirkungen auf die Körperbilder von Kindern und deren Vorstellungen von Körpermanipulationen auseinander (Dornelles, 2013; Fooken u. Lohmann, 2013). Auch wenn Puppen als Spielzeug geschlechtsspezifisch konnotiert sind und sich der einschlägige Markt vorwiegend auf Mädchen und ihre Vorlieben ausrichtet, sollte dabei nicht unterschätzt werden, dass mit hypermaskulinen Actionfiguren auch Jungen bestimmte Körperbilder nahegebracht werden, die ein völlig unrealistisches Körperideal normieren. In diesem Zusammenhang sei an ein Foto der in Afghanistan getöteten Fotografin Anja Niedringhaus erinnert, das einen amerikanischen Soldaten zeigt, der eine Soldaten-Puppe als Miniaturausgabe seines eigenen militärischen Habits an der Außenseite seines Kampfgepäcks befestigt hat. In diesem Sinne scheinen auch »große Jungen« in lebensgefährlichen und todbringenden Zeiten durchaus auf die magische Wirkung einer glücksbringenden Doppelgänger-Puppe zu hoffen und zu vertrauen. Grundsätzlich findet sich das Doppelgänger-Thema in Literatur und Kunst im Zusammenhang mit Puppen in vielen Varianten. »Das Faszinosum unserer unheimlichen Doppelgänger liegt in ihrem latenten Leben«, schreibt Sigrid Metken (1991, S. 25) in einem Überblick über Puppen in der modernen Kunst. Gerade weil Puppen wie lebendig wirken, können sie auch »sterben« oder getötet werden. Dabei ist die Nähe zum Fetisch offenkundig. Puppen repräsentieren eine »Ware«, von deren Eigenleben, sprich: von deren Seele, so mancher erwachsene Mensch – wie in einer Verkehrung von Subjekt und Objekt – verhext wird. Die Komödie »Der Triumph der Empfindsamkeit« von Goethe (1777/1999), »eine dramatische Grille«, führt die hochstilisierte männliche Empfindsamkeit des Prinzen Oronaro vor, dessen Liebesgefühle nur von einer Puppe entfacht werden, die ihm die Illusion der Königin Mandandane vorgaukelt. Die Leidenschaft erlischt prompt, als ihm die reale Königin, absichtlich als Puppe verkleidet, gegenübertritt. Erst als man dem unfreiwillig ernüchterten Prinzen seine »wirkliche« Puppe zurückgibt, entzündet diese ihren Liebeszauber neu.

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Nicht von ungefähr wird man beim Doppelgänger-Thema an den Maler Oskar Kokoschka und seine Alma-Mahler-Puppe erinnert. 1918 gab Kokoschka diese Puppe mit akribischen Detailforderungen bei der Puppenmacherin Hermine Moos in Auftrag. Das ganze Unterfangen erscheint wie ein befremdlich anmutendes Beispiel für die – vergebliche – Hoffnung, ein lebensechtes Abbild seiner obsessiv geliebten Alma (Mahler) als Ersatz für die real abtrünnig gewordene Geliebte besitzen zu wollen. Erwartungsgemäß scheitert dieser Versuch und verkehrt sich ins Gegenteil (Gallwitz, 1992). Dementsprechend konstatiert Sigrid Metken: »Die Puppe ist ihm zur dadaistischen Allegorie geworden. Bald wird er sie, nach einer mit Freunden durchzechten Nacht, mit Rotwein übergießen, köpfen und schließlich auf den Müll werfen. Sie hat ausgedient« (Metken, 1991, S. 32). Wiederum ganz anders wird das Doppelgänger-Thema in den Fotografien des Künstlers und Werbefotografen Jean-Pierre Khazem aufgegriffen. Dessen fotografische Inszenierungen sind nach Claudia Peppel (2014) ein eindrucksvolles Beispiel für die höchst irritierende »Unmöglichkeit der Unterscheidung« zwischen den Kategorien »lebendig/künstlich, puppenhaft/lebensecht, leibhaftig/wesenhaft, vertraut/ unheimlich und imaginär/real« (S. 293). Peppel stellt fest: »Puppen entziehen sich der Wirklichkeit, setzen sich von ihr ab und rufen sie gleichzeitig auch hervor« (S. 293). So findet sich im Rahmen einer Modekampagne für einen Jeans-Hersteller ein Foto von Khazem, das ein junges weibliches Fotomodell mit einer für diesen Zweck angefertigten Silikon-Gesichtsmaske zeigt. Das Gesicht hinter der Maske enthüllt sich nicht, und als Betrachter fragt man irritiert: Was ist Illusion, was ist Realität? Handelt es sich um einen Menschen oder eine Puppe? Sieht man eine Maske oder ein Gesicht? Das wächsern wirkende Gesicht spricht eher für eine Puppe als für eine Maske. Dabei schafft der Hyperrealismus den Eindruck von Lebensechtheit und puppenhafter Künstlichkeit zugleich. Nach Peppel erzeugt das »ständige Kippen« und der »Wechsel von Erkennen, Wiedererkennen und Infragestellen ein paradoxes Spannungsfeld« (S. 294). Doppelgänger und Alter Ego erscheinen hier in einer eigenartigen Weise mit dem »Original« gleichzeitig symbiotisch verschmolzen und getrennt. Die Puppe rührt in diesen Kontexten an zentrale Fragen von Selbst-Kohärenz und Identitäts-Diffusion.

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In einer noch anderen Weise hat die Fürstin Auguste Dorothea von Schwarzburg (1666–1751) im thüringischen Arnstadt mit ihrer barocken Miniatur-Puppenstadt »Mon Plaisir« die Möglichkeit der Erschaffung einer Doppelgänger-Existenz genutzt. In der höchst detailreichen Ausgestaltung ihres eigenen Lebenszusammenhangs wird der Lebensablauf der Fürstin (mit ihr selbst als Wachspüppchen) in sowohl real durchlaufenen als auch idealiter angestrebten Lebensstationen abgebildet. So portraitiert sich die kinderlose Fürstin unter anderem in einem Wochenbettzimmer mit Baby und Amme. Annette Cremer (2014) zeichnet als Historikerin und Kunsthistorikerin eindrucksvoll nach, wie in einer miniaturisierten Puppenwelt mithilfe der Doppelgänger-Figur eine »lebensbegleitende Selbstbespiegelungsfolie« geschaffen wird, die als ein »Medium kompensatorischer Selbst-Ermächtigung« (S. 172 f.) genutzt wird. Nicht zuletzt findet sich die Nutzung der Puppe als Doppelgängerin vor allem im Sinne eines Hilfs-Ichs im Kontext therapeutischer und pädagogischer Ansätze sowie in der Kinder- und Jugendliteratur. So ist die Puppe »Widu« im Kinderbuch »Das Herz der Puppe« von Rafik Schami (2012) eine solche besondere Doppelgänger-Puppe, die einerseits wie ihre Besitzerin, das kleine Mädchen Nina, aussieht und als deren kongeniale Begleiterin fungiert, andererseits aber auch über magische Kräfte verfügt, sodass sie Nina nicht nur ermutigen, sondern sogar deren »Angst aufsaugen« kann. Damit übernimmt Widu für eine gewisse Zeit für Nina die Funktion eines kompetenten Hilfs-Ichs. In dieser Rolle ist es zunächst ein Ausdruck ihrer Stärke als Puppe, dass sie nicht älter wird und auch kein (schlagendes) Herz hat. Als Nina aber schwer erkrankt, spürt Widu, dass ihre eigene Puppen-Unsterblichkeit sie wesensmäßig von ihrer geliebten menschlichen Bezugsperson Nina trennt. Um dem Mädchen nah und ähnlich zu bleiben, muss sie das Opfer bringen, sterblich zu werden. So werden an dieser Doppelgänger-Thematik existenzielle Fragen von Identifikation, Identität, Weiterentwicklung, Abschiednehmen und Tod angesprochen. Auch im Rahmen eines Kunst-Projekts zum »Doppelgänger-The­ma«, das als museumspädagogisches Projekt in einer Kooperation zwischen der Medien- und Literaturwissenschaftlerin Angela Weber und der (Textil-)Künstlerin Wiebke Bartsch im Essener Folkwangmuseum entstand, geht es um die (heimliche) Wirkung der Doppelgänger als Hilfs-Ich:

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»Mein heimlicher Begleiter: Jugendliche gestalten ihr zweites Ich« (Weber, 2014). Die Jugendlichen haben einen textilen Doppelgänger gestaltet, der als eine Art Mittler fungieren soll zwischen lebensweltlichen Erfahrungen, Ängsten und Wünschen einerseits und gesellschaftlichen Anforderungen an sie als Jugendliche andererseits. Angesichts des Spektrums unendlicher Bilderfluten und Angebote, die im gesellschaftlich-kulturellen Spiel mit Rollen, Masken und Identitäten auf Jugendliche einwirken, entpuppen sich diese selbst gestalteten DoppelgängerPuppen als verlässliche und kongeniale Begleiter der Jugendlichen. Sie werden zu ermutigenden Akteuren im Prozess der Identitätsfindung und ermöglichen den Jugendlichen den Zugang zu eigenen Potenzialen. So erklären zwei der männlichen Teilnehmer im Projekt-Interview, warum sie gemeinsam »ihren« Doppelgänger, einen Ninja-Kämpfer, gestaltet haben: »Ninjas sind keine feigen Ratten, die für Geld alles machen würden. Ninjas tragen immer dunkle Kleidung. Ninja heißt übersetzt, jemand im Geheimen. Sie sind wie Schatten […]. Die kriegt man nur manchmal zu Gesicht« (Weber, 2014, S. 186). Die meisten Jugendlichen haben somit den Doppelgänger-Rahmen genutzt, um Puppen als Alter Egos zu schaffen, die kompensatorisch ein Stück Wunscherfüllung erlauben, gleichzeitig aber auch eine spielerische Auseinandersetzung mit der jeweils eigenen Lebensrealität ermöglichen.

Puppen als literarische Charaktere und künstlerisches Ausdrucksmittel Auch in den Bereichen von Literatur und Kunst werden Puppen sowohl in ihrer Funktion als Übergangsobjekt und Doppelgänger als auch als stilistisches Mittel spezifischer künstlerischer Absichten genutzt. Oft erscheint hier die Puppe als Zwitter, als eine »Borderlinerin« im »Dazwischen« von Kunst, Kultobjekten, Spielzeug und Gebrauchsdingen, als eine »Grenzgängerin zwischen allen Ordnungen« (Mattenklott, 2014, S. 30). Nach Mattenklott entstand in diesem Kontext eine ganz eigene Puppending-Sprache »des Begehrens, des Unbewussten und seiner Traumwelten« (S. 30). So ist es nicht zuletzt dieser magische Traumweltcharakter, der sich besonders eindrücklich in der Kunst des Puppentheaters findet. Kenneth Gross (2009), der die Rolle der Puppen

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als faszinierende »Botschafter aus der Welt der Dinge« (S. 187) charakterisiert, macht in diesem Zusammenhang deutlich, dass sich mit dem Puppentheater, im Zusammenspiel von Mensch und Puppe, von Puppenspieler und einem zunächst unbelebten Objekt, eine uralte und höchst besondere Kunstform entwickelt hat: »Was ist das für ein Ding, das ich wiedererkenne und das mich zu kennen scheint […]. Was ist das für ein Geschöpf, das sich aus dem Schatten heraus ans Licht gräbt […]. Ich würde gerne etwas über die Welt, in der dieses Geschöpf lebt, wissen. Noch mehr frage ich mich, was es über unsere Welt weiß. Der Wahnsinn der Puppe. Er zeigt sich auf verschiedene Weisen. […] Das Verrückte liegt […] in dem eigenartigen Antrieb und dem Können, durch die die Hand eines Menschen sich selbst in einen beseelenden Impuls, in die Intelligenz oder in die Seele eines unbelebten Objekts, eines Dings ohne Leben, verwandeln kann« (Gross, 2009, S. 182; Übersetzung I. F.).

Ein anderer, höchst origineller literarischer Puppenbeitrag stammt von der japanischen Schriftstellerin Yoko Tawada. Sie kommt aus einem Land mit einer uralten und hochdifferenzierten Puppenkultur und nähert sich dem europäischen Spielzeug und den Puppen mit einem bewusst naiven, ethnologisch-poetologischen Blick. Ihre Erzählung »Wo Europa anfängt« (Tawada, 2014) handelt unter anderem von der Reise einer jungen Japanerin in der transsibirischen Eisenbahn. Sie beobachtet dort, wie Sascha, ein kleiner russischer Junge, mit einer Matrjoschka spielt und sie auseinandernimmt, sein Vater ihm zusieht, sich dann an die Ich-Erzählerin wendet und zu ihr sagt: »Wenn Sie in Moskau sind, kaufen Sie eine Matrjoschka als Souvenir. Das ist ein typisch russisches Spielzeug.« Die Ich-Erzählerin weiß nun aber, dass viele Russen nicht wissen, dass dieses vermeintliche »typisch russische« Spielzeug erst Ende des neunzehnten Jahrhunderts nach alten japanischen Vorbildern in Russland hergestellt wurde. »Ich werde eine Matrjoschka in Moskau kaufen«, sagt sie zu Saschas Vater. Sascha holt im weiteren Spielverlauf die fünfte Puppe hervor und versucht, auch diese auseinanderzunehmen. »Nein, Sascha, das ist die kleinste«, ruft sein Vater, »jetzt musst du sie wieder einpacken!« Somit lief das Spiel rückwärts, und die kleinste Puppe verschwand in der nächstgrößeren, diese wiederum in der nächsten und so weiter. Die Ich-Erzählerin sinniert und resümiert: »Dass unsere Seelen im Traum als Tiere oder als Schatten oder auch als Puppen erscheinen können, davon hatte ich in einem Schamanenbuch

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gelesen. Die Matrjoschka ist wahrscheinlich die Seele der Russlandreisenden, die im tiefen Schlaf in Sibirien von der Hauptstadt träumen« (S. 28 f.). In einer weiteren Assoziation sinnt sie darüber nach, ob vielleicht eine sogenannte Kokeshi-Puppe das Vorbild für die Matrjoschka gewesen sein könnte, denn ihre Großmutter hatte ihr erzählt (S. 29): »Vor langer Zeit, als die Menschen in ihrem Dorf noch an bodenloser Armut litten, konnte es manchmal passieren, dass Frauen ihre eigenen Kinder, mit denen sie sonst verhungern hätten müssen, sofort nach der Geburt töteten. Für jedes Kind wurde eine Kokeshi, das heißt Kind-verschwinden-lassen, hergestellt, damit die Menschen nie vergaßen, dass sie auf Kosten dieser Kinder überlebt haben«.

Auch in einer weiteren Erzählung von Yoko Tawada, »Rothenburg ob der Tauber: ein deutsches Rätsel« (Tawada, 2011) geht es um interkulturelle Unterschiede in der Wahrnehmung von Puppen. Geschildert wird eine japanische Reisegruppe, der von einer Fremdenführerin die Begegnung mit der »wichtigste[n] Puppe Deutschlands, die wirklich typisch deutsch ist«, angekündigt wird. Endlich im Puppen- und Spielzeugmuseum angekommen, wird ihnen dann auf Japanisch mitgeteilt (S. 38 f.): »Der Nussknacker ist DIE typischste deutsche Puppe! Wir starrten auf die Puppe, als könnten wir dadurch verstehen, was typisch deutsch war. Der Nussknacker war ein Spielzeug, das lieber arbeitete als spielte. Seine Aufgabe war es, harte Nüsse zu knacken. War er deshalb typisch deutsch? Der Nussknacker war das Meisterwerk eines Handwerkers. Gleichzeitig war er selbst ein Handwerker, der mit Nüssen arbeitete. Er arbeitete nicht mit der Hand, sondern mit dem Mund. War das der Grund, warum er typisch deutsch war? In seinem Mund waren prächtige Zähne zu sehen. Wenn er den Mund aufmachte, entstand ein schmerzhaft großes Loch in seiner Brust. Ein Herz hatte er nicht. Trotz seiner militärischen Uniform und seiner strengen Körperhaltung wirkte er humorvoll und etwas kindlich«.

Von einer ganz anderen, flexiblen Materialität mit hohem spielerischem Wert erweist sich eine weitere literalisierte Puppenfigur: »Zippi«, der Reisegott von Kurt Tucholsky, eine aufblasbare Gummipuppe. Es handelt sich um beides – Zippi ist in gewisser Weise ein Übergangsobjekt für den Autor und irgendwie auch sein Doppelgänger. Dabei gab es die Gummipuppe Zippi im Leben von Tucholsky wirklich. Ein Foto zeigt Zippi, wie er an der Stuhllehne in einem Esszimmer hängt (Bemmann, 1990, S. 343). Die Tatsache, dass Zippi in einem Feuilleton-Text als literarischer Charakter verewigt wurde, brachte Tucholsky laut seiner

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Biografin Helga Bemmann den Vorwurf ein, manchmal doch ein ziemlich alberner Plauderer zu sein (Bemmann, 1990, S. 341). Bedenkt man aber, wie viele erwachsene Menschen heutzutage ständig ein Kuscheltier dabeihaben und sich davon psychisch stabilisieren lassen, dann erweist sich die Wahl von Zippi als ein recht kluger Puppen-Kunstgriff, um sich in einem oft schwierigen und unsteten Leben mit ein bisschen ironischem Augenzwinkern durch diesen »übergangsobjektartigen Doppelgänger« dennoch emotionalen Halt zu geben. So heißt es bei Peter Panter (1927), alias Kurt Tucholsky: »Ich habe einen Reisegott, und er ist aus Gummi, man kann ihn aufblasen. Er kommt überall mit. Mit seinem richtigen Namen heißt er ›Zippi Oloron‹ – weil er aus einer kleinen Stadt in Frankreich stammt, die heißt Oloron. Da lag er in einem verstaubten Schaufenster und sah trübsinnig drein, weil sich niemand um ihn kümmerte. Er hatte etwas durchaus Götzenartiges –: er war hellgelb, mit grünen Gesichtszügen, die unentwegt grinsten, als Uniform hatten sie ihm so etwas wie einen Frack der großen französischen Akademie aufgemalt. Auf dem Kopf saß ihm eine spitze, hohe, rote Tüte. Ich kaufte ihn sofort. Von Oloron habe ich wenig gesehen – ich blies den ganzen Tag Zippi auf. Er hatte es mir gleich mitgeteilt, daß er Zippi hieße, Glück bringe und von Beruf Reisegott sei. […] Zippi fährt nicht gern im großen Schrankkoffer; er wohnt in der Handtasche. Er trinkt nur ein wenig Zahnwasser, sonst benimmt er sich recht manierlich, und auch Opfer will er nicht dargebracht haben, der Gott. Von Zeit zu Zeit nur – ich fühle das in meinem Herzen – will er hinaus. Dann mache ich die Tasche auf und blase den Flachgeglätteten auf. Er darf dann aus dem Fenster sehen. Sind junge Damen im Coupé, so halten sie das für eine höchst dämliche Art der Anknüpfung, und die Luft wird ganz hellkalt, sie sehen mich gar nicht mehr an. Sind es ältere Damen, so erwachen Mutterinstinkte in ihnen, und eine besonders nette, freundliche, alte Dame hat sich Zippi denn auch einmal herüberreichen lassen. Aber er wollte nicht, schüttelte sich, oben fiel der Pfropf aus seinem Hutzipfel, pfiff! machte es – und die entsetzte Greisin hielt einen weichen Gummilappen in der Hand. […] Übrigens kann er so ziemlich alle Sprachen, die wir brauchen: französisch und englisch und schweizerisch und grob – und jetzt habe ich ihm die aufgemalten Zähne wegradiert, nun hat er kein Gebiß mehr, und nun kann er auch dänisch. Ich bete ihn selten an, wir glauben uns beide das nicht so recht. Er ist zwar als Hausgötze angestellt – aber schließlich bei dem Gehalt … Es ist ein Gott, mit dem man sich duzt; ich sage, wenn ich in eine fremde Stadt komme, so beim Auspacken: ›Na, du – Zippi …!‹ und dann grinst er. Wir sind uns zu nahe, um Gläubiger und Gott zu spielen – dazu gehört Distanz. Merkwürdig, wenn man einen Lachenden, wie diesen Zippi, sehr lange ansieht, dann wird das lächelnde Gesicht erst zur Maske, dann zum bemalten Ball, dann unerträglich – und auf einmal ist es ganz ernst. Da gleitet nun alles so an ihm vorüber – unbeweglich bleibt er, wohin lacht der Kerl –?«.

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Auch in einem ganz anderen literarischen Genre, dem russischen Volksmärchen »Die wunderschöne Wassilissa« (Gebert, 1989), spielt eine Puppe eine wichtige Rolle als Übergangsobjekt. Die sterbende Mutter holt unter ihrer Bettdecke eine Puppe hervor und überreicht sie der achtjährigen Tochter Wassilissa mit den Worten: »Ich sterbe und hinterlasse dir mit meinem mütterlichen Segen diese Puppe. Bewahre sie stets bei dir und zeige sie niemandem. Solltest du Kummer haben, gib ihr zu essen und frage sie dann um Rat« (S. 156). Es beginnt eine Nachtmeerfahrt, eine Zeit der Prüfungen, Gefahren und Konfrontationen mit den unterschiedlichsten Aspekten und Varianten von Frau-Sein und Weiblichkeit. Es ist eine Zeit, in der äußere und innere Widrigkeiten wirksam werden, aber mithilfe der Puppe als Repräsentanz einer ermutigenden und fürsorglichen Mütterlichkeit ein guter Entwicklungsverlauf stattfinden kann. Am Ende ist Wassilissa selbstständig geworden, kann selbst Verantwortung übernehmen und dem Zaren als ihrem Bräutigam auf Augenhöhe begegnen. Aus der Puppe ist am Ende ein Püppchen geworden, um das sich Wassilissa kümmert und es »trug […] bis zu ihrem letzten Tag in der Tasche« (S. 172). Ähnlich spielt auch in der Erzählung »Ein Emigrant« von Selma Lagerlöf (1930/1974) eine Puppe als Übergangsobjekt eine wichtige Rolle, diesmal für einen Jungen. Mithilfe seiner wundersam wandlungsfähigen Flickenpuppe »Laban« als Übergangsobjekt gelingt es dem vaterlos aufwachsenden kleinen Fritz, den Widrigkeiten und Anforderungen in seinem Leben, das heißt der partiellen Getrenntheit von der arbeitenden Mutter und später den Anforderungen in der Schule, zu trotzen. Er sträubt sich zunächst gegen ein so weiblich konnotiertes Spielobjekt, aber: Der Funke springt über. Mit Laban erwirbt Fritz die Kompetenz zur Mentalisierung und es beginnt eine Zeit des lustvollen Als-ob-Spiels. Zur Verblüffung aller – denn, was soll man davon halten, wenn ein Junge immer mit einer Puppe herumläuft? – meistert Fritz mit der Puppe die Anforderungen der realen Außenwelt. Das gelingt auch deshalb, weil die Mutter den Sohn ermutigt, sich vertrauensvoll auf die Puppe einzulassen und mit ihr mutige Schritte in die eigene Autonomie zu vollziehen. Laban weiß alles und hilft immer – Fritz wird mit ihm zum besten Schüler. Aber die Realität mit ihren geschlechtsspezifischen Anforderungen lässt das am Ende nicht zu. Nach mehreren vergeblichen Anläufen, die Puppe zu entsorgen, setzt Fritz den Gefährten Laban schließlich

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auf einem Auswandererschiff aus und wird erwachsen. Er »trauert nicht mehr um die Puppe. Aber er erzählt gerne von ihr« (Lagerlöf, 1930/1974, o. S.) und er weiß, warum »Kinder Puppen so liebhatten […]: weil sie sich verwandeln konnten. Und verwandelt hatte sie sich wirklich, diese Puppe. Sie war ein König gewesen und hatte mit einer Krone auf dem Kopfe dagesessen, und sie war das kleine Mädchen des Droschkenkutschers gewesen und hatte mit piepsender Kinderstimme gesprochen. Sie hatte vor gar niemandem Respekt. Sie war Mutter selbst gewesen, wie sie da hinter ihrem Ladentisch stand und Äpfel und Apfelsinen verkaufte, und sie war all die Frauen und Dienstmädchen gewesen, die in den Keller kamen, um einzukaufen. Was hatten sie damals für gute Tage im Obstkeller gehabt, er und die Puppe!«.

Ein letztes kurzes Beispiel für die Puppe als Übergangsobjekt stammt aus dem Bereich der religiösen Volkskunst. Bayrische Novizinnen konnten zwischen dem 15. und bis etwa zum 18. Jahrhundert nur dann im Kloster aufgenommen werden, wenn sie von ihren Eltern eine Puppe in Gestalt eines kleinen männlichen Kindes als Mitgift erhielten, ein Seelenkind bzw. ein »Seelentrösterlein« (Kuratorium des Diözesanmuseums Freising, 2012). Diese Puppen, die zumeist das etwa zweibis dreijährige Jesuskind darstellen sollten, wurden im Laufe der Zeit auf das Kostbarste mit Puppenkleidung ausgestattet, oft entsprechend der jeweiligen Tages- und Jahreszeit. Sie weisen nicht nur offenkundige Gebrauchsspuren von Liebkosungen auf, sondern haben auch eine eigenartige Aura der »Beseeltheit«. Mit ihrem zumeist leicht geöffneten Mund und den sichtbar werdenden kleinen Zähnchen wirkt es so, als ob sie mit ihrem Gegenüber im Gespräch wären. Anders als Mönche, lebten die Nonnen in diesen Zeiten fast völlig abgeschottet in kleinsten, kargen Zellen, abgeschnitten von jeglichen Besuchskontakten, selbst mit den Eltern. Bedenkt man, dass es sich bei den Novizinnen oft noch um Kinder handelte, dann waren diese Seelenkinder sowohl Ersatz für gleichaltrige Spielgefährten und wurden später zum Kindersatz bzw. standen nicht zuletzt bis ans Lebensende auch für die fiktive Figur des himmlischen Bräutigams. Diese Puppen als »verordnete Seelentrösterlein« waren sicherlich eine kluge prophylaktische Maßnahme der Klosteroberinnen, denn ohne solche Übergangsobjekte wären die Mädchen und Frauen in der beklemmenden räumlichen Enge und der sozialen Isolation des Klosterlebens seelisch wahrscheinlich ausgehungert und verkümmert.

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Brauchen wir Puppen? Unabhängig von allen Manifestationsformen und modischen Exemplaren von Puppen in der Gegenwart kann man feststellen: Puppen sind uralt. Sie sind wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selber. In einer Ausstellung über die Eiszeit im British Museum 2013 in London gehörte zu den Exponaten auch eine Puppe, die in der Region der tschechischen Stadt Brünn gefunden wurde. Sie ist etwa 24.000 Jahre alt und ein erstaunliches kleines Wunderwerk aus Mammut-Elfenbein: Eine kleine Figur, deren Kopf und Arme über Zapfen mit dem Körper beweglich verbunden sind und wie bei einer Marionette in verschiedene Positionen gebracht werden können (British Museum, 2013). Nun ist dies sicherlich kein Beleg für eiszeitliches Kasperle-Theater, aber für das menschliche Bedürfnis, sich selbst zu objektivieren (Fritz, 1992, S. 68), und für die Fähigkeit zur Symbolisierung und zur Mentalisierung bei vorhistorischen Menschen. Innerhalb der verschiedenen psychotherapeutischen Schulen, die mit Puppen arbeiten, ist es insbesondere Hilarion Petzold, der ein fulminantes Plädoyer für den Einsatz von Puppen und die Nutzung ihres Potenzials formuliert: »Die Puppe und ihre Welt muß erinnert werden« (Petzold, 1983b, S. 15). Nach ihm gehört es zu den »Geheimnisse[n] der Puppe« (Petzold, 1983b, S. 19), dass es sich um einen »erschaffene[n] Körper« (S. 20) handelt, der Menschen mit existenziellen Themen konfrontiert: »Die Herstellung von Puppen ist mit einer eigenartigen Faszination verbunden. Die Zeit scheint stillzustehen. […] Der Körper der Puppe wird aufgenommen, betrachtet mit einer Intensität, als wäre es ein Blick in den Spiegel; […]. Darin liegt die Verwandtschaft von Puppe und Maske. […] Manchmal geht das Erstaunen in ein Erschrecken über; […]. Die letzte Abwehr gilt der unentrinnbaren Einsicht, daß die Puppe nicht endgültig belebt werden kann. Wenn ihr aber die Illusion der Lebendigkeit genommen ist, wird sie zur Präfiguration unseres eigenen Todes« (S. 21).

Zum Abschluss sei noch einmal auf Franz Kafka verwiesen, der eine wenig bekannte Affinität zum Puppenthema hatte: Es geht um »Kafkas Puppenspiel«, wie die im Folgenden geschilderten Geschehnisse von Alexander Pechmann (2007, S. 54 f.) genannt werden. Der todkranke Franz Kafka trifft 1923 beim Spazierengehen mit seiner letzten Gefähr-

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tin Dora Diamant im Steglitzer Park ein weinendes Mädchen, das seine Puppe verloren hat. Kafka tröstet das Kind mit der Geschichte, die Puppe sei verreist und habe ihm das in einem Brief geschrieben. Das Mädchen und Kafka treffen sich für einige Zeit regelmäßig und Kafka liest ihm aus den von ihm immer wieder neu verfassten Briefen von den Abenteuern der Puppe vor. Im Bewusstsein, dass er verantwortlich für ein gutes Ende der Geschichte ist, lässt er die Puppe einen Abschiedsbrief schreiben. Die historische Tatsache dieser Begegnung und des Abfassens der Briefe durch Kafka ist glaubwürdig überliefert, die Briefe selbst aber sind verschollen, genauso wie die Identität des Mädchens und seine Puppe. Sie haben dennoch inspirierende Wirkungen in späteren fiktionalen Texten gezeigt. So hat nicht nur der Schriftsteller Gerd Schneider ein berührendes Jugendbuch über »Kafkas Puppe« geschrieben (Schneider, 2009), sondern auch der Schweizer Autor und Kafka-Experte Jürg Amann, selbst todkrank, greift den Puppengeschichtenfaden als Rahmenhandlung auf und spinnt ihn poetisch weiter (Amann, 2011). Auch hier gehört die Puppe einem Mädchen, auch sie verlässt das Kind, um auf Reisen zu gehen. Sie besucht noch einmal all die Denker und Poeten, denen sich der Autor (Jürg Amann) kongenial verbunden fühlt, und schreibt davon in ihren Briefen an ihre frühere Besitzerin. Am Ende gibt es eine gespiegelte Doppelung: Die Puppe trifft unterwegs ein kleines Mädchen, das weint, weil es seine Puppe verloren hat und beschließt, bei ihm zu bleiben, damit es dem Kind wieder gut geht. Im letzten Brief an ihre ursprüngliche Besitzerin heißt es: »Und wenn Du magst und wenn Du groß genug bist, besuchst Du uns hier. Oder wir besuchen Dich. Inzwischen gib auf dich acht. Ich versuche es auch. Ich liebe Dich. Deine Puppe« (S. 56 f.). Ähnlich hat auch die zur Auswanderung freigesetzte Puppe Laban des kleinen Fritz in der Erzählung von Selma Lagerlöf viele Wirkungen in den Gedanken und Gefühlen der Menschen hinterlassen, die von ihrem Schicksal hörten. Einen von ihnen, einen Archäologen, charakterisiert Selma Lagerlöf in ihrer Erzählung »Der Emigrant« folgendermaßen: »Die Puppe, ist sie nicht die Begleiterin der Menschheit von ihrer frühesten Kindheit an? Wer weiß, wieviel wir ihr zu verdanken haben? Und der gelehrte Mann begann eine Auseinandersetzung über die Puppe als diejenige, deren Aufgabe es gewesen war, die ungeahnten Anlagen des unzivilisierten Menschen

Übergangsobjekte, Doppelgänger, Kunst75 auszulösen. War nicht im selben Augenblick, in dem die erste Puppe aus einem Lehmklumpen oder vielleicht etwas zusammengerolltem Gras geformt wurde, die Phantasie geboren worden und mit ihr das Spiel, die Dichtung, die schönen Künste?« (Lagerlöf, 1930/1974, S. 258).

Wenn ich mir am Ende meiner Ausführungen die Frage stelle: »Brauchen wir Puppen?«, lautet meine Antwort: »Ja, um Mensch zu bleiben!«

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From bearing the unbearable to enjoying the ineffable Mental transformation processes in child analysis are described: Presented are preverbal, archaic processes from the work with three patients. In artistically creative elaborations they succeed to let their unconscious and unbearable experiences become emotionally comprehensible and available – beyond words. Via constructive creations with clay they can connect themselves to mental sources of self-healing and self-realization thus allowing transformation. Zusammenfassung Beschrieben werden psychische Transformationsprozesse in der Kinderanalyse: Aus der Arbeit mit drei Patienten werden präverbale, archaische Prozesse dargestellt. In künstlerisch-kreativen Bearbeitungen gelingt es ihnen – jenseits von Worten – ihre unbewussten, nicht aushaltbaren Erfahrungen emotional fassbar und verfügbar werden zu lassen. In schöpferischen Gestaltungen mit Tonerde können sie an seelische Quellen der Selbstheilung und Selbstwerdung anschließen und Verwandlung wird möglich.

Einführende Gedanken Natürlich gibt es zum Thema Kunst und Psyche von vielen Autoren interessante Arbeiten, die Ihnen zumeist wohl bekannt sein dürften. Ich möchte zur Einstimmung einige Kerngedanken zu diesem Thema aufgreifen. Seelisches und Schöpferisches sind untrennbar miteinander verbunden. Günter Heisterkamp spricht davon, dass den Lebensbewegungen eine schöpferische Kraft innewohne und dass das Seelische seinem Wesen nach kreativ sei (Heisterkamp, 2013, S. 56). Gisela Eife formuliert, »dass das Leben gestaltete Bewegung« sei (Eife, 2013, zit. nach Heisterkamp, 2013, S. 55).

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Bei Winnicott kommt dies in der Formulierung des »kreativen Impulses« zum Ausdruck: »Es ist möglich und nützlich, kreatives Leben und Leben überhaupt miteinander in Verbindung zu setzen. […] Im augenblicksbezogenen Leben eines geistig zurückgebliebenen Kindes, das sich am Atem erfreut, ist es [der kreative Impuls] ebenso vorhanden wie in der Inspiration eines Architekten « (Winnicott, 1971/2010, S. 82). Wichtig erscheint mir zum Zweiten, dass das Kreative vom vorsprachlichen Erleben ausgeht und dort anknüpft. Das Vorsprachliche ist Quelle bzw. Humus für das Kreative. Das generelle schöpferische Ausdrucksdrängen des Seelischen prägt auch ganz grundlegend unsere psychotherapeutische Arbeit. Gerade wo das freie Spiel der seelischen Kräfte verstellt und blockiert ist, ist es von besonderer Bedeutung, zu diesem kreativen Impuls zurückzufinden. Man kann sagen, das Leiden/das gestörte Seelische sucht Heilung im transformierenden Prozess. Ich möchte dazu noch einen Gedanken von Christopher Bollas darstellen. Er geht davon aus, dass das Kind die Mutter als Prozess verinnerlicht, der »mit kumulativen inneren und äußeren Umwandlungen zusammenfällt« (Bollas, 2014, S. 23). Die Mutter bewirke im Füttern, Windelwechseln, Besänftigen und Stimulieren des Säuglings eine Veränderung seiner Seinszustände und helfe ihm, sein Sein zu integrieren. »Die Mutter wird so als Verwandlungsvorgang erlebt« (S. 26). Diese frühe Wandlungserfahrung bleibt nach Bollas im Leben als latente Sehnsucht immer bestehen und wirkt sich aus in der Suche nach Objekten, die diese Wandlungserfahrung wachrufen. Es sind dies Objekte, wie zum Beispiel ein Theaterbesuch, ein Ort, eine Ideologie, an die sich das Seelische heftet und damit eine Metamorphose des Selbst verwirklichen möchte. Der Autor spricht vom »ästhetischen Augenblick« (S. 29), in dem das Individuum »einen tiefen subjektiven Rapport mit einem Objekt (mit einem Gemälde, einem Gedicht […] oder mit einer Landschaft in der Natur)« spüre (S. 28). »Hierdurch wird ein Ich-Zustand wachgerufen, der im frühen Seelenleben vorherrschend war« (S. 28). Diese ästhetischen Augenblicke sind »von dem Empfinden begleitet, man werde an etwas erinnert, das man nie kognitiv erfasst, aber immer existentiell gewusst« habe (S. 28). Ausgehend von diesem Gedanken glaube ich, dass es den Patienten möglich ist, in einem eigenen schöpferischen Handlungsgeschehen

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diese Wandlungserfahrungen selbst aktiv zu erschaffen – im Sinne von »Verwandlungsleistungen, die eine Ich-Veränderung nach sich ziehen und somit das Wesen seiner inneren Welt verändern« (S. 27). Ich möchte jetzt an drei Fallbeispielen darstellen, –– wie sich nicht aushaltbare präverbale Zustände zunächst dem Zugang entziehen – in dieser Phase bleibt die Behandlung im Unverstandenen, Verwirrten, Blockierten; –– wie diese Zustände sich dann in einem künstlerisch-gestalterischen Prozess in eine Verwandlung bringen; –– dass dabei, im begleitenden präsentischen Verstehen, eine intersubjektiv verfügbare Wirklichkeit und damit Heilung entsteht. In der Arbeit mit meinen drei Patienten, die frühe Störungsanteile aufwiesen, wurde ich mit noch nicht greifbaren und verstehbaren Empfindungen und Verhaltensweisen, mit noch nicht symbolisierungsfähigen Zuständen konfrontiert. Ich geriet dabei selbst in Unaushaltbares, Unkonkretes, Unverstandenes, in ein Jenseits von Worten, das oft nicht leicht auszuhalten war. Hier konnte das Künstlerische und Gestalterische eine Möglichkeit zur ersten Ausdrucksbildung bieten. Als Angebot dafür steht bei mir für die Patienten ein Tonkasten bereit (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Tonkasten

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Der Tonkasten ist ein Holzrahmen, gefüllt mit grauem, formbarem Ton. Die Oberfläche ist glattgestrichen. Der Tonkasten befindet sich auf dem Tisch und kann bei Bedarf vom Patienten genutzt werden. Dieses Medium habe ich bei Heinz Deuser kennengelernt. Heinz Deuser hat dieses Verfahren »Arbeit am Tonfeld« genannt und als eigenen Ansatz weiterentwickelt. Er sagt dazu: »Mit den Händen kann es (der Ton) wahrgenommen, berührt, erfahren werden. […] Der Tastsinn kann sich frei entfalten. Das begrenzte Feld vermittelt den wahrnehmenden Händen Halt, die ebene Fläche bietet freien Raum. Das formbare Material lädt ein zu Erprobungen, es nimmt jede Berührung auf und lässt Gestaltung und Verwandlung zu. Wichtig sind der Zuspruch und die Präsenz des Begleiters« (Deuser, zit. nach Tschachler-Nagy u. Fleck, 2006, S. 23). Mit dem Angebot des Tonkastens, im Formen und Gestalten der amorphen Erde, war es den Patienten möglich, sich den inneren Zuständen anzunähern, ihnen Form zu geben und sie mitteilbar zu machen. Nonverbales/Präverbales konnte so in die therapeutische Beziehung getragen werden, es bekam eine Form, eine Gestalt, ein Bild, und ich konnte es als die innere Wahrheit des Patienten realisieren und annehmen.

Fallvignette 1: Carmen – Isoliertheit und Suche nach Lebensquellen (»Wüste … da muss doch Leben sein!«) Ich möchte als Erstes aus der Behandlung einer 19-jährigen Patientin berichten, die ich hier Carmen nennen möchte. Sie begegnet mir als eine sympathisch und gepflegt auftretende junge Frau mit schönen, mittellangen, blonden Haaren. Deutlich geschminkt und ihre dunkle Trenchcoatjacke anbehaltend, macht sie einen sehr förmlich und fassadär wirkenden Eindruck. Sie begrüßt mich mit überraschend kühlem Händedruck. Sie vermittelt einen kompetenten Eindruck und ist in ihrer Erzählweise nahezu diagnostisch, ihr emotionales Erleben wird dabei kaum spürbar. Ich erlebe sie sehr in einem Rollenverhalten verhaftet, darauf ausgerichtet, möglichen Erwartungen meinerseits nachzukommen. Sie erzählt von ihrer inneren Leere, sie könne sich anderen Personen gegenüber emotional nicht öffnen, habe bisher mit niemandem über ihre Situation gesprochen. Meist habe sie keinen Appetit oder kein

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Hungergefühl. In ihrer Darstellung wirkt sie versiert, dabei aber kühl, spröde und wenig spürbar. Zur Anamnese berichtet sie, ihre Eltern seien bereits schon bei ihrer Geburt psychisch krank gewesen, ihre Mutter litt unter Schizophrenie, ihr Vater unter Psychose. Sie ist als Zwilling geboren worden. Das Jugendamt sprach sich dafür aus, die Kinder in eine Pflegefamilie abzugeben, da sie die Eltern mit der Versorgung der Säuglinge als überfordert einschätzte. Schließlich entschied man sich dazu, dass ein Zwilling bei der im gleichen Haus wohnenden Oma und Carmen bei ihren Eltern aufwachsen sollte. Sie habe für beide Eltern schon früh Verantwortung übernehmen müssen (z. B. darauf geachtet, dass diese ihre notwendigen Medikamente nahmen und Arztbesuche einhielten etc.). Die Familienatmosphäre sei kalt gewesen, es habe häufig Streit und Missverständnisse gegeben. Carmen zeichnet ein Bild elterlicher Beziehungslosigkeit und von verstörenden Resonanzerlebnissen, wenn sie sich mit ihren kindlichen Gefühlen an Mutter oder Vater wandte. So erzählt sie eine Szene mit ihrem geliebten Meerschweinchen: Sie sollte das gerade bekommene Meerschweinchen ihrer Schwester überlassen. Als sie das nicht wollte und darüber in Tränen ausbrach, setzte sich ihre Mutter über sie hinweg, entriss ihr das Meerschweinchen, während der Vater sich distanziert und unverständig über ihre Tränen lustig machte und sie dabei fotografierte. Carmen spaltete ihre Gefühle ab, sie hat sich ganz auf die psychische Befindlichkeit der Eltern ausgerichtet und nahm eine parentifizierte Rolle ein. Auf diese Weise erhielt sie narzisstische Bestätigung und kompensierte ihre emotionale Mangelsituation. Dies führte zwangsläufig zu Überforderung, Selbstentfremdung und mündete in ihrer pseudosouveränen Haltung. Hinter ihrem versierten Auftreten spüre ich in ihren Blickkontakt suchenden Augen ein mädchenhaft-kindlich anmutendes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und emotionaler Resonanz. Mir wird zugänglich, dass kaum jemand da war, der ihr eine emphatische und nährende Spiegelung zur Verfügung gestellt hat. Bereits in der Probatorik nimmt Carmen offen und interessiert gestalterische Angebote an, die sich ihr im Rahmen einer testpsychologischen Untersuchung (Szenotest, Familie in Tieren u. a.) anbieten. Sie fragt mich zu Beginn der Behandlung nach ähnlichen Möglichkei-

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ten, und ich stelle ihr den Tonkasten bereit. Ich lade sie ein, mit beiden Händen den Ton wahrzunehmen und sich ganz den Impulsen und dem Tun ihrer Hände zu überlassen. Es ginge nicht darum, etwas Konkretes zu tun oder herzustellen. Ich stimme den Abstand, in dem ich zu ihr sitze, mit ihr ab, sodass sie sich einerseits nicht gestört, andererseits gut gehalten und mich als präsent begleitend erlebt. Bereits in der Hinbewegung zum Ton wird für mich eine ganz andere Qualität als ihr angepasstes Rollenverhalten spürbar: Carmen beginnt, wie in sich zu lauschen, taucht in ihr Inneres ein, ist ganz bei sich – weg aus dem Ausgerichtetsein und Rechtmachenwollen. Vorsichtig, sehr feinfühlend, fast musisch, zart wahrnehmend und sich öffnend nimmt sie die Berührung mit der Tonfläche auf. Ich erlebe gebannt ihre Ausrichtung, die Öffnung der Handflächen und ihr vorsichtiges Berühren des Tons und spüre darin ein ganz frühes Suchen nach Kontakt: unsicher, schauend, wagend, erwartungsvoll (siehe Abbildung 2). Nahezu beiläufig spricht Carmen dazu Worte, begleitend zum Tun ihrer Hände: »Kleine Landschaft … Wüstenlandschaft … leere Wüste … Da muss irgendwo Leben sein, wenn da Wasser ist … Hier könnte man gut frei sein … Die Sonne geht jeden Tag auf und unter … feucht …

Abbildung 2: Wüstenlandschaft

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auch geregnet … irgendwo eine Wasserstelle … Vielleicht hat es auch Jahre nicht geregnet … Keine Pflanzen … wachsen vielleicht noch … Schön, wenn Tiere und Pflanzen da wären …«. Sie drückt den Ton vorsichtig mit den Fingern und streicht darüber. Weitere Worte: »Fußspuren … Ich könnte da jemanden finden …« Jetzt versucht sie, ein Stück Ton herauszuarbeiten und äußert: »Zum Herstellen brauche ich mehr Kraft, aber es klappt, ganz anders, als wenn man drüber streicht … Ich möchte was wachsen sehen …«. Sie formt etwas Höhliges und zieht mit einem Finger durch den Ton, wodurch eine Rille entsteht – und begleitet wieder sprachlich: »Fluss für Tiere, Pflanzen und mich … Am Fluss kann man sich orientieren, weitergehen zu jemand anderem … Ich bin die Erste an diesem Ort … Der Boden kann wieder atmen mit dem Wasser … konnte er eine Zeit lang nicht … Nachts ist es kalt, wenn die Sonne untergeht … Sterne sind dann das einzige Licht … Atem und Wind sind dann gut zu hören, weil es so still ist«. Sie greift Ton aus der Fläche: »Ich möchte einen Früchtebaum machen, wenn ich Hunger kriege … Brauche auch Schlaf, eine tiefere Stelle, damit Deckung da ist, falls jemand kommt … Mit Blättern und Sträuchern zudecken, wenn es kalt wird … Bei Sonnenaufgang kommt das Eichhörnchen aus der Höhle, dann bin ich auch nicht allein … Unterwassertiere, die ihr Glück finden …«. Ich nehme Carmen wie in einem Selbstgespräch, wie in einer seelischen Selbstbehandlung (Salber, 1980, S. 7 ff.) wahr. Sie teilt mir einerseits ihre biografisch geprägte Beziehungskargheit und Einsamkeit sowie ihr rudimentäres Sich-des-Lebens-Vergewissern-Wollen mit, wenn der Ton für sie zur Wüste wird, in der sie sich allein befindet. Sie gibt zugleich ihren inneren, um Leben und Beziehung ringenden Impulsen Ausdruck (lebensspendendes Wasser, Früchtebaum, Eichhörnchen), die ich – ähnlich einem Initialtraum – als einen Ausblick auf den weiteren Therapieverlauf verstehe. Wir teilen am Ende der Stunde eine positive, optimistische und von erwartungsvoller Zuversicht geprägte Stimmung. Der sich anschließende Verlauf der ersten Therapiephase erweist sich als ungewöhnlich organisch, der innere Anschluss an frühe unzureichende und verstörende Beziehungserfahrungen gelingt der Patientin zusehends. Was vorher emotional abgesunken und unzugänglich war,

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beginnt nun in der Gegenübertragung wahrnehmbar zu werden. Erste Umrisse davon zeigen sich in einer bleiernen, wortlosen Stimmung, die in den Sitzungen greifbar wird. Als ich Carmen das spiegele, kann sie es aufnehmen: »Genauso fühlt sich das für mich an.« Die bleierne und mit den Worten der Patientin »schaurige« Zeit verliert langsam ihre bannende, ihr emotionales Leben lähmende Wirkung. Carmen macht vorsichtige Schritte, sich im sozialen Leben zu öffnen, erprobt sich in einer Theatergruppe und ist mittlerweile aus der elterlichen Wohnung ausgezogen. Es war der Patientin möglich, durch die Bearbeitung und Gestaltung des Tonfeldes die Verbindung zu ihrer frühen Isoliertheit und der Suche nach Lebensquellen herzustellen. Brockmann und Geiß benennen diesen Vorgang treffend: »Haptik (in dem hier erweiterten Spektrum) schließt auch die existentiellen Bedürfnisse ein, welche die Hände in der Begegnung mit der Welt zum Ausdruck bringen« (Brockmann u. Geiß, 2011, S. 14). »Haptik ist bewegte Begegnung mit der Umwelt« (S. 26).

Fallvignette 2: Laura – Fragmentierungsängste und Sicherung des Kernselbst (»nicht bewegt werden«) Im zweiten Fallbeispiel geht es um eine 15-jährige Patientin, bei der es durch die Gestaltung mit Tonerde zu einer Wende in unserer therapeutischen Beziehung kommt. Vordergründig war unsere Arbeit durch einen lebendigen Austausch bestimmt. Laura begegnet mir offen, präsent, sie wirkt betont kontaktfreudig, hat eine klare Stimme und ein betont individuell-eigenwilliges Auftreten, das mich sehr anspricht. Verbal wendig und differenziert, ist sie es, die den Kontakt bestimmen will – sobald ich nachfrage bzw. auf sie eingehen will, blockt sie ab, bleibt oberflächlich (»Keine Ahnung …«). Sie vermittelt mir, berlinerisch gesagt, »Mir kann keener!«. Im Gegensatz zu dieser pseudoautonomen Seite schwingt eine Orientierungslosigkeit und Unwissenheit bezüglich ihrer eigenen Befindlichkeit mit, die sich auch in der Symptomatik ausdrückt. Laura ist durch diffuse Selbstmordäußerungen in der Schule aufgefallen, die

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sie selbst lapidar als nicht ernst zu nehmende situative Stimmungen interpretiert. Einmal hat sie sich nach der Schule mit einer Freundin in den Zug gesetzt und wurde später ca. 60 km von der Heimatstadt in einem Waldstück orientierungslos aufgefunden. Ganz konkret berichtet sie von Schwierigkeiten, sich Wege zu merken und sich räumlich zu orientieren, zum Beispiel falle es ihr schwer, allein im Supermarkt einzukaufen. Die Ursprünge dieser Orientierungslosigkeit bringe ich mit der frühen Lebenssituation von Laura in Verbindung. Sie wurde per Notkaiserschnitt in der 32. Schwangerschaftswoche mit einem lebensbedrohlichen Geburtsgewicht von 1000 g entbunden. Ihre leibliche Mutter hatte sich schon während der Schwangerschaft dazu entschlossen, ihr Kind abzugeben. Laura wird zunächst einige Zeit auf der Intensivstation medizinisch und pflegerisch versorgt und anschließend von einer Krankenschwester in der Kurzzeitpflege betreut. Im Alter von drei Monaten wird sie adoptiert. Eine liebende, mütterlich-elterliche Hülle, die Konstanz, Halt und Orientierung vermittelt, hat Laura in den ersten Lebensmonaten nur sehr eingeschränkt erfahren. Ihre frühe Lebensentwicklung war geprägt von Unsicherheit hinsichtlich ihres Platzes in der Welt, von Ablehnung, frühen Brüchen und dem lebensbedrohlichen Zustand bei der Geburt. Dies hat Laura vermutlich in einen zutiefst unsicheren und desorientierten Grundzustand versetzt. Trotz einer sehr zugewandten und motivierten Fürsorge durch die Adoptiveltern mit vielfältigen Förderungsangeboten blieb dieses psychophysisch gespeicherte Muster bei Laura präsent. Wie gestaltete sich nun der therapeutische Prozess mit Laura? Laura beschäftigt und unterhält mich, so wie sie vielleicht dem Förderimpuls ihrer Adoptivmutter nachgekommen ist: Sie bringt viel »Material« ein, Motive aus Büchern, Filmen, Liedern etc. Aber sobald ich ihr etwas dazu sage, Rückmeldungen gebe, Anknüpfungen zu ihrem eigenen Befinden, ihrer Situation oder emotionalen Themen herstelle, steckt sie den »Kopf in den Sand!«: »Keine Ahnung, hat nichts mit mir zu tun.« Häufig sitzt sie mir betont aufrecht, steif und angespannt gegenüber. Sie wirkt dann psychisch leicht weggetreten, und ich versuche ihrem Blick zu begegnen, aber ich schaffe es nicht. Teilweise werden unsere

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Sitzungen zu Streitgesprächen, teilweise zu längeren Schweigephasen. So strampele ich mich immer wieder in meiner Begegnungssuche ab und fühle mich letztlich abgeschmettert. Auch abwartendes Raumgeben meinerseits fühlt sich eher hilflos an. Ebenso gibt sich Laura im Umgang mit verschiedenen kreativen Angeboten (Rollenspiel, Malen etc.) unverfänglich, betont naiv. Sie kommentiert gerne mit: »Lustig …, wenn sie das wollen!« Auch wenn zwischendurch kleine öffnende Momente möglich werden und teilweise ein spielerisch-humorvoller Umgang mit unserer Beziehungskonstellation gelingt, bleibe ich in der innerlich abhängigen Position gefangen. Ich erlebe in der Gegenübertragung wattige Schwebezustände, werde teilweise extrem müde, erlebe Miniabsencen. Laura entwertet Angebote, gibt Pseudoantworten, weigert sich aber auch, selbst zu gestalten und zu entscheiden. Mir wird klar: Laura ist mit dem »normalen« Kontakt überfordert, positioniert sich trotzig gegen mich und die Welt. Ich erahne, dass ihr ein Stück innerer Landkarte, dass ihr die Basis fehlt, um sich einzulassen. Etwa in der 50. Sitzung greift Laura den Tonkasten auf. Sie beginnt recht konzentriert, sich dem Ton mit den Händen zuzuwenden. Sie gestaltet entlang des Rahmens zunächst einen Rand, zieht innerhalb des Randes einen Graben und innerhalb des Grabens noch eine Mauer als weitere Begrenzung. Als nächstes entnimmt sie mit beiden Händen Ton aus der Mitte der Tonfläche. Es entsteht eine kleine Kugel, die sie lange, liebevoll rundet, glättet, streichelt, klopft, liebkost. Sie legt die Kugel in eine Mulde inmitten der Schutzwälle (wie in eine Gebärmutter, denke ich). Dann nimmt sie die kleine Kugel mitsamt der Mulde auf und bildet eine größere Kugel, die sie ebenfalls sehr liebevoll, achtsam zärtlich, glättet und rundet. Sie wirkt ganz verbunden mit ihrem Tun und der Tonkugel. Ich spreche selbst wenig, benenne nur, dass die Kugel etwas ganz Kostbares, Unberührtes sei (wie ihr eigenes Selbst, denke ich). Letztlich setzt Laura die Kugel in die Mitte, fixiert sie zusätzlich durch zwei Halterungen aus Ton und ritzt schließlich das Wort »NIE« in die Kugel (siehe Abbildung 3). Ich bin verwundert und auf meine Nachfrage äußert Laura: »Nicht, Niemals, Nie! Die Kugel soll nicht bewegt werden … sie könnte kaputt gehen …« (siehe Abbildung 4).

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Abbildung 3: Tonkugel mit Inschrift

Abbildung 4: Inschrift der Tonkugel: »Nie!«

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Es entsteht eine Atmosphäre großer Erleichterung. Was lange schwelte, wird nun offensichtlich. Es ist ein lebenswichtiges Bedürfnis für Laura, nicht bewegt zu werden. Mein Abmühen, meine Beziehungs- und Deutungsangebote musste sie abwehren, weil sie ihr Ichgefühl in Gefahr brachten und frühe Bedrohungs- und Auflösungsängste berührten. Diese unbewusste Beziehungsverhinderung bringt Laura in ihrer Gestaltung zum Ausdruck. Zugleich will sie in ihrem starken Wunsch aber auch wahrgenommen werden (demonstrativ großgeschriebenes: »NIE«). Die innere Beteiligung an und Anwesenheit in ihrem Tun sowie mein Erkennen und inneres Verstehen ihres Prozesses wirken wie eine Bestärkung von Lauras Kernselbst. Nun kann ich Lauras Abwehrimpulse als Sicherungs- und Selbstbehauptungsbemühungen realisieren und annehmen und bin nicht mehr in meinen Gegenübertragungsreaktionen gefangen. Erst durch Lauras konkrete Tonfeld-Arbeit kommt ein tieferes beiderseitiges Verstehen zustande. Die lähmende Beziehungsproblematik löst sich. Laura beginnt, mich anzunehmen, und es entsteht eine größere Durchlässigkeit und mehr Zugänglichkeit und Nähe. Die Patientin nimmt mich mit in ihre inneren Zustände von Nicht-Wissen und Orientierungslosigkeit wie auch in emotionale Wahrheiten, die sie bis dahin fest verborgen hielt: lesbisch sein, sich hässlich und dick fühlen, Angst haben vor den Entwertungen ihrer Geschwister. Eine interessante Entwicklung in diesem Zusammenhang betrifft Lauras Schulrucksack: Bis zu diesem Zeitpunkt schleppte sie ihren vollgepackten, sehr schweren Rucksack immer mit zur Schule und zur Therapie. Vielfältigen Versuchen der Mutter, den Rucksack »auszumisten«, und auch meinen Impulsen in diese Richtung verweigerte sich Laura. Nun aber – ohne großes Zutun meinerseits – packt Laura ihren Rucksack aus, und wir können gemeinsam nachschauen, welche »Schätze« der Rucksack birgt – vergammelte Kastanien, Jahre alte Hefte und Schmierblätter, Butterbrottüten – und wie er erleichtert werden kann. Es ist eine Entwicklung in Gang gekommen, bei der Laura beginnt, ihre innere Wirklichkeit gegenüber Eltern und Geschwistern zu vertreten und sich zu positionieren. Sie schreibt derzeit Gedichte, mit denen sie ihre frühen Zustände in Worte fasst.

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Fallvignette 3: Karim – inneres Chaos und Anfänge von Selbstwerdung (»Zum Glück aufgefangen!«) Als letztes möchte ich einen Behandlungsausschnitt mit Karim darstellen, einem sechsjährigen asiatischen Jungen, der sich nach kumulativen Traumatisierungen in einem chaotisch-diffusen inneren Zustand befindet. Karim kann seine Gefühle wenig wahrnehmen, sortieren, steuern, ist seinem Inneren noch sehr ausgeliefert. Aus den Erzählungen des Bezugsbetreuers, der ihn anmeldet, lässt sich schließen, dass Karim sich in einer Notanpassung befindet, einem, wie Summit (1983) formuliert, Akkommodations- und Compliance-Verhalten, um das Funktionieren und Bewältigen seines Alltags zu sichern und ein basales Sicherheitsgefühl aufrechtzuerhalten (Summit, 1983; zit. nach StreekFischer, 2006, S. 102). Karim wurde bei der für ihn völlig überraschenden Inhaftierung seiner Mutter (etwa ein Jahr vor Behandlungsbeginn) gemeinsam mit seiner Schwester ad hoc vom Jugendamt in Gewahrsam genommen. Nachfolgend wurde er auch von seiner Schwester getrennt und lebt seitdem in einer Heimgruppe. Er hatte keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter, der Vater hatte sich ins Ausland abgesetzt, auch hier besteht kein Kontakt. Aus dem Kindergarten erfahre ich, dass er bei der Aufnahme mit drei Jahren kaum sprechen konnte, tagsüber eingenässt hat und zu Impulsausbrüchen neigte (z. B. Stühle umwarf, andere Kinder schubste oder schlug). Die Erzieherin des Kindergartens beschreibt die Mutter im Umgang mit Karim als sehr distanziert. Sie habe ihn oftmals abgewertet und zurückgewiesen. Weitere Informationen vervollständigen das Bild wenig zuträglicher, vernachlässigender Umstände, in denen Karim aufgewachsen ist. Ich lerne in den Sitzungen einen sehr dynamischen kleinen Jungen kennen. Karim spurtet, sobald ich die Türe öffne, zielstrebig an mir vorbei und stürmt ins Therapiezimmer. Er fragt unvermittelt und dringend nach der Hängematte, in der er zunächst verschwindet. Er schaukelt ausgiebig und vehement und kann so seine innere Anspannung kanalisieren und sich durch die körperlichen Sensationen des Schwingens zentrieren. Wie in einem »sicherheitgebenden Basislager« (Rass, 2011, S. 13) im therapeutischen Raum angekommen, wendet Karim sich Spielmaterialien zu.

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Zunehmend kristallisiert sich eine für die erste Phase prägende Szene heraus. Karim setzt sich vor das (auf der Fensterbank stehende) Puppenhaus, verschanzt sich nahezu davor, holt eine Kiste mit Tieren dazu, aus der er eine Reihe von immer gleichen Tieren herausnimmt (Elefanten, Löwen und Tiger). Mit den Tieren »bearbeitet« er massiv das Puppenhaus. Die Tiere klettern auf dem Dach herum, poltern und randalieren, teilweise werden sie eingeklemmt oder hineingequetscht, teilweise hängt er sie kopfüber ans Geländer. Sie drohen herunterzufallen – dies geschieht wiederholt. Das Haus wird immer wieder erschüttert. Karims ganzes Tun gleicht einem ungeplanten, chaotischen, wie fremdgesteuert wirkenden Agieren. Von einem Turm aus schießt er in das Haus, die Figuren des Babys, der Kinder und der Erwachsenen liegen auf dem Boden. Alles ist laut, und ich spüre nahezu körperliche Schmerzen bei seinen halsbrecherischen und skurril wirkenden Aktionen. Karim nimmt dabei nahezu keinen direkten Kontakt zu mir auf. Seine Sprache ist rudimentär, wenig zu verstehen. Ich nehme Desorientierung wahr, diffuse Angst- und Spannungszustände sowie psychische Auflösungstendenzen, eine nur schwer zu beschreibende Verfassung. Kaum innere Regulierung scheint möglich. Auch ich fühle mich entpersönlicht und in der Gegenübertragung diesem archaischen, überwältigenden Geschehen ausgeliefert. Bei diesem primärprozesshaften Agieren erlebe ich mich angefüllt mit unverdauten Fragmenten und ringe innerlich um Möglichkeiten des Umgangs und Verstehens. Mehr hilflos als wirkungsvoll suche ich Kontakt, Einflussnahme, Sinn. Ich kommentiere die Befindlichkeit der Tiere, bekomme den Impuls, Schützendes in das Spiel hineinzubringen, und versuche, die Not der Beschossenen zu verbalisieren. Scheinbar komme ich damit bei Karim wenig an. In den Stunden stellt sich auch ein Gefühl der Fremdheit ein. Ich reflektiere meine mitteleuropäische Prägung in der Arbeit mit diesem asiatischen Jungen mit eigentlich ganz anderen kulturellen Wurzeln. Greifen da meine Deutungsversuche in einem psychoanalytischen Kontext überhaupt? Ich verstehe Karims fragmentarische Spielszenen als eine Inszenierung seiner frühen chaotischen Erfahrungswelt von Erschütterung, Fallen, Verlorengehen. Die Tiere stellen Selbstanteile von Karim dar,

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die ihm durch ihre Konnotation von Größe und Stärke eine rudimentäre Identität vermitteln. Die nicht beachteten menschlichen Figuren begreife ich als noch nicht abgebildete innere Objekte. Anders erlebe ich Karim in einigen Sitzungen, in denen er sich mit Knetgummi beschäftigt. Sein Tun hat etwas wohltuend Schöpferisches und Freies, und er wirkt dabei unbelasteter mit sich in Kontakt. Ich bekomme hier die Idee, diese Ressource aufzugreifen und Karim den Tonkasten zur Verfügung zu stellen. Der Tonkasten bietet, ähnlich wie das Knetgummi, freie, vielfältige, noch ungestaltete Möglichkeiten der Bearbeitung, beim Ton kann Karim sich ganzflächiger, mehr seelisch-leiblich mit dem Material verbinden als mit vorgeformten Spielfiguren. Überrascht und beeindruckt bin ich dann darüber, wie Karim dieses Angebot aufnimmt und sich mit der Tonerde auseinandersetzt. Beidhändig, kraftvoll und dynamisch arbeitet er den Ton aus dem Rahmen heraus und bildet einen großen Tonklumpen. Diesen bearbeitet er intensiv, klopft ihn glatt, streichelt teilweise über die Oberfläche. Er bohrt Löcher, klatscht und schlägt die Tonmasse und wirft auch immer wieder den ganzen Klumpen mit Wucht bzw. lässt ihn fallen, sodass er auf dem Boden des Holzrahmens landet und auch lautstark knallt. Teilweise lässt er die Masse gezielt auf den Rand des Rahmens fallen, um anschließend die entstandene Kerbe zu untersuchen. Diesen ganzen Prozess begleitet Karim mit »Urlauten«, die mich an das Lautieren von Babys erinnern. Er ist ganz bei der Sache, seine Mimik, sonst meist rätselhaft verschlossen, wird wach und lebendig. Ich erlebe ihn wie eins mit dem Ton, den er aktiv gestaltend erkundet und erprobt. Es schließen sich eine Reihe von Sitzungen an, in denen Karim, nachdem er in der Hängematte angekommen ist, nach dem Tonkasten fragt, und auch in späteren Therapiephasen bleibt es ein wichtiges Medium für ihn. Am Tonfeld kann Karim ungebremst-archaisch (ohne Sprach- und Kulturbarriere – Anpassung ist nicht gefordert) seine basalen Lebensimpulse gestalten und so in Kontakt mit sich kommen. Hier kann er seinen Gestalt- und Menschwerdungsprozess umsetzen. Ich begleite ihn während dieser Sitzungen, innerlich präsent, sein Tun mitverfolgend, spiegele seine Lautgebung, indem ich sie unterstützend nachahme oder mitmache, ähnlich einer Mutter, die

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im Kontakt mit ihrem Baby dessen Lautäußerungen spielerisch imitiert und damit markiert. Nach und nach beginnt Karim eine konkretere Gestaltgebung. Er löst Tonstücke aus dem Klumpen, um sie anschließend wieder einzuarbeiten. Dann entsteht eine Kugel, die er glatt streicht und fühlend wahrnimmt. Ich unterstütze ihn durch Interventionen, die Aufmerksamkeit für sein inneres Erleben und seine taktile Wahrnehmung anregen sollen. Der Junge spricht dabei kaum, es fallen einzelne Worte wie die Feststellung: »glatt«. Dann fällt ihm in einer Stunde die Tonkugel fast herunter; er kann sie gerade noch auffangen und meint: »Zum Glück aufgefangen!« – und schaut mich dabei kurz erleichtert an. Ich wiederhole bestätigend langsam diesen Satz mehrere Male und fühle, dass er eine absolut wichtige Bedeutung hat. Karim wiederholt diesen Vorgang halb absichtlich. In der folgenden Stunde formt er wiederum eine Kugel, die er vorsichtig, nahezu spielerisch hinunterrollen, herunterfallen lässt, sie auf dem Boden etwas hin und her bewegt, um sie anschließend wieder hochzurollen. Ich bin berührt. Der archaisch-ungeformten Masse ringt Karim eine identifizierbare Form ab. Diese ist nicht mehr (anders als beim Spiel mit den Tieren in der Anfangsphase) allein dem Fallen ausgeliefert. Der Patient bildet im achtsamen, behutsamen Hinunter- und Hochrollen der Kugel sein erlittenes Fallengelassensein nach und überführt es in ein Sichauffangen und Sichergreifen. Eine basale Selbstregulation. Anschließend lässt Karim diese Kugel von einer größeren Kugel innerhalb des Holzrahmens verfolgen: »Die große Kugel will die kleine fressen.« Dann dreht er die Rollen um, und die kleine Kugel verfolgt die große. Am Ende der Stunde setzt er stolz die kleine Kugel auf die große. Ein erstes Bild der Selbstbehauptung (siehe Abbildung 5). Im Ton hat Karim einen Beginn von Selbstregulation und Selbstwerdung erarbeitet. Diesen Prozess setzt er im weiteren Verlauf in verschiedenen Formen intensiv fort. So nutzt er die Hängematte wie einen Wandlungsraum, in dem er eine Art Geburtsvorgang inszeniert. Er sucht und nutzt auch mich nun zunehmend als Beziehungsobjekt. Zum Beispiel gestaltet er aus einem zufälligen Umgang mit einem Fußball ein intensives Beziehungsgeschehen. Ich soll ihm den Ball so zuwerfen, dass er ihn köpfen kann, darüber entsteht ein spielerisches, lustvolles Miteinander, in dem Prozesse des Dosierens, Sicheinstellens,

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Abbildung 5: Symbol einer Selbstbehauptung

Aufeinanderachtens vollzogen werden. Karim genießt diese Interaktion und immer wieder wünscht er sich in den Stunden, mit mir Kopfball zu spielen. In diesen Szenen kommt es zu ähnlichen Austauschprozessen wie zwischen Mutter und Säugling: Karim kann hier das abgestimmte Miteinander als positive, gelungene, regulierende Beziehungserfahrung verinnerlichen.

Resümee Was geschieht in diesen drei Fallbeispielen, und wie lassen sie sich verstehen? Den Patienten wurde es möglich, im Erfahrungsraum des Tonkastens – mit der resonanten Begleitung der Therapeutin im Sinne des präsentischen oder unmittelbaren Verstehens (Heisterkamp, 2002, S. 34 ff.) – unverfügbare, unbenennbare, lastende Selbstzustände in einem Ausdrucksgeschehen verfügbar zu machen. Diese verlieren dabei ihre bannende, unaushaltbare Kraft. In diesem Prozess bildet sich eine Umstrukturierung im Sinne einer Neuwerdung und Heilung. Diese unmittelbare Wandlungserfahrung betrifft nicht nur den Patienten, sondern erfasst auch den Therapeuten im gemeinsamen Behandlungswerk (Salber, 1980, S. 103 ff.).

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Die Wandlungserfahrungen sind mit einem besonderen Erleben der wechselseitigen Resonanz verbunden und gekennzeichnet durch öffnende, befreiende, lösende, erleichternde Qualitäten. Isolierte Lebensbewegungen erlösen sich in begegnenden Momenten von Freude und vertieftem Verstehen. Aus dem Ertragen des Unaushaltbaren … wird das Genießen des Unaussprechlichen.

Literatur Bollas, C. (2014). Der Schatten des Objekts. Das ungedachte Bekannte. Zur Psychoanalyse der frühen Entwicklung (4. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Brockmann, A. D., Geiß, M.-L. (Hrsg.) (2011). Sprechende Hände. Haptik und Haptischer Sinn als Entwicklungspotential. Berlin: Pro BUSINESS GmbH. Heisterkamp, G. (2002). Basales Verstehen. Handlungsdialoge in Psychotherapie und Psychoanalyse. Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta. Heisterkamp, G. (2013). Lebensbewegung und Mit-Bewegung. Zeitschrift für Individualpsychologie, 38 (1), 55–72. Rass, E. (2011). Bindung und Sicherheit im Lebenslauf. Stuttgart: Klett-Cotta. Salber, W. (1980). Konstruktion psychologischer Behandlung. Bonn: Bouvier. Streek-Fischer, A. (2006). Trauma und Entwicklung, Frühe Traumatisierungen und ihre Folgen in der Adoleszenz. Stuttgart: Schattauer. Summit, R. C. (1983). The child sexual abuse accommodation syndrome. Child Abuse and Neglect, 7, 177–193. Tschachler-Nagy, G., Fleck, A. (2006). Die Arbeit am Tonfeld nach Heinz Deuser. Eine entwicklungsfördernde Methode für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Keutschenbach (Österreich): Institut für Gestaltbildung. Winnicott, D. W. (1971/2010). Vom Spiel zur Kreativität (12. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.

Josefin zum Felde

Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zum Kämpfen!

Who is not brave enough to dream does not have power enough to fight! Creativity has enumerous spiritual and material expressions. Our phantasy as a means of creative energy overcomes all limits/boundaries and thus forms a counterpart to our fears and doubts. Creative energy makes our lives better and opens new horizons.   For eternity, human beings have embarked on internal and external journeys the origins of which are to be found in their dreams. In ancient stories guides can be found encouraging us to develop under difficult conditions and achieve self-determination and find true wealth.   Grimm’s fairytale »The Bremen Town Musicians« tells the story of a creative animal quartet. They unanimously open for themselves an unconventional future as true masters in the art of living and thus escape their announced and dreadful death.   Presently a large number of desperate people arrive as refugees to Germany. In their luggage they carry all of their hopes and their willingness to make those dreams come true. Currently their prospects to realize their abilities in the midst of society are not (yet) promising.   »Who is not brave enough to dream does not have power enough to fight!«, this political slogan appeals to us to develop visions of a better future and realize those within each and every one and for society as a whole.   These aspects will be looked into:   Dreaming: Why is courage needed? Myths, fairytales, picturebooks: Sources to fight? Creative power in society: Is it welcome? Virgin territory: Adventure or danger? Fears: Why a standstill can be so attractive? Travellers: What arrivers can show us? Encouragement: A plea for the unknown. Zusammenfassung Kreativität hat unzählige ideelle und materielle Ausdrucksformen. Unsere Phantasie überwindet als schöpferische Kraft alle Begrenzungen und bildet somit ein bedeutendes Gegengewicht zu Ängsten und Zweifeln. Sie macht das Leben schöner und eröffnet Horizonte.   Seit jeher begeben sich Menschen auf innere und äußere Reisen, deren Ursachen in ihren Träumen zu finden sind. In uralten Geschichten findet man ermutigende Wegführer, sich auch unter schwierigen Umständen zu entfalten, um

Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zum Kämpfen! 99 zu Selbstbestimmung und wahrem Reichtum zu finden. Das grimmsche Märchen »Die Bremer Stadtmusikanten« erzählt die Geschichte eines kreativen tierischen Quartetts. Das eröffnet sich einmütig seine unkonventionelle Zukunft als Lebenskünstler und entkommt auf diese Weise dem ihm angekündigten elenden Tod.   Gegenwärtig erreichen Deutschland als Flüchtlinge viele Verzweifelte aus den Krisengebieten der Welt. In ihrem Gepäck tragen sie all ihre Hoffnungen und ihre Bereitschaft, sich für deren Bewahrheitung mit bestem Vermögen zu engagieren. Bisher sind die strukturellen Aussichten, dass sie ihre Fähigkeiten in der Mitte der Gemeinschaft verwirklichen können, (noch) nicht vielversprechend.   »Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zum Kämpfen!« ruft als politische Parole dazu auf, Visionen von einer besseren Welt zu entwickeln und diese in jedem und für jeden und ebenso gesamtgesellschaftlich umzusetzen.   Diese Aspekte werden beleuchtet:   Träumen: Warum braucht es Mut? Mythen, Märchen, Bilderbücher: Kraftquellen zum Kämpfen? Schöpferische Kraft in der Gesellschaft: Ist sie willkommen? Neuland: Abenteuer oder Bedrohung? Ängste: Warum kann Stillstand so reizvoll sein? Reisende: Was zeigen uns Ankommende? Ermutigung: Ein Plädoyer für das Unvertraute.

Der den Vortrag titelnde Slogan »Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zum Kämpfen!« fand sich als politischer Graffito in den 1970ern und 1980ern an zahllosen Hauswänden und Mauern deutscher Großstädte und prägte sich mir, immer wieder impulsgebend, bis heute ein. Ein Versuch jetzt, seinen Ursprung zu recherchieren, blieb letztlich ergebnislos. Einmal stieß ich auf die diffuse Angabe »aus Afrika«: Wenn wir wollen, vermuten wir also seine Anfänge irgendwo in den Weiten der Sahara, bei einem Volk der Savanne, im Dschungel, auf belebtem Markt, im Widerstand gegen den Kolonialismus, vielleicht auch mitten in Berlin oder wo immer wir wollen … Schöpferische Prozesse, zu denen mit der Parole aufgerufen wird, sind unkonventionell und entwickeln ihre eigene Dynamik. Sie sind die Phantasie, die Alternativen zum Ist entwickelt. Weltweit sind anerkannte Künste dafür ebenso Ausdruck wie individuelle Kreativität. Schöpferisches wirkt erweiternd in Gesellschaft, persönlichem Lebensstil und auch in therapeutischen Momenten. Das kann beäng­ stigen – im Inneren und im Außen. Es braucht also eine gewisse Abenteuerlust, um spontanen und vielleicht zunächst verrückt anmutenden Ideen nachzugehen: »Die größte Gefahr im Leben ist, dass man zu vorsichtig wird« (Adler, o. J., zit. auf der DGIP-Homepage: Was ist Individualpsychologie?).

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»Was Besseres als den Tod findest du überall«, sagt der Esel dem verzagten Hahn im grimmschen Märchen »Die Bremer Stadtmusikanten« (Grimm, 1990, S. 183). Die vertraute Heimat ist zu unwirtlich geworden. Die Tiere entziehen sich dem ihnen zugedachten jämmerlichen Lebensende und wollen gemeinsam mit Hund und Katze ein ganz neues Leben, sehen ihre Zukunft gar als erfolgreiche Künstler. Sie entscheiden sich also, sicherem Verderben zu entgehen und suchen hoffnungsvoll ihr Heil in der Flucht. Selbiges bewegt zurzeit viele Menschen aus Krisengebieten der Welt. Manche kommen nach Deutschland. Auch sie haben Phantasien, wie sie im Frieden ihre Potenziale entfalten könnten. Das Thema der Tagung, »Kunst und Psyche«, lud ein, sich auf Reisen zu begeben, Bedrängung zu verlassen und kreativ nach neuen Horizonten Ausschau zu halten. Denn wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zum Kämpfen! Diese Aspekte werden im Folgenden beleuchtet: –– Träumen: Warum braucht es Mut? –– Mythen, Märchen, Bilderbücher: Kraftquellen zum Kämpfen? –– Schöpferische Kraft in der Gesellschaft: Ist sie willkommen? –– Neuland: Abenteuer oder Bedrohung? –– Ängste: Warum kann Stillstand so reizvoll sein? –– Reisende: Was zeigen uns Ankommende? –– Ermutigung: Ein Plädoyer für das Unvertraute.

Träumen: Warum braucht es Mut? »Es hatte ein Mann einen Esel, der schon lange Jahre die Säcke unverdrossen zur Mühle getragen hatte, dessen Kräfte aber nun zu Ende gingen, so dass er zur Arbeit immer untauglicher ward. Da dachte der Herr daran, ihn aus dem Futter zu schaffen, aber der Esel merkte, dass kein guter Wind wehte, lief fort und machte sich auf den Weg nach Bremen: dort, meinte er, könnte er ja Stadtmusikant werden« (Grimm, 1990, S. 180). Der mutige Esel ergab sich nicht resignierend dem Elend und Untergang, sondern entdeckte, dass ihm ein künftiges Dasein als Künstler besser anstünde. Er folgte beherzt seiner Idee und machte sich auf die Reise. Rasch inspirierte er ebenfalls bedrohte Gefährten, die sich ihm

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gern anschlossen – Hund, Katze und Hahn. Dieses Quartett wird unser Begleiter sein. Was im Märchen durch die Tiere ausgedrückt wird, diese Fähigkeit zum Träumen von einem anderen, von einem besseren Leben, wohnt allen Menschen inne. Wir haben viele Begrifflichkeiten dafür und nennen es unter anderem Kreativität, Phantasie, Erfindungsgabe, Einfallsreichtum, Vorstellungsvermögen, Gestaltungswille, Imaginationsfreude, (Lebens-)Kunst – und schöpferische Kraft ist es eben bei Alfred Adler. Diese Energie ist jedem eine unverzichtbare Ressource und zugleich eine bedeutende Resilienzquelle in (oder nach) belastenden Stationen des Lebens. Träume schenken Kraft. Stets aufs Neue entwerfen sie Alternativen zum (schwierigen) Ist. Deshalb bedeuten sie auch immer ein gerüttelt Maß an Beunruhigung. Schöpferische Kraft ist fähig zu Gutem wie Bösem. Sie ist per se keiner Richtung zuzuordnen und vermag, je nach Vision, ebenso konstruktive wie destruktive Energien für sich wie andere freizusetzen. Dabei ist es auch unerheblich, ob es sich um innere oder um äußere Entwicklungen handelt. Phantasie will Aufbruch, ermöglicht Neubeginn, wagt gegebenenfalls Widerstand und wählt dafür unzählige Ausdrucksformen, rein ideelle oder sich manifestierende. Damit diese aktiv in der Welt umgesetzt werden können, braucht es Konsequenz und Eigenengagement. Wäre der Esel nicht entschlossen losgegangen, er hätte mit seinen Gefährten nicht »was Besseres als den Tod allemal« gefunden. Inspiriert folgt die kreative Kraft dem ihr innewohnenden Impuls. Sie trägt revolutionären Charakter, sucht deshalb manchmal die Auseinandersetzung und kann somit auch einen Sturm entfachen. Bewährtes und die Umgebung könnten mitgerissen werden. Entsprechend sind Erschrecken (auch vor sich selbst) oder innere wie äußere Abwehr verständlich. Selten weiß man zu Beginn, wo die Reise hingehen wird, und solches scheint meist zunächst gefährlich. Phantasien fließen zu lassen, braucht also spielerische Zuversicht: Ohne entsprechenden Mut zur Bewegung und ohne Vertrauen zum eigenen Traum, muss alles beim Alten bleiben.

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Mythen, Märchen, Bilderbücher: Kraftquellen zum Kämpfen? Eine Mär ist eine Kundgabe, das Märchen also eine kleine Kunde und es ist, wie der Mythos, mit vielfältiger Symbolik und seiner besonderen Sprache eine Form von kollektiven »Träumen«. Die Erzählungen richten sich an alle Menschen. Sie bieten archetypisch bildhafte Anregungen, sich kreativ den Lebensfragen wie -aufgaben zu stellen. Dabei erhalten innere und äußere Helfer – ebenso wie die Widersacher – einprägsam Gestalt und Stimme. In ihrer Universalität lassen sich solche Geschichten vielfach einbinden, seien sie verstanden als verschiedene Aspekte einer einzelnen Psyche, seien sie gesehen als phantasievolle Abbildung äußerer Umstände. Sie erlauben Identifikation, verleihen Gefühlen Sprache und gestatten freie Assoziation. Sie ermöglichen das Spiel mit persönlichen Heldenbildern und eine poetische Umschreibung individueller Leidenserfahrung. Man kann sie dabei umdichten und im Rollenspiel, in einem Bild oder vielleicht in einer Skulptur ausgestalten. Da wird seit Jahrtausenden voller Erfindungsgabe von außerordentlich schweren Schicksalen und großen Abenteuern erzählt, und zum Glück gibt es vom guten Ende zahllose Beispiele. Überträgt man die Anfänge der Geschichten in reale Situationen, so sind es Darstellungen zutiefst traumatischer Erfahrungen. Mit dem glücklichen Ausgang wird dann gezeigt, dass man solche nicht nur überstehen kann, sondern dank ihrer sogar ganzheitliche Kraft gewinnt. Diese beruht letztlich in einer Integrationsfähigkeit verschiedener Aspekte. Es sind also Entwicklungserzählungen vom Mangel zum Wohlsein, die außerdem Resilienz schildern, und damit vermögen sie umfassend aufbauend zu wirken. Ähnlich erfindungsreich ermutigen viele Bilderbücher. Wunderbar, wenn nicht nur Kinder, sondern auch große Erdenbewohner solche als tiefe Weisheit und Inspirationsquelle erkennen können! Die Bremer Stadtmusikanten wie ihre Gegenspieler haben also zahllose »Kollegen«. All die vielschichtigen Gestalten vermögen stets vorhandene Wachstumschancen bei (psychischen) Herausforderungen zu veranschaulichen. Einige werden näher betrachtet. Der Jahreszeit der Tagung im späten Herbst angemessen, nahe den Totentagen des trüben Novembers, soll mit der Hexe begonnen sein.

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Verzauberung und endliche Befreiung sind Empfindungen, die mit dieser Gestalt verbunden sind. Das Wort kommt von »Hagazussa« und verweist auf schamanische Ursprünge dieser komplexen Figur: Es bedeutet »Reiterin auf dem Zaun«. Einst war dies die Grenze zwischen gewaltiger Natur und wohlbehüteter Kultur. Hexen sind Mittlerinnen zwischen diesen und jenen Welten, auch zwischen Realität und Magie. Sie gelten als sehr gefährlich, ihren dunklen Bannkreis sollte man tunlichst meiden. Hexen verweigern sich machtvoll dem normalen Dasein der Menschen – sie sind grimmig, faszinierend anders und sehr autonom. Sie verzaubern schillernd und lähmen damit jene, die ihnen begegnen. In den Märchen verbringen Heldinnen und Helden immer wieder lange Dienstzeiten bei Hexen. Das eigentliche Ziel, der Traum des besseren Daseins, ist in unbestimmte Zukunft verschoben. Offener Widerstand bleibt zunächst aus. Aber so wird im Verborgenen etwas über die eigene Identität gelernt. Mit der endlichen Rückkehr in die heimatliche Gemeinschaft verfügen Entronnene über alle Kompetenzen und führen künftig ein sehr glückliches Leben. Führte also der offene Mangel zur Hexe, so ist der Lohn bei geduldiger Bewährung innerer wie äußerer Reichtum. Die Hexen erteilen »eine Lektion« und fordern zur Selbstbesinnung auf. Sie machen es nötig, sich mit Ängsten auseinanderzusetzen, was dargestellt ist mit den diffusen Bedrohlichkeiten des Lebensraums der Hexen, ihres Aussehens und dem Spektrum ihrer magischen Möglichkeiten. Wie weit und wie lange muss man sich solchen Energien unterwerfen? Es scheint: auf Zeit, Selbst-Bewusstsein einübend. Dank dieser Bilder lässt sich manches Gefühl von Stillstand beschreiben. Manchmal muss erst lernend der richtige Moment abgewartet werden: Derweil wächst der Mut, wie die Märchen berichten. Die Schülerinnen und Schüler werden sich behaupten und dem Bann entziehen. Sie greifen ihre Träume auf und finden damit die Kraft, ihr Leben künftig selbst zu gestalten. Das Selbstvertrauen ist nun gereift, damit das Wissen um die eigene Stärke, und dann ist die Zeit da, um aufzubrechen: Die eigene Phantasie ruft nach dem eigenen Weg. Es scheint unmöglich, die Gegensätze zwischen der Tristesse des Totenreiches und der Freude an Üppigkeit zu verbinden, wenn diese sich im erbitterten Kampf befinden. Persephone aus der griechischen Mythologie muss diese Aufgabe meistern. Als wunderschöne Tochter von Demeter, der Göttin der Fruchtbarkeit, wurde sie Gattin des ein-

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samen Totengottes Hades. Diese Ehe lehnte die Mutter strikt ab. Sie ließ deshalb den ersten grausigen Winter über die Welt kommen, bis sie ihre Tochter zurückbekam. Der letztliche Kompromiss der Götter bescherte Persephone unvergängliche Wanderschaft. Sie ist je ein halbes Jahr bei ihrem Mann in seinem Reich, das andere auf der Erde bei ihrer Mutter: Daher gibt es den Kreislauf der Jahreszeiten. Die besitzergreifenden Gefühle Demeters sind in extremen Bildern dargestellt. Macht und Ohnmacht sowie die nicht spannungsfreie Korrespondenz zwischen Leben und Tod sind zentrale Themen. Auch Fragen von Zerrissenheit, Treue und Zugehörigkeit werden in dieser Geschichte diskutiert. Welchen Traum lebt Persephone? Sie scheint sanftmütig und bleibt still. Es ist ihr ja nun möglich, mit allen Geliebten in Ewigkeit verbunden zu sein. Und die alten Griechen bauten ihr als der Mittlerin zwischen den Mächten Tempel. Der liebenswürdige indische Gott Ganesh wird sehr verehrt. Er ist weiser Herr über alle Hindernisse, Hüter des Hauses wie leiblichen Wohlbefindens und Tänzer des Herzschlages. Seinen Elefantenkopf erhielt er in der Versöhnung, nachdem ihm sein Vater voreilig den »menschlichen« in einem Konflikt abschlug. Mit dem Mythos, hier sehr verkürzt, bietet Ganesh Gläubigen Trost wie Geborgenheit in schwierigen Lebenslagen und schenkt familiären Gemeinschaften Schutz. Ganeshs Vita kann zudem Mut machen, dass es möglich ist, gehorsam zu sein und sich trotzdem traditionellen Autoritäten entgegenzustellen. Seine freundlich beständige Gemütlichkeit signalisiert, dass die Kraft in der Ruhe liegt. Man kann die Prinzessin verstehen, wenn sie sich weigerte, ihr Versprechen einzulösen: Forsch hatte der »Froschkönig« (Grimm, 1990) als Preis für die Rettung ihrer goldenen Kugel verlangt, künftig an ihrem Leben im Schloss teilzuhaben. Zwar folgte sie nach Ermahnung durch den Vater ihrer Pflicht, aber je mehr der Frosch in ihre Intimität eindrang, desto ärgerlicher wurde sie. Von so einem Gatten hatte sie nicht geträumt und knallte ihn schließlich im Zorn an die Wand – herab fiel ein herrlicher Prinz. Diese Wut war fruchtbar. Eigentlich kämpfte die Prinzessin um Selbstbestimmung und ihr eigenes Leben, befreite aber eben dadurch ihren verzauberten Mann. Liebe und Respekt wuchsen beim »zweiten Blick«: Zuerst mussten Übergriffigkeit, Abwehr und Ekel klärend überwunden werden. Entsprechend war die Entwicklung von Streitkultur notwendig. Erst jetzt konnten sie glücklich werden.

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Wie bei Mythen und Märchen gibt es eine Vielzahl von Bilderbüchern, die grundlegende menschliche Themen ansprechen. Auch diese Werke bieten mehr Möglichkeiten als das Vorlesen für kleine Kinder. Nicht nur, wenn Menschen sich mit Schrift schwertun – zum Beispiel, weil sie aus einem anderen Land zuwanderten –, sind sie durch ihre als Inhalt ausgestalteten Bilder für alle zugänglich und bieten damit Anknüpfungen für weitergehende (therapeutische) Zugänge. Zwei seien vorgestellt. In »Swimmy« (Lionni, 1964) wird die Geschichte eines kleinen Fisches erzählt. Nach dem traumatischen Erlebnis, dass ein großer Raubfisch seinen gesamten Schwarm verschlang, begab er sich, zunächst verstört, dann immer begeisterter, auf die Reise durch die Weiten des Ozeans. Er traf viele wunderbare Wesen und fand am Ende beglückt einen Schwarm, der seinem verlorenen Volk verblüffend ähnelte. Er forderte sie auf, die Wunder der Meere mit ihm zu erkunden, aber ängstlich verharrten diese kleinen Fische. Sie fürchteten die großen Fische, was Swimmy bekümmerte. Er beschloss, eine Lösung zu finden, und dachte lange nach. Dann ließ er den Schwarm sich als einen Riesenfisch formieren, und selbst nahm er den Platz als Auge ein. So schwammen sie geschützt zusammen hinaus: Alle gefährlichen Räuber ergriffen die Flucht. »Gemeinsam sind wir stark« ist eine Botschaft. Des Weiteren wird ermutigt, dass nach entsetzlichem Erlebnis Zeiten kommen, die neue Freude schenken – und vielleicht auch, dass überstandenes Grauen besondere Fähigkeiten verleihen kann. Schwein Schwarte träumte mit Braut von einer prachtvollen Hochzeit und »kämpfte« dafür mit Farbtöpfen. In »Na warte, sagte Schwarte« (Heine, 1994) verfügten die Gäste nämlich über keine schöne Kleidung, und Schwarte malte sie kurzerhand direkt auf die Leiber. Das hatte den fabelhaften Vorteil, dass alle Wünsche rundum erfüllt waren. Dass am Ende ein Regenguss die Roben abwusch, war nicht schlimm. Bei Bedarf würde gewiss eine neue gute Idee kommen. Die Kraft der Improvisation räumt mit Spaß und Gelassenheit kleine wie große Schwierigkeiten aus dem Weg. Die erhält mit diesem Werk ein Loblied und ermutigt, gleichfalls spontan phantasievolle Lösungen zu kreieren – damit aus »Hirngespinsten« Wirklichkeit wird. Manche Träume führen auf Abwege, auch wenn für sie nicht minder vehement gestritten wird, um Macht zu gewinnen und das Ego aufzubauen. Rücksichtslos werden sie gegen die Gemeinschaft durchgesetzt.

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Vor solchem Krafteinsatz wird in Märchen gewarnt, denn das nimmt kein gutes Ende. Damit wird gemahnt, die alten Todsünden wie Hochmut, Neid, Zorn, Habgier, Faulheit, Maßlosigkeit oder Völlerei als niedere Instinkte abzulehnen. Innere Not wird aber in diesen Geschichten als Ausgangspunkt ebenfalls zugestanden, denn es wird lebenswichtig für die Betroffenen, am schönsten, reichsten, bedeutendsten etc. zu sein. Das sind ungeliebte Eigenschaften in jedem Einzelnen von uns. Das Streben nach eigentlich Unehrenhaftem wird mit solchen Figuren – ohne Gefahr für das eigene Seelenheil – greifbar. Gelebt werden nämlich (in Heimlichkeit) auch solche Träume kollektiv. Vereinzelt sind die unbequemen Anteile titelgebend. So im Märchen »Des Kaisers neue Kleider« (Andersen, 1990), in dem vor Eitelkeit und Hybris wie anbiedernder Feigheit gewarnt wird. Des Kaisers Ziel war es, nicht nur Mächtigster, sondern auch Prächtigster zu sein. Da sahen sich pfiffige Schneider berufen, ihm ganz besonders wunderbare Gewänder zu schneidern. Diese verstünden nur Würdige und Weise zu sehen: Sie ließen ihn mit viel Tamtam nackt. Kaiser wie Untertanen hatten nun Angst, sich als untauglich oder dumm zu zeigen und bewunderten die nicht vorhandene Robe – bis ein Kind die Wahrheit herauskrähte. Furcht, nicht angemessen angezogen zu sein, ist weitverbreitet und lässt viele Kleiderschränke überquellen – trotzdem wird ratlos davor gestanden. Ebenso oft werden Aufzüge anderer gelobt, obwohl sie nicht gefallen. Die im Märchen formulierten Unsicherheiten wie Unaufrichtigkeiten sind verbreitet. Der Traum von Schönheit und der Wunsch nach Anerkennung sind durchaus zu begrüßen, die Geschichte lenkt auf ausbordende Selbstzweifel und daraus resultierende Übersteigerung. Das (innere) Kind sah die Schwächen: Dieser verspielte Teil der Menschheit, wie im Selbst vorhanden, beugt sich keinen solchen Lügen. Sein Ziel ist die (seelische) Wirklichkeit, das es unbefangen erobert. Es ist somit lohnend, gemeinsam mit diesem Aspekt der Persönlichkeit die wahren Träume zu ergründen: Dank phantasiebegabtem Musenkuss des kindlichen Ichs mögen sich unvermutete Visionen auftun, für die sich Engagement lohnen kann. »Von dem Fischer un syner Frau« (Grimm, 1990) erzählt von Gier und dem Begehren nach Autorität. Am Märchenbeginn waren sie sehr

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arme Leute und wohnten im »Pisspott«. Aber ein zaubermächtiger Fisch ging dem Fischer ins Netz. Auf Drängen seiner Frau rang der Mann dem magischen Wesen immer weitere Verbesserungen ihres Lebens ab. Zwar war ihm dabei nicht wohl – das beteuerte er immer wieder – aber er ließ sich treiben. Der soziale Aufstieg war zudem lohnend rasant. Das war eine große Versuchung. Als die Gattin wünscht, zu »warden as de lewe Gott« (S. 141), war das Spiel jedoch überreizt. Sie fanden sich wieder im Pisspott. Vielleicht mag man mal mit dieser ehrgeizigen Fischerin flirten oder ihre Position einnehmen? Sie ergriff die Chance, nun endlich zu den ganz Mächtigen der Welt zu gehören und überschritt dafür – zunächst ja sehr erfolgreich – alle Grenzen bescheidenen Anstands. Sie hatte den Mut, maßlos zu träumen. Und sie hatte die Kraft, dafür energisch zu kämpfen. Allerdings tat sie es nur für sich selbst, und das gibt im Märchen nie beglückenden Lohn. Die uralten Themen des Lebens werden in allen Ausprägungen, mit Höhen und Abgründen in diesen Geschichten gespiegelt. Starke Gefühle, Sehnsüchte und Ängste wie zahllose kreative Antworten können dank ihrer Poesie im Selbst, im Gegenüber wie im Miteinander beleuchtet werden. Meist beziehen Märchen und Mythen durchaus moralische Position, die sich an dargestellter Gemeinschaftlichkeit orientiert. Sie wurden als wunderbare Abenteuer mündlich »aus einer Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat«, also über zahllose Jahrhunderte, als ermutigende Wegweiser aus bestem Grund überliefert. Ihr Gehalt an tiefer Wahrheit wie schöpferischem Ausdruck war gewiss auch ein Beweggrund der Brüder Grimm (wie anderer Sammler in der Romantik) sie durch Verschriftlichung zu bewahren, und Dichter der Epoche schufen weitere als literarische Kunstwerke. Gleichzeitig stellte diese Zeit den Übergang dar: Zunehmend verkamen die Erzählungen zu vermeintlichen Kindergeschichten. Wider Verniedlichung und Rationalismus, aber für Wertschätzung von Sinnlichkeit und Würdigung alter Weisheit schrieb Novalis im Jahre 1800 fordernd (zit. nach Biermann u. Scharf, 1997, S. 221): Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen Wenn die, so singen oder küssen, Mehr als die Tiefgelehrten wissen, Wenn sich die Welt ins freie Leben

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Und in die Welt wird zurück begeben, Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu echter Klarheit werden gatten, Und man in Märchen und Gedichten Erkennt die e’wgen Weltgeschichten, Dann fliegt vor Einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort.

Schöpferische Kraft in der Gesellschaft: Ist sie willkommen? Kehren wir zurück zu den Bremer Stadtmusikanten. Bei näherer Betrachtung sind sie schon eine wilde Horde. Ihr Kunstverständnis entspricht wohl nicht jedem Geschmack. Möchte man sie daheim als Gäste begrüßen? »Der Esel musste sich mit den Vorderfüßen auf das Fenster stellen, der Hund auf des Esels Rücken springen, die Katze auf den Hund klettern, und endlich flog der Hahn hinauf und setzte sich der Katze auf den Kopf. Wie das geschehen war, fingen sie auf ein Zeichen insgesamt an, ihre Musik zu machen: der Esel schrie, der Hund bellte, die Katze miaute, und der Hahn krähte; dann stürzten sie durch das Fenster in die Stube hinein, dass die Scheiben klirrten« (Grimm, 1990, S. 184). Sehr vital, auch erfindungsreich, aber wenig wohlklingend, zudem ins Dasein einbrechend und keineswegs liebenswürdig stellen sich die Tiere hier dar. Wilhelm Busch (1874) sinnierte: »Musik wird oft nicht schön gefunden, weil sie stets mit Geräusch verbunden.« Für das Geschehen dieser Szene ist das eine harmlose Umschreibung. Vermutlich würde im wirklichen Leben sofort die Polizei gerufen werden. Deshalb die Frage: Ist schöpferische Kraft in der Gesellschaft willkommen? Zunächst einmal: Nein! Dazu einige Feststellungen zur schöpferischen Kraft: –– Sie bricht Konventionen, –– sie ist zu dynamisch und ausufernd, –– sie provoziert, –– sie fordert Beweglichkeit, –– sie stellt (zu viele/zu wenige) Fragen, –– sie ist ineffizient, –– sie ist unberechenbar, –– sie befördert Irrationales,

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–– sie bleibt autonom, –– sie folgt eigenen Gesetzen, –– sie stört den Frieden. Beispiele für solch »ungeliebte« Kreativität wären aufmüpfige Jugendkulturen, auch manche politische Bewegungen, die geltende Normen hinterfragen, einige neue Strömungen in der Kunst oder auch die fremd anmutende Lebensgestaltung von Einwanderern. Der bewährte gesellschaftliche Konsens ist angegriffen. Solchem wird seitens der Mehrheiten zunächst meist sehr skeptisch, manchmal sogar mit offener Aggression geantwortet. Andererseits haben die bremischen Tiere kraftvoll als Überlebende die Neugestaltung ihres Lebens mit Phantasie begonnen. Sie haben einen Traum und wollen ihn gemeinschaftlich bewahrheiten: »›Weißt du was‹, sprach der Esel, ›ich gehe nach Bremen und werde dort Stadtmusikant, geh mit und lass dich auch bei der Musik annehmen. Ich spiele die Laute, und Du schlägst die Pauken.‹ Der Hund war es zufrieden.« Kurz darauf lockt er die nächste Mitspielerin: »›Geh mit uns […]. Du verstehst dich doch auf die Nachtmusik‹. […] Die Katze hielt das für gut« und mit der Gewinnung des Hahns ist das Quartett komplett: »›Ei was, du Rotkopf‹, sagte der Esel, ›zieh lieber mit uns fort, wir gehen nach Bremen, etwas Besseres als den Tod findest du überall; du hast eine gute Stimme, und wenn wir zusammen musizieren, so muss es eine Art haben‹« (Grimm, 1990, S. 183). Das ist charmant, denn es bürgt mit Witz für Selbstvertrauen und bezeugt Begeisterung für das künftige, aktiv künstlerische Dasein des Quartetts. Es beschwingt und macht große Freude, etwas zu gestalten und gewiss kennt jeder solche Momente aus seinem Leben, wo er für sich oder mit anderen etwas entstehen ließ, das zuvor nicht da war. Das kann vieles sein: ein wunderbarer Garten, ein realisiertes Projekt, eine inspirierende Unterhaltung. Ebenso ist es ganz wunderbar, beispielsweise in einem Konzert oder Museum, an der Phantasie anderer teilzuhaben. Also noch einmal die Frage: Ist schöpferische Kraft in der Gesellschaft willkommen? Ja, durchaus! Auch hierzu ein paar Argumente: –– Sie stiftet Gemeinschaft, –– sie vermag zu ermutigen, –– sie macht glücklich,

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sie entwirft Alternativen, sie ermöglicht Ausdruck, sie ordnet Innen und Außen, sie gibt Gefühlen Raum, sie erweitert Horizonte, sie ist verspielt erneuernd, sie schenkt (innere) Erfolge, sie verschönert das Leben.

Ja und Nein: Es kommt sehr auf den Blickwinkel an, aus dem man phantasievolle Dynamik betrachtet – und auf ihre jeweilig momentane Intention. Ein wertendes Kriterium kann Gefälligkeit für die Normen der Gesellschaft sein, ein anderes der Widerspruch. Es bleibt ein Einerseits-Andererseits und wird aus einer Situation sowie gemäß der Persönlichkeit beantwortet. Das spiegelt sich auch darin, dass immer wieder in Öffentlichkeit diskutiert wird, was denn Kunst sei. Deshalb kann dieser zunächst entzückenden Energie eine gewisse Ambivalenz meist bescheinigt werden. Eines ist verlässlich, dass schöpferische Kraft in jedem von uns und immer da ist. Es liegt so beim Einzelnen, welche Botschaft und wie viel Raum diese erhält. Das wilde Abenteuer nimmt für die Stadtmusikanten ein glückliches Ende. Gibt der Erfolg ihnen recht?

Neuland: Abenteuer oder Bedrohung? »Sind Probleme nicht auf die gewohnte Art zu lösen, müssen wir kreativ werden. […] Wie allerdings der schöpferische und lösende Einfall zustande kommt, bleibt geheimnisvoll. Wir wissen aber, dass es ihn unter bestimmten Bedingungen immer wieder gibt. Auf schöpferische Einfälle kann man zählen, auf schöpferische Einfälle zählen wir auch, sonst wären wir Menschen schon längst untergegangen« (Kast, 2000, S. 22). Singen wir also ein Lied, vielleicht auch mal laut und so schräg wie das tierische Quartett aus dem Bremer Umland, oder spielen wir ein Instrument, malen ein Bild, schreiben ein Buch, tanzen einen Rhythmus, entwerfen einen Charakter, wechseln den Beruf, erträumen eine

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Landschaft, wandern in die Welt … Es gibt viel zu entdecken, im Selbst und im Außen, das möglicherweise noch still im Verborgenen schlummert. Die Stadtmusikanten brachen erst auf, als sie der Tod bedrohte. Muss man so lange warten? Schon das Leben zuvor war gewiss kein »Zuckerschlecken«. Zeigen sich zudem beim freien Fluss der Phantasie bisher gebändigte Anteile, vielleicht Schmerz und Aggression, so ist das beunruhigend. Innere Dämme könnten bersten und Trauer oder Wut sich unkontrolliert Bahn brechen. Da ist es sinnvoll, innezuhalten. Denn die Grenzen, die erscheinen mögen, wünschen Achtsamkeit und Behutsamkeit. Mit Respekt, an der Angst entlang, lassen sich die individuellen Schatten betrachten. Das Spiel mit kreativen Eingebungen kann nämlich auch »im Dunkeln« vergnüglich sein und befreiend wirken. Hier eine Einladung zur Begegnung mit ein paar nicht so netten Märchenfiguren, denen man spaßeshalber Stimme geben möge: Was, wenn der »Froschkönig« seine Sicht der Dinge darstellt? Wie wird es, wenn der Wolf aus »Rotkäppchen« sprechen darf? Wie erzählt sich »Hänsel und Gretel« aus Sicht der Hexe? Was hätten »Rumpelstilzchen« oder »Blaubart« zu sagen? Was ergäbe ein freundschaftliches Gespräch mit der Stiefmutter »Schneewittchens«? (alle Märchentitel Grimm, 1990). Es sich selbst erlauben, mal die vermeintlich böse Rolle einzunehmen, wirkt kanalisierend. Bei solch Experimenten vollzieht sich ein spannender Blickwechsel, der auch vielleicht fragwürdige Motive illustriert und so phantasievoll eine neue Betrachtung (vom eigenen Inneren) erlaubt. »Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist, sondern wir sehen die Welt, wie wir sind«, sagt ein Sprichwort aus dem Talmud. Wir alle tragen zornige, neidvolle, geltungsbedürftige, wilde Anteile in uns und unterlegen sie meist dem Tabu. Das macht sie nicht weg. Erlauben wir ihnen humorvoll das Sein, so schenkt das genüssliche Erleichterung. Es lohnt, sie in so geschütztem Rahmen mal »von der Kette« zu lassen, und es endet übrigens meist im sehr vergnügtem Gelächter. »Jedes Individuum repräsentiert gleichermaßen die Einheit und Gesamtheit der Persönlichkeit wie die individuelle Ausformung dieser Einheit. Das Individuum ist mithin sowohl Bild wie Künstler. Es ist Künstler seiner eigenen Persönlichkeit« (Adler, 1939/1976, S. 7).

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Das ist sehr schön und beglückend. Wollen wir Menschen das aber immer annehmen? Erst Mut in der Gestaltungsfreude ermöglicht es, eine freie Vision (von sich selbst) in die Welt zu bringen. So das (Selbst-)Vertrauen nicht genügt, werden Begrenzungen aktiviert, situativ oder grundlegend bedingt im Lebensstil. Mit stetig geäußertem »Das geht nicht« kann jede Entwicklung blockiert werden. Doch auch Verweigerung erfordert Kreativität, denn sie muss nach innen und außen erklärbar sein.

Ängste: Warum kann Stillstand so reizvoll sein? Das vom Transaktionsanalytiker Stephen Karpman 1968 beschriebene »Dramadreieck« (vgl. das Stichwort bei Wikipedia) veranschaulicht in einfacher Weise eine weitverbreitete Struktur der Begegnung – auch mit sich selbst (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Das Dramadreieck nach Karpman; Quelle: http://de.wikipedia. org/wiki/Dramadreieck (11. 11. 2014)

Es handelt sich um ein geschlossenes System, in das man sich schnell verstrickt. Je nach Lebensstil werden zwar bestimmte Rollen vom Einzelnen bevorzugt, aber die Wechsel erfolgen dennoch in jedwede Richtung fliegend. Auch wenn gefühlt viel Bewegung stattfindet, ist das Ergebnis in Wahrheit Stillstand. Es ist ein Perpetuum Mobile. Die Beteiligten sind in ihrer konfliktorientierten Begegnungsweise gefangen und die zudem hierarchische Struktur verhindert einen gleichberechtigten Austausch. Dargestellt sind deshalb auch das Erleben von Macht

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und Ohnmacht. Es fehlt an Selbstverantwortlichkeit und gegenseitigem (oder aber, so innerpsychisch, eigenem) Zutrauen: Das Opfer ist ausgeliefert und hilflos, der Verfolger trägt die Schuld für das Geschehen, und ein (fiktiver) Retter meint alles am besten zu wissen. Wechselseitig nimmt man sich mit Vorwürfen und Ratschlägen in die Pflicht, ohne gemeinsame Gestaltungsspielräume zu finden. Das Dramadreieck kann man überall im Alltag antreffen. Ob im inneren Dialog, bei streitenden Paaren oder in der großen Politik – sehr häufig wird auf dieser Grundlage agiert. Es ist verführerisch verständlich, dass es keine Lösung gibt: Man besteht wehrhaft auf seiner Haltung, und es scheint unmöglich, ohne Sühne die Situation zu verändern. Ein perfider Genuss sei dabei nicht ausgeschlossen, denn das Rechthaben ist immer verlockend – und das gilt für jede der drei Rollen. Verfahrener Stillstand ist so allseits legitimiert und erhält sogar, je nach Parteigängern, Bestätigung und Sympathien. Das Spiel mit dem Dramadreieck kann dann in die nächste Runde gehen, und letztlich bleibt alles so (schlimm), wie es ist. Es wird viel gejammert, geschimpft und klug dahergesprochen. Vermeintliche Schuld, das Leid und allerbeste Wege werden zwar vielfältig diskutiert, aber eine konstruktiv faire Lösung, die – sich wie anderen zutrauend – aktiv ins wahrhaft Neue führen würde, entsteht nicht. Letztlich bleiben enttäuscht alle auf genau ihrer Position (im je persönlichen Alptraum) sitzen. Die Ursache des Scheiterns liegt dabei immer in den Umständen oder beim anderen, aber nie im Selbst, und das macht den Reiz des Dreiecks aus. Ein konsequenter Aufbruch, wie ihn die Bremer Stadtmusikanten vollziehen, findet ganz gewiss so nicht statt.

Reisende: Was zeigen uns Ankommende? Auch wenn die vier Stadtmusikanten alle aus gleichem Motiv ihre Besitzer verlassen, so zeigen sich doch unterschiedliche Charaktere. »›Wer kann da lustig sein, wenn’s einem an den Kragen geht‹, antwortete die Katze, ›weil ich nun zu Jahren komme, meine Zähne stumpf werden, und ich lieber hinter dem Ofen sitze und spinne, als nach Mäusen herumjage, hat mich meine Frau ersäufen wollen; ich habe mich zwar noch fortgemacht, aber nun ist guter Rat teuer: wo soll ich hin?‹«

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(Grimm, 1990, S. 182). Auch wenn sie noch keinen Traum für ihre Zukunft hatte, so wusste die widerständige Katze doch, dass sie sich dem angekündigten Tod nicht hingeben wollte, und ergriff zunächst erst einmal sicherheitshalber die Flucht. Anders der Hahn: »›Da habe ich gut Wetter prophezeit, […] weil unserer lieben Frauen Tag ist, wo sie dem Christkindlein die Hemdchen gewaschen hat und sie trocknen will; aber weil morgen zum Sonntag Gäste kommen, so hat die Hausfrau doch kein Erbarmen, und hat der Köchin gesagt, sie wollte mich morgen in der Suppe essen, und da soll ich mir heute Abend den Kopf abschneiden lassen. Nun schrei ich noch aus vollem Hals, solang ich noch kann‹« (S. 182 f.). Wären die anderen »Landesflüchtigen« nicht vorbeigekommen, er hätte sein Schicksal als Opfer der gnadenlosen Bäuerin angenommen – vielleicht auf späte Rettung im Himmel gehofft. Seine christlich gefärbten Formulierungen lassen solches unterstellen. »So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!«, fordert die Bibel in Matthäus 22:21, und der Hahn scheint gewillt, das für seine Herrin zu erfüllen. So aber eröffnet sich ihm eine Alternative. Der Esel formuliert die Anregung, dieses Dramadreieck besser zu verlassen, mit eindringlichen Worten: »›Zieh lieber mit uns fort […] etwas Besseres als den Tod findest du überall.‹ […] Der Hahn ließ sich den Vorschlag gefallen« (Grimm, 1990, S. 183). Er bricht umgehend mit den neuen Freunden auf und gestaltet sein Leben künftig selbst. Das Märchen hat seine historischen Wurzeln vermutlich bei pfiffigen Mägden und Knechten vorindustrieller Zeit, deren Altersversorgung von den Haltungen der Herrschaften abhing. Es konnte für sie schlimm kommen, waren diese nicht bereit, ihnen den Platz am Ofen zuzubilligen. »Stadtluft macht frei« war eine mittelalterliche Parole, um Leibeigenschaft hinter sich zu lassen. Das klingt im Märchen an. Es gestaltet einen anarchischen Traum vom Beginn eines freien Lebens jenseits harter Arbeit, Unterdrückung und Lebensbedrohung. Stattdessen lockt phantastische Selbstverwirklichung im Bund unter Gleichen. Was in der Erzählung verschmitzt und hoffnungsfroh formuliert wurde, soll nicht von dem dahinterliegenden Grauen ablenken. Denn einst wie heute, suchen Verzweifelte drohendem Verderben zu entkommen. Die Hoffnung auf Schutz und künftiges Glück treibt sie voran. Manche Flüchtlinge sind alt wie die Stadtmusikanten, häufig sind sie

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eher jung. Viele kommen gegenwärtig nach Deutschland, ganz allein oder im Familienverband. Immer vertreibt auch sie die Not aus der Heimat. Was bringen sie an Ressourcen mit? –– Vielfältige Sprach- und Schriftkenntnisse für »unsere« Globalisierung; –– Rückhalt in mehr gemeinschaftlich orientieren Kulturen; –– spezifische (berufliche) Kenntnisse; –– Lebenswillen, Lebenserfahrung und Lernbereitschaft; –– den ausgeprägten Mut, von einer besseren Zukunft zu träumen. Leider zeigt sich Deutschland bisher wenig bereit, dies als Gewinn für die hiesige Gesellschaft anzuerkennen. Gefühle der Be-, teils sogar Überlastung sind durch die zunächst offensichtliche Bedürftigkeit und Fremdheit Ankommender mehr im Bewusstsein. Es gibt bisher also noch keine übergreifend würdigende Vision, die kraftvoll tragend allgemein den Mut zu geben vermag, phantasievoll ein Verständnis als multikulturelle Gemeinschaft zu gestalten. Im Rahmen eines an eine Hauptschule angegliederten Projektes, hatte ich im Frühjahr 2014 die Möglichkeit, eine Befragung von 15bis 18-jährigen Sprachlernschülerinnen und -schülern zu machen, um etwas über ihre Wahrnehmung ihres neuen Lebens in unserem Land zu erfahren. Es waren 16 Fragen, 21 Jugendlichen gestellt, die Antworten von acht bilde ich hier ab. Keiner von ihnen war länger als eineinhalb Jahre hier, so dass ihre Einschätzungen noch sehr vom Anfang bestimmt sind und damit ihre Hoffnungen abbilden (siehe Abbildung 2). Die Ergebnisse beim Gefühl, willkommen zu sein, fallen nach längerer Verweildauer meist nicht mehr so positiv aus wie anfangs, nämlich wenn die Zuwanderer zunehmend erleben, dass ihnen viele Türen verschlossen sind. Auch die Vorstellung, für immer zu bleiben, erfüllt sich nicht für alle: Einige, die ich befragte, wurden inzwischen abgeschoben. So mancher wird also seine Träume sterben sehen. Wie weit wird ihnen die Kraft bleiben, dann weiter dafür oder für andere, die entstehen mögen, zu kämpfen? Vielleicht schöpfen sie Mut aus dem Zusammenhalt der Familien und Clans, deren haltgebende Bedeutung sich auch kulturell begründet. Emotionale Stärke gibt auch die in Abbildung 3 sich zeigende Gewichtigkeit von Religion wie traditionellen Gepflogenheiten. Aber

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Abbildung 2: Evaluation Befinden, Teil 1, Frühjahr 2014

Abbildung 3: Evaluation Befinden, Teil 2, Frühjahr 2014

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dies kann sich zwiespältig auswirken. Es besteht die Gefahr, dass sich durch fehlende, wertschätzende Integration bedenklich rückwärtsgewandte Parallelgesellschaften ausprägen. Diese entwickeln eigene Ziele und beziehen ihre kreative Vitalität dann aus der Abschottung von deutscher Öffentlichkeit. Vielfalt spiegelt sich, wenn die Heranwachsenden nach ihren Vorstellungen vor der Einreise gefragt werden (siehe Abbildung 3). So sicher sie sich gemeinsam in ihrem Traum waren, hier zu bleiben, so offen war es, was sie von Deutschland erwarteten. Sie erreichten ein ihnen fremdes Land, da war erst einmal alles denkbar. So ein Neuanfang in fremder Umgebung mit unvertrautem Regelwerk ist nach dem Entsetzen von Vertreibung und Flucht nicht leicht. Meist ist der soziale Status verloren. Alles bisher Normale ist nicht mehr normal. Das bewirkt Ängste und Unsicherheiten. Hinzu kommen Schmerz um das, was gegenwärtig in den Heimatländern an (kriegsbedingtem) Elend passiert und Sorge um zurückgelassene Verwandte und Freunde. Eine Hoffnung auf eine glückhaftere kommende Zeit, etwas Besseres als den Tod zu finden, führte aus der Heimat weg. Sie bewirkte die Findigkeit, die Wege ins abgeschottete Europa zu entdecken. Es war zudem der Zwang gegeben, auf schwieriger Flucht zunächst Resilienz gegen die Traumata zu beweisen. Sie wären sonst nicht angekommen. Wie die Bremer Stadtmusikanten stehen sie nun da, wollen Teilhabe und bieten an, sich mit ihren Fähigkeiten engagiert einzubringen. Der Optimismus, mit dem von den Jugendlichen in die (berufliche) Zukunft geblickt wird, mag in seiner Tragik durchaus anrühren: Es wird nur wenigen vergönnt sein, unter zurzeit strukturell gegebenen Umständen, ihre Visionen in Deutschland tatsächlich zu verwirklichen. Von den genannten 21 Jugendlichen gingen 18 in ein Praktikum, bei dem sie ihre außerordentliche Motivation und Leistungsbereitschaft sehr erfolgreich unter Beweis stellten. Die anschließenden Zeugnisse waren durchgehend hervorragend. Keiner hat an einem Tag gefehlt, alle waren immer pünktlich, ihre Höflichkeit wurde gelobt – und »jugendtypische« Probleme traten wider Erwarten gar nicht auf. Diese berufliche Erfahrung habe ich mit ihnen ebenfalls evaluiert (siehe Abbildung 4).

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Abbildung 4: Evaluation Schulpraktikum, Frühjahr 2014

Für viele war das Praktikum eine erste Möglichkeit, sich in deutschem Umfeld zu bewegen und die neue Sprache wirklich anzuwenden. Von ihnen gewählte Berufsfelder waren vor allem (traditionelles) Handwerk, gefolgt von Medizin und Pflege, Erziehung und Landwirtschaft. Das sind Arbeitsbereiche, in denen Deutschlands Wirtschaft über Nachwuchssorgen und Fachkräftemangel klagt. Leider wird der ökonomische Bedarf aber bisher kaum kreativ mit diesen Zuwanderern verbunden, sondern es wird auf vielleicht anderweitig schlummernde Potenziale gehofft. Eine Chance wäre, sich auf die ehrgeizigen Träume einzulassen und sie mit den Zuwanderern gemeinsam auszugestalten, beidseitig hinzulernend. Fakt ist gegenwärtig meist, dass Flüchtlinge ortsübliche Voraussetzungen, wie Schulabschlüsse, nicht erfüllen und damit gar nicht erst als Ressource in den Blick genommen werden. So ist es für sie, trotz allem Engagement – und je älter sie sind – gegenwärtig kaum möglich, ihre nach deutschem Verständnis bestehenden Defizite aufzuholen. In der Folge braucht es ihrerseits sehr viel Tapferkeit und immer wieder Mut, sich trotzdem mit frischer Begeisterung ins Lernen zu stürzen und die Hoffnung dabei zu bewahren.

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Insbesondere im Handwerk verfügen viele der Jugendlichen bereits über umfassende Vorbildung und Berufspraxis. Wie früher auch bei uns üblich, erlernen sie Professionen von klein auf in der Familie, bei einer Meisterin oder bei einem Meister. Gesellenbriefe oder dergleichen sind allerdings in den Herkunftsländern unbekannt: Irgendwann hat man ausgelernt. Diejenigen, die angaben, sie hätten kaum oder kein Vorwissen einbringen können, klagten, man habe sie nicht gelassen: Hier ist es zu unvertraut, dass junge Praktikanten bereits viel berufliches Vermögen besitzen. Dies zeigt einen Kulturkonflikt, der in verschiedenen Definitionen von Wissen beruht und ohne Angleichung bzw. gezielte Förderung weitreichende Auswirkungen hat. Die Zuwanderer möchten Arbeit, sie möchten Verantwortung übernehmen und aktiv gestaltende Mitglieder unserer Gesellschaft sein. Die Erfüllung »sozialer Grundbedürfnisse« ist für Migranten, besonders für Flüchtlinge, unter heutigen Voraussetzungen in Deutschland sehr schwierig. Dabei ist sie, wie Gudrun Halbrock (o. J., o. S.) in ihrem Beitrag »Kinder respektvoll erziehen« schreibt (Hervorhebungen der Verfasserin werden hier weggelassen), »lebensnotwendig und unabdingbar zur Identitätsfindung und zur Gemeinschaftsfähigkeit. Jedes Grundbedürfnis beinhaltet einen individuellen und einen sozialen Aspekt. Das Kind, aber auch der Erwachsene, benötigt das Gefühl und die Erfahrung a) selbstsicher zu sein und b) sich als wertvoller Teil der Gemeinschaft zu empfinden. Die vier sozialen Grundbedürfnisse: 1. Dazugehören und sich geliebt fühlen […]; 2. Fähig und wirkmächtig sein, Einfluss nehmen können, Bedeutung haben, für andere wichtig sein […]; 3. Respektiert und fair behandelt werden […]; 4. Sich sicher fühlen, Mut zum Wagnis haben […]«. Die Haltung, mit der Ankommende unserer hiesigen Gesellschaft begegnen, ist zunächst voller Hoffnungen und Lernbereitschaft. Wie der kleine Fisch aus dem Bilderbuch »Swimmy« (Lionni, 1964) begegnen sie dem neuen Land mit Neugier und Begeisterungsfähigkeit, um alles für eine gute Zukunft zu geben. Diese Euphorie, die auch von der Freude der heilen Ankunft genährt ist, ist aber nicht anhaltend (siehe Abbildung 5).

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Abbildung 5: Emotionslogik im Migrationsprozess; Quelle: Machleidt, 2013, S. 37

Die strahlende »Zeit des Honigmonds«, die Honeymoonphase, geht im weiteren Ankommensprozess vorüber. Entsprechend ihrer kurzen Verweildauer in Deutschland waren die evaluierten Jugendlichen noch in dieser Hochzeit und somit optimistisch, was Kommendes betraf. Sie nahmen mehr ihre Träume in den Blick und blendeten wohlwollend drohende Einschränkungen eher aus. Aber irgendwann verliert sich der Reiz des Neuen und dann zieht ein Alltag ein. Der führt zur notwendigen Auseinandersetzung zwischen Ankunfts- und Herkunftskultur. Schmerzen um Aufgegebenes, Zorn auf (hiesige und/oder dortige) Gegebenheiten sowie Ängste vor Identitätsverlust werden aktiv. Es muss nun abgewogen werden, was man gewonnen und was man verloren hat oder verlieren könnte. Verfügt man über die Kraft, einen Ausgleich zwischen Vertrautem und Fremdem zu finden? Welche Verständnisse soll man wählen? Was für Perspektiven eröffnen sich wo? Welcher Hoffnung kann und will man weiter folgen? Je nachdem, wie die Antworten ausfallen, wird der anschließende Weg gewählt. Diese kritische Phase wird im Verlauf maßgeblich von der Integrationsbereitschaft und Chancenvergabe in der aufnehmenden Gesellschaft beeinflusst. Bietet sie ihren Ankömmlingen konkrete Aussichten

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zur (Selbst-)Verwirklichung, können diese die Zeit »kultureller Adoleszenz« durchschreiten, ohne sich in bodenlosen Abgründen zu verlieren (in Abbildung 5 mit Perlen auf der unteren Linie angedeutet). Das wäre für beide Gemeinschaften gewinnbringend. Wer sich in neuem Land willkommen fühlt, kann zur bereichernden Bi- oder Multikulturalität finden: Dann wachsen das Eigene und das Fremde zur sich ergänzenden Vielfalt zusammen, zum »Sowohl-als-auch«. Damit entstehen vielleicht generationsübergreifend bisher noch ungeahnte, aber mutige Träume, die dann zum Nutzen aller im Zukünftigen zu bewahrheiten wären. Es ist aber mittlerweile hinlänglich bekannt, dass bei der Integration von Zuziehenden auch etliches schiefgehen kann. Zu viele Einwanderer erleben sich bei der Teilhabe an Bildung, beruflicher Entfaltung oder soziopolitischen Prozessen als Verlierer. Deutschland wird oft als geschlossene Gesellschaft empfunden, wo ihre sozialen Grundbedürfnisse eben unerfüllt bleiben. Eine mögliche Antwort ist der Versuch, den eigenen Ursprung zu verleugnen. Aber das führt zur Entwurzelung. Die andere, häufige Erwiderung ist der (radikale) Rückzug in die Herkunftskultur. »Nahziele«, wie die genannten sozialen Grundbedürfnisse, werden als irrige Ziele anvisiert: Als Ausgegrenzte mit entsprechender Notwendigkeit, sich zu behaupten, fordern sie »ungebührliche Aufmerksamkeit«, suchen den »Machtkampf«, sinnen auf »Rache« und »demonstrieren Unfähigkeit« (Brunner u. Titze, 1995). In diesem Stadium wieder ins Gespräch zu kommen, ist schwierig. Da grüßt als gesamtgesellschaftlicher Teufelskreis bei beiden Kulturen das Dramadreieck, und gemeinsame Ambitionen, für deren Umsetzung zusammen gefochten wird, wird man dann vergeblich suchen. Ihren Anteil am Wohlsein forderten auch die Stadtmusikanten. Und sie wussten, ihn sich zu erstreiten. Im finsteren Wald mussten sie übernachten, da sie Bremen nicht binnen eines Tages erreichen konnten. »Ehe er [der Hahn] einschlief, sah er sich noch einmal nach allen vier Winden um, da deuchte ihm, er sähe in der Ferne ein Fünkchen brennen, und er rief seinen Gesellen zu, es müsste nicht gar weit ein Haus sein.« Flugs machten sie sich auf den Weg und »sahen es bald heller schimmern, und es ward immer größer, bis sie vor ein hell erleuchtetes Räuberhaus kamen. Der Esel, als der größte, näherte sich dem Fenster und schaute hinein. ›Was siehst du, Grauschimmel?‹, fragte der Hahn.

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›Was ich sehe?‹, antwortete der Esel, ›einen gedeckten Tisch mit schönem Essen und Trinken, und Räuber sitzen daran und lassen es sich wohl sein.‹ ›Das wäre was für uns‹, sprach der Hahn. ›Ja, ja, ach, wären wir da!‹« (Grimm, 1990, S. 184). Mit ihrer wild lärmenden Musik und klirrendem Einbruch durchs Fenster verjagen sie die räuberisch Besitzenden. Woran die Tiere erkennen, dass die sich die Schuld unrechtmäßiger Aneignung fremden Eigentums aufluden, wird nicht erzählt. Erklärt sich solche Beurteilung vielleicht mit den hungrigen Augen dieser begehrenden Betrachter aus dem nächtlichen Wald? Gegenwärtig hört man viel von der Entwicklung einer Willkommenskultur in Deutschland. Für diese ist strukturell noch viel zu tun, um respektvolles Miteinander mit Zuwanderern zu fördern. Über das »Ob« des Zusammenlebens braucht nicht mehr gesprochen zu werden. Nötig ist die ebenso ernsthafte wie mutige Zuwendung zum »Wie«. Geopolitische Ereignisse der vergangenen Jahre haben gegenseitiges Misstrauen verschärft. Islamistischer Terror und kriegerische Auseinandersetzungen, auch mit maßgeblicher Beteiligung westlicher Staaten, haben eine tiefe Kluft zwischen mehreren Kulturen aufgerissen. Alltägliche Probleme hier vor Ort werden dadurch (ideologisch) ebenfalls verstärkt. Muslime fühlen sich gegenwärtig schnell unter Generalverdacht, fanatischen Strömungen anzugehören und eben dadurch in der Notwendigkeit, ihren Glauben rechtfertigen zu müssen. Anhänger anderer orientalischer Religionen sehen sich veranlasst, sich kulturell abzugrenzen. Über Jahrhunderte im vorderen Orient gewachsene, tolerante Nachbarschaften verschiedener Konfessionen, drohen zu zerbrechen. Auf der anderen Seite fürchten Teile der deutschstämmigen Bevölkerung, sich in unbestimmter Zukunft in der eigenen Lebensgestaltung radikal islamistischen Ansprüchen ausgesetzt zu sehen, und man ist bange, dass Flüchtlinge die gewaltigen Probleme aus ihren Ländern hierher als ethnische Konflikte importieren könnten. Die verschiedenen, tiefgreifenden Verunsicherungen sind sehr vielschichtig und sie verschärfen allgemeine soziale Konfliktpotenziale, wie beispielsweise Wohnungsknappheit, zusätzlich. Das alles gilt es unbedingt ernst zu nehmen, aber Angst ist kein guter Ratgeber. Auch und gerade wenn das Klima emotional aufgeheizt ist, gilt es Wege zu suchen, die allseits deeskalierend wirken und die

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Würde des Gegenübers nicht antasten. Nur dann kann man in den Dialog kommen, um im wahrhaften Miteinander Lösungen zu suchen und eine friedlichere Zukunft neu zu gestalten: »Werfen wir unsere Träume voraus, um ihnen hinterher zu springen«, fordert ein Sprichwort. Ein anderes übersetzen die Schülerinnen und Schüler der Sprachlernklassen in ihre Schriften und Sprachen (siehe Abbildung 6).

Abbildung 6: »Der Traum von gestern«

Ermutigung: Ein Plädoyer für das Unvertraute Oft verharren Menschen, auch wenn ihre Lage aussichtslos ist. Und auch Gesellschaften bestehen oft lange unbeweglich auf einem gewonnenen Status quo. Die Sorge, dass es schlechter werden könnte, lähmt. »Träume sind Schäume«, sagt der Volksmund. Ist das so? Hätte die Menschheit nicht seit jeher ihre Phantasie in allen denkbaren Formen und Materialien manifestiert, es gäbe keine Musik, keine Poesie, keine Architektur, kein Theater, keine Malerei, keinen Tanz, keine Technik, keine Wissenschaft, keine neuen Horizonte … Ob die Bremer Stadtmusikanten je in der Stadt ankamen, berichtet das Märchen nicht. Sie wurden jedenfalls (Über-)Lebenskünstler und

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machten gemeinsam ihr Glück. Das erbrachte ihnen den Ruhm, der ihre liebenswürdige Geschichte bis heute bekannt macht. »Leben findet statt, wenn du gerade anderes vorhast«, sagt ein weiteres Sprichwort. Da gilt es also, Schwermut, Ängste und Zweifel zu überwinden und je aktuellen Herausforderungen wie plötzlich auftauchenden Perspektiven flexibel und kreativ zu begegnen. Die Redensart »Wer wagt, gewinnt!«, machte sich wohl der Gestiefelte Kater (Brüder Grimm, 1812/1995) zum Leitspruch: Er nahm mit ausgeprägter Gestaltungsfreude sein Leben und das seines Menschen in die Hand. Widerstände räumte er ohne Bedenken recht kompromisslos aus dem Weg. Auch sein spitzbübisches Heldentum wurde reich gelohnt. War er zu Beginn nur Mäusefänger eines armen Müllers und einziges Erbe des verzagten, jüngsten Sohnes, so stehen sie am Ende der Geschichte als ein König und der Kater als sein ratgebender Minister da. –– Es braucht Mut, damit es losgehen kann. –– Es braucht einen Traum, der auf Umsetzung wartet. –– Es braucht Freude, das Unerwartete in Angriff zu nehmen. »Was Besseres als den Tod findest du allemal!« war das überzeugende Argument des Esels. Das ließ die überlieferte Feindschaft zwischen Hund und Katze gar nicht erst aufkommen. Einmütig schlossen sich die Tiere zusammen. Dass dabei in der Verwirklichung eines Traumes manchmal Recht oder Unrecht im Ermessen der jeweiligen, stets sympathischen Helden liegt, ist kein unwichtiger Aspekt. Dennoch zeigen Märchen sehr wohl, dass das Gute am Ende siegt und man mit Mut wie Phantasie Schätze gewinnen kann, wenn man sich denn nur nicht beirren lässt. »Nun setzten sich die vier Gesellen an den Tisch, nahmen mit dem vorlieb, was übrig geblieben war, und aßen, als wenn sie vier Wochen hungern sollten. Wie die vier Spielleute fertig waren, löschten sie das Licht aus und suchten sich eine Schlafstätte, jeder nach seiner Natur und seiner Bequemlichkeit. […] Den vier Bremer Musikanten gefiel’s aber so wohl darin [im Haus], daß sie nicht wieder heraus wollten. Und der, der das zuletzt erzählt hat, dem ist der Mund noch warm« (Grimm, 1990, S. 189). Mit solcher Sinnlichkeit endet die Geschichte: Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zum Kämpfen.

Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zum Kämpfen! 125

Viel Vergnügen bei der Gestaltung wie Eroberung Ihrer ganz persönlichen sagenhaften Räume, und seien Sie dabei bitte nicht zu vorsichtig (siehe Abbildung 7)!

Abbildung 7: »Offenes Tor« von Lina Saller, Sommer 2014. Mit Aquarell kolorierte Zeichnung. (Privatbesitz)

Literatur Adler, A. (o. J.). »Die größte Gefahr im Leben ist […]«, zit. auf der Homepage der DGIP. Stichwort: Was ist Individualpsychologie? www.dgip.de/ueberuns/ip/ (11. 11. 2014). Adler, A. (1939/1976). Kindererziehung. Frankfurt a. M.: Fischer. Andersen, H. C. (1990). Des Kaisers neue Kleider. In H. C. Andersen, Sämtliche Märchen und Geschichten. Erster Band (S. 90–95). Leipzig u. Weimar: Gustav Kiepenheuer. Biermann, H., Scharf, B. (1997). Deutschbuch. Sprach- und Lesebuch. Berlin: Cornelsen. Brunner, R., Titze, M. (Hrsg.) (1995). Wörterbuch der Individualpsychologie. München u. Basel: Ernst Reinhardt. Busch, W. (1874). Dideldum! Der Maulwurf. www.wilhelm-busch-seiten.de/ werke/zitate.html (6. 11. 2014). Dudenredaktion (2001). Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. Mannheim: Duden. Grimm, J. u. W. (1812/1985). Der gestiefelte Kater. In Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (S. 99–104). Lindau: Antiqua. Grimm, J. u. W. (1990). Kinder- und Hausmärchen. Vollständige Ausgabe (13. Aufl.). München: Winkler. Halbrock, G. (o. J.). Kinder respektvoll erziehen. www.kinder-respektvollerziehen.de/Methode/Adler_Dreikurs-Methode.php?mid=13 (28. 3. 2013). Heine, H. (1994). Na warte, sagte Schwarte. München: Middelhauve.

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Kast, V. (2000). Lebenskrisen werden Lebenschancen. Wendepunkte des Lebens aktiv gestalten. Freiburg i. Br.: Herder. Lionni, L. (1964). Swimmy. (Deutsch von J. Krüss). Köln: Middelhauve. Machleidt, W. (2013). Migration, Kultur und psychische Gesundheit. Dem Fremden begegnen. Stuttgart: Kohlhammer.

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Scheitern, besser scheitern, weiter scheitern – Samuel Beckett oder der Kampf mit dem primären Objekt

Fail, fail better, fail again …1 – Samuel Beckett, or the struggle with the primary object The following contribution addresses the failure mainly of primary relationships and its possible consequences (splitting processes, schizoid processing modes). The literary work of Samuel Beckett deals – amongst other things – in form and content with the problem of failure and thus may intensify our understanding of the analytic work. Zusammenfassung In der folgenden Arbeit soll das Misslingen vornehmlich primärer Beziehungen mit seinen möglichen Folgen (Spaltungsprozesse, schizoide Verarbeitungsmodi) thematisiert werden. Das literarische Werk Samuel Becketts beschäftigt sich unter anderem in Inhalt und Form mit der Problematik des Scheiterns und kann unser Verständnis für die analytische Arbeit intensivieren.

Der englische Komponist Morton Feldman beabsichtigte im Jahre 1975, ein Werk Samuel Becketts zu vertonen. Beckett begegnete diesem Vorhaben mit anfänglicher Skepsis, ließ sich überreden und stellte dem Komponisten ein zwölfzeiliges Gedicht mit dem Titel »Neither« zur Verfügung. Feldman schrieb 1977 zu diesem Text eine einstündige Kurzoper mit gleichem Titel (Feldman, 1977/2000). »Neither« (deutsch: Weder-noch) fasst in hoher Verdichtung Becketts Werk zusammen und beschreibt den Charakter seines Tuns und Denkens eindrücklich.

1 Das hier paraphrasiert wiedergegebene Zitat von Samuel Beckett lautet im Original: »Try again. Fail again. Fail better« (Beckett, 1983: Worstward Ho. www.samuel-beckett.net/w_ho.htm, 11. 2. 2015).

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Neither: Weder-noch – keines von beidem »Hin und her im Schatten vom inneren zum äußeren Schatten Vom undurchdringlichen Selbst zum undurchdringlichen Nicht-Selbst – durch Weder-noch Wie zwischen zwei erleuchteten Herbergen, deren Türen beim Näherkommen sich sachte schließen, beim Abwenden sachte wieder aufgehen Von hier und dort herbei gewunken und abgewiesen Ohne Acht auf den Weg, allein auf den einen Schein und den anderen Ungehörte Tritte einziger Laut Bis schließlich für immer Halt, für immer fern vom Selbst und dem anderen Dann kein Laut dann sachte Licht unvermindert auf dem unbeachteten Weder-noch unaussprechliche Heimstatt« (Beckett, 2000b, S. 272).

In einer ersten Annäherung beschreibt das Gedicht Bewegungen oder besser: Bewegungen zur Nicht-Bewegung. Eine fiktive Person kann sein Gegenüber nicht wirklich erleben, die Resonanz des anderen bleibt unzureichend, droht das heranwachsende Selbst vielmehr zu überfluten. Man scheitert aneinander. Statt sicherer innerer Repräsentanzen breiten sich innere Schatten aus; ein unsicheres »Gefühl des Seins« erschwert die Suche nach dem anderen, das Selbst als Ausgangspunkt entwickelt sich unzureichend. Trotz aller Verlockungen und Versprechen erscheint das Leben unerreichbar, das Selbst vom Falschen überschwemmt. Auf alle Tritte und Schritte achtend, die Hinweise geben, das Ziel doch erreichen zu können – jedoch welches Ziel? Nach der Wahrheit, dem wirklich Realen oder der Ungetrenntheit vom anderen? Schließlich doch die Ohnmacht – die Kapitulation wird selbst zum Thema der Existenz und die Ära des »besseren Scheiterns« zieht herauf. Die Sprache, die Symbole erweisen sich jedoch als unzureichend, aber die Hoffnung wird nicht aufgegeben – bis schließlich das Weder-noch, »das Keines-von-beidem«, eben »eine unaussprechliche Heimstatt«, erreicht wird und »weiter gescheitert« werden muss. In der Opernversion beschrieben Kritiker dieses Werk eher als »Antioper«. Der Gesang wird derart gedehnt, dass der Text eigentlich nicht mehr zu erkennen ist. Die Stimme der Sopranistin breitet eher einen Klangteppich oder etwas Sphärisches aus – oft mit atonal erscheinendem Charakter. Soll durch diese Irritation die Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich angesprochen werden?

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Oder geht es noch weiter – wie einem Kommentar aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu diesem Werk zu entnehmen war: »[…] hat sich die Musik aus dem Staube gemacht oder ist sie selber gar zu Staub geworden; in einer Welt, die den Sinn verloren hat, wartet nur heillose Verstrickung oder Öde« (Büning, 2004, S. 27). Man scheitert – erst einmal umgangssprachlich –, wenn man nicht erreicht, was man erreichen will. Das Wort »scheitern« geht auf Scheiter zurück, eine Pluralform von Scheit. Im 16. Jahrhundert existierten zunächst die Verben »zuscheitern« und »zerscheitern«, in »Stücke brechen« – und diese Bedeutung kommt meinem Vorhaben näher; aber es geht noch grundsätzlicher: Hier soll es um das Scheitern am und mit dem anderen gehen, der Suche nach dem verlorenen Glück, was immer das auch bedeuten soll, und um die tiefe Melancholie eines Verlustes, die vielleicht dem Kommentar des österreichischen Dramatikers Thomas Bernhard (2009, S. 36) entspricht: »[…] kaum habe ich ein Ziel erreicht, merke ich, dass es wieder das falsche war«. Ich werde auf diesen Gedanken später noch eingehen. Wir haben es in unserem Leben und unserer therapeutischen Arbeit oft mit Menschen zu tun, die in ihrem Leben irgendwie scheitern: scheitern an ihren Vorstellungen, unbewussten Wünschen, ihren Lebenszielen, ihren Möglichkeiten, den Ansprüchen der Gesellschaft. Das Leben solcher Patienten scheint irgendwie in eine Sackgasse geraten zu sein. Auch in der Analyse gibt es keine Fortschritte, vieles scheint elliptisch zu verlaufen  – es entsteht keine wirkliche Entwicklung; Eine seltsam hintergründig melancholisch-depressive Stimmungslage beherrscht – oft indirekt – das Geschehen. Hier soll sich offensichtlich nicht zum Erfolg gescheitert werden. Vielmehr geht es um eine seltsame Form des Festhaltens an etwas, was kaum zu fassen ist, aber hoch wirksam erscheint. Hier sind Patienten gemeint, die sich – bewusst/ unbewusst – zu einem seelischen Rückzug entschlossen, eine vertikale Flucht in ihr Inneres angetreten haben. Dabei halten sie an konservierten, oft hermetisch abgeriegelten Idealen fest – seien diese erträumt oder aber tatsächlich erfahren; die äußere Realität wird letztlich als Zumutung erlebt und muss abgewehrt werden. Der Patient Thomas F., aufgewachsen in einer von Ehestreitigkeiten geprägten Familie, träumte sich von früh an in Figuren großer Musiker und Tennisspieler,

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brachte es real in diesen Bereichen selbst zu beachtlichen Erfolgen, kannte die melancholischen Texte von Kurt Cobain, dem Boss der Rockgruppe Nirvana, auswendig. Er war besessen von einem Inselgefühl, dass er mit seiner Freundin zu realisieren trachtete. Dieses Gefühl konservierte und schützte er – trotz aller Enttäuschungen – mit allen Mitteln; alles andere im Leben erlebte er als sinnlos. Anastasia S., 22 Jahre, Migrantin aus der ehemaligen UDSSR, Studentin der Sozialarbeit – eine intelligente Frau, traumatisiert durch einen trinkenden und gewalttätigen Vater, erlebte sich als unfähig zu studieren, verschlief ganze Tage, erlebte ihre Realität als wenig freudig oder lebenswert. Sie passte sich irgendwie ihrer Lebenswelt an, blieb sich dabei aber fremd. Sie geriet mit ihrem Studium in hoffnungslose Rückstände, erzählte sich das Leben schön: Sie werde die Prüfungen auch ohne Vorbereitungen schaffen, erging sich in hohe ethische, moralische und philosophische Diskurse, die sie hermetisch abriegelte in der Begegnung mit mir, und schützte sich damit vor den Unabwägbarkeiten der Welt. Sie saß am liebsten in einem Lehnstuhl vor ihrem PC, surfte ziellos im Internet herum und das am liebsten voll bekifft.   Sie konnte sich nicht entscheiden, diesen Zustand aufzugeben, passte sich zwischenzeitlich ihren studentischen Aufgaben an, fühlte sich in Kontakten mit anderen Menschen schnell fragmentiert, sehnte sich nach einem Zustand des folgenlosen Wartens, der Aufhebung von Zeit und Raum zurück.

Auf diese klinischen Fälle werde ich nicht weiter eingehen, um mich dem Werk Becketts intensiv zuwenden zu können; die Verbindungen zu den klinischen Fällen erscheinen dabei aber offensichtlich. Samuel Becketts Arbeiten stellen eine wahre Fundgrube für das Studium primärer Störungen und Desaster dar, auf die seine Protagonisten – und auch er persönlich – überwiegend mit unterschiedlichen Formen des seelischen Rückzuges reagieren. Becketts Gedanken und Beschreibungen können den Zugang zu diesen oft zu beobachtenden Reaktionsweisen von Menschen erweitern. Und um diesen speziellen Aspekt soll es im Folgenden gehen. Mit dieser Einschränkung muss einerseits eine für Beckett-Experten möglicherweise schwierige Einengung seiner Werke in Kauf genommen werden. Andererseits ist es hilfreich, zu erfahren, dass ein wichtiger Ansatz der Beckett-Rezeption aus Überlegungen der Melancholieforschung herrührt (Veit, 2002). Darüber hinaus zwingt uns die Auseinandersetzung mit Beckett existenzielle Fragen auf, zu der wir alle Stellung nehmen müssen, ob wir wollen oder nicht. Die Aufführungen Becketts sind bis zum heutigen Tage hochaktuell, führen oft zu Skandalen, spalten die Zuschauer und Kritiker in Lager der Enthusiasten oder der fundamentalen Gegner. Schauspieler, die die großen Beckett-Rollen spielen, gelten gemeinhin als geadelt.

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Beckett – ähnlich wie Kafka – hat sich intensiv mit existenziellen Fragen des Menschseins – und dabei vornehmlich mit seinem Scheitern und den Folgen – auseinandergesetzt. Beckett wurde und wird oft als Prophet noch unentdeckter Wahrheiten gelesen, »als mönchischer Heiliger der Literatur, rätselhafter Künder der Dunkelheit« – wie Daniel Kehlmann (2006, S. 48) in einem Aufsatz über Beckett schrieb. Becketts Theaterstücke »Warten auf Godot« (1948/1976), »Endspiel« (1956/1974), »Das Letzte Band« (1958/1974) oder »Happy Days« (1961) haben einen hohen Bekanntheitsgrad. Im Literaturbetrieb genießen die Romane »Murphy« (1938/2013), »Molloy« (1954a), »Malone stirbt« (1954b) oder »Der Namenlose« (1954c) hohe Wertschätzung. Ebenso hat Beckett eine Reihe von Hörspielen geschrieben und Kurzfilme gedreht. Becketts Arbeiten beschäftigen sich mit dem Scheitern am anderen, der Nichtbeachtung durch das Gegenüber, dem Misslingen menschlicher Begegnungen und Interaktionen vom Zeugungsakt an. Er beschreibt das Scheitern an und mit sich selbst und das Scheitern auf der Suche nach »Wahrheit und Wirklichkeit«, was immer das auch sein mag. Er beschreibt die menschliche Existenz in ihrem eisigen Dasein und die Notwendigkeit des Überlebens, geprägt von einer Haltung des »Immer-weiter-machen-müssens« (Kehlmann, 2006, S. 48). Beckett lässt seine Protagonisten oft als seltsame Typen auftreten, heruntergekommene Clochards, gescheiterte Schriftsteller, komische Typen und Käuze, scheinbar nicht von dieser Welt. In den späteren Werken reduziert er Menschen teilweise auf Bruchstücke und Fragmente. Die Figuren in den Stücken Becketts leiden unter einem unsicheren »Seinsgefühl« auf der Welt. Sie suchen die Isolation, drohen aber gleichzeitig zu verhungern; wünschen sich Erlösung, wissen aber nicht welche. Sie phantasieren sich in einen Zustand der Vorgeburt zurück, und/oder in einen Zustand vor jeder Bedeutung – auch an diesem Vorhaben scheitern sie und finden – vor allem in den Spätwerken Becketts – im Weder-Noch oder im »Keines-von-beiden« eine karge »Heimstatt«, so wie dies in dem zu Beginn zitierten Gedicht anklingt. Neben den oft schwer erträglichen Inhalten sind die Stücke nicht selten geprägt von einer seltsam erscheinenden Form des Stillstandes, einer kreisförmigen, elliptischen Sprache, in der die Negation des Gesagten eine große Rolle spielt. So imponieren Becketts Stücke

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neben den Inhalten vor allem durch literarische Formen, die mit den Inhalten zusammenfallen und/oder den latenten Sinn oder Nicht-Sinn transportieren. Dabei wird der Rezipient in das Geschehen oder NichtGeschehen hineingezogen und oft ratlos zurücklassen. Mir fällt hier überwiegend die Rolle eines suggestiven, tiefenpsychologisch-orientierten Lotsen oder Moderatoren zu, der im Wesentlichen Teile der Arbeiten Becketts zu dem gestellten Thema sprechen lassen möchte. In diesem Sinne wurden willkürlich Textfragmente aus seinen Schriften wie auch aus seiner Biografie herausgesucht und – einer Collage ähnlich – zusammengestellt.

Über das frühe Scheitern am anderen Kaum ein Autor hat das verunglückte Leben vom Zeugungsakt an, das geburtliche und nachgeburtliche Sein, den »Nachteil, geboren zu sein« (Cioran, 1979), das »In-die-Welt-geworfen-Sein« (Heidegger), das Existieren-und-Weitermachen-Müssen so eindrücklich formuliert wie Beckett. Der folgende Ausschnitt aus dem Theaterstück »Nicht Ich« (Beckett, 1976) zeigt den Monolog eines riesigen, auf der Bühne installierten sprechenden Mundes, der das verunglückte Leben einer Frau vom Zeugungsakt an beschreibt. In diesem Prozess geht die Hoffnung auf Gnade und der Glaube an Gott verloren und mündet in die Schuldfrage über ihre jetzige Lebenssituation (Beckett, 1976, S. 239 f.): » … raus … in die Welt … diese Welt … winzig kleines Ding … vor der Zeit … in ein gottver- … was? … Mädchen? … ja … winzig kleines Mädchen … in dies … raus in dies … vor der Zeit … gottverlassenes Loch … namens … namens … egal … Eltern unbekannt … nie von ihnen gehört … er verschwunden … verduftet … kaum dass seine Hose wieder zu war … sie genauso … acht Monate später … fast auf den Tag … also keine Liebe … davon verschont … keine Liebe wie sie gewöhnlich ausgelassen wird am sprachlosen Kind … zu Haus … nein … auch was das angeht überhaupt keine Liebe … weder da noch später … also das Übliche … nichts Erwähnenswertes … – war auf einmal Dunkel … und wenn auch nicht gerade fühllos … fühllos, fühllos … denn sie hörte immer noch das Sausen … aber so abgestumpft … dass sie nicht wusste … welche Haltung sie hatte … – und wenig später: oh lange danach … plötzlich klar … da sie ja erzogen worden war … mit den anderen Waisen … im Glauben … an einen gnädigen (kurzes Lachen) … Gott … (volles Lachen) … … (sie wusste oft nicht) … … welche Haltung sie hatte … ob sie stand oder saß …

Scheitern, besser scheitern, weiter scheitern133 aber das Gehirn … ihr erster Gedanke war … oh lange danach … plötzlich klar … da sie erzogen worden war … mit den anderen Waisen … im Glauben … an einen gnädigen Gott – (Lachen) Gott … erster Gedanke … plötzlich klar … sie würde bestraft … für ihre Sünden …«

So geht es in dem Text elliptisch weiter: Die Verzweiflung über ihre aktuelle Lage und das uneingelöste »göttliche Versprechen« platzen förmlich aus der Protagonistin heraus. Sie kann sich kaum reflektieren, ein wirkliches Ich scheint zu fehlen, stattdessen wiederholt sie sich ständig, kommt wieder zum Anfang, sucht verzweifelt Worte, äußert sich in Fragmenten, hält sich notdürftig zusammen, von Schuldgefühlen gepeinigt – die Zeit scheint nicht zu vergehen. Ein zweites Beispiel über einen verunglückten Empfang auf der Welt aus dem Roman »Molloy« (Beckett, 1954a, S. 23 f.): »Ich bin im Zimmer meiner Mutter. Ich wohne jetzt selbst drin. Wie ich hierhergekommen bin, weiß ich nicht. In einer Ambulanz vielleicht, bestimmt mit irgendeinem Gefährt. Man hat mir geholfen. Allein hätte ich es nicht geschafft. […] Ich weiß überhaupt nicht viel, offen gestanden. Über den Tod meiner Mutter zum Beispiel. War sie schon tot, als ich ankam? Oder ist sie erst später gestorben? Ich meine tot, wie jemand, den man begräbt. Ich weiß es nicht. Vielleicht hat man sie noch nicht begraben. Wie dem auch sei, jetzt bewohne ich ihr Zimmer. Ich schlafe in ihrem Bett. Ich benutze ihr Nachtgeschirr. Ich habe ihren Platz eingenommen. […] Ich bin auf dem Weg, sie zu besuchen – warum? Weiß ich nicht – ich will zu der Frau […], die mir das Leben gegeben hat, durch das Loch in ihrem Hintern, wenn ich mich recht erinnere. Erster Beschiss … Meine Mutter sah mich ganz gerne, sie empfing mich ganz gerne, denn sehen konnte sie schon lange nicht mehr«.

In hochakzentuierter Form erinnert dieser Auszug an Beschreibungen von André Green über die »tote Mutter« und die »weiße Depression« (Green, 2004). In seinem späten Prosawerk »Aufs Schlimmste zu« lässt uns Beckett (2000c) an – möglicherweise seinen eigenen – lebensgeschichtlich frühesten Imaginationen der Dunkelheit und Isolation teilnehmen: »Die Stimme erzeugt einen Schimmer. Das Dunkel lichtet sich, wenn sie spricht: Verdichtet sich, wenn sie verebbt. Lichtet sich, wenn sie wieder zu ihrer geringen maximalen Lautstärke anschwillt. Verfinstert sich vollends, wenn sie verstummt« (S. 333). Beckett behauptete, sein Gedächtnis reiche in die Zeit vor seiner Geburt: »Ich habe eine klare Erinnerung an meine Existenz als Fötus.

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Diese pränatalen Erinnerungen waren nicht, wie man erwarten würde, mit Empfindungen der Geborgenheit verbunden, sondern ganz im Gegenteil mit Erstickungs- und Gefangenschaftsgefühlen: Es war ein Dasein, wo keine Stimme, keinerlei Bewegung mich aus der Agonie und Dunkelheit, der ich ausgeliefert war, befreien konnte. Die Befreiung wäre demgemäß der Geburtsvorgang: als Flucht in die Welt zu verstehen« (Beckett, zit. nach Rathjen, 2006, S. 7). Diesen vorgeburtlichen Seinszustand haben wir – jeder für sich – irgendwie erlebt, wir wurden entbunden, mal besser, mal schlechter: von was? Manche sagen vom Paradies, wenn man es so nennen will, manche sagen auch, sie hätten das Paradies verloren, manche fühlen sich vertrieben – wenn es denn ein Paradies war. Dieses intrauterine Daseinsgefühl wird in der psychoanalytischen Literatur eher als Zustand des Schutzes und der anstrengungsfreien Befriedigung verstanden. Die Geburt leitet demnach den ersten und frühesten Verlust in unserem Leben ein, den Verlust eines Seinsgefühls, das uns Hülle und Fülle, Sorglosigkeit, Versorgung, Wärme geboten hat. Dabei hat es etwas Diffuses, kaum Greifbares, aber irgendwie Energiegeladenes, manchmal Mythisches an sich. Wir haben es mit einem Paradoxon zu tun: Wir waren dabei, aber wissen es nicht – jedenfalls nicht bewusst – gleichzeitig hat es sich in uns eingeschrieben. Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk (2006) spricht von einer »Tätowierung«, die unser Leben nachhaltig bestimmt. Viele Autoren – ich erinnere an Ferenczi (1924/1979, 1913/1979) – glauben, dass die Rückkehr in diesen Seinszustand eine letztendliche Motivation des Menschen in seinem Tun darstellt. Und für den Künstler hat Schiller (1795/2000, S. 34 f.) in dem 9. Brief seiner ästhetischer Erziehung daraus gleich einen Auftrag formuliert: »Der Künstler sollte frühzeitig seiner Mutter Brust entrissen werden, um mit der Milch eines besseren Alters […] zu reifen. […] Zum Manne gereift […] wird er von der Gegenwart den Stoff zwar nehmen, aber die Form von einer edleren Zeit, ja jenseits aller Zeit, von der absoluten, unwandelbaren Einheit seines Wesens entlehnen«. Projizieren Menschen ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben auf dieses vermeintliche Paradies – und klammern sich an dieses Phantasma der Erlösung und Unsterblichkeit? Und für Beckett werden wir im weiteren Verlauf sehen, dass er diese Imaginationen und die damit verbundenen Gefühle als hoch ambivalent erlebt: als Wunsch und Schrecken zu gleich.

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Zurück zu Beckett: Seine Geburt fällt auf ein symbolisches Datum, zu dem er selbst sagt: »Geboren wurde ich Karfreitag, den 13. April 1906, als die Nacht herabsank« (zit. nach Rathjen, S. 8). Sein Blick auf die Welt: Vorher war es schlecht, danach wird es auch nicht besser und der Tod ist auch keine Lösung. Beckett stattet seine Protagonisten überwiegend mit Daseinsbeschreibungen aus, die die Welt und die menschliche Existenz nicht als Orte wenigstens geglückter Fluchten darstellen, geschweige denn als mögliche kreative, lebensbejahende oder gar lustvolle Verläufe zwischen Geburt und Tod. Er versteht das Leben als Jammertal, ohne wirkliche Hoffnung; vielmehr muss das Leben irgendwie ausgehalten werden. Hier möchte ich einige Beispiele aus den Werken Becketts nennen: Sein dritter Roman »Murphy« – auf den ich später noch eingehen werde –, geschrieben zwischen 1936 und 1938, beginnt mit dem Satz: »Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues« (Beckett, 1938/2013, S. 9). Oder eine Passage aus dem Bühnenstück »Endspiel«: Hier lässt Beckett Hamm – einen der Hauptprotagonisten – sagen: »Aber überlegen Sie doch, überlegen Sie, Sie sind auf der Erde, dagegen gibt es kein Mittel« (Beckett, 1956/1974, S. 147). Und schließlich »Warten auf Godot« (Beckett, 1948/1976): Die beiden Landstreicher Estragon und Wladimir, die Hauptprotagonisten dieses Stücks, können sich zu nichts aufraffen, ergehen sich in mehr oder weniger nichtssagend erscheinenden Dialogen, beklagen ihre Existenz, hoffen auf Erlösung durch eine geheimnisvolle Figur: Godot. So warten sie und leiden, philosophieren über ihre Existenz, das Erleben von Raum und Zeit scheint nicht zu existieren: Estragon will wieder einmal irgendetwas tun. Er versucht aufzustehen, beschwert sich über die damit verbundene Mühe, verspürt Schmerzen, beklagt den Zustand seiner Füße, bittet Wladimir, ihm die Schuhe auszuziehen und schläft ein – er wird wieder wach und sagt: »›Habe ich geschlafen, während die anderen litten? Schlafe ich denn in diesem Augenblick? Wenn ich morgen glaube, wach zu werden, was werde ich dann von diesem Tag sagen? Dass ich mit meinem Freund Estragon an dieser Stelle bis in die Nacht auf Godot gewartet habe? […] Wahrscheinlich. Aber was wird wahr sein von alledem? […] Rittlings über dem Grabe geboren und eine schwere Geburt: Aus den Tiefen der Grube legt der Totengräber träume-

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risch die Zangen an. Man hat Zeit genug, um alt zu werden. Die Luft ist voller Schreien‹« (Beckett, 1948/1976, S. 95 f.).

In diesem Zusammenhang muss selbstverständlich der grandiose Monolog des Lucky über die Weltverdrossenheit aus dem gleichen Theaterstück genannt werden, der aus Platzgründen an dieser Stelle nicht wiedergegeben werden kann. Vor diesem Hintergrund beschreibt Daniel Kehlmann (2006) Beckett – wie sein Essaytitel schon sagt – als einen »Barden des Weitermachens«.

Becketts Biografie Was war Beckett für eine Person, dass er zu derartigen Weltsichten gelangte, dass er sein Publikum so extrem polarisieren konnte? James Knowlson (2001) hat eine ausführliche Biografie über Samuel Beckett geschrieben, auf die ich mich im Folgenden beziehen werde. Wie bereits gesagt, wurde Beckett an Karfreitag, dem 13. April 1906, in einem protestantischen Elternhaus geboren. Sei Vater war Baukalkulator, später Unternehmer im Baugewerbe, seine Mutter Hausfrau, ein Bruder vier Jahre älter. Der Vater war ein tatkräftiger, beruflich fleißiger, pragmatischer Mann. Er kümmerte sich um die Familie, begeisterte seinen Sohn Samuel für den Sport und favorisierte hier besonders das Boxen, das Fußballspiel und den Golfsport. Gleichwohl muss auch von einem traumatischen Erlebnis berichtet werden: Samuel sollte als Fünfjähriger das Schwimmen erlernen, der Vater zwang ihn, ins kalte Wasser zu springen, ohne dass Samuel schwimmen konnte. Später spricht Beckett von Todesangst, der Vater habe ihn zu lange zappeln lassen. Der Vater starb 1933 an seinem zweiten Herzinfarkt – ein großer Schlag für Beckett. Die Mutter – May Beckett – neigte zu außerordentlicher Strenge, verfügte über ein zum Jähzorn tendierendes Temperament, setzte penibel Sittlichkeits- und Benimmregeln durch, hatte einen schroffen protestantischen Glauben, litt unter heftigen Stimmungsschwankungen, schlief von ihrem Mann getrennt. Wer sich ihr unterwarf, konnte gut leben, wer nicht, wurde mit aller Härte verfolgt. Ihren Sohn Samuel erlebte sie als einen störrischen, eigensinnigen Jungen. Bis weit ins Erwachsenenalter kontrollierte sie Leben und Arbeit ihres Sohnes, verfolgte ihn mit unnachgiebiger Kritik.

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Die Beziehung der Eltern war vornehmlich auf das Funktionieren der alltäglichen Abläufe abgestimmt, nicht ohne Liebe, aber eher kameradschaftlich. Der ältere Bruder Frank war der Stärkere und Lebenspraktischere von beiden. Er unterstützte Samuel in den späteren Jahren und half ihm immer wieder aus misslichen Lebenssituationen heraus. Beckett selbst beschreibt seine Kindheit außerordentlich ambivalent: »Ich habe eine glückliche Kindheit verlebt, obwohl ich zum ›Glücklichsein‹ nicht sehr begabt war. Meine Eltern haben alles getan, wodurch man ein Kind glücklich machen kann. Aber ich habe mich oft recht allein gefühlt« (zit. nach Knowlson, 2001, S. 504). Der folgende Auszug aus dem Prosatext »Der Ausgestoßene« (Beckett 2000a) beschreibt einen frühen, bizarr erscheinenden kindlichen Kampf um die eigene (möglicherweise Becketts eigene) Autonomie: »Ich hatte also die unangenehme Gewohnheit, nachdem ich meine Hose bepisst oder beschissen hatte, was mir regelmäßig gegen 10 Uhr […] passierte, unbedingt weitermachen und meinen Tag beenden zu wollen, als ob nichts los wäre. Der bloße Gedanke, mich umzuziehen oder mich meiner Mama anzuvertrauen, die nichts lieber getan hätte, als mir zu helfen, war mir unausstehlich, ich weiß nicht warum, und bis zum Schlafengehen schleppte ich mich mit dem Ergebnis meiner Zügellosigkeit herum, das brennend, verkrustet und stinkend zwischen meinen kleinen Oberschenkeln oder meinen Arschbacken klebte. Daher die behutsamen, steifen und auseinanderstrebenden Bewegungen der Beine und das verzweifelte Hin und Her des Oberkörpers, das wahrscheinlich ausgleichen und glauben machen sollte, ich sei sorglos, ganz vergnügt und munter, und dass meine Erklärungen hinsichtlich der Ungelenkigkeit unten auf das Konto meines ererbten Rheumas gingen« (S. 105).

Kaum konnte er lesen, zog es ihn in eine Turmruine, und er gab sich seiner Lektüre und seinen Phantasien hin. Die erfolgreiche Schulzeit war besonders durch sein Interesse an der Literatur geprägt. Er entwickelte sich zu einem guten Sportler, wurde zum Kapitän in verschiedenen Mannschaftssportarten gewählt. In den späteren Schuljahren nahm seine Einzelgängerschaft zu. Seine Kameraden und Lehrer beschrieben ihn als arrogant, spröde. Gleichzeitig wurde er als spannend und attraktiv erlebt, und alle machten seine Allüren irgendwie mit. Beckett besuchte später ein Internat, litt unter Heimweh. Hier holte ihn die Realität ein: Als Neuankömmling musste er grausame Rituale

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durch seine Mitschüler über sich ergehen lassen, seine stärker werdende Schlagkraft als Boxer bewahrte ihn vor Schlimmerem. Auf Dublins Straßen herrschten politisches Chaos und Gewalt, und die Bevölkerung war von großer Armut betroffen. Im Angesicht dieser Vorfälle fiel Beckett förmlich aus allen Wolken: Er konnte den täglichen Rückzug ins Bett mit seinen Büchern kaum erwarten. Das Folgende in Stichworten: 1923 begann er das Studium der Geisteswissenschaften, sein großes Talent wie seine mürrische Zurückgezogenheit wurden immer wieder von seinen Studiengenossen, Professoren und Förderern betont, die sich durch seine Art nicht abschrecken ließen. Er konnte sich lange nicht entscheiden, Hochschullehrer zu werden, wechselte ständig seine Stellen. Die ökonomischen Erfordernisse forderten ihm Arbeiten ab, die er hasste; er fühlte sich unterfordert. Den Mut, freier Schriftsteller zu werden, hatte er aber lange nicht. Mutter May legte größten Wert auf die wirtschaftliche Seite seines Tuns, und es kam zu großen Auseinandersetzungen. Beckett riss sich immer wieder los, versuchte es in Frankreich, dann in London und wieder in Dublin, wurde schnell unzufrieden, kehrte reumütig in die Familie zurück. Die Mutter lag ihm in den Ohren oder schwieg eiseskalt. Nach einer zweijährigen analytischen Psychotherapie bei Bion, die gleich zur Sprache kommen wird, ging Beckett nach Frankreich und begann, in französischer Sprache zu schreiben. In Frankreich schloss er sich dem Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht an, überlebte ein Attentat nur knapp. In den 1960er Jahren erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Beckett hasste die Öffentlichkeit und schickte seinen Lektor zur Preisübergabe nach Stockholm. 1989 verstarb er in Dublin. Frauen gegenüber, die er nicht gut kannte, war er befangen, nie machte er sich an eine Studentin heran. Seine erste Liebe war Ethna McCarthy, die er auf der Universität kennenlernte. Weitere Frauennamen seien hier nur genannt: Peggy Sinclair, eine Tochter seiner Tante, seine Cousine. Die Mutter war nicht begeistert über diese Frauenwahl. Ein Verhältnis mit der Tochter von James Joyce – Lucia – beendete er bald wenig galant. Das trübte sein gutes Verhältnis zu Joyce für einige Zeit. Peggy Guggenheim, sieben Jahre älter als Beckett, äußerst wohlhabend, kunstbesessen, als Kunstmäzenin bekannt, hatte einen Narren an ihm gefressen, wollte ihn unbedingt für sich gewinnen. Da war sie bei Beckett aber an der falschen Adresse.

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Eine leidenschaftliche Affäre hatte er mit Pamela Mitchell: »Sei mir gut, aber nicht zu gut, ich bin es nicht wert«, sagte Beckett zu ihr einmal (zit. nach Knowlson, 2001, S. 326). Musste er ängstlich die Liebesprojektionen dieser Frau zurückweisen, um sich nicht in ihrem Werben zu verlieren? Bis zu seinem Tode war Beckett dann mit Suzanne Deschevaux-Dumesnil zusammen: Die Beziehung wird als kameradschaftlich und leidenschaftslos beschrieben; sie unterstützte Beckett, wo sie nur konnte – vor allem im Bemühen, seine Werke an Verlage und Theater zu bringen. Irgendwann wurde Suzanne gewahr, dass Beckett 18 Jahre lang eine geheime Beziehung zu Barbara Bay pflegte. Verbittert zog sie sich zurück, und er war voller Schuldgefühle. Ein kurzes Gedicht Becketts (1959, S. 59) beschreibt möglicherweise sein ambivalentes Verhältnis zu Frauen: Sie kommen Andere und gleiche Bei jeder ist es anders und ist es gleich Bei jeder ist das Fehlen der Liebe anders Bei jeder ist das Fehlen der Liebe gleich

Der Gesundheitszustand Becketts verschlechterte sich zusehends: Narzisstische Depressionszustände, Atembeschwerden, Herzrhythmusstörungen, Schlaflosigkeit, nächtliche Ängste und Furunkel wurden diagnostiziert. Diese Symptomatik verschärfte sich nach dem Tod von Peggy Sinclair und seines Vaters massiv. Darüber hinaus fand er nur schwer Verleger für seine ersten Romane. 1933 begann er eine analytische Psychotherapie bei Bion in London: zwei Jahre, dreimal wöchentlich. Seine Mutter bezahlte die Behandlung. Beckett stürzte sich mit Elan auf die Literatur diverser Analytiker. Freud nannte er besonders gerne »Freudchen« und zu Adler meinte er weniger charmant: »Ich bin mit Adler fertig. Noch so ein eingleisiger Geist. Nur die Dogmatiker scheinen es so klar zum Ausdruck bringen zu können« (zit. nach Knowlson, 2001, S. 504). Von Otto Ranks Beschreibungen über die Angst des allein gelassenen Kindes im dunklen Raum fühlte sich Beckett dafür umso mehr verstanden. In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass Beckett im Laufe der Zeit allen philosophischen und psychologischen Konzepten

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zutiefst misstraute: Er fühlte sich enttäuscht in seiner Suche nach »Wirklichkeit und Wahrheit«, konnte sich mit den begrenzten Reichweiten unterschiedlicher Theorien und Vorstellungen nicht abfinden. So kritisierte er an einer Stelle Freuds »verderbliche Glücksvorstellungen« (zit. nach Knowlson, 2001, S. 234 f.). In dem Theaterstück »Warten auf Godot« lässt Beckett sich über die oft absurden Zufälligkeiten des Lebens aus: Anspielend auf die Kreuzigungsszene Jesu lässt er Wladimir sagen, dass ein Dieb erlöst worden sei, der andere nicht, weil er im richtigen Augenblick das Richtige gesagt habe. Und weiter: Die Geschichte sei aber nur von einem der vier Evangelisten so erzählt worden, die anderen hätten eine ganz andere Version beschrieben. Warum solle man ausgerechnet ihm glauben? (Beckett, 1948/1976, S. 14). In »Molloy« sagt der Hauptprotagonist: »Alles bleibt letztlich hohl […]. Denn nichts wissen, das hat keine Bedeutung, nichts wissen wollen auch nicht, aber nichts wissen können, wissen, dass man nichts wissen kann, das ist die Tür, durch die der Frieden in die Seele des Forschers ohne Wissbegierde gelangt« (Beckett, 1954a, S. 23 f.). Als zentraler Konflikt in der therapeutischen Arbeit stand Becketts hochambivalente Beziehung zu seiner Mutter. Nach Ansicht Bions schien Beckett im Zentrum der Mutter zu stehen, aber er hatte keine Bedeutung für sie. Extrem widersprüchliche Tendenzen machte Bion bei seinem Patienten aus: die fast fötal zu nennende Abhängigkeit von der Mutter und der ebenso starke Unabhängigkeitswunsch: »Mit ihrer Affenliebe hatte sie ihren Sohn auf ein Podest gestellt, sein Überlegenheitsgefühl gefördert, während sie ihm zugleich klaustrophobisch die Luft nahm«, so Bion (zit. nach Knowlson, 2001, S. 234 f.). Beckett selbst beschrieb seinen Hang des »Nicht-Erwachsenwerden-Wollens« als eine Peter-Panitis-Haltung (also eine Assoziation an die literarische Figur des Peter Pan). Hinter all dem vermutete Bion noch ein tiefgreifenderes Trauma, das in der Therapie nicht aufgedeckt werden konnte und eine Lücke im Verständnis von Becketts Leben und Schaffen darstellt (Knowlson, 2001, S. 234 f.). Im Verlauf der Arbeit wurde Beckett anderen Menschen gegenüber freundlicher und verbindlicher. In den späteren Jahren, als er finanziell einigermaßen gesichert war, half er Freunden finanziell, wo er nur konnte. Ein tiefes Gefühl von Unwert jedoch blieb. Nach einer Deutschlandreise 1936/37 sagte er: »Die warme Aufnahme in vielen

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mir wohl gesonnen Gruppen verschärfte indessen noch mein tief sitzendes Gefühl, selbst isoliert und ausgestoßen zu sein. […] Ich bin immer deprimiert und mit Unwertgefühlen geschlagen, angesichts der wunderbar angewandten Energie dieser Leute. […] Im Vergleich dazu bin ich völlig alleine und ohne Lebenszweck. Und pathologisch träge und lasch und meinungslos und konsterniert« (zit. nach Knowlson, 2001, S. 326). Durch die analytische Arbeit konnte seine tiefe melancholische Haltung nicht wirklich aufgelöst werden. Es entstand die Idee, seine einzelgängerische, melancholische Grundhaltung für seinen künstlerischen Schaffensprozess auszubeuten – doch dazu gleich mehr. Die Therapie hatte dann ein unschönes Ende: Die Symptomatik dauerte an, in Intensität und Frequenz deutlich schwächer, Beckett schien jedoch unzufrieden. Die Auseinandersetzungen mit seiner Mutter eskalierten wieder einmal, Bion riet ihm von einer bevorstehenden Reise zu ihr ab, um die notwendige Trennung von ihr vorzubereiten. Fazit: Beckett fuhr zu seiner Mutter, brach die Analyse ab, und Bion war zutiefst verletzt. Wenn auch erst zehn Jahre später, so fand genau diese Idee, das Einzelgängerische und die Melancholie zur Grundlage seines Schaffens zu machen, ihren künstlerischen Ausdruck in einer Passage seines Theaterstücks »Das letzte Band« (1958/1974). In diesem sieht der Zuschauer auf der Bühne einen heruntergekommenen Schriftsteller: Sein Name ist Krapp, äußerlich einem Clochard ähnlich, sein Zimmer karg bis ärmlich eingerichtet. Er scheint sich zu langweilen, Trostlosigkeit bestimmt das Nicht-Geschehen auf der Bühne. Er trinkt zu viel Alkohol, hat eine Vorliebe für Bananen: Entweder er isst sie oder rutscht darauf aus oder benutzt sie zu sexuellen Anspielungen. Er beschäftigt sich überwiegend mit seinen Erinnerungen. Hierbei hilft ihm ein Tonbandgerät, auf dem er seine Gedanken und Episoden aus den vergangenen Jahren und Jahrzehnten festgehalten hat. Er hört diese Begebenheiten immer wieder ab, kommentiert sie mit Trauer oder Verachtung seiner selbst. Dabei bleibt er vor allem an einer Tonbandaufzeichnung über eine vergangene Liebesbeziehung hängen, die er beendet hatte. Die wirklichen Gründe bleiben im Unklaren, aus dem Text erfahren wir lediglich: Es ging nicht mehr. Krapp hört besonders folgende Szene immer wieder ab: Er liegt mit der Frau auf einem Boot, genießt den Sexualakt und vor allem das Schweben

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des Bootes auf dem Wasser, als bliebe die Zeit stehen. Diesen Erinnerungen hängt er nach. Die Frau bekommt in dem ganzen Stück keinen Namen, es geht um ein Gefühl, nicht um eine Person. Das Band stoppt der Schriftsteller immer wieder, nimmt es ab, legt es weg, holt es wieder, legt es wieder von neuem auf usw. Er genießt die Erinnerungsbilder, gibt sich seinem jetzigen Zustand des Rückzuges hin, träumt von der Sexualität, mehr noch vom Eintauchen in die Augen der Frau. Gleichzeitig verachtet er sich, um die Frau nicht intensiver geworben zu haben. Stattdessen verzettelt er sich in endlosem Deuten und Verwerfen seines Tuns und Denkens. Und sperrt sich und die Frau bis zur Agonie ein. Beckett (1958/1995, S. 161) lässt Krapp an einer Stelle sagen: »›Spirituell ein Jahr tiefer Schwermut und Not bis zu jener denkwürdigen Nacht im März, am Ende der Mole, im heulenden Wind, ich werde es nie vergessen, als mir plötzlich klar wurde: Die Erleuchtung, endlich. Mir wurde endlich klar, dass das Dunkel, mit dem ich immer gekämpft hatte, um es zu bezwingen, in Wirklichkeit mein Bestes ist – bis zu meinem letzten Atemzug unzerstörbare Verbindung von Sturm und Nacht mit dem Licht der Erkenntnis und dem Feuer‹«.

Mit dem Tonband als Medium wird die Isolation, der seelische Rückzug und letztlich das Dunkel für Krapp zu einem realen Gegenüber. Jetzt rückte Beckett Ohnmacht und Unwissenheit in den Mittelpunkt seines Schreibens. Die Dunkelheit, nicht mehr das verzweifelt gesuchte Licht, wurde Becketts bester Verbündeter. Und womöglich ist diese Station Becketts der Ausgangspunkt für sein »besseres Scheitern«. Der deutsche Philosoph Rüdiger Safranski hat in einem Kommentar zu seiner neuen Goethe-Biografie Folgendes geschrieben: »Ich will den Prozess verstehen, wie das Werk aus dem Leben […] des Künstlers […] herauswächst, sich vom Autor löst und Selbständigkeit gewinnt, um dann aber doch ins Leben wieder zurückzuschlagen. Zuerst schafft ein Autor sein Werk, dann verändert das Werk seinen Autor« (Safranski, 2014). Dieser Aspekt wird in der Aussage Krapps und letztlich für das weitere Schaffen Becketts an dieser Stelle konstitutiv. Becketts eigene Offenbarung findet somit in Krapps Erleuchtung ihren Ausdruck. Biograf Knowlson legt noch Wert auf folgende Differenzierung: Becketts eigene Erleuchtung habe konkret im Zimmer seiner Mutter stattgefunden und nicht auf einer Mole wie bei Krapp (Knowlson, 2001, S. 444).

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Oben hat Bion auf die tiefe – letztlich nicht aufgelöste – Melancholie Becketts hingewiesen. Julia Kristeva, eine bekannte zeitgenössische, französische Psychoanalytikerin, hat in ihrem Buch zur Melancholie (2007) eine zutreffende Beschreibung gefunden, die wichtige Hinweise auf Becketts Erleben und das seiner Protagonisten gibt: Wenn wir Menschen in unseren Beziehungen einigermaßen liebevolle, kontinuierliche und stabile Beziehungen erfahren haben und Identifikationen außerhalb des Mütterlichen finden, können wir die Getrenntheit verneinen: Wir wissen, dass wir die Mutter verloren haben, verneinen dies aber und erschaffen die Mutter als Symbol, als Erinnerung, als Sphäre, partiell immer wieder aufs Neue. In vielen Varianten können wir uns aufmachen, in die Identifikation mit dem Vater oder, wie Freud sagte, in die Identifikation mit dem archaischen Vater, in die Welt der Symbole und Ordnungen eintreten und kreativ damit umgehen. Und bezogen auf diese frühe Trennung von unseren Müttern sind wir Menschen – Kristeva zufolge – letztlich alle von Grund auf Melancholiker; alle folgenden Verluste in unserem menschlichen Leben bauen auf diesem ersten auf. Und so lohne es sich nicht, nach dem Sinn des Verlustes zu fragen – der Sinn des Lebens ergebe sich vielmehr aus dem Schmerz dieses frühen Geschehens. Aber leider gibt es Menschen, die sich mit diesem Verlust nicht abfinden können und die beschreibt Kristeva als verleugnende Verneiner: Ich habe Mutter verloren, verleugne dies, kann mich nicht abfinden, suche sie möglichst konkret im Leben, habe keine wirklich befriedigenden Identifikationen in der Welt gefunden. Solche Menschen geben die Sehnsucht nach der konkreten Mutter nicht wirklich auf, können der übergroßen Nähe zur Mutter nicht entfliehen, legen die Mutter in eine Gruft und können sie nicht wirklich sterben lassen. Und für diese Gruppe gilt: Kaum habe ich ein Ziel erreicht, merke ich, es war wieder das falsche.

Exkurs: Literarische Formen in Becketts Romanen Beckett hat sich vor allem in seinen Frühwerken mit dem Scheitern am anderen, mit sich selbst und den Welterklärungen und den daraus folgenden »Fluchten ins Innere«, vor allem in narrativer Weise, beschäftigt.

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Er ist aber mit dem Instrument der Sprache selbst unzufrieden, die er als kulturell vermittelt, letztlich begrenzt und auch vergiftet erlebt. Sie kann seine Hoffnung, »Wirklichkeit und Wahrheit« zu erkennen, letztlich nicht erfüllen. Im Folgenden wird so mehr und mehr sein Interesse am Vorsprachlichen deutlich, ohne tatsächlich auf die Sprache verzichten zu können. Er beginnt mit der Suche nach einem Zustand, der vor aller Bedeutung liegt. Er versucht sozusagen mit Sekundärprozessen das Primärprozesshafte darzustellen. Wie soll das gehen? Nicht, indem er narrativ über die Ohnmacht und Hilflosigkeit seiner Protagonisten schreibt, sondern über die Form des Schreibens, die uns als Rezipienten in einen Zustand bringt, die dem der Protagonisten seiner Stücke ähnelt: Als Psychoanalytiker wissen wir im Prozess der Übertragung und Gegenübertragung nur zu gut, was damit gemeint ist. Und in diesem Spiel mit den literarischen Formen liegt wohl die überragende Kunst Becketts. Er betont, dass Verständlichkeit nicht sein Hauptanliegen sei; vielmehr sollen seine Stücke das Publikum an seinen Nerven, nicht am Verstand packen. Wir haben bereits an dem kurzen Ausschnitt aus »Warten auf Godot« oder auch zu Anfang aus »Nicht Ich« die Form des elliptischen Erzählens kennengelernt: Diese verläuft wiederholend, Entwicklung soll eher verhindert, der Rezipient in einen Zustand der Nicht-Bewegung gebracht werden. Becketts Texte führen den Leser hier- und dorthin, verästeln sich in Einzelheiten, die vielleicht von Bedeutung sind, dann aber ergeben sich neue Pfade, die das vorher Beschriebene wieder vergessen lassen. Man sucht die Bedeutung des Gesagten, die geheimen Botschaften zu erkennen. Und die Protagonisten plappern scheinbar weiter, man fragt sich, ist das bedeutungsvoll oder banal und unerheblich, man kann es bald nicht mehr unterscheiden. Und man folgt wieder dem neuen Pfad. Wieder aufs Neue: Bedeutung suchen, Botschaft verstehen, den roten Faden aus dem Inhaltlichen erkennen. Kaum hat man eine Spur gefunden, wird diese wieder aufgegeben. Der Leser klammert sich immer mehr an den Text, weiß nicht, woran er sich festhalten soll. Es wird immer schlimmer. Es scheint, als führe uns Beckett zu einer Reise zwischen Ich und Nicht-Ich oder in der absoluten Leere. Dazu bedient er sich weiter der Kunst der Negation oder des paradoxen Sprechens. Das Gesagte wird infrage gestellt, zerfällt, wieder bejaht, wieder verworfen. So sind in seinem Roman »Molloy« (1954a) bis zu 17 Nega-

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tionen auf einer Seite zu zählen. Alle philosophischen und psychologischen Subjektvorstellungen scheinen suspekt, Beckett verwickelt sie in ständige Widersprüche, bis nichts mehr bleibt (siehe oben). Aus dem cartesianischen Satz »Ich denke, also bin ich« wird bei Beckett: »Ich zweifele, also bin ich« oder: »Ich weiß nichts, also bin ich«. »Eine endlose Kette von Affirmation und Negation entzieht allen Äußerungen den Boden, sobald sie manifest geworden sind«, schreibt Gabriele Schwab (1981, S. 101) in ihrer Arbeit über die »Nicht-Ich-Fiktion bei Beckett«: »Um sich nicht zu manifestieren, müsste er schweigen, da er aber nicht schweigen kann, muss er endlos sprechen. Sprechend manifestiert er sich, jedoch ohne das Gesagte noch den Akt des Sprechens mit sich zu identifizieren. So ist eigentlich schon die Rede von einem Ich paradox […]«. Mit den Möglichkeiten der Fiktion, der Schaffung einer eigenen Welt, mit fiktionalen Menschen und fiktionalen Regeln schafft Beckett Spielräume, sich mit der Subjekthaftigkeit seiner Figuren und vielleicht auch seiner selbst auseinanderzusetzen. Es scheint, als suche er in seiner Arbeit den Zustand vor dem Subjektiven: Wer bin ich, bevor ich wahrgenommen werde. Er erlebt das Selbst – auch sein eigenes – als vergiftet, zersetzt mit Einflüsterungen von außen – vielleicht auch von seiner Mutter, derer er sich kaum erwehren kann. In den Spätwerken bringt er vor allem monologisch gestaltete Stücke auf die Bühne, die diese inneren Einflüsterungen und die verfolgenden Objekte in verschiedenen Formen und Rollen externalisieren und wieder auf den Protagonisten – aber auch den Zuschauer – einprasseln lassen. Beckett nimmt uns auf eine endlos erscheinende Reise zwischen Ich und Nicht-Ich mit und lässt uns neben dem Episodischen – vor allem in seiner literarischen Form – an schizoiden Erfahrungsstrukturen – oft quälend – teilhaben. Und weiter geht Beckett in seinen Werken, entwickelt sich immer mehr zum »Psychonautiker«, versucht, in die tiefsten Schichten des Psychischen einzudringen. Die Außenwahrnehmungen werden sukzessive ausgeschlossen, und alle Erzählungen, alle Geschichten treten in den Hintergrund. Alles Sprachliche muss unablässig negiert werden in der Hoffnung, die rudimentärsten Reste in sich zu finden, vielleicht ein reines Ich, wenn es so etwas gibt. Um dieses Ziel zu erreichen, experimentiert er besessen mit Sprache und Sprachformen. So spielt in den Theaterstücken zum Beispiel der Rhythmus

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des Gesagten eine überragende Rolle. In den Rollenanweisungen an die Schauspieler besteht Beckett penibel auf der Einhaltung dieser Vorgaben. Aber letztlich führt diese Arbeitsweise ihn auch nicht zum gewünschten Ziel. Dazu ein Zitat aus seinem Prosatext »Aufs Schlimmste zu« (2000c, S. 333): »Erst der Körper. Nein. Erst der Ort. Nein. Erst beides. Jetzt das eine. Jetzt das andere. Übel von dem einen – das andre versuchen. Übel von dem – zurück von dem Übel. So weiter. Irgendwie weiter. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Wieder besser. Oder besser schlimmer. Wieder schlimmer scheitern. Wieder noch schlimmer. Bis übel für immer«.

So scheint das Scheitern ein Vielfaches zu sein: am anderen, am Ich und am Nicht-Ich, am Wunsch der Ungetrenntheit vom anderen und an der Sprache selbst. Auch scheitert Beckett an seinen oft manisch erscheinenden Bemühungen um Wissen und Wissenschaft, um Kunst, Philosophie und Literatur, in seiner Suche nach »Wahrheit und Wirklichkeit«, wie gesagt, was immer das auch sein soll. An einem Punkt scheitert Beckett mit seinen Protagonisten jedoch nicht: Viele Rezipienten – im Akt der Gegenübertragung – können oder sollen die Neugier, die Fesselung an Becketts Literatur und Theater nicht aufgeben, sondern gefesselt werden. Und gleichzeitig sollen sie – um nichts auf der Welt – etwas wirklich verstehen oder einordnen können; und wenn sie das tun, ist Beckett samt seinen Protagonisten schon wieder weg. So gesehen hat Beckett aus der Not eine Tugend gemacht – aber gleichzeitig aus der Tugend eine Not. Und so scheint ein Aspekt seiner Kunst in einem Spiel zu liegen: Suche mich, aber wehe, du findest mich! Oder: Es gibt keinen Frieden zwischen Verschmelzung und Freiheit – jedes für sich droht mich zu töten. So wird die Form des Schreibens für Beckett letztlich zu seinem Ausweg, wenn er versucht, das Formlose literarisch zu formen, gleichzeitig die augenblicklich gefundene Form wieder zerstört, damit weiterscheitert und aus diesem Scheitern eine große Kunst macht. Ein grandioses Paradoxon.

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Variationen vertikaler Fluchten in den Werken Becketts und die Folgen Aus diesen beschriebenen Grundstimmungen gestaltet Beckett überwiegend seine Geschichten. Seine Figuren halten sich vornehmlich in einem Zustand der Raum- und Zeitlosigkeit auf – oder versuchen, diesen Zustand immer wieder herzustellen und gegen Einflüsse von außen zu schützen. Die Sehnsucht nach einem Erlöser ist allgegenwärtig, wie die Sehnsucht nach einem Zustand, der vor aller Bedeutung liegt, nach einem Zustand der Ungetrenntheit vom anderen, letztlich nach der Rückkehr in den Mutterleib, wie Kehlmann und Bion (siehe oben) mit Blick auf Beckett vermuten. Das Warten spielt eine große Rolle, die Bewegung der Welt und des Einzelnen sollen aufgehalten, der Zeit endlich Einhalt geboten werden. Beckett hasste die Zeit, wollte sie am liebsten abschaffen und experimentierte auch in seinem literarischen Schaffen mit diesem Vorhaben ausgiebig. Becketts Werke erzählen von diesem Warten als Zwischenstadium, einem Leben im Wartesaal, das die Hoffnung auf ein besseres Leben lässt und vor der Ahnung schützt, dieses bessere Leben – was immer es auch sein mag – in der Welt nicht zu finden. Und das Warten scheint selbst eine Qualität zu haben, die diesen Zustand der Auflösung, der Ungetrenntheit, der Konfliktlosigkeit annäherungsweise ermöglicht – nämlich mit sich selbst. Aber oftmals reicht das Warten und Aushalten nicht: Becketts Protagonisten greifen zu komplizierten inneren, vertikalen, oft hermetisch abgeriegelten Konstruktionen aus Idealen und Phantasien, um sich vor den quälenden inneren wie äußeren Verfolgern zu retten, die diesen diffusen, aber hochwirksamen Zustand der Ungetrenntheit und der Omnipotenz gefährden könnten. Beckett scheint selbst die Unerreichbarkeit dieser Vorstellungen zu ahnen. Er bedient sich dazu oft der Methode des Slapsticks, des Absurden, um diese Ambivalenzen auszudrücken. Er spielt letztlich mit der unvermeidlichen Realität, versucht diese durch Witz und Überhöhung aber wieder von sich und seinen Protagonisten fernzuhalten – und kann letztlich nur noch »weiter scheitern«. Die inneren, vertikalen Fluchten ziehen jedoch beträchtliche seelische Kosten nach sich. John Steiner hat dazu Folgendes geschrieben: »Diese Rückzugsorte bieten eine Zuflucht vor Angst und Schuld, ver-

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hindern aber einen bedeutungsvollen Kontakt und behindern die Entwicklung. Es handelt sich um psychische Zustände, die intrapsychisch auf zwei verschiedene Weisen gleichzeitig repräsentiert sind: räumlich als ein Ort relativer Sicherheit, an welchen der Patient sich zurückziehen kann und zwischenmenschlich als ein machtvolles Netzwerk von Objektbeziehungen in der inneren Welt des Patienten; durch die fehlenden Beziehungen zu anderen erleben sich diese Menschen zunehmend leer, ausgebrannt, ohne Lebensfreude, aber irgendwie sicher« (Steiner, 1997, S. 23). Hier möchte ich auch an die Beschreibungen von Ronald D. Laing zu dem Thema des geteilten Selbst erinnern (Laing, 1965/1972). Viele Geschichten Becketts erzählen von diesen Erfahrungswelten, von denen ich zum Schluss noch zwei Beispiele geben möchte. In dem Theaterstück »Warten auf Godot« geht es um das Warten, die Konstruktion eines Erlösers und eine hochsymbiotische Beziehung zwischen Wladimir und Estragon, die alles in einem Zustand der Nicht-Bewegung hält, die nicht einmal den Suizid als Ausweg ermöglicht. Beckett wurde während der Regiearbeiten von einem Studenten gefragt, was dieses Stück eigentlich solle: »Alles Symbiose, mein Lieber, alles Symbiose« – soll er geantwortet haben (zit. nach Knowlson, 2001, S. 526). Nach dem Tod seines geliebten Bruders verzichtet Beckett in seinem nächsten Stück »Endspiel« (1956/1974) auf die Naivität mit Godot, der dem Warten vielleicht noch einen Sinn gäbe. Er lässt den blinden Protagonisten Hamm in Anspielung auf Gott sagen: »Der Lump! Er existiert nicht« (Beckett, 1956/1974, S. 147). So wird das Warten und nur das Warten selbst zum Thema zwischen Leben und Tod. In Becketts drittem Roman »Murphy« aus dem Jahr 1938 beschreibt er die Verweigerung des Protagonisten, sich mit der Welt, den Menschen und deren Anforderungen auseinanderzusetzen; dazu schützt er sich mit einem hochkomplizierten System innerer Fluchten. Wir erfahren nicht, was Murphy in seinem Leben zu dieser Haltung getrieben hat. Er sitzt am liebsten nackt in seinem Schaukelstuhl aus rohem, unzerbrechlichem Teakholz. »Sieben Schals hielten ihn an Händen, Brust, Bauch und Füssen fest. Es waren nur äußerst begrenzte örtliche Bewegungen möglich. […] Er saß so in seinem Stuhl, weil es ihm Spaß machte! Zunächst machte es seinem Körper Spaß, es

Scheitern, besser scheitern, weiter scheitern149 beruhigte seinen Körper. Dann befreite es ihn auch in seinem Geiste. Denn erst wenn sein Körper befreit war, konnte er beginnen, in seinem Geist zu leben […] und in seinem Geist leben, machte ihm Spaß, solchen Spaß, dass Spaß nicht das richtige Wort ist« (Beckett, 1938/2013, S. 9 f.).

Bald bekommt Murphy ein Problem: Celia, eine Prostituierte, verliebt sich unsterblich in ihn. Sie wünscht sich eine Familie, fordert Murphy auf, sich eine Arbeit zu suchen, um sich selbst um Kind, Haus und Hof kümmern zu können. Murphy genießt den Sex mit ihr, aber die Forderung, eine Arbeit aufzunehmen und seinen inneren Geist aufgeben zu müssen, erlebt er als Zumutung. Celias Drohungen, sonst wieder auf den Strich gehen zu müssen, beeindrucken ihn nicht wirklich. Er gerät in einen inneren Konflikt: Um sein sexuelles Verlangen zu befriedigen, muss er sich ins Soziale begeben und seine innere Welt verlassen. Die damit verbundenen Pflichten und Erwartungen überfordern Murphy; so kann er nicht zu sich kommen, die Welt Celias droht ihn zu überfremden. Hier greift unser Held zu einem Kunstgriff: Er versucht, sich von seinem Körper zu trennen, rechnet ihn der Außenwelt zu, statt ihn als Teil seiner selbst aufzufassen. In solchen Situationen setzt er sich in seinen Schaukelstuhl – in der oben beschriebenen Pose –, schaltet seinen Körper aus und begiebt sich dazu an einen inneren Ort, den er als Geist beschreibt: eine große hohle Kugel, hermetisch vom äußeren Universum abgeschlossen, ein geschlossenes System mit eigenen Prinzipien. Mit dem Rückzug in seinen eigenen Geist schützt er sich vor der überfordernden Welt und kann seine Großartigkeit ungestört erleben. Jetzt kann Murphy auch noch die Abhängigkeit von seinem Körper verleugnen, und sein Geist wird für Momente lebendig. In seinem Geist träumt sich Murphy an einen Ort, an dem es nichts anderes gibt als einen »über alle Maßen vervollkommneten Murphy« (Beckett, 1938/2013, S. 87), der sich seiner Omnipotenz erfreut und seine Mangelhaftigkeit aus seinem Bewusstsein vertreibt. Aber das allein reicht nicht: Er konstruiert sein Denken so, dass es keine Parallelen in der Außenwelt dazu gibt. Und schließlich beschreibt er sich als ein »Geschoss ohne Herkunft und Bestimmung, das von einem Tumult nicht-newtonischer Bewegung ergriffen wird, als ein Stäubchen in seiner absoluten Freiheit« (S. 93). In diesem Zustand ist Murphy der Auflösung nahe. In einem anderen Zusammenhang bewundert er die Objektivität der Mathematik, »die frei von Verlangen sei« (zit. nach Veit, 2002, S. 57). Und damit ist der

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Zwiespalt zur Welt endlich aufgehoben, das Ziel der Ungetrenntheit zu sich und seiner fiktiven Welt scheinbar erreicht. Oder, um es mit André Green (2004, S. 135) zu sagen: Seine »Suche nach dem Nichtbegehren des Anderen, nach Inexistenz und Nicht-Sein als anderer Form des Zugangs zur Unsterblichkeit« hat nun scheinbar Erfolg. Murphy findet schließlich eine obskure Tätigkeit in einem psychiatrischen Krankenhaus als Pfleger. Er freundet sich mit dem schizophrenen Mr. Edson an. Von ihm fühlt er sich zunächst verstanden und gesehen, fühlt sich lebendig – einer Seelenverwandtschaft gleich. Das Ganze entpuppt sich aber als großer Irrtum: Mr. Edson ist blind, ein fürchterlicher Egomane, keineswegs ein Seelenverwandter. Zuvor hatte sich Celia noch von ihm losgesagt und einen anderen Liebhaber ausgewählt. Kurz danach stirbt Murphy an einer Kohlenmonoxidvergiftung, ausgelöst durch seinen Ofen: Seine sterblichen Überreste werden verbrannt, ein Freund nimmt sich der Urne an. Durch ein Missgeschick seinerseits geht das Gefäß auf der Straße zu Bruch, eine Reinigungsmannschaft kommt zufällig vorbei, die Asche wird samt weiteren Abfällen in den Gully gespült, Murphy verschwindet auf Nimmerwiedersehen.

Literatur Beckett, S. (1938/2013). Murphy. Hamburg: Rowohlt. Beckett, S. (1948/1976). Warten auf Godot. In S. Beckett, Theaterstücke (S. 7–101). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Beckett, S. (1954a). Molloy. In S. Beckett – Drei Romane (S. 5–243). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Beckett, S. (1954b). Malone stirbt. In S. Beckett – Drei Romane (S. 245–394). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Beckett, S. (1954c). Der Namenlose. In S. Beckett – Drei Romane (S. 295–566). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Beckett, S. (1956/1974). Endspiel/Fin de partie/Endgame. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Beckett, S. (1958/1974). Das letzte Band. La dernière bande. Krapp’s last tape. (Dreisprachige Ausgabe, deutsch von E. u. E. Tophoven. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Beckett, S. (1959). Gedichte. München: Limes. Beckett, S. (1961). Happy Days. Oh les beaux jours. Glückliche Tage. In S. Beckett, Dramatische Dichtungen in drei Sprachen (S. 146–233). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Beckett, S. (1976). Nicht Ich. In S. Beckett, Theaterstücke (S. 239–247). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Scheitern, besser scheitern, weiter scheitern151 Beckett, S. (1983/1989). Worstword Ho. New York u. London: Grove Press/dt.: Aufs Schlimmste zu. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Beckett, S. (1995). Theaterstücke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Beckett, S. (2000a). Der Ausgestoßene. In S. Beckett, Dante und der Hummer (S. 100–116). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Beckett, S. (2000b). Neither/Weder-noch. In S. Beckett, Dante und der Hummer. Gesammelte Prosa (S. 272). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Beckett, S. (2000c). Aufs Schlimmste zu. In S. Beckett, Dante und der Hummer. Gesammelte Prosa (S. 333–351). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bernhard, T. (2009). Die Autobiographie. Ein Kind. Reinbek: Rowohlt. Brockmeier, P. (2001). Samuel Beckett. Stuttgart: Metzler. Büning, E. (2004). Klänge hängen über Klippen. Warten auf den Text: »Neither« von Morton Feldman und Samuel Beckett als abendfüllende Video-Oper inszeniert in Stuttgart. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. 11. 2004, S. 27. Cioran, E. (1979). Vom Nachteil, geboren zu sein: Gedanken und Aphorismen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Feldman, M. (1977/2000). Neither: an opera in one act on a text by Samuel Beckett; for soprano and orchestra. London: Universal Edition. Ferenczi, S. (1913/1979). Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinns. In M. Balint (Hrsg.), Ferenczis Schriften zur Psychoanalyse (S. 148–163). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Ferenczi, S. (1924/1979). Versuch einer Genitaltheorie. In M. Balint (Hrsg.) (1979), Ferenczis Schriften zur Psychoanalyse (Bd. II) (S. 317–400). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Green, A. (2004). Die tote Mutter. Psychoanalytische Studien zu Lebensnarzissmus und Todesnarzissmus. Gießen: Psychosozial. Hartwig, S. (2011). Das allerletzte Band: Handke zu Beckett an den Münchner Kammerspielen. In F. Sick (Hrsg.), Raum und Objekt im Werk von Samuel Beckett (S. 83–111). Bielefeld: transcript. Kehlmann, D. (2006). Ein Barde des Weitermachens: Samuel Becketts Prosa. Literaturen, 6 (4), 46–51. Knowlson, J. (2001). Samuel Beckett – Eine Biographie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kristeva, J. (2007). Schwarze Sonne, Depression und Melancholie. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Laing, R. D. (1965/1972). The divided self. Harmondsworth: Penguin/dt.: Das geteilte Selbst. Eine existentielle Studie über geistige Gesundheit u. Wahnsinn, Köln: Kiepenheuer & Witsch. Rathjen, F. (2006). Samuel Beckett. Reinbek: Rowohlt. Safranski, R. (2014). Meister, Ihr steht unter Verdacht. Das Werk erwächst aus dem Leben und schlägt dann wieder ins Leben zurück: Warum mich das biographische Schreiben interessiert. Und wie ich es mache. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. 8. 2014 (S. 14). Schiller, F. (1795/2000). Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Stuttgart: Reclam. Schwab, G. (1981). Samuel Becketts Endspiel mit der Subjektivität. Entwurf einer Psychoästhetik des modernen Theaters. Stuttgart: Metzler.

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Klaus Branscheid

Schwab, G. (1987). Entgrenzungen und Entgrenzungsmythen. Zur Subjektivität im modernen Roman: Daniel Defoe, Herman Melville, Virginia Woolf, James Joyce, Samuel Beckett, Thomas Pynchon. Wiesbaden: Steiner. Sloterdijk, P. (1998). Sphären I – Blasen, Mikrosphärologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Sloterdijk, P. (2006). Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Steiner, J. (1997). Vergeltung und Groll in der ödipalen Situation. In C. Frank, H. Weiß (Hrsg.), Groll und Rache in der ödipalen Situation (S. 23–42, Diskussion S. 43–50). Beiträge der Westlodge-Konferenz 1995. Tübingen: Edition discord. Veit, C. (2002). Ich-Konzept und Körper in Becketts dualen Konstruktionen. Berlin: Weidler Buchverlag.

Pit Wahl

Gina Kaus: Teufel in Seide

Gina Kaus: The Devil in Green1 Gina Kaus is a prominent example of an active and artistically productive Individual Psychologist. She lived from 1893 to 1985 and early started publishing novelettes, stage plays, novels as well as professional articles in Individual Psychology journals. After her emigration to the USA enforced by the Nazi regime she was also active as screenwriter in Hollywood for quite a long time. Her novel »The Devil Next Door« (English translation: »The Devil in Green«) was written in 1940 and filmed in 1956 under the title »The Devil in Silk« starring Lilli Palmer and Curd Jürgens. In the following contribution the two versions of novel and film are compared and related to life and work of Gina Kaus. Zusammenfassung Ein herausragendes Beispiel für eine aktive und künstlerisch produktive Individualpsychologin ist Gina Kaus. Sie lebte von 1893 bis 1985, publizierte schon früh Novellen, Theaterstücke, Romane und auch individualpsychologische Fachartikel. Nach ihrer durch die Nazis erzwungenen Emigration in die USA war sie lange auch als Drehbuchautorin in Hollywood tätig. Ihr Roman »Der Teufel nebenan« aus dem Jahr 1940 wurde 1956 unter dem Titel »Teufel in Seide« mit Lilli Palmer und Curd Jürgens in Deutschland verfilmt. Im Beitrag werden die Schrift- und der Filmfassung dieses Werkes verglichen und in Leben und Werk von Gina Kaus eingeordnet.

1 1940 veröffentlicht Gina Kaus im Allert de Lange-Verlag in Amsterdam das Buch »Der Teufel nebenan«. 1956 wird es unter dem Titel »Teufel in Seide« neu aufgelegt und kurze Zeit später auch verfilmt. Bereits 1940 war der Text in der englischen Fassung unter dem Titel »The Devil in Green« in London im Verlag Nicholson & Watson publiziert worden. Hier wird – anstelle einer wörtlichen Übersetzung des Titels dieses Beitrags – der Titel der englischsprachigen Buchausgabe von 1940 verwendet.

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Vorbemerkung: Gina Kaus – eine individualpsychologische Künstlerin? Warum widme ich der österreichischen Schriftstellerin Gina Kaus einen Beitrag im Rahmen der individualpsychologischen Jahrestagung zum Thema »Kunst und Psyche«? Gina Kaus gehörte mit anderen Autorinnen (z. B. Vicki Baum, Milena Jesenská und Alice Rühle-Gerstel) in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts zu einer bemerkenswerten Gruppe von Schriftstellerinnen und Journalistinnen, deren Bedeutung und Stellenwert für die intellektuellen und künstlerischen Diskurse ihrer Zeit durch das erzwungene Exil lange Zeit weitgehend vergessen wurde. Das gilt im Fall von Gina Kaus auch für ihre Wertschätzung als Individualpsychologin. So ist sie unter heutigen Adlerianern kaum als frühe Individualpsychologin bekannt, obwohl sie in ganz einzigartiger Weise den Typus einer Kulturschaffenden repräsentiert, die in ihren literarischen Werken individualpsychologische Konzeptionen einbezog. Insofern kann dieser Beitrag durchaus als eine Art Rehabilitation von Gina Kaus als Künstlerin und Adlerianerin verstanden werden. Die hier vorgenommene Auswahl aus ihren biografischen Daten und ihrem Schaffen greift collagenartig verschiedene Erzählstränge auf und beleuchtet Gina Kaus’ Leben und Werk aus unterschiedlichen Perspektiven: So werden in diesem Beitrag wichtige Aspekte ihrer Lebensgeschichte dargestellt und Überlegungen über Zusammenhänge zwischen biografischen Erfahrungen und immer wiederkehrenden Inhalten in ihren Publikationen angestellt. In diesem Zusammenhang wird eines ihrer bedeutsamsten literarischen Werke, die 1919 mit dem »TheodorFontane-Preis« ausgezeichnete Novelle »Der Aufstieg«, vorgestellt. Diesen Text habe ich deshalb ausgewählt, weil hier die inhaltliche Übereinstimmung der Kaus’schen Sichtweisen auf die Grundmotive menschlichen Erlebens und Verhaltens mit den Theorien Alfred Adlers eindrucksvoll nachgezeichnet werden kann. Weiterhin wird aus der Fülle der von Gina Kaus hinterlassenen Werke (Prosatexte, Dramen, Romane, Zeitungsartikel, Drehbücher etc.) das Projekt »Teufel in Seide« herausgegriffen. Hier wird es darum gehen, die beiden Fassungen des zunächst als Buch geschrie-

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benen und später als Film produzierten Stoffes vergleichend zu analysieren.2 Da Gina Kaus seit Mitte der 1920er Jahre immer auch als Adlerianerin tätig war, aber, wie ich meine, zu Unrecht innerhalb der Individualpsychologie wenig beachtet wurde und vielen Individualpsychologen heute nicht mehr bekannt ist, werde ich am Ende noch kurz auf die Frage eingehen, welche inspirierende Bedeutung Gina Kaus heute für die Individualpsychologie hat oder haben könnte.

Leben und Werk – Biografie, Lebensstil und künstlerische Entwicklung Gina Kaus wird am 21. Oktober 1893 unter dem Namen Regina Wiener als erstes von zwei Kindern (ihr Bruder Paul kommt erst acht Jahre später zur Welt) in Wien geboren und stammt aus bescheidenen materiellen Verhältnissen – ihr Vater ist seinerzeit als kleiner Geldvermittler tätig. Regina ist von Natur aus mit vielfältigen Talenten und einem sehr ansprechenden Äußeren ausgestattet. Sie ist ein vitales, lebendiges und begabtes Mädchen, später eine attraktive, intelligente, wagemutige und äußerst kreative Frau. Schon früh beginnt sie sich für Psychologie und Literatur zu interessieren3. Dem Thema Reichtum und Armut, der sozialen und materiellen Situation von Menschen – sowohl der eigenen wie auch der anderer – widmet sie ihr Leben lang große Aufmerksamkeit. Intensiv erlebt sie die Verquickung von Geld und Macht, misst diesen Zusammenhängen eine große Bedeutung bei und beginnt bald, diese Problemfelder literarisch zu bearbeiten. Auch in ihrem eigenen Leben macht sie sich ihre Einsichten oft zu Nutze. 1912, nach Abschluss der Schule – sie ist 19 Jahre alt – bekommt sie zunächst nur eine Anstellung als Hilfskraft in einem Krankenhaus2 Die hier vorliegende Schriftfassung ist eine überarbeitete Version des Vortrags vom 1. 11. 2014, bei dem im Rahmen einer Power-Point-Präsentation auch Filmausschnitte gezeigt wurden. 3 Vollmer, H. (2000): »Nach ihrer Erinnerung entdeckt Gina im Alter von zehn Jahren, ausgelöst durch die Lektüre von Schillers Jungfrau von Orleans, ihre Begeisterung für die Literatur« (Zeittafel, S. 249).

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labor. Obwohl sie einen formalen staatlichen Fremdsprachenabschluss hat, findet sie keine Stelle als Englischlehrerin. Ein Jahr früher – sie wohnt zu dieser Zeit noch bei ihren Eltern – lernt Regina Josef Zirner, genannt »Pepi«, kennen, einen jungen Musiker, der aus einer reichen jüdischen Juweliersfamilie stammt. Das Paar heiratet gegen den Willen der Eltern des Bräutigams am 3. Juli 1913. Da die frisch Vermählten von Pepis Eltern materiell nicht nennenswert unterstützt werden, müssen sie längere Zeit mit wenig Geld auskommen. Regina Zirner – wie sie seit ihrer Eheschließung heißt – ist sehr aktiv. Sie lernt, liest, korrespondiert mit Freundinnen und beginnt schon früh, eigene Texte zu verfassen. Alles scheint gut, die Zukunft aussichtsreich – doch dann wird Pepi zum Kriegsdienst eingezogen. Bei einem Treffen im Kriegsgebiet setzt sich das Paar mehrfach über Regeln der Militärverwaltung hinweg, sodass Regina schließlich vorzeitig wieder abreisen muss und Pepi kurze Zeit später – vermutlich als Strafe – an die Front versetzt wird. Hier wird er verwundet und erliegt kurze Zeit später – am 20. Juli 1915 – seinen Verletzungen. Diese erste Liebesbeziehung von Regina dauert insgesamt also nur etwa vier Jahre. Die Todesnachricht erschüttert sie zutiefst. Sie fühlt sich schuldig, gerät in eine ernsthafte Lebenskrise, trauert etwa ein Jahr. Parallel zu diesen Ereignissen kommt Regina bei einem Besuch ihrer Freundin Maria Mosse in Berlin in Kontakt mit einigen bedeutenden Kulturschaffenden der damaligen Zeit. Sie lernt verschiedene Künstler kennen, unter anderem den Maler Eugene Spiro (1874–1972), den Autor Carl Sternheim (1878–1942) und den damals bereits recht bekannten Schriftsteller Franz Blei (1871–1942), einen Jugendfreund Alfred Adlers. Über eines der Treffen mit ihm schreibt sie in ihrer Autobiografie: »Blei wurde mein großer Freund. Wir sprachen meist über Literatur – ich habe von niemandem so viel gelernt wie von ihm –, und wir sprachen viel über mich. […]   Ich gestand Blei, daß ich Schriftstellerin werden wollte, daß ich mehrere Geschichten geschrieben hätte, konnte ihm aber nichts zeigen, weil ich nichts bei mir hatte.   ›Wenn du so schreiben kannst, wie du erzählst, dann ist alles gut‹, sagte er. ›Schreib doch Deine Reise an die Front auf‹.   Ich hatte bis dahin niemals eigene Erlebnisse festgehalten, hatte niemals in der ersten Person geschrieben. Ich benutzte Erich Mosses Schreibmaschine und schrieb an einem Nachmittag alles auf […].« (Kaus, 1979, S. 20 f.).

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Auf die genaueren persönlichen Lebensumstände von Regina in der Zeit von 1916 bis 1919 und ihre sicher sehr wichtige, aber recht skurril anmutende Beziehungsgeschichte mit Josef Kranz – einem Bank- und Wirtschaftsmagnaten, mit dem sie eine Affäre hat und von dem sie sich am 15. Juli 1916 adoptieren lässt – soll hier nur unter einigen ausgewählten Aspekten eingegangen werden.4 In dieser Lebensphase erreicht die zunächst noch weitgehend mittellose junge Künstlerin durch Beziehungen und Liebschaften schnell einen Status, der es ihr ermöglicht, ein materiell sorgenfreies, großbürgerliches Leben zu führen. Aber dieses Leben ist keineswegs eine kontinuierliche Aufwärtsbewegung. Als im Dezember 1917 ihr Vater stirbt, gerät Regina ZirnerKranz – so heißt sie zu diesem Zeitpunkt – in eine schwere gesundheitliche Krise: Ihre Symptome deuteten auf die Spanische Grippe hin, an der kurze Zeit zuvor ihre alte Klassenkameradin Sophie Freud verstorben war. Nach ihrer Genesung löst sie sich aus der Verbindung mit Kranz, verzichtet auf Sicherheit und Luxus und sorgt von diesem Zeitpunkt an selbst für ihren Lebensunterhalt – und später auch für den ihrer Kinder (und ihrer Mutter). Ganz bewusst erlebt sie – inzwischen fest integriert in das gesellschaftliche, literarische und politische Leben Wiens und teilweise auch Berlins – das Ende des Krieges, die Abdankung des Kaisers und den Untergang der Habsburger Monarchie. Wie viele kritische Schriftsteller und Intellektuelle radikalisiert sie sich Anfang der 1920er Jahre, sympathisiert mit sozialistischen und kommunistischen Ideen. In dieser Zeit des Aufbruchs und der großen Hoffnungen entwickelt sie plötzlich, buchstäblich über Nacht, einen Kinderwunsch. In ihrem Lebensbericht schreibt sie hierzu: »Eines Nachts erwachte ich und wusste: ich muß ein Kind haben. Trotz Reichtum, literarischer Ambitionen und geistiger Interessen war mein Leben leer. Seit Pepis Tod hatte ich keinen Mann wirklich geliebt. Ich hatte ein paar Verhältnisse gehabt und war jedes Mal verliebt gewesen. Und dann war es von einem Tag zum anderen zu Ende gewesen. Ein Kind aber würde ich immer lieben« (Kaus, 1979, S. 80).

4 Diese Zeit und insbesondere die möglichen Handlungsmotive der Künstlerin sind in Heft 2 der Zeitschrift für Individualpsychologie 2012 ausführlicher dargestellt (Wahl, 2012, S. 163 ff.).

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Ein solch »plötzliches« Motiv, nachts im Traum mehr oder ­weniger aus den Tiefen des Unbewussten aufgestiegen, würde im Verlauf einer psychotherapeutischen Behandlung sicherlich einige, in diesem Kontext wahrscheinlich durchaus auch kritische Beachtung finden. Kaus schreibt ja in ihrem selbstexplorativen Text, ihrer Autobiografie, dass sie eine innere Leere spürt, und sie scheint daran zu zweifeln, dass sie im Rahmen einer Partnerschaft dauerhaft liebes- und bindungsfähig ist. Aber die Träumerin befand sich höchstwahrscheinlich nicht in psychotherapeutischer Behandlung und sie nahm ihren Traum offensichtlich zunächst auch nicht sonderlich ernst, denn sie schreibt: »Ich kann nicht sagen, dass ich es am nächsten Tag vergaß, aber ich unternahm jedenfalls nichts, um zu einem Kind zu kommen« (S. 80). Doch dann erfüllt sich ihr Wunsch schneller, als sie selbst wohl gedacht haben mag. Seit Längerem steht Regina in Kontakt mit dem Medizinstudenten, Literaten, Psychoanalytiker und Adlerianer Otto Kaus, der als überzeugter Kommunist aus dem Krieg zurückgekehrt war. Unter anderem hatte sie in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift »Sowjet« 1919 eine Fortsetzungsgeschichte mit dem Titel »Der Altar« unter dem Pseudonym Andreas Eckbrecht – dieses Pseudonym verwendete sie in dieser Zeit häufiger – veröffentlicht. Otto Kaus (1891 bis 1944 oder 1945) ist im Übrigen ein Adlerianer, der selbst zahlreiche Texte verfasst hat, die sich mit verschiedenen Wechselwirkungen von Kunst und Psyche befassten: So interpretierte er Leben und Werk von Strindberg (1918, »Strindberg – eine Kritik«) und Dostojewski (1923, »Dostojewski und sein Schicksal«) und veröffentlichte zudem zahlreiche individualpsychologische Schriften (z. B. 1926 in der Reihe »Schwer erziehbare Kinder«: »Das Einzelkind«). Otto beeindruckt Gina – so nennt sie sich seit einiger Zeit – vor allem durch die Festigkeit seiner politischen Überzeugungen, auch wenn sie gleichzeitig eine gewisse fanatische Aggressivität an ihm wahrnimmt und ihn als Schriftsteller nicht sonderlich schätzt. Über ihre Beziehung zu ihm schreibt sie: »Ich sah Kaus noch öfter als früher. Manchmal kam er bereits am Vormittag zu mir. Wir führten allerlei sehr intelligente Gespräche. Ich habe sehr viel von ihm gelernt. Wir gingen zu kommunistischen Versammlungen, die meist in Wohnungen stattfanden. […]

Gina Kaus: Teufel in Seide159   Es lag nicht allein an Otto Kaus, wenn ich in diesem Winter [1919/1920, P. W.] zu einer mehr und mehr überzeugten Kommunistin wurde. Die Verhältnisse im Nachkriegsösterreich waren furchtbar, und ich war, durch einschlägige Literatur beeinflusst, davon durchdrungen, daß es der Kapitalismus gewesen sei, der den Krieg verursacht hatte. Ich haßte die Großbourgeoisie, die ich in meiner engsten Umgebung erlebte, die Leute, denen es immer noch vorzüglich ging, während die Massen hungerten. […]   Einmal, Anfang März, brachte mir Kaus ein kleines, winziges Veilchensträußchen. Die Bescheidenheit der Gabe, der Versuch eines bettelarmen Menschen, etwas zu schenken, rührte mich. Es war wie ein Kuß« (Kaus, 1979, S. 82 f.).

Gina nimmt Otto mit nach Raach – einen kleinen niederösterreichischen Ort, wo Josef Kranz ein Ferienhaus besitzt –, um dort ein paar Tage mit ihm zu verbringen. Die folgenden Ereignisse beschreibt sie in ihrer Autobiographie wie folgt: »Nachts kam er zu mir. Ich hatte einen schüchternen, eher kühlen Mann erwartet. Es wurde die leidenschaftlichste und längste Liebesnacht meines Lebens. Eingedenk meines Wunsches, ein Kind zu haben, verzichtete ich auf Vorsichtsmaßnahmen. Wir sprachen darüber, und er war begeistert. ›Wenn du schwanger wirst, können wir in sechs Monaten heiraten‹, sagte er. Das stand im Einklang mit unseren Vorstellungen von Liebe und Ehe. Einem Kind zuliebe waren wir bereit, Konzessionen an die bestehenden bürgerlichen Vorurteile zu machen« (S. 83).

Gina wird tatsächlich schwanger. Otto und sie heiraten am 26. August 1919, ihr Sohn, der den gleichen Vornamen wie der Vater trägt und als Kind »Koko« genannt wird, wird am 7. Januar 1920 geboren. Am 9. Oktober 1924, kurz vor Ginas 31. Geburtstag, erblickt Peter, das zweite und letzte Kind des Paares, das Licht der Welt. Auch wenn die Ehe mit Otto im April 1927 wieder geschieden wird, und Gina im Laufe ihres bewegten Lebens noch einige Liebesbeziehungen erlebt – ihren Kindern bleibt sie, so wie sie es sich vorgestellt und wie sie es gewollt hat, stets liebevoll verbunden. Sie versorgt ihre Söhne verantwortungsvoll und trägt auch den Nachnamen Kaus bis ans Ende ihres Lebens. Zurück zu Gina Kaus als Schriftstellerin: Vermutlich entsteht 1917 die Novelle: »Der Aufstieg« (Kaus, 1920), eine Erzählung, die sich wie ein individualpsychologisches Lehrstück liest, obwohl Gina Kaus Alfred Adler erst viel später persönlich kennenlernt. Zum Inhalt: In dem 59 Seiten umfassenden Text werden in Form eines inneren Monologs die Gedanken, Gefühle und Phantasien eines Mannes geschildert, der am Vorabend seiner Eheschließung in einem

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Kaffeehaus sitzt und die für ihn bedeutsamen Ereignisse der vergangenen Wochen und Monate an sich vorüberziehen lässt. Auf diese Weise wird eine Art Selbstexplorations- und Selbstreflexionsprozess dokumentiert und dabei eine literarische Kunstform benutzt, die viel Ähnlichkeit mit manchen Formen Analytischer Psychotherapie hat. Das Innenleben einer Person kann im Monolog, der in diesem Fall von der Anlage her ein Dialog ist, deutlich und differenziert dargestellt werden – denn, wenn auch das »Sprechen mit sich selbst« scheinbar ein rein innerpsychischer Vorgang ist, so wendet sich die »Rede« doch an andere, an fiktive Dritte – man könnte auch sagen: an die inneren (Selbst-)Repräsentanzen, die für die Person bedeutsam sind. »Der Aufstieg« macht den Leser mit einem verbitterten jungen Mann namens Müller bekannt, der zunächst eine eher ärmliche Existenz als Literat fristet. Gina Kaus schildert einen in sich gefangenen, im Kern sehr selbstunsicheren Menschen, der sich häufig und immer wieder durch die Abwertung anderer in seinem fragilen Selbst- und Selbstwertgefühl zu stabilisieren sucht. Der junge Mann träumt vom sozialen Aufstieg, möchte seiner als elend und dürftig empfundenen Existenz entkommen und ein luxuriöses und angesehenes Leben führen. Es geht ihm um die Überwindung von Armut und um materiellen Reichtum. Ebenso wichtig ist ihm aber auch das Streben nach Macht und Herrschaft über andere Menschen – und über eine Frau, die sich ihm unterordnen und widerspruchslos ergeben soll. Seine Ziele sucht er über Beziehungen zu erreichen. Von seiner aktuellen Geliebten hat er sich eine Einladung zum Diner bei einer wohlhabenden Familie besorgen lassen. Die Begegnungen und Kontakte, die sich ihm hier bieten, nutzt er, um persönliche Beziehungen aufzubauen, die ihm berufliche Vorteile verschaffen. Die Tochter des Hauses, Susanne, umwirbt er erfolgreich – sie verliebt sich in ihn. Am Ende gelingt es ihm mit einer List und unter Ausnutzung der Gefühle von Susanne, der Familie die Zustimmung zur unstandesgemäßen Heirat abzuringen. Er selbst handelt nicht aus Liebe, sondern aus Berechnung – und aus einem drängenden, außerordentlich starken Bedürfnis nach Bewunderung, ja geradezu nach Vergötterung. Gleichzeitig fühlt sich Müller im Innern ständig unsicher, von allen kritisch beobachtet, negativ bewertet, vielfältig beschämt.

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In ihrer Novelle beschreibt Gina Kaus in der Figur des Herrn Müller also eine Narzisstische Persönlichkeitsstörung – einen Menschen, der schwankt zwischen unmäßigen Größenphantasien und tiefen Selbstzweifeln. Eine Besonderheit der im »Aufstieg« geschilderten Geschichte ist auch, dass sie kein Happy End hat. In diesem Punkt unterscheidet sich Kaus’ Novelle nicht nur von vielen romantischen Liebesgeschichten, sondern auch von manchen klinischen Falldarstellungen bzw. Behandlungsberichten, wie sie auch Alfred Adler vortrug, der seine Skizzen meist mit der ihm eigenen positiven Orientierung und seinem optimistischen Menschenbild entwarf. Für diese Erzählung erhält die Schriftstellerin 1920, im Alter von 26 Jahren, den »Theodor-Fontane-Preis«.5 Schon als junge Frau ist Gina Kaus also als Schriftstellerin bekannt und berühmt. Bis circa 1930 erscheinen nun von ihr zahlreiche Arbeiten: Zeitungsund Zeitschriftenartikel, Novellen, ein Lustspiel, die Schulmädchenkomödie »Toni« (1927) und die beiden Romane »Die Front des Lebens« (1928/2014) sowie »Die Verliebten« (1928). Die meisten der genannten Texte stellen einerseits eine Verarbeitung eigener Erfahrungen und subjektiv bedeutsamer Lebensthemen dar, andererseits lesen sie sich fast immer auch wie eine direkte Verarbeitung und Umsetzung individualpsychologischen Gedankengutes. Dabei lernt Gina Kaus Alfred Adler erst im Jahr 1922 persönlich kennen. In ihrer Autobiografie schreibt sie hierzu (Kaus, 1979, S. 100): »Im darauffolgenden Winter lernte ich zwei für mich ganz entscheidende Männer kennen. Der eine war Alfred Adler; […].  Adler hielt in seiner eigenen Wohnung Vorlesungen, denen Otto Kaus und ich beiwohnten. Er sprach großartig, war ein kleiner, gedrungener Mann mit einem vollen, unendlich gutmütigen Gesicht, und wenn er sprach, hatte ich häufig das Gefühl, ›das habe ich immer gewußt, ohne es zu wissen‹ […]«.

5 Seit 1913 wurde ein »Theodor-Fontane-Preis für Kunst und Literatur« vergeben. Zuvor hatten diese bedeutende Auszeichnung Annette Kolb, Leonhard Frank, Carl Sternheim – der das Preisgeld an Franz Kafka weitergab – und Alfred Döblin erhalten. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden damit unter anderem Hermann Kasack (1949), Uwe Johnson (1960), Golo Mann (1962), Arno Schmidt (1964) und Günther Grass (1968) geehrt.

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Spätestens ab der Mitte der 1920er Jahre ist Gina Kaus auch explizit als Adlerianerin tätig. Sie engagiert sich in der Erziehungs-, Ehe- und Lebensberatungsbewegung in Wien und ruft zusammen mit Ärzten und Pädagogen die Zeitschrift »Die Mutter – Halbmonatsschrift für alle Fragen der Schwangerschaft, Säuglingshygiene und Kindererziehung« ins Leben. Die erste Ausgabe erscheint 1924 – fast zeitgleich mit der Geburt ihres zweiten Sohnes Peter. Es gelingt ihr seinerzeit aber nicht, diese Zeitschrift auf Dauer zu etablieren. Ihre Versuche, den Ullstein-Verlag, zu dem sie zu dieser Zeit bereits gute Verbindungen hatte, zu einem Ankauf der Publikationsrechte zu bewegen, blieben erfolglos. Es sollte noch einmal 42 Jahre, fast ein halbes Jahrhundert, dauern, bis der Verlag »Gruner und Jahr« 1966 die Zeitschrift »Eltern« auf den Markt brachte, die zu diesem Zeitpunkt eine Auflage von etwa 250.000 Exemplaren erreichte. Inzwischen war die Zeit reif für ein solches Projekt. 1926 wird in Band 2 des von Erwin Wexberg herausgegebenen »Handbuchs der Individualpsychologie« ein 31-seitiger Fachartikel von Gina Kaus abgedruckt: »Die seelische Entwicklung des Kindes«. Kaus beantwortet in diesem Text zunächst einmal einleitend die von ihr selbst gestellt Frage, warum das Kind im Mittelpunkt individualpsychologischer Betrachtungen steht. Ihre Antwort: »weil die Analyse seelischer Erkrankungen den Forscher immer wieder in die Kindheit des Patienten führt, zu den unmittelbaren Ursachen oder zumindest zu jenen Umständen, die späteren krankheitsauslösenden Geschehnissen die geeigneten Dispositionen schaffen« (Kaus, 1926, S. 137).

Eine solche Auffassung, These bzw. Grundüberzeugung ist uns bis heute vertraut und geradezu selbstverständlich – nicht nur in adlerianischen Kreisen, sondern in allen psychoanalytischen Schulen und Strömungen. Damals war sie das aber keineswegs, auch wenn man sicher berücksichtigen muss, dass man unter Kindheit noch etwas anderes als heute verstand – die ganz frühe Kindheit, die Säuglingszeit, gar die pränatale Entwicklung standen Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts noch nicht im Fokus der Aufmerksamkeit. Nach ihrer Scheidung im April 1927 geht Gina Kaus wieder mehr schriftstellerische Wege. Sie arbeitet nun an größeren Projekten – vor allem an Romanen, die anfangs als Fortsetzungen in Zeitungen und

Gina Kaus: Teufel in Seide163

Zeitschriften (Berliner Tageblatt, Arbeiterzeitung, Münchner Illustrierte Presse) veröffentlicht werden, dann aber auch in Buchform erscheinen (z. B. im Ullstein-Verlag, im Knorr & Hirth Verlag in München, später im Verlag Allert de Lange in Amsterdam). Im deutschsprachigen Raum und auch international wird sie immer bekannter, ist als Jüdin in Deutschland und Österreich aber mehr und mehr bedroht. Schon früh steht sie auf der Schwarzen Liste der Nationalsozialisten. Ihre Romane »Die Schwestern Kleh« (1933), die Neuauflage von »Die Überfahrt« (unter dem Titel »Luxusdampfer« 1937) und »Katharina die Große« (1935) sowie »Der Teufel Nebenan« (1940) erscheinen schon nicht mehr in Deutschland, sondern im Amsterdamer Verlag Allert de Lange. Am 10. Mai 1933 werden ihre Bücher zusammen mit den Werken zahlreicher Autoren – unter anderem Karl Marx, Sigmund Freud, Kurt Tucholsky, Thomas Mann und Bertold Brecht – in Berlin öffentlich verbrannt. In ihrer Autobiografie vermerkt sie hierzu nur lakonisch: »Nie zuvor war ich in besserer Gesellschaft gewesen« (Kaus, 1990, S. 151). Aber weil sie in Österreich und nicht in Deutschland lebt, nimmt sie die Gefahr, in der sie schwebt, lange Zeit nicht wirklich ernst. Erst im allerletzten Moment wird ihr klar, dass sie auch unmittelbar persönlich gefährdet ist. Seit ihrer Heirat mit Otto Kaus besitzt Gina die italienische Staatsbürgerschaft. Am Tag des sogenannten »Anschlusses« Österreichs an Deutschland, am 13. März 1938, gelingt es ihr quasi in letzter Minute, ihren Pass verlängern zu lassen und zusammen mit ihrem Sohn Peter (Otto befindet sich zu dieser Zeit in einem Internat in England) überstürzt und nur mit dem Nötigsten über die Schweiz nach Paris zu reisen. Ihre gesamte Bibliothek – etwa zehntausend, zum Teil sehr kostbare Bücher, ihre Jugendtagebücher und alle Briefe – die von Pepi, Blei und vielen anderen – muss sie zurücklassen. All dies ging verloren. Ihren letzten Roman: »Der Teufel nebenan« (Kaus, 1940), beginnt sie Ende 1938 in Paris und stellt ihn im Mai 1939 fertig.

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Der Teufel nebenan – das Buch Der Roman beginnt mit einer Schilderung der persönlichen Eigenarten der Hauptperson: »Die Mutter pflegte zu sagen: ›Albert ist ein Mensch, den man nicht allein lassen darf.‹   Der Vater widersprach: ›Du redest ihm das ein. Ich kann nicht finden, daß er unselbständiger ist als andere Jungen in seinem Alter. Und wenn er es wäre, so müsste man ihn eben deshalb einmal allein ins Leben schicken. Du willst es einfach nicht wahrhaben, daß er ohne dich auskommen kann, und wenn er wirklich ein Schwächling ist, so bist du schuld daran‹« (Kaus, 1940, S. 5).

Gina Kaus schildert Albert Holzknecht als einen unselbständigen, wenig willensstarken und abhängigen jungen Mann, der – obwohl begabt und von ansehnlichem Äußerem – groß, mit breiten, athletischen Schultern und einem freundlichen Gesicht – sehr zur Passivität neigt und (fast) immer den Weg des geringsten Widerstands geht. Seinen Wunsch und seinen Plan, Philosophie zu studieren, wagt er nicht durchzusetzen – bis eines Tages sein Vater überraschend stirbt und seine Mutter selbst von ihm verlangt, in »die Stadt« zu übersiedeln und dort zu studieren. In der fremden Großstadt – nur ganz wenige Stellen im Text weisen vage darauf hin, dass es sich um Wien handelt – freundet sich Albert mit einem etwa gleichaltrigen Medizinstudenten – Stephan – an. Dieser – ebenfalls arm, aber deutlich zielstrebiger als Albert – versucht, als künftiger Arzt gesellschaftliche Verbindungen zu den Reichen und Erfolgreichen der Stadt zu knüpfen, um später eine Privatpraxis betreiben zu können. Eines Abends bittet er Albert, an seiner Stelle zu einem Souper zu gehen. Albert, der niemandem etwas abschlagen kann, trifft, als er den Wunsch seines Freundes erfüllt, nun aber nicht, wie erwartet, auf eine Abendgesellschaft, sondern auf eine Frau, die allein an ihrem Klavier sitzt und singt. Gina Kaus beschreibt diese Szene wie folgt: »Der Gesang gefiel ihm nicht. Sie sang viel zu anspruchsvoll für eine Frau, die zum eigenen Zeitvertreib vor sich hin trällert, und viel zu unregelmäßig für eine geübte Sängerin. Ihre Stimme war groß und erreichte mühelos die gewünschte Höhe, aber es war eine Stimme, die jeder Wärme entbehrte.   Das Kleid, das sie trug, war von rosafarbener Seide, es war lang und bildete zu beiden Seiten ihrer Füße sanfte Wellen auf dem Teppich. Trotzdem hatte Albert, der von solchen Dingen nichts verstand, das Gefühl, daß es kei-

Gina Kaus: Teufel in Seide165 nes jener Kleider sei, das eine Dame trägt, wenn sie viele Gäste erwartet. Er konnte ihren Rücken sehen, der auffallend gerade war, den langen Hals und das tiefschwarze Haar« (S. 24).

Melanie, eine knapp 30-jährige Witwe, wird als eine Frau portraitiert, die als Paradebeispiel für das Streben nach Überlegenheit, nach Kontrolle und Macht gelten kann. Ihre relative musikalische Unbegabtheit und ihren mangelnden Erfolg als Sängerin verleugnet sie, versucht ihn hinter allerlei Ausreden, Entschuldigungen und Schuldzuweisungen zu verstecken. Sie ist ein typisches Beispiel für eine Person, die mehr im Konjunktiv, im »ich könnte«, »ich hätte«, »ich würde«, im »wenn« und in der Phantasie lebt als in der Wirklichkeit. Ihre eigene künstlerische Durchschnittlichkeit kann sie nicht akzeptieren, sie will sie einfach nicht wahr haben. So lebt sie in der Illusion der eigenen Grandiosität: Alle – und schließlich vor allem Albert – sollen ihr bestätigen, wie großartig sie ist. Gleichzeitig ist Melanie außerordentlich durchsetzungsfähig. Ihre Ziele verfolgt sie konsequent und mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen. Albert kann ihrem Bestätigungsdrang, ihrer Sucht nach Überhöhung, ihrem illusionären Selbstbetrug kaum etwas entgegensetzen. Er ist – zunächst und für längere Zeit – das passende Gegenstück für ein solchermaßen entworfenes Selbstbild. Er widerspricht nicht. Er wagt nicht zu widersprechen, so wie er auch früher Mutter und Vater nicht widersprochen hat. Immer wieder nimmt er Melanies Einladungen an, wird ihr ständiger Begleiter. Trotz seiner zumindest ambivalenten Gefühle ihr gegenüber gelingt es ihr, ihn unter Einsatz ihrer weiblichen Reize zu verführen und immer mehr an sich zu binden. Am Tag seiner Promotionsfeier entlockt sie ihm ein Eheversprechen, indem sie seiner streng katholischen Mutter erzählt, ihr Sohn habe sie verführt, aber er werde sie jetzt heiraten und ihr damit die »Ehre wiedergeben«. Albert lässt sich von Melanie neu einkleiden, aushalten und in die sogenannten »besseren Kreise« einführen. Auf ihr Drängen hin und mithilfe ihrer Beziehungen nimmt er eine aussichtsreiche Stellung im Management einer Fabrik an. Die Beziehungsdynamik des Paares hat noch eine Besonderheit: Melanie ist extrem eifersüchtig. Während sie ihr Kontrollbedürfnis als

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Ausdruck ihrer grenzenlosen Liebe darstellt, deutet sie Alberts geringe Neigung zur Eifersucht als Zeichen seiner Gleichgültigkeit – womit sie nicht ganz Unrecht hat. Nach der Heirat lässt sie Albert kaum noch aus den Augen. Sie begleitet ihn auf seinen Dienstreisen, ruft ihn ständig an und besucht ihn überraschend in seinem Büro. Das alles lässt er sich gefallen, deutet es schließlich selbst als Zeichen besonderer Zuneigung. Nur einige wenige Male versucht er, aus diesem Beziehungsgefängnis auszubrechen. Wenn dies geschieht, konfrontiert Melanie ihn entweder erfolgreich mit ihrer Verzweiflung oder sie fängt ihn ein, indem sie seine Schuldgefühle aktiviert. Immer häufiger kommt es zu Beziehungskrisen. Als der Personalchef der Firma, bei der Albert arbeitet, in seiner Abwesenheit probeweise eine neue, tüchtige junge Sekretärin – Anna Kirchheim – einstellt, ahnt Albert sofort, dass diese Frau für Melanie Anlass zu Verdächtigungen, Untreuephantasien und Eifersuchtsszenen geben wird. Er unternimmt aber nichts. Einmal redet er die 24-Jährige unwillkürlich mit »Fräulein Kirchheim« an und erfährt, dass sie bereits einmal verheiratet war und ihre zweijährige Tochter allein erzieht. Albert entwickelt Anna gegenüber nun sehr ambivalente Gefühle. Er fühlt sich zu ihr hingezogen, dann wieder zeigt er ihr die kalte Schulter. Noch bevor Melanie erfährt, dass er überhaupt eine neue Sekretärin hat, kommt es eines Tages zu folgender Szene: »Am nächsten Morgen, als er im Badezimmer geduscht hatte, fragte Melanie plötzlich:   ›Was hast Du denn heute?‹ […]   ›Du bist aus dem Bett gesprungen, als könntest du es gar nicht erwarten. Und so kurz hast du noch nie gebadet.‹   Er sagte: ›Ich hatte den Eindruck, es sei schon sehr spät.‹   Sie verfolgte die Beendigung seiner Toilette mit Mißtrauen. Er zog sich so langsam wie möglich an, aber er spürte selbst, daß er ungeduldig war. Er stieg, wie an jedem Morgen, in seinen Autobus, Melanie stand am Fenster und winkte, an der nächsten Station aber stieg er wieder aus, nahm ein Taxi, fuhr bei einem Spielwarengeschäft vorbei und kaufte eine Puppe.   Melanie rief an, als er noch die Zeitung las. Sie war sehr verwundert, dass er wirklich direkt ins Büro gefahren war.   ›Es hat den Anschein gehabt, als hättest du vorher noch etwas vor.‹   ›Du siehst, wie dumm du bist‹, erwiderte er. […]

Gina Kaus: Teufel in Seide167   Dann kam Anna mit ihrem gelben Pullover und ihrem dunklen Rock und setzte sich zum Diktat. Er sprach an diesem Morgen kein überflüssiges Wort mit ihr, und erst als sie gegen Mittag mit den Abschriften kam und er sie durchgelesen und unterschrieben hatte, erst als Anna das Zimmer wieder verlassen wollte, gab er ihr das Paket.   ›Das ist für Sie – das heißt – für Ihre Tochter.‹   Sie sah ihn beinahe mißtrauisch an.   ›Ich weiß nicht, ob es das richtige ist. Ich habe so wenig Erfahrung.‹   Anna öffnete das Paket mit ihren rauen Fingern. Er war verlegen und sprach fortwährend weiter.   ›Ich dachte – weil die Kleine nicht einschlafen kann, wenn sie sich einsam fühlt. Vielleicht ist das eine Gesellschaft für sie, so eine Puppe. Aber wenn Sie sie umtauschen wollen, gegen einen Teddybären oder sonst was …‹   Er bemerkte plötzlich, daß Annas Hände zitterten. Sie hatte die Puppe auf die Schreibtischplatte gelegt und sah ihn mit ihren stillen, grauen Augen an.   ›Und ich dachte, Sie können mich nicht leiden.‹   ›Oh, das hat gar nichts mit Ihnen zu tun‹, sagte er unhöflich, ›es ist bloß – ich habe kleine Kinder furchtbar gern!‹« (Kaus, 1940, S. 133–135).

Sehr genau beschreibt Gina Kaus Alberts inneres und äußeres Hin und Her, seine ihm selbst zunächst noch ganz unbewusste Ambivalenz, aber auch die enorme intuitive Wahrnehmungsschärfe von Melanie, die in ihrer Angst allerkleinste Zeichen von Veränderungen an ihm wahrnimmt. So wird deutlich, dass die Grenze zwischen aus Angst geborenem Misstrauen bzw. manchmal geradezu wahnhaft anmutender Eifersucht und durchaus zutreffender intuitiver Wahrnehmungsschärfe oft nicht eindeutig zu markieren ist. Außerdem wird an dieser Szene nachvollziehbar, wie belastend und zerstörerisch ein aus persönlicher Unsicherheit geborenes Herrschaftsund Kontrollbedürfnis für eine enge Verbindung zweier Menschen ist. Und: wie die überstarke Einschränkung der persönlichen Freiheit des anderen genau das hervorzubringen in der Lage ist, was am meisten befürchtet wird. Es dauert nicht lange, bis der Konflikt zwischen den Eheleuten eskaliert – und es kommt, wie es kommen muss – bzw. so, wie der Leser es schon ahnt: Melanie begegnet Anna, als sie Albert wieder einmal im Büro besucht und unterstellt ihm mit wütenden Anschuldigungen, dass sie seine Geliebte sei. Sie verlangt, dass er sie entlässt und auf sie »verzichtet«.Albert versucht, diesmal nicht nachzugeben und sich Melanies Wünschen zu widersetzen. Daraufhin unternimmt sie einen Suizidversuch. Erneut gibt Albert nach und beschließt, Anna zu entlassen.

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An dieser Stelle des Romans ergreift Gina Kaus die Gelegenheit, Melanies Persönlichkeit und ihre Handlungen zu analysieren. Sie tut dies, indem sie Dr. Heinsheimer – Melanies herbeigerufenen alten Hausarzt – zur aktuellen Situation Stellung nehmen lässt. Nach übereinstimmender Meinung zahlreicher Rezensenten hat Gina Kaus in der Person von Heinsheimer Alfred Adler portraitiert. Sie beschreibt ihn im Roman folgendermaßen: »Heinsheimer […] trug einen schwarzen, unmodern geschnittenen Anzug und hielt die Hände in den Hosentaschen. Sein rundes gemütliches Gesicht erinnerte an einen wohllebigen Landpfarrer – jedenfalls solange er, was er für gewöhnlich tat, die Augen ziellos und blicklos ins Weite gerichtet hielt. Sah er aber einem Menschen ins Gesicht, und das geschah immer ganz plötzlich, unversehens, dann überraschte ein leuchtender Blick voll Güte und Klugheit« (S. 149).

Mithilfe des Arztes erkennt Albert, dass Melanies Selbstmordversuch appellativen Charakter hatte und als Mittel zum Zweck der Durchsetzung ihres Willens anzusehen ist. Im Gespräch mit Albert entwirft Heinsheimer das folgende Psychogramm von Melanies Persönlichkeit: »›Ich will gewiß keine überflüssigen Indiskretionen begehen‹, sagte Heinsheimer nach einer Weile, ›aber als Arzt finde ich, daß Sie doch etwas mehr von dem – sagen wir einmal: von dem unglücklichen Naturell Ihrer Frau wissen sollten, als Sie in drei Jahren erfahren haben.‹ […]   ›Wenn Sie Ihre Frau verstehen wollen, müssen Sie sich mit mir in ein Grenzgebiet zwischen Charakterologie und Psychiatrie begeben, in jenen Streifen Niemandsland, wo jeder seine Fahne hissen kann, der einen schönen, neuen Namen findet, und wo man sich, wenn Sie mir glauben wollen, am besten mit dem gesunden Menschenverstand zurechtfindet. Ich habe vorhin gesagt, Melanie hat ein unglückliches Naturell. Ich kann ebenso gut sagen, sie hat einen neurotischen Charakter. Frau Angermann pflegt zu sagen, ihre Schwester habe einen Teufel im Leib – aber das klingt schon nach einem Werturteil, und darauf habe ich kein Recht …‹« (S. 151 f.).

Ein Leser könnte bei der Lektüre der Texte von Gina Kaus den Eindruck haben, es handle sich hier (nur) um Beispiele leichter oder gar seichter Unterhaltungsliteratur. Aber auch wenn ihre Erzählungen in einem gut lesbaren, flüssigen Sprachstil verfasst sind, sind sie doch nicht flach. Vielmehr stehen sie in der Tradition des literarischen psychologischen Realismus, der in den 1920er, 1930er und 1940er Jahren, auch durch Gina Kaus, vertreten und weiterentwickelt wurde. In die-

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sem Sinne bemerkt die Literaturwissenschaftlerin Sibylle Mulot zur oben zitierten Textstelle erläuternd und präzisierend, »daß in Heimsheimers Analyse und Bewertung von Melanies Charakter sehr viel von Adlers Neurosenlehre steckt. Melanie erscheint wie eine Figur aus ›Über den nervösen Charakter‹, wie eine Fallbeschreibung aus ›Praxis und Theorie der Individualpsychologie‹ – aber sinnlich ins Bild gerückt! Man könnte sagen, der ›Teufel nebenan‹ sei ein adlerianischer Roman, in dem Gina Kaus einer Fallstudie (bei Adler immer sehr trocken referiert) Fleisch und Blut, Leben und Glanz, Spannung und Anschaulichkeit verliehen hat« (Mulot, 1992, S. 289).

Zurück zur Erzählung. Annas Probezeit ist nicht verlängert worden, sie ist erneut auf Arbeitssuche. Im Licht seiner neuen Erkenntnisse bereut Albert sein nachgiebiges Verhalten. Er besorgt sich Annas Adresse, fährt zu ihr nach Hause, beabsichtigt, ihr Hilfe anzubieten. Als er sie um Verzeihung bittet, geschieht etwas für ihn selbst Überraschendes: »›Es tut mir so leid‹, sagte er. Aber das hatte nichts mit dem zu tun, was er empfand. Was er empfand, war ein Schmerz, ein plötzlicher, bis zur Unerträglichkeit gesteigerter Schmerz, für den er keinen Namen wußte. […] Vom Scheitel bis zur Sohle war er von dem plötzlichen, unausdrückbaren Schmerz erfüllt. Sie [Anna] wandte sich verwundert herum. Ihre Augen trafen die seinen. Ein paar Sekunden lang standen beide wie vom Blitz gerührt. Keiner konnte später sagen, wer die entscheidende Bewegung gemacht hatte. Die paar Sekunden zwischen Blick und Kuß blieben für ewig in das Rätsel verklärter Entrückung gehüllt« (Kaus, 1940, S. 166).

Also hat sich Albert doch in Anna verliebt, auch wenn er es selbst noch so überzeugt geleugnet hatte. Das ist insofern eine bedeutsame Stelle, als sie zeigt, dass es mit der Lüge und der Wahrheit oft alles andere als einfach ist – jedenfalls dann, wenn es sich nicht um bewusste Lügen, sondern um Selbsttäuschung, Selbstbetrug, um den innerseelischen Mechanismus der Verdrängung oder Verleugnung handelt. Albert beginnt mit Anna eine Affäre, lebt eine Weile ein Doppelleben. Dann überstürzen sich die Ereignisse. Im verzweifelten Kampf gegeneinander überschreitet das Ehepaar nun weitere Grenzen: Melanie bricht mit einem Brecheisen den Bücherschrank auf, in dem Albert Annas Briefe aufbewahrt und Albert öffnet ihre ganz persönliche Kassette, in der sie unter anderem ihren geheimen Veronal-Vorrat versteckt hält.

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Es kommt zum Showdown, zu einer Schlüsselszene des Buches. An die Stelle von Mitleid, Rücksichtnahme und Anpassungsbereitschaft tritt bei Albert nun Scham und Wut, bei Melanie an Stelle von Angst und übergriffiger Fürsorglichkeit nun offene Aggression, Hass und ein Gefühl des Triumpfes. Selbst im Innern tief verletzt, fährt sie fort, Anna zu entwerten, Alberts Gefühle zu verhöhnen und ihn zu provozieren. Jetzt hat Albert endlich die Kraft, sich aus der unglücklichen Verbindung zu lösen, jetzt bringt er den Satz über die Lippen, den er bislang nicht auszusprechen wagte: »Ich will, daß wir uns scheiden lassen« (S. 219). Szenenwechsel. Albert erwacht aus einem Fiebertraum, sein ärztlicher Freund Stefan ist bei ihm. Der Leser erfährt, dass Albert sich vor drei Tagen in einer Kneipe bis zur Besinnungslosigkeit betrunken hat und nur noch in der Lage war, sich von einem Taxi zur Wohnung seines Onkels fahren zu lassen. Hier liegt er nun, sterbenskrank. Was aber ist geschehen am Abend des scheinbar sinnlosen Besäufnisses? Schließlich wird bekannt: Melanie ist tot. Hat sie sich schließlich – entgegen aller Vorhersagen – doch selbst umgebracht? Oder hat Albert sie gar ermordet? Die Antwort überrascht. Denn tatsächlich: Albert hat Melanies Tod herbeigeführt. In einem Gespräch mit Heinsheimer gesteht er, dass er, bevor er das Haus verließ, noch einmal in Melanies Schlafzimmer gegangen ist und zusätzlich zu der von ihr selbst für einen neuen Suizidversuch gewählten Dosis alle vorhandenen Veronal-Tabletten in das Glas geschüttet hat, das sie dann trank. Das Gespräch endet mit den Worten (S. 287): »Sie haben ganz recht, Herr Doktor. Ich habe meine Frau umgebracht. Rufen Sie den Staatsanwalt.« Wer aber nun glaubt, hiermit nehme die tragische Geschichte ein Ende, der sieht sich getäuscht. Jetzt entwirft Kaus nämlich eine recht eigenwillige Position, die sie ausgerechnet Heinsheimer – alias Adler – zuordnet. Dessen Sichtweise gründet sich auf verschiedene Überlegungen. Zum einen misst er der Tatsache, dass Albert überraschend einen Revolver fand, als er die Tabletten aus Melanies Kassette nahm, eine große Bedeutung bei – denn er hatte Albert selbst darauf hingewiesen, dass Melanie eher eine andere, gehasste Person umbringen würde als sich selbst. Diese Behauptung stand Albert unmittelbar vor Augen, als er die Waffe fand – er dachte aber, dass nicht er, sondern Anna das Ziel-

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objekt von Melanies bevorstehendem Rachefeldzug sein würde. Um Anna zu schützen, wollte er Melanie unschädlich machen. Heinsheimer deutet das unter Berücksichtigung von Alberts körperlichem und seelischem Ausnahmezustand als eine Art vorweggenommene Notwehr. Und er macht Albert bewusst: Wenn er sich des Mordes für schuldig bekennen würde, würde er sich vor der Verantwortung drücken, die er inzwischen Anna und ihrer Tochter gegenüber hat. Er würde zwar seinen Wunsch nach Bestrafung und Buße befriedigen, sich aber erneut vor den Herausforderungen des Lebens drücken. Heinsheimer sieht also die »Lösung« des Falles nicht in Alberts Bestrafung, sondern sozusagen in der (eigenmächtigen) Aussetzung seiner Strafe zur Bewährung. Ob Adler selbst jemals so weit gegangen wäre, eine solche Position zu vertreten, darf bezweifelt werden. Er hat sich hierzu auch nicht äußern können, denn er war ja bereits im Mai 1937, etwa zwei Jahre vor der Fertigstellung des Buches, in Aberdeen an einem Herzinfarkt gestorben. In ihrem Roman entscheidet sich Gina Kaus jedenfalls für diese merkwürdige Form von »Happy End«. Psychologisch wird hier der Leser auf eine Position hin orientiert, die folgende Identifikationsmuster anbietet: Die egozentrische, machtbesessene, rücksichtslose Herrscherin, die verschlingende, kastrierende Frau ist böse. Sie hat eine harte Strafe, sogar die Todesstrafe, verdient. Der Leser kann und darf seine ganze Wut, seine Enttäuschung und seinen Hass gegen das (vermeintlich) Böse, gegen die »falsche Schlange«, gegen den Teufel in Frauengestalt richten. Der Täter – Albert – ist das Opfer: Er handelt, wenn überhaupt, nur aus Notwehr und – von höherer Warte aus betrachtet – moralisch nachvollziehbar und letztlich gerechtfertigt. Durch diese Aufspaltung drohen die weniger sichtbaren Gegenanteile der handelnden Personen verloren zu gehen: Melanies innere Not, ihre Beziehungsunsicherheit, ihre aus abgewehrten Minderwertigkeitsgefühlen geborene, maßlose narzisstische Bedürftigkeit, ihre Angst – und Alberts mattes Machtstreben, das er aus der Anpassung, vordergründiger Unterwerfung oder der immer wieder behaupteten Position der Ich-Schwäche und der gefühlten moralischen Überlegenheit heraus entfaltet.

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Teufel in Seide – der Film Kurz nachdem Gina Kaus in Paris den Roman »Der Teufel nebenan« fertiggestellt hat, muss sie erneut fliehen. Es gelingt ihr, am 1. September 1939 – auch hier wieder in letzter Minute – mit ihren Söhnen in Le Havre an Bord der »Île de France« zu gehen und unter äußerst unsicheren Umständen nach Amerika zu reisen. Nahezu mittellos in New York angekommen, erhält sie dort die Möglichkeit, eine kleinere Fortsetzungsgeschichte für eine Zeitung zu schreiben. Damit verdient sie gerade genug, um die Reise nach Hollywood zu finanzieren, wo ihr ein Agent eine Arbeitsmöglichkeit vermittelt hat. Den ersten Filmvertrag verliert sie dort aber bereits nach zwei Wochen und nur mithilfe von Jay Dratler – einem Künstler, der als freier Schriftsteller in Wien gelebt hatte – kann sie sich nach und nach beruflich fester etablieren. Insgesamt arbeitet sie in den nächsten Jahren an 18 Filmen mit, von denen einige auch heute noch in einer deutschen Fassung erhältlich sind.6 Eine Einordnung des literarischen Schaffens von Gina Kaus als Drehbuchautorin nimmt Nicole Brunnhuber (2003) in ihrem Artikel »Frauenarbeit in der Kunstfabrik mit Regeln« – Drehbuchautorinnen im »Exil in Hollywood« vor. Erneut hat sich Gina Kaus zum Erfolg (zurück-)gekämpft – aber sie zahlt dafür auch einen hohen Preis: Ihre Arbeiten verflachen immer mehr, sie passt sich an die in Hollywood üblichen Konventionen an, beispielsweise an das zu dieser Zeit dort vorherrschende Frauenbild, und es gelingt ihr nicht mehr, eines ihrer noch geplanten Romanprojekte abzuschließen. 1951 besucht sie noch einmal Europa und verkauft bei dieser Gelegenheit in Berlin die Filmrechte an ihrem Buch »Der Teufel nebenan«. Trotz ihrer inzwischen großen Erfahrungen bearbeitet sie die Filmfassung aber nicht selbst, sondern überlässt dies ihrem befreundeten Kollegen Jochen Huth. 6 »We’re Not Married!« – »Wir sind gar nicht verheiratet« (Johnson u. Goulding, 1952); »The Robe« – »Das Gewand« (Maltz u. Dunne, 1953); »Das Schloss in Tirol« (Kaus, Nachmann u. Radványi, 1957).

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Das ist insofern wichtig, weil nicht alles, was im Film dargestellt ist, unmittelbar und allein Gina Kaus zuzuschreiben ist – dagegen spiegelt das Drehbuch und der Film viel von dem Zeitgeist wider, der Mitte der 50er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland herrschte. Es ist nicht leicht, die Schrift- und Filmfassung des Romas »Der Teufel nebenan« – der ab Mitte der 1950er Jahre unter dem Titel »Teufel in Seide« erscheint (der Text bleibt unverändert) und in den folgenden Jahren mehrfach neu aufgelegt wird – miteinander zu vergleichen. Jede der beiden Kunstformen hat ihre eigene Sprache. Das schriftliche Werk entwickelt sorgfältig Gedanken und Argumentationsketten, arbeitet mit Dialogen, mit ineinander verwickelten Handlungsabläufen. Die Filmsprache nutzt hingegen in viel höherem Maße Bilder, Gesten, Blicke, Gesichtsausdrücke, Körpersprache, aber auch akustische Eindrücke und die Wirkung von Musik. Sie hat mehr Ähnlichkeit mit primärprozesshaftem Erleben, ist vieldeutiger, ist der Sprache des Traumes näher. Äußerlich ändert der Film die Orte der Handlung, einige Ereignisse und die Namen der agierenden Personen. So wird aus Albert Holzknecht Thomas Ritter und aus Anna Kirchheim wird Sabine Uhl. Nur Melanie Simrock bleibt Melanie Simrock. Bedeutsamer sind aber wohl die Veränderungen der dargestellten Charaktere und Lebensumstände einiger Hauptpersonen: Während Anna Kirchheim eine von ihrem Partner verlassene, alleinerziehende Mutter, eine selbstbewusste und emanzipierte Frau ist, ist Sabine Uhl (gespielt von Winnie Markus) »nur« eine tüchtige, hingebungsvolle, ziemlich naiv wirkende alleinstehende Sekretärin, bei der unklar bleibt, warum sie eigentlich keinen Partner hat. Über die biografischen Wurzeln des Musikers Thomas Ritter erfahren wir im Film nichts. Seine Mutter, die im Roman eine nicht unbedeutende Rolle spielt, kommt in der Filmfassung überhaupt nicht vor. Thomas Ritter – im Film verkörpert von dem seinerzeit sehr beliebten Schauspieler Curd Jürgens – ist außerdem kein ganz so willensschwacher und fast nur passiver Mann – er ist markant, wirkt zunächst selbstbewusst. Aber er ist auch etwas labil, sentimental und nachgiebig. Für Melanies Schönheit ist er sehr empfänglich, auch für ihren Witz und ihren Charme. Die Filmfassung setzt das unter anderem dadurch in Szene, dass die Rolle der Melanie an Lilly Palmer vergeben wurde, die den Zuschauer

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zunächst durch ihre Schönheit, Wortgewandtheit, ihre Eleganz und ihr selbstsicheres Auftreten gewinnt. Ein weiterer Unterschied zwischen Schrift- und Filmfassung ist die Form bzw. Dramaturgie der Erzählung. Der Film bedient sich verschiedener dramaturgischer Mittel, die der Schriftstellerin so nicht zur Verfügung stehen – auch wenn der Schreibstil von Gina Kaus, die ja schon früh auch Komödien und Dramen für die Bühne verfasst hat und viel mit Dialogen arbeitet, in vielerlei Hinsicht beste Vorlagen für Verfilmungen bietet. Die bewegten Bilder jedenfalls erzeugen in Kombination mit Geräuschen und Musik im Betrachter unmittelbar starke Stimmungen und nutzen gezielt in erheblichem Umfang – großenteils unbewusste – Assoziationen. Die Handlungsabläufe werden mithilfe von Schnitt- und der Überblendungstechniken (Rückblenden) oft verdichtet »erzählt«. Außerdem ermöglichen die spezifischen Besonderheiten des Mediums Film (und legen es geradezu nahe), die zeitliche Abfolge der Geschehnisse »durcheinanderzuwirbeln« und die »Story« neu und in anderer Weise zu erzählen. In der Verfilmung des Romans wurde das so umgesetzt, dass schon im Vorspann und in den ersten Szenen die Dramatik der Dreiecksgeschichte – bzw. die Thematik: ein Mann zwischen zwei Frauen – bildlich vorweggenommen wird: Thomas Ritter lernt nämlich – nach einwöchigem Urlaub auf Sylt – am Tag seiner Abreise Sabine Uhl kennen (seine spätere Aushilfssekretärin) – und unmittelbar danach, im Zug, auf der Rückreise in den Alltag, Melanie Simrock. Als er sich nach dem vergeblichen Versuch, im überfüllten Abteil an seiner aktuellen Komposition zu arbeiten, in ein zunächst leeres ErsteKlasse-Abteil zurückzieht, begegnet er dort der eleganten und wortgewandten Frau – die unbedacht ein Fenster öffnet, durch das ein Teil seines Manuskripts davonfliegt (später erschließt sich dem Zuschauer, dass es sich hier um eine sehr symbolträchtige Verbildlichung der späteren Beziehungsdynamik handelt). So kommen beide ins Gespräch – es kommt zu einem Flirt, zum Beginn einer dynamischen und am Ende dramatischen Liebesgeschichte, deren Ausgang der Zuschauer bereits kurze Zeit später erfährt: Melanies Tod. Dann wird in Rückblenden die Beziehungsgeschichte zwischen der bezaubernden, reichen jungen Witwe und dem offensichtlich talentierten jungen Musiker erzählt.

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Zunächst arrangiert Melanie einen kleinen privaten Gesellschaftsabend, an dem sie Thomas Ritter die Gelegenheit gibt, aus seinem eigenen Klavierkonzert vorzuspielen, einflussreiche Persönlichkeiten aus dem Kulturbetrieb kennenzulernen und bedeutsame berufliche Kontakte zu knüpfen (ein immer wiederkehrendes typisch Kaus’sches Thema). Von nun an fördert sie seine Karriere, verschafft ihm eine Anstellung in einem Musikverlag – deren heimliche Besitzerin sie ist –, sorgt aber gleichzeitig dafür, dass er nur mit Verwaltungsaufgaben betraut wird und seine eigentliche Leidenschaft, die Musik, nicht weiterentwickeln kann. Thomas Ritter genießt zwar nun seine Bedeutung und seinen Einfluss – überhaupt das ganze angenehme Leben, das Melanie ihm einerseits ermöglicht, andererseits aber auch aufzwingt –, innerlich fühlt er sich aber zunehmend gegängelt, gezwungen und manipuliert. Hier ist die Story zwar konkret anders ausgestaltet als im Buch, sie bildet das Kernthema des Romans aber analog treffend nach. Nach einiger Zeit – Melanie und Thomas sind inzwischen verheiratet – beginnt Thomes unter dem Absterben seiner Kreativität zu leiden. Eines Abends versucht er einmal wieder, am Flügel im Wohnzimmer der inzwischen gemeinsamen, luxuriös ausgestatteten Wohnung die eigene Kompositionsarbeit wieder aufzunehmen. Melanie kommt hinzu, umarmt ihn und fragt: Melanie:  Hast du mich ganz über deiner Musik vergessen? Thomas:  Ich glaube eher, dass ich vergessen habe, wie man gute Musik schreibt. Ich weiß nicht – das geht mir alles so schwer von der Hand. Als hätte ich in diesem Verlag viel zu viel gelernt, was man als produktiver Mensch gar nicht wissen darf. Dieses ewige Beurteilen fremder Musik – dieses Diskutieren mit dem Verleger über Geschmack! Das macht mich alles so unfrei … so befangen … ich weiß nicht … ich denke zu viel! Es kommt alles von hier, hier! (schlägt sich mit der Faust an die Stirn) vom Kopf … Melanie:  … und müsste von hier kommen (fasst sich ans Herz) – ich weiß … »Man muss allein sein, um seine Musik zu hören« … – (nachdrücklich) Und ob ich allein bin, das kümmert dich nicht?! Thomas:  Weil ich einmal wieder am Klavier sitze? (seufzt) Ich glaube, ich sitze doch auf der falschen Seite vom Schreibtisch. Melanie:  Unsinn, Liebling! Nur ist der Schreibtisch noch nicht der richtige! – der, an dem du selbst bestimmen kannst. Pass auf: Ich hab mir schon alles überlegt. Im nächsten Monat hat der Verlag seine Generalversammlung. Und da werde ich einfach mein Aktienpaket auf deinen Namen überschrei-

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ben – und damit ist automatisch ein Direktorenposten verbunden. Verstehst du? Thomas (schüttelt den Kopf):  Nein, Melanie. Ich verstehe nicht, dass du nicht begreifst, worum es mir geht. Ich will nicht, was mir nicht gehört. Ich will … (spielt ein paar Akkorde) Melanie (wiederholt):  »Was mir nicht gehört …« – was mir gehört, gehört doch auch dir! Du gehörst mir auch! (küsst ihn).

In der Szene wird nicht nur Melanies Fixierung auf materielle Werte und ihre Ichbezogenheit deutlich, es zeichnen sich hier auch erste Risse in der Beziehung ab. Die Zeit der Begeisterung, der Zauber der ersten Verliebtheit beginnt zu verblassen. Die Faszination für das Äußere und die wechselseitigen Erlösungsprojektionen stoßen an die Realität. Es geht um die Frage, ob die Partner einander – auch in ihren Wünschen, Bedürfnissen und Hoffnungen – so sehen und akzeptieren können, wie sie sind. Aber auch in der (im Vergleich zum Buch) abgewandelten Geschichte, in der sich die beiden Protagonisten zunächst wirklich zueinander hingezogen fühlen, erweist sich Melanies aus Unsicherheiten und Kontrollbedürfnissen gespeistes Streben nach Überlegenheit und Herrschaft wie auch ihre Tendenz zu krankhafter Eifersucht als dominant. Thomas Ritter neigt wie Albert Holzknecht mehr zur passiv-aggressiven Varianten von Widerstand. Nur selten lässt er sich mit seiner Frau auf eine offene Konfrontation ein. Stattdessen gibt er äußerlich immer wieder nach, baut sich aber im Geheimen eine Gegenwelt auf. Seine durchaus tüchtige, aber ebenfalls eher passive, stets zur Anpassung und zur Hingabe bereite (und fähige) neue Aushilfssekretärin »Fräulein Uhl« vermag seine eigenen Bedürfnisse nach Bewunderung und narzisstischer Bestätigung letztlich besser zu bedienen als Melanie, die ihn in seinen Kompetenzen immer mehr beschneidet und depotenziert. Die Ungleichheit und das Ungleichgewicht in der Beziehung des Ehepaares drückt sich nicht nur darin aus, dass Melanie nahezu alle Ausgaben bestreitet, die für die von ihr bevorzugte luxuriöse Lebensweise nötig sind, sondern auch bei verschiedenen Gelegenheiten, in denen Thomas versucht, ihr etwas von seiner alten und vertrauten Welt zu zeigen. In solchen Situationen zeigt Melanie bestenfalls eine höfliche Distanz, meist aber offene Geringschätzung. So verachtet sie die deftige Kost in einer von Thomas noch aus früheren Zeiten geschätzten einfachen Gaststätte und neidet ihm den freundlichen Kontakt mit der Bedienung, auch wenn diese weder jung noch hübsch ist. Immer

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dann, wenn sich auch nur andeutet, dass es etwas im Leben ihres Mannes geben hat oder gegeben haben könnte, das ihm etwas bedeutete oder noch bedeutet, reagiert sie enttäuscht, gekränkt, bricht einen Streit vom Zaun und sorgt nach und nach dafür, dass alle Spuren aus seinem früherem Leben, dass seine gesamte Vergangenheit ausgelöscht wird. Durch Heimlichkeiten, Lügen und Intrigen hintertreibt und zerstört sie schließlich auch eine sich anbahnende Freundschaft zwischen ihrem Mann und einem begabten, aufstrebenden jungen Musiker, mit dem er sich – quasi als Ersatz für die eigene verkümmernde künstlerische Produktivität – kompromisshaft identifiziert. In Buch und Film entwickelt sich die Dynamik der Paarbeziehung trotz der Anpassung der Filmfassung an den Zeitgeist ähnlich. Das Eifersuchtsthema entfaltet hier wie da seine destruktive Kraft. Die macht- und kontrollbesessene Frau besticht den Mann im Namen der Liebe, verführt ihn körperlich, seelisch, durch Geschenke, Luxus und gesellschaftlichen Status. Das Absterben seiner Kreativität nimmt sie dabei nicht nur in Kauf, sie verstärkt seine Abhängigkeit vielmehr gezielt. Dass sie damit seine Gefühle ihr gegenüber immer mehr unterhöhlt, nimmt sie in ihrer eigenen Verblendung entweder nicht wahr oder sie nimmt es billigend hin. Der vereinnahmte »Geliebte« wiederum wehrt sich letztlich immer nur halbherzig – am Ende gibt er doch immer wieder klein bei, ordnet sich unter, übernimmt Melanies Sichtweise. Die männliche Hauptperson im Roman wie im Film ist eben schwach, die weibliche dagegen stark – und skrupellos. Wie im Buch, so spitzt sich auch in der Filmfassung die Situation eines Tages zu. Thomas Ritter begegnet seiner kurzen Sylter Urlaubsbekanntschaft wieder. Irgendwann beginnen beide eine Affäre. Melanie unternimmt einen demonstrativen Suizidversuch, ihr alter Hausarzt und Melanies Schwester öffnen dem erschrockenen und von Schuldgefühlen geplagten Ehemann die Augen über die Eigenarten und Eigenheiten seiner nun schon lange nicht mehr geliebten Ehefrau. Auch im Film eröffnet Thomas Melanie irgendwann, dass er sich von ihr scheiden lassen will und die Schuld7 auf sich nehmen will. Melanie reagiert nun auf eine für sie typische Weise: 7 Erst im Jahr 1977 wurde in der Bundesrepublik Deutschland im Ehescheidungsrecht das »Verschuldungsprinzip« durch das »Zerrüttungsprinzip« abgelöst.

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Melanie:  Scheidung?! Du willst dich von mir scheiden lassen? Du von mir? Ja, hab’ ich dich denn betrogen, dass ich dich freigeben soll? Glaubst du etwa, ich soll zu dieser Stenotypistin sagen: »Hier ist mein Mann, viel Glück?« Nein! Dazu habe ich dich zu sehr geliebt. Thomas:  Geliebt? Geliebt hast du an mir nur, was dein Besitz war. Dein ausschließlicher Besitz. Alles an mir, was dir nicht gehörte, hast du zerstört … erstickt. Angefangen mit meiner Musik. Nein, so kann ich nicht mehr leben. Melanie:  Du kannst nicht? Und ich? Und ich?! Thomas:  Ja, es gibt Augenblicke im Leben, in denen man nur noch sich selbst verantwortlich ist. Melanie: Egoist! Thomas:  Ja, Egoismus erzeugt Egoismus. Es gibt einen heiligen Egoismus der Selbstbewahrung. Melanie: Hahaha!! (schlägt die Hände über dem Kopf zusammen) Einen heiligen Egoismus! Dann vergiss auch bitte nicht, dass die Ehe heilig ist! Und Ehebruch strafbar! Dass man Ehebrecher – Ehebrecherinnen! – anzeigen kann, dass sie vorgeladen werden, angeklagt und verurteilt! Sie wird nicht mehr singen, deine Nachtigall, das schwöre ich dir. Das schwöre ich dir! Thomas:  Mach doch, was du willst! Zwischen uns ist es aus. So oder so.– (geht zu dem Spiegel, vor dem er bei der ersten Abendeinladung gestanden hat) Was für ein weiter Weg von dem ersten Abend, an dem ich hier vor dem Spiegel stand und meine Augen nicht von dir lassen konnte … (Melanie nimmt eine Vase und schleudert sie gegen den Spiegel, der in tausend Teile zerspringt – dramatische Musik).

Spiegel werden sprachlich und bildlich oft als Symbol benutzt. In analytischen Entwicklungstheorien wird der positiven Spiegelung – der originären Lebensbewegungen des Säuglings, des Kleinkindes, des Partners usw. – eine zentrale Bedeutung beigemessen. In dieser Szene markiert und versinnbildlicht das Zerbrechen des Spiegels das Zerbrechen der Liebe, der Hoffnungen, die sich als Illusionen erwiesen haben, das Zerbrechen der Beziehung. Weder an Melanie noch an Thomas geht diese Erfahrung spurlos vorüber, aber während Thomas sich in einer neuen Liebesbeziehung gehalten fühlt, droht Melanies Innenwelt völlig zu zerbrechen, sie ist in ihrem innersten Kern getroffen. Sie äußert das zwar lebensstiltypisch voller Selbstmitleid und ohne Gespür zum Beispiel für die Bitterkeit ihrer Hausangestellten, aber sprachlich bringt sie ihre Gefühle genau auf den Punkt: Melanie:  Ich hab’ Angst, Sophie. Ich hab’ Angst vor mir selbst. Ich weiß nicht, was ich anrichte, wenn er von mir geht … du kennst mich doch! Sophie (bitter):  Ja, ich kenne Sie!

Gina Kaus: Teufel in Seide179 Melanie: Nein, du kennst mich nicht. Ihr kennt mich alle nicht, wie ich wirklich bin. Ihr liebt mich nicht. Keiner liebt mich!

Melanie ist von Angst erfasst. Sie ist mit dem Scheitern ihrer »Liebesstrategien«, ihres Lebensentwurfs und ihres Selbstbildes konfrontiert. Ihre Machtmittel greifen nicht mehr, ihre Verführungskünste und ihr Herrschaftstalent sind an eine Grenze gestoßen. Autoaggressive Tendenzen keimen wieder auf (»Ich weiß nicht, was ich anrichte, wenn er von mir geht …«), sie begreift die Situation, in der sie steht. Der Satz »Ich weiß nicht, was ich anrichte, wenn er von mir geht« kann man einerseits als die Fortschreibung eines alten Musters sehen – demonstratives Drohen mit Selbstmord oder auch einer Gewalthandlung – man kann es aber auch als Bekenntnis zur eigenen, abgrundtiefen Bedürftigkeit begreifen. Melanie äußert ihr Grundgefühl: das des Unverstandenund Ungeliebtseins. Somit benennt sie indirekt den Kern, die Triebfeder ihrer herrschsüchtigen, zerstörerischen und selbstzerstörerischen Kompensationsbemühungen. Bemerkenswert ist, dass die Filmfassung von »Teufel in Seide« an dieser zentralen Stelle den Inhalt des Kaus’schen Romans verändert. Nach dem Drehbuch von Jochen Huth ist der Ehemann nämlich nicht der Verursacher des Todes seiner Ehefrau, sondern eher das mehr oder weniger unschuldige Opfer einer schönen und reichen, aber eben hartnäckigen Neurotikerin. Denn: Wird im Buch die indirekte Tötungshandlung mehr als eine irgendwie begreifliche Affekttat (des hilflosen, verzweifelten und zudem durch Krankheit geschwächten Mannes) dargestellt, so wird dieses Ereignis im Film zum Suizid der Frau, der in der Absicht verübt wird, den Eindruck einer Gewalttat zu erwecken und das Leben und die Zukunft des Mannes, der sich nicht weiter beherrschen lassen will, für immer zu zerstören. Folglich kommt es in der Filmfassung – anders als im Roman – zu einem Gerichtsverfahren, in dem Thomas Ritter eines Tötungsdelikts angeklagt ist, am Ende aber nicht verurteilt wird. Dennoch wird Melanie im Film nicht nur als ausschließlich herrschsüchtig und böse dargestellt, sondern auch in ihrer Verzweiflung und Not gezeigt. Also nicht nur als Täterin, sondern auch als Opfer ihrer eigenen überspannten Zielsetzungen, ihres im Kern letztlich labilen Selbst- und Selbstwertgefühls. So vermeidet der Film, was das Buch nahelegt: die allzu einseitige Identifizierung des Zuschauers und eine allzu einseitige Aufspaltung von Gut und Böse.

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Bei der Darstellung des Sachverhalts und seiner psychologischen Implikationen bedienen sich Drehbuch und Regie dabei einiger Mittel, die nur im Filmgenre so zu realisieren sind. Wie etwa ein tiefenpsychologisch oder analytisch orientierter Psychotherapeut eigenen Einfällen, Deutungsideen und Interpretationsmöglichkeiten nachgeht, während er dem Narrativ und den Assoziationen seines Patienten folgt und diese reflektiert, so wird im Film das Geschehen, das zu Melanies Suizidhandlung führt, zeitnah, fast gleichzeitig, in der bildhaften Rückblende dargestellt – einschließlich der Gedanken und Motive der beteiligten Personen – und aus der Sicht des Verteidigers von Thomas Ritter (Rechtsanwalt Zacharias) beschrieben. Durch diese besonderen Darstellungsmittel wird es möglich, die Gedanken, Erwägungen und Befürchtungen der jeweils sichtbaren Personen in einer Art innerem Monolog zu verbalisieren und als hörbaren Text über die Bilder zu sprechen – so etwa Thomas Ritters Gefühle und Handlungsmotive bei der Suche nach den entwendeten Liebesbriefen oder Melanies Gefühlschaos und ihre Selbstgespräche beim Einsammeln der auf dem Boden verstreuten Tabletten. Parallel dazu, mal zeitversetzt, mal ganz zeitnah, hört der Zuschauer aber auch immer wieder die Stimme des Verteidigers von Thomas Ritter, wie er das Geschehen bei der Gerichtsverhandlung rückblickend beschreibt und deutet: Thomas (Stimme aus dem Off, wie im Selbstgespräch mit sich, während die Handlung im Bild gezeigt wird: Thomas Ritter sucht die Liebesbriefe, die er an Sabine Uhl geschrieben hat):  Ich dachte nur eins: Ich darf ihr die Beweise nicht lassen. Die Briefe, die sie schon nachmittags zu ihrem Anwalt gebracht hatte. In dem Schubfach, das sie zugestoßen hatte, war eine Kassette. Die Briefe fand ich darin nicht – aber ein Couvert – ein Couvert mit Tabletten. Zwölf Veronal-Tabletten, wohl der Rest der Packung, die man damals auf ihrem Nachttisch gefunden hatte. Unwillkürlich blickte ich hinüber und sah das Glas … Sie kann doch nicht das Gleiche noch einmal versuchen, dachte ich – aber dann sah ich in dem Glas den Rest von vier Tabletten, die sich noch nicht ganz aufgelöst hatten. Sie musste sie gerade hineingetan haben. Vier! Genau wie damals. Nicht genug zum Sterben und doch keine leere Drohung.

Szenenwechsel/Überblendung. Im Gerichtssaal. Der Anwalt von Thomas Ritter bei seinem Plädoyer:

Gina Kaus: Teufel in Seide181 Zacharias:  … aber die Waffe des vorgetäuschten Selbstmordes hatte ihr der Angeklagte für immer aus der Hand geschlagen, als er die Tabletten neben das Glas legte (das Bild der neben dem Glas liegenden Tabletten kann der Zuschauer sehen). Sie musste sich ja durchschaut fühlen, entlarvt, gedemütigt, verhöhnt.

Erneute Überblendung. Melanie (wird gezeigt, wie sie die 12 Veronal-Tabletten findet, mit einer spontanen Geste vom Nachttisch wischt. Sie hört die Wohnungstür ins Schloss fallen, stürzt ins Wohnzimmer – von dem aus sie die Wohnungstüre sehen kann – ruft und schreit panisch):  Thomas? – Sophie? – Thomas! Zacharias (aus dem Off):  Allein im Haus zurückgeblieben, von allen verlassen … ungeliebt. Betrogen von ihrem Mann … zum ersten Mal ohne jede Macht über ihn … und doch nicht ganz machtlos. Ihr Tod und die Schuld daran, die zeitlebens auf seinem Gewissen lasten sollte … das war die Macht, die sie noch als Tote über ihn haben würde … Melanie (läuft ins Schlafzimmer zurück, spricht undeutlich und teilweise unverständlich vor sich hin):  Ach, da hab’ ich das alles weggeworfen … (beginnt, die verstreuten Tabletten wieder einzusammeln und zu zählen, spricht dabei mit sich selbst) fünf, wie viele hab’ ich denn? … zwei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun … (während sie zum Nachttisch kriecht und die aufgesammelten Tabletten zu den anderen ins Glas schüttet, hört man wieder die Stimme von Thomas Verteidiger vor Gericht) Zacharias:  Ihn nicht loszulassen, war ihr letzter Gedanke. Denn wenn ihre Liebe auch unheilvoll und verderblich war – für sich selber und für andere – auf ihre Art liebte sie ihn. Mit einer Ausschließlichkeit und unbeirrbaren Treue, mit dieser zerstörerischen Liebe, die auch vor der Selbstzerstörung nicht zurückschreckte.

Gina Kaus heute Wenn Gina Kaus – zumindest innerhalb der Individualpsychologie – eine ganze Weile eher vergessen schien, so sind doch in jüngerer Zeit wieder zahlreiche Arbeiten von ihr und über sie neu veröffentlicht worden: Im Jahr 2000 erschien ihr Erzählband »Die Unwiderstehlichen – Kleine Prosa« mit einem sehr informativen Nachwort von Hartmut Vollmer (2000). In der Veröffentlichung der Grazer Historikerin Clara Kenner (2007) »Der zerrissene Himmel – Emigration und Exil der Wiener Individualpsychologie« ist ein kleines Kapitel Gina Kaus gewidmet.

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Der Roman »Morgen um Neun« wurde 2008 in der Reihe »Bibliothek der verbrannten Bücher« neu aufgelegt. Im gleichen Jahr veröffentlichte Hildegard Atzinger die Studie: »Gina Kaus: Schriftstellerin und Öffentlichkeit« und 2011 kam in der Reihe »Bamberger Studien zu Literatur, Kultur und Medien« ein Buch mit dem Titel: »A little lower than the Angels – Vicki Baum und Gina Kaus: Schreiben zwischen Anpassung und Anspruch« von Stefanie von Steinaecker auf den Markt. Der Sammelband »Heute wie gestern: Gebrochene Herzen, moderne Frauen, mutige Kinder – kleine Prosa«, herausgegeben und im Nachwort kommentiert von Veronika Hofeneder erschien im Jahr 2013, im gleichen Jahr in der Reihe »Germanistische Texte und Studien« Hofeneders Buch »Der produktive Kosmos der Gina Kaus«. Seit Oktober 2014 schließlich ist Kaus’ Roman »Front des Lebens«, der 1928 in 81 Folgen als Fortsetzungsroman in der »Arbeiter-Zeitung« abgedruckt worden war, nunmehr auch als Buch erhältlich. Gina Kaus wird heute im Bereich der Germanistik, der Literaturwissenschaft und auch der Frauenforschung also wieder verstärkt beachtet und hätte es sicher verdient, auch innerhalb individualpsychologischer Diskurse eine kleine Renaissance zu erleben.

Literatur Atzinger, H. (2008). Gina Kaus: Schriftstellerin und Öffentlichkeit. Zur Stellung einer Schriftstellerin in der literarischen Öffentlichkeit der Zwischenkriegszeit in Österreich und Deutschland. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang. Brunnhuber, N. (2003). Frauenarbeit in der »Kunstfabrik mit Regeln«. Drehbuchautorinnen im Exil in Hollywood. In Drehbuchautorinnen im Exil. FILMEXIL 18. Edition text + kritik. München: Richard Boorberg. Capovilla, A. (2004). Entwürfe weiblicher Identität in der Moderne. Milena Jesenská, Vicki Baum, Gina Kaus, Alice Rühle-Gerstel. Oldenburg: Igel. Hofeneder, V. (2013a). Hrsg. u. Nachwort zu Gina Kaus, Heute wie gestern. Gebrochene Herzen, moderne Frauen, mutige Kinder. Kleine Prosa. Hildesheim u. a.: Georg Olms. Hofeneder, V. (2013b). Der produktive Kosmos der Gina Kaus. Schriftstellerin – Pädagogin – Revolutionärin. Germanistische Texte und Studien Bd. 92. Hildesheim u. a.: Georg Olms. Kaus, G. (1920). Der Aufstieg. München: Georg Müller Verlag. Kaus, G. (Hrsg.) (1924). Die Mutter. Halbmonatszeitschrift für alle Fragen der Schwangerschaft, Säuglingshygiene und Kindererziehung. Berlin u. Wien: Verlag »Die Mutter«, Gina Kaus.

Gina Kaus: Teufel in Seide183 Kaus, G. (1926). Die seelische Entwicklung des Kindes. In E. Wexberg (Hrsg.), Handbuch der Individualpsychologie (Bd. 1, Teil B, S. 137–168). München: Bergmann. Kaus, G. (1927). Toni. Eine Schulmädchen-Komödie in zehn Bildern. Berlin: Propyläenverlag. Kaus, G. (1928). Die Verliebten. Berlin: Ullstein. Kaus, G. (1928/2014). Die Front des Lebens. Ursprünglich gedruckt in 81 Folgen der »Arbeiter-Zeitung« (Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokraten bzw. der Sozialistischen Partei Österreichs). Reprint 2014. Wien: Metro. Kaus, G. (1932). Die Überfahrt. München: Knorr & Hirth. Kaus, G. (1932/2008). Morgen um Neun. Berlin: Ullstein/Hildesheim u. a.: Georg Olms. Kaus, G. (1933). Die Schwestern Kleh. Amsterdam: Allert de Lange. Kaus, G. (1935). Katharina die Große. Amsterdam: Allert de Lange. Kaus, G. (1937/1981). Luxusdampfer. Amsterdam: Allert de Lange/München: Heyne. Kaus, G. (1940). Der Teufel nebenan. Amsterdam: Allert de Lange (identisch mit »Teufel in Seide«). Kaus, G. (1956/1992). Teufel in Seide. Gütersloh: Bertelsmann/Neuauflage mit einem Nachwort von Sibylle Mulot. Frankfurt a. M. u. Berlin: Ullstein. Kaus, G. (1979). Und was für ein Leben … mit Liebe und Literatur, Theater und Film. Hamburg: Albrecht Knaus. Kaus, G. (1990). Von Wien nach Hollywood. Erinnerungen von Gina Kaus. Neu herausgegeben und mit Nachwort von Sibylle Mulot. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kaus, G. (2000). Die Unwiderstehlichen. Kleine Prosa. Hrsg., Nachwort, Textnachweise und Zeittafel von H. Vollmer. Oldenburg: Igel. Kaus, G. (2013). Heute wie gestern. Gebrochene Herzen, moderne Frauen, mutige Kinder. Kleine Prosa. Hrsg. und Nachwort von V. Hofeneder. Hildesheim u. a.: Georg Olms. Kaus, O. (1918). Strindberg. Eine Kritik. München: Piper. Kaus, O. (1923). Dostojewski und sein Schicksal. Berlin: E. Laub’sche Verlagsbuchhandlung. Kaus, O. (1926). Das einzige Kind (Reihe »Schwer erziehbare Kinder«. Hrsg. von O. und A. Rühle). Dresden: Verlag am anderen Ufer. Kenner, C. (2007). Der zerrissene Himmel. Emigration und Exil der Wiener Individualpsychologie. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht. Mulot, S. (1992). Nachwort zu Gina Kaus, Teufel in Seide (S. 283–294). Frankfurt a. M. u. Berlin: Ullstein. Steinaecker, S. von (2011). »A little lower than the Angels«. Vicki Baum und Gina Kaus: Schreiben zwischen Anpassung und Anspruch. Bamberg: University of Bamberg Press. Vollmer, H. (2000). Nachwort, Textnachweise und Zeittafel. In G. Kaus, Die Unwiderstehlichen (S. 235–254). Oldenburg: Igel. Wahl, P. (2012). Gina Kaus: Schriftstellerin, Dramatikerin und Adlerianerin. Zeitschrift für Individualpsychologie, 37 (2), 158–181.

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Filme Das Schloss in Tirol (1957). Drehbuch: Gina Kaus, Kurt Nachmann u. Geza Radvanyi. Regie: Géza von Radványi. Mit Erika Nachmann und Heinz Böhm. Toppic/polyband. Teufel in Seide (1956). Nach dem gleichnamigen Roman von Gina Kaus. Drehbuch: Jochen Huth, Gina Kaus u. Philip Dunne. Regie: Rolf Hansen. Mit Lilli Palmer (Melanie), Curd Jürgens (Thomas Ritter) Winnie Markus (Sabine Uhl) u. a. Deutsche London Film GmbH. DVD: Kinowelt u. a. The Robe – Das Gewand (1953). Nach einem Roman von Lloyd C. Douglas. Drehbuch: Albert Maltz u. Philip Dunne, adaptiert von Gina Kaus. Regie: Henry Koster. Mit Richard Burton, Jean Simmons, Victor Mature, Michael Rennie u. a. Twentieth Century Fox. We’re Not Married!  – Wir sind gar nicht verheiratet (1952). Nach einer Geschichte von Gina Kaus und Jay Dratler. Drehbuch: Nunnally Johnson. Regie: Edmund Goulding. Mit Ginger Rogers, Alan Bridge, Marilyn Monroe, Paul Douglas, Zsa Zsa Gabor u. a. Twentieth Century Fox.

Günter Heisterkamp

Die Großelternsituation in Malerei, Literatur und Film

The situation of grandparents in painting, literature and film In continuation of Freud, Adler and Jung, the constellation of grandparents and grandchildren is brought into a psychological exchange with relevant works of art and literature. It is outlined pictorially what is going on between grandparents and grandchildren, and wherein promoting or hindering developmental conditions for both are. Zusammenfassung Um Freud, Adler und Jung weiterzuführen, wird die Konstellation von Großeltern und Enkelkindern mit entsprechenden Kunstwerken in einen psychologischen Austausch gebracht. Es wird bildhaft herausgearbeitet, was sich zwischen Großeltern und Enkelkindern abspielt und worin förderliche bzw. hinderliche Entwicklungsbedingungen für beide liegen.

Methodologische Vorüberlegungen Auf dieser Tagung bringen wir Kunst und Psyche zusammen. Die eingliedrige Konjunktion »und« stellt allerdings nur eine allgemeine sprachlogische Verbindung zwischen zwei verschiedenen Bereichen dar. Wie diese geartet ist, bleibt noch offen. Es geht nicht anders, als dass wir – zumindest implizit – Vorannahmen oder Hypothesen an die zu untersuchenden Kunstwerke als Objekte herantragen. Was ist eigentlich das seelische Etwas, das wir analysieren möchten? Ich gehe von der psychologischen Hypothese aus, dass die Betrachtung eines Kunstwerks oder der Umgang damit (z. B. Bild, Skulptur, Film, Roman, Märchen, Gedichte, Puppen) ein ganzheitliches und wechselseitiges Geschehen ist: Vom Kunstwerk gehen besondere Anregungen aus, auf die wir mit bedeutsamen Einfällen reagieren, die uns umgekehrt wieder für bestimmte Züge des Kunstwerkes sensibilisieren. Als

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wissenschaftlich interessierter Psychoanalytiker möchte ich dieses Wirkungsgeschehen zwischen Kunstwerk und Betrachter psychologisch untersuchen. In der Morphologie spricht man von einem psychologischen oder methodischen Austausch zwischen dem Kunstwerk und dem Erleben desselben: Bildgefüge als Erlebensgefüge, Erlebensgefüge als Bildgefüge (Salber, 2014, S. 15). Um die bloße additive Zuordnung von Kunst und Psychologie zu überschreiten und die Verbindung zu spezifizieren, ziehe ich das von John Wallis 1655 in die Mathematik eingeführte Symbol für Unendlichkeit heran, das in der Mathematik mittlerweile zur Beschreibung von Grenzwerten bei Folgen und Reihen eingesetzt wird. Wir tragen also die für die Psychologie typischen Frage-, Vorgehens- und Aussageweisen an Kunstwerke heran, lassen uns dabei anregen und verfeinern unsere Sinne für die Bedeutsamkeiten des Dargestellten (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Methodischer Austausch

Ich werde das Verhältnis zwischen Psychologie und Kunst vom Prinzip einer wechselseitigen Auslegung her angehen. Ich tue das in dem Bewusstsein, dass die Psychologie bzw. die Psychoanalyse noch nicht auf dem Entwicklungsniveau einer transgenerationalen Betrachtungsund Auffassungsweise angelangt ist, wie es uns die Kunst immer schon vorgemacht hat. Die Analyse der Situation zwischen Großeltern und Enkelkindern, ihre typische Wirkungs- und Entwicklungseinheit steckt noch in ihren Anfängen. Die Anregungen der Tiefenpsychologen zur Bedeutung der Beziehung zwischen Großeltern und Enkelkindern fallen insgesamt spärlich aus. C. G. Jung stellt keine persönlichen und keine direkten wissenschaftlichen Bezüge zu dieser Familienkonstellation her. Auch im umfänglichen Werk von Freud stoßen wir auf keine theoretische oder

Die Großelternsituation in Malerei, Literatur und Film 187

wissenschaftliche Äußerung zu dieser besonderen Beziehung. Demgegenüber drücken die Fotografien mit seinen Enkelkindern einen liebevollen Bezug zu ihnen aus. In den Briefen an seine Kinder und Kindeskinder sowie in den Kindheitserinnerungen seiner Enkel erscheint Freud als fürsorglicher, anteilnehmender und unterstützender Vater, insbesondere Großvater1 (Schröter, 2010; Heisterkamp, 2002, 2015; Street, 2013; Behling, 2002). Trotz der seiner Zeit weit vorauseilenden familiendynamischen Einsichten, die ich in früheren Arbeiten bereits gewürdigt habe, sind Adlers Ausführungen zur Großelternsituation einseitig. Bei Adler, der vermutlich keine Enkel hatte, finden wir nur das seinerzeit übliche gesellschaftliche Vorurteil wieder, nach dem der generell verwöhnende Einfluss von Großeltern schädlich sei. Historisch bedeutsam erscheint mir, dass – mit nur einer Ausnahme – seine Auffassungen von den zur Verzärtelung tendierenden Großeltern in den Jahren zwischen 1928 und 1933 erstmals veröffentlicht wurden. Die historischen Zusammenhänge werden in meinem Buch »Vom Glück der Großeltern-Enkel-Beziehung« (2015) weiter ausgeführt. Ein aktueller individualpsychologischer Befund, der nicht mehr in das Buch eingegangen ist, soll auf dieser Tagung nicht unerwähnt bleiben: In der Werkausgabe der Schriften Alfred Adlers des Fischer-Verlages befinden sich in den Indizes insgesamt 24 Hinweise auf die Großelternsituation, in der Studienausgabe des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht hingegen kein einziger Verweis. Ich überlasse hier den Lesern, den Herausgebern und den Historikern unserer Gesellschaft die Interpretation dieser aktuellen Entwicklung und wende mich dem Thema meines Vortrages bzw. Aufsatzes zu.

Großeltern fördern die Entwicklung ihrer Enkelkinder Großeltern und Enkelkinder befinden sich permanent in Entwicklung. In dieser Sichtweise können sowohl Großeltern die Entwicklung ihrer Enkelkinder fördern und anregen, wie auch umgekehrt die Enkelkinder die Entwicklung ihrer Großeltern beleben und bereichern können. Für 1 Zu Lucian Freuds Verhältnis zu seinem Großvater siehe auch den Beitrag von Fischer-Heine in diesem Band.

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den krisenhaften Entwicklungsprozess mit seinen permanenten Herausforderungen lässt sich das Bild oder die Metapher einer »Expedition« heranziehen. Über ein simultan erfassbares Bild wie Expedition sind die unumgänglichen Zwischenschritte nicht zu übersehen, in denen sich das Seelische immerwährend formt und umformt. »Entwicklung ist paradox, weil sie immer wieder zerstört, was sie entwickelt – damit sich etwas neu entwickelt« (Salber, 1987, S. 34). Das Leben ist eine Dauerexpedition. Die bekannten Schwellensituationen (Geburt, Entwöhnung, Geburt von Geschwistern, Kindergarten, Eintritt in die Schule, Berufs- wie Partnerwahl, Geburt und Erziehung von Kindern, »Wechseljahre«, Altersphasen usw.) mit ihren spannungsvollen Strukturierungsaufgaben markieren besondere Wende-, aber auch Verstörungspunkte. In unserer Lebensgeschichte stehen wir als Großeltern wie als Enkelkinder dauernd vor neuen Lebensaufgaben. Angesichts dieser lebenslangen An- und Herausforderungen gewinnt das Verhältnis dieser beiden Generationen, die durch eine Generation voneinander getrennt sind, ihren tiefen psychologischen Sinn. Um die Entwicklung als Prozess der Verwandlung zu zergliedern, bieten sich besonders Biografien oder Romane an. In der Erzählung »Großvater und die Wölfe« (2003) schildert der schwedische Schriftsteller Per Olov Enquist, wie eine Expedition von vier Kindern mit ihrem Großvater und seinem Hund zu einem gefährlichen Abenteuer wird. Die Geschichte ist emotional eingerahmt vom Staunen eines sechsjährigen Mädchens (Mina), wie man in drei Wochen »groß werden kann«. »Expedition« ist ein treffliches Bild für die Strukturierungsprobleme seelischen Werdens. Dem lateinischen Wortstamm nach bedeutet expedire: losmachen, frei machen, sich herausretten, entkommen, überwinden, entwickeln. Das ergibt für eine Sechsjährige einen unmittelbaren Sinn. Sie steht vor der Entwicklungsaufgabe, die familiären Bande zu lockern und ihren Bewegungsspielraum zu erweitern. Die damit verbundenen Entwicklungsnöte und -ängste offenbaren sich in einem Traum, in dem sie von einem Krokodil gebissen wird, und in einem weiteren Traum, in dem sie sich an einem Strand unter Menschenfressern befindet. In diesen Situationen wird der Großvater als besonderer Entwicklungshelfer erlebt, der ahnt, was seiner Enkeltochter fehlt: ein junger Hund und eine gemeinsame Expedition auf den »Dreihöhlenberg« mit ihrer jüngeren Schwester, ihrer Cousine und ihrem Cousin.

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Eine zergliedernde Analyse des gesamten Expeditionsverlaufs offenbart differenziert die von Mina zu bewältigende Entwicklungsarbeit, die ja nicht einfach vom Himmel fällt oder von Hormonen gestaltet wird. In den animalischen und archaischen Ängsten vor wilden Tieren und in dem barbarischen Treiben von Menschenfressern artikulieren sich die Entwicklungsnöte der Sechsjährigen: ihre Ängste vor dem Verschlungenwerden durch ihre nächsten Bezugspersonen sowie ihre Not, ihren eigenen wölfischen Tendenzen ausgeliefert zu sein und sich darin zu verlieren. Der Großvater, der dem Kind zugleich nah und fern ist und frei ist von dem ambivalenten Bezogensein, wie es für Eltern und Kinder typisch ist, und der langjährig um die Paradoxien von Entwicklung weiß, bietet seiner Enkeltochter mit einem jungen Hund und einer Expedition eine prototypische Erprobung und Einübung von Entwicklung an. Diese »Quadrangulation« (Schwob, 1988, S. 39 ff.) durch den Großvater, der seinen Enkelkindern sowohl vertraut als auch fremd ist, weitet den Radius kindlicher Lebensbewegungen »ent-scheidend« aus. Der Leser nimmt teil an zahlreichen Übergangs- und Wandlungserfahrungen der sechsjährigen Protagonistin. Dabei werden auch die vielfältigen Entwicklungshilfen deutlich, die der unkonventionelle Großvater leistet. Gleichzeitig wird bereits angedeutet, wie sehr die Wirkungseinheit zwischen Großeltern und Enkelkindern vielfältige Möglichkeiten für eine wechselseitige Entwicklungsförderung enthält. Wenn sich das passive Erleiden von Entwicklung in ein aktives Gestalten der eigenen Lebenswirklichkeit wandelt, wenn zum Beispiel der Welpe oder das Wolfskind elterlich versorgt werden oder im dramatischen Höhepunkt der Geschichte, wenn der Großvater sich ein Bein bricht und Mina mit den anderen Kindern die notwendige Versorgung des Großvaters und der Gruppe übernehmen und die Rettung aus einer durch Wilddiebe bedrohten Situation bewerkstelligen muss. Am Ende der Geschichte sitzt Großvater neben Mina mit ihrem Hund. Als er sie noch einmal auf ihre anfänglichen Träume mit dem Krokodil und den Menschenfressern anspricht, stellt sie nüchtern fest, dass sie doch nur geträumt habe und dass sie damals noch sehr klein gewesen sei. Bei Astrid Lindgren (2014, S. 57 ff.) finden wir unter den Geschichten aus Bullerbü eine, in der auf die anregenden Erzählungen des Großvaters hin und mithilfe seiner ermutigenden Unterstützung zwei siebenjährige Mädchen ihr Weglaufen in der Phantasie und szenisch

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durchspielen sowie die Vorbereitungsschritte für das nächtliche Weglaufen durchführen. Die Freundinnen Lisa und Inga leben mit ihren Familien in dem kleinen Dorf Bullerbü, das nur aus drei Höfen besteht. In einem eigenen, gemütlichen Zimmer unterm Dach auf dem Nordhof wohnt auch der Großvater von Inga und ihrer Schwester Britta. Aber da er der einzige Großvater in dem Dorf ist, nennen alle Kinder ihn Großvater, und er übernimmt auch für alle Kinder diese Rolle. Lisa, aus deren Perspektive die Geschichten der Kinder aus Bullerbü erzählt werden, findet den Großvater genauso gemütlich wie sein Zimmer, und er erinnert sie mit seinem langen weißen Bart an den Weihnachtsmann. Selbst, dass Großvater fast blind ist und weder Bücher noch Zeitungen lesen kann, erscheint ihr nicht so schlimm, weil der Großvater alles wisse, was in den Büchern steht und selbst voller Geschichten steckt. Wenn sie nichts anderes vorhaben, gehen alle Kinder zum Großvater. Andererseits: Die Zeitung vorlesen, das lässt Großvater sich am liebsten von den Mädchen. Wenn die Mädchen ihm die Zeitung vorlesen, kommt es zu einem Austausch, der für alle bereichernd ist. Denn viele Ereignisse, die in der Zeitung erwähnt werden, regen die Erinnerungen des Großvaters an, und er erzählt oft von der Zeit, als er selbst ein kleiner Junge war. Auf die Idee, wegzulaufen, kommen Lisa und Inga, als sie Großvater an einem verregneten Tag wieder einmal die Zeitung vorlesen. Zu dieser Zeit spielen Lisa und Inga gerne die »So-tun-als-ob-Spiele«, bei denen sie vornehme erwachsene Damen nachahmen. Damit fühlen sie sich bei dem Großvater gut aufgehoben, der selbst, wie Lisa weiß, auch manchmal so tue, als ob er etwas wäre, was er gar nicht ist. Diesmal bittet Inga ihren Großvater nach dem Zeitunglesen, noch einmal die Geschichte zu erzählen, wie er als kleiner Junge von den bösen fremden Menschen weggelaufen ist, zu denen er nach dem Tod seiner Eltern gekommen sei. »Es muß lustig sein, wegzulaufen. Ich möchte auch mal weglaufen«, meint Inga, nachdem der Großvater seine Geschichte beendet hat. Vor allem wohl die Abenteuer, die Großvater auf dem Weg zu den netten Menschen, bei denen er schließlich bleiben konnte, erlebt haben will und von denen er erzählt, animieren die Mädchen zu dem Entschluss, auch einmal wegzulaufen. Der Großvater unterstützt sie in diesem Entschluss. Er meint, sie »könnten es ja tun, bloß ein bisschen« und verspricht, niemandem davon zu erzählen. Dass

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sie nachts weglaufen müssen, ist den beiden Mädchen selbst klar, und dass sie etwas unternehmen müssen, um rechtzeitig zum Weglaufen aufzuwachen, auch, aber sie sind unsicher, was sie mitnehmen müssen. Sie wenden sich an Großvater, der ihnen den Rat gibt, etwas zu essen und ein bisschen Geld, wenn sie welches hätten, mitzunehmen. Inga und Lisa bereiten sich im Laufe des Abends auf ihr Weglaufen vor und besonders das Gute-Nacht-Sagen empfindet Lisa als einen Abschied auf lange Zeit. Dementsprechend heftig drückt sie ihren Vater und ihre Mutter an sich und ihre Mutter tut ihr sogar sehr leid, weil sie am nächsten Tag kein kleines Mädchen mehr vorfinden würde. Der Plan wegzulaufen, scheitert schließlich daran, dass die Vorkehrungen, die Lisa und Inga getroffen haben, um nachts wach zu werden, nicht geholfen haben. Sie wachen am nächsten Morgen zu Hause in ihren Betten auf. Dem erstaunten Großvater, den sie später wieder zum Zeitungvorlesen besuchen, sagen sie, dass sie ein andermal weglaufen würden. Bei dieser Episode handelt es sich um einen wichtigen Zwischenschritt der Loslösung. Die reale Not des Großvaters in seiner Kindheit hat möglicherweise die Entwicklungsnöte der siebenjährigen Kinder, die vor der Aufgabe stehen, sich aus der sicheren, aber auch vereinnahmenden Atmosphäre der Familie zu lösen, belebt und die transformativen Tendenzen der Mädchen wachgerufen. Die Entwicklungsperspektive erscheint günstig, insofern sie mit ihrem Verschlafen auf ihre unbewussten Ängste reagieren, aber das unumgängliche Projekt nicht verleugnen, sondern nur aufschieben.

Enkelkinder als Entwicklungshelfer der Großeltern Wir finden in der Kunst auch etliche Beispiele, in denen Enkelkinder auf geradezu wunderbare Weise ihre Großeltern verändern. So stehen in dem bekannten Roman »Das etruskische Lächeln« von José Luis Sampedro (2004) die von einem Enkelkind im Kleinkindalter ausgehenden heilsamen Wirkungen auf seinen alten Großvater im Mittelpunkt. Über die zu seinem Enkel entfachte Liebe sowie über die Liebe zu einer außergewöhnlichen Frau entdeckt der einstig harte Widerstandskämpfer aus dem kalabrischen Süden Italiens an seinem Lebensabend die Schönheit des Lebens, erlebt nie geahnte Seiten an sich und anderen Menschen.

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Die Ausgangsszene entwirft schon in prototypischer Weise die Wandlungsgeschichte des Romans. Der alte, krebskranke Mann hat sich mit seinem Sohn im etruskischen Museum in Rom verabredet. Während seines Rundganges durch die Villa Giulia widerfährt ihm etwas Seltsames. Er wird von der Ausstrahlung eines Etruskerpaares auf einem Sarkophag in den Bann gezogen (siehe Abbildung 2). Ein eigentümliches Lächeln spielt um die Lippen der Statuen, ein Lächeln, das ihn nicht mehr loslässt.

Abbildung 2: Etruskisches Paar, spätes 6. Jh. v. Chr.

Er fühlt sich unbewusst in das strahlende Glück dieses jungen Paares einbezogen. Hierbei werden die kommenden Begegnungen, insbesondere mit seinem neugeborenen Enkel und auch mit einer lebensbejahenden Frau, vorweggenommen. Er ahnt bereits seine sich revitalisierenden Lebensbewegungen.

Wechselseitige Entwicklungshilfen Wenn Großeltern die Entwicklung ihrer Enkelkinder fördern und diese wiederum deren Kindheitserinnerungen und Selbstbewegungen beleben, taucht das Phänomen wechselseitiger Entwicklungsförderung auf. Hierbei kann die Rede von Lebensaufgaben, die das Leben bzw.

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die Entwicklung stellt, von ihrem depressiven Schleier befreit werden bzw. einen erlebensmäßigen Raum freigeben, in dem neben anstrengenden Konflikten und belastenden Anforderungen auch erfreuliche Chancen und beglückende Gelegenheiten aufscheinen. Da diese freudigen oder »gavisen« (von lat. gaudere) Wirkungszusammenhänge auch in der üblichen psychoanalytischen Diktion hinter den aggressiven und depressiven Dimensionen zu verschwinden drohen, habe ich mir erlaubt, für diesen Bereich, der besonders für die salutogene Form der Entwicklung bedeutsam ist, die Bezeichnung »gavis« analog zu den geflügelten Begriffsbildungen »aggressiv« und »depressiv« vorzuschlagen (Heisterkamp, 1999a, 1999b, 2003). Darüber hinaus widmet sich mein Großeltern-Buch (2015) eben diesen ermutigenden und beglückenden Wirkungszusammenhängen zwischen Großeltern und Enkelkindern. Es lässt sich auch als eine Autobiografie im Kontext der Begegnungen mit meinen Enkelkindern ansehen. Sie sind typisch für die Beziehung von Großeltern und Enkelkindern und bieten auch einen Beitrag für einen bereits von Anna Freud angemahnten, aber von der Psychoanalyse nicht eingelösten Forschungsbereich, nämlich der Analyse des alltäglichen und überwiegend gelingenden Entwicklungsgeschehens jenseits psychologischer Behandlungen. Das Bewusstsein für das intersubjektive Geschehen zwischenmenschlicher Wahrnehmung hat eine lange Geschichte. In der Renaissance begann der Mensch damit – nach dem verallgemeinernden Menschenbild des Mittelalters –, das Individuelle zu entdecken. Indem er sich ein Bild von sich selbst zu machen versuchte, revolutionierte sich auch die Kunst. Den Übergang vom Mittelalter zur Renaissance bilden personcharakteristische Portraits sowie die Entdeckung der kindlichen Eigenwelt, wie sie das bekannte Gemälde »Kinderspiele« von Pieter Breughel dem Älteren zum Ausdruck bringt. Von dieser epochalen Seelenrevolution kündet auch das aus dem Jahre 1488 stammende und im Pariser Louvre ausgestellte Bild von Domenico Ghirlandaio. Es stellt einen Großvater mit seinem Enkel auf dem Schoß dar, die sich gegenseitig anschauen (siehe Abbildung 3). Das Bild bezieht den Betrachter in eine innige Atmosphäre zwischen Großvater und Enkelkind ein, so wie der Maler selbst von diesem liebevollen Bezogensein eingenommen gewesen sein mag. Das Zentrum der Wahrnehmung liegt im Blickkontakt. Diese Begegnung

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Abbildung 3: Domenico Ghirlandaio: »Großvater und Enkel«, 1488

ist so kunstvoll gestaltet, dass der Betrachter fließend zwischen dem staunenden Blick des kleinen Kindes und dem liebevoll interessierten Blick des Großvaters hin- und hergleitet. In der emporgreifenden und im Ansatz umarmenden Geste spiegelt sich die Offenheit des kleinen Kindes für die Beziehung zu seinem Großvater, für sein Bezogensein auf die Welt. Das besonders um seine Lippen angedeutete Lächeln gibt dem Interesse des Großvaters etwas Freudiges. Der Fensterblick weist

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in die Außenwelt, aus der sich der Großvater vermutlich weitgehend zurückgezogen hat, und der Kopf des Kindes unter dem Fenster, das sich noch im Schonraum der Familie befindet, symbolisiert den Entwicklungsstand des Kindes. Es befindet sich noch im Übergangsraum vom getragenen und geschützten Ort der Kindheit. Der Blick aus dem Fenster verweist auf die Versprechungen und Gefährdungen des weiten und weiteren Lebens. Wenn der Betrachter berührt der Blickgeschichte folgt, wie jeder den anderen wahrnimmt und vom anderen wahrgenommen wird, tritt die hässliche Entstellung im Gesicht des Großvaters weitgehend zurück. Er leidet nämlich medizinisch gesprochen unter einer Rosacea Rhinophym, die im Volksmund deftig als Knollen-, Blumenkohl- oder Kartoffelnase bezeichnet wird. Die Darstellung des Abstoßenden ist nicht nur ein Ausdruck einer rückhaltlosen Individualisierung in der Kunst. Durch den Fokus des Bildes, der auf die Begegnung zwischen den beiden Personen gerichtet ist, gerät das Hässliche in den Hintergrund. Darüber werden die anderen Bedeutsamkeiten des Kindes noch einmal eigens betont. Was dem erwachsenen Betrachter anfangs vielleicht als abstoßend aufgefallen ist und als störend erlebt wurde, erscheint für die Offenheit und Zuneigung des Kindes überhaupt nicht bedeutsam. Die krasse Abweichung von einem Schönheitsideal tritt angesichts des kindlichen Interesses und der kindlichen Zuneigung zu seinem Großvater in den Wahrnehmungshintergrund. Den anderen so wahrzunehmen, wie er ist, und von ihm so wahrgenommen zu werden, wie man sich fühlt, ist wohl die originäre Entdeckung des Malers Domenico Ghirlandaio. Das zu erkennen und kunstvoll ins Bild zu bringen, zeugt von der Entwicklung eines triangulären Bewusstseins: wir, du und ich. Deswegen steht dieses Bild an der Schwelle der kulturellen Entwicklung der Renaissance. Ein wesentliches Kennzeichen der Wirkungszusammenhänge zwischen Großeltern und Enkelkindern ist, dass sie sich wechselseitig fördern bzw. dass ihre Beziehung diese Entwicklungschance enthält. Auch Großeltern selber stehen immer wieder vor beängstigenden Entwicklungsaufgaben. Auch sie müssen einen vertrauten Halt aufgeben und neue Formen ihrer Wirklichkeit herstellen. Dabei erfahren sie auch wesentliche Hilfen und Anregungen durch ihre eigenen Enkel. Eltern und Großeltern sind beglückt, wenn sie sich von ihren Kindern bzw.

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Enkeln wahrgenommen fühlen. Dem äußerlich entstellten Großvater wird die Begegnung mit seinem Enkelkind, in der seine Entstellung in den Hintergrund der Beachtung gerät, geradezu heilsam. Diese Wechselseitigkeit von transgenerationaler Ermutigung und Förderung klingt in der Erzählung von Enquist (2003) nur an: Wenn wir erfahren, dass der Großvater selbst immer schon einmal auf den Dreihöhlenberg steigen wollte; oder bei den konkreten Unterstützungen wegen seines Beinbruchs sowie in dem Widerspruch Minas, als der Großvater annahm, dass er nach seinem Beinbruch eine weitere Nacht in der Höhle nicht überlebt hätte. Großmutter oder Großvater zu werden, stellen Schwellensituationen dar, die bei beiden spezifische, mehr oder weniger gelöste Probleme wachrufen und mehr oder weniger gesund bewältigt werden können. Die Teilhabe der Enkelkinder an diesen Bewältigungsformen ist entsprechend hinderlich oder förderlich für die Entwicklung der Enkelkinder. Eine typische Schwierigkeit besteht darin, dass Großeltern in ihrer Elternverfassung gefangen bleiben und ihren Kindern und Schwiegerkindern nicht dabei helfen können, »eine Mutter« oder »ein Vater« zu werden. Stefanie Rosenfeld berichtet aus der Behandlung einer angehenden Großmutter, die sich in einer Weise mit der Schwangerschaft ihrer Tochter befasste, als ob sie selbst schwanger wäre und die Zukunft ihrer eigenen Tochter zu verplanen begann, als wäre diese eine Leihmutter (Rosenfeld, 2010, S. 152). Wenn wir das Bild von Ghirlandaio zum Beispiel kunsthistorisch betrachten und es in der bekannten Manier nach Kunstepochen oder Maltechniken unterscheiden, geben wir die psychologische Betrachtungsweise auf. Wenn wir diese Elemente allerdings unter dem gewählten psychologischen Aspekt betrachten, eben in Austausch mit der Psychologie bringen, gewinnen sie Sinn und Bedeutung. Im Folgenden werden also Kunstwerke oder kunstähnliche Produkte in einen methodischen Austausch zum Alltagserleben gebracht. Wir suchen nach Einfällen, Ergänzungen, Analogien, Anmutungen, Anregungen, Weiterführungen, Entsprechungen, Parallelen, Ergänzungsverhältnissen usw. In Psychotherapien und in der Lebenswirklichkeit selbst sind immer wieder Situationen zu beobachten, wie sich Kinder in Ermangelung zugewandter Großeltern aus der nahen Umgebung (z. B. bei Nachbarn, der Kinderfrau usw.) eine liebe »Omi« oder einen lieben »Opi« suchen.

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Viele Eltern zeigen sich darüber irritiert, wenn ihr heranwachsendes Kind eine »fremde« Person als Omi oder Opi bezeichnet. In Verkennung der seelischen Lage ihrer Kinder versuchen sie dann meist vergeblich, auf den vermeintlich dummen genealogischen Irrtum zu verweisen, statt sich in den bedeutsamen Mangel des Kindes einzufühlen und es bei seinen kreativen Suchbewegungen zu unterstützen. Der lebendigen Entwicklungen immanente Drang, zu wachsen und zu werden, ist stets wirksam, bei Enkelkindern ebenso wie bei Großeltern. So wie sich Enkelkinder im Zusammensein mit ihren Großeltern oft als Quelle von deren Freude erleben, so ist beziehungsanalytisch zu erwarten und zu beobachten, dass auch die Enkelkinder das Leben und die Entwicklung der Großeltern bereichern und erfüllen, dass diese ihre Enkelkinder als Geschenk des Schicksals erleben, für das sie sich dankbar fühlen. In der in Abbildung 4 dargestellten Skulptur Susan Lordis vom Großvater und seinem Enkel kommen die transgenerativen Wirkungszusammenhänge differenziert zum Ausdruck und werden beim Anblick unmittelbar spürbar. Sie hebt die wechselseitige transgenerationale Ermutigung von Großvater und Enkelkind in prototypischer Klarheit hervor: Der alte, schon etwas gebeugte und auf einem Hocker sitzende Großvater bringt sein Ohr dem Kopf des zu ihm aufschauenden Enkelkindes näher und legt stabilisierend seine rechte Hand in den Rücken des Kindes, während er ihm die linke Hand geöffnet hinhält. Dieses vielleicht gerade ein Jahr alte Kind schaut zu seinem Großvater auf, lehnt dabei seinen ganzen Körper an Großvaters Unterschenkel an, den dieser dem Kind mit leichter Bewegung als Halt angeboten zu haben scheint, hält sich mit der Rechten am Knie des Großvaters fest und legt seine linke Hand in dessen offene Handfläche. Wir sehen, wie beide an dem anderen interessiert sind. Der Großvater versucht sich in die Wirklichkeit seines kleinen Enkels hineinzuversetzen, und dieser schaut zu ihm auf, vielleicht strahlt er ihn sogar an. Im mitfühlenden Bewusstsein seiner eigenen Hinfälligkeit schwingt der Großvater mit den Schwierigkeiten des Kindes, auf den Beinen zu bleiben, mit. Das vermittelt sich insbesondere atmosphärisch. Der handlungsdialogische Austausch vollzieht sich unmittelbar über das kleine Händchen des Kindes in der großen Linken des Großvaters, über den Griff des Kindes an das Knie des Großvaters, über den gan-

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Abbildung 4: Susan Lordi, »Willow Tree Grandfather«

zen kleinen Körper, den das Kind an den großen Unterschenkel anlehnt sowie über die große Hand des Großvaters, die das kleine Kind in seinem Rücken spürt. Insgesamt rücken diese Momente der Skulptur, die sprachlich nur sukzessiv vermittelt werden können, im unmittelbaren Geschehen oder beim simultanen Anblick der Skulptur das Wirkungsgeschehen einer basalen wechselseitigen Entwicklungsförderung ins Bild. Die Beziehung zwischen Enkelkindern und Großeltern wird von Insa Fooken (1999) als eine »Intimität auf Abstand« gekennzeichnet. Wenn ich diese Polarität hier weiter zergliedern darf: Beide sind sich nahe, insofern beide in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt sind. Darin liegt eine »kopathische« Gemeinsamkeit (Funke u. Kühn, 2005), in

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der sich beide unmittelbar verstehen und in spezifischer Weise fördern können. Sie sind sich entwicklungsmäßig aber auch fern, und dieser Abstand belebt seinerseits wieder die Beziehung. Die Großeltern wissen aus eigener Erfahrung um die aktuellen Zwischenschritte des Kindes und können sie in der Regel freier von überehrgeizigen Einlassungen als die Eltern unterstützen. Das Kind belebt wiederum viele Lebensbewegungen und Kindheitserinnerungen des Großvaters, die er mit reifem Abstand wieder aufgreifen und neu integrieren kann. Großeltern gestalten mit ihren Enkelkindern ein Konzert wechselseitiger Lebenssteigerung. Das ist in symbolischer Weise in dieser Skulptur eingefangen. Wenn man ihren Sinn näherungsweise in Worte zu fassen versucht, könnte man von einer wechselseitigen existenziellen Resonanz sprechen (Heisterkamp, 2015). Der Prozess der Entwicklung stellt die psychologische Verbindung zwischen Großeltern und Enkeln her. Beide Generationen bewegen sich in unterschiedlichen Phasen ihrer Entwicklung mit ihren entsprechend zu bewältigenden Lebens- und Strukturierungsaufgaben. Zwischen beiden befindet sich eine Generationenlücke, die beide befreit: die Enkelkinder aus den entwicklungstypischen Ambivalenzen zu den Eltern und die Großeltern aus den Verbindlichkeiten als Eltern. In dieser Konstellation sind sich Großeltern und Enkelkinder sowohl nah als auch fern, sowohl vertraut als auch fremd. Diese Spannung zu regulieren, enthält eine Fülle von Entwicklungsmöglichkeiten für beide. Im günstigen Falle bringt diese Konstellation die Entwicklungen beider in Schwung. Im ungünstigen Falle wird aus dem Schwungrad ein übermächtiger Bremsklotz für das Weiterkommen, gerät Sand ins Getriebe der Entwicklung. Das Wirkungsgefüge zwischen Großeltern und Enkelkindern impliziert also im gesunden Falle ein Schwungrad wechselseitiger Entwicklungsförderung. Das lässt sich anschaulich und konkret am Bild »Mutter und Eva« von Otto Dix (siehe Abbildung 5) aus dem Jahre 1935 sowie an der prägnanten Interpretation Tilmann Mosers (2012, S. 105) zeigen. Moser bringt es auf den Punkt: Das Bild strahlt in aussagekräftiger Weise »Ruhe und Bewegung« aus. »Erfüllte Muße und hellwacher junger Lebenseifer bilden einen wundervollen Kontrast.« Das wird jeweils in berührender Weise durch das lebhafte Kind und die sinnende Großmutter verkörpert. Die Großmutter mit ihren zusammengelegten Händen,

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Abbildung 5: Otto Dix, »Mutter und Eva«, 1935. © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

ihrem Sitzen auf einer Bank an einem alten Baum und dem versonnenen Blick wird zum Urbild von Ruhe, Sicherheit und Halt. Demgegenüber wird das Kind, das die Arme nach dem blühenden Geißblattzweig ausstreckt und nach vorne in den Bildmittelpunkt drängt, zum Urbild explodierender Lebendigkeit. Dass es sich um Polaritäten handelt, die sich wechselseitig stützen und anregen, wird ebenfalls deutlich: So hebt Moser hervor, dass die Großmutter mit ihrer Ruhe dem kleinen Mädchen einen Halt für seine überströmende Lebendigkeit bietet. Hier wird eine fundamentale Hilfsfunktion von Großeltern für ihre Enkelkinder evident. Dabei kommen ihnen die vielfältigen und langjährigen Erfahrungen zugute, wie sie

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sich in den Falten ihrer Haut andeuten. Die Großmutter bietet dem Mädchen aber nicht nur, wie es in den Ratgeberbüchern überwiegend der Fall ist, Entwicklungshilfen, sondern fühlt sich ihrerseits in ihrem eigenen Weiterkommen gefördert. Das klingt auch bei Moser an: Die Augen der Großmutter erscheinen sehr wach, und »sie ist abwesend und ungeheuer präsent zugleich« (S. 105). Darüber hinaus ist zu vermuten, dass sie »nach eigenen Jugend- oder Kindheitserinnerungen« (S. 105) schaut. An vielen Beispielen in meinem Buch zur Großelternsituation veranschauliche ich, wie dadurch die eigene Entwicklung immer wieder neu bearbeitet und neu integriert wird. So macht Moser darauf aufmerksam, wie die Enkelkinder auch die Entwicklung der Großeltern in den vielen Now-Moments ihrer Begegnung wiederbeleben und für eine schöpferische Neugestaltung der aktuellen Wirklichkeit anregen. Die Wechselseitigkeit des Geschehens wird betont, wenn Moser die implizierte Resonanz hervorhebt, die sich beide als grundlegende, existenzielle Annahme schenken; »jede gönnt der anderen das Dasein, das Bild strahlt intensives Wohlwollen füreinander aus« (S. 105). Indem Moser abschließend auch noch auf das Glück des Malers hinweist, der hier seine Mutter und seine Tochter als wesentlichen Teil seines Lebensglücks darstellt, bringt Otto Dix auch noch einmal Hinweise auf eine gelingende Triangulierung zwischen den Generationen zum Ausdruck. Um die morphologischen Überlegungen abzurunden, wäre es hier noch möglich, auf die überpersönliche Bedeutung des Bildes hinzuweisen. Das Bild von Ruhe und Bewegung, Halt und Veränderung verweist auch auf eine allgemeine Strukturierungsnotwendigkeit in jedem Einzelnen, also in der Großmutter, in der Enkeltochter, in dem Maler, in dem Betrachter sowie dem Leser. Was immer wir in den aktuellen Lebenslagen tun, wir sind immer von unserem Seelischen mit seinen Strukturierungsnotwendigkeiten her genötigt, einen Halt zu schaffen, der sich entwickeln kann, bzw. umgekehrt in den unumgänglichen Wandlungen des Seelischen Durchgängiges zu erhalten. Wo das nicht gelingt, machen seelische Störungen auf das Strukturierungsproblem aufmerksam. Ein berührendes Beispiel bietet die poetische Erzählung von Tove Jansson (2014) über den Sommerurlaub einer gebrechlichen, aber lebendigen und weisen Großmutter mit ihrer sechsjährigen Enkeltochter auf einer kleinen Insel im Finnischen Meerbusen. Beide haben sich der

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überbemühten Ferienordnung des Vaters (bzw. des Sohnes) entzogen. Sophia findet es »aasig langweilig«, wenn alles so schön ist und nichts passiert, und die Großmutter ist froh, den von ihrem besorgten Sohn aufgedrängten »albernen« Sonnenschirm beiseitezulegen. Bei einem ihrer Ausflüge stoßen sie auf eine sehr hohe, aus Brettern gezimmerte Bake (Seezeichen zur Orientierung und zur Warnung; siehe Abbildung 6), auf die zu klettern der Papa seiner Tochter ausdrücklich verboten hat, was die Großmutter als »bedauerlich« und Sophia »aasig doof« empfinden. Sophia fällt auf, dass die Großmutter sich nicht unter den Sonnenschirm gelegt hat und dass sie heimlich eine Zigarette raucht. In einer unbeobachteten Situation setzt Sophia einen heimlichen Plan um. Als die Großmutter darauf aufmerksam wird, hat Sophia fast die Spitze einer hohen Bake erreicht. Der Großmutter ist sofort klar, dass sie nicht schreien darf, um die Enkelin nicht zu verunsichern, und dass sie warten muss, bis das Kind wieder herunterkommt. Es ist nicht so gefährlich, wie es aussieht, beruhigt sich die Großmutter, da in kleinen Kindern »noch ziemlich viel von Affen« steckt und sie fest zupacken und dass die Hauptsache ist, sich und sie nicht zu erschrecken. Derweil klettert Sophia langsam weiter. Die Großmutter nimmt auch Angst bei Sophia wahr. Als die Großmutter zu schnell aufsteht, verliert sie ihren Gehstock und dieser rollt auf dem rundlichen Fels in einen tiefen Wassertümpel. Der ganze Fels wird für sie zu einem unsicheren Platz. Währenddessen klettert Sophia weiter, und die Großmutter macht ihr Mut, dass sie es gleich geschafft habe. Oben auf der Spitze der Bake angekommen, umklammert das Mädchen das letzte Brett und bewegt sich nicht mehr. Die Großmutter spornt sie an, wieder nach unten zu klettern. Als Sophia sich immer noch nicht rührt, ruft sie ihr zu, dass ihr Stock in den Tümpel gefallen sei und sie sich nicht auf den Beinen halten könne, dass es ihr »aasig schlecht« gehe, es ihr »aasig schwindelig« sei und sie unbedingt ihren Stock wieder brauche. Daraufhin beginnt Sophia abwärts zu klettern, »ruhig und stetig«, ein Brett nach dem anderen. Dann holt sie den Stock aus dem Tümpel und gibt ihn der Großmutter. Diese stellt anerkennend fest: »Du kannst gut klettern. Und mutig bist du auch, ich hab nämlich gesehen, dass du Angst gehabt hast.«

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Abbildung 6: Ostbake, Wangerooge

Der große Halt, den die gebrechliche Großmutter ihrer Enkeltochter bieten kann, besteht darin, dass sie ihr Erschrecken für sich bearbeitet, indem sie den archaischen Sicherheiten kleiner Kinder vertraut. Ihre Gelassenheit ermutigt ihre Enkeltochter. Auch das klare Ziel des Abstiegs vor Augen zu haben, nämlich der Großmutter in ihrer Standunsicherheit zu helfen und sie wieder von ihrem Drehschwindel zu befreien, wird hilfreich gewesen sein. So realisiert sich in eindrückli-

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cher Weise die wechselseitige Entwicklungsförderung zwischen Großeltern und Enkelkindern. Der Roman »über die unausgesprochene Liebe zwischen einer alten Frau und ihrer Enkeltochter« hat übrigens ein Vorwort der englischen Schriftstellerin Esther Freud, der Tochter Lucian Freuds, also Sigmund Freuds Urenkelin.

Wechselseitige Benötigungen Die interaktionellen Verstrickungen, an denen einzelne Familienmitglieder in personcharakteristischer Weise leiden und die sie in endlosen Wiederholungen immer wieder herstellen, habe ich als Wirkungseinheit einer wechselseitigen Benötigung (Heisterkamp, 1985) herausgearbeitet. Jeder verwendet jeden zur projektiven Abwehr unerträglicher Selbstzustände sowie zur kompensatorischen Sicherung des eigenen labilen Selbst- und Selbstwertgefühls. So entstehen die typischen familialen Verstrickungen, welche die Weiterentwicklung der Familie und ihrer Mitglieder behindern. Auch von diesen belasteten und belastenden Formen familialen Miteinanders künden Kunstwerke. Die Wirkungszusammenhänge zwischen Großeltern und Enkelkindern werden zum Beispiel häufig verkannt und nur auf einseitige Beeinflussungen reduziert. Ein bekanntes Beispiel ist der Film vom Kleinen Lord. Das im Jahr 1886 unter dem Titel »Little Lord Fauntleroy« erschienene Buch von Frances Hodgson Burnett ist ein Klassiker unter den Kinderbüchern geworden. Es wurde als Hörspiel und Musical produziert und vielfach verfilmt. Seit dreißig Jahren wird der Film mit Alec Guinness als Earl of Dorincourt regelmäßig zur Weihnachtszeit gesendet. Er erzählt die Geschichte eines liebenswürdigen siebenjährigen Jungen, der als Letzter in der Erbfolge des Grafen von Dorincourt den kalten und hartherzigen Großvater allmählich bewegt, so dass dieser immer zugänglicher und anteilnehmender wird. Die offene und herzerfrischende Art des kleinen Grafen führt schließlich dazu, dass die jahrelange Spaltung der Familie zwischen dem alten Grafen und seinem inzwischen verstorbenen Sohn, der gegen den Standesdünkel des Vaters eine bürgerliche Amerikanerin geheiratet hatte, überwunden wird, und der Großvater schließlich stolz auf seinen Enkelsohn ist und auch seine Schwiegertochter akzeptiert.

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So bewegend die Filmgeschichte auch von den Zuschauern erlebt wird und so kunstvoll sie auch inszeniert und gespielt wurde, melden sich bei mir, der ich viele Jahre familientherapeutisch gearbeitet habe, auch Bedenken an. Der Film zeigt nämlich die für belastete Familien typische adultomorphe Verkennung von Kindern. Wenn man die vernünftigen Kommentare des Siebenjährigen hört, gewinnt man den Eindruck, als würde hier ein erwachsener Mensch sprechen. Das klingt alles sehr altklug und kann unmöglich der Ausdruck eines Kindes sein, das gerade in die Schule gekommen ist, um Lesen und Schreiben zu lernen. So bleibt das Wesen des Kindes verkannt, ermangelt es ihm an altersgemäßer Resonanz und Responsivität (siehe Abbildung 7).

Abbildung 7: Der kleine Lord zu seiner Mutter: »Wenn es sich nun mal nicht ändern lässt, muss ich auch schon das Beste daraus machen.«

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Die tiefe Rührung der Zuschauer entspringt den unbewussten Bedeutungen des Films: Belastete Eltern und Großeltern sehnen sich nach einer Erlösung aus den Verwerfungen ihrer Lebensbewegungen. Kinder, die im Sinne der »participation mystique« (C. G. Jung, 1988) unbewusst am Leiden ihrer Bezugspersonen teilhaben, träumen davon, ihre leidenden Eltern und/oder Großeltern retten zu können. Die Größenvorstellungen der Kinder sind bereits Selbstschutzmaßnahmen, mit denen sie die eigenen Mangelerfahrungen zu kompensieren versuchen. Diese Konstellation ist wie geschaffen für die filmische Erlebensgeschichte einer fiktiven Erlösung. Eltern wie Kinder brauchen dabei ihre Kollusion, um ihrer unbewussten Ziele und Phantasien nicht innezuwerden. Eine moderne Entsprechung findet sich in der Krimikomödie »Paulette« des französischen Regisseurs Jérôme Enrico mit der inzwischen schon verstorbenen Bernadette Lafont in der Hauptrolle. Der sozialkritische Inhalt der Geschichte besteht darin, dass sie als verarmte Rentnerin in kriminelle Verwicklungen gerät und ihre wirtschaftliche Notlage durch den Verkauf von Drogen zu bewältigen versucht. Über die Veränderung ihrer anfänglich vorurteilsvollen Ablehnung ihres dunkelhäutigen Enkels findet sie in einem utopischen Schluss aus ihrem kriminellen Milieu zurück in ein ehrbares und einträgliches Geschäftsleben. Der Film wurde 2014 von der ARD in der Ferienzeit unter dem Titel »Paulette – Die etwas andere Oma« ausgestrahlt. Anfangs verstößt sie ihren Enkel, der ihr die erwachsen anmutende Frage stellt, wieso sie eigentlich immer so hässlich zu ihm sei, mit der rassistischen Antwort: »Weil du schwarz bist«. Die unerschütterlich scheinende Zuneigung des gerade dem Vorschulalter entwachsenen kleinen Jungen führt dazu, dass die Großmutter sich dem Ansinnen des Gangsterbosses, Drogenkekse vor Grundschulen zu verkaufen, verweigert. So wird schließlich wieder in adultomorpher Verkennung das Kind überfordert und zum Retter der Großmutter stilisiert. Dass dem Film in Deutschland ein großer Publikumserfolg nicht beschieden war, hängt möglicherweise damit zusammen, dass die Erlebens- und Wandlungsgeschichte (vom Saulus zum Paulus), also die Komplexentwicklung (Salber, 1977a, 1977b; Blothner, 1999, 2003), nicht differenziert genug zum Ausdruck kommt und nicht durchge-

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halten werden kann. Der Wandlungsweg vom Gehässigen zum Liebevollen bietet zu wenige Stützen und Zwischenschritte für das Erleben der Zuschauer und bleibt holprig und sprunghaft. Bei dem Bild von Wilhelm Thöny haben wir ein Beispiel einer vornehm missglückten Beziehung zwischen einer steifen Großmutter und einer ambivalenten Enkelin vor uns, die sich dem Betrachter unmittelbar und ganzqualitativ mitteilt (siehe Abbildung 8).

Abbildung 8: Wilhelm Thöny, »Vicomtesse de V./Vicomtesse de V. mit Enkeltochter«, 1931–1933

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Beschreibend und zergliedernd stellen wir zum Beispiel fest, wie starr die Großmutter in ihrer adeligen Standesrolle gefangen ist. Bei dem lieblichen Mädchen an ihrer Seite können wir die typischen Zeichen einer belasteten Entwicklung beobachten. Es beeindrucken sofort die widersprüchlichen Tendenzen: eine hin zur und eine weg von der Großmutter. Sie verkörpert sich in der abgeneigten Haltung zur Großmutter mit einer bemühten und wohlerzogenen Zuwendung. Haltung und Blick der Großmutter sind starr abgewandt vom Kind und mit leerem Blick auf den Betrachter des Bildes gerichtet. Daneben wirkt der Gesichtsausdruck des Kindes still verzweifelt. Bereits im Titel drückt sich das Nebensächliche der Enkeltochter aus. Es gibt Titelvarianten, da »Thöny seine Arbeiten nur selten exklusiv betitelt hat und viele Werke im Lauf der Zeit unterschiedliche Titel trugen« (Steinle, 2013, S. 462). Das obige Bild trug die Titel »Vicomtesse de V.« und »Vicomtesse de V. mit Enkeltochter«. Einmal scheint die Enkeltochter nicht der Erwähnung wert und ein andermal wird sie als bloßes Anhängsel verbalisiert. In beiden Fällen scheint die wechselseitige existenzielle Resonanz zwischen Großmutter und Enkelkind gestört. Die Kontakte der Hände verlieren sich im Nebel der Andeutungen im unteren Bereich des Bildes und des Körpers, sodass die distinguierten Oberkörper in deutlichem Kontrast stehen zu den unbewussten symbiotischen Bedürfnissen der beiden Personen. Der Vorteil dieser ästhetischen oder bildhaften Erfassung seelischer Wirkungszusammenhänge besteht darin, dass der Sinn nicht sprachlich sukzessiv entwickelt und erfasst werden muss, sondern eine ganzheitliche, quasi atmosphärische Wahrnehmung ermöglicht. Bei einer detaillierten Betrachtung und bei einer sprachlich differenzierten Erfassung des Ganzen liegt der kontextuelle Bezug immer anschaulich zugrunde. Während man in dem Bild von Wilhelm Thöny von einer narzisstisch gestörten Konstellation ausgehen kann, stellt das folgende Bild von Max Beckmann (siehe Abbildung 9) mehr eine Familie mit Borderlinezügen dar. Das verdeutlicht sich in der Bildanalyse, die Tilmann Moser herausgearbeitet hat. Bei dem Familienbild von Beckmann springt dem Betrachter das unerträgliche »Chaos der Familie«, wie es Moser hervorhebt und womit er seine Bildanalyse beginnt, ins Auge. Zusammenfassend stellt er fest: »So sehen Familien aus, die auf dichtem Raum hilflos alles beschweigen, bis eines unvorhersehbaren Tages Groll und

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Hass explodieren. Beckmann hat die Familie sozusagen eingesperrt in einen Raum ohne Zukunft, der zum inneren Gefängnis geworden ist« (Moser, 2012, S. 80 f.). Die wechselseitigen Verstrickungen der in einem Zimmer zusammengepferchten Vier-Generationen-Familie im Dienste der jeweiligen Abwehr- und Sicherungsformen sind so prototypisch dargestellt, dass mir sofort frühe Situationen meines Lebens eingefallen sind. Ein solches Bild wäre vermutlich ein sehr gutes Item für einen projektiven (»Postkarten-«)Test.

Abbildung 9: Max Beckmann, »Familienbild«, 1920. © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Eine kleine Art Unsterblichkeit Victor Hugo wird das Bonmot zugeschrieben, dass Enkelkinder die Morgenröte des Alters sind. Deswegen werde ich meine Ausführungen nicht mir den Fällen wechselseitiger Benötigung enden lassen, sondern zu den Glücksmomenten zwischen Großeltern und Enkelkindern zurückkehren. Selbst das im späten Lebensalter so vertraute Bewusstsein vom nahen Tod gewinnt im morgendlichen Glanz der Sonne eine schöne und tröstliche Färbung. Großeltern werden nämlich oft über ihren Tod hinaus zu Seelenbegleitern (»Engeln«) im Leben ihrer geliebten Enkelkinder. Davon berichtet James Krüss (2013): Ein am Fuß verletzter Junge zieht

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für eine kurze Zeit zu seinem ebenfalls gehbehinderten Urgroßvater, der ein fesselnder Geschichtenerzähler ist. Sieben Tage, die wie im Fluge vergehen, dichten und erzählen die beiden von Rittern und Königen, von einer Maus und einer Katze sowie von einem kleinen Jungen. Am Ende des Buches »Mein Urgroßvater, die Helden und ich« hat der Großvater kurz vor seinem Tod ein Gedicht – gewissermaßen als Testament – hinterlassen (Krüss 2013, S. 286): »Leb wohl, kleiner Boy, und denke daran, Dass mancher zur rechten Zeit sterben kann. Dann ist er kein Heros. Dann ist er kein Held. Er geht nur zur rechten Zeit aus der Welt. Der Tod, kleiner Boy, setzt allem das Maß: Dem Feigling, dem Helden, dem Ernst und dem Spaß. Der Spaß hat ein Ende, wenn’s Leben verrinnt. Drum würze dir damit dein Leben, mein Kind! Ich hab es getan. Doch der Spaß ist nun aus. Ich geh hin, wo ich herkam. Ich gehe nach Haus. Ich war nie ein Held. Doch ich blieb mir stets treu. Bleib du es dir auch! Dein alter Boy«

Der Urgroßvater ergänzt dieses Vermächtnis noch mit den für den Jungen James Krüss erstaunlichen und verwirrenden Worten, dass er eigentlich noch eine ganze Weile über seinen Tod hinaus in ihm – nicht als handelnde Person in seinen konkreten Kleidern, sondern »als Figur« – weiterlebe: »›Eigentlich‹, fuhr er fort, ›lebe ich ja noch eine ganze Weile über meinen Tod hinaus. Nicht unbedingt mit dieser Hose und diesen wollenen Socken und diesen schwarzen Schuhen. Aber als Figur. In dir. Und in deinen Büchern.‹ […]   ›Du schenkst mir eine kleine Art Unsterblichkeit. Du machst mich lange leben!‹, fuhr er fort.   ›Ich habe mich in deinem Geist als Denkmal etabliert. Nicht ohne Eigensucht und Eitelkeit, mein Kleiner. Ob ich jetzt eines Tages wirklich sterbe oder nicht, ist gar nicht wichtig‹« (Krüss, 2013, S. 287 f.).

James Krüss beschließt sein Buch mit den Worten: »Völlig verwirrt stand ich da und starrte meinen Urgroßvater an. Erst mehr als zwanzig Jahre später habe ich begriffen, was er meinte« (S. 288).

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Günter Heisterkamp

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Film Der kleine Lord (Originaltitel: Little Lord Fauntleroy) (1980). Fernsehfilm, Großbritannien. Nach dem gleichnamigen Roman von Frances H. Burnett aus dem Jahr 1886. Drehbuch: Blanche Hanalis. Regie: Jack Gold. Mit Ricky Schroder (Cedric »Ceddie«), Sir Alec Guinness (Earl of Dorincourt), Connie Booth (Mrs. Errol) u. a. DVD (1995) Love-Film u. a. Siehe auch http://www.youtube.com/watch?v=UbjfaHbhVb0 (Zugriff 03. 11. 2014).

Quellennachweis der Abbildungen Abb. 2: Etruskisches Paar (Sarcofago degli Sposi). Spätes 6. Jh. v. Chr. Museo nazionale etrusco di Villa Giulia. Rom. Foto von Gerard M. Gebruiker, Niederlande (8. 7. 2004). http.//it.wikipedia.org/wiki/File.Banditaccia_Sarcofago_Degli_Sposi.jpg (8. 11. 2013). Abb. 3: Domenico Ghirlandaio: Großvater und Enkel, 1488. Louvre, Paris. Aus: G. Bazin (Hrsg.) (1965), Kindlers Malerei-Lexikon (Bd. 2, S. 606). Zürich: Kindler. Abb. 4: Susan Lordi: Willow Tree Grandfather. Skulptur. www.demdaco.com/ detail.aspx?ID=10236 (5. 7. 2012). Abb. 5: Otto Dix: Mutter und Eva, 1935. Folkwang Museum Essen. Aus: T. Moser (2012), Kunst und Psyche. Familienbeziehungen (S. 105). Stuttgart: Belser. Abb. 6: Ostbake Wangerooge. http://de.wikipedia.org/wiki/Ostbake_Wangerooge (24. 9. 2014). Abb. 7: Der kleine Lord. (Originaltitel: Little Lord Fauntleroy). Fernsehfilm, Großbritannien 1980. Nach dem gleichnamigen Roman von Frances H. Burnett aus dem Jahr 1886. Drehbuch: Blanche Hanalis. Regie: Jack Gold. Mit Ricky Schroder (Cedric »Ceddie«), Sir Alec Guinness (Earl of Dorincourt), Connie Booth (Mrs. Errol) u. a. DVD (1995) Love-Film u. a. 00:10:11. Abb. 8: Wilhelm Thöny: Vicomtesse de V./Vicomtesse de V. mit Enkeltochter. 1931–1933. Öl auf Leinwand. Privatbesitz, Wien. Aus: C. Steinle (Hrsg.) (2013), Wilhelm Thöny. Im Sog der Moderne. Ausstellungskatalog (Tafel 104). Neue Galerie Graz 24. 5. 2013–22. 9. 2013. Bielefeld: Kerber Verlag. Abb. 9: Max Beckmann: Familienbild. 1920. Öl auf Leinwand. The Museum of Modern Art, New York. Aus: T. Moser (2012). Kunst und Psyche. Familienbeziehungen (S. 80). Stuttgart: Belser.

Die Großelternsituation in Malerei, Literatur und Film 213 Der Autor hat sich um die Beachtung der gesetzlichen Vorschriften bezüglich des Copyrights bemüht. Wer darüber hinaus noch annimmt, Ansprüche geltend machen zu können, wird gebeten, sich an den Autor zu wenden: Prof. Dr. Günter Heisterkamp, Stolsheide 5, 40883 Ratingen; [email protected]

Lutz Krüger und Aleš Vápenka

Film und Container: Drei leere Container – Film als Container

Film and container: Three empty containers – Film as container »Three empty containers« concerns the spatial dimension of a psychoanalytic concept using the metaphor of the container. The text is playing with thoughts on how is its discursively occupied void could be recognized in the cultural context of a gallery or a cinema, compared to it, and be enriched through this comparison.   »Film as container« explores the possibilities of the appliance of the concept of the container and its function as a »good enough mother« to psychoanalytic film reception and use the rubble film »Murders Among Us« as an example. Zusammenfassung »Drei leere Container« handelt von der räumlichen Dimension eines psychoanalytischen Konzepts, das sich der Metapher des Containers bedient. Es wird mit Gedanken gespielt, wie dessen diskursiv besetzte Leere im kulturellen Kontext der Galerie oder des Kinos wiedererkannt und vergleichend zu einem weiteren Verständnis angereichert werden kann.   »Film als Container« untersucht die Möglichkeiten, das Konzept des Containers und die daraus resultierende Funktion einer »hinreichend guten Mutter« auf die psychoanalytische Filmbetrachtung anzuwenden und erläutert dies am Beispiel des Trümmerfilms »Die Mörder sind unter uns«.

Drei leere Container (Lutz Krüger) Container lassen sich stapeln und Metaphern verschieben – in der Metapher des Containers (Bion, 1962/1990) stapeln sich auch Verschiebungen. Angeregt durch »Das Motiv der Kästchenwahl« (Härtel u. Knellessen, 2012) möchte ich in diesem dreiteiligen Text der teilweise trickreichen Verwendung des Containers in Psychoanalyse, Kunst und Kultur nachspüren. Zunächst beschreibe ich Wilfred Bions Konzept des Containers als psychoanalytische Denkfigur, die Denken mithilfe

Film und Container: Drei leere Container215

eines Gefäßes fassbar machen möchte (Metaphorischer Container – das Gefäß und das Gefasste). Anschließend belade oder überlade ich den Container mit Gedanken zu seiner soziokulturellen Rolle als Frachtcontainer und vergleiche sein Transportvolumen als unfassbare Leere dritten Grades mit einer spezialisierten Leere des Ausstellungsraums der Kunst. Mit dem so attribuierten, vermeintlich neutralen Raum der Kunst lässt sich Bions Container im Umkehrschluss als Galerie der Psychoanalyse überschreiben (Ozeanischer Container – von der weißen Depression zur weißen Zelle). Mit dem Einzug der Medienkunst verdunkelte sich dieser museale Raum zu einer gerne sogenannten Black Box (Manovich, 2005), in die ich abschließend einen kurzen, diskursiven Blick werfen möchte, bevor ein Film beginnt (Cineastischer Container – eine blühende Black Box).

Metaphorischer Container – das Gefäß und das Gefasste Als Wilfred Bion das Container-Contained-Modell in den 1960er Jahren im Zusammenhang mit der von Melanie Klein beschriebenen projektiven Identifizierung entwickelte, war es prototypisch als ein Beziehungsgeschehen zwischen Mutter und Kind beschrieben worden, in dem sich die »frühesten intersubjektiven somatopsychischen Spuren des Mutter-Kind-Paares« (Kennel, 2012, S. 78) etablieren. In diesem Beziehungsgeschehen ist die Mutter der Container, der mit einer Leere ausgestattet ist, die Bion mit einer bedeutungsoffen konzeptualisierten Alpha-Funktion (Bion, 1962/1990) assoziiert: In einem symbiotisch-vagen Beziehungsgeschehen wird diese Alpha-Funktion als eine Komponente des Containers in der Weise aktiviert, dass er bizarre »Beta-Elemente« (Bion, 1962/1990) aufnehmen, aushalten und für den Säugling gestaltbar machen kann – durch diese intersubjektive Metamorphose roher Sinnesdaten (Hinshelwood, 2004) werden Beta-Elemente für das Baby speicherbar und einem sich entwickelnden Wissen von basalen Emotionen zwischen Liebe und Hass zugänglich. Entsprechend sagt Bion: »Man kann eine emotionale Erfahrung nicht isoliert von einer Beziehung verstehen« (Bion, 1962/1990, S. 90). Wenn in dieser Beziehung aus Halten und Aushalten ein beziehungsloses Unterhalten wird, kann der Container zum sinnleeren Entertainer

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verblassen. In diesem Minus-Containment (Bion, 1962/1990) höhlen sich existenzielle Primärvorgänge aus und veröden in ihrer Vitalität. Das ist die Leere, auf die André Green ganz ausdrücklich Bezug nimmt und als weiße Depression (Green, 2011,) dem Komplex der toten Mutter unterstellt. Das Umschlagen des Containers durch die tötende Mutter beklagt der Psychohistoriker Lloyd de Mause, wenn er das Kind als Giftcontainer (De Mause, 2000) in Betracht zieht, der sich in transgenerationalen Gräueltaten entleert. Im therapeutischen Setting kann eine katastrophische Veränderung (Bion, 1962/1990) eingeleitet werden, wenn überschüssige, rohe Sinnesdaten wie Splitter des lacanschen Realen in einen Spiegelraum geworfen werden, den Bion Container nennt und der aus einem Genießen in der Übertragung das Reich des Imaginären für eine symbolisch strukturierte Arbeit an der Übertragung öffnet. Bions postmoderne Erzählung von diesem metaphorischen Container scheint selbst durch träumerisches Ahnungsvermögen (Hinshelwood, 2004) getragen, dessen fachsprachliche Sprachspiele dem Leser eine Exegese psychoanalytischer Poesie abverlangen. Die bei Bion dazugehörigen Chiffren, Elemente, Formeln und Funktionen organisieren sich ferner mit algebraischem Kalkül in den Koordinaten eines unendlichen Rasters, das seine psychoanalytischen Ursprungsverhältnisse in einer eigenen, (pseudo-)exakten Wissenschaftlichkeit entfaltet. Isoliert man die Metapher »Container« aus diesem Labyrinth, so imponiert dieser als Terminus technicus einer »negative capability« (Bion, 1992; zit. nach Lüders, 1997) oder spezialisierten Leere. In »Vom Konkretismus zur Metaphorik« schreibt die Psychoanalytikerin Grubrich-Simits (1984), dass sich ein Wort nur deshalb metaphorisieren lasse, weil ihm eine eigentliche, eine nicht metaphorische Bedeutung zukomme und führt aus: »Diese nicht-metaphorische Bedeutung muss sozusagen feststehen, damit sich sein viel umfassenderes, viel variableres, so gut wie unbegrenztes metaphorisches Potential zu entfalten vermag« (S. 115). Jenseits der psychoanalytisch-mutterarchetypischen Gebrauchsspuren des Containers, der zum Verstehen von Metaphorisierung und Symbolbildung beitragen soll, verführt er als Metapher selbst zu einem metaphorischen Verstehen im Sinne Gaston Bachelards: »Der Schrank und seine Fächer, der Schreibtisch und seine Schubladen, die Truhe mit dem doppelten Boden sind wirkliche Organe des geheimen psycho-

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logischen Lebens. Ohne diese ›Objekte‹ […] würden unserem inneren Leben die äußeren Modelle der Innerlichkeit fehlen. Gleich uns, durch uns, für uns haben sie eine Innerlichkeit« (Bachelard, 1957/2003, S. 94). In »Die psychoanalytische Spieltechnik« schreibt Melanie Klein: »Jedes Kind hat für seine Spielsachen eine eigene Schublade und weiß, dass niemand außer der Analytikerin und ihm selbst seine Spielsachen und das, was es mit ihnen macht, kennt. Die Schachtel […] erwies sich als Prototyp der individuellen Schublade, die Teil der persönlichen und intimen Beziehung zwischen Analytiker und Patient ist, welche die analytische Übertragungssituation charakterisiert« (Klein, 1955/2000, S. 209).

Ozeanischer Container – von der weißen Depression zur weißen Zelle Wie Spielzeugschachteln im Kleinen, so können Container im Großen als Teil wirtschaftlicher Beziehungen verstanden werden und ihre Übertragungssituation charakterisieren. Binnen eines halben Jahrhunderts, nachdem der Urheber des ISO-Containers Malcolm McLean 1956 – auf der Spitze des kalten Krieges in einer Politik des Containments – propagierte, die Kosten gegenüber konventionellem Stückguttransport mit einem Bruchteil kalkulieren zu können, wuchs ihre Zahl bis heute weltweit auf etwa 30 Millionen. Der gängigste Container hat eine 12 Meter lange Superstructure, die über 2,5 Meter Höhe mit Stahlblech und einem ebenso breiten Holzboden nach innen verkleidet ist. Seine umwandete Leere hat ein Gewicht von 4 Tonnen, die mathematisch ganz ohne metaphorische Mühen als Kubik gefasst werden kann – als eine utilitäre Leere dritten Grades. In ihrer Dokumentation »The Forgotton Space« aus dem Jahre 2010 zeigen die Filmemacher Allan Sekula und Noel Burch, wie die monströse Kapazität dieser transkontinentalen Kisten einen transport-logistisch verschleierten Neokolonialismus befördert, in dessen Schatten die reichen Länder eine unsichtbare »weiße Depression« beklagen. Ihre fahlen Symptome bilden die Schale einer soziokulturellen Leere, die mit dem Komplex der toten Mutter verschmilzt, also mehr Horror Vacui denn Container ist. Diese Beziehungsform postulierte Bion (1970, zit. nach Hinshelwood, 2004,

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S. 355) als eine parasitäre, in der Eines von einem Anderen abhängt, um ein Drittes zu produzieren, das alle drei zerstört. Vor dieser Kulisse eines unheimlich heimatlosen Geschehens wäre die Leere der Weltmeere als Metapher für ozeanische Gefühle (Freud, 1930/1972) nicht mehr zu gebrauchen. Salopp gesagt war schon in Freuds »Zweizimmerwohnung« des topologischen Modells für solche Empfindungen wenig Platz. In seinen »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« (Freud, 1916–1917/1969) entwirft er eine intrapsychische Architektur mit einem großen unbewussten Vorraum, der über einen Durchgang mit einem kleineren Salon verbunden ist (S. 305). Ozeanische Gefühle rekonstruierte Freud als unumschränkt herrschendes Lustprinzip des frühkindlichen, primären Narzissmus (Freud, 1930/1972, S. 67 ff.) – noch vor der Grundsteinlegung jenes Hauses, dem das Ich nicht Herr werden sollte. Diese intrapsychische Architektur übersetzt Bion in eine interindividuelle, »quasi architektonische« (Kennel, 2012, S. 69) Heterotopie (Foucault, 1967/1992), in der Beta-Elemente keinen Durchgang passieren, sondern in einen Container evakuiert werden, der auch ein freudianischer Salon sein soll. Bis in die 1920er Jahre fungierte der gesellschaftliche Salon auch als Magazin und Schauraum einer akademisch apostrophierten Kunst, die seine Wände im Stile einer Petersburger Hängung mosaikartig bedeckte. Pompöse Salonmalerei war ein kitschiges Genre, an dem sich einflussreiche Eliten berauschten. Der Salon und seine Ausläufer waren so überladen, dass der Wiener Architekt Adolf Loos das Ornament in einem berühmt gewordenen Pamphlet Anfang des Jahrhunderts schlechthin als Verbrechen Degenerierter beklagte (Loos, 1929/2009) – der von Freud streng bewachte Durchgang zwischen dem verborgenen Vorraum des Unbewussten und dem Salon des Bewusstseins schien ihm zu durchlässig. Mit den Avantgarden wurde das Kunstwerk in der räumlichen Präsentation stärker isoliert, so dass auch der Raum selbst eine erstaunliche Aufwertung erfahren hat. Als schließlich die Wände der Galerie Iris Clert in Paris für die Ausstellung »Le Vide« (1958) weiß gestrichen wurden, ohne irgendetwas auf ihnen zu exponieren, wollte der Künstler Yves Klein nicht nur die Galerie purifizieren, sondern ein Gemälde aus ihr machen und eine im »Zustand des Grundstoffs der luftigen Leere befindliche Sensibilität zu einer malerisch stabilisierten Sensibilität spezialisieren« (Klein,

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zit. nach Restany, 1982, S. 144). Während ein zynischer Psychiater dem Künstler angeboten habe, immer ein Bett in der nahen St. Annen-Klinik bereithalten zu wollen, schrieb Albert Camus ins Besucherverzeichnis: »Durch die Leere volle Kraft« (S. 144). Es ist diese evozierende Leere der »Poetik des Raums« (Bachelard, 1957/2003), mit der Bion seinen Container ausstatten möchte und die in der zeitgenössischen Kunst durch Brian O’Dohertys Essayfolge »In der weißen Zelle/Inside the White Cube« (O’Doherty, 1976/1996) in den 1970er Jahren als Mythos dekonstruiert und gleichzeitig kanonisiert wurde. Unter dem von dem Kunsthistoriker Gregor Stemmrich (2010) als Container-Contained bezeichneten Paradigma wurden Objekte der Minimal Art als konformer Bestandteil einer auratischen Architektur arrangiert, so dass sich diese konzeptuelle Kunst ihren eigenen Container geschaffen hat, in dem ihre Objekte als Objekte der Kunst erkennbar sind, weil sie contained sind. Die Subversion einer modernen Idee inhaltlich autonomer Kunst appelliert an die be-deutende Alpha-Funktion des künstlerisch chiffrierten White Cube, der verschlüsselten weißen Zelle. Die 1969 durch den amerikanischen Konzeptkünstler Robert Berry veranlasste Schließung einer Galerie (Eugenia Butler) für den dreiwöchigen Zeitraum der Ausstellung zwang Brian O’Doherty zu der konsequenten Rezeption, dass die geschlossene Galerie, der »unsichtbare Raum […], der Raum ohne Betrachter und ohne Auge« (O’Doherty, 1976/1996, S. 115) nur von der geistigen Vorstellungskraft erschlossen werden könne. Verbunden mit der Warnung vor »interessanten Formen des Narzißmus« (S. 116) übernehme die introjizierte »weiße Zelle, zum Gehirn in der Schale geworden […] das Denken« (S. 120) und wird somit als bionscher Behälter beschrieben. Als denkender Container ist die vom verbrecherischen Ornament befreite Architektur des White Cube in der Galerie wie im musealen Raum zum ideologischen Apparat ihrer Exponate geworden, zu deren Überbau. In den 1970er Jahren opponierte der Konzeptkünstler Gordon Matta-­ Clark mit seiner Anarchitektur gegen die »containerisation of usable space« und wollte eine andere Leere schaffen (zit. nach Stemmrich, 2010, S. 112). Institutionskritische Künstler der 1990er Jahre thematisierten die merkantile, bildungselitäre Exklusivität des vermeintlich sozialen Raums der Kunst, der sich mit dem Einzug neuer Medien in seiner ihm eigenen Hybris partiell verdunkelte.

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Cineastischer Container – eine blühende Black Box Mit dem Film brach die Nacht ein, mit ihm hat »die Ausstellungsarchitektur nicht mehr nur einen Sonnenflügel, sondern auch einen Mondtrakt« (Wall, zit. nach Beil, 2001, S. 86) bekommen. Dieses schwarz gestrichene Schattenreich der weißen Zellen sind die dunklen KammerKinos im Kunstkontext. Sie werden am besten durch Lichtschleusen betreten, in denen der Ausstellungsraum seine Aura aufgibt und sich seine luftige Leere wieder destabilisiert. Man landet in einer Unheimlichkeit suggerierenden, gerne sogenannten Black Box, die ihrem Zweck unterworfen ist, um die Mittel zu heiligen und sich damit der ihr geltenden Aufmerksamkeit entzieht. In Analogie zu der sinnbildlichen Entsprechung zwischen White Cube und Container lässt sich hier auf die Black Box des in der Tradition von John B. Watson begründeten Behaviorismus rekurrieren. Die behavioristische Black Box nimmt einen Raum zwischen Reiz und Reaktion ein, in dem sich Denken, Fühlen und Verstehen ereignet, das nicht beobachtbar sei und daher nicht Gegenstand einer wissenschaftlichen Psychologie sein könne. In krassem Gegensatz zum psychoanalytischen Container, der mit träumerischem Ahnungsvermögen ersonnen wurde, um das Denken fühlbar zu machen, ist die behavioristische Black Box eine der Kybernetik entlehnte Metapher, deren eigentliche Bedeutung in der militärischen Fernmeldetechnik auf erbeutetes Feindgerät bezogen ist, das wegen der möglicherweise darin enthaltenen Sprengladung nicht geöffnet werden durfte. Mit so gebotener Vorsicht möchte ich nun einen kurzen Blick in diesen dunklen Raum werfen, wie er sich in der zeitgenössischen Kunst für Video-Screenings als kleines Kino etabliert. Die Filmprojektion bannt die Aufmerksamkeit und bedingt eine Verdunklung des Raums, der sich architektonisch in einem licht- und weltabsorbierenden Nichts auflöst. Im Unterschied zur Galerie, die ihre Ideen ideal illuminiert, ist das dunkle Kino als Umbauung des Kinematografen seinem Zweck unterworfen. Zur Bearbeitung oder Präsentation lichtempfindlicher Materialien hat die Dunkelkammer oder Camera obscura eine viel ältere Tradition als die weiße Zelle der Kunst – wurde aber ominöser besetzt. Als dubioser Darkroom eignet sich diese Architektur der Hinterzimmer für lichtscheue, anonyme oder

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tabuisierte sexuelle Praktiken genauso wie für alchemistische, spirituelle Erfahrungen. Während der purifizierte White Cube am helllichten Tage zu einem Überbau kontemplativer Anschauung aufstieg, versenkt die reizdeprivierende Black Box das Publikum in eine somnambule Unterwelt geistiger Umnachtung, die der Dichter Jules Supervielle wie folgt erlebt: »Ich suche in den Truhen, die mich brutal umgeben – und bringe Finsternisse durcheinander – in tiefen Kästen so tief – als wären sie nicht von dieser Welt« (zit. nach Bachelard, 1957/2003, S. 102). Nur in Erwartung des Filmereignisses begibt man sich in eine schwarze Schachtel, eine Black Box, die der Filmtheoretiker Jean-Louis Baudry mit der Parallelwelt in Platons Höhle vergleicht (Baudry, 1994) und die Kunstkritikerin Elisabeth Bronfen als des Bewusstseins Vorraum beschreibt (Bronfen, in Beil, 2001) – das brachliegende, behavioristische Gebäude zwischen Reiz und Reaktion wird bildlich begehbar. Im Publikum wird geraschelt, gehustet, geflüstert, gemunkelt und gewartet. Die Pupillen sind geweitet, und Luis Bunuel glaubte, dass dann eine Reise durch die Nacht des Unbewussten beginnt (Bunuel, 1991). Im Lichte der Alpha-Funktion des Films erblühen die Beta-Elemente in einer besuchten Black Box, verwandeln sich in einem cineastischen Container.

Film als Container – Anwendung an die psychoanalytische Filmtheorie und Praxis (Aleš Vápenka) Im Fokus der Anwendung der theoretischen Ausführungen zum Container-Contained-Modell (C-C-M) auf die Filmanalyse steht der Spielfilm. Diese filmische Kunstform nimmt seit den 1970er Jahren ihren festen Platz in den psychoanalytischen Betrachtungen und Werken ein, die Anfänge reichen jedoch bis in das Jahr 1916 zurück, als sich Hugo Münsterberg in der Studie »The Photoplay« (»Das Lichtspiel«) (Münsterberg, 1916) erstmals psychoanalytisch mit dem »neuen Medium« auseinandersetzte. Der Autor stellte eine Parallele zwischen der kinematografischen Technik und unserem Vorstellungsvermögen, dem »psychischen Apparat« bei Freud (1900/2005) auf. Im Zuge der Entwicklung der psychoanalytischen Theorie hat sich die Betrachtungsweise jedoch weiter differenziert. Die filmische Kunst wird im Kontext der

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Triade Künstler, Werk und Rezipient untersucht und dabei werden die unbewussten Prozesse beim Filmemachen, die verborgenen, unbewussten Momente im Film selbst und die introspektiv aufgefasste unbewusste Rezeption beim Zuschauer erfasst. Mahler-Bungers und Zwiebel (2007) bedienen sich im Zusammenhang mit der oben genannten Triade filmischer Begriffe: Einstellung, Darstellung und Vorstellung. Die Anwendung des C-C-M auf die psychoanalytische Filmtheorie überholt die triebtheoretisch-orale Perspektive von Lewin (1946) oder Spitz (1956) und knüpft an die objektbeziehungstheoretischen und selbst konstitutionierenden Positionen im Werk von Lacan (1966/1975) zum Spiegelstadium und zu »Registern« des Psychischen an, die im filmtheoretischen Werk von Metz (2000) oder Baudry (1994) ihre Anwendung finden. Beim Containing geht nämlich die innere Arbeit der Mutter über eine bloße Spiegelung hinaus: »Hinreichend gute Mütter empfinden und transformieren diese Gefühle (Beta-Elemente), so dass sie für den Säugling erträglich werden; zudem kombinieren sie die Spiegelung unerträglicher Affekte mit emotionalen Signalen und zeigen auf die Weise an, das der Affekt unter Kontrolle ist (Bions AlfaFunktion). Nun kann der Säugling das, was er zuvor projiziert hat, selbst bewältigen und es re-internalisieren, um anstelle seines ursprünglichen Erlebens, das ihn überforderte, eine Repräsentation dieser emotionalen Erfahrung zu erzeugen, der er sich gewachsen fühlt. Im Laufe der Zeit internalisiert er die Transformationsfunktion und verfügt dann selbst über die Fähigkeit, seine negativen Affektzustände zu regulieren« (Fonagy u. Target, 2003, S. 173). So können auch hinreichend gute Spielfilme durch die dramaturgische Anordnung der hergestellten Verbindungen von Bild, Ton und Sprache, durch die mehr oder minder intentional deutende und plastische Ausgestaltung der Spielcharaktere und deren Beziehungen eine affektintegrierende, affektbindende und affektmodifizierende Funktion haben, die eine symbolisierte Auffassung sinnlich spürbarer, jedoch nicht dem Bewusstsein zugänglicher Affekte der Rezipienten ermöglichen und somit den Weg zur Integration der abgewehrten oder nicht symbolisierten Affekte oder Selbstanteile eröffnen. Gerhard Schneider (2008, 2014) weist auf die doppelte Anwendungsmöglichkeit des C-C-M bei der Filmanalyse hin. Auf der individuellen Ebene dienen die einzelnen Protagonisten im Film, deren

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Beziehungskonstellationen, die dargestellten soziokulturellen Institutionen oder einzelne nicht personifizierte Kunstelemente als Container. Zugleich kann man dem Film-als-Ganzes eine Containerfunktion zuschreiben und ihn als eine »Quasi-Person« betrachten, der man begegnet und die zu einer Kette bewusster und unbewusster Reaktionen führen kann, wenn man sich auf sie einlässt. Aus der kulturpsychoanalytischen Perspektive versteht Scheider (2014, S. 50) den Film als »ein Symptom eines soziokulturellen Feldes, dessen psychoanalytische Reflexion vor- oder unbewusste Konflikte und Phantasien und, allgemeiner, unbewusste Befindlichkeitsaspekte dieses Feldes zu beleuchten vermag. Symptome sind in diesem Zusammenhang ganz allgemein Zeichen für etwas, nicht Krankheitszeichen im engeren Sinne.« Der Film bildet die Zeit, die Kultur, die Politik, den Zeitgeist und wirtschaftliche Elemente als eine Mikrowelt ab. Er ist jedoch nicht nur das bloße Abbild oder Spiegelbild, sondern bietet auch eine Deutung der Realität an. Das Individuelle trifft auf das Kollektive und andersherum. Im Prozess der Filmproduktion wird künstlerisch, darstellerisch und stellvertretend auf symbolische Art das reale Geschehen verarbeitet. Der Spielfilm eignet sich somit als Medium zur Aufarbeitung oder Bewältigung von sonst schwer kommunizierbaren Themen der Gesellschaft und dient so unter anderem als Mittel der Vergangenheitsbewältigung. Der Film ist als Zwischenraum, Lager oder Behälter für Verdrängtes, Belastendes, seelische Verletzungen, für unerträgliche, überwältigende und unerwünschte Gefühle sowie kollektive Erfahrungen zu betrachten. Der Spielfilm in seiner Funktion als Container ist somit besonders geeignet zur Bewältigung von Vergangenheit und Traumata. Mathias Hirsch (2011) sieht das Ziel der psychoanalytischen Psychotherapie Traumatisierter in der Wiedergewinnung der Symbolisierungsfähigkeit: Die nicht symbolisierten Inhalte und insbesondere die überwältigenden Affekte, die per projektiver Identifizierung in den Therapeuten hineinverlagert werden oder sich im Rahmen des Enactments ereignen, werden vom Therapeuten aufgenommen, behalten und schließlich modifiziert und benannt an den Patienten zurückgegeben. Besonders imaginative Techniken sowie die Arbeit mit Bildern und Metaphern kommen zum Einsatz. Luise Reddemann (2011) entwickelte im Rahmen ihres Konzeptes der Psychodynamisch-imaginati-

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ven Traumatherapie (PITT) eine Reihe von Imaginationstechniken, die dem Traumatisierten Orientierung und Strukturen bieten, mittels derer er Einsicht und Kontrolle über die mannigfaltigen, das Leid erzeugenden Symptome gewinnt. Eines der Prinzipien der PITT ist die Unterstützung der Distanzierung, das heißt, der Traumatisierte soll mittels Imaginationen Kontrolle gewinnen über das, was geschehen ist und geschieht, und somit das Gefühl der eigenen Sicherheit deutlicher spüren. Insbesondere in der Phase der Traumakonfrontation kommen die Beobachtertechnik, die Bildschirmtechnik und die Tresorimagination zum Einsatz. Ziel ist, dass »die traumatischen Erfahrungen mit Emotionen erinnert werden können, ohne dass man sich davon überwältigt fühlt« (Reddemann, 2011, S. 37). In der Beobachtertechnik wird die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung durch Distanzierung und innere Spaltung erlernt und gestärkt. Es wird die Trennung von erlebenden und beobachtenden Anteilen eingeübt. So können bislang eher unbekannte Teile des Selbst deutlich werden. In der Bildschirmtechnik wird der Patient gebeten, sich das traumatische Ereignis wie auf einem Bildschirm vorzustellen und es zu betrachten, als ob es die Geschichte eines anderen wäre. Eine imaginäre Fernbedienung hilft ihm, den Abstand zum Geschehen steuern zu können, zum Beispiel durch Verkleidung des Bildes, Ausschalten des Tones, Veränderung der Farben des Bildes, Veränderung des Endes und anderes. Schließlich kann der Betroffene sich vorstellen, dass der innere, auf dem Bildschirm projizierte Film auf einer Filmrolle oder auf einer DVD gespeichert ist, die man in einen sicheren Tresor einschließen kann. Die als Ziel postulierte Wiedergewinnung der Symbolisierungsfähigkeit ist also mit dem Konzept des Containing eng verbunden. Es wird deutlich, dass diese traumatherapeutischen Techniken viele Parallelen mit der Filmprojektion und -rezeption aufweisen. Die Containerfunktion wird hierbei an formalen sowie inhaltlichen Elementen des Filmischen ersichtlich. Die hinreichend guten Spielfilme integrieren die Unterschiede in der Position von Hirsch und Reddemann. Ein Trauma bedeutet beim Individuum, dass »ein überwältigendes Ereignis den psychischen Apparat überrollt und den Reizschutz des Ichs durchbricht, das die Gewalterfahrung (traumatisches Ereignis) nicht integrieren kann. Es ist vielmehr gezwungen, Notmaßnahmen zu ergreifen, insbesondere die der beiden vorherrschenden Bewälti-

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gungsversuche: Dissoziation und Internalisierung der Gewalt« (Hirsch, 2011, S. 10). Analog zum zerstörerischen Einbruch in die Ich-Struktur des Individuums, der psychisch nicht integriert werden kann, verstehen wir ein kollektives Trauma als destabilisierenden Einbruch in die Struktur einer Gruppe, einer Nation oder eines Landes, der Notmaßnahmen im Sinne der Mobilisierung kollektiver Abwehrmechanismen erfordert. Im nächsten Abschnitt wird im Einzelnen die mehrstufige Anwendung des C-C-M im triadischen Filmprozess – Einstellung, Darstellung und Vorstellung – im Sinne der Traumabearbeitung beleuchtet.

Einstellung Dem inneren kreativ-künstlerischen Prozess wohnt die Containmentfunktion inne. Wie die Mutter auf das Kind, beziehen sich der Regisseur des Filmes und sein Team auf die Gesellschaft bzw. auf die traumatisierte Gesellschaft. Diese identifiziert projektiv den Regisseur als stellvertretenden Exponenten für die Erfüllung des Imaginationsbedürfnisses eigener Subjektivität (Hamburger u. Leube-Sonnleitner, 2014). Wir schließen uns hier der Interpretation des Bion’schen Modells von Lüders (1997) an, die die prototypischen Container-Contained-Modelle von Mund und Brustwarze, Vagina und Penis um Paarungen wie Mutter und Kind, Denker und Gedanke, Gruppe und Einzelner erweitert. Die Filmemacher nehmen das personalisierte Myzel1 der traumatisierten Gesellschaft als innere emotionale Resonanz und Spannung in sich auf, metabolisieren und strukturieren diese mittels ihres psychisch-verarbeitenden Prozesses und den ihnen zur Verfügung stehenden filmischen Elementen – wie Kamera, Schnitt, Protagonisten, Bild und Ton – und erzeugen somit ein »strukturiertes Kommunikat« (Schneider, 2014). Die symbolisierte und pointierte Auffassung der häufig komplexen Destrukturalisierung der traumatisierten Gesellschaft ermöglicht bereits eine dosierte, eingeschränkte und somit verdauliche Konfrontation mit dem traumatisierenden Material.

1 Myzel: fadenförmige Zellen eines Pilzes oder Bakteriums.

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Darstellung Der fertige Film »ist nicht einfach Abbild von Realität, sondern selbst schon Interpretation von Realität und als solche Deutung. Insofern kann jeder einzelne Film als Kristallisationspunkt eines individuellen und gesellschaftlichen Sinngebungsprozesses verstanden werden« (Mahler-Bungers u. Zwiebel, 2007, S. 25). Er lässt sich nicht mehr verändern und sein Narrativ liegt als geschlossene Darstellung in Form einer Filmrolle oder gespeichert auf einem anderen Medium vor und wird in einer geschlossenen Hülse, egal ob in einer Büchse oder auf einem Stick, verbreitet. Eine Filmrolle, eine Büchse und der Film selbst mit seiner beschränkten Länge und reduktionistischen Repräsentanz des Narrativen beinhalten sowohl formal als auch inhaltlich die Containmentfunktion. Die äußeren Behälter sowie die Vergänglichkeit des Filmes bieten dem Rezipienten einen gewissen Schutz und Trost. Bestimmte Kameraaufnahmen, die Wahl der aufgenommenen Szenen, Schnitt, Ton und Musik bzw. der Verzicht auf Musik »dienen nicht nur bestimmten Affektregulierungen wie Angst, Beruhigung, Spannung, Glück, sondern können auch Träger unbewusster Vorstellungsinhalte wie Verbundenheit, Geborgenheit, Zerbrechlichkeit, Gefährdung, Verlassenheit sein« (S. 24).

Vorstellung Der Rezipient wird bei der Projektion des Filmes auf eine Leinwand oder einen Bildschirm Beobachter der dargestellten Handlung. Er befindet sich in einem Schutzraum der Entkopplung vom Akteur und Filmgeschehen. Er kann die Selbststeuerung übernehmen: Er entscheidet, ob und wie lange er sich den Film anschaut, auf welche Aspekte des Filmes er seine Aufmerksamkeit richtet, wann er die Augen schließt oder sich die Ohren zuhält, ob er sich den Film allein oder als Teil des Publikums anschaut etc. Es ist jedoch nur eine Illusion, dass der Rezipient (das Publikum) nur passiver Zeuge des Narrativen des Filmes ist. Erst die psychisch-schöpferische Aktivität des Rezipienten, die »Transformation der filmischen Repräsentationen in seine eigene Vorstellungswelt« (Mahler-Bungers u. Zwiebel, 2007, S. 27), ermöglicht

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die Vollendung der Anwendung des C-C-M. Es ist anzumerken, dass nicht jeder Film, der die Verarbeitungsfunktion für sich postuliert, eine ausreichend gute Containmentfunktion erfüllt. Manche Filme können daher als Trigger der Re-Traumatisierung wirken.

Die Mörder sind unter uns Eines der größten Traumata der Menschheit ist zweifelsohne der Krieg. Bisher gab es zwei Kriege, die in ihrem Ausmaß die ganze Welt erreicht haben und das Prädikat »Weltkrieg« tragen. Aus beiden Weltkriegen ging Deutschland als Verlierer hervor. Die Ereignisse und Folgen des Zweiten Weltkrieges sowie das Thema der Schuld und Wiedergutmachung prägten und prägen Deutschland und seine Position in der Weltgeschichte, Weltordnung und Politik bis heute. Der Zweite Weltkrieg war bislang der größte militärische Konflikt in der Geschichte. Es war der einzige Krieg, in dem Atomwaffen eingesetzt wurden und in dem die Bedingungen für eine außerordentliche, gezielte Menschenvernichtung – den Holocaust – gegeben waren. Vergangenheitsbewältigung ist eine generationsübergreifende Aufgabe. Nur am Rande möchte ich auf die Arbeiten Theodor W. Adornos (1955/1997) und des Ehepaares Mitscherlich (1963) verweisen, die in der Psychoanalyse und Soziologie die Hartnäckigkeit der Widerstände und die Abwehr bzgl. der gesellschaftlichen Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges in Deutschland thematisiert haben. Auch Spielfilme haben eine vergangenheitsverarbeitende Funktion. Die Filme, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind und die damalige Situation der unmittelbaren Nachkriegszeit (halb-) dokumentarisch spiegeln, bezeichnet man als »Trümmerfilme«. Eine besondere Position unter diesen Arbeiten nimmt der erste Trümmerfilm ein, der zugleich der erste deutsche Nachkriegsfilm ist: »Die Mörder sind unter uns« von Wolfgang Staudte (1946). Den Film nehmen wir im Folgenden aus Sicht des C-C-M und der Traumabewältigung unter die Lupe. Zur Geschichte des Filmes: Die Dreharbeiten begannen im März 1946. Gedreht wurde in den »Althoff-Ateliers« in Babelsberg, den »JofaAteliers« in Berlin-Johannisthal und an zahlreichen Außenschauplätzen.

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Am 15. Oktober 1946 wurde der Film im Admiralspalast im sowjetischen Sektor Berlins uraufgeführt. Der Film wurde zwar 1947 in BadenBaden und 1948 in Bochum gezeigt, jedoch erst im Januar 1959 für die Bundesrepublik freigegeben. Im Fernsehen wurde der Film durch den »Deutschen Fernsehfunk der DDR« noch während des »offiziellen Versuchsprogramms« am 1. November 1955 ausgestrahlt; in der Bundesrepublik Deutschland aber erst am 18. Dezember 1971 durch die ARD. Bereits an den unterschiedlichen Uraufführungsdaten in den (damaligen) beiden deutschen Staaten ist ersichtlich, wie brisant und heikel das in der »Filmrolle« »enthaltende« (contained) Filmmaterial war. Zur Handlung des Filmes: In die durch den Krieg zerbombte und verwüstete Stadt Berlin kehren der Chirurg Hans Mertens, dargestellt von Ernst Wilhelm Borchert, die KZ-Überlebende Susanne Wallner, dargestellt von Hildegard Knef, und der Kriegsverbrecher Ferdinand Brückner, dargestellt von Arno Paulsen, zurück. Alle drei tragen Traumatisierungen aus der Kriegszeit in sich, alle drei verfügen über unterschiedliche Bewältigungsstrategien: Die junge Fotografin Susanne, die im Konzentrationslager war, versucht, wieder in die Normalität zurückzufinden, indem sie sich ausschließlich der Gegenwart und Zukunft zuwendet, ihre zerstörte Wohnung wieder herrichtet und arbeitet. Sie bietet Mertens Unterkunft bei sich an. Ihn selbst, der als Militärchirurg 1942 in Polen Zeuge der Erschießung unschuldiger Geiseln war, deren Hinrichtung er nicht verhindern konnte, plagen schreckliche Kriegserinnerungen und Albträume, er wird zum Alkoholiker. Zwischen ihm und Susanne entsteht eine Liebesbeziehung, und Susanne in ihrer »Aufbaumoral« hofft, Mertens aus seiner Depression herauszuholen. Bald darauf begegnet Mertens seinem ehemaligen Hauptmann Brückner wieder. Der ist inzwischen ein beliebter Bürger und erfolgreicher Geschäftsmann, der aus alten Stahlhelmen Kochtöpfe produziert. Er empfindet nicht die geringste Schuld für sein Handeln im Krieg. Seine Geschäftigkeit bewahrt ihn vor materieller Not, seine Gewissenlosigkeit vor der Erkenntnis seiner Schuld. »Die Mörder sind unter uns«, notiert Mertens verzweifelt in seinem Tagebuch. Er entschließt sich, die Gerechtigkeit in die eigenen Hände zu nehmen und Brückner zu töten. Seinen Plan unterbricht eine besorgte Mutter, die Mertens bittet, ihre Tochter zu retten. Mit der Rettung eines Lebens fühlt er sich wieder berechtigt, sein Leben leben zu dürfen. Der Gedanke, Brückner zu töten, lässt ihn aber nicht los, und er versucht noch einmal,

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Brückner zu erschießen. Dieser Versuch wird durch Susanne verhindert. Mertens begreift, dass Gerechtigkeit nur die Sache aller sein kann. Im Film kommt die Funktion des Containments auf vielschichtige Art und Weise zum Vorschein: in einzelnen Szenen und Bildern, durch die Darsteller, durch die Sprache und die Dialoge sowie im Film als Ganzem. Wir identifizieren Beispiele sowohl für positive als auch negative Container. Gleich am Anfang des Filmes finden wir ein Beispiel für einen MinusBehälter, ausgedrückt durch die Bilder der in Trümmern liegenden Stadt (siehe Abbildung 1). Der Film beginnt mit der Einblendung der Zeile: »Berlin 1945. Die Stadt hat kapituliert …« Korrespondierend dazu befindet sich die Kamera nach einer Aufblende »am Boden« (Aurich, 1995, S. 13). In einer langsamer Aufwärtsfahrt erhebt sie sich und zeigt, dass die Stadt aus Trümmern und Ruinen, Schutt und Schmutz besteht. Die einzelnen Häuser, Straßenzüge, Kieze sind unerkennbar, die Heimatstadt insgesamt ist zerstört. Sie kann die Menschen, ihre Schicksalsschläge nicht mehr aufnehmen und ihnen keinen Schutz und Trost mehr spenden. Unruhe steigt bei den Rezipienten auf. Dies wird durch die folgende

Abbildung 1: Die Stadt liegt in Trümmern

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Szene noch bekräftigt, als Susanne in ihre alte Wohnung zurück möchte, die Mertens illegal bewohnt. Susanne besteht auf ihrem Recht, zurückkehren zu können, sie habe doch einen gültigen Mietvertrag. Mertens, nichts über die Vergangenheit von Susanne ahnend, geht mit ihr zu den zerschlagenen Fensterscheiben und zeigt auf die Stadt (Staudte, 1946/1999, DVD 00:10:30–00:11:19): Mertens:  Sehen Sie mal da hinaus! Alle, die da gewohnt haben, hatten gültige Mietsverträge. Wo waren Sie? Wo waren Sie, als die Häuser da drüben zusammenstürzten und die Menschen in ihren Kellern zum Teufel gingen, wo waren Sie denn, als hier die Hölle los war und die Bewohner dieser Straßen ihre Toten verscharrten, dort wo sie sie fanden? Gehen Sie durch die Ruinen. Da finden Sie ihre Gräber noch. Sehen Sie, die hatten alle einen gültigen »Mietsvertrag« … einen endgültigen!

Die Hilflosigkeit, verstärkt durch Mertens Zynismus, Vorwürfe, Verbitterung, Dialoglosigkeit und Unerreichbarkeit, mit diesen Begriffen in Verbindung stehende Gefühle erreichen den Rezipienten in voller Stärke. Was ist aus der Heimatstadt geworden, wen kann sie noch halten bzw. behalten – die Lebenden oder nur die Toten? Wenn die Ruinen Abbild der menschlichen Seele sind (von Mertens Seele), in welcher Verfassung befindet sie (er) sich? Der Rezipient wird hier mit der Vergangenheit des Zweiten Weltkrieges wie auch mit der Wirklichkeit der Nachkriegsgegenwart – noch unmodifiziert – konfrontiert. Beispiele für positives Containment finden wir in verschiedenen anderen Szenen: der sog. »Schachszene« (siehe Abbildung 2), in Begebenheiten, in denen die Haltung von Susanne zu Mertens deutlich wird und vor allem in der Schlussszene des Filmes. In einer Bar – Aurich (1995, S. 15) hat sie als einen »Ort des Verdrängens der Vergangenheit wie der Gegenwart im Amüsement« bezeichnet – setzt sich der betrunkene Mertens zu einer Animierdame, die Schach spielt. Andere Animierdamen sitzen um sie herum. Mertens sagt zu allen Anwesenden (Staudte, 1946/1999, DVD 00:15:46–00:16:30): Mertens:  Lasst euch eine billige Weisheit mit auf den Lebensweg geben. Nur im Märchen hat man die Wahl zwischen Gut und Böse. Uns bleibt immer nur die Wahl zwischen der größeren und kleineren Gemeinheit. Animierdame:  Du solltest nicht so viel trinken! Mertens (fängt eine Schachpartie mit der Animierdame an, sagt schließlich): Schach!

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Abbildung 2: Schachbrett – Schlachtfeld (Animierdame wundert sich, dass er Schach spielen kann) (Mertens saugt tief an seiner Zigarette und pustet einen starken Rauchzug aufs Schachbrett …)

Die leichte, gefällig-trillernde Hintergrundmusik untermalt durch das Ertönen schwerer Posaunentöne den folgenden Dialog (Staudte, 1946/1999, DVD 00:16:31–00:18:06): Mertens:  Sieht es nicht aus wie auf einem Schlachtfeld? (Animierdame ignoriert seine Anmerkung und macht einen neuen Zug) Mertens  (warnend): Ich würde diesen Zug zurücknehmen! Animierdame: Warum? Mertens (macht einen Gegenzug und schlägt die Figur der Animierdame): Du verlierst dadurch zwei Bauern. Animierdame (unerschüttert):  Aber ich rette den König! (macht einen weiteren Gegenzug) Mertens (lachend):  Hut ab vor deinem monarchistischen Herzen! Animierdame (verstört):  Komm, lass es, du bist betrunken. Das ist nur ein Spiel. Das sind Figuren aus Holz … Mertens (schreit auf):  Holz, Elfenbein oder Knochen … das Feldgeschrei heißt: »Rettet den König!« Die Bauern können zum Teufel gehen, wenn der König in Sicherheit ist. Ich hasse dieses Spiel! (schmeißt das Spielbrett auf den Boden)

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Andere junge Animierdame (empört):  Ich weiß nicht, was Sie wollen, das ist doch nur ein Spiel! Ein ganz harmloses Spiel! Mertens (benommen und verbittert):  Von einem harmlosen Spiel mit Bleisoldaten führt ein kurzer, gefährlicher Weg über ein harmloses Luftdruckgewehr zum harmlosen Kleinkalibersport. Und von da direkt ins Massengrab.

Die Containmentfunktion dieser Szene besteht im Metaphorischen des Dargestellten – der Schachpartie – und im Metaphorischen des Dialogs. Die Szene beinhaltet – (ent-)»hält« – eine überwältigende Komplexität, Undurchsichtigkeit, Hilflosigkeit und Enttäuschung sowie einen starken Drang nach Klärung. Der Zuschauer merkt: Es wird ein enormer Aufwand zum Verständnis des Kriegsanfangs, des Kriegsgeschehens, der Kriegsfolgen und deren Bewältigung nötig sein. Die Spaltung, Verdrängung und die Verleugnung sind zunächst notwendige und noch unüberwindbare Abwehrformationen. Beeindruckend stark – im Sinne des Containments – ist, dass nicht nur die Abwehr (der beteiligten Personen) gezeigt wird, sondern dass die verschiedenen Szenen auch Hinweise auf Vorzeichen des Krieges enthalten: auf das Münchener Abkommen und die Rolle der westlichen Mächte dabei, auf die Unreife der Demokratie in der Weimarer Republik, auf das Erbe des Kaiserreiches und den verlorenen Ersten Weltkrieg sowie auf den Wunsch nach einem starken Erlöser – auch auf den Missbrauch des Einzelnen und mehrerer Nationen zum Vorteil pseudopolitischer Ziele –, die auch durch die psychisch labile Verfassung vieler möglich wurde. Der Film nimmt zudem die Nachkriegsentwicklung vorweg – die Spaltung in einzelnen Personen, auch in Gemeinden, die Spaltung und Teilung Berlins und Deutschlands, Europas und der ganzen Welt. Verschiedene prototypische Szenen drücken somit sowohl die zeitliche Kontinuität von Traumatisierungen als auch die Notwendigkeit aus, die primitiven Abwehrmechanismen zu erkennen und zu bearbeiten. Auf der dyadischen Ebene wird die Containmentfunktion im Verhältnis von Susanne zu Mertens sprachlich auch im Dialog zwischen ihr und einem ihrer Nachbarn ausgedrückt. Der ältere Herr macht sich Sorgen um sie und fragt, ob sie stark genug sei, um Mertens Trauma neben ihrem eigenen zu ertragen. Sie antwortet (Staudte, 1946/1999, DVD 00:47:52–00:48:27):

Film und Container: Drei leere Container233 Susanne:  Würden Sie einem Menschen Hilfe versagen, würden Sie ihn zurückstoßen, nur weil er das Unglück gehabt hat, mit schweren Verwundungen aus dem Krieg zurückgekehrt zu sein? Wenn er in seiner Hilflosigkeit auf Sie angewiesen ist, würden Sie ihn dann zurückstoßen? […] Es gibt Verwundungen, die nicht sichtbar sind. Deren Heilung aber viel Einsicht, Geduld und Liebe verlangt.

Susanne markiert die seelischen Verwundungen Mertens, spürt ihnen nach und ist trotz eigener Traumatisierung in der Lage, seine seelische Not aufzunehmen, sie auszuhalten, durch einfühlsame Spiegelung aufzufangen und ihm somit die Traumaaufarbeitung zu ermöglichen. In den Termini von Bion (1962, 1990) bekommt Mertens »Milch, Liebe und Weisheit«. Dies zeigt sich auch insbesondere in der Schlussszene des Filmes: Zur Weihnachtszeit, am Jahrestag der Erschießungen von zahlreichen Zivilisten in Polen2, sucht Mertens den Hauptmann Brückner auf und ist entschlossen, Selbstjustiz zu üben und sich durch die Erschießung Brückners von den eigenen Schuldgefühlen, »nur« ein Mitläufer gewesen zu sein, zu befreien und den Tod der Unschuldigen zu rächen. Beide treffen in einem Fabrikkorridor aufeinander, wo Brückner mit seinen Mitarbeitern Weihnachten feiert. Brückner, durch die Waffe in der Hand von Mertens erschrocken, drückt sich gegen eine Wand. Die Kamera steht hinter Mertens, der einen großen bedrohlichen Schatten über Brückner auf die Wand wirft. Aurich (1995, S. 15) drückt es so aus: »Der erdrückende ›Schatten der Vergangenheit‹ hat Brückner eingeholt und gibt ihn nicht mehr frei« (siehe Abbildung 3). Es kommt zu folgendem Dialog (Staudte, 1946/1999, DVD 01:17:50–01:19:44): Brückner (unsicher):  Was ist Ihnen denn? Was stieren sie mich so an? Hab’ ich Ihnen was getan? Mertens (kalt):  Es ist ein eigenartiges Gefühl, eine Waffe in der Hand zu halten. Brückner (erzürnt):  Sind Sie denn verrückt geworden? Was reden Sie denn da? Um Gottes Willen, nehmen Sie doch die Hand aus der Tasche! Sie haben ja eine Pistole in der Hand! Mertens, was wollen Sie denn von mir? Brauchen Sie Geld? Wollen Sie …?

2 Im Film wird beispielhaft die »Liquidierung« (Erschießung) von 121 Zivilisten durch »Hauptmann Brückner«, den damalige Vorgesetzten des »Militärarztes Mertens«, dargestellt.

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Abbildung 3: Schatten der Vergangenheit Mertens (bestimmt):  Ich fordere Rechenschaft, Herr Hauptmann Brückner! Brückner (verwirrt):  Rechenschaft? Wofür Rechenschaft? Mertens (dezidiert):  36 Männer, 54 Frauen, 31 Kinder. Munitionsverbrauch 347 Schuss. Brückner (verleugnend):  Ja, aber was denn, um Gottes Willen, da war doch Krieg, da waren doch ganz andere Verhältnisse! Was hab’ ich denn heute damit zu tun? Jetzt ist doch Frieden, wir haben doch Weihnachten, Friedensweihnachten! Mertens, um Himmels Willen, meine Frau, meine Kinder, was haben denn meine Kinder damit zu tun? Susanne (die durch Mertens Tagebuch über dessen Pläne Bescheid wusste, erscheint plötzlich und schreit): Hans! Mertens (wendet seinen Blick Susanne zu und bewegt sich, wie aus einem Traum erwacht, auf sie zu, lässt die Waffe sinken und Brückner gehen): Ich danke dir, Susanne. (beide halten sich an den Händen und verlassen die Fabrik) Susanne:  Hans, wir haben nicht das Recht, zu richten! Mertens (nachdenklich und klar):  Nein, Susanne, aber wir haben die Pflicht, Anklage zu erheben, Sühne zu fordern im Auftrag von Millionen unschuldig hingemordeter Menschen!

Die Schlussszene führt die Hauptfigur und den Rezipienten also aus ihrer Hilflosigkeit und Handlungslähmung heraus, indem sie »sinnbildend die Vergangenheit mit der eigenen Lebenspraxis in der bedrü-

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ckenden Gegenwart verknüpft« (Aurich, 1995, S. 19) und die OpferTäter-Dynamik unterbricht. Wenn wir uns nun dem Film als Ganzem in seiner Containmentfunktion annähern, stellen wir fest, dass es nicht nur die einzelnen Protagonisten, Szenen und Dialoge, die Entwicklung der Handlungsstränge und deren Auflösungen sind, die unerträgliche und manchmal kaum spürbare oder nicht aussprechbare Gefühle in uns wecken sowie die Möglichkeit zur Identifizierung, Gegenidentifizierung oder Spiegelung abgewehrter Charaktermerkmale und geschichtlicher Tatsachen in sich bergen. Es ist die gesamte Ästhetik des Filmes, ihre expressionistische Qualität, die an die Filme der frühen 1920er Jahre anknüpft. Zum Vergleich bietet sich der Film »Das Kabinett des Dr. Caligari« von Robert Wiene (1920/1983) an. Wobei das, was 1920 bei »Caligari« noch durch gemalte, grotesk verzerrte Kulissen contained werden musste, nämlich das zerfallene und desintegrierte Bild von Europa und der menschlichen Psyche als Folge des Ersten Weltkriegs, bei »Die Mörder sind unter uns« ganz real gezeigt werden kann, ohne dass ReTraumatisierung droht: »Die expressionistische Ästhetik des Films verweist auf eine bewusste Abgrenzung zum ›geleckten‹ Ufa-Stil der NS-Filme und verhindert weitgehend ein Einfühlen in die Filmbilder und das Handlungsgeschehen« (Aurich, 1995, S. 17). Staudte selbst führte »containmentkonform« zur Intention seines Films aus: »Wir wollen in diesem Film, der in der Welt spielt, in der wir leben, in der wir uns alle zurechtzufinden haben, nicht die äußere Wirklichkeit abfotografieren. Ich bemühe mich zu Problemen Stellung zu nehmen, wie sie heute tausende und abertausende unserer Mitmenschen belasten. Die Beziehung des Menschen zu seiner jetzigen Umwelt, seine Gefühlswelt innerhalb der politischen Kulisse – das ist das Grundthema des Films « (Stiftung Deutsche Kinemathek, 1977, S. 16).

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Lutz Krüger und Aleš Vápenka

Staudte, W. (1946). Die Mörder sind unter uns. (Film). Buch und Regie: W. Staudte. Mit H. Knef, E.-W. Borchert, E. Sellmer, R. Forsch, A. Paulsen u. a. Potsdam-Babelsberg: DEFA-Studio für Spielfilme. DVD: ICESTORM Entertainment GmbH (1999). Stemmrich, G. (2010). Gordon Matta-Clarks Conical Intersect. In E. FischerLichte, K. Hasselmann, M. Rautzenberg (Hrsg.), Ausweitung der Kunstzone (S. 111–142). Bielefeld: transcript. Stiftung Deutsche Kinemathek (Hrsg.) (1977). Wolfgang Staudte. Berlin: Stiftung Deutsche Kinemathek. Wiene, R. (1920/1983). Das Kabinett des Dr. Caligari. Drehbuch: H. Janowitz u. C. Mayer. Regie: R. Wiene. Expressionistischer Stummfilm, restauriert 1980. ZDF 15. 3. 1983. Zwiebel, R., Mahler-Bungers, A. (Hrsg.) (2007). Projektion und Wirklichkeit. Die Unbewusste Botschaft des Films. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Hermann Stöcker

Der Einfluss von Kunsterleben, gesellschaftlichen und persönlichen Beziehungen in Nazifizierung und Demokratisierung von Georg, Jg. 19291

The influence of art experience, social und personal relationships in the processes of Nazification and democratization of Georg, born in 1929 Based on a biographical account and a number of personal documents of a man born in Bremen in 1929, the processes of his subjective Nazification up to 1945 and of his subjective democratization up to 1960 are described and interpreted. His family background and ›education‹ in the National Socialist youth organization as well as personal art experience and formative opportunities of American and German ›re-education‹ programs are being reflected. Zusammenfassung Am biografischen Bericht sowie einigen lebensgeschichtlichen Dokumenten eines 1929 in Bremen geborenen Mannes wird der Prozess seiner subjektiven Nazifizierung bis 1945 und seines subjektiven Demokratisierungsprozesses bis 1960 dargestellt und verstehbar gemacht. Dabei werden familiäre Bedingungen und »Erziehung« in der nationalsozialistischen Jugendorganisation, sowie persönliche Kunsterlebnisse und Entwicklungsangebote der amerikanischen und deutschen »Reeducation« reflektiert.

Georgs lebensgeschichtliche Entwicklung Georg wurde im August 1929 als ältester seiner Geschwister geboren. Ihm folgten ein Bruder (1934) und eine Schwester (1938). Der Vater wurde in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre geboren und wurde 1912 oder 1913 Lehrer. 1914 zog er »mit Begeisterung« in den Krieg und 1 Georg (Name geändert) ist mir als Zeitzeuge aus einem Projekt des Bremer Schulmuseums über »Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus« (Schulgeschichtliche Sammlung Bremen, 2002) bekannt und er war im Kontext eines aktuellen, zweiten Ausstellungs- und Katalogprojekts zu »Kindheit und Jugend zwischen 1945 und 1960« (Schulmuseum Bremen, 2014) zu Gesprächen mit mir bereit.

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wurde nach schwerer Verletzung »von den Briten gefangen« und von diesen im Lazarett »wieder zusammengeflickt«. Er war dann im Kriegsgefangenenlager bis 1919. Nach Kriegsende wurde er rückwirkend zum Leutnant befördert. In Bremen arbeitete er wieder als Lehrer, nutzte aber dann die Möglichkeit, noch einmal zu studieren. Ab 1928 arbeitete er an seiner Promotion, wurde danach Studienrat an der Oberschule in seinem Wohnstadtteil und 1938 Direktor einer Bremer Behörde. Georg beschreibt ihn vor allem als »strebsam«, als »freisinnig«, als einen, »der seine Meinung vertrat«. Für Georg war er wohl nicht hinreichend präsent. Georgs Mutter kam vom Dorf. Er schildert sie durch ihre Herkunftsfamilie als eher »deutschnational« geprägt. In ihrer Familie habe man schon auch Bemerkungen über »Viehjuden« gemacht. Bewahrt ist das Tagebuch seiner Mutter2, in dem sie bis zu Georgs 10. Geburtstag über seine Entwicklung berichtet. So erfahre ich: Georg erhielt vor allem dann Zuwendung, wenn er brav war und alles ganz schnell lernte. So wurde er bereits mit fünf Monaten auf dem Topf festgebunden, obwohl er, wie auch berichtet wird, erst mit sieben Monaten allein sitzen konnte. Als er sechs Monate alt war, vermerkte die Mutter stolz: »Wir haben seit Tagen keine Schmutzwindel mehr.« Aber offenbar wirkte es nur bedingt, so »dass es einen Klaps« gab, wenn nichts ins Töpfchen kam, denn später mehrten sich die Schmutzwindeln wieder. Bis in die Schulzeit hinein entfaltete sich ein verzweifelter, wütender und trauriger Kampf um Georgs Sauberkeit. Dem Tagebüchlein entnehme ich ebenfalls Eintragungen der Mutter über Georgs »grundlose Brüllerei«, von der Wirkung »gut vorhalten[der]« Prügel, vom Stolz der Mutter, wenn er »artig«, ein »Musterboy« oder »der beste Junge am ganzen Strand« war. Mit zweieinhalb Jahren trug er erste Lieder und Gedichte vor, die er lernte: »Kommt ein Vöglein geflogen«, »Fuchs du hast die Gans gestohlen«, »Ringel Rose«, »Es klappert die Mühle«. Zu Weihnachten 1933 erhielt er unter zahlreichen Geschenken auch einen »Stahlhelm«, im Februar 1934 konnte er »alle national-sozialistischen Lieder«. Die Mutter berichtet auch: Mit viereinhalb wollte Georg »Stahlhelmer« werden, mit sechseinhalb »Studienrat«, mit siebeneinhalb wollte er »zur Kavallerie«. 2 Im Besitz von Georg. Das liebevoll gestaltete Tagebuch enthält auch zahlreiche Fotografien.

Nazifizierung und Demokratisierung von Georg241 These: Mir als Leser entsteht der Eindruck von einem aufgeweckten Jungen, der alles aufzunehmen sucht, was ihm die Umgebung bietet, der manchmal etwas ängstlich, dann wieder ein wenig draufgängerisch wirkt. Da er sich in ihm wichtigen Bedürfnissen und Gefühlen nicht gesehen und geliebt erlebt, genießt er vor allem den Stolz der Mutter, wenn er brav, folgsam und strebsam ist. Deshalb kommt er zahlreichen Überforderungen und ihn verfehlenden Anforderungen meist nach; nur manchmal unterläuft er sie oder trotzt ihnen.

Mit dem Klassenlehrer der Grundschule, in die Georg 1936 eingeschult wurde, verbindet er gute Erinnerungen an gemeinsame Unternehmungen in Schule, Stadtteil, beim Spiel und im Schullandheim: »Das war so ein Vollblutlehrer.« Der Lehrer erteilte ihm in seiner Freizeit Flötenunterricht und regte Georgs Eltern dazu an, einen Geigenlehrer für ihn zu suchen. Durch ihn erhielt er ersten »Zugang zur klassischen Musik, die ich so besonders liebe«. Dieser Lehrer wird einer jener zwei Lehrer bleiben, denen Georg sich noch als Erwachsener verbunden fühlt. Georg hatte zahlreiche Freunde aus Schule und Nachbarschaft im mehrheitlich proletarischen Stadtteil. Mit ihnen spielte er häufig auf der Straße. April 1940 – seit einem halben Jahr führt Deutschland Krieg – war ein besonderer Zeitpunkt in Georgs Leben: An »Führers Geburtstag«, wie er den 20. April noch immer nennt, wurde er mit allen Kindern seines Jahrgangs in das »Deutsche Jungvolk als Teil der Hitlerjugend« (DJ/HJ) aufgenommen.

Exkurs: Bemächtigung der Jugend Der 20. April 1940 markierte einen der letzten Schritte des NS-Regimes im Prozess der Bemächtigung der Jugend (Gamm, 1964/1990). Die Aufnahme aller 10-Jährigen im »Reich« war erstmals und nun jedes Folgejahr Pflicht. Basis dafür war die 1939 verordnete »Jugenddienstpflicht«, mit der die Mitgliedschaft in der HJ für alle Jungen und Mädchen gesetzlich genauso verpflichtend wurde wie der Schulbesuch. Dieser Bemächtigungsprozess hatte mit dem Verbot nahezu aller existierenden Jugendorganisationen im Mai 1933 und der Unterstellung aller Jugendarbeit unter die »Reichsjugendführung« begonnen. 1934 wurde der Samstag zum »Staatsjugendtag« erklärt: Mitglieder der HJ hatten unterrichtsfrei und gingen stattdessen zum »Dienst«, nahmen teil an Geländespielen, Wanderungen oder attraktiven Wettbewerben. Neben

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der darin liegenden »Verführung« war ein wichtiger Effekt, dass deutlich sichtbar wurde, wer dazugehörte und wer nicht. Außerdem wurde der Mittwochabend der HJ gesetzlich für ihren Heimabend zugesprochen. Diese gegenüber den Eltern einklagbaren, außerhäusigen »Freiräume« im Kreis von Gleichaltrigen, verstärkten den »freiwilligen« Zustrom zur HJ erheblich. Einen Höhepunkt bildete der April 1936. In einer reichsweiten Veranstaltung wurden Kinder zu »Führers Geburtstag« überall und gleichzeitig ins Jungvolk aufgenommen. Mit der Rundfunkübertragung einer weihevollen zentralen Veranstaltung wurden viele Tausende in Hunderten von gleichzeitigen Feiern im ganzen Land »gleichgeschaltet« und angeschlossen: In dieser aufwendig und raffiniert inszenierten Werbeveranstaltung »schenkte« sich ein ganzer Jahrgang dem Führer, und der Führer nahm dieses Geschenk dankbar entgegen.

Schulwechsel Ebenfalls im April 1940 wechselte Georg von der Grundschule zum Gymnasium. Sein Vater bestand darauf, dass Georg nicht die Oberschule im Stadtteil besuchte, an der er selbst bis vor kurzem Lehrer gewesen war, sondern das humanistische Traditionsgymnasium in der Innenstadt. Nach Georgs Erzählung war das Anliegen des Vaters, »dass seine ehemaligen Kollegen sich bei der Bewertung seines Sohnes nicht befangen fühlen«, wichtiger als der Wunsch seines Sohnes, mit den ohnehin wenigen Freunden, die auf die Höhere Schule wechselten, zusammenzubleiben: »Ich durfte da leider nicht hin.« Am »altehrwürdigen« Gymnasium für Jungen, das auch als »Eliteschule« galt, fühlte Georg sich fremd. In seiner Klasse traf er Mitschüler, die aus den gehobenen Stadtteilen Bremens kamen und nachmittags auch wieder dorthin verschwanden. »Ich habe die neue Umgebung geschluckt«, sagt Georg, »das ging natürlich, denn das Lernen fiel mir nicht schwer.« Auch die Lehrer trugen zu seinem Fremdheitsgefühl bei: »Es waren keine Lehrer, sondern Studienräte.« Diese Unterscheidung hat für ihn bis heute Bedeutung: Mit Studienräten verbindet er sein Erleben von unpersönlicher Wissensvermittlung, Kälte und Des-

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interesse, mit der Bezeichnung Lehrer das Erleben von Zugewandtheit, Anerkennung, Freundlichkeit. Den abwesenden väterlichen Studienrat hat er nach kurzer Idealisierung im frühen Berufswunsch vermutlich unbewusst eingereiht. Gern erinnert er den Auftritt von Schulchor und Schulorchester in der »Glocke«, dem traditionellen Konzerthaus Bremens: »Wir haben die Matthäuspassion gesungen, und wenn ich heute in der Glocke bin, sehe ich mich immer noch da oben stehen.« Im Unterschied zur Schule traf Georg bei den Treffen des DJ nun wieder viele Spielkameraden aus der Straße. In der NS-Jugendorganisation stieg er bald in Führungspositionen auf. Im Herbst 1940, also mit elf Jahren, wurde er Hordenführer und führte in seiner Horde drei bis vier Jungen. Von Dezember 1940 bis Januar 1941 nahm er an einer Schulung im »Jungbann« teil. Im Februar 1941 wurde er dann, obwohl er nach wie vor nur den Dienstgrad eines Hordenführers hatte, in der Dienststellung eines Jungenschaftsführers eingesetzt. Er trug eine »rotweiße Kordel« auf seiner Uniform und leitete eine Gruppe von etwa zwölf Jungen. Als einer von drei bis vier Jungenschaftsführern gehörte es nun auch zu seinen Aufgaben, den Jungzugführer, der dienstgradmäßig mehrere Stufen über ihm stand, zu vertreten. 1942, Georg war zwölf Jahre alt, folgte dann der Dienstgradaufstieg zum Oberhordenführer; er wurde in der Dienststellung Jungenschaftsführer offiziell bestätigt und erhielt »einen Stern«. Ab Januar 1943, er war dreizehn Jahre, führte er einen Zug mit etwa vierzig Jungen, trug nun die »Grüne Schnur«, und hatte »nun also drei bis vier Jungenschaftsführer unter [sich] und die Hordenführer sowieso«. War er in der Jungenschaft noch vorwiegend mit Gleichaltrigen zusammen, führte er jetzt auch ein bis zwei Jahre ältere Jungen. These: Durch die Versagung seiner Bindungswünsche an wenigstens einige der ihm vertrauten Jungs aus dem Stadtteil beim Übergang zum Gymnasium und verstärkt durch die als fremd erlebte Atmosphäre des Traditionsgymnasiums sucht Georg vermehrt Sicherheit und Anerkennung in der HJ. Er sei zwar damals noch kein besonders sportlicher Typ gewesen, aber wohl als »kluger Kopf aufgefallen«. In der Kluft zwischen Dienstgrad und Dienststellung, also den ihm zugewiesenen Aufgaben, sehe ich zum einen die Anerkennung und Funktionalisierung von Georgs Fähigkeiten, aber gleichzeitig das Moment seiner Überforderung, die er auch in seiner weiteren Entwicklung sehr engagiert annahm.

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Georg fand zunehmend Gefallen an seinen Aktivitäten im DJ und der damit verbundenen Statusverbesserung. Die wesentlichen Aufgaben, die er aus dieser Zeit aufzählt, lassen bereits zugrunde liegende Motive zugänglich werden: »Auf dem Schulhof antreten lassen, Meldung machen, dass man angetreten ist, mit welcher Stärke und wer fehlt.« Auf Ordnung achten, »das hieß also auch schon mal, selbstständig einen Uniformappell zu machen, ob die Uniform ordentlich war, ob die Fingernägel ordentlich waren, ob ein sauberes Taschentuch in der Tasche war«. Dann Marschieren üben und singen »und rechts rum, links rum«. Bei Geländespielen »gab’s dann auch Funktionen als Anführer oder Kommandogebender oder Geländezeichen üben oder Geländekarten lesen, also alle die Dinge, die […] ja schon auf späteres Belegen im Felde zielten«. Bei Heimabenden wurde gesungen oder etwas vorgelesen oder vorgetragen »über unseren geliebten Führer, Helden wie Blücher, Gneisenau oder Schlageter. Das musste ich natürlich vorbereiten.« Georg war insgesamt viel unterwegs, nicht nur wegen des Dienstes an sich, sondern weil es auch sein konnte, »dass Dienstbefehle rumzubringen waren: Wenn, vielleicht von irgendwelchen feststehenden Dienstzeiten abweichend, der Jungzug zusammenkommen sollte oder sich da was geändert hatte, dass wir zum Sportplatz kommen sollten, dann musste man natürlich bei seinen Jungen rumlaufen und den Dienstbefehl hinbringen oder mündlich übermitteln.« Auf das Befehlen angesprochen, antwortet Georg: »Befehlen und Gehorchen waren fraglos. Es gab eine institutionelle Autorität, die war ausgewiesen durch die Schnur, die man trug.« Davon zu unterscheiden ist ihm wichtig »diese persönliche Autorität, dass die Jungen gern diesen Dienst machten, ob sie gern mitgingen. Da spürte man ja, ob man, ich hätte beinahe gesagt, geliebt wurde. […] Machte man seine Sache gut, folgten sie einem, kamen sie gerne oder eben auch nicht. […] Dafür musste man sich natürlich gut vorbereiten, auch zum Sportwettfest.« Georg mochte also führen und als Führer anerkannt und geliebt werden. Neben all dem machte Georg einen Erste-Hilfe-Kurs, wurde dadurch »Feldscher« und trug auch dafür ein eigenes Abzeichen. Wegen der zunehmenden Bombenangriffe ließ er sich als Reichsluftschutzmelder ausbilden. Er hielt dann Nachtwachen in der Schule, um bei Alarmen irgendwohin Meldungen zu bringen. Als Motiv nennt er, die »Heimat gegen die mörderischen Angriffe zu verteidigen«.

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Exkurs: Aspekte der Nazifizierung Ich stelle hier sechs Aspekte des Prozesses der Nazifizierung von Kindern und Jugendlichen in wichtigen Zügen dar (Scholtz, 1985; Brockhaus, 2000; Klafki, 1991; Nitsch, 2006). Nicht jeder Aspekt ist für jeden Jugendlichen gleich bedeutsam. 1. Mit der NS-Parole der Selbstführung – »Jugend wird von Jugend geführt« – wurden Ansprüche und Einflüsse der Lehrer und Eltern infrage gestellt, abgeschwächt und abgewehrt. Die Jugendlichen wurden aus den traditionellen sozialen und persönlichen Beziehungen herausgelöst. Neue Bindungen boten einerseits die Formationen von Jungvolk und Hitlerjugend und andererseits die Bindung an »etwas Höheres«, den »Führer«, das »Heil«, das »Volk«, das »Reich«, den »Sieg«. Korrespondierend wurden bei den Jugendlichen überhöhtes, elitäres Selbstbewusstsein, Eifer, Optimismus und Freude begründet, was beförderte, dass sich junge Menschen in den Herrschaftsapparat einspannen ließen. Und es schwächte in einer Art Pseudoautonomie die Angst der Kinder im Elternhaus ab, nicht oder nur dann geliebt zu werden, wenn sie brav waren, nicht störten und wenn sie sich den Eltern gegenüber gehorsam, aufmerksam und einfühlend verhielten.   In der Identitätskrise der Pubertät waren die Jugendlichen dann weniger auf die notwendige Auseinandersetzung mit den Eltern und der Kultur, ihren Ansprüchen und Traditionen verwiesen, um Identität und Individualität zu gewinnen. Sie waren entweder auf sich geworfen und vereinzelt oder sie haben sich zur Teilhabe verführen lassen (»Jugend hat immer Recht«). Dann suchten sie ihre Identität in Hörigkeit gegenüber dem totalitären Verfügungsanspruch und zum Kriegsende hin im verzweifelten Glauben an den Führer. 2. Mit der vom ersten Tag an im Jungvolk geforderten Unterordnung unter Führer und Befehle bei gleichzeitiger Pflicht zur Kameradschaft wurden den Kindern Verhaltens- und Interaktionsmuster angeboten, die Bedürfnisse nach emotionaler Sicherheit, Zugehörigkeit und Anerkennung bedienten. Emotionale Sicherheit gaben beispielsweise das Erleben eindeutiger Orientierungen und der feste, eigene Platz in der Formation. Der Verband wurde dabei als gebündelte Kraft mächtig erlebt, als attraktiv wegen seiner Anziehung

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auf andere oder wegen seines Einschüchterungspotenzials anderen gegenüber.   Sicherheit innerhalb der Gruppe entstand im Widerspiel von Einordnung in das Führer-Gefolgschaftsverhältnis und der Pflicht zu unbedingter Kameradschaft zwischen den gleichgestellten Gruppenmitgliedern, denn soziale Unterschiede wurden in der Formation negiert, Machtkämpfe zwischen Gleichrangigen sollten eingeschränkt werden.   Gleichzeitig wurde der Wunsch, selbst Führer zu werden, selbst Macht haben und kommandieren zu können, sich selbst auf den Willen des obersten Führers zu berufen, stimuliert und als durchaus realistisch erlebt: Die Kriterien des Aufstiegs schienen transparent, zum Beispiel besondere Folgsamkeit, besondere Kameradschaftlichkeit, besondere Sportlichkeit, Tüchtigkeit usw. Dass es eine Illusion war, etwas zu sagen zu haben, wurde nicht zugänglich. Die Erwartung des eigenen Aufstiegs sicherte Vertrauen auch noch bei unbegründeten und uneinsichtigen Entscheidungen.   Die Uniformierung unterstützte das Selbsterleben und demonstrierte Zugehörigkeit und Status. Sie signalisierte in Verbindung mit der Betonung der Körperbeherrschung (Haltung, Kraft, Schnelligkeit, Härte) die kämpferische und soldatische Perspektive, unterstrich die Betonung eines gefühlsbetonten Denkens, den Ausschluss und die Verachtung von Rationalität und Dialog. »Die körperliche Ertüchtigung soll dem einzelnen die Überzeugung seiner Überlegenheit einimpfen und ihm jene Zuversicht geben, die ewig nur im Bewusstsein der eigenen Kraft liegt« (Hitler, zit. nach Scholtz, 1985, S. 27). So sollten Minderwertigkeitsgefühle der Kinder kompensiert werden. 3. Neben die Sicherheit, Zugehörigkeit und Macht suggerierende Disziplinierung vitaler Bedürfnisse durch das Führersystem trat die Befriedigung des Bedürfnisses nach differenzierter sozialer Anerkennung. Durch die Bereitstellung zahlreicher Angebote für verschiedene Interessen und Qualifizierungen wurde das Selbstwertgefühl gestärkt und differenziert: in Sondereinheiten der Motor-, Flieger-, Nachrichten-, Marine- oder Musik-HJ, durch die Ermöglichung aufwendiger Sportarten, zum Beispiel Schießen, Fechten, Boxen. Durch solche Betätigungen und privilegierende Teilnahme

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an allen möglichen Führerschulungen wurden vielseitige technische, sportliche, musische oder organisatorische Kompetenzen entfaltet. Ein System von Wettstreit und Auszeichnung versprach beständig Anerkennung und sicherte, dass man – auch durch die Zeichen, die man trug – wahrgenommen wurde. 4. In der aktiven Beteiligung an Ritualen, durch Lieder, Sprüche, Auftritte wurden die genannten Beziehungen zueinander, die Beziehung zu »Führer und Volk« und die erhebenden Ziele für den Einzelnen sinnlich verkörpert, appellativ ausgedrückt und zum Glauben erhoben.   Durch die weihevolle Stimmung ästhetischer, pseudoreligiöser Inszenierungen wurde die Überzeugung genährt, in einer großen Zeit zu leben, dem Alltäglichen enthoben zu sein und der Glaube befestigt, dass »Hitler« und »sein Sieg« tatsächlich das »Heil« bedeuten (Vondung, 2013). 5. Unter den Bedingungen des Lagers, besonders in der erweiterten Kinderlandverschickung (KLV), wurden Ausnahmesituationen hergestellt und konkret fühlbar, die unter provisorischen Bedingungen (und Mangel) die Selbstüberwindung durch Härte und die Ablösung von persönlichen Bindungen forderte und trainierte (z. B. Heimweh der Kinder). Körperliche Ertüchtigung, Geländespiel und Wettkampf bestimmten neben dem Unterricht den Tag, Lagerfeuer, Lieder und Feierlichkeit Abend und Nacht. 6. Die Betonung der Eigenwelt der Jugend wurde auch durch Ressentiments, wie den Hass auf alles »Jüdische«, Dekadente, die Schwächlichkeit, das Diskutieren oder Zaudern und Zweifeln gestärkt. »Die Kampfansage an bürgerliche Auffassungen wurde jetzt zum Wesen der Jugend gehörig erklärt« (Scholtz, 1985, S. 117). Viele Jugendliche fühlten sich unbewusst beauftragt, die Niederlage der Väter im Ersten Weltkrieg und den »Schandfrieden von Versailles« wettzumachen. Sie fühlten sich beauftragt, vergangene Schwäche zu überwinden, den besonderen Wert ihrer eigenen Generation und die Überlegenheit der eigenen »Rasse« zur Geltung zu bringen.

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Evakuierung 1943 Im August 1943 wurde Georg, gerade 14 Jahre alt geworden, wegen der zunehmend schweren Luftangriffe auf Bremen mit den unteren fünf Klassenstufen seiner Schule in die KLV evakuiert. Damit begann ein neuer Abschnitt in seiner Biografie. In einer sächsischen Stadt nahe Dresden wurden die Kinder nicht in einem »geschlossenen Lager« untergebracht, wie andere dorthin ausgelagerte Schulen, sondern von Gastfamilien aufgenommen. Räumlichkeiten für Schule, Unterricht, Heimabende usw. wurden in der »Deutschen Heimschule« am Ort zur Verfügung gestellt, deren Leiter ein SS-Obersturmbannführer war. Im Gespräch erwähnt Georg erst auf meine Nachfrage das Heimweh bei der Ankunft, die Sorge um die Eltern und die Familie zu Hause. Es kamen Nachrichten über Bombenangriffe auf Bremen nach Sachsen, auch Georgs Familie wurde ausgebombt. Es gab Todesnachrichten. Auch im Lager starb ein Schüler. Dazu erinnert Georg, dass die Lehrer sich vor allem in den ersten Tagen sehr um die Jugendlichen kümmerten, damit sie sich ein wenig eingewöhnten. Auch in der KLV wurde Georg schnell in führende Positionen eingesetzt. Für einen Lehrgang der »Reichsführerschule« vorgeschlagen, erwarb er das »Patent« für die zukünftige Stellung als Lagermannschaftsführer. War er zuerst einer von zwei oder drei Unterführern des damaligen Lagermannschaftsführers, wurde er im März 1944 selbst Lagermannschaftsführer und KLV-Standortführer. Im Herbst 1944 erhielt er seine Ernennung zum Hauptlagermannschaftsführer und war für 16 Lager im Bezirk mit etwa 800 Schülern verantwortlich.3 Georg erinnert sich: Lagermannschaftsführer zu werden, »hat mir Spaß gemacht, das schmeichelte mir natürlich sehr«. Ein Hauptvergnügen manifestierte sich in den nun sichtbaren Insignien der Macht, der weißen Schnur an der Uniform, denn »normalerweise wäre man da erst mit 17, 18 hingekommen«. Er genoss, dass ein früherer »Rivale« aus Bremen ihn nun zuerst grüßen musste, dass bei seinen Inspektionen als Hauptlagermannschaftsführer andere Lagermannschaftsführer Meldung zu machen hatten. Dabei befriedigte es 3 Ein Hintergrund dieses raschen Aufstiegs war, dass ältere Schüler immer früher als Flakhelfer in Bremen oder sogar als Soldaten einberufen wurden.

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ihn besonders, wenn sie einen höheren Dienstrang als er hatten, ihm aber der Stellung nach untergeordnet waren. Älter waren ohnehin fast alle. Stolz und Befriedigung steigerten sich, als er auch mehrere Mädchenlager zu führen hatte. Die »Lagermädelführerinnen« waren älter als er, aber die Position, die er innehatte, »konnte nur ein Junge einnehmen«. Gleichzeitig war er seinem »Direx«, als Lagerleiter, nun nahezu gleichgestellt. Aber er sagt auch: »Meinem Direx gegenüber habe ich mir immer gesagt, wenn wieder normale Zeiten kommen und wir sind wieder in Bremen, dann kann es dir sehr schaden, wenn du dich hier mausig machst.« Besonders gerne erinnert sich Georg an ein gemeinsames Sportfest mehrerer Lager: »Ich sehe mich heute noch, wie ich als 14-Jähriger dastehe und dann sind die alle im Karree aufmarschiert, unser Lager und dieses andere Jungenlager und dann die Mädchen […], und die mussten singen, wenn ich das sagte. Ein tolles Gefühl. Es war ein gelungenes großes Sportfest, immerhin mit 300 Mädchen und 100 Jungen. Und ich hab die Siegerpreise verteilt nachher, und die mussten dann vorkommen […], Hand schütteln und den Preis geben und dann kommen so schnuckelige Mädchen.« »Ich sah damals gut aus und lief dann auch rum, geschmückt mit den vielen Abzeichen, die man hatte, und ich war sportlich und auch durchaus patent. Und ich weiß, wenn ich von der Schule kam […], dann hingen die Mädchen aus dem Fenster und schrien über die Elbe rüber ›Georg, Georg‹. Na ja, welchem 14-Jährigen imponiert das nicht, wenn er da entlangstolziert!« Aufgrund seiner Stellung genoss Georg auch andere Freiheiten. So ging er gerne mit einem Freund ins Kino. Das konnte er sich leisten, da er für seinen Dienst nun monatlich 30 Mark erhielt. Besonders gern ging er in Filme, für die er noch nicht alt genug war. Wollte ihn der nächtliche HJ-Streifendienst kontrollieren, forderte er ihn auf, er solle seinem Vorgesetzten Bescheid sagen. Ihm brauche er nicht Rede und Antwort zu stehen. Aber: Georg stand wohl auch unter großem Bewährungsdruck: So erwarb er selbst immer neue Leistungsabzeichen, unter anderem verschiedene Schießabzeichen. Er war selbst ein guter Sportler, beim Laufen, Fechten, Boxen. Er war der beste Schüler seiner Stufe: »Ich war Primus Omnium!« Auch »diese technischen Sachen« hat er alle beherrscht, beispielsweise übten sie jetzt im Sportunterricht Weitwurf mit Handgra-

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naten. Als Sportwart durfte er Leistungen des »Reichsschwimmscheins« abnehmen. Georg schildert eine Szene: Er stand oben auf dem Dreimeterbrett und winkte die Absolventen zum geforderten »Paketsprung«. Als der letzte gesprungen war, wurde er selbst »von unten von 50 bis 60 Schülern lauthals zu einem Köpper« aufgefordert. »Ich hab das mit Todesverachtung gemacht, konnte mir doch keine Blöße geben.« Danach spürte er ein Hochgefühl, dass er »sich überwunden« hatte. Ein von ihm bewahrtes Vorbereitungsbüchlein zeigt, mit welcher Ge­wissenhaftigkeit er Gruppenabende, Sportveranstaltungen oder Feiern plante: Er wollte alles »richtig« machen. Noch erhaltene ausführliche Berichte Georgs aus dem KLV-Lager an die Bremer Schule und die bremische HJ oder einzelne schriftliche »Befehle« für das Leben im Lager geben einen Eindruck von den zahlreichen Anforderungen an den noch 14- oder gerade 15-Jährigen.4 Gegenüber der immer noch fremden sächsischen Umgebung, auch der dortigen HJ, grenzten sich die Bremer Jungen, Georg allen voran, deutlich ab und trugen die »Nase ziemlich hoch« (»kein Hochdeutsch«, »schlapper Haufen«), was Zusammenhalt und Verbundenheit der Bremer untereinander steigerte. Mit der Entwicklung des Kriegsgeschehens wuchsen auch bei einigen Schülern und Lehrern die Zweifel an einem deutschen »Endsieg«. So machte ein Schüler »bissig aufrührerische Bemerkungen, in denen er Nachrichten vom Wehrmachtsbericht zitierte und mit Zitaten aus ›Mein Kampf‹ garnierte«. Ein Lehrer machte im Unterricht ein paar Anmerkungen »über die Nachrichtenlage«. Daraufhin besuchte Georg den Lehrer, sagte, er solle doch vorsichtiger sein, und dieser bedankte sich bei ihm. Ein anderer Schüler schrieb in einem Brief an die Eltern »unflätige Sachen über die Sachsen, über den Dienst und die blöden Unteroffiziere, die nur rumschreien können und ungebildete Kerle sind«, was durch die Briefzensur aufflog. Wegen dieser Vorfälle musste Georg zum Dresdener Gebietsbeauftragten der HJ für die KLV, der Georg herunterputzte, er habe doch mitgekriegt, was der Klassenkamerad von sich gegeben habe, er hätte das melden müssen. Als Georg erwiderte, das könne man doch nicht ernst nehmen, riss der Beauftragte ihm 4 Die Dokumente befinden sich mittlerweile im Archiv des Bremer Schulmuseums.

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Spiegel und Schulterklappe herunter und schickte ihn nach Hause ins Lager. Dort machte er seinen Dienst weiter. Ihm war zu diesem Zeitpunkt das gute Verhältnis zu Mitschülern und Lehrern wichtiger als die Verpflichtungen gegenüber der sächsischen Zentrale. Im Gegensatz zu etlichen Klassenkameraden habe er selbst aber keine Zweifel gehabt, »jedenfalls nicht bewusst«. Gleichzeitig erinnert er jedoch, er habe in einem Brief nach Hause von den Kompanien abgerissener Soldaten geschrieben, die durch die Stadt zurückzogen: »Mein Gott, ich sehe die heute noch vor mir, wo wollte man mit solchen Resttruppen noch den Krieg gewinnen?« Er entzog sich der Werbung der Waffen-SS in den KLV-Lagern durch eine freiwillige Meldung bei dem Bremer Heimatregiment, dem 1. Hanseat Nr. 75. Mithilfe des Vaters konnte er rechtzeitig den Reserveoffizier-Aufnahmeschein vorzeigen. Nach der Bombardierung Dresdens im Februar 1945 beobachteten die Bremer im KLV-Lager tagelang den Feuerschein. Die Schüler machten Notdienst: »Wir haben an der Elbe gestanden mit langen Staken und mussten rausziehen, was da die Elbe runtergeschwommen kam. Das war eines der widerlichsten Erlebnisse, die ich bis dahin hatte.« »Die Schulleiter der Bremer Lager bemühten sich, einen Zug nach Bremen zu kriegen, aber es war Krieg und zwar in der Endphase: Wir haben die Flüchtlingstrecks und wir haben das rückflutende Militär gesehen und dann ist es eben unsrem Direktor gelungen, einen Flüchtlingszug, der aus Chemnitz kam, anzuhalten und umzudrehen«. 51 Stunden brauchte der Zug, bis sie in Bremen ankamen. Hier fand kaum noch Schule statt. Georg wurde als Fähnlein-Führer eingesetzt und entschied sich Ende März, nicht mit der Mutter und den Geschwistern aufs Dorf zu fahren, sondern »zu den Soldaten zu gehen«. Britische Truppen drangen nach etwa drei Wochen in die Stadt vor. Bei letzten Kämpfen Ende April wurden fünf Jungvolkführer aus dem von ihm geführten Zug innerhalb der zusammengewürfelten Kompanie erschossen. Da er einen »Gewaltmarsch« aus einer Einkesselung nicht mehr mitmachen konnte, schickte ihn sein Kompanieführer nach Hause. Er bewegte sich durch die Stadt ohne Gefühl. »Es wurde zwar geschossen, es lagen auch Leichen herum. Das hat mich alles nicht berührt. Dann war mir plötzlich bewusst, wenn du nicht aufpasst, erwischt es dich auch, und dann war da die Überzeugung, diesen Untergang des

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Reichs, diesen Zusammenbruch wollte ich eigentlich nicht überleben. Ich trug ja Pistole. – Gott sei Dank habe ich es nicht gemacht!« These: Die seit Ende 1944 bis in den März 1945 »unbewusst« wachsenden Zweifel Georgs verlangen ein hohes Maß an Wahrnehmungsabwehr. Um den internalisierten Anforderungen an seine Führungsaufgaben nachzukommen, um einen Zusammenbruch von Glauben und Überzeugungen – der angesichts der Realität der im März 1945 bereits sehr zerstörten Heimatstadt und der sicht- und erlebbaren Absetz- und Fluchtbewegungen in seiner Umgebung nahelag – zu verhindern5, mobilisiert er »unbewusst« überkompensatorischen Kampfeswillen, um mit Einsatz auch eigener Kraft den Feind aus dem Land zu kämpfen. Umso vernichtender erlebt er dann nur etwa zwei Wochen später das Ende. Alles, wofür er sich eingesetzt hatte, woran er geglaubt hatte, ging unter. Den suizidalen Impuls könnte man als ein finales Aufbäumen der »Macht« in ihm gegen die Wahrnehmung des Untergangs verstehen – mit dem er das Vernichtungsstreben des NS an sich selbst vollzogen hätte. Den ihn überwältigenden, nicht steuerbaren Gefühlen hätte er so ein gewaltsames Ende gesetzt.

Georg erreichte das Haus einer Nenntante, in deren Wohnung seine ausgebombte Familie eingewiesen worden war. Aber Mutter und Geschwister waren auf dem Land, der Vater irgendwo in der Stadt. Da grub er sich im Garten ein Schützenloch und deckte es ab. »Hab gedacht, wenn wegen der Luftminen das Haus zusammenstürzt, oder wenn die da rein schießen, es kann dich nur erwischen, wenn es direkt auf dein Loch geht. So habe ich zwei Tage in dem Loch gelegen, jämmerlich gefroren.« Dann war es aus, es wurde nicht mehr geschossen. These: In der Angst, noch zuletzt getötet zu werden, findet Georg im Erdloch Halt für die überwältigenden Gefühle und Impulse. Er kann sie aushalten, spüren und sich beruhigen. Auch liegt die Phantasie nahe, er habe sich schutzsuchend in den Schoß der Erde zurückgezogen, sogar an Verschmelzungsphantasien könnte man denken und an Wiedergeburt.

5 Das noch (im Archiv des Bremer Schulmuseums) vorhandene Dokument einer »Inventarliste«, die Georg noch am 6. 4. 1945 erstellte, versammelt das Eigentum der Bremer HJ, wie »Wimpel, Trommel« usw., und bei wem sie untergebracht sind. Die Liste verstehe ich als Dokument eines konservatorischen Versuchs, die Symbole einer vergehenden Welt vor dem Untergang zu bewahren und das, was ihm selbst einmal bedeutsam war, in Sicherheit zu bringen.

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Bei der »Tante« unwillkommen, wollte er weg. Er ging aus der zerstörten Stadt hinaus zu »so was Ähnlichem wie Verwandtschaft«, zu Menschen, bei denen er sich willkommen wusste, wo er helfen, sich nützlich machen konnte. Er kümmerte sich um Tiere, pflügte usw. und bekam dafür Bett und Mahlzeiten. Wegen »marodierender Polen« (ehemaliger Zwangsarbeiter) schoben sie nachts Wache mit einem Handalarmgerät. Im September 1945 erhielt er den Befehl, sich in Bremen zum »Strafdienst« einzufinden. Alle ehemaligen Jungvolkführer waren »rekrutiert, um sinnvolle Arbeit zu machen, Bombentrichter zuschütten, Trümmer räumen. Jetzt waren wir wieder zusammen, diejenigen, die in der KLV etwas zu sagen gehabt hatten. Wir kriegten Essen, das war alles in Ordnung. Aber dann gab es dort Aufseher, die einen Spaß daran hatten, uns als ›Nazischweine‹ zu beschimpfen. Das hat mich schwer getroffen. Wieso waren wir ›Nazischweine‹ mit unseren 16 Jahren?« Diese Beschimpfung kennzeichnet Georg rückblickend als Beginn seiner Vergangenheitsbewältigung. »Das hat für mich lange gedauert. Im Grunde habe ich erst nach meinem Abitur 1949 voll und ganz akzeptiert, dass ich einem Unrechtsstaat anheimgefallen war, dass ich Verbrechern gefolgt bin. Ich wollte damals auch lange nicht die Verbrechen in den Konzentrationslagern glauben. Ich war immer noch der Meinung, das ist Feindpropaganda.« Bremen, dessen Schulen 1945 zu mehr als 70 Prozent zerstört oder schwer beschädigt waren, konnte erst am 1. Dezember wieder Unterricht für Höhere Schulen ermöglichen. Die Zeit bis dahin war für Georg durch Mithilfe in der Sicherung des Lebensunterhalts ausgefüllt. Der Vater war dienstentlassen, die Mutter bemühte sich, die Familie über Wasser zu halten. Georg unterstützte sie bei Hamsterfahrten oder klaute Holz, damit sie heizen konnten. Den Prozess seiner Auseinandersetzung beschreibt Georg im Rückblick: Er sei über viele Jahre ein Suchender gewesen. So habe er in einem der Vorträge über bekannte Deutsche, die im Dom stattfanden und die er häufig besuchte, von Albert Schweitzer erfahren. Daraufhin habe er sich dessen Bücher »reingezogen: Das könnte ein Weg sein.« Eine weitere Suchrichtung beschritt er mit der Rezeption von Musik und Theater. »Es gab regelmäßig Konzerte für junge Leute mit Einführung und Erklärung. Ich bin in fast jedem dieser Konzerte gewesen. Und die klassische Musik liebte ich sowieso.« Schauspiel und Oper fin-

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gen zunächst in einer Schulaula an. »Nathan, der Weise« war die erste Aufführung. Neben klassischen Opern, wie beispielsweise »Fidelio«, konnte Georg im Schauspiel Hasenclevers »Antigone«, Zuckmayers »Des Teufels General«, französische und englischsprachige Autoren kennenlernen, von denen er bisher noch nie etwas gehört hatte. Aber Georg begnügte sich nicht mit Zuschauen, er suchte vor allem nach Gesprächen. Bei seinen Lehrern traf er auf Mauern des Schweigens: »Keiner hat mit uns gesprochen […], aber wo konnte man als inzwischen gerade 16-Jähriger hingehen, wo konnte man damit fertigwerden?« Auch mit dem Vater gelang kein Gespräch. Aus dieser Not heraus orientierte er sich wieder auf den Kreis ehemaliger HJ-Führer. Sie trafen sich, versuchten miteinander zu sprechen, lasen, diskutierten. In diesem Kreis erfolgten erste Distanzierungen vom Nationalsozialismus. Sie lasen das erste Mal »Mein Kampf« und begannen zu begreifen, »das konnte ja nur zu diesem Ende führen«. Aber erst 1949, als ihm Bilder aus den Vernichtungslagern gezeigt wurden, konnte er »die ganze Ungeheuerlichkeit« der NS-Verbrechen anerkennen.

Gründung einer Jugendgruppe Im Frühjahr 1946 gründete Georg, vor allem mit einigen anderen ehemaligen HJ-Führern, eine Jugendgruppe, die »Hansische Jungschar«. In einem kleinen, handgeschriebenen »Manifest«6 ordnete er seine Vorstellungen für diese Gruppe. Im Vorwort wird deutlich, wie sehr es ihn damals schmerzte, dass die Jugendlichen – und er selbst – so sehr auf sich gestellt waren. Der Leser spürt aber auch die trotzig-stolze Gegenbewegung: »Wo seid Ihr Führer, uns den Weg zu zeigen? Sei’s drum, dann wollen wir uns selber führen!« Schreibend entwickelte er seine Überzeugung, dass »Kameradschaft und Gemeinschaftserlebnis« über alle Gegensätze hinweg so wichtig seien, dass sie nicht entbehrt werden könnten. »Ebenso glaube ich, unserem Volk dadurch einen Dienst zu erweisen, denn wir sind nun einmal die kommende Generation.« Er formuliert nun Ideale, wie »echte« Kameradschaft, einen »ehrlichen Ton« statt »hohler Phrasen«, »Mut, anderen Menschen seine Überzeu6 Dreißig handschriftliche Seiten, im Besitz von Georg.

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gung mitzuteilen, und die eigene Haltung nach dieser Überzeugung auszurichten«. Der zuvor durch die HJ propagierten »Aufopferung und Treue bis in den Tod« stellte er gegenüber: »Die Jugend muss begeistert werden für das, was das Leben schön, reich und lebenswert macht, denn ihr Glaube ist erschüttert und zerbrochen, eine Welt ist zusammengebrochen. Mag das Schicksal des Einzelnen auch noch so schwer grausam sein, wenn Jugend sich zusammenfindet, kommen auch Frohsinn und Lebenslust wieder zum Vorschein.« Als Inhalte des Gruppenlebens nannte er: »Gedankenaustausch, Sport, Spiel, eine schöne Vorlesung, ein frisches Lied … so dass die Gruppennachmittage für richtige Jungen und Mädel ein Erlebnis darstellen, das sie schön und abwechslungsreich finden. […] Die Gruppe bringt Jugend mit verschiedenen Gedankenrichtungen und Lebensbetätigungen zusammen. Es bietet sich die Möglichkeit, Interessen zu entwickeln und neu zu finden. Deshalb muss die Arbeit in der Gruppe möglichst mannigfaltig sein.« Es solle »ein richtiger Ausgleich gefunden werden zwischen körperlicher Betätigung und Betätigungen, die den Geist bilden. […] Es müssen inhaltsreiche Mußestunden geboten werden.« Ziele der neuen Jugendbewegung waren ihm »die Erziehung zu sauberen, lebendigen, aufrichtigen Menschen, die Selbsterziehung zu einem festen, starken Charakter«. Die Gruppe »müsse auch soziale Ziele haben, zum Beispiel Jüngere aufnehmen, die in dem Wissen der verflossenen Zeit ankommen, um sie zu erziehen«. Zum Verhältnis von Pflicht und Freiheit schrieb er: »Die Mitglieder müssen sich der Gruppe verpflichtet fühlen und den zum allgemeinen Besten aufgestellten Regeln gehorchen.« Aber: »Wer der Gruppe beitritt, soll sich frei fühlen von Zwang, und die zur Aufrechterhaltung der Ordnung erforderliche Disziplin soll jeder sich selbst auferlegen.« Anders als in der HJ sollten in der neuen Gruppe »alle Jugendlichen gleichberechtigt [sein]. Der Individualismus eines jeden Einzelnen muss stark geachtet werden. Einen groben Fehler macht man, wenn man selbigen bricht oder einschränkt.« Dafür brauche es auch einen anderen Typ von »Führer«. »Er muss die Fähigkeit besitzen zu führen, ohne zu dirigieren. Er soll freundlich, verständnisvoll und stark im Glauben sein.«

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These: Unter dem Begriff der »Kameradschaft« besteht Georg, abschnittweise durchaus trotzig, auf etwas, was er als wertvoll erlebt hat, wovon er sich nicht enteignen lassen möchte. Gleichzeitig ist das Manifest auch als eindrucksvolles Dokument der Suche und des Sich-völlig-neu-erfinden-Müssens zu lesen. Da ihm neue Kategorien fehlen, versucht er die alten mit neuen Inhalten zu füllen: Kameradschaft wird verbunden mit Individualität, Gleichheit, Selbstbestimmtheit. Die Gruppe (der Gleichen) dient auch als Schutz gegen die mit Misstrauen, Groll und Verachtung wahrgenommene Welt außerhalb der Gruppe, gegen Lehrer, Eltern, Politiker. Die Gruppe der Kameraden ist Schutzraum für das verlorengegangene »Heilige« und die tastende Suche nach einem humanen Inhalt, der mit »echt«, »wahrhaftig« usw. bezeichnet wird und in dem »Kameradschaft im Dienst für das Volk« als Platzhalter steht.7

Neben dem Wandern und Singen lasen die jungen Männer viel und hungrig. Georg bewahrt eine Liste mit der damals gelesenen Literatur auf. Neben beispielsweise Waldemar Bonsels, Thomas Mann, Elisabeth Jungk, Albert Schweitzer, José Ortega y Gassett, Maxim Gorki, Mika Waltari, Robert L. Stevenson, Ernest Hemingway und zahlreichen anderen fallen vor allem neun Bände von Hermann Hesse auf. Hesses Romane, in denen unterschiedliche Reifungskonflikte und Reifungswege von jungen Menschen in der Welt intensiv dargestellt werden, liebt Georg sehr. Im Gespräch hebt er neben »Narziß und Goldmund« ganz besonders »Das Glasperlenspiel« hervor. Dort geht es um ein »Spiel« mit allem Wissen und allen Werten aller Kulturen und Epochen, deren Bewahrung, Entfaltung und Weitergabe sich ein »kastalischer« Orden in Abgeschiedenheit von der Alltagswelt widmet. Der Glasperlenspielmeister des kastalischen Ordens namens Knecht, dessen lebensgeschichtliche Entwicklung im Roman entfaltet wird, pflegt und schätzt darüber hinaus aber auch beste Freunde außerhalb des Ordens und empfindet Respekt gerade vor denen, die sich abgewendet haben. In einem seiner Kontakte mit der Außenwelt erwirbt Knecht Zugang zur Geschichtswissenschaft, die im Wissenschaftskanon Kastaliens fehlt und er begreift, dass auch die kastalische Welt vergänglich ist. Als reifer Mann verlässt er sogar selbst den Orden – wird in den Augen der Oberen zum Abtrünnigen – um sich Erziehungsaufgaben in der Welt zu stellen. 7 Die Jugendgruppe löst sich Mitte der 1950er Jahre auf. Der Konflikt um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik spaltete die Gruppenmitglieder. Georg engagierte sich gegen die Wiederbewaffnung.

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Georg schildert noch einen zweiten Weg der Öffnung von Welt und Innenwelt durch Literatur: In der Gruppe lasen sie sich an »Heimabenden« oder am Lagerfeuer, also im geschützten, möglicherweise feierlichen Raum der Gruppe, oft gegenseitig Gedichte vor. Vortragen (vielleicht mit einem gewissen Pathos) und empathisches Zuhören ermöglichen es, individuelle und durchaus unterschiedliche Gefühle zu entdecken und zu entwickeln, an der Metaphorik lyrischer Bilder einen Ausdruck für bisher nicht Formulierbares, für persönlichen Sinn zu ertasten, zu weiten und zu erproben. All das hatte im NS-Staat keinen Platz gefunden. An einem seiner Lieblingsgedichte, die mir Georg nennt, wird das unmittelbar zugänglich. Zum Gedicht »Der Panther« von Rainer Maria Rilke ergänzt er: »So habe ich mich damals manchmal gefühlt.«

Exkurs: Amerikanische und bremische Jugendpolitik nach dem Krieg Die von den Alliierten geplante Umerziehung (Reeducation) der Deutschen richtete sich vor allem an die Jugend. Möglichst viele Jugendliche sollten sich mit einer demokratischen Kultur, insbesondere mit Diskussions- und Entscheidungsprozessen, durch eigene Aktivitäten oder mithilfe von Vorbildern vertraut machen. Die inhaltlichen Schwerpunkte der Umerziehungsvorstellungen der Alliierten waren »Friedenswillen«, »Verantwortung für die Vergangenheit übernehmen lernen«, »Besinnung auf die humanistische und demokratische Tradition Deutschlands«, »Übernahme staatsbürgerlicher Verantwortung«, »Verantwortung für die Menschheit übernehmen«, »Toleranz«, »Gerechtigkeit und Gleichheit«, »Achtung vor der Würde eines jeden Menschen«, »Freiheit anerkennen und verteidigen«, »Mündigkeit« (Ebbert, 1994, S. 63 ff.). Dabei mussten unter den Bedingungen einer weitgehend zerstörten Stadt, zerstörter Strukturen der Versorgung und des Zusammenlebens vor allem zuerst Voraussetzungen für »Education« geschaffen werden. Die erste Phase der amerikanischen Jugendpolitik war dann durch militärisches Sicherheitsdenken geprägt und ging davon aus, dass die Mehrheit der Jugend so fanatisiert sei, dass von einer jugendlichen Partisanenbewegung konkrete Gefahren ausgehen könnten, wie

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es die Werwolf-Propaganda des NS suggeriert hatte. Deshalb sollten die Jugendlichen in kleinen, von Erwachsenen geleiteten und kontrollierbaren Gruppierungen organisiert werden. Die in Bremen stationierten US-Einheiten spielten eine besondere Rolle bei der Bereitstellung von Freizeitangeboten für deutsche Jugendliche. Schon im Dezember 1945 gab es »German Youth Clubs«, vor allem für männliche Jugendliche zwischen 10 und 18 Jahren, in denen Sport, Diskussionsrunden, Tanzabende und Bastelkurse angeboten wurden. Ende April 1946 rief die US-Armee offiziell ihr »German Youth Activity Program« ins Leben. Der »Bremen Boys Club« residierte in einem großen beschlagnahmten Haus, ausgestattet mit Bibliothek, Theaterraum, Zeichensaal, Räumen für Tischtennis oder Versammlungen auch anderer Gruppen. Er hatte eine eigene Bigband und gab eine eigene Zeitschrift heraus. Unter den 1947 existierenden und von Armeeangehörigen unterstützten 56 Jugendgruppen gab es nur einen »Bremen Girls Club«. Ab 1946 wurden erste neu gegründete deutsche Jugendorganisationen durch die Militärregierung zugelassen, zunächst solche, die sich an Kirchen, Gewerkschaften und Sportvereine anlehnten. Sie hatten strikt »unpolitisch« zu agieren und demokratisch strukturiert zu sein. Sozialistische Arbeiterjugend und Freie Deutsche Jugend wurden nicht zugelassen, da sie gegen das Verbot parteipolitischer Betätigung verstießen. Sehr rasch begannen die Amerikaner ihre erziehungs- und jugendpolitischen Vorstellungen gemeinsam mit deutschen Behörden zu verwirklichen. So arbeiteten sie in Erziehungs- und Schulfragen eng zusammen mit der bremischen Bildungsbehörde unter Leitung des ehemaligen Versuchsschullehrers Christian Paulmann (1897–1970), der im März 1933 entlassen worden war und im Juni 1945 erster Bremer Senator für Schulen und Erziehung wurde. Es entfalteten und erweiterten sich in Bremen deutsch-amerikanische Netzwerke für Schule und Erziehung. Von amerikanischer Seite war für die Neuorientierung im Erziehungswesen die »Education Division« der amerikanischen Militärregierung zuständig. Ihr Chief, Harold H. Crabill, war ein Schüler von John Dewey (1859–1952), einem einflussreichen Pionier einer kind- und handlungszentrierten demokratischen Pädagogik. Der Leiter der amerikanischen Jugendabteilung war Edward T. Ladd, Zivilist im Dienst der Militärregierung.

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Schon 1946 war es schrittweise zur Lockerung der jugendpolitischen Beschränkungen und auch zur Zulassung politisch aktiver und »freier« Gruppierungen gekommen. Mit der Jugendamnestie vom 2. Juni 1946, die alle nach dem 1. Januar 1919 Geborenen von den Entnazifizierungsprozeduren befreite, wurde es auch früheren HJ-Führern und BDMFührerinnen möglich, Jugendleiterfunktionen zu übernehmen. Diese Personen gründeten teilweise wieder Gruppen in der Tradition der bürgerlichen Jugendbewegung, wie sie vor 1933 existierte. Die Amerikaner hatten diesen Gruppen lange mit Misstrauen gegenübergestanden, galten sie doch als »Erben und Fortsetzer der bündischen Jugend der Weimarer Republik, als romantisch introvertiert oder in elitärer Arroganz von allen gesellschaftlichen Strömungen isoliert« (Auf dem Garten, 2008, S. 143). In einem Prozess des Umdenkens waren mehrere Besprechungen zwischen amerikanischer und deutscher Behörde im Juni 1946 von Bedeutung, in denen Senator Paulmann zum einen den Begriff des Politischen weiter ausgelegt sehen wollte: »Die gegenseitige Anerkennung zwischen Menschen ist ein politischer Prozess.« Zum andern machte er sich für die Zulassung auch der in der Tradition der bündischen Jugendbewegung stehenden Gruppen stark, indem er auf Leistungen bündischer Bewegungen vor 1933 hinwies und forderte, dass den Jugendlichen »mehr Freiheit zu eigener Auseinandersetzung« zugestanden werden müsse (Auf dem Garten, 2009, S. 156 f.). Die Zahl der lizensierten Jugendorganisationen wuchs danach sprunghaft an. 1947 gab es bereits 124 Organisationen mit 40.000 Mitgliedern. Von ihnen gehörten 50 % zu Jugendabteilungen der Sportvereine, 16 % zur Gewerkschaftsjugend, 10 % zu kirchlichen Gruppen und 18 % zu »anderen«. 45 Gruppen hatten weniger als 100 Mitglieder. Die Jugendpolitik der Amerikaner zeitigte also großen Erfolg, nicht nur zahlenmäßig, sondern auch inhaltlich. Das kann man an der Präambel der Verfassung des Bremer Jugendtages von 1947, dem Zusammenschluss der bremischen Jugendorganisationen, der dann 1949 in den Landesjugendring überging, ablesen. Sie lautet: »Die organisierte bremische Jugend will Verständigung, Toleranz und gegenseitige Achtung. Sie lehnt den Angriffskrieg als letztes Mittel der Politik ab. In der Schaffung einer einigen deutschen Republik erblicken die Bremer Jugendorganisationen die Voraussetzung für die Mitarbeit der deutschen Jugend an einem dauerhaften Frieden. Die bremischen Jugendorganisationen

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erstreben eine fortschrittliche Selbsterziehung zu wertvollen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft unter Beachtung der notwendigen Freiheit des Einzelnen. Zur Lösung gemeinsamer Aufgaben bilden die bremischen Jugendorganisationen den Bremer Jugendtag und geben sich nachstehende Verfassung« (zit. nach Auf dem Garten, 2008, S. 143). Der Jugendtag unterteilte die bremischen Jugendorganisationen in sieben Gruppen: Freie Jugendverbände, Deutsche Jugendclubs, Sportjugend, Gewerkschaftsjugend, Sozialistische Jugend, Katholische Jugend, Evangelische Jugend und Kinderorganisationen. Jede der sieben Gruppierungen schickte einen Vertreter in den »Rat«. 1947/48 war Georg eine Zeitlang der Vertreter der Freien Jugendverbände.

Antrag auf Anerkennung Eine für ihn sehr wichtige Erfahrung macht Georg, als er 1946 mit einigen Mitgliedern seiner Gruppe zur zuständigen amerikanischen Dienststelle ging, um für diese die behördliche Zulassung und Anerkennung zu beantragen. Er schildert das gemeinsame Vorsprechen der Antragsteller bei dem zuständigen Mitarbeiter. Obwohl er versuchte, sich selbst im Hintergrund zu halten, war er dann doch der Einzige, der sich traute, ihr Anliegen vorzubringen. Der Behördenmitarbeiter begegnete ihnen offen und interessiert, identifizierte Georg als den eigentlichen Wortführer und fragte, weshalb nicht er selbst den Antrag stelle. So entstand ein Gespräch über Georgs HJ-Mitgliedschaft, seine früheren Dienstgrade und Dienstränge. Nun machte er die für ihn unerwartete Erfahrung, dass er seine Geschichte und Herkunft nicht verschweigen musste, dass darüber gesprochen werden konnte. Seine Biografie erschien für einen Moment als mit-teilbarer und respektierter Teil seiner Person. These: Georg und die anderen werden aus der von ihnen erwarteten und eingenommenen Objektposition als Antragsteller, als Bittsteller, ja sogar als Verdächtige im Gespräch zu Subjekten unter Einschluss ihrer Geschichte.   Trotz der erfolgten Zulassung bleiben natürlich das Misstrauen, die Vorbehalte und die Unsicherheit noch länger wirksam. Vom Bollwerk, das die Gruppe nach außen errichtet hatte, können nun aber vielleicht einige Steine abgebaut werden. Der innere Kampf um Einheit und Anerkennung muss vermutlich zunehmend

Nazifizierung und Demokratisierung von Georg261 ein bisschen weniger kämpferisch, weniger feindselig und weniger bedürftig nach außen getragen und geführt werden.

Georg erinnert sich auch an eine Einladung von Jugendleitern verschiedenster Gruppen ins Rathaus, vermutlich 1948, also etwa zwei Jahre später. Bürgermeister Kaisen habe sie in einer Ansprache darauf hingewiesen, wie wichtig die Jugendarbeit für den Neuaufbau sei. Er habe an alle appelliert, weiterzumachen und mitzuhelfen. Dann gab es Butterkuchen und etwas zu trinken. Georg »konnte es [sich] nicht verkneifen«, hin zu Kaisens Tisch zu gehen. Der Bürgermeister habe gefragt: »Na, min Jong, was hast du auf dem Herzen?« Auf Georgs Antwort, er wolle ihn etwas fragen, habe der Bürgermeister ihn aufgefordert, Platz zu nehmen. Georg nimmt den »Rauswurf« Kaisens aus dem SPD-Parteivorstand zum Anlass, um festzustellen: »Da macht man was mit und dann wird man rausgeschmissen.« Kaisen habe sich Zeit genommen und ihm erklärt, dass man in einer Partei für Mehrheiten kämpfen müsse. »Das war für mich ein entscheidender Schritt.« These: Ich verstehe Georgs »man« als Angebot eines »Wir«, mit dem er Kaisen eine Erlebensgemeinschaft als Ausgeschlossene anbieten möchte. Georg könnte dagegen im Gespräch erfahren haben, dass eine Minderheitsposition keinen Ausschluss bedeutet. Dass Überzeugungen und Ziele in Argumenten und Gesprächen vermittelt werden müssen, dass die andere Position Respekt verdient und dass Frustrationstoleranz hilfreich für das Zusammenleben sein kann.

Nach dem Abitur 1949 absolvierte Georg eine Lehre als Kaufmann in einer Außenhandelsfirma, in der alle Lehrlinge Abiturienten waren, und verdiente sein erstes Geld. Dort hatte ihm eine der Sekretärinnen eines Tages Fotos aus den Konzentrationslagern mitgebracht. Jetzt musste und konnte er die von Deutschen an Juden verübten Verbrechen des Völkermords anerkennen. Georg hatte dann 1951 »das unverschämte Glück, ein Stipendium zu bekommen von der UNESCO. Wieso ich da rangekommen bin, weiß ich bis heute nicht. Es ging über ein Jahr ins Ausland. Es ging um ein Studium der Jugendarbeit.« Er reiste in die USA, nach Kanada, Holland, Dänemark: Georg berichtet, er sei »voller Ressentiments zu unseren Besiegern gefahren.« Er fühlte sich »auch noch als Angehöriger einer feindlichen Nation: Erst als ich drüben war, wurde der Krieg formell beendet.« Er schildert, wie

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er sich wappnete: »Egal, was sie dir da beibringen werden, ich möchte wissen, was die Amerikaner uns außer Waffen und Geld an kulturellen Werten geben können.« Er erfuhr offene Begegnung sowie Interesse an ihm und Deutschland und er begann zu staunen: »Die haben einen Tennessee Williams und einen Thornton Wilder und die haben auch einen Gershwin gehabt. Das war für mich eine Offenbarung und hat mein Amerikabild ins Wanken gebracht.« Ich versuche, mir vorzustellen, wie überraschend und belebend der Versuch Gershwins, Jazz, Blues und Klassik zusammenzubringen, für ihn als Freund klassischer Musik gewirkt haben könnte. Er schildert, wie er sich vom ungehemmten Singen und Tanzen in einer amerikanischen Kirche ergreifen ließ. »Der Pfarrer sagte mir anschließend, die wollen tanzen, die jungen Leute, also bieten wir ihnen den sauberen Raum. Ich bin auch noch da, wenn sie ein Gespräch mit mir haben wollen. Das fand ich toll, das gab’s damals in Deutschland nicht.« Während seiner Zeit in Holland diskutierte er lange mit zwei Studenten über die Zeit der Besatzung. Bei einer gemeinsamen Ausfahrt sprach er mit einer jungen Frau, deren Vater von der deutschen Wehrmacht umgebracht worden war. In einem anderen, auf Englisch geführten Gespräch wandte sich ein holländischer Pfarrer schroff ab und ging weg, als er erfuhr, dass Georg Deutscher war. Ein Dritter erzählte, wenn die Deutschen nicht gewesen wären, insbesondere zwei junge SS-Offiziere, würde seine Tochter nicht mehr leben. Sie hatten seine kranke Tochter ins Krankenhaus gefahren. »Das musste ich alles so verarbeiten.« In Kanada hatte er sich mit einem Piloten angefreundet, der Bomben über Deutschland abgeworfen hatte. These: Unter den Bedingungen seiner Reisen kann Georg eigene Ressentiments wahrnehmen, sich aber auch der Neugier auf Fremdes überlassen. Anders als in der sächsischen KLV muss er sich nicht gegenüber dem Fremden abschotten oder sich elitär darüber erheben. Er kann staunen, sich öffnen, fragen. Er entwickelt eine veränderte Art und Weise, mit dem Leben umzugehen, erfährt Anerkennung, Zugehörigkeit und wird von den meisten nicht ausgeschlossen, wie er zunächst befürchtet hatte. Er kommt in Kontakt mit neuen Menschen und deren Kultur.

Eine wichtige Station für Georg wurde Dänemark: »Als ich dann dort war, habe ich die Heimvolkshochschulen kennengelernt.« Schon in Kanada hatte ihn jemand gefragt, ob er die People’s Colleges kennen würde. Eine solche Einrichtung dann wirklich zu sehen, »das war eine

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Offenbarung für mich. Zum guten Ton gehörte es dort, dass Firmen, wie zum Beispiel Karstadt, ihre Mitarbeiter für ein halbes Jahr in solch eine Volkshochschule schickten, um dänische Kultur, dänische Geschichte zu lernen. Das fand ich gut. Einer der Lehrer dort sagte zu mir: Die Deutschen hatten ja das Pech, nur einen Bismarck zu haben und keinen Grundtvig. Da hab ich mir gesagt, das willst du machen.« Er studierte ein Buch über Nikolai Frederik Severin Grundtvig (1783–1872), der Schriftsteller, Dichter, Philosoph, Historiker, Pfarrer, Volkspädagoge und liberaler Politiker gewesen war. Grundtvig entwickelte sich lebensgeschichtlich vom Fundamentalisten zum Reformer. 1844 eröffnete er die erste europäische Heimvolkshochschule, der weitere Gründungen folgen. Grundtvigs pädagogisches Konzept war »das lebendige Wort zwischen Lehrer und Schüler«. In seinen Schulen gab es keine Noten. Nicht die Lehrer dozierten den Stoff, sondern er wurde an den Fragen der Schüler entlang entwickelt. Grundtvig wollte eine Schule des Lebens mit lebenslangem Lernen für alle Beteiligten. These: Durch die Begegnung mit den Ideen Grundtvigs scheint Georg endlich ein Vorbild gefunden zu haben. Seine Suche nach Identität und Lebenssinn scheint an ein Ziel zu gelangen. Er findet in Grundtvigs Vorstellung der Volksbildung, des Volkslehrers und der Volkshochschule eine Perspektive für sich.

Heimvolkshochschule, Studium und Beruf Nach seinen Auslandsreisen machte Georg verschiedene Praktika. »Auf jeden Fall bin ich schließlich in die mir bekannte Heimvolkshochschule gefahren, lernte den dortigen Leiter kennen. Der war ganz angetan davon, dass er da jemand gefunden hatte, der in die Richtung wollte und hat mir gleich gesagt: ›Sie müssen unabdingbar studieren.‹ Und das hatte ich sowieso vor, wusste aber noch nicht was.« In Innsbruck fand er dann ein Studium, das es in dieser Form in Deutschland nicht mehr gab, nämlich Staatswissenschaften. Es enthielt all das, »was ich für die Erwachsenenbildung brauchen würde: Rechtsfächer, Geschichte, Soziologie. Das habe ich mit viel Freude und Lust gemacht. Man hatte dort auch Kontakt mit den Professoren, wir wussten, wo sie ihre Arbeitszimmer hatten, man konnte hingehen, anklopfen, und fragen, ob sie einen Moment Zeit hätten. Und so bin ich da geblieben.«

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These: Anders als die Benennung »Staatswissenschaft« signalisieren könnte, ist das Studium für ihn kein Werkzeug der Macht, um vielleicht etwa Politiker zu werden – vielmehr bietet es ihm eine Erkenntnisstruktur, um die Systematik der Macht zu studieren und zu reflektieren und um seine Einsichten als Lehrer an Schüler weitergeben zu können. Auch im Studium ist ihm der persönliche, emotional anerkennende Zugang zu den Lehrern wichtig, um an der erlebten Anerkennung und am zugewandten Dialog zu reifen. In seiner späteren Berufstätigkeit ist es ihm immer wichtig, als Ansprechpartner für Studierende zur Verfügung zu stehen.

Georg promovierte und begann dann seine Assistenzzeit an einer Heimvolkshochschule, an der er von 1958 bis 1960 als Lehrer blieb. Mit einer mir bedeutsam erscheinenden Episode aus dieser Zeit beende ich die Vorstellung von Georgs Biografie: Die Heimvolkshochschule bot jährlich eine Sommerschule für Gäste aus dem westlichen Ausland an. Georg hatte den Auftrag erhalten, einen Vortrag über die Entwicklung der Demokratie in Deutschland und das Grundgesetz zu halten. Mit »ziemlichem Bammel« trug er dann vor etwa 60 Zuhörern vor und fügte auch einige kritische Gedanken bei, zum Beispiel, für wie bedenklich er es halte, mit Leuten einen demokratischen Staat aufzubauen, die sagten: »Man muss der Opposition ab und zu mit einem nicht zu harten Holzhammer einen auf den Hinterkopf geben« (Adenauer zugeschrieben). In der Diskussion meldete sich ein Labour-Abgeordneter zu Wort. Er habe dem jungen Kollegen sehr interessiert und gern zugehört, auch, wie kritisch er die Entwicklung sehe. Und in diesem Punkt wolle er dem Referenten widersprechen. Sie dort auf der Insel hätten nicht geglaubt, dass Deutschland solch einen guten Weg zur Demokratie würde machen können und der Kollege solle doch ein bisschen mehr Geduld mit den Deutschen haben. Georg kommentiert: »Das saß, da hatte er recht.« Hier schließe ich meine Darstellung. Georg sagt, er habe von 1949 an zehn Jahre gebraucht, bis er in sich »einen genügend festen Grund« und eine Lebensaufgabe gefunden habe. Sein Suchen nach Kontakt zu einer Vielfalt von Menschen aber habe nie aufgehört. Dieser Beitrag bietet kein abgeschlossenes Verstehen von Georgs Entwicklung, vielleicht aber so viel als Eindruck: Auf dem Weg zu subjektiver Demokratisierung und Humanisierung hat der nach Orientierung suchende Georg gefunden, dass Anderssein, Fremdheit, Verschiedenheit nicht mehr bedrohlich sind, sondern neugierig machen und eine

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respektvolle Annäherung und Begegnung ermöglichen. Er selbst erlebt sich als zugehörig, anerkannt mit seiner Geschichte und Eigenart. Er muss sich nicht mehr abschotten oder überhöhen. Er schätzt die Begegnung, schätzt Zusammenarbeit und Zusammenkommen, »das lebendige Wort«, wie er vielleicht sagen würde. Er braucht keine Gruppe mehr als Bollwerk. Artig zu sein, empfindet er als eher langweilig, Unartigkeit freut ihn, Vielfalt belebt ihn. Demokratie bietet ihm keine absolute Wahrheit und keine endgültige Lösung, Demokratie dient der Befriedigung von Bedürfnissen. Manche seiner im Gespräch aufblitzenden Charakterzüge verweisen noch auf seine Gebundenheit in Kindheit und Jugend. Wenn er sie im Gespräch bemerkt, lacht er und differenziert sich.

Literatur Auf dem Garten, K. (2008). Besatzungsmacht und Jugend. In K. M. Barfuß, H. Müller, D. Tilgner (Hrsg.). Geschichte der Freien Hansestadt Bremen von 1945 bis 2005. Bd. 1: 1945 bis 1969 (S. 140–144). Bremen: Edition Temmen. Auf dem Garten, K., Kuckuk, P. (2009). Bürgerliche Jugendbewegung in Bremen. Vom Wandervogel bis zur Bündischen Nachkriegsjugend (1907 bis 1960). Beiträge zur Sozialgeschichte Bremens, Heft 25/26. Bremen: Edition Temmen. Brockhaus, G. (2000). »Lieber Papi! In Rußland ist es sicher nicht schön?«. Kinderbriefe im Zweiten Weltkrieg aus der Sicht von heute. In B. Burkhard, F. Valet (Hrsg.), Abends wenn wir essen, fehlt uns immer einer. Kinder schreiben an ihre Väter 1939–1945 (S. 129–143). Heidelberg: Braus Umschau. Ebbert, B. (1994). Erziehung zu Menschlichkeit und Demokratie. Erich Kästner und seine Zeitschrift »Pinguin« im Erziehungsgefüge der Nachkriegszeit. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang. Furtmüller, C. (1940/1983). Ist die Hitlerjugend uns verloren? In C. Furtmüller, Denken und Handeln. Schriften zur Psychologie 1905–1950 (S. 223–230). München und Basel: Ernst Reinhard Verlag. Füssl, K.-H. (1994). Die Umerziehung der Deutschen. Jugend und Schule unter den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges 1945–1955. Paderborn: Schöningh. Gamm, H.-J. (1964/1990). Führung und Verführung. Pädagogik des Nationalsozialismus (1./3. Aufl.). München: List. Haarer, J. (1934). Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. München: Lehmanns. Hesse, H. (1943/1972). Das Glasperlenspiel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Klafki, W. (1991). Typische Faktorenkonstellationen für Identitätsbildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen im Nationalsozialismus im Spiegel autobiografischer Prozesse. In C. Berg, S. Ellger-Rüttgardt (Hrsg.), »Du bist

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nichts, Dein Volk ist alles«. Forschungen zum Verhältnis von Pädagogik und Nationalsozialismus (S. 159–172). Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Leikert, S. (2012). Schönheit und Konflikt. Umrisse einer allgemeinen psychoanalytischen Ästhetik. Gießen: Psychosozial. Nitsch, U. M. (2006). »Fein marschieren und singen …« – Neue Identifikations-, Handlungs- und Bindungsangebote in deutschen Fibeln aus den Jahren 1933–1943. Zeitschrift für Museum und Bildung, 64, 44–87. Scholtz, H. (1985). Erziehung und Unterricht unterm Hakenkreuz. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schörken, R. (2004). Die Niederlage als Generationserfahrung. Jugendliche nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft. Weinheim u. München: Juventa. Schulgeschichtliche Sammlung Bremen (Hrsg.) (2002). Am Roland hing ein Hakenkreuz. Bremer Kinder und Jugendliche in der Nazizeit. Bremen: Hauschild. Schulmuseum Bremen (Hrsg.) (2014). Hunger – Demokratie – Rock ’n’ Roll. Kindheit und Jugend 1945 bis 1960. Bremen: Edition Temmen. Thodberg, C., Pontoppidan Thyssen, A. (1983). N. F. S. Grundtvig. Tradition und Erneuerung. Kopenhagen: Dänisches Institut. Vondung, K. (2013). Deutsche Wege zur Erlösung. Formen des Religiösen im Nationalsozialismus. München: Wilhelm Fink.

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Familienszenen – eine psychoanalytische Deutung von Gemälden

Family scenes – a psychoanalytic interpretation of paintings Psychoanalytic work would be inconceivable without associations, metaphors, and the use of internal images. Yet, not only fantasies or ideas from patients themselves but also pictures that are located in the therapy room may be of importance as projective material that triggers fantasies and ideas. Looking at the paintings »Luncheon in the Studio« by Eduard Manet (1868) and »The Encounter« by Edgar Ende (1933) and perceiving them psychoanalytically can demonstrate how to understand and interpret (conflictual) family relations with the help of paintings from the Fine Arts. Zusammenfassung Psychoanalytische Arbeit wäre ohne Assoziationen, Metaphern und die Verwendung innerer Bilder nicht vorstellbar. Aber nicht nur Phantasien oder Einfälle von Patienten selbst, auch Bilder, die sich im Therapiezimmer befinden, können als projektives Material, das Phantasien und Einfälle anstößt, von Bedeutung sein. In der Betrachtung und psychoanalytischen Interpretation der Bilder »Frühstück im Atelier« von Eduard Manet (1868) und »Die Begegnung« von Edgar Ende (1933) wird dargelegt, wie sich mithilfe von Bildern aus der bildenden Kunst (konflikthafte) Familienbeziehungen verstehen und deuten lassen.

Analytische Bild-Räume In meiner Praxis hängen viele Bilder, teils von Patienten, teils aus eigenem Besitz, die im Laufe der Jahre zusammengekommen sind. Die Patienten können leicht auf sie schauen, sei es von ihrem Sessel oder von der Couch aus. Gelegentlich sehe ich, wie Einzelne ihren Blick an eines der Bilder heften – dann frage ich, was sie daran anzieht oder fasziniert. Sehr rasch tauchen Assoziationen auf, die uns zu Erinnerungen an Familienszenen führen oder zu Konflikten, die wachgerufen werden, oder zu Stimmungen, die im Lauf der Therapie wichtig geworden

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sind. Die Einfälle werden zum Material für weitere Äußerungen oder zu Deutungen im Lauf des Therapieprozesses. Durch die unmittelbare Anschauung haben die Assoziationen oft eine besondere Evidenz. Der Anblick meiner Praxis setzt Kollegen, die es gewohnt sind, in einem viel neutraleren Ort zu arbeiten, oft in Erstaunen oder fördert Kritik, mit dem Tenor: Ist das nicht verwirrend für die Patienten, werden sie nicht abgelenkt vom ruhigen Aufsteigen ihrer Übertragungen oder erfahren sie nicht zu viel von meinen Vorlieben? Also: Ist die Ausstattung des Raumes nicht manipulativ und lenkt den Gang des Prozesses zu sehr? Natürlich beeinflussen die Bilder gelegentlich die Reihenfolge der Einfälle, aber diese steuern auch oft die Konzentration auf eines der Bilder. Insofern empfinde ich den Vorgang meist als sehr fruchtbar, vergleichbar einem Bild, das man einem Kind in der Kindertherapie vorlegt oder das man es selbst malen lässt. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang die Frage nach gelegentlich sichtbaren Hemmungen von Äußerungen beim Betrachten der Bilder sowie die Beachtung dessen, was hochkommt, wenn ein Widerstand des Sprechers spürbar wird, sodass der therapeutische Prozess sich erst einmal den Widerständen zuwenden kann. Im Folgenden gehe ich auf zwei Bilder1 ein, die ich in Seminaren oder bei Vorträgen zur analytischen Deutung der Kunstwerke verwende.

Frühstück im Atelier Das Bild »Frühstück im Atelier« (1868) von Eduard Manet (siehe Abbildung 1) zeigt eine Familienszene, die man als kommenden oder drohenden Abschied bezeichnen könnte. Sichtbar sind ein Vater, der am vornehmen Frühstückstisch sitzt mit abgewandtem Blick und Zigarre, von dem man nicht weiß, ob er unbeteiligt schaut oder besorgt oder versonnen oder um Fassung ringend oder wütend über die Provokation seines Sohnes ist. Die Mutter (es könnte auch eine dienende Person sein) kommt mit einer Kaffeekanne herein in die Szene, doch sie schaut mit 1 Die hier besprochenen Bilder sind meinem Buch »Kunst und Psyche. Bilder als Spiegel der Seele« entnommen und werden hier mit freundlicher Genehmigung des Verlages abgedruckt. Moser, T. (2014). Kunst und Psyche. Bilder als Spiegel der Seele (erw. Neuaufl.). Stuttgart: Belser.

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Abbildung 1: Eduard Manet, »Frühstück im Atelier« (1868)

besorgter Miene auf den Sohn. Sie setzt sich sichtbar seelisch der Szene aus, sie scheint das Gewicht dieser Abwendung zu spüren, obwohl der junge Mann ihr bereits den Rücken zukehrt, als ob er im Begriff sei, sich entschlossen zu entfernen. Für eine gewaltsame Trennung sprechen auch zunächst kaum auffallende Details: Die kostbare Vase erscheint leicht angebrochen am oberen Rand, und die kleine Waffensammlung am linken Rand des Bildes weckt kriegerische Assoziationen. Gesicht und Haltung des Jungen erscheinen unbestimmt, fast rätselhaft. Je nachdem, was der Betrachter selbst mitbringt an inneren Bildern, Erinnerungen oder Konflikten, kann man im Gesicht Unsicherheit, Lähmung, Trotz, Abwendung oder Entschlossenheit lesen. Man weiß nicht, ob er noch statisch verharrend sich auf den Tisch stützt oder sich davon abstoßen will, welcher Impuls ihn beherrscht oder ob es mehrere zugleich sind. Die Spannung des Bildes enthält etwas im Augenblick Unauflösbares, aber die deutliche Wendung, sei es zum Betrachter, der Zeuge wird, oder in eine unbekannte Ferne, die zu locken scheint, sind bei aller Einfühlung, die man versucht, und die das Bild hervorruft, ver-

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wirrend, aber auch schmerzlich. Auch die Beinstellung löst das Rätsel nicht: Bereitet der Sohn den ersten Schritt vor, um loszustürmen, oder sind die Beine noch gelähmt und vermitteln ein Gefühl von Erstarrung zwischen Lähmung, Abkehr und Flucht oder Aufbruch? Eine Auster scheint schon geöffnet, die andere noch geschlossen, die Zitrone ist angeschält, die Zigarre schon weitgehend aufgeraucht, Brot ist nicht zu sehen, auch kein Gedeck für den Sohn. Ist die Szene also »explodiert« während eines längeren Zusammenseins, ist ein unerwarteter Konflikt ausgebrochen, der ein lang anhaltendes Stillhalten des Sohnes beendet? Dafür sprechen die kostbaren Waffenstücke, die auf eine lange Familientradition des großbürgerlichen Hauses hinweisen. Das alles könnte das angestrengte Verharren des Sohnes erklären, der sich losreißen will und doch festgehalten scheint durch unsichtbare Bande. Die innere und äußere Trennung von den Eltern ist eines der schwierigsten Themen in den meisten Psychotherapien.

Begegnung Ein zweites Bild, »Die Begegnung« (1933) von Edgar Ende, berichtet bei aller Dynamik ebenso von einem lähmenden Stillstand, einem Verharren der Gestalten in zum Teil schwer deutbaren Gesten (siehe Abbildung 2). Die vermutlich weibliche Gestalt wird von einem Sturm aus einer dunklen Landschaft auf eine braune Wand mit drohend erstarrten Figuren zugetrieben, gegen den sie sich heftig wehrt. Sie trägt flammendes Haar oder sieht mit einem roten Lorbeerkranz aus wie eine aufgewühlte Dichterin mit trotzig um die Brust verschränkten Armen. In die Wand eingemauert erscheint ihre »Familie«: wie in Stein erstarrt »Vater«, »Mutter« und »Sohn«. Durch das Datum des Bildes (1933) deutet das Braun der Wand möglicherweise bereits auf das Braun der SA oder der Machtergreifung Hitlers hin. Die Gestalten machen drohende oder beschwörende Gesten, vor denen die noch lebende »Tochter« angstvoll zurückschreckt, in Auflehnung, Trotz oder Verzweiflung. Das Gemälde könnte einen Angsttraum der Frau darstellen oder ein Inventar ihrer Introjekte bedeuten. Die Szene ist links eingegrenzt durch einen Baumstamm, hinten durch eine helle Mauer, was die Wir-

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Abbildung 2: Edgar Ende, »Die Begegnung« (1933)

kung einer in sich fast geschlossenen Bühne erzeugt. Trotz der heftigen Bewegtheit der Begegnung erscheinen die Figuren bewegungslos fixiert, als ob es keine Veränderung geben dürfte. Vom Vater geht die eindringlichste Forderung aus. Er hält der Gestalt ein Blatt hin, das wie ein zu lesendes oder zu unterzeichnendes Schriftstück aussieht – eine Akte oder einen Schuldschein, gerichtet an eine noch Lebende, die sich gleichsam vor Gericht gezerrt sieht. Der nach vorne zugespitzte Bart wirkt aggressiv und fast bohrend. Sein Schatten erscheint wie sein Unterleib mit hängenden Beinen und einem Gemächt dazwischen. Er scheint tiefer gebeugt als die Mutter. Die Mutter, mit einem Distanz schaffenden, den Kopf umhüllenden Tuch, einem weißen Schal, ist ausdruckslos, mit gesenktem Blick gemalt. Sie hält an spitzen Fingern und an einer Schnur ein Maßdreieck hin, wie wenn sie die Beziehung noch nachträglich vermessen wollte. Es wirkt, als hätte auch sie noch etwas Bestimmtes zu bekommen – eine unerfüllte Pflicht der Tochter, eine offene Rechnung oder Ähnliches, als wollte sie der Tochter das Maß ihrer Schuld vorhalten. Sie schaut blicklos, wie in sich versunken, ihr Schatten wirft das Bild einer Hexe an die Wand mit schreckhaft oder schreckend erhobenen Armen.

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Der tote Bruder hebt der Schwester flehend oder ebenfalls drohend die auf sich zurückgewendete Hand entgegen. In der Linken hält er eine Kugel, vielleicht ein Faustpfand, das er gleichzeitig verbirgt. Es ist, als wolle er wortlos sagen: »Wie konntest du nur!« Es könnte sich um den bitteren Vorwurf einer Verfehlung, eines unerfüllten Versprechens oder einer Schande handeln, wobei gerade der Trennungswunsch, die kämpferische Abwendung das Verbrechen sein könnte. »Du wirst uns nicht los«, das ist die stumme Sprache aller Gesten, die die weiße Gestalt die Arme schützend um die Brust schlingen lässt, wie um zugleich trotzig auszudrücken: »Ich bestehe auf meiner Autonomie, gegen eure Ansprüche.« Man kann die eingemauerten Figuren als Introjekte oder quasi saugende innere Objekte verstehen, denen kaum zu entkommen ist. Die Gestalten selbst scheinen trotz der bedrängenden Gesten wie in Stein gemeißelt, was ihnen die Konsistenz von etwas lastend Dauerhaftem gibt. Man kann sie auch als die Traumgebilde oder Introjekte der wie eine aufgewühlte Dichterin mit wehendem Haar oder rotem Eichenlaubkranz gemalten Figur deuten, die sich bedrängt fühlt durch bedrohliche Beschwörungen, ohne sich von diesen frei machen zu können. Wenn die Figuren Introjekte sind, ist die überlebende Tochter zu bedauern: Sie bleibt hin und her gerissen zwischen Selbstsein und überdauernder Anbindung an ihre verstorbene oder definitiv erstarrte Familie, die sie durch Vorwürfe und Schuldscheine weiter an sich klammert. Sie wird, nimmt man das Gemälde als ein Augenblicksbild der Beziehungen, noch lange nicht freikommen in ihr eigenes Leben, trotz einer enormen Vitalität des Versuchs, sich loszureißen.

Abschließende therapeutische Überlegungen und Interventionsmöglichkeiten Fasst man das Bild von Edgar Ende als eine Momentaufnahme im Prozess einer Psychoanalyse auf, so tut einem die »Patientin« leid: Sie kämpft gleichsam vergeblich gegen den quälenden Sog ihrer inneren Bilder. Diese scheinen so böse, dass es schwierig, wenn nicht unmöglich erscheint, sie vollständig in die Übertragungen einer klassischen

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Analyse einzubringen, weil sie die Bindung an die schützende Person zerstören könnten. Wie könnte man als Therapeut angesichts einer solchen Verstrickung heilsam handeln? In einer Analyse der Patientin würden die Introjekte möglicherweise in wechselnden Übertragungen auftauchen. Doch einige Übertragungen könnten so negativ und gefährlich sein, dass sie kaum unmittelbar verlebendigt werden sollten – bedrohten sie doch eventuell auch die schützende Bindung an den vertrauten und zugewandten Therapeuten. Das wäre zumindest sehr riskant. Als hilfreich hat sich deshalb die Verwendung von gestalttherapeutischen Elementen erwiesen. Ein zentrales Moment oder therapeutisches Werkzeug ist hier die Methode der »Externalisierung«. Die bedrohlichen Introjekte (oder auch die noch lebenden bedrohlichen Personen) werden symbolisch auf einen »leeren Stuhl« gesetzt, so dass sie anschaubar und konfrontierend angegangen werden können, von Angesicht zu Angesicht, mit den zögernd und zunächst angstvoll gehemmten Gefühlen der Fremdheit, der Vorwürfe, des Zorns oder des Hasses. Angstvoll, weil sie in der Phantasie und in der nächtlichen Traumerfahrung des Patienten sich rächen könnten, weil sie ebenfalls hasserfüllt das Schwinden ihrer Macht befürchten. In dieser Konfrontation kann der Patient das Bedrohliche visualisieren, die Personen ansprechen, anklagen, Wut oder Hass zeigen, Vorwürfe einbringen und sich so »frei« sprechen, das oft Unausgedrückte loswerden und lange gehemmte Gefühle, vor denen er sich selbst gefürchtet hat, ausdrücken. Das Ergebnis ist Entlastung und Erleichterung, auch wenn sich Introjekte noch lange rächen können, weil sie sich in ihrer Macht gefährdet sehen. So braucht es manchmal viele Wiederholungen der Konfrontation, bis die Ängste sowie die davon hervorgerufenen Lebenseinschränkungen nachlassen unter dem geduldigen Schutz des Therapeuten, der hilft, die Gefahren zu überleben, und Mut macht bei den unheimlichen Begegnungen.

Elisabeth Fuchs-Brüninghoff und Doreen Röseler

Menschen in der DGIP Interview1 mit Ulrike Lehmkuhl, Gerd Lehmkuhl und Ronald Wiegand

Unter der Überschrift »Menschen in der DGIP« wird in diesem Jahr erstmals ein Format etabliert (und in einer Schriftfassung veröffentlicht), das die Tätigkeit von Personen würdigt, die sich in unterschiedlichen Funktionen über Jahre hinweg für die Individualpsychologie engagiert haben. Bereits auf der Jahrestagung der DGIP 2006 in Delmenhorst hatten Nicole Welter und Fee Schäfer den langjährigen Vorsitzenden der DGIP, Rainer Schmidt, interviewt und zu seiner Geschichte in der nationalen und internationalen individualpsychologischen Bewegung befragt. 2013 berichtete Karl-Heinz Witte, der Gesamtherausgeber der Alfred Adler Studienausgabe, am Rande der Jahrestagung in München über seine Tätigkeiten für das Münchner Adler Institut und die DGIP. Interessierte, die sich schon länger mit der Individualpsychologie und ihrer Entwicklung befassen, kennen diese Personen zumindest aus der einschlägigen Fachliteratur – aber Kolleginnen und Kollegen, die aktuell eine Ausbildung zum individualpsychologischen Berater oder zum Psychotherapeuten/Psychoanalytiker DGIP absolvieren oder diese erst in jüngerer Zeit abgeschlossen haben, wissen oft (noch) nicht viel über sie. Dabei geht es nicht nur um die sachlichen Verdienste derer, die die Individualpsychologie oft über Jahre hinweg mitgeprägt und mitgestaltet haben – es geht auch darum, sie als Menschen in ihren ganz persönlichen Eigenarten und in ihren Motiven sichtbar und fühlbar zu machen. Warum verbringen Menschen ihre Wochenenden an Sitzungstischen oder ihre Abende mit dem Lesen von Artikeln, die für die Zeitschrift ausgewählt oder freundlich abgelehnt werden sollen? Auch solche ganz persönlichen Fragen interessieren Zuhörer und Leser. 1 Dieser Beitrag ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung eines 90-minütigen Gesprächs vom 2. November 2014.

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Die Interviewerinnen Elisabeth Fuchs-Brüninghoff arbeitet als selbstständige Beraterin und Coach. Sie ist Lehrberaterin (DGIP) und seit mehr als zwanzig Jahren in der Beraterweiterbildung tätig. Sie kennt die Interviewpartner schon lange: aus gemeinsamer Arbeit im Vorstand der DGIP, in der Redaktion der Zeitschrift für Individualpsychologie und in der Fachgruppe Wissenschaft. Doreen Röseler ist Diplompsychologin, Psychoanalytikerin und klinische Neuropsychologin. Sie arbeitet in freier Praxis, ist mit einer halben Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der psychiatrischen Universitätsklinik der Charité angestellt und Dozentin am Alfred Adler Institut in Berlin. Außerdem ist sie Vorstandsmitglied der Berliner Psychotherapeutenkammer.

Das Interview Doreen Röseler: Zuerst möchte ich kurz Frau Professor Dr. Ulrike Lehmkuhl vorstellen. Sie ist Medizinerin, Diplom-Psychologin und Fachärztin für Kinder und Jugendpsychiatrie. Am Berliner Alfred Adler Institut war und ist sie als Lehranalytikerin (DGIP, DGPT) tätig. Seit 1991 sind Sie, Frau Lehmkuhl, Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Charité in Berlin. Sie waren seit 1998 Mitglied im wissenschaftlichen Beirat für Psychotherapie und 17 Jahre lang – von 1987 bis 2004 – Vorsitzende der DGIP. Sie sind Herausgeberin und Autorin zahlreicher Fachzeitschriften und Bücher. Von 2004 bis 2014 waren Sie auch Mitglied der Kinderrechtskommission des Deutschen Familienrechtstages. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: Als nächstes möchte ich Herrn Prof. Dr. Gerd Lehmkuhl vorstellen. Seit 1988 ist er Professor für Kinder- und Jugendpsychotherapie an der Universitätsklinik Köln und dort Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes und Jugendalters. Sein Berufsweg hat etliche Stationen, begann mit dem Studium der Medizin – abgeschlossen 1973 –, auch er machte noch ein Diplom im Fach Psychologie an der RWTH in Aachen

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sowie seine Ausbildung zum Individualpsychologischen Psychotherapeuten. Nach seiner Assistenzarztzeit war er Oberarzt in Mannheim, wurde als Psychoanalytiker von der Ärztekammer anerkannt und ist auch seit vielen Jahren Lehranalytiker (DGIP/DGPT). Innerhalb der DGIP hat Herr Lehmkuhl zahlreiche Funktionen und Ämter bekleidet. Hier ist an erster Stelle seine 24-jährige Tätigkeit als verantwortlicher Herausgeber der Zeitschrift für Individualpsychologie zu nennen. Sie trägt deutlich seine Handschrift. Zehn Jahre lang war er Vorsitzender des Alfred-Adler-Institutes Aachen-Köln. Er engagierte sich als Mitglied und Vorsitzender der Fachgruppe Wissenschaft und hat über viele Jahre in der Arbeitsgruppe, die die Jahrestagungen entwirft und vorbereitet, mitgewirkt. Doreen Röseler: Herr Professor Wiegand, Sie studierten Soziologie, Volkswirtschaft und Philosophie in Stuttgart und Berlin. Nach Ihrer Promotion im Fach Soziologe haben Sie sich 1971 zum Thema Neopsychoanalyse habilitiert. Seit 1972 waren Sie Professor für Soziologie an der Freien Universität hier in Berlin. Gelehrt haben Sie hauptsächlich in den Bereichen der Sozialpsychologie und Sozialphilosophie. Seit 1980 sind Sie Fachmitglied der DGIP und am Berliner Alfred Adler Institut als Dozent tätig. Sie waren lange verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift für Individualpsychologie und einige Jahre auch Vizepräsident der Internationalen Vereinigung für Individualpsychologie. Meine erste Frage an Sie: Wie gestaltete sich Ihr Weg zur Individual­ psychologie? Ronald Wiegand: 1980 bin ich in die DGIP eingetreten. Vorangegangen war seit 1965 die Bekanntschaft mit Josef Rattner. Er war Psychotherapeut und hatte in Zürich zusammen mit Friedrich Liebling begonnen, eine Großgruppentherapie zu entwickeln. 1965 kam er durch ein Forschungsstipendium ans Soziologische Institut der FU. Das Stipendium hatte ihm der Lehrstuhlinhaber Richard F. Behrendt verschafft, bei dem ich damals frischgebackener Assistent war. Wir Assistenten und auch Behrendt gingen oft mittags zusammen essen, wobei Rattner sich meist anschloss. Und weil er ein interessanter und belesener Mann war, gab es meist lebhafte Diskussionen mit ihm.

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Ich hatte vorher schon in der Universitätsbibliothek über Monate mit heißem Kopf in Freuds Schriften gelesen und mir so die »Dreigliederung unserer Persönlichkeit« angeeignet, hatte hoffnungsvoll »Die Zukunft einer Illusion« von 1927 gelesen und hatte danach dem 1930 erschienenen »Unbehagen in der Kultur« nachgespürt. Über die Gespräche mit Rattner kam ich dann auf Adler. An dessen Lehre war mir sympathisch, dass er dem Kind selbst die »Konstruktion« seiner Weltsicht zuschreibt. Bei Adler bringt das Kind zwar eine biologische Erbschaft mit und es muss sich in seinem kulturellen Umfeld orientieren. Aber wie das Kind dann zum Leben Stellung nimmt, das ist seine Konstruktion. Es spielt also selbst eine Rolle bei dem, was es dann als Persönlichkeit herausbildet. Diese Vorstellung von menschlicher Entwicklung und Existenz hat mir sehr eingeleuchtet. Es kam noch die Fiktionstheorie hinzu, die Adler von Vaihinger übernommen hatte, und die besagt, dass unser Wissen von der Welt keine Wirklichkeit erfasst, sondern dass wir uns Vorstellungen machen davon, wie die Welt beschaffen ist, und dann mithilfe dieser Vorstellungen versuchen, irgendwie das Leben zu meistern. Dieser Ansatz war mir insofern sympathisch, als da dem Individuum, dem Einzelnen, ein Stück Meisterschaft in die Hand gegeben ist, sein Leben zu gestalten. Rattner hat dann ab 1967 in Berlin begonnen, ebenfalls eine therapeutische Großgruppe aufzubauen. Und weil ich ab 1972 Professor war, konnte ich Räume in der Universität zur Verfügung stellen. Zweimal in der Woche wurde abends getagt, immer zwei Sitzungen. Eine Person konnte sprechen, sich darstellen und wurde befragt, dreimal im Abstand einer Woche. In der dritten Sitzung gab Rattner dann vor bis zu 350 Zuhörern eine Deutung, die deshalb fesselte, weil er am individuellen Fall Bezüge zum kulturellen Umfeld und zur Geschichte herzustellen wusste. Die Gruppe wuchs dann weiter und die Einzeltherapie wurde durch Theoriedebatten ersetzt, als der größte Hörsaal in der »Rostlaube« der FU kaum mehr ausreichte, in dem 950 Leute Platz fanden. Dann gab es 1976 im Parlament die erste Vorlage für ein Psychotherapiegesetz. Daraufhin beschloss Rattner, in der Eichenallee ein Weiterbildungsinstitut zu gründen. Damals bekam ich als Dozent das Thema Gruppentherapie zugewiesen. Inzwischen war die Gruppe aber zu einer Größe angewachsen und hatte ein so intensives Innenleben entfaltet, dass bei mir mehr und mehr Zweifel aufkamen, da das Ganze Sektencharakter annahm. Es hatte sich eine Art gemeinsame Binnensprache entwickelt

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und es gab feste Regeln: Man teilte das Frühstück, man ging zusammen schwimmen, man ging zusammen Mittag essen, man hörte seine Stunde noch mal ab (die Sitzungen durften aufgenommen werden). Schließlich habe ich in meinen Lehrveranstaltungen auch Texte zu Großgruppen einbezogen, in denen die religiöse Dimension solch großer Gruppen kritisch beschrieben war. Das wurde Rattner natürlich von Teilnehmern zugetragen – und daraufhin hat er mich 1980 ziemlich rüde aus seinem Laden »rausgeschmissen«. Das hat mich dann doch geärgert, so dass ich aus Protest in die DGIP eingetreten bin (Wiegand, 1986). Ich wurde mit offenen Armen empfangen, denn auch hier hatte man mit Rattner inzwischen Erfahrungen gesammelt. Vom Kollegen Rudolf Kausen, der seinerzeit die Sektion Wissenschaft und Forschung betreute, wurde ich dort sogleich als Mitglied aufgenommen. Die anderen Mitglieder der Wissenschaftsgruppe waren 1981: Prof. Pola Andriessens, Prof. Heinz Ansbacher, Dr. Robert Antoch, Prof. Karl-Heinz Benkmann, Prof. Wolfgang Böttcher, Prof. Wolfram Brüne, Prof. Günter Heisterkamp, Prof. Herrmann Heuser, Prof. Ernest Jouhy, Prof. Wilhelm Kossel, Prof. Wolfgang Kretschmer, Prof. Hans Lauber, Prof. Ludwig Pongratz, Prof. Erwin Ringel, Dr. Michael Titze und Prof. Hans-Josef Tymister. Kausen war zu dieser Zeit nicht nur Vorsitzender der Fachgruppe Wissenschaft, sondern auch Redakteur der Zeitschrift für Individualpsychologie. Und leider verstarb er 1983 ganz plötzlich. Nun musste die Nachfolge organisiert werden und da wurde ich gefragt, ob ich die Redaktion übernehmen würde, was ich in meiner Unwissenheit auch tat. Unwissenheit deshalb, weil die Tätigkeit ungeheuer arbeitsreich war. Oft gab es entweder zu wenig oder schlechte Manuskripte. Also musste ich schauen, wie man interessante Beiträge einwerben oder aus eingereichten Manuskripten noch etwas Brauchbares machen konnte. Das hat soviel Familienzeit gekostet, dass ich 1987 die Segel strich. Die Kollegin Pola Andriessens übernahm die Redaktion dann bis 1990, und danach übernahm Gerd Lehmkuhl diese wichtige Aufgabe. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: Gerd, meine Frage geht an dich. Wie hast du damals in Aachen den Weg zur Individualpsychologie und dann zur DGIP gefunden?

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Gerd Lehmkuhl: Das war an sich sehr folgerichtig. Wir waren in der Facharztweiterbildung und wollten dabei auch therapeutische Kenntnisse erwerben. In Aachen gab es nicht viele Möglichkeiten, eine Therapieausbildung zu absolvieren. Über einen persönlichen Kontakt hatten meine Frau und ich Rainer Schmidt kennengelernt. Der hat sehr dafür geworben, doch eine individualpsychologische Ausbildung zu machen. Die Ausbildungssituation war zunächst unstrukturiert, die Ausbildungsgruppen waren groß, zudem gemischt, das hieß, Berater und Therapeuten besuchten die gleichen Veranstaltungen und Kurse. Trotz dieser schwierigen Randbedingungen war es eine sehr anregende und spannende Zeit. Verglichen mit den heutigen Ausbildungsstandards gab es mehr Freiräume und ein inhaltlich nicht so genau festgelegtes Curriculum. In der Folge wurde dieses heterogene Angebot zunehmend den notwendigen Standards und den Vorgaben der Ärztekammer angepasst, um in einem nächsten Schritt die Anerkennung als Ausbildungsinstitut von der Ärztekammer zu erhalten. Dies gelang 1980. Ich erinnere mich, wie ich den Antrag seinerzeit noch auf der Schreibmaschine in der Kinderklinik geschrieben habe – mit Zweifingersystem. So sahen die Pionierzeiten in Aachen aus, und es bildete sich eine Gruppe von jungen Psychotherapeuten, die in der Folge über viele Jahre die Institutsarbeit übernahm und mit hohem Engagement und Interesse die Ausbildung aktiv gestaltete. Diese Zeit habe ich in bester Erinnerung, weil nun die Adlerinstitute gemeinsam eine Kommission für die Weiterbildung gegründet hatten, die sehr konstruktiv und kreativ zusammengearbeitet hat, auch mit dem Ziel, die Individualpsychologie nach außen aktiv zu vertreten und darzustellen. Doreen Röseler: Frau Lehmkuhl, auch Ihnen möchte ich die Frage stellen: Wie haben Sie diese Zeit erlebt? Wie sind Sie zur Individualpsychologie gekommen, wie war für Sie die Ausbildung damals auch im Vergleich zur heutigen Zeit? Ulrike Lehmkuhl: Mein Weg war wie der meines Mannes. Wir wurden beide 1974 in die DGIP aufgenommen, mussten schnell eintreten, weil der Ausbildungskurs im April begann. Wir arbeiteten damals mit Ganztagsstellen in der Neurologie bzw. der Psychiatrie und studierten »nebenbei« Psychologie. Wenn ich heute in die Terminkalender von

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damals schaue – ich habe sie aufbewahrt – dann frage ich mich schon, wie das überhaupt zeitlich gegangen ist. Wir erfuhren aber auch viel Unterstützung. Im Studium von den Kommilitonen, in der Klinik von den anderen Assistenten und auch in der Ausbildung, wo es möglich war, mit Rainer Schmidt, unserem Lehranalytiker, passende Termine abzustimmen. Ein wichtiges Ereignis war die DGIP-Abschlussprüfung – sie wurde u. a. von Herrn Schottky abgenommen – der als Erstes fragte: »Warum machen Sie das Theater hier überhaupt noch?«, denn ich hatte bereits den Zusatztitel »Psychotherapie« von der Ärztekammer bekommen. Da schluckte ich und dachte: »Wenn wir das Institut und die Individualpsychologie weiterbringen wollen, dann müssen wir uns auch entsprechend engagieren und die Sache vertreten.« Und dann kam noch eine Frage, die heute undenkbar wäre. Ich hatte den Patienten für meinen Fallbericht deutlich länger als 100 Stunden behandelt, wobei die Therapie noch nicht abgeschlossen war, jedoch die Erlaubnis vorlag, sie trotzdem als Prüfungsfall zu nehmen. Und dann wurde kritisch angemerkt: »Was haben Sie eigentlich mit dem Patienten gemacht, nach der 100. Stunde?« Das beleuchtet schlaglichtartig, wie damals die Stimmung war [lange, möglicherweise sogar höherfrequente Behandlungen waren bei Individualpsychologen noch ganz unüblich], das heißt, in diesen Anfangs- und Pionierzeiten der Individualpsychologie fiel es zunächst schwer, sich den Standards der Kassenärztlichen Vereinigung, der Ärztekammer sowie der DGIP anzunähern. Andererseits bestand eine große Offenheit, neue Aspekte aufzugreifen, und so rief mich Herr Kausen am Tag nach der Prüfung an und sagte: »Sie organisieren jetzt am besten eine Weiterbildungskommission und setzen das um, was sie so kritisch angemahnt haben.« So hatte ich dann meinen ersten Posten. Die dann folgenden Veränderungen habe ich natürlich nicht ganz alleine, sondern zusammen mit vielleicht fünfzehn oder zwanzig Kolleginnen und Kollegen geschafft. Nachdem es zunächst die anerkannten Adlerinstitute in Düsseldorf und München gab, kamen dann bald Delmenhorst und Aachen dazu. Die »Neuen« waren zunächst so etwas wie »Underdogs«. Also ging es zunächst einmal auch darum, sich wechselseitig nicht mehr zu befehden und sich konstruktiv »zusammenzuraufen«. Das ging dann aber doch relativ schnell. Wir bekamen es hin in

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langen und häufigen Sitzungen, die bevorzugt in Köln im Kolpinghaus und in Frankfurt stattfanden und überall am Rand von Tagungen, zum Beispiel in Delmenhorst während der Fortbildungstage, einen wohlwollenden und konstruktiven Austausch zu etablieren. Dadurch war es möglich, etwas sehr Wichtiges zu erreichen: Auch die Institute Delmenhorst und Aachen wurden anerkannt, so dass es schon vier durch die Kassenärztliche Vereinigung anerkannte Ausbildungsinstitute gab. Das nächste große Ziel war dann die Aufnahme in die DGPT [Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie – Dachverband der anerkannten Psychoanalytischen Fachgesellschaften]. Rainer Schmidt, der damalige und langjährige DGIP-Vorsitzende, regte an, dass ich den Kontakt zur DGPT herstellen und intensivieren sollte. In dieser Situation wurde ich zur zweiten Vorsitzenden der DGIP gewählt und in dieser Funktion führte ich dann die Gespräche mit der DGPT. Die Termine fanden meistens in den Konferenzräumen des Frankfurter Flughafens statt, wo ich immer wieder mit der Frage konfrontiert wurde: Sind die Individualpsychologen wirklich Analytiker? Ich habe das nirgends so intensiv diskutiert wie in den Gremien, in denen es um die Anerkennung durch die DGPT ging. Nun gab es damals ein jährliches Treffen der DGPT in Lindau, das damals noch als »closed shop« gehandhabt wurde. Erfreulicherweise bekam ich – damals war Herr Werthmann Vorsitzender der DGPT – eine erste private Einladung. Wir wurden freundlich, aber auch leicht distanziert betrachtet, aber auch zum Gesellschaftsabend an den Vorstandstisch eingeladen. Plötzlich sagte Herr Werthmann: »Jetzt oder nie!« Wir eröffneten den Tanz – er hatte mich natürlich vorher gefragt, ob ich Wiener Walzer tanzen kann – auf der Tanzfläche im Bayrischen Hof. Damals waren die Feste noch recht übersichtlich – sie fanden noch im Bayrischen Hof statt und nicht in der Inselhalle. Wir tanzten also die große Runde und noch einen zweiten und dritten Walzer. Nach und nach kamen noch einige wenige Paare hinzu. Er hatte all das wahrscheinlich, wie er so ist, gut organisiert. Auf alle Fälle standen wir dann zum Schluss wieder alleine auf der Tanzfläche. Dann stellte er mich laut und deutlich vor und sagte: »Um allen Gerüchten vorzubeugen«, und berichtete kurz, worum es ging und schloss mit den Worten: »Also, die Debatte ist eröffnet!«

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Und dies war tatsächlich der Fall, denn beim nächsten Mal konnten dann schon der ganze DGIP-Vorstand und der Geschäftsführer teilnehmen und danach war es auch Adlerianern unter bestimmten Bedingungen möglich, die Mitgliedschaft in der DGPT zu beantragen. Doreen Röseler: Da hat sich ja wirklich sehr, sehr viel ereignet in den 17 Jahren Ihrer Vorstandstätigkeit. Gab es denn noch weitere Hindernisse, Krisen bzw. Herausforderungen in dieser Zeit? Ulrike Lehmkuhl: Ja, es gab und gibt noch zwei weitere schwierige und komplexe Bereiche, von denen ich annehme, dass sie heute noch genauso virulent sind wie damals. Das eine Thema betrifft die individualpsychologischen Berater. Ich selbst hatte oft das Gefühl, dass ich nicht genug für die IP-Berater tun konnte. Diese Berufsgruppe gibt es in keiner anderen psychoanalytischen Fachgesellschaft. Also war und ist es eine große Aufgabe – an der sich auch Elisabeth Fuchs-Brüninghoff sehr aktiv beteiligt hat – auch die Beraterausbildung zu strukturieren, zu vereinheitlichen und einen hohen Qualitätsstandard zu etablieren. Eine weitere positive Entwicklung war die Etablierung eines Weiterbildungsgangs für analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, der anfangs nur in München, später auch in Mainz und AachenKöln und zuletzt in Berlin aufgebaut wurde und wird. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: Gerd, du hast ja im Laufe der Zeit ganz unterschiedliche Aufgaben in der DGIP übernommen. Du hast die Zeitschrift herausgegeben, warst aktiv im Köln-Aachener Institut, hast in der Fachgruppe Wissenschaft mitgearbeitet. Was hat den Reiz dieser einzelnen Aufgaben, aber auch der Kombination der verschiedenen Tätigkeiten für dich ausgemacht? Gerd Lehmkuhl: Die Herausgeberschaft der Zeitschrift zu übernehmen war eine Aufgabe, die ich nicht ablehnen konnte, weil ich in ihr die Chance sah, die Entwicklung der Individualpsychologie voranzutreiben. Die redaktionelle Arbeit war für mich anregend, auch herausfordernd und dank des vertrauensvollen Austausches im Redaktionskollegium immer erfreulich. Vor einem Jahr konnte ich diese Aufgabe dann an Herrn Kirsch übergeben. Es war immer spannend, mit Autoren

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in Kontakt zu treten, neue Beiträge, zum Beispiel von Ludwig Janus, Horst Kächele, Tilmann Moser oder Thomas Auchter, einzuwerben oder auch selbst in unserer Zeitschrift zu publizieren. Ein anderes Thema bereitet mir eher Sorgen. Wir verlieren immer wieder engagierte Kolleginnen und Kollegen, die sich intensiv mit der Individualpsychologie beschäftigt und sich für sie eingesetzt haben. Dies betrifft zum Teil auch die Institute, wo sich zum Glück viele Jüngere engagieren, sich aber auch die Frage stellt, wie man Traditionen weiter pflegen, eine gewisse Konstanz realisieren kann und es gelingt, »Altgediente« für die Mitarbeit weiterhin zu motivieren. Und ich merke auch selbst, wie schwer ein solcher Übergang zu bewältigen ist, und habe hierzu ja auch den Beitrag »Ein guter Abschied oder die innere Uhr« in der Zeitschrift für Individualpsychologie veröffentlicht. Mir ging es dabei darum, wie es Psychoanalytikern gelingen kann, sich von der therapeutischen Arbeit und ihren vielfältigen Funktionen in Institutionen zeitgerecht zu verabschieden und dennoch weiterhin nicht ganz aus der »Community« zu verschwinden. Doreen Röseler: Herr Wiegand, ich würde da gern anknüpfen. Stichwort Tradition … Ronald Wiegand: Ich möchte zunächst noch einmal darauf hinweisen, dass die DGIP ja ein Verein ist. Das Vereinswesen ist in Deutschland ziemlich wichtig, denn es bietet eine Öffentlichkeit in nicht staatlicher Form. Als ich an der FU dreißig Jahre lang Soziologie unterrichtet habe, musste ich lernen, dass dieses Fach keinen einheitlichen Zweck hat. Vielmehr versuchten hier lauter Individuen, jeweils auf ihre Weise theoretisch die Welt zu retten oder in Ordnung zu bringen. Gegenüber dieser – ich sag es ein bisschen grob – Horde von Individualisten war für mich die Mitgliedschaft in der DGIP mit ihrer Orientierung am Gemeinschaftsgefühl eher ein Stück Erholung oder ein Stützpunkt. Auch weil ich die – vielleicht ja irrtümliche – Vorstellung hatte, dass Psychotherapeuten in ihrer täglichen Arbeit mit Patienten realitätskontrolliert sind. In der Soziologie hingegen hatte man große Theorien, und wo sie die Wirklichkeit verfehlten, meinte man: Umso schlimmer für die Wirklichkeit. Jedenfalls war die DGIP für mich der Verein, wo ich ein Stück Heimat fühlte. Leider nur hat dann der Staat begonnen, das Feld zu regu-

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lieren, wodurch die Vereine allmählich ausbluten. Es gilt nicht länger, wie der einzelne Verein dem Individuum begegnet, sondern Schematismus und Bürokratie gewinnen immer mehr an Bedeutung. Das war der Grund, warum ich nach 19 Jahren den Vorsitz in der Fachgruppe Wissenschaft abgab. Denn die Wirkungsforschung, wie sie vom Staat gefordert wird, ist nicht freie Wissenschaft, sondern politisch geforderte Veranstaltung. Es soll bewiesen werden, dass Steuergelder rationell ausgegeben werden. Ich bin da sehr skeptisch, weiß aber, dass das eine Minderheitsmeinung ist, und deswegen habe ich gesagt: »Macht ihr weiter.« Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: Gerd und Ulrike, ihr ward ja auch beide die ganze Zeit in der Fachgruppe Wissenschaft. Wie seht ihr das mit der Anforderung, Wirkungsforschung zu machen? Oder überhaupt, dass wir als Gesellschaft Forschungsarbeiten einbringen, die uns innerhalb des Konzerts der verschiedenen Gesellschaften eine Position sichern? Wo wir noch nicht so genau wissen, wie es weitergeht mit der Fachgruppe. Ulrike Lehmkuhl: In den letzten Jahrzehnten hat ein starker Anpassungsprozess an Regeln und Vorgaben die Individualpsychologie stark beeinflusst. Das ging damit los, dass wir uns an die Regeln der kassenärztlichen Vereinigungen und der Ärztekammern angepasst haben, dann auch an die Regeln übergeordneter Verbände wie der DGPT. Den Höhepunkt dieser Entwicklung stellt schließlich das sogenannte Psychotherapeutengesetz dar. Ich glaube, dass viele – mich selbst eingeschlossen – nicht überblickt haben oder überblicken konnten, was die hier getroffenen gesetzlichen Regelungen für die Zukunft der Psychotherapie in Deutschland und für die weitere Entwicklung bedeuten würden. Ich war über 15 Jahre im »Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie«, in dem ganz paritätisch Ärzte, Psychologen, die Verhaltenstherapie, die Tiefenpsychologie und die Psychodynamischen Verfahren aufeinandertreffen. Dort wird die von Ronald Wiegand etwas »geschmähte« empirische Forschung als dringend notwendig eingefordert und verlangt. Und da sind die analytisch begründeten Therapieverfahren insgesamt noch nicht sehr gut aufgestellt. Und obwohl in den letzten Jahren wichtige Forschungsergebnisse und Studien nachgeliefert worden sind, konnte der Vorsprung der Verhaltenstherapie nicht aufgeholt werden.

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Also, wenn die Kriterien für die Anerkennung von wissenschaftlich begründeten Verfahren weiterhin so bleiben, inklusive Impaktfaktoren, dann wird es den analytischen Verfahren einschließlich der Individualpsychologie nicht leichtfallen, sich in Zukunft zu behaupten. Auch die Frage, in welchem Umfang Psychotherapie in Zukunft noch über die Krankenkassen bezahlt wird, wird heftig diskutiert und ist offen. Aber es ist sicherlich wichtig und sinnvoll, sich als Fachgesellschaft in die aktuelle Diskussion einzuschalten und zu hinterfragen, ob Kurzzeittherapien auf längere Sicht gesehen ökonomisch sinnvoll sind. Gerd Lehmkuhl: Das ist eine spannende Frage, ich bin da auch anderer Meinung als Ronald Wiegand. Ich denke, dass wir uns kritisch fragen müssen, welche Variablen, welche Prozesse und welche therapeutischen Interventionen hilfreich sind. Die empirische Überprüfung unserer Arbeit ist auch aus ethischen Gründen unerlässlich, denn Patienten haben den Anspruch darauf, die bestmögliche und effektive Behandlung zu erhalten. Hier ist die Individualpsychologie nicht sehr gut aufgestellt, da es nur relativ wenige Kolleginnen und Kollegen an Hochschulen gibt und insofern die Vernetzung zu vielleicht größeren Forschungskonsortien fehlt. In Ansätzen gelingt dies Herrn Brockmann mit Vernetzungen zu größeren Forschungskonsortien, wie zum Beispiel dem Sigmund-Freud-Institut, das Multicenter-Studien koordiniert. Hier sollten wir uns vermehrt anschließen wie andere Fachgesellschaften, um gemeinsam solche Projekte voranzubringen und therapeutische Ressourcen beizusteuern. In diesem Zusammenhang hatte ich in meiner Zeit als Redakteur der Zeitschrift für Individualpsychologie, aber auch in der Fachgruppe Wissenschaft, eher frustrierende Erfahrungen, wenn es darum ging, konkrete Projekte zu initiieren und empirische Ansätze voranzubringen. Es gibt einige sehr erfreuliche und weiterführende Ansätze. So entstand unter der Leitung von Herrn Brockmann und Herrn Kirsch ein sehr spannendes Einzelfallprojekt. Wir konnten Kolleginnen und Kollegen motivieren, ihre Therapien im Verlauf wissenschaftlich evaluieren zu lassen. Es ist durchaus möglich, Individualpsychologen für empirische Forschungsansätze zu motivieren. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: Dennoch würde ich an der Stelle noch mal einhaken wollen, dieses Sowohl-als-auch ist ja ein Spannungsfeld,

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aus dem wir nicht rauskommen. Es geht in der Therapie, in der Analyse um die Arbeit mit dem Menschen, aber wenn wir die gesellschaftlich anerkannt und bezahlt bekommen wollen, können wir uns dem Machtspiel, das es in der Gesellschaft in diesem Feld gibt, nicht entziehen. Und dazu müssen wir uns positionieren, damit wir nicht an den Rand gedrängt werden, sodass man zwar die Arbeit mit dem Menschen noch machen kann, es aber niemanden mehr innerhalb der Gesellschaft gibt, der das bereit ist zu bezahlen. Ulrike Lehmkuhl: Was mich sehr motiviert hat all die Jahre, war die Zeit, als die Delmenhorster Fortbildungstage ihren Anfang nahmen und ihre Blüte hatten sowie die sich daran anschließenden Jahrestagungen der DGIP in Mainz, München, Köln und Berlin. Da kamen wirklich sehr viele engagierte und an der Individualpsychologie interessierte Menschen zusammen, diskutieren interessante Vorträge und hielten die Individualpsychologie lebendig. Leider weiß ich nicht, wie diese Diskussionen über das Jahr am besten fortgeführt werden könnten und wie es uns gelingen kann, Adlers Ideen nicht nur lebendig zu halten, sondern auch immer weiterzuentwickeln. Elisabeth Fuchs-Brüningoff: Gerd, magst du dazu noch etwas sagen? Gerd Lehmkuhl: Ich finde, es ist eine generelle Frage, die mit unserer Identität zu tun hat. Wie verstehen wir uns als Individualpsychologen heute? Wie sieht unser spezifischer Beitrag zur Tiefenpsychologie aus und können wir ihn weiterentwickeln? Und wie können wir uns im Mainstream der tiefenpsychologischen Schulen positionieren und als eigene Richtung erkennbar bleiben? Ich denke, dies ist eine schwierige Herausforderung, der wir uns als Fachgesellschaft und Institut stellen müssen, um zu belegen, dass unsere Therapieform wichtig, hilfreich und effektiv ist. Um dies zu leisten, ist die jüngere Generation gefragt, wobei es auch um eine Weiterentwicklung theoretischer Grundpositionen und ihre empirische Evaluation geht. Gelingt uns dies gemeinsam mit den anderen tiefenpsychologischen Richtungen, wäre ein großer Schritt getan, vor allem dann, wenn es uns gelingt, dabei eine gewisse Eigenständigkeit und Identität als Individualpsychologen zu bewahren.

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Ulrike Lehmkuhl: Ich möchte noch hinzufügen, dass es auch schwierig ist, Hochschullehrer in leitender Position mit einer individualpsychologischen Ausbildung zur Mitarbeit in unserer Fachgesellschaft zu gewinnen. Denn im Wissenschaftsbetrieb sind andere Aktivitäten und Schwerpunkte gefragt. Leider bringen Veröffentlichungen in der Zeitschrift für Individualpsychologie keine Impaktpunkte, störungsspezifische und kognitive Ansätze sind en vogue und insofern ist es nicht attraktiv, sich als Hochschullehrer in der Individualpsychologie zu engagieren. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: Wenn ich euch zuhöre, dann höre ich euch auch sagen: »Wir waren an verschieden Stellen sehr bemüht, Anforderungen zu erfüllen, zum Beispiel die Ausbildung betreffend, und wir hatten dann oft zu wenig Energie, immer wieder neu zu diskutieren und Kontroversen auszutragen. Dann war manchmal zu wenig Kraft und Energie da, um uns darüber hinaus noch immer wieder neu inhaltlich zu positionieren und Neues in Bewegung zu bringen.« Ronald Wiegand: Also das Wort Kontroversen nehme ich mal auf. Und würde gerne zu Gerd sagen, dass man das, was du als Problem jetzt formuliert hast, auch unter einem anderen Blickwinkel betrachten kann, nämlich unter dem Stichwort Vielfalt. Wie können wir die Vielfalt unseres Berufsfeldes entweder behalten, erhalten oder wieder herstellen? Ich wage mal – vielleicht ein bisschen weit hergeholt – eine Analogie zur katholischen Kirche. Wir gehen jetzt aufs Lutherjubiläum zu. Die Kirche war vor Luther eine zentralistisch gewordene Organisation, die ihren Mitgliedern bis ins Ehebett vorzuschreiben versuchte, wie sie zu leben hätten. Luther hat dem widersprochen. Und obwohl es nicht seinem Willen entsprang, hat sich daraus die Spaltung ergeben, dann die Konfessionskämpfe, und an deren Ende kam der weltanschaulich neutrale Staat zustande, der den religiösen Selbstäußerungen und Selbstauslegungen Raum gab. Sie wissen, dass Freud die katholische Kirche sehr bewunderte dafür, wie sie ihr Feld organisiert hat, und wie bemüht er war, eine ähnliche Organisationsform zu etablieren. Und sie wissen ebenso wie ich, dass Adler genau dagegen rebelliert hat. Und die Gruppe, die dann 1911 als die ersten Dissidenten ausschied, die nannte sich Verein für freie

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Psychoanalyse. Also, die Frage ist: Ist es nicht besser, wenn wir diese ganze Entwicklung – Freud, Adler und die anderen Schismen, die dann folgten und die untereinander in Konkurrenz standen –, wenn wir das mal als etwas Positives betrachten, weil da jeder auswählen konnte, in welche Kirche er eintreten möchte? Das fand ich gut. Dem Staat ist freilich auch kein Vorwurf zu machen. Denn wenn er das schon regulieren will, sollte er dabei mit den Steuergeldern sparsam hantieren. Und das läuft meist auf das preiswerteste Angebot hinaus. Das gleiche Prinzip haben wir ja auch im staatlichen Bauwesen. Wo nun aber der Preiswerteste gewinnt, da treten Fragen nach der Qualität in den Hintergrund. Vielleicht haben wir etwas Entsprechendes im Augenblick auch in unserem Feld vor uns. Und da ist für mich die Frage: Wie können wir zur Vielfalt zurückkehren? Oder wie können wir sie verteidigen? Zunächst wir als der einzelne Verein IP. Aber eigentlich sollten auch die anderen das gleiche Interesse haben, nämlich als besonderer Verein weiter existieren zu können und nicht einer Rasenmähermethode zu unterliegen, bei der nur das billigste Angebot zum Zuge kommt. Wobei ich dem Staat da keinen Vorwurf mache, denn er soll ja sparsam mit den Steuergeldern umgehen. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: Gerd, zu den Kontroversen … Gerd Lehmkuhl: Gesundheitsökonomische Aspekte spielen sicherlich eine Rolle, aber nicht nur. Die Psychoanalyse hat zurzeit keine gute Presse. Es wird ihr vorgehalten, dass ihre Wirkfaktoren und Effizienz nicht ausreichend nachgewiesen sind und dass sie an überholten Konzepten festhält. Andererseits haben Psychoanalyse und Individualpsychologie hundert Jahre überlebt und gezeigt, dass sie sowohl praxeologisch als auch theoretisch einen wichtigen, unverzichtbaren Beitrag leisten. Insofern bin ich sicher, dass sich analytische Konzepte, Theorien und Behandlungsansätze auch weiterhin behaupten werden, es aber darauf ankommt, sich den neuen gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen, ohne ihre Ursprünge zu verleugnen. Doreen Röseler: Die Bedeutung der Kontroverse für heute und für die Zukunft wurde ja nun deutlich. Ich habe aber auch gehört, dass es in der Vergangenheit viele Kontroversen, dass es eine Streitkultur gab

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und dass durch diese überhaupt erst Identität entstehen konnte. Vielleicht ist das etwas, das wir nicht aus dem Auge verlieren sollten. Ist das etwas, das Sie uns mitgeben für die Zukunft, dass wir auch für uns Kontroversen wieder aktiver führen sollen? Ronald Wiegand: Ich komme noch einmal auf den Begriff Wissenschaft zurück, den du, Gerd, gerne verwendest, um sozusagen den sicheren Hafen zu erreichen: Den taktisch notwendigen sicheren Hafen – ja, okay. Aber wenn wirklich gilt, was Adler gesagt und was Pit Wahl zitiert hat, dass wir eben nicht nur Wissenschaft, sondern auch Kunst sind, dann ist das mit der Wissenschaft allein ja nicht getan, sondern in der Kunst kommt ein Stück Selbstauslegung, Selbstdarstellung ins Spiel, und dann kann man das vielleicht ja gut finden, dass die einen so therapieren und die anderen etwas anders. Dass da also jeweils ein anderes Menschenbild gelebt werden soll und dass das Nebeneinander dieser Unterschiede auch etwas Gutes hat – und nicht »wissenschaftlich« jetzt erörtert und herausgefunden werden soll, welches ist die beste Psychotherapie. Finde ich unsinnig. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: Ulrike, vielleicht magst du noch was dazu sagen, was es braucht, auch unangenehme Dinge anzusprechen und auch in Konflikte zu gehen. Ulrike Lehmkuhl: Schwierig und konflikthaft war zu einem späteren Zeitpunkt die Zusammenarbeit mit der DGPT. Auch wenn ich keine Gegnerin des Psychotherapeutengesetzes war und bin, habe ich sehr früh auf Probleme bei der Umsetzung hingewiesen. Von Beginn an war ich der Meinung, dass Psychologen im Praktikum, die sogenannten PIAs, finanziert werden müssten. Damals wurden meine skeptischen Anmerkungen als eine Ablehnung des Psychotherapeutengesetzes betrachtet. Und nach einer kontroversen DGPT-Sitzung in Königstein habe ich für mich beschlossen, dass ich in meiner Doppelrolle die Position der Psychologen nicht ausreichend gut vertreten konnte. Die von mir befürchteten Probleme der Weiterbildung traten dann leider ein, und es ist zu hoffen, dass in Zukunft die Finanzierung der PIAs durchgesetzt werden kann und selbstverständlich sein wird.

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Gerd Lehmkuhl: Ich würde abschließend noch gerne auf eine theoretische Auseinandersetzung in der Individualpsychologie hinweisen, die zwar aus nachvollziehbaren Gründen sehr eindeutig entschieden wurde, jedoch auch auf Kosten einer wichtigen Tradition, die heute weitgehend verleugnet wird und deren Integration durchaus Entwicklungspotenzial in sich birgt. Ich meine die klare Positionierung, dass die Individualpsychologie eine Tiefenpsychologie darstellt. Diese Positionierung war nicht nur ein notwendiger Schritt, um als eine analytische Schule anerkannt zu werden, sondern auch um die vom »frühen« Adler vertretenen analytischen Positionen wiederzubeleben. Dies ging jedoch auf Kosten späterer kognitiver Weiterentwicklungen, die in den USA erfolgten und die in der deutschsprachigen Individualpsychologie zunehmend auf Ablehnung und Nichtbeachtung stießen. Ich selbst habe zu dieser Entwicklung auch während meiner Redaktionsarbeit beigetragen. Dabei könnte eine kritische Diskussion und Einbeziehung der in den USA entwickelten kognitiven Konzepte anregend und weiterführend sein. Wie lassen sich analytische und kognitive Überlegungen verbinden? Ist es möglich, störungsspezifische Ansätze und umschriebene Therapiebausteine und -module mit einer solchen Herangehensweise auch individualpsychologisch zu verstehen und weiterzuentwickeln? Hier waren wir rückblickend in unserer theoretischen und praxeologischen Ausrichtung zu einseitig, auf dem einen »Adlerauge« blind, haben weggeschielt und die Bedeutung kognitiver Aspekte verleugnet. Leider wurde es auch von mir versäumt, diese anregende Vielfalt in der Zeitschrift aufzunehmen und zu integrieren. Dies hat vielleicht auch dazu beigetragen, dass wichtige Präventions-, Früherkennungs- und Behandlungsprogramme im deutschsprachigen Raum nicht entwickelt wurden, wohl aber in amerikanischen, zum Beispiel STEP. Aber vielleicht können wir diese bislang nicht ausreichend geführte Diskussion aufgreifen und sie auch als Bereicherung erleben. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: Dann möchte ich gern ein kurzes Fazit aus meiner Warte ziehen. Ich sitze hier als Beraterin und habe mich gefragt, wie lässt sich das zusammenfassen und auch übertragen auf die Beratersituation? Dann würde ich sagen, das Wichtigste ist, dass wir wirklich miteinander diskutieren, Kontroversen austragen, uns inhaltlich engagieren, aber auch den Mut haben, politisch, machtpolitisch

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mitzumischen. Das ist für die Berater gegenwärtig nicht unerheblich. In einer Davidsituation gegenüber den Goliaths, die aus anderen Richtungen kommen, da Position zu beziehen. Und vielleicht sollten die Berater auch noch mal etwas genauer hinschauen, was im analytischen Kontext in den letzten Jahren gelaufen ist, und da das eine oder andere als Konsequenz daraus mitnehmen. Ganz persönlich möchte ich mich noch einmal bei euch dreien bedanken. Für die vielen Erfahrungen, die wir miteinander gehabt haben, und auch dafür, dass wir oft in der Sache gestritten, dann aber auch an unsere Psychohygiene gedacht haben. Ich denke an Situationen, in denen wir – zum Beispiel nach den Delegiertenversammlungen – gemeinsam in die Sektbar gegangen sind. Denn, so meine ich, man kann inhaltlich sehr unterschiedliche Positionen vertreten, aber dann auch wieder gemeinsam tanzen oder Sekt trinken. Und das könnten die Anwesenden hier vielleicht auch mitnehmen. Doreen Röseler: Ich möchte mich dem anschließen, möchte mich auch bedanken. In den Vorgesprächen ist mir die Bedeutung der Streitkulturen in der Vergangenheit schon deutlich geworden. Ich muss sagen, ich war da etwas neidisch auf Ihre Generation und ich denke, dass auch wir Nachfolgenden viel aus diesen Erfahrungen lernen können: vor allem von Ihrer Offenheit und Ihrem Mut, dem Mut zur Selbstkritik und dem Mut, Kontroversen zu führen. Hierum sollten wir uns auch in Zukunft bemühen. Vielen Dank! Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: Dann möchte ich als Abschluss dieser Interviewrunde noch Albert Einstein zitieren. Er sagte einmal: »Wenn eine Idee nicht zuerst absurd erscheint, taugt sie nichts.« Als in der AG Jahrestagung diese Interview-Idee aufkam, wurde sie zunächst als absurd betrachtet. Aber – vielleicht taugt sie ja doch etwas.

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Literatur Brockmann, J., Fuchs-Brüninghoff, E., Kirsch, H., Lehmkuhl, G., Lehmkuhl, U., Marx, H., Rauber, J., Sauer-Schiffer, U., Seiffge-Krenke, I. (2013). Zur Zukunft der DGIP und ihrer Ausbildungsinstitute – Anregung für eine notwendige und überfällige Diskussion. Zeitschrift für Individualpsychologie, 38 (3), 303–307. Eife, G. (2013). Gedanken zu einer postadlerianischen Individualpsychologie. Zeitschrift für Individualpsychologie, 38 (1), 6–21. Freud, S. (1927/1967). Die Zukunft einer Illusion. In S. Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse/Die Zukunft einer Illusion. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1930/1956). Das Unbehagen in der Kultur. In S. Freud, Abriss der Psychoanalyse/Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt a. M.: Fischer. Sasse, H. (2013). Zur Gegenwart und Zukunft der DGIP und ihrer Ausbildungsinstitute. Zeitschrift für Individualpsychologie, 38 (4), 412–417. Tenbrink, D. (2013). Die Theorie Adlers in der gegenwärtigen psychoanalytischen Landschaft. Zeitschrift für Individualpsychologie, 38 (1), 22–28. Wiegand, R. (1986). Gemeinschaft gegen Gesellschaft. Problematische Formen der Geborgenheit. Frankfurt a. M.: Fischer. Wiegand, R. (2013). Zeitschrift für Individualpsychologie 1983–2012. Dreißig Jahre Redaktionsarbeit, vorwiegend dargestellt am Leitfaden der Vorworte. In Zusammenarbeit mit G. Lehmkuhl. Zeitschrift für Individualpsychologie, 38 (4), 343–377.

Die Autorinnen und Autoren

Klaus Branscheid, Diplom-Psychologe, ist Psychoanalytiker (DGIP, DGPT) in eigener Praxis, Initiator und Mitorganisator des Projektes »Kunst und Psyche« im Bürgermeisterhaus Essen-Werden in Kooperation mit dem Alfred-Adler-Institut (AAI) in Düsseldorf. Heike Fischer-Heine, Diplom-Psychologin, Psychoanalytikerin (DGIP, DGPT), ist in eigener Praxis in Düsseldorf und als Dozentin und Vorstandsmitglied am Alfred-Adler-Institut Düsseldorf tätig. Insa Fooken, Dr. phil., Diplom-Psychologin, emeritierte Professorin, hatte bis 2013 den Lehrstuhl für Psychologie mit einem Schwerpunkt in der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne an der Universität Siegen inne. Zurzeit ist sie Seniorprofessorin im Bereich Sozialpädagogik/Alternswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff ist als Individualpsychologische Beraterin und Lehrberaterin (DGIP) selbstständig im Bereich Beratung, Coaching und Fortbildung. Günter Heisterkamp, Dr. phil., Diplom-Psychologe, ist emeritierter Professor der Universität Essen, an der er in den Bereichen Pädagogische und Klinische Psychologie tätig war. Er ist Lehr- und Kontrollanalytiker sowie Gruppenanalytiker und Teamsupervisor. Lutz Krüger, Diplom-Psychologe, hat neben seinem Studium der Psychologie freie Kunst an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg studiert. Er befindet sich in Ausbildung zum Psychoanalytiker am Alfred-Adler-Institut in Berlin.

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Die Autorinnen und Autoren

Gerd Lehmkuhl, Univ.-Prof. Dr. med., Diplom-Psychologe, war bis 2015 als Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universität zu Köln, als Lehranalytiker (DGIP, DGPT, DAGG) am Alfred-Adler-Institut Aachen-Köln tätig und bis 2013 verantwortlicher Redakteur der »Zeitschrift für Individualpsychologie«. Ulrike Lehmkuhl, Univ.-Prof. Dr. med., Diplom-Psychologin, war bis 2015 Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes und Jugendalters der Charité in Berlin und als Psychoanalytikerin und Lehranalytikerin (DGIP, DGPT) tätig. Tilmann Moser, Dr. phil., arbeitet als Psychoanalytiker und Körperpsychotherapeut in Freiburg. Er war Dozent für Psychoanalyse und Kriminologie an der Goethe-Universität Frankfurt. Doris Quiring, Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (DGIP, VAKJP), ist als Sonderpädagogin und Kunsttherapeutin in Köln tätig. Jörg Rasche, Dr. med., Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalyse-Psychotherapie (DGAP, IAAP, ISST), Sandspieltherapeut, ist in privater Praxis in Berlin und als Dozent an den C. G. JungInstituten in Berlin und Zürich tätig. Doreen Röseler, Diplom-Psychologin, ist Psychoanalytikerin (DGIP, DGPT) in Berlin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Charité sowie Vorstandsmitglied der Psychotherapeutenkammer Berlin. Hermann Stöcker, Diplom-Psychologe, ist als Psychoanalytiker in eigener Praxis und als Lehranalytiker und Supervisor (DGIP, DGPT) am Alfred-Adler-Institut Delmenhorst tätig. Aleš Vápenka, Dr. phil., Diplom-Psychologe, ist als Psychoanalytiker (DGIP) und Gruppenanalytiker in eigener Praxis in Berlin tätig.

Die Autorinnen und Autoren295

Pit Wahl, Diplom-Psychologe, ist als Psychoanalytiker und Lehranalytiker (DGIP, DGPT), Supervisor und Dozent am Alfred-Adler-Institut Düsseldorf sowie in eigener Praxis in Bonn tätig. Ronald Wiegand, Dr. rer. pol., ist emeritierter Professor der FU Berlin im Fach Soziologie. Er war von 1983 bis 1990 verantwortlicher Redakteur der »Zeitschrift für Individualpsychologie«, knapp zwanzig Jahre Vorsitzender der Fachgruppe Wissenschaft, einige Jahre Vizepräsident der Internationalen Vereinigung für Individualpsychologie, Dozent am Alfred-Adler-Institut Berlin und Mitherausgeber der AdlerStudienausgabe. Josefin zum Felde, Kulturwissenschaftlerin M. A., individualpsychologische Beraterin und Supervisorin (DGIP), ist beruflich in soziokulturellen Pädagogikfeldern zur Integration gesellschaftlicher Randgruppen engagiert und Dozentin in der Erwachsenenweiterbildung sowie beim Lehrerkompetenzzentrum der Universität Lüneburg.

Personenverzeichnis

A Adenauer, K.  264 Adler, A.  60, 75, 101, 111, 125, 139, 154, 156, 159, 161, 168, 170 f., 185, 187, 274, 277, 286 f., 289 f. Adorno, T. W.  227, 235 Amann, J.  74 f. Andersen, H. C.  106, 125 Andreas-Salomé, L.  75 Andriessens, P.  278 Ansbacher, H.  278 Antoch, R. F.  278 Atmanspacher, H.  32 Atzinger, H.  182 Auchter, T.  283 Auerbach, J.  50 Auf dem Garten, K.  259 f. Auping, M.  36, 50 Aurich, R.  229 f., 233, 235 f. B Bachelard, G.  216, 219, 221, 236 Bach, J. S.  16, 26, 30 Bachmann, M.  53, 75 Bächtold-Stäubli, H.  53, 75 Balint, M.  151 Barck, K.  236 Barfuß, K. M.  265 Bartosch, E.  211 Bartsch, W.  66 Baudry, J.-L.  221 f., 236 Baum, V.  154, 182 f. Bay, B.  139 Bayrak, D.  53, 75 Bazin, G.  212

Beckett, F.  137 Beckett, M.  136, 138 Beckett, S.  128, 130–136, 139 f., 142–147, 149–151 Beckmann, M.  208 f. Behling, K.  187, 211 Behrendt, R. F.  276 Beil, R.  220 f., 236 Bemmann, H.  70, 75 Benjamin, W.  54, 75 Benkmann, K.-H.  278 Berg, C.  265 Bernhard, Th.  129, 151 Berry, R.  219 Biermann, H.  107, 125 Bion, W.  30, 138–140, 143, 147, 214–217, 222, 225, 233, 236 f. Bismarck, O. v.  263 Black, H.  57, 75 Blei, F.  156, 163 Blothner, D.  206, 211, 236 f. Blücher, G. L. v.  244 Boehn, M. v.  54, 75 Böhm, H.  184 Bollas, C.  81, 97 Bonsels, W.  256 Booth, C.  212 Borchert, E.-W.  228, 238 Böttcher, W.  278 Brasch, L.  34 Breasted, J. H.  49 Brecht, B.  163 Breughel, P. d. Ä.  193 Bridge, A.  184 Brockhaus, G.  245, 265

Personenverzeichnis297 Brockmann, A. D.  87, 97 Brockmann, J.  285, 292 Brockmeier, P.  151 Bronfen, E.  221 Brüder Grimm, J. u. W.  100, 104, 106, 108 f., 111, 114, 122, 124 f. Brüne, W.  278 Brunner, R.  121, 125 Brunnhuber, N.  172, 182 Buber, M.  78 Bühler-Dietrich, A.  58, 75 Büning, E.  129, 151 Bunuel, L.  221, 236 Burch, N.  217, 237 Burkhard, B.  265 Burnett, F. H.  204, 211 f. Burton, R.  184 Busch, E.  77 Busch, W.  108, 125 Butler, E.  219 C Camus, A.  219 Capovilla, A.  182 Cars, L. des  49 Carus, A.  19 Carus, C. G.  18 f., 31 Carus, E. A.  18 f. Chasseguet-Smirgel, J.  41, 49 Chomsky, N.  14, 31 Cioran, E.  132, 151 Clair, J.  49 Clert, I.  218 Cobain, K.  130 Comar, P.  49 Cosmar, A.  52, 75 Crabill, H. B.  258 Cranach, L. d. Ä.  58 Cremer, A.  66, 76 Cycon, R.  237 D Darragon, É.  49 Dawson, D.  36 f., 49 Debray, C.  34, 49 De Chiricos, G.  78 De Clerck, R.  46, 48 f.

De Mause, L.  216, 236 Descartes, R.  15, 145 Deschevaux-Dumesnil, S.  139 Deuser, H.  83, 97 Dewey, J.  258 Diamant, D.  74 Di Noi, B.  56, 76 Dix, O.  199, 201, 212 Döblin, A.  161 Dorincourt, G. v.  204 Dornelles, L. V.  64, 76 Dostojewski, F. M.  158, 183 Douglas, L. C.  184 Douglas, P.  184 Dratler, J.  172, 184 Dunne, P.  172, 184 E Ebbert, B.  257, 265 Eckbrecht, A.  158 Eife, G.  60, 75 f., 80, 292 Einstein, A.  291 Ellenberger, H.  18, 31 Ellger-Rüttgardt, S.  265 Ellis, A. C.  53, 76 Ende, E.  267, 270, 272 Enquist, P. O.  188, 196, 211 Enrico, J.  206 Esau, N.  53, 76 F Feaver, W.  34 f., 37, 40 f., 43, 45, 49 Feldman, M.  127, 151 Ferenczi, S.  134, 151 Fischer-Lichte, E.  236, 238 Fleck, A.  83, 97 Fonagy, P.  27, 31, 222, 236 Fooken, I.  52 f., 64, 75–78, 198, 211 Fordham, M.  23, 31 Forsch, R.  238 Foucault, M.  236 Frahm, E.  211 Frank, C.  152 Frank, L.  161 Freud, A.  193 Freud, A. W.  211 Freud, E.  34, 204

298Personenverzeichnis Freud, L.  33, 35–42, 44, 46 f., 49 f., 204, 212 Freud, M.  211 Freud, S.  18, 33 f., 38 f., 48 f., 139, 143, 163, 185 f., 204, 211, 218, 221, 236, 277, 287, 292 Freud, Sophie  157 Fritz, J.  53, 73, 77 Fuchs-Brüninghoff, E.  275, 282, 292 Funke, G.  198, 211 Furtmüller, C.  265 Füssl, K.-H.  265 G Gabor, Z. Z.  184 Gallwitz, K.  65, 77 Gamm, H.-J.  241, 265 Gattig, E.  37, 39, 44, 49 Gauda, G.  53, 77 Gayford, M.  34, 44, 47, 49 Gebert, H.  71, 77 Gebruiker, G. M.  212 Geiß, M.-L.  87, 97 Gergely, G.  27, 31 Gershwin, G.  262 Ghirlandaio, D.  193, 195, 212 Gilleir, A.  75 Gneisenau, A. N. v.  244 Goethe, J. W. v.  18, 64, 77, 142 Gold, J.  212 Gorki, M.  256 Goulding, E.  172, 184 Gowing, L.  39, 41, 43, 48 f. Grass, G.  161 Green, A.  133, 150 f., 216, 236 Greig, G.  35 f., 49 Gross, K.  52, 67, 77 Grubrich-Simits, I.  216, 236 Grundtvig, N. F. S.  263 Guggenheim, P.  138 Guinness, Sir A.  204, 212 H Haag, S.  48 f., 212 Haarer, J.  265 Halbrock, G.  119, 125

Hall, G. S.  53, 76 Hamburger, A.  225, 236 Hanalis, B.  212 Handke, P.  151 Hansen, R.  184 Hansmann, C.  53, 75 Härtel, I.  214, 236 Hartwig, S.  151 Hasenclever, W.  254 Hasselmann, K.  238 Heidegger, M.  132 Heine, H.  105, 125 Heisterkamp, G.  80, 96 f., 193, 199, 204, 211, 278 Hemingway, E.  256 Hesse, H.  256, 265 Heuser, H.  278 Hinshaw, R.  26, 31 Hinshelwood, R. D.  215–217, 236 Hirsch, M.  223 f., 236 Hitler, A.  244, 246 f. Hoban, P.  34, 36, 43, 49 Hofeneder, V.  182 Hoffmann, E. T. A.  54, 57, 77 Hölderlin, F.  19 Holm-Hadulla, R. M.  37, 49 Howgate, S.  36 f., 39 f., 50 Hugo, V.  209 Huth, J.  172, 179 J Janowitz, H.  238 Jansson, T.  201, 211 Janus, L.  283 Jesenská, M.  154, 182 Johnson, N.  172, 184 Johnson, U.  161 Jouhy, E.  278 Joyce, J.  138 Joyce, L.  138 Jung, C. G.  15, 17 f., 26, 31 f., 185 f., 206, 211 Jungk, E.  256 Jürgens, C.  153, 173, 184 Jurist, E. L.  27, 31

Personenverzeichnis299 K Kächele, H.  283 Kafka, F.  73, 161 Kaisen, W.  260 f. Karpman, S.  112 Kasack, H.  161 Kast, V.  110, 126 Kausen, R.  278, 280 Kaus, G.  153, 156 f., 159, 161–164, 167, 170, 172, 174, 181–184 Kaus, O.  158, 161, 183 Kaus, O. jr.  159 Kaus, P.  159, 162 f. Kehlmann, D.  131, 136, 147, 151 Kennel, R.  215, 218, 236 f. Kenner, C.  181, 183 Khazem, J.-P.  65, 78 Kirsch, H.  282, 285, 292 Klafki, W.  245, 265 Klein, M.  217, 237 Klein, Y.  218 Kleist, H. v.  19 Knef, H.  228, 238 Knellessen, O.  214, 236 Knowlson, J.  136 f., 139–142, 148, 151 Kögler, M.  77 Kokoschka, O.  65, 77 Kolb, A.  161 Kormann, E.  75 Kossel, W.  278 Koster, H.  184 Krafft, B.  52, 55, 77 Kraft, H.  50 Kranz, J.  157, 159 Kretschmer, W.  278 Kristeva, J.  143, 151 Krüss, J.  209–211 Kuckuk, P.  265 Kühn, R.  198, 211 Kuiper, P. C.  37, 50 Kuznets, L. R.  52, 77 L Lacan, J.  222, 237 Ladd, E. T.  258 La Fontaine, J. d.  14

Lafont, B.  206 Lagerlöf, S.  71, 74, 77 Laing, R. D.  148, 151 Lange-Schmidt, I.  34 f., 38, 47, 50 Laszig, P.  237 Lauber, H.  278 Lehmkuhl, G.  278, 292 Lehmkuhl, U.  12, 292 Leikert, S.  266 Lenau, N.  19 Leube-Sonnleitner, K.  225, 236 Lewin, B.  222, 237 Liebert, W.-A.  76 Liebling, F.  276 Lindgren, A.  189, 211 Lionni, L.  105, 119, 126 Lohmann, R.  53, 64, 76 Loos, A.  218, 237 Lordi, S.  198, 212 Lüders, K.  216, 225, 237 Luther, M.  287 M Machleidt, W.  120, 126 Mahler, A.  65, 77 Mahler-Bungers, A.  222, 226, 237 f. Mahler, M. S.  23, 32 Maltz, A.  172, 184 Manet, E.  267, 269 Mann, G.  161 Mann, K.  62, 77 Mann, T.  163, 256 Manovich, L.  215, 237 Markus, W.  173, 184 Marx, H.  292 Marx, K.  163 Matta-Clark, G.  219 Mattenklott, G.  53, 58, 61, 67, 77 Mature, V.  184 Mayer, C.  238 McCarthy, E.  138 McLean, M.  217 Metken, S.  64 f., 77 Metz, Ch.  222, 237 Mikota, J.  52, 75–78 Milnes, A. A.  77 Mínervudottir, G. E.  53, 77

300Personenverzeichnis Mitchell, P.  139 Mitscherlich, A.  227, 237 Mitscherlich, M.  227, 237 Monroe, M.  184 Moos, H.  65 Moser, T.  208 f., 211 f., 283 Mosse, M.  156 Mozart, W. A.  26 Müller-Braunschweig, H.  38, 50 Müller, H.  265 Müller-Tamm, P.  52, 55, 77 Müller, U. A.  58, 60, 77 Mulot, S.  169, 183 Münsterberg, H.  221, 237 N Nachmann, E.  184 Nachmann, K.  172 Naegele, G.  211 Neuhaus, S.  76 Neumann, E.  23, 32 Newton, I.  15 Niederfranke, A.  211 Niedringhaus, A.  64 Nieradka-Steiner, M.  64, 77 Nitsch, U. M.  245, 266 Novalis  19, 21, 32, 107 O O’Doherty, B.  219, 237 Oppermann, M.  46, 50 Ortega y Gassett, J.  256 Oursler, T.  78 P Palmer, L.  153, 173, 184 Panter, P.  70, 78 Papoušek, M.  27, 32 Paul, J.  19 Paulmann, C.  258 f. Paulsen, A.  228, 238 Paulus, D.  76 Pechmann, A.  73, 78 Peppel, C.  53, 65, 78 Petzold, H. G.  73, 78 Pongratz, L.  278 Pontoppidan Thyssen, A.  266

Praglin, L.  61, 78 Primas, H.  32 Pritzel, L.  56, 78 R Radványi, G.  172, 184 Rank, O.  139 Rasche, J.  32 Rass, E.  92, 97 Rathjen, F.  134 f., 151 Rattner, J.  276 f. Rauber, J.  292 Rautzenberg, M.  238 Reddemann, L.  223 f., 237 Reerink, G.  237 Reininghaus, S.  53, 75 Rennie, M.  184 Restany, P.  219, 237 Richardson, J.  36, 50 Rilke, R. M.  55 f., 58, 61, 75 f., 78, 257 Ringel, E.  278 Rochlitz, F.  26, 32 Rogers, G.  184 Roller, S.  52, 78 Röseler, D.  275 Rosenfeld, S.  196, 211 Rudnytsky, P. L.  32 Rühle, A.  183 Rühle-Gerstel, A.  154, 182 Rühle, O.  183 S Safranski, R.  142, 151 Salber, W.  86, 96 f., 186, 188, 206, 211 Saller, L.  125 Sampedro, J. L.  191, 211 Sasse, H.  292 Sauer-Schiffer, U.  292 Schäfer, F.  274 Schaffers, U.  76 Schami, R.  66, 78 Scharf, B.  107, 125 Schiller, F.  134, 151, 155 Schlageter, A. L.  244 Schlimmer, A.  75

Personenverzeichnis301 Schmideler, S.  52, 78 Schmidt, A.  161 Schmidt, R.  274, 279–281 Schneider, G.  46, 50, 74, 78, 222, 225, 237 Schöffmann, A.  78 Schöffmann, K.  53 Scholtz, H.  245–247, 266 Schörken, R.  266 Schottki, A.  280 Schreber, D. G. M.  18 Schroder, R.  212 Schröter, M.  187, 211 Schumann, C.  28, 30 Schumann, R.  13, 16 f., 19, 23 f., 28, 30, 32 Schwab, G.  145, 151 Schwarzburg, A. D. v.  66 Schweitzer, A.  253, 256 Schwob, P.  189, 212 Segal, H.  42 f., 46, 50 Seidel, A.  52, 78 Seiffge-Krenke, I.  292 Sekula, A.  217, 237 Sellmer, E.  238 Sharp, J.  212 Shiff, R.  49 Sick, F.  151 Simmons, J.  184 Sinclair, P.  138 f. Sloterdijk, P.  134, 152 Smee, S.  36, 50 Soldt, P.  49 f. Spiro, E.  156 Spitz, R.  222, 237 Staudte, W.  227, 235, 238 Steinaecker, S. v.  182 Steiner, J.  56, 78, 147, 152 Steinle, C.  208, 212 Stemmrich, G.  219, 238 Stern, D.  23, 32 Sternheim, C.  156, 161 Stevenson, R. L.  256 Streek-Fischer, A.  92, 97 Street, B.  187, 212 Strindberg, A.  158, 183 Summit, R. C.  92

Supervielle, J.  221 Sykora, K.  52, 55, 77 T Target, M.  31, 222, 236 Tawada, Y.  68 f., 78 Tenbrink, D.  292 Thodberg, C.  266 Thöny, W.  207 f., 212 Tilgner, D.  265 Titze, M.  121, 125, 278 Tophoven, E. u. E.  150 Trier, L. v.  236 f. Tschachler-Nagy, G.  83, 97 Tucholsky, K.  69 f., 75, 78, 163 Tymister, H.-J.  278 U Urtizverea, E.  49 V Vaihinger, H.  277 Valet, F.  265 Veit, C.  130, 149, 152 Vollmer, H.  155, 181, 183 Vondung, K.  247, 266 W Wahl, P.  12, 157, 183, 289 Wallis, J.  186 Wall, T.  220 Waltari, M.  256 Watson, J. B.  220 Watterson, B.  77 Weber, A.  66 f., 78 Weiß, H.  152 Weissweiler, E.  37, 45, 50 Welter, N.  274 Wertenschlag-Birkhäuser, E.  32 Werthmann, H.-V.  281 Wexberg, E.  162, 183 Wieck, C.  19 Wieck, F.  19 Wiegand, R.  278, 284 f., 292 Wiene, R.  235, 238 Wiener, P.  155 Wiener, R.  155

302Personenverzeichnis Wihstutz, B.  236 Wilder, T.  262 Williams, T.  262 Winnicott, D. W.  17, 30, 32, 39, 50, 60, 77–79, 81, 97 Witte, K.-H.  274 Wittkop-Ménardeau, G.  53, 57, 79 Wojtkiewicz, W.  62 Wordsworth, W.  60 Wright, R.  50

Z Zirner, J.  156 Zirner-Kranz, R.  157 Zirner, R.  156 Zuckmayer, C.  254 Zwiebel, R.  222, 226, 236–238

Stichwortverzeichnis

A Achtsamkeit  111 Affektabstimmung  27 Affektspiegelung  27 Allmacht  41 Ambivalenz  110 Anima  18 Archetyp  22 äußeres Objekt  60 B Basiskommunikation  14 f., 17 Basiskonversation  24 Bestätigungsdrang  165 Beziehungsgestaltung Malen als  38 Beziehungsmuster  15 Beziehungsobjekt  95 Bindungswunsch  243 Bremen Boys Club  258 Bremen Girls Club  258 C Container cineastischer  215, 220 denkender  219 metaphorischer  215 f. ozeanischer  215, 217 psychoanalytischer  220 D Daseinsgefühl, intrauterines  134 Demokratisierungsprozess  239 Demokratisierung, subjektive  264 Depotenzierung  176

depressive Position  38, 42 Deutsches Jungvolk  241 Doppelgänger  51, 63, 65–67, 69 Dramadreieck  112 f., 121 Dyade  28 E Emotionslogik  120 Enactment  223 Entwicklungsnot  189 Erlösungsprojektion  176 Ermöglichungsraum  61 Ermutigung  123 Externalisierung  273 F Familienatmosphäre  84 Familienbeziehungen, konflikthafte  267 Familienszene  267 f. Fiktionstheorie  277 Fixierung  176 Fragmentierungsangst  87 Führersystem  246 G Gegenanteile  171 Gegenübertragung  18, 46, 87, 89, 93, 144, 146 Gegenübertragungsreaktion  91 Gemeinschaftserlebnis  254 Generationenlücke  199 Göttlichkeitsphantasma  53 Größenphantasie  161 Großgruppentherapie  276

304Stichwortverzeichnis H Hass  170 f. Hauptlagermannschaftsführer  248 Haut-Ich  46 Herrschaftsbedürfnis  167 Hirnforschung  13 Hitlerjugend  241, 245 Hordenführer  243 Hörigkeit  245 Humanisierung  264 I Ichbezogenheit  176 Ichgefühl  91 Ich-Schwäche  171 Ich-Veränderung  82 Identität  103, 245, 289 Suche nach  263 Identitäts-Diffusion  65 Identitätskrise  245 Identitätsverlust  120 illusionärer Selbstbetrug  165 Imagination, kreative  37 Impaktfaktor  285 Individualität  245 innere Objektwelt  37 inneres Objekt  60 Integration  117, 121 Integrationsbereitschaft  120 Integrationsfähigkeit  102 Introjekt  270, 272 f. J Jugenddienstpflicht  241 Jungbann  243 Jungenschaftsführer  243 Jungvolk  245 Jungvolkführer  251, 253 Jungzugführer  243 K Kernselbst  91 Kernselbst, Sicherung des  87 Kinderanalyse  80 Kinderlandverschickung  247 Kinderrechtskommission  275 Kindheitserinnerung  187

Kollusion  206 Kontrollbedürfnis  167, 176 Konzentrationslager  253, 261 Kreativität  37 L Lagermädelführerin  249 Lagermannschaftsführer  248 Lebenskrise  156 Lebenssinn Suche nach  263 Lebensstil  99, 112, 155 Lebensziel  129 Leidenserfahrung  102 literarischer psychologischer Realismus  168 M Macht  104 f., 112, 155, 246, 248, 252, 263 f., 273 Streben nach  160, 165 Machtergreifung (Hitlers)  270 Machtkampf  121, 246 Machtmittel  179 Machtspiel  286 Machtstreben  171 Mangelerfahrung  206 Mangelsituation emotionale  84 Melancholie  129 Melancholieforschung  130 Mentalisierung  71, 73 Mentalisierungsfähigkeit  13 Minderwertigkeitsgefühl  171, 246 Minus-Containment  216 Morphologie  186 N Naked Portraits  33, 41, 46 narzisstische Bedürftigkeit  171 narzisstische Bestätigung  84, 176 narzisstische Depression  139 Narzisstische Persönlichkeitsstörung  161 Nazifizierung  239, 245 Neopsychoanalyse  276 Neurosenlehre (Adlers)  169

Stichwortverzeichnis305 Nicht-Selbst  128 Now-Moment  201 O Oberhordenführer  243 Objekt eigenständiges  42 getrenntes  42 gutes  42 ideales  42 inneres  94 saugendes inneres  272 überlebendes  42 übermächtiges  43 verschlingendes mütterliches  41 Objektgebrauch  58 Ödipus-Phase  24 Ohnmacht  104, 113, 128 omnipotente Wunscherfüllung  38 Omnipotenz  38, 43, 147, 149 Omnipotenzgefühl  38 f. originäre Lebensbewegung  178 P Painted Life (Film)  35, 37, 39–41, 43 f., 48 paranoid-schizoide Position  42 participation mystique  206 Peter Pan  140 Peter-Panitis-Haltung  140 Portraits (Film)  36, 39, 47 Primärobjekt  62 Primärprozess  144 projektive Identifizierung  215, 223 Pseudoautonomie  245 Psychotherapeutengesetz  284 Puppenersatzobjekt  53 Puppifizierung  53 Q Quadrangulation  189 R Reborn-Puppe  53 Reeducation  239, 257 Reichsführerschule  248 Reichsluftschutzmelder  244

Reifungskampf  24 Reifungskonflikt  256 Reverie  29 S Sandspieltherapie  22 Schattenintegration  19 schöpferische Kraft  99–101, 110 Seelenkind  72 Seinsgefühl  131 Seinszustand  81 Seinszustand, vorgeburtlicher  134 Sekundärprozess  144 Selbst  17, 89, 106 f., 111, 113 heranwachsendes  128 Metemorphose des  81 mütterliches  23 undurchdringliches  128 vergiftetes  145 Selbstanteil  93, 222 Selbstauslegung  289 Selbstbehandlung  86 Selbstbehauptung  91, 95 Selbstbesinnung  103 Selbstbespiegelungsfolie  66 Selbstbestimmtheit  256 Selbstbestimmung  99, 104 Selbstbetrug  169 Selbstbewusstsein elitäres  245 Selbst-Bewusstsein  103 Selbstbild  165, 179 Selbstdarstellung  289 Selbstentfremdung  84 Selbsterleben  246 Selbst-Ermächtigung  66 Selbsterziehung  259 f. Selbstexplorationsprozess  160 Selbstführung  245 Selbstgefühl  46, 204 Selbstgefühl, fragiles  160 Selbstgefühl, labiles  179 Selbstheilung  80 Selbst-Kohärenz  65 Selbstkonstituierung  37 f. Selbstobjekt, erweitertes  38 Selbstreflexionsprozess  160

306Stichwortverzeichnis Selbstregulation  95 Selbstregulation, basale  95 Selbstrepräsentanz  160 Selbststeuerung  226 Selbsttäuschung  169 Selbstüberwindung  247 Selbstverantwortlichkeit  113 Selbstvertrauen  28, 103, 112 Selbstverwirklichung  114, 121 Selbstwerdung  51, 80, 92, 95 Selbstwertgefühl  160, 179, 204, 246 Selbstzustand  96, 204 Selbstzweifel  106 Spaltungsprozess  127 Sprachkompetenz  14 Staatsjugendtag  241 Streitkultur  288 Subjekt-Objekt-Differenzierung  38 Sublimierung  38 Symbiose  28, 30 T Theodor-Fontane-Preis  154, 161 Tiefengrammatik  14 Tonfeld  87 Tonkasten  82, 85, 89, 94, 96 tote Mutter  133 Traum  30, 158 Triangulierung  27 f., 201 U Übergangsobjekt  51, 57 f., 60–62, 67, 69, 71 f.

Übergangsprozess  58 Übergangsraum  27, 38–40, 57 f., 61, 195 Musik als  18 Übertragung  144, 216, 268, 272 f. Übertragungssituation  24 Umerziehung  257 Unbewusstes absolutes  18 kollektives  17 persönliches  18 relatives  18 V Verarbeitungsmodus, schizoider  127 Verdrängung  169 verfolgendes Objekt  145 Verfügungsanspruch, totalitärer  245 Vergangenheitsbewältigung  253 Verleugnung  169 Vernichtungsstreben des NS  252 Verschmelzungsphantasie  252 Verzärtelung  187 W Wahrnehmungsabwehr  252 weiße Depression  133, 216 f. Widerstand  101, 176, 268 Wirkfaktor  288 Wirkungsforschung  284